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Der Genius des Krieges und der Deutſche Krieg

von

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Mar Scheler

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Zweites bis viertes Tauſend

Verlag der Weißen Bücher / Leipzig 1915

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eunden im Felde

Motto: Aber der Krieg auch hat feine Ehre, der Beweger des Menſchengeſchicks.

Schiller

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Vorrede

ndem ich dazu gezwungen zu Hauſe zu ſitzen dieſes Buch der deutſchen Offentlichkeit zu übergeben wage, fühle ich mehr, wie ich es je getan, den Abſtand zwiſchen der gewaltigen Größe meines Gegenſtandes und der winzigen Kleinheit und Enge meines Geiſtes und Gewiſſens; mehr wie je auch die hohe Verantwortung des Philoſophen wie des Deutſchen zu ſolch welthiſtoriſcher Stunde ſich der Worte zu bedienen. Was mich bewog, dieſe Aufzeichnungen, die zunächſt als ein natürlicher Überſchwang meines Ideen⸗ ganges und meiner Gefühle gegenüber dieſem einzigartigen Ereignis in der moraliſchen Welt dem erhabenſten ſeit der franzöſiſchen Revolution auf das Papier glitten, dennoch zu veröffentlichen, das war allein der Gedanke, es möchte eine ſolch zuſammenſchauende Betrachtung des Weſens des Krieges mit der Seele, den Hauptmomenten, Grundeigenſchaften und Zielen dieſes unſeres Krieges und mit derjenigen Geiſterhal⸗ tung und Politik Deutſchlands und Europas, die ſein eigen⸗ tümlicher Genius aus ſich hervortreiben wird und ſoll, meinen Freunden und einigen meiner deutſchen Brüder zur Bildung eines eigenen Urteils und Willens förderlich ſein. Geht der erſte Teil ſo vor, daß von dem uns umringenden Krieg gleichſam nur der Schatten erſcheint, den er vermöge

des Lichtes aus der ewigen Welt der Ideen auf die Wand des Seins wirft, ſo zeigt der zweite Teil eben dieſelben Ideen ganz in das konkrete Leben, in die Tat und die Forderung der Stunde hineingezogen. Völlig fern lag dieſem Buche alle genauere fortlaufende hiſtoriſche Erklärung der Entſtehung des Krieges. Es iſt im erſten Teile und im Anhange ganz philoſophiſch und pſychologiſch, im zweiten ganz politiſch im untechniſchen Sinne des Wortes gemeint.

Schon jetzt fürchte ich, daß die leidenſchaftliche Bewegung des Gemütes, in der dieſes Buch geboren wurde wie oft legte ich die Feder von ihr wie gefangen zur Seite in Ur⸗ teilen über Perſonen und Völker über berechtigte Grenzen hinaus geführt habe. Iſt es der Fall, ſo bitte ich die Be⸗ troffenen ob meiner großen Geiſtesenge um Verzeihung.

Noch mehr fürchte ich, daß aufrichtig gemeſſen an den Ideen eines abſolut Wahren und Guten, an denen jeder Menſch ſeine Gedanken und Forderungen meſſen ſollte zu dem alſo Wahren und Rechten dieſes Buches ſich viel alſo Falſches und Unrechtes eingeſchlichen haben werde. Dann hoffe ich, daß Gott das Wahre und Rechte mit ſeinen Händen halten, ſchirmen und zur Kraft des Lebens werden, das Falſche aber, das ich ſagte, ſo bald wie möglich wie Spreu im Winde verwehen laſſen möge.

Noch reden die Waffen ihre erhabene Sprache. Viel⸗ leicht entſcheiden ſie ſo, daß die zarten europäiſchen Saaten und jungen Kräfte, die dieſe Schrift hinter dem Geräuſch und Schutt des Kriegsgetümmels aufdeckt, zum dauernden Verdorren und zur Unwirkſamkeit verdammt ſind; daß auch die ſittlichen, politiſchen und kulturellen Ziele, für die dieſe

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Schrift den Krieg mehr als Auslöſung denn als Urſache anſetzt, niemals erreicht werden. Beſüßen wir die freche Vermeſſenheit, an Stelle der Tat der Waffen und an Stelle echter „Geſchichte“, in der Etwas geſchieht, Berechnungen der Zukunft zu ſetzen, ſo wäre die große Sprache der Waffen und Gottes heilige Stimme in dieſer Sprache unnötig. Mur glauben dürfen wir! Aber glauben müſſen wir auch, ſo wir noch Menſchen ſein und ſo wir ſiegen wollen! Nur als Glaube, aber als feſter und wohlgegründeter, iſt daher alles Zukunftspolitiſche des zweiten Teiles dieſer Schrift gemeint.

Wenn ich häufig ältere und andere Schriften, auch aus meiner Feder zitierte, ſo geſchah es, um dem Leſer Gelegen⸗ heit zu geben, ſich über hier häufig vorausgeſetzte Grundbe⸗ griffe und Grundſätze nach ſtrengem Gehalt und Begründung genauer zu informieren.

Berlin, in der erſten Hälfte des Nobember 1914.

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Inhalt

/, eeene.d Der Genius des Krieges. 1 7 Wurzel und Sinn des Krieges als Welkeinrichtung 9 1. Der Krieg und das organifche Leben 9 nur.. 38

f (77 Zur Metaphyſik des Krieges. 117

Nation 119 No dbd 1322 3. Der Krieg als Gottes gericht 127 Der gerechte und ungerechte Krieg . . 1383 ,, 11863 1. Seine Gerechtigkeit 6195

2. Der Glaube an unſer Br Ras in if Re 7

Die geiſtige Einheit Europas und ihre N /// al r, 335 Anmerkungen 85

Anhang: Zur ppc 15 mie Si on Be. . x e

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Einleitung

ls zu Beginn des Auguſtmonats unſer deutſches Schick⸗

ſal wie eine einzige ungeheure dunkle Frage vor uns

hintrat jedes Individuum bis ins Mark erſchüt⸗ ternd dasſelbe Schickſal, das noch einige Wochen vorher wie ein gerader wohlgebauter Weg vor Jedem lag und das unemp⸗ funden und mit der Gleichgültigkeit und Selbſtverſtändlichkeit des Raumes uns eben noch umfangen hatte, da war es nur eine Antwort, die aus allen deutſchen Seelen zurücktönte, ein einziger erhobener Arm: Zu Schwert und zum Siege! In der heiligen Forderung der Stunde ertranken mit allem Parteigezänk auch die tiefſten Differenzen unſerer Weltanſchauung. Mit der Verwunderung einer Generation, für die der Friedens⸗ zuſtand die Unmerklichkeit der Atmoſphäre angenommen hatte, ſahen und fühlten wir alle, wie die Forderung ernſter Tat eint, was in der Meinung über den Krieg und den Intereſſen an Krieg und Friede getrennt war; wie ſonnen⸗ klar und eindeutig ein vor die Tat geſtelltes Gewiſſen ant⸗ worten kann und muß, wo die Gedanken über Krieg über- haupt und die Vermeidbarkeit dieſes Krieges eben noch welten⸗ weit auseinander gingen. Daß wir in dieſen Stunden über⸗ haupt empfanden, daß ein eigentümliches nationales Schickſal bis in den Kern jedes, des kleinſten und größten Individuums hineinreicht, und durch es vor⸗ und mitentſchieden wird, was

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Jeder von uns ift und wert iſt, und was aus Jedem und feiner Lebensarbeit wird das war das Offentlichſte, Allgemeinſte und Heimlichſte, Individuellſte zugleich, was dieſe Friedens⸗ generationen erlebten. Der weite große Gang der Welt und jeder Seele innigſte Beſtrebung ſahen ſich plötzlich in einen Knoten geſchürzt und wunderſam auf ihren gegenſeitigen Fortgang angewieſen. Wir waren nicht mehr, was wir ſo lange waren: Allein! Der zerriſſene Lebenskontakt zwiſchen den Reihen: Individuum Volk Nation Welt Gott wurde mit einem Male wieder geſchloſſen und reicher wogten die Kräfte hin und her als es alle Dichtung, alle Philoſophie, alles Gebet und aller Kult vorher je zur Empfindung bringen konnten. Doch das ſind Dinge, vor denen nicht nur das Wort, vor denen auch der Gedanke und Begriff in Ehrfurcht verſtummen müſſen. Dies Wunder iſt am beſten ungeſagt im Herzen allein.

Hier ſei von Oberflächlicherem und weit Kleinerem die Rede: Nur davon, wie ſich dieſer Krieg unſerem bisherigen Bewußtſein und Denken einordnet, und welche Abänderungen unſerer Bilder von der Welteinrichtung er erzwingt. Für jene Glücklichen, die jetzt auf dem Felde ſtehen dürfen, mag dieſe Frage unzeitgemäß erſcheinen. Für ſolche, die es erſt werden oder die Geſetz und Mannſchaftsbedarf bisher, oder überhaupt zwingt, zu Hauſe zu bleiben, iſt ſie es ſchon darum nicht, da auch bei intenfiofter ſonſtiger Arbeit jedes Bewußtſein faktiſch fieberhaft arbeitet, die ungeheure Tat⸗ ſache in ſich aufzunehmen und mit Bisherigem zu verketten. Die Unumgänglichkeit einer Frage iſt der beſte Beweis für ihr Recht.

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Sehe ich um mich, fo gewahre ich eine Reihe ſehr ver⸗ ſchiedener Gruppen. Ich ſehe ſolche Menſchen, die durch das Erlebnis dieſes Krieges völlig konſterniert wie vor einer Welt ſtehen, die ſie als dieſelbe nicht wiederzuerkennen ver⸗ mögen. Sie fühlen ihre erlebte Tatbereitſchaft und die bis⸗ herige Entwicklung ihrer Ideen, ja ihrer bisherigen Geſchichte als einen abſoluten Widerſpruch. Sie ſind wie mitten ent⸗ zweigeſchnitten und ſehen ſchon jetzt, daß ſie nach dem Kriege, wie immer er ausgehen möge zur „alten“, zur „dama⸗ ligen“ Generation gehören werden. Sie wurden an einem Tage 20 Jahre älter und müſſen mit Grauſen Ideen, Be⸗ ſchäftigungen, Ziele, begonnene Werke plötzlich als „Ver⸗ gangenheit“ ſehen lernen, die ſie eben noch für blaueſte Zu⸗ kunft hielten. Es iſt wohl die größte Gruppe innerhalb der intellektuellen Sphäre, der es alſo ergeht. Mur ganz wenige halten ihre bisherige Welt, für die alles, nur dieſer Krieg keinen möglichen Platz hatte, mit jener Energie doktrinären Trotzes feſt, die Schelling einmal angeſichts ihm aufgewie⸗ ſener Widerſprüche ſeines naturphiloſophiſchen Syſtems mit neu beobachteten Tatſachen ſagen ließ: „Um ſo ſchlimmer für die Natur!“ Ein wieder größerer Kreis ſchwankt, ob er feinen bisherigen Geſinnungen untreu werden, oder beſſer geſagt, ihre empfundene Korrektur durch die große Tatſache als ſolche „Untreue“ anſehen ſoll, oder ob er nicht beſſer tue, mit dem Gefühle der Berechtigung, welche die Regeln der Induktion an die Hand geben, einen Standpunkt über den Haufen zu werfen, den neue große Tatſachen als einen un⸗ möglichen dargetan haben.

An dieſen Kreis ſoll ſich das Nachfolgende in erſter Linie

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richten. Aber es gibt auch innerhalb der intellektuellen Men⸗ ſchen ein kleines Häuflein ſolcher, deren Vertrauen und Glaube auf Sinnhaftigkeit und Vernunftrichtung unſeres Lebens um⸗ gekehrt durch die letzten Jahrzehnte des europäiſchen Friedens bis aufs äußerſte erſchüttert waren, die erſt jetzt die wirkliche Welt als die ihrige wiedererkennen; und die trotz Leid, Not und Tod, welche die Erſcheinung eines in der Geſchichte unerhörten Krieges über uns alle bringen mag, ſich in wunderbarſter Weiſe im Glauben an alles, was ſie für die kernhafte Realität der Welt und der Geſchichte, was ſie für gut und ſchön und edel hielten, geſtärkt und gekräftigt fühlen. Solche, die dieſen Krieg nicht wie einen ſchweren Traum und Alpdruck, ſondern als ein faſt metaphyſiſches Erwachen aus dem dumpfen Zuſtand eines bleiernen Schlafes erleben. Es liegt gewiß auf den erſten Blick eine tiefe Paradoxie darin, daß dieſes Häuflein zu⸗ ſammenfällt mit den Gläubigen des Lebens gegenüber den Gläubigen des Mechanismus, den Gläubigen der Liebe gegenüber den Gläubigen der klugen Organiſation und des Rechtsvertrags, den Gläubigen der freien Tat gegenüber den Gläubigen „notwendiger Entwicklung“; den Gläubigen der Perſon gegenüber den Gläubigen des Werkes, den Gläubigen des Individuums gegenüber den Gläubigen des Geſetzes, den Gläubigen des ſchöpferiſchen Geiſtes gegenüber den Gläubigen des rechnenden Verſtandes. Ich ſage: Dieſe Tatſache er⸗ ſcheint paradox. Denn nicht Leben, ſondern tauſendfachen Tod, nicht Liebe, ſondern Haß und Rachedurſt, nicht Frei⸗ heit, ſondern „Reaktion“ und neue politiſche und ſoziale Gebundenheiten, nicht Geiſt und Perſönlichkeit und Indi⸗ vidualität, ſondern phyſiſche Gewalt, Nichtachtung der

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Perſon und ihres Seins und Wertes, ja Steigerung aller bloß automatiſchen Kräfte unſerer Seele, Ertrinken alles Individuellen im Urgefühl des Stamms und im Geiſte der Maſſe ſcheint ja der Krieg zu bringen.

Wie löſt ſich dieſes Paradox?

Der Genius des Krieges

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Wurzel und Sinn des Krieges als Welt— einrichtung

1. Der Krieg und das organiſche Leben

ie alle ganz großen Dinge reichen die Wurzeln IT der Erſcheinungen, die wir „Krieg“ nennen, in

die Tiefen des organiſchen Lebens zurück; aber wie alle großen Dinge iſt auch der Krieg etwas eigentümlich Menſchliches, das nicht als eine geradlinige Weiterentfaltung von Erſcheinungen des untermenſchlichen Lebens begriffen werden kann. So trüb die Analogien ſind, nach denen man die Geſellſchaft als „Organismus“, die ſogenannten Tier⸗ geſellſchaften als Vorformen der Staatsbildung verſtehen wollte, ſo trüb iſt auch die Analogie, nach der man Werk⸗ zeug und Waffe als Fortbildungen der tieriſchen Organe der Nahrungsſuche, des Angriffs und der Verteidigung, den Krieg ſelbſt aber als Fortſetzung der tieriſchen Beute⸗ und Daſeinskämpfe ſich klären wollte. Daß irgendwelche gleich- artigen Kräfte hier und dort wirken, das freilich iſt gewiß. Aber erſt indem dieſe Kräfte mit dem bewußten vernünftigen Geiſte zu einem einzigartigen Zuſammenſpiel treten, durch deſſen Beſitz das aufrechtgehende Wirbeltier erſt zum „Men⸗ ſchen“ der Geſchichte wird, erzeugen fie jene Erſcheinungen. Und eben dies beides wird uns alles Folgende beſtätigen:

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Der Krieg iſt nicht wie uns eine naturaliſtiſche Auf: faſſung des Krieges einreden will bloße phyſiſche Gewalt⸗ äußerung, die ſich aus Ohnmacht des vernünftigen Geiſtes an deſſen Stelle ſetzt; er iſt Macht⸗ und Willensausein⸗ anderſetzung der geiſtigen Kollektioperſönlichkeiten, die wir Staaten nennen. Dieſe Machtauseinanderſetzung äußert ſich nur in Taten phyſiſcher Gewalt, um die Herrſchaftswürdig⸗ keit der Machtwillen feſtzuſtellen. Das letzte objektive Telos aber, dem der Krieg jenfeits der ſubjektiven Abſichten der Kriegführenden dient und jederzeit gedient hat, iſt nichts anderes als maximale Geiſtesherrſchaft auf Erden und allem voran: Bildung und Erweiterung irgendeiner der vielen For⸗ men von echten Liebeseinheiten, die als „Völker“, „Nationen“ uſw. das Gegenteil von bloß faktiſchen oder rechtlich geform⸗ ten Intereſſengemeinſchaften darftellen? Aus dem Geiſte entſpringt und für den Geiſt iſt der Krieg in ſeinem tiefſten Kern! Auch Macht iſt noch Geiſt. Sie iſt es im Unter⸗ ſchiede zur Gewalt, die ihrer Matur nach tot, dumm und phyſiſch iſt. „Macht“ iſt eine Idee, die ihr Fundament im Erlebnis des Wollen⸗ und Tunkönnens hat; und dieſes „Können“ iſt edler und höheres Gut als alles bloße faktiſche Tun oder gar deſſen Erfolg.“ Gibt es zwiſchen Macht und Gewalt ein ganz allgemeines Grundoerhältnis, fo iſt es eben darin zu ſehen, daß, je größer die pure Macht eines Weſens iſt, es um ſo weniger der Gewalt bedarf, um ſeinen Willen durchzuſetzen. Darum denken wir uns die göttliche Majeſtät gleichzeitig als „allmächtig“ und als völlig gewaltlos. Ein „Wink“ Gottes genügt, damit die Planeten kreiſen. Gewiß gehört zum Weſen des Krieges freilich ganz weſentlich die

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Anwendung phyſiſcher Gewaltmittel. Aber fie gehört zu ihm, da er zuvörderſt eine Form der Feſtſtellung faktiſcher Macht⸗ und Könnensverhältniſſe iſt, nur als Machtäußerung und gleichzeitig als Machtprobe. Wo etwa ſchon bewaffnete Beobachtung eines fremden Staats genügt, um einen politi⸗ ſchen Zweck durchzuſetzen, da wäre es ſinnlos, faktiſche Ge⸗ walt anzuwenden; desgleichen, wo das Heer ſich ergibt. Nur ſo begreift es ſich auch, daß in keinem Krieg der Welt je alle phyſiſchen Gewaltenergien der Gegner ins Spiel traten; iſt vielmehr durch faktiſche Anwendung von Gewalt in Ge⸗ fechten, Schlachten, Belagerungen uſw. die gegenſeitige Macht der Gegner genügend erprobt, und die Machtüberlegenheit des einen offenkundig geworden, ſo hat auch der Krieg ſein natürliches Ende gefunden. So iſt das Gefecht nur eine Stichprobe auf die Macht, ein Anzeiger der Macht. Überall iſt alſo im Kriege die Gewaltausübung mit ihren Erfolgen der Maſſentötung uſw., auf welche die naturaliſtiſche Kriegs⸗ auffaſſung allein hinſtarrt, nicht der Kern der Sache; ſie iſt nur Außerung, Maß und Kennzeichen der Größe und Wucht der einander entgegentretenden ſouveränen Machtwillen, und ihr Erfolg iſt nur Anzeiger der faktiſch beſtehenden Gewichts⸗ verhältniſſe der Mächte.

Schon dieſe eine Grundeigenſchaft des Krieges macht ihn weſensverſchieden von allen Daſeins⸗, Beute: und Erhaltungs⸗ kämpfen der untermenſchlichen Natur. Dieſe ſind ſtets Ge⸗ waltkämpfe: entweder Nahrungskämpfe oder Kämpfe um die Fortpflanzung. Im Kriege handelt es ſich auf keiner Stufe ſeiner geſchichtlichen Entwicklung um das Ziel bloßer „Daſeinserhaltung“ des phyſiſchen Lebens der Individuen

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oder der Art. Vielmehr find es ſtets, wenn auch noch fo primitide kollektive geiſtige Willenseinheiten, „Stämme“, „Völker“, „Staaten“, „Nationen“, die als ſolche in die Kriegsbeziehung zueinander treten. Die natürlichen Indivi⸗ duen ſtellen für ſie nur Organe ihrer Willensmacht dar. Wie in menſchlich⸗geſchichtlichen Verhältniſſens überhaupt der Kampf um Macht, Geltung, Ehre, Beſitzgröße, das heißt der Kampf um Verteilung der Lebensgüter an die Stelle des in der untermenſchlichen Matur ſtattfindenden Kampfes ums nackte Daſein und die Fortpflanzung tritt, an die Stelle der phyſiſchen Ausſchaltung aus der Fortpflanzung aber, die bloße Entmächtigung von Individuen und Gruppen, De: klaſſterung, Verluſt politiſcher Selbſtändigkeit uſw., ſo iſt auch der Krieg nicht mehr eine Art des „Kampfes ums Da⸗ ſein“, ſondern der Kampf um ein Höheres als Daſein, der Kampf um die Macht und die mit ihr fallende und ſtehende politiſche „Freiheit“. Eigentliche Machtkämpfe aber finden wir in der untermenſchlichen Natur nicht. Zwiſchen Beute und Beutetier findet kein Machtkampf ſtatt ſo wenig wie zwiſchen uns Menſchen und denjenigen Tieren, die uns Nah⸗ rung ſind. „Jagd“ iſt nicht Krieg. Kämpfe aber z. B. zwiſchen zwei Ameiſenhaufen, die noch am eheſten an den Krieg erinnern möchten, zielen auf Vernichtung des fremden Haufens ab. Innerhalb der hiſtoriſchen Menſchheit haben nun zu Zeiten zwar gleichfalls menſchliche Vernichtungs⸗ kämpfe ſtattgefunden. Wo es der Fall war, wo die phyſiſche Vernichtung der Individuen einer Gruppe Ziel des Kampfes war nicht bloß die Wehrlosmachung eines fremden Staates wie in einigen Raſſe⸗ und Glaubenskämpfen (gegen Indianer,

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Neger an manchen Orten, bei gewiſſen arabiſchen und für: kiſchen Zügen), da iſt es Mißbrauch den edlen Namen des „Krieges“ anzuwenden. Gemeinhin werden die natürlichen Volkseinheiten ihrem Daſein nach nicht vom Kriege betroffen; ſie werden nur unter vorhandene oder im Kriege entſtehende Staaten, die allein unmittelbare Kriegsobjekte ſind, nach deren ausgeprobten Machtverhältniſſen neu verteilt. Nicht alſo auf Vernichtung natürlicher menſchlicher Gruppen⸗ einheiten, ſondern auf Neuverteilung der kollektiven geiſti⸗ gen Willensmächte über dieſe natürlichen Einheiten zielt der echte Krieg ab. Hierzu gewahren wir in der lebendigen Natur kein Gegenſtück. Aber auch die Triebmächte, die zu dem natürlichen Daſeinskampf führen, Hunger und Forr⸗ pflanzungstrieb, haben mit den Motoren des kriegeriſchen Geiſtes nichts zu tun. „Es iſt ein Trugſchluß, daß Kriege geführt werden um des materiellen Daſeins willen“, ſagt Treitſchke richtig. Dieſer Satz gilt nicht nur für die moder⸗ nen Kriege, ſondern ſchon für die allerprimitivſten Kriegs: formen. Es iſt ein Grundirrtum der poſitiviſtiſchen und öko⸗ nomiſtiſchen Geſchichtskonſtruktion, den primitiven Krieg, ſei es als primitioſte ökonomiſche Erwerbsquelle, ſei es als auto⸗ matiſche Folge einer wachſenden Bevölkerungsdichte anzu: ſehen. Hat man dies einmal angenommen, ſo glaubt man ſich freilich leicht berechtigt, alle hiſtoriſchen Kriegserſchei⸗ nungen in „letzter Linie“ auf ökonomiſche und ſozialbiologiſche Urſachen zurückzuführen; ja auch den weiteren Schluß zu ziehen, daß im ſelben Maß, als die gewerbliche und induſtri⸗ elle Arbeit zur Erwerbsquelle, und die geſteigerte Arbeits: technik und Arbeitsteilung zur Steigerung der Bevölkerungs⸗

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kapazität eines Landes führt, je inniger und umfaſſender zu: gleich die gegenſeitige ökonomiſche Abhängigkeit und Inter⸗ eſſenſolidarität zwiſchen den menſchlichen Gruppen werden, die Erſcheinung des Kriegers als Wirkung der hypothetiſch an⸗ genommenen „Urſache“ überhaupt zurücktreten und ſchließlich völlig verſchwinden müßte. In all dem ſteckt ſchon der Kern⸗ gedanke der Sonderart des Pazifizismus, der nicht wie jener Kants auf die Forderung eines univerfalen „Vernunftrechtes“, oder wie andere ſeiner Formen auf die Idee fortſchreitender „Humanität“ die pazifiziſtiſche Theſe aufbaut, der vielmehr im Kriege eine vergängliche hiſtoriſche Erſcheinung ſieht, die kraft einer „notwendigen Entwicklung“ zum vollkommen induſtri⸗ ellen Zuſtand oder ſozialem Gleichgewicht vom „ewigen Frie⸗ den“ müſſe abgelöſt werden.“ Faktiſch aber hat der Krieg eine vitale Wurzel und durch ſie hindurch auch eine Wurzel in der Menſchennatur, die mit dem Trieb zur Nahrungsſuche nichts zu tun hat. Die vitale und willentliche Aktivität des im eigenen Selbſtwertbewußtſein gerechtfertigten und nur infolge dieſer Rechtfertigung wahrhaft ſtarken Macht⸗ und Herrſchaftswillens hat zu keiner Zeit und bei keiner noch ſo primitiv organifierten Gruppe des Stoßes der Nahrungsnot bedurft, um in die Bewegung zu geraten, die den kriegeriſchen Geiſt ausmacht. Dieſe Bewegung iſt gerade umgekehrt ein ganz ſpontanes und urſprüngliches Agens, deſſen Wirkſam⸗ keit erſt ſekundär die Befriedigung vorhandener ökonomiſcher

und anderer „Bedürfniſſe“, ſpäter „Intereſſen“, endlich die

Erreichung frei gefaßter politiſcher, ſtreug umſchriebener „Zwecke“ ſich angliedern.“ Nur der typiſche Fehlſchluß aller populären Philoſophie, nützliche Effekte eines Gefühls,

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einer Ausdrucks⸗ oder einer Handlungsart und Einrichtung, zum Beiſpiel der Sprache, des Staates oder des Opfer⸗ und Liebesdranges auf die ſeeliſche Urſache vorſchauender Be⸗ rechnung dieſes Nutzens oder irgendwelcher Steigerung der Wohlfahrt zurückzuführen, führte zur Ableitung des Krieges aus dem Nahrungs⸗ oder Fortpflanzungsbedürfnis. Wie immer in primitiven Zeiten die Effekte kriegeriſcher Unter⸗ nehmungen nachträglich in den Dienſt der „Habſucht“ ge⸗ ſtellt und ſo zu Erwerbsquellen wurden, die Unternehmung ſelber geht aus Motiven und Leidenſchaften hervor, die völlig anderen Weſens find als das ökonomiſche Motio. Die Be- wegung des kriegeriſchen Geiſtes iſt vielmehr ein urſprüng⸗ liches, ſpontanes Agens. Sinn und Luft an der Umwelt probeiweife® und auf das wogende Ohngefähr, auch auf die Gefahr des Mißlingens hin, ſeine Macht zu betätigen und ſie darin zu formen und zu geſtalten, ſind in Lebeweſen und auch im Menſchen urſprünglicher und ſtärker als der Drang „ſein Daſein“ zu erhalten, oder ſeine zuſtändlichen Glücks⸗ gefühle zu ſteigern. Urſprünglicher iſt die Freude an Tat und Kampf, als die Freude an ihrem „Erfolg“ und ihrer Beute; urſprünglicher die Freude am „Wagnis“ und am „Opfer“ als die Freude an Sicherheit und Wohlfahrt. „Macht“ über das höchſte der irdiſchen Weſen, über den Menſchen ſelbſt, iſt „Herrſchaft“. Drang nach Steigerung der Herrſchaft be— wegt aber ſchon die primitioſte kriegeriſche Unternehmung; und dieſer Drang geht aller Habſucht vorher; er gräbt ihr ſelbſt erſt die Bahnen ihrer möglichen Befriedigung. Schon die Zähmung der Tiere iſt nicht aus einem Nutzmotio, ſon⸗ dern aus dem Drang nach Ausdehnung der menſchlichen

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Herrſchafts⸗ und Aktionsſphäre entſprungen.“ Eben darum find Staat, d. h. das organifierte Herrſchaftsverhältnis in einer Gruppe und Krieg allüberall gleichzeitig entſtanden und ſtehen und fallen zuſammen. Gewinnen Einheiten orga⸗ niſierter Herrſchaftsverhältniſſe im Laufe der Entwicklung eine Feſtigkeit und Stabilität (im Verein mit der allmählichen Fixierung der kriegeriſchen Jäger⸗ und Nomadenhorde zur ackerbautreibenden Geſellſchaft), ſo daß Friede und Kriegs⸗ zuſtand ſich ſchärfer voneinander differenzieren und abheben und die Friedenszeiten länger werden, ſo iſt dieſer Zuſtand ſelbſt immer ſchon ein kumulierter und nachdauernder Effekt früherer Kriege. Der Krieg iſt es ſchon, der ſchwärmende Stämme zu feſteren Staatsgebilden zuſammenſchweißt. Nutz⸗ nießung wie „Arbeit“ an den Sachgütern, Verteilung bei der das Maß und die Richtung des „Bedürfniſſes“ nach Ar⸗ beit und nach Nutznießung der Arbeitsprodukte, der Aufbau der Bedürfnisgliederung nach Dringlichkeit und Intenſttät in einer Gruppe, bilden ſich und finden nur ſtatt in den je⸗ weiligen Grenzen der durch den kriegeriſchen Geiſt aufgebauten Herrſchaftsverhältniſſe; ſie werden nur innerhalb dieſer Gren⸗ zen, nicht über ſie hinweg durch das Recht rational geordnet. Die friedliche oder kriegeriſche „Okkupation“ von Land und Sachgütern, die Weſenswurzel der „Eigentums“ beziehung geht aller rechtlichen Ordnung des Eigentumsverhältniſſes vorher; und erſt beide Faktoren zuſammen beſtimmen ſchon die Arbeits⸗ und Nutznießungsmöglichkeiten der Gruppenteile an ihnen. Wäre es umgekehrt wahr, daß der primi⸗ tibe Krieg eine bloße, durch die Not und mangelhafte Ar⸗ beitstechnik motivierte Erwerbsform iſt, alſo nur Fortſetzung

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des tieriſchen Mahrungskampfes oder automatiſche Folge wachſender Bevölkerungsdichte, daß weiter Eigentum auf „Arbeit“ beruht, „Herrſchaft“ aber auf „Reichtum“, ſo wäre es freilich auch richtig, daß jede Annahme, der Krieg ſei eine bleibende Welteinrichtung und nicht bloß eine, auf noch mangelndem induſtriellen und techniſchen Fortſchritt beruhende „hiſtoriſche Erſcheinung“, das Zeichen eines reak⸗ tionären Geiſtes wäre. So etwa haben uns z. B. A. Comte in feinem „Cours de philosophie positive“, und noch mehr H. Spencer in ſeinen „Prinzipien der Moral“ die Sache dargeſtellt. Faktiſch aber iſt eben dieſe Anſicht nur die Folge einer rein ſtatiſchen Auffaſſung der menſchlichen Geſchichte; einer Auffaſſung, die hinter aller menſchlichen Aktion „Be⸗ dürfniſſe! und „Notzuſtände“, hinter allem Wollen und aller Tat irgendwelche ſie bedingende „Milieuwirkungen“, hinter jedem „Hinzu“ eines Strebens ein „Vonweg“ ſucht. Wir haben in der modernen Dynamik gelernt, den Gleichgewichts⸗ zuſtand nur als einen Spezialfall der Geſetze der Bewegung zu beurteilen. Wir müſſen endlich lernen, auch den hiſtoriſchen Menſchen als etwas urſprünglich Bewegliches, nicht Be⸗ wegtes, fein Milieu erſt Bildendes und Suchendes, nicht durch es Gebildetes und Bedingtes zu ſehen: dann werden wir er⸗ kennen, daß der Krieg das dynamiſche Prinzip katexochen der Geſchichte iſt. Es iſt dagegen die Friedensarbeit, als „An⸗ paſſungs“ tätigkeit angegebene, d. h. immer ſchon durch voraus⸗ gehende Kriege beſtimmte Machtverhältniſſe, welche das ſta⸗ tiſche Prinzip der Geſchichte ausmacht. Jeder Krieg iſt Rück⸗ kehr auf den ſchöpferiſchen Urſprung, aus dem der Staat überhaupt hervorging; Untertauchen in die mächtige Lebens⸗

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quelle, aus der heraus die großen Grenzlinien beſtimmt wer- den, in der ſich menſchliches Geſchick und Betätigung ferner⸗ hin bewegen kann. Die poſitiviſtiſch⸗pazifiziſtiſche Geſchichts⸗ theorie, die ihre Gegner gerne als „reaktionär“ bezeichnet, iſt daher faktiſch ſelbſt ultrareaktionär, da ſie alle dynamiſchen Kräfte der Geſchichte zur Bildung neuer Machtoerhältniſſe prinzipiell zugunſten der nur ſtatiſchen Prinzipien ſteigender „Anpaſſung“ an gegebene Machtoerhältniſſe verleugnet. Niemand hat dies ſchärfer geſehen als H. von Treitſchke.“ Er urteilt in ſeiner Politik: „Dem Hiſtoriker, der in der Welt des Willens lebt, iſt ſofort klar, daß die Forderung ewigen Friedens reaktionär iſt von Grund aus; er ſieht, daß mit dem Kriege alle Bewegung, alles Werden aus der Geſchichte ge⸗ ſtrichen werden foll.‘‘ Geſchichte das iſt ein Bergwaſſer, das ſich ſeine Bahn und ſein Bett erſt im Dahinſpringen bildet, kein Sumpf, der die Form eines vorhandenen Tales aus⸗ füllt. Eben darum wäre auch im Falle einer ideal⸗abſoluten Solidarität der Wirtſchafts⸗ und Wohlfahrtsintereſſen aller menſchlichen Gruppen und bei erreichter ideal⸗abſoluter Aus⸗ bildung und Geltung des internationalen Völkerrechts die dauernde, lebende Wurzel des Krieges völlig unverſehrt. Denn wie kräftig kämpfende ökonomiſche Intereſſen der Völker auch wirken können, zur Kriegsgefahr führen ſie erſt, wenn bei der Verhandlung über ſie die nationale Ehre, das heißt die Durchdringung von Wert⸗ und Machtbewußtſein der im Kriege zur unmittelbaren Anſchauung kommenden nationalen Staatsperſönlichkeit verletzt wird. Weil dies noch eben vermieden werden konnte, führte z. B. der Marokko⸗ handel feiner Zeit keinen Krieg herbei. Andererſeits find Ver:

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letzungen ſolcher Art nicht an ökonomiſche Intereſſengegen— ſätze gebunden, ſondern können auch ganz andere Herkunft haben. Der Grad und die Grenzen der Ausbildung des Ver: tragsrechts in ſeiner Anwendung auf Staaten müſſen daher von denjenigen Grenzen, die im Weſen des „Vertrags“ als ſolchem liegen, begrifflich aufs ſchärfſte geſchieden werden. Es iſt aber ſchon die Idee des Vertrages ſelbſt und ſeiner mög— lichen hiſtoriſchen Wirkſamkeit überhaupt, nicht der Grad feiner Ausbildung und feiner Anwendung auf gegebene Ge— ſchichtsberhältniſſe —, die drei Dinge impliziert: 1. den bloßen Intereſſenkonflikt im Unterſchied von Macht⸗ und Ehren: konflikt, 2. die faktiſch immer nur fiktive Annahme eines ruhenden, ſtatiſchen Zuſtandes der vorhandenen Gegenſätze („rebus sic stantibus“), 3. eine mit Herrſchermacht ausgerüſtete Autorität, die auf irgendeine Weiſe die Einhaltung der Ver⸗ träge erzwingen kann, ſofern durch ſolche die an ſich und un⸗ abhängig von ſolcher Zwangsautorität geltende und idealiter exiſtierende rechtliche Forderungsbeziehung erſt hiſtoriſche Re⸗ alität gewinnt. Nur in den Grenzen, in denen dieſe Be: dingungen erfüllt ſind, beſtehen im Gegenſatze zum casus belli bloß internationale „Streitigkeiten“, die völkerrechtlicher Schlichtung fähig ſind. Es gehört aber zum Weſen der zum Kriege führenden Gegenſätze, daß bei ihnen keine dieſer Be⸗ dingungen erfüllt iſt. Der Krieg iſt, wie geſagt, ſeiner Natur nach Machtkonflikt, der durch Intereſſenkonflikte höchſtens aufgelöſt werden kann, niemals in ſolchen oder einer Häufung ſolcher beſteht. Und nicht ſtatiſch exiſtierende, feſt⸗ umſchriebene formulierbare Intereſſengegenſütze werden in ihm entſchieden wie im Falle alles rechtlichen „Streites“

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fondern die Spielräume möglicher und zukünftiger Inter⸗ eſſengegenſätze und =gleichheiten werden durch ihn aus dem Ge⸗ woge der hiſtoriſchen „Zukunft“, des hiſtoriſch „Möglichen“ gleichſam erſt herausgeſchnitten. Krieg iſt nicht „Streit“, der nach Regeln entſcheidbar iſt. Er iſt eine Funktion des konkreten einmaligen Wachſens⸗ und Werdenspro⸗ zeſſes der Völker und Staaten und entſcheidet Möglich⸗ keit, Größe und Richtung alles ferneren Wachſens und Werdens; er iſt keine bloße abhängige Funktion ihres gegenwärtigen und vergangenen zuſtändlichen Seins. Um der Zukunft willen, nicht ſoweit ſie geſetzlich geregelt und „be⸗ rechenbar“, ſondern ſoweit fie nur mehr in freier Tat geſtaltbar iſt, wurden zu allen Zeiten Kriege geführt. Im Kriege wird dasjenige Sein erſt „gemacht“, das alle internationalen Ver⸗ träge vorausſetzen müſſen, um einen Sinn zu haben. Er iſt Grenze und Quelle, nicht eine Art des bloßen „Streites“. Eben darum arbeiten alle völkerrechtlichen Verträge mit der doppelten Fiktion, die Vertragsmaterie werde fortfahren, nur eine „Intereſſen“ frage, nicht eine zentrale Machtfrage zu fein und die Zuſtände der vertragsſchließenden Mächte werden zukünftig dieſelben fein (rebus sic stantibus). Es iſt nicht „mangelhaftes Vertragsrecht“ oder diplomatiſcher Fehlgriff, ſondern Grenze der Idee des Vertragsrechtes ſelbſt, wenn die Tatſachen über dieſe Fiktionen hinwegſchreiten und der Krieg eintritt. Endlich fehlt bei der „Souveränität“ jedes Staates prinzipiell jede irdiſche, mit Herrſchermacht ausgerüſtete Au⸗ torität, die anders als durch, wieder in freiem Zuſammen⸗ ſtimmen ſouveräner Staaten zuſtande gekommene, Garantie⸗ übernahme für die Einhaltung der Verträge, die Erfüllung

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beſtimmter, aus dem Vertrag erwachſene Rechte und Forde⸗ rungen erzwingen könnte. Man erſteht hieraus, daß die po⸗ ſitiviſtiſche Geſchichtskonſtruktion, ſoweit ſie den Krieg aus ökonomiſchen Faktoren ableitet und der juriſtiſche Pazifizismus ein und dieſelbe Wurzel haben: die ſtatiſche Geſchichtsauf⸗ faſſung und die Verwechſlung von Intereſſe, Nutzen mit Macht und Ehre. Die Geſchichte lehrt uns nur eben das⸗ ſelbe, was die phänomenologiſche Forſchung und die Deduktion aus den Grundtatſachen des Geiſtes erwarten läßt. Die krie⸗ geriſche Unternehmung und die äußere Politik der Macht⸗ verhältniſſe überhaupt, bedingt und beſtimmt die Bildung und Geſtaltung „ökonomiſcher Verhältniſſe“; für denjenigen wenigſtens, dem „Hiſtorie“ ein Nach- und Mitherausleben des Tuns und Wirkens des hiſtoriſchen Menſchen iſt, alſo auch ein das Werden der Zeitalter verfolgendes Mitſehen deſſen, was zu jeder Zeit, im Unterſchied zu dem, was geſchicht⸗ liche „Wirklichkeit“ wurde, noch „möglich“ war; nicht alſo ein bloß denkendes Verbinden toter, gewordener Fakten.“ Sie beſtimmt nicht nur die ökonomiſchen möglichen Beziehun⸗ gen zwiſchen den Staaten, ſondern auch indirekt die inner⸗ ſtaatlichen Klaſſenbildungen, bis in das ökonomiſche Schickſal jedes Einzelnen. L. von Ranke hat den jeweiligen Druck der „weltpolitiſchen Verhältniſſe“ und Spannungen auf die innere, auch ökonomiſche Politik der Staaten in ſeiner Ge⸗ ſchichtsſchreibung vortrefflich geſchildert. Freilich eben erſt in dem Mitſehen deſſen, was ökonomiſch jeweilig hätte werden „können“, was aber faktiſch nicht oder ganz anders wurde, erſt in dem Sehen dieſer Differenz von jeweilig hiſtoriſch Möglichem und Wirklichem, offenbart ſich die für das

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Wirtſchaftsleben determinierende Kraft des außerpolitiſchen Ganges der Dinge. Dieſer typiſchen Verlaufsform gegen⸗ über iſt die entgegengeſetzte Form, bei der z. B. aus ökonomi⸗ ſchen Urſachen und ſteigender Bevölkerungsdichte entſtehende, oder durch willkürliche Gewaltpolitik erzeugte, innerſtaatliche revolutionäre, die Herrſchaft der Regierungen bedrohende Be⸗ wegungen im Kriege nach außen abgeleitet werden ein Schema, nach dem ſozialiſtiſche Theoretiker ſo gerne alle Kriege erklären wollen die durchaus irreguläre und unter⸗ geordnete. Es heißt das Weſen des Krieges auf den Kopf ſtellen, den auswärtigen Krieg aus dem drohenden Bürger⸗ krieg abzuleiten.“ Nichts hat in den letzten Friedensjahren den politiſchen Geiſt großer Volksmaſſen ſo ſehr mißleitet, wie dies „ökonomiſche“ Geſchichtsſchema, verbunden mit einer konſtitutiv gewordenen Geſichtsfeldeinengung der betreffenden Parteien auf Fragen der inneren Politik überhaupt. Daß ſelbſt der Spielraum und die Richtungen aller „mög⸗ lichen“ inneren Politik, aller Güter und Rechteverteilungen, normaliter ganz und gar von den Erfolgen der äußeren Po⸗ litik abhängen, trat völlig außerhalb des Geſichtskreiſes. Aus dieſem Schema heraus hat man Frankreichs Marokko⸗ politik, Italiens Annexion von Tripolis, Oſterreichs Bal⸗ kanpolitik, die Annexion Bosniens, den gewaltigen Kampf Rußlands und Oſterreichs um Erweiterung ihres Macht⸗ ſpielraums in die Richtung auf Konſtantinopel, auf Ver⸗ ſuche, ſich der inneren Revolution zu bemeiſtern, hat man den Konflikt mit Serbien auf das partikulare Intereſſe des ſüdöſterreichiſchen Großgrundbeſitzes und der dortigen Groß⸗ induſtrie, zuſammen mit Angſt vor dem Zerfall des in Na⸗

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tionalitäten zerſplitterten öſterreichiſchen Kaiſerreiches zurück⸗ geführt. Auf Grund dieſes Schemas haben uns die ebenſo perſönlich harmloſen, als eben politiſch durch dieſe Harm⸗ loſigkeit ſo überaus gefährlichen Leute, die in Vortäuſchung engliſch⸗deutſcher Entſpannung gemacht haben, ausgerechnet, daß England ſchon darum keinen Krieg gegen uns beginnen „könne“, weil es für eine Anzahl großer Induſtrien von uns die Rohſtoffe, für andere die Halbfabrikate beziehe und da wir ſein beſter Abnehmer ſeien. Und wieder nach dem gleichen leeren Schema leitet man jetzt den kriegeriſchen Geiſt der fran⸗ zöſiſchen Jugend und Regierung in den letzten Jahren daraus her, daß die neue republikaniſche Regierung den Arger der reichen Leute gegen eine gerechtere Steuervorlage (progreſſive Einkommensſteuer) nach Bahnen habe ableiten wollen; die ruſſiſche Großfürſtenpartei aber den Panſlavismus zu benutzen verſtand, um ihr wackelndes Regime zu ſtützen. (S. das Folgende.)

Es ſcheint freilich, daß jedes Friedenszeitalter den Glauben an irgendein Univerſalheilmittel gegen den Krieg hervorbringt. Ende des 18. Jahrhunderts war die europäiſche Bildung (ſ. Kants 1. Defenfivartikel in der Schrift zum „Ewigen Frieden) feſt überzeugt, daß die republikaniſche Staatsform ein ſolches Allheilmittel ſei. Die Geſchichte des 19. Jahr⸗ hunderts, in der Republiken weit mehr Kriege als Monar⸗ chien geführt haben, (Amerika Spanien, England Trans⸗ vaal,) hat uns von der völligen Gleichgültigkeit dieſer Staatsform für den Krieg und dem weit tieferen Verant⸗ wortlichkeitsgefühl monarchiſch regierter Staaten überzeugt. Um fo ſtärker wurde in dem vierundvierzig Jahre währenden

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Friedenszeitalter der Glaube an die wachſende Solidarität der Intereſſen des internationalen Handels und Verkehrs und an die gemeinſamen Intereſſen ſozialer Klaſſen, beſon⸗ ders der Arbeitermaſſen als kriegshemmender Urſachen. Aber wie elend und wie ſchwach haben ſich dieſe Intereſſen⸗ verbände und die ihnen dienenden Organiſationen und internationalen Mechanismen erwieſen! Spinnegewebe ge⸗ trieben im Sturm! Es iſt aber gerade gegenwärtig von höchſtem Jutereſſe, zu ſehen, wie dieſe Friedensphiloſophie, die im Kriege biologiſch nur eine komplizierte Abart tieriſcher Nahrungskämpfe ſieht und welche gleichzeitig die hiſtoriſchen Kriegserſcheinungen aus ökonomiſchen und innerpolitiſchen Faktoren ableiten will, die weiterhin in ſteigender ökonomiſcher Jutereſſenſolidarität der Völker den Garanten eines immer näher kommenden „ewigen Friedens“ ſieht, auch bei uns Deutſchen Herrſchaft gewann. Sie iſt in Sinn und hiſto⸗ riſcher Wurzel völlig verſchieden vom moraliſch⸗ fc een Pazifizismus.

Dieſer letztere begann nach dem Tod Ludwig XIV., noch dem Utrechter Frieden ſein Haupt zu erheben. J. dieſer Zeit, die Friedrich der Große eine „Zeit allgemeiner Ent⸗ artung der europäiſchen Politik“ nannte, begannen der ältere Rouſſeau und der Abbe Caſtel de Saint Pierre ihre Bücher vom „ewigen Frieden“ zu ſchreiben. 1795 folgte Kant mit ſeinem „philoſophiſchen Entwurf zum ewigen Frieden“. In allen drei Werken ſind es moraliſche Forderungen, entweder ſolche der Humanität, oder ſolche, die ſich aus einer Univerſa⸗ liſterung der Idee eines republikaniſch orientierten Vernunft⸗ rechtes (Kant) auf die Staatenverhältniſſe ergeben, in deren

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Name der „ewige Friede“ teils als Utopie, teils nur (wie bei Kant) als „regulative“ Leitidee des politiſchen Handelns beſtimmt wird. Der dritte „Präliminarartikel zum ewigen Frieden“ unter den Artikeln Kants fordert das Aufhören der ſtehenden Heere, die ſelbſt notwendig zu Urſachen des Krieges würden, „wozu kommt, daß zum Töten und getötet zu werden in Sold genommen zu ſein, einen Gebrauch von Menſchen als bloßen Maſchinen und Werkzeugen in der Hand eines anderen (des Staates) zu enthalten ſcheint, der ſich nicht wohl mit dem Rechte der Menſchheit in unſerer Perſon vereinigen läßt“. So wenig konnte ſelbſt der Preuße Kant das Unweſen der Kabinettskriege des 18. Jahr⸗ hunderts vor Augen das ſtehende Heer als einen orga= niſchen Beſtandteil der Staatseinrichtung und ein frei von den Bürgern felbft Gewolltes und Verantwortetes begreifen.” Er empfiehlt daher ausdrücklich das Milizheer. Die „De⸗ fenſtvartikel!“ beginnen gleich mit dem vermeintlichen Uni⸗ verſalheilmittel des 18. Jahrhunderts gegen den Krieg: „Die bürgerliche Verfaſſung in jedem Staate ſoll republikaniſch fein.‘ Denn „wenn die Beiſtimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, zu beſchließen, ob Krieg ſein ſolle oder nicht, ſo iſt nichts natürlicher, als daß, da ſie alle Drangſale des Krieges über ſich ſelbſt beſchließen, ſie ſich ſehr bedenken wer⸗ den, ein ſo ſchlimmes Spiel anzufangen“. Im anderen Falle ſei Gefahr, daß das Staatsoberhaupt, das als Staatseigen⸗ tümer „an ſeinen Tafeln, Jagden, Luſtſchlöſſern, Hoffeſten und dergl. nicht das Mindeſte einbüßt, dieſen alſo wie eine Art von Luſtpartie aus unbedeutenden Urſachen beſchließen und der Anſtändigkeit wegen dem dazu allezeit fertigen diplo⸗

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matiſchen Korps die Rechtfertigung desſelben gleichgültig überlaſſen kann“. Der Abgrund politiſcher Verworfenheit der Zeit, in den dieſe Sätze blicken laſſen, rechtfertigt das Urteil Treitſchkes, daß nur „müde, geiſtloſe und erſchlaffte Zeiten“ den Traum des ewigen Friedens geträumt haben, auch angeſichts des Philoſophen des „kategoriſchen Imperatis“, deſſen ſittliches , Pflicht Pathos in feinen Schülern Gneiſenau und Boyen die neue preußiſche Armeeverfaſſung der Befrei⸗ ungskriege mitaufbauen half, rechtfertigt es auch dann noch, wenn einige Kabinettskriege, die er ſich dabei vorſtellte, dieſes Urteil einigermaßen verſtändlich machen. Immerhin legt Kant dem Krieg noch eine Art ungewollter Zweckmäßigkeit zur Ziviliſation der Erde bei; die Menſchen ſeien durch ihn zur Bevölkerung der ganzen Erde „auch der unwirtſchaftlichſten Gegenden“ „wider ihre Neigung“ gedrängt worden. Und im erfreulichen Gegenſatz zu jener Lehre, nach der bloße Intereſſenkonflikte Urſprung des Krieges ſein ſollen, findet Kant, daß nicht „eigennützige Triebfedern“, ſondern „ſogar etwas Edles, wozu der Menſch durch den Ehrtrieb beſeelt werde“ ſeinen „letzten Beweggrund in der Menſchennatur“ ausmache, wodurch der Krieg eine „innere Würde“ erhalte.“

Wenn dieſer Typus von Kriegsphiloſophie im Geiſte der franzöſiſchen Revolution ihren letzten Urſprung hat, ſo iſt England das Mutterland jener andersartigen poſttiviſtiſchen Intereſſenlehre. Auch hier hängen Lehre, Theorien und die reale Geſchichte Englands weit tiefer zuſammen, als man annimmt.

Seit England Aſpirationen, ſich auf dem Feſtland auszu⸗ dehnen, aufgegeben hat, ſeit es am edelſten Heere, das es je

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befaß, an Oliver Cromwells gottſeligen, gnadentrunkenen Dra⸗ gonern, die nur die Idee einer religiöfen Sekte, Gottes Herr: ſchaft zu verbreiten, verbunden mit der aus der independenten Puritanerkirche ſtammenden Idee der religiös fundierten poli⸗ tiſchen Freiheit, nicht aber das Ganze des engliſchen Volkes vertraten, die furchtbare Erfahrung eines verheerenden Bürger⸗ krieges gemacht hatte, gewöhnte es ſich daran, das Heer nicht als organiſchen Beſtandteil der Nation, ſondern als bloß mechaniſches Werkzeug der jeweiligen Staatsregierung zu betrachten; an erſter Stelle aber als Werkzeug für koloniale Erwerbsintereſſen. Von der Aufgabe des Küſtenſchutzes ab: geſehen, der an erſter Stelle der Flotte obliegt, wurde der Soldat hier in der Tat an erſter Stelle das, wofür ihn jene neupoſitiviſtiſche Auffaſſung überhaupt nimmt: der bloße Schrittmacher des Kaufmanns. Die Meutereiakte ſtellte nach der Reſtauration das Heer unter Wilhelm III. außer⸗ halb der bürgerlichen Geſetze. Engliſche Hiſtoriker, wie Ma⸗ caulay, und faſt alle engliſchen Philoſophen bis zu H. Spen⸗ cer, haben dieſes echt engliſche, konſtitutive Mißtrauen gegen das Heer zu dem Satze dogmatiſiert, jedes ſtehende Heer ſei eine Gefahr für die politiſche Freiheit. Die Zwecke, zu denen Heer und Flotte hier vor allem verwendet wurden, zur be⸗ waffneten Handelsunternehmung und zum ſyſtematiſierten kolonialen Beutezug, Unternehmungsformen, aus denen zu⸗ ſammen mit der freien Initiative des engliſchen Kaufmanns ſich langſam die großen Handelskompagnien und ſchließlich das engliſche Weltreich auf bauten, geſtattete und forderte auch dieſes loſe, werkzeugliche Verhältnis von Heer und Nation. Denn nicht die edelſten und beſten Elemente, ſondern an erſter

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Stelle verarmter, aber kühner und raubgieriger Adel, deſſen ererbte normanniſche Seeräuberinſtinkte im Frieden brach lagen, drängte ſich automatiſch an die Spitze bei dieſen Kriegen, die ihr Krämerzweck nicht zu heiligen vermochte, und deren Führungsart bei der Natur der mit engliſchem Nationalhochmut verachteten Gegner die Geſetze jener Ritter⸗ lichkeit, die das Menſchentöten erſt zum „Kriege“ machen, in bekannter Weiſe mißachtete. Moch heute meldet ſich der halb⸗ wegs anſtändige engliſche Arbeiter nicht leicht freiwillig zum Heeresdienſt, wie die jüngſten Berichte zeigen. Homer Lea hat in ſeinem Buche „The day of the Saxon“ den Nieder⸗ gang dieſes immerhin kraftvollen (nicht „kriegeriſchen“, wie er irrig ſagt) Räubergeiſtes, der „das engliſche Weltreich ſchuf“, anſchaulich geſchildert und beklagt. Aber er wie der Dichter und Prophet eines neuen engliſchen Militarismus, R. Kipling, der Sänger des „Roten Kerls“, vergaßen, daß zwar der „Räuber“, nicht aber der „Krieger“ eine nur hiſto⸗ riſche Kategorie iſt; und daß der ſeiner Romantik entkleidete „Räuber“ eben nur der merkantile „Gentleman“ iſt und wer⸗ den kann und darum bleiben muß, da er nie ein „Krieger“ war. Auch die wahrſcheinliche Einführung der allgemeinen Dienſtpflicht in England in unſerem Kriege wird den „Gentle⸗ man“ nicht zum „Krieger“ machen. Die geſamte engliſche Philoſophie, die militariſtiſche und pazifiziſtiſche, verwechſelt den Krieger mit dem Räuber. Daher die Irrungen. Es iſt daher kein Wunder, daß der echt engliſche Drang, von feinen inſulären Verhältniſſen aus Weltverhältniſſe zu generalifieren das „inſuläre Denken“ nannte es vorzüglich der Oxforder Philoſoph Breadley und Shaw ſpottet in ſeinem Stück

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Antonius und Cleopatra feiner fo hübſch, wenn Cäſar gegen den angeſichts der tanzenden Cleopatra prüden Britannicus ſagt: „Laßt ihn reden, er hält die Sitten ſeiner Inſel für Naturgeſetze“ dazu führte, alle Kriege, ja des Krieges Weſen auf Urſachen der ökonomiſchen Erwerbsſucht zurück⸗ zuführen; ja ſchließlich ſpäter in der biologiſchen Unterbauung dieſer Theorie durch Darwin und Spencer im tieriſchen Mah⸗ rungskampf ſeine letzte biologiſche Wurzel zu ſehen. Wäre dieſe Vorausſetzung wahr, ſo müßte natürlich die ſteigende ökonomiſche Intereſſenſolidarität der Völker auch ſein end⸗ gültiges Aufhören bewirken. A—ouẽberr auch an zwei allgemeinere Doktrinen vermochte dieſe ſchon aus der Praxis der engliſchen Geſchichte nahegelegte Auffaſſung des Krieges anzuknüpfen. An die philoſophiſchen, ökonomiſchen und politiſchen Lehren des engliſchen „Liberalis⸗ mus“ und an den traditionellen Utilitarismus ſeit Bacon, dem ſich ſpäter nur als kleine Seitenzweige derſelben Wurzel des nationalengliſchen Geiſtes auch jene grund⸗ irrigen Prinzipien der engliſchen Biologie anſchloſſen, die durch Malthus und Darwin aufkamen, nachher aber durch H. Spencer wieder auf die Moral und Soziologie und hier ganz beſonders auf die geſchichtsphiloſophiſche Auffaſſung des Friedens und Krieges übertragen wurden. Der politiſche „Liberalismus“ brachte ſeit John Locke vornehmlich drei Ideen hervor, die auf die Auffaſſung des Krieges in genau dem gleichen Sinne wie die Generaliſterungen der hiſtoriſchen Wirklichkeit Englands zurück wirkten: Die individnaliftifche Vertragslehre vom Urſprung des Staates; die Lehre von der gottgewollten „natürlichen Harmonie der Intereſſen“ bei 29

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deren freier egoiſtiſcher Auswirkung; und endlich die (mecha⸗ niſtiſche) Leugnung aller in das Spiel der Kräfte irgend⸗ welcher elementarer Einheiten (der Welt, der Seele, des Staates) eingreifender und lenkender zentraler Agentien, wie ſie Gottes Weltlenkung und Regierung für die Teile der Welt, die Perſon für das Spiel der Vorſtellungen und Triebe, der Staat für das Spiel der wirtſchaftlichen Vor⸗ gänge, die Kirche für eine ſpirituelle Oberleitung der geiſtigen Kultur darftellen. „Deismus“, Aſſoziationspſychologie, Frei⸗ handelslehre und durch Adam Stiith theoretiſch unterbautes Mancheſtertum ſowie freies Gemeindechriſtentum ſind alſo nur Beſtandteile und gleichſam Seitenanſichten der „Welt“, wie ſie ſich in der „liberalen Weltanſchauung malt. Aus den Maſchen dieſer Weltanſchauung plumpſt die ungeheure Ir⸗ rationalität des Krieges natürlich allüberall heraus. Beruhte der Staat, der zu friedlicher Ordnung ſeiner „Bürger“ ge⸗ nannten Glieder faktiſch geführt hat, ſei es hiſtoriſch, ſei es auch nur eſſentiell auf der Idee des Vertrages, ſo wäre frei⸗ lich nicht einzuſehen, warum nicht durch Verträge der Staaten untereinander (alſo auf einem höheren Stockwerk gleichſam) eine analoge, dauernd friedliche Ordnung unter den Staaten zu erreichen wäre, wie ſie im Staate durch Vertrag möglich iſt.“ Nur als urſprüngliche Lebens⸗ und Willensgemein⸗ ſchaft die der Staat faktiſch iſt deren organiſterter Wille vor den Individuen iſt und gilt und als eine, von den durch mögliche Verträge zu regelnden Intereſſen unabhängige

Macht, Rechts⸗ und Werteinheit, deren Rechtſetzung oder Anerkennung erſt faktiſche „Verträge“ möglich macht, kann der Staat als Subjekt des Krieges ſinnvoll angeſehen werden.

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Die zweite Idee aber, jene von der „natürlichen Intereſſen⸗ harmonie“, wurde für A. Smith nicht nur zur Vorausſetzung ſeiner Lehre von der automatiſchen „beſten“ Preisregulierung durch Angebot und Nachfrage, ſondern auch ſeiner Lehre vom Freihandel aus Prinzip, als eines Mittels zur gegenſeitigen beſten Ergänzung der nationalen Produktionen untereinander zur vollkommenſten Stillung des ökonomiſchen Weltbedarfs.“ Die Selbſtwertigkeit der ökonomiſchen Autarkie der natio⸗ nalen Wirtſchaftseinheiten als ſolcher, deren Grad in jedem Kriege einer der entſcheidendſten Faktoren für Sieg und Nieder⸗ lage iſt, trat vor dieſem einſeitig privatwirtſchaftlichen Ge⸗ ſichtspunkt feiner ökonomiſchen Lehre völlig zurück. Die Ver: bindung aber dieſer Harmonielehre mit der mechaniſtiſchen Leugnung aller zentraler, leitender Kräfte wurde zur Begrün⸗ dung der folgenſchweren Lehre vom „europäiſchen Gleich⸗ gewicht !, über die ſchon Friedrich der Große die ſcharfe Lauge feines Spottes ergoſſen hat. Im Bilde einer Wage wurden die europäiſchen Mächte dargeſtellt, deren Balance durch die Kunſt der Diplomatie ſorgfältig zu hüten ſei. In dieſem Bilde der „Wage“ iſt das rein Statiſche dieſer Geſchichts⸗ betrachtung, das Verkennen der Tatſache, daß jeder Staat ein Wachſendes und Werdendes iſt, daß Geſchichte Tat und Leben, nicht aber ein diplomatiſches Rechenexempel iſt, auch formell offenkundig. Dieſe Lehre ſetzt voraus, daß jeder Krieg durch eine gute Diplomatie und kluge Verträge vermeidbar geweſen wäre, daß er immer nur die Folge eines ſubjektiven Rechenfehlers ſei, nicht aber ein in den Dingen ſelbſt liegendes Irrationales. Daß faktiſch diplomatiſche Unterhandlungen im beſten Falle nur die oberflächlichſten Bewußtſeinsſpiege⸗

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lungen der faktiſchen Kräfte und Spannungen ſind, die zum Kriege führen und daß dieſe Kräfte als ſittliche Kräfte nichts roh Mechaniſches und Berechenbares ſind, ſondern nur für jeden beſonderen konkreten Fall Aufzeigbares, reſp. hiſtoriſch Nachzuerlebendes ſind, wurde hier natürlich vergeſſen. In ihrer Anwendung aber wurde dieſe Methode des politiſchen Gleich⸗ gewichts“ in England fo gefaßt, daß zu den als toten Gewichten gedachten, kontinentalen europäiſchen Staaten England als ein außerhalb der europäiſchen Kulturſolidarität ſtehendes, über ſie erhabenes, rechnendes und lenkendes Subjekt, das die „Wage“ in der Hand hält, ſtets ſo viel „Gewichte“ auf die Schalen mit kleinerem Gewicht zu legen habe, daß „Gleich⸗ gewicht“ einträte. Dieſer beiſpiellos freche Anſpruch, mit Europa bloß zu „rechnen“, anſtatt ſich als Glied Europas zu fühlen, erhielt dann als köſtliches ethiſches Cachet die For⸗ mulierung, es ſei Englands ganz beſondere göttliche Sendung, „die Rechte der Schwachen“ zu ſchützen. Der Haß gegen den jeweilig Starken (beſonders Seeſtarken) wurde per Reſſenti⸗ ment als „Liebe zu den Schwachen“ vermöge des engliſchen Kant (ſ. Anhang) ſo ausgelegt, daß das Gewiſſen des Gentle⸗ man ſelbſt vor Gott noch „rein“ zu bleiben ſchien. Genau analog hält noch Spencer ein ethiſch abſolut indifferentes, blödes, ſoziales Intereſſengleichgewicht (bei dem die Welt noch teufliſch ſein könnte) für den „Erſatz“ der Idee des chriſt⸗ lichen Liebes⸗ und Gottesreiches! Und wieder zum gleichen Reſultat führte der engliſche Utilitarismus, ſei es der cant⸗ verſchleierte, ſei es der naiv ehrliche, die ideologiſche und prak⸗ tiſche Spezifizität des Inſelvolkes. In feiner Güterlehre muß der Utilitarismus nicht nur die geiſtigen Werte (Erkenntnis,

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Wiſſenſchaft, Kunſt), ſondern auch alle Lebenswerte (Volks⸗ kraft, Raſſe und Volksgeſundheit, echte „Macht“) denen des Nutzens und der Technik unterordnen. Das aber heißt einen ſchrankenloſen volks⸗ und landverwüſtenden Induſtria⸗ lismus predigen. Verbunden aber mit dem, alles Fremde ausſchließenden und am Eigenen ſo naiv meſſenden nationalen Selbſtgefühl des Inſelvolkes führt dieſe Denkart zum tiefſten inneren Widerſpruch, den Geſchichte und Kultur Englands überhaupt in ſich enthalten. Dieſer Widerſpruch beruht dar⸗ auf, daß die utilitariſchen Werte, rein als ſolche betrachter keinen Differenzierungsgrund für die Exiſtenz von „Nationen“ und nationalen Staaten in ſich enthalten. Sie und ſie allein ſind von Hauſe aus „international“, ja anational, ſind es und ſollen es ſein; nur den Methoden ihrer Hervorbringung nicht den Produkten (ſo auch den Methoden, nicht den Reſultaten des durch dieſe Werte noch mitbeſtimmten Denkens der exakten Wiſſenſchaften) kommt noch ein eige ntümlicher „nationaler“ Charakter zu. Sinn und Exiſtenz der Nationen und nationalen Staaten ruht alſo gerade ausſchließlich auf den überutilitariſchen Worten, den Lebens⸗ und Kulturwerten, auf Macht, Ehre, Geiſt.“ Und gleichwohl iſt das engliſche Ethos, das ſeiner Breitenherrſchaft nach angeſehen die Lebens⸗ und Kulturwerte, damit auch gemeinſames Stammesgefühl und Kulturſolidarität mit den Weſtmächten, prinzipiell und in jedem praktiſch bedeutſamen Falle den Mützlichkeitswerten unterordnet auch jetzt wieder die von ihm tief verachteten Ruſſen und Japaner gegen uns Deutſche für feine Kontobuch⸗ Intereſſen arbeiten läßt ausgeprägt nationaliſtiſch! Aber nicht wie die echte Nation es tut, ſucht es ſein „eigentümliches

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Beſtes“ zur Macht über die Erde werden zu laſſen (J. ©. Fichte), dieſes „Beſte“ kann ja von Hauſe aus nur in den geiſtigen und heldiſchen Werten beſchloſſen liegen vielmehr ſucht es nur die Mützlichkeitsintereſſen der Völker an die eigenen Intereſſen des engliſchen Kontobuches zu heften. So leugnet es zugleich prinzipiell das Fundament für die Exiſtenz des nationalen Staates das Ethos, aus dem dieſer immer und ewig hervorſprießt und ſchließt ſich gleichwohl in ſeinem Selbſtgefühl ſchärfer von allen anderen Nationen ab als jede andere Nation. Die Löſung dieſes Rätſels liegt zum Teil in der Natur eines Inſelvolkes, bei dem die Küſte allein ſchon eine viel ſchärfere natürliche nationale Abgrenzung ſchafft, der geiſtige Kitt der Nation alſo entſprechend ver⸗ mindert ſein kann; zum Teil aber eben darin, daß die ſchranken⸗ los utilitariſche Geſinnung ſelbſt, hier zum Dogma erhoben, den beſonderen und allerdings einzigartigen geiſtigen Kitt bildet, der gerade die engliſche Nation zuſamenhält.“ Die Kriegsidee der engliſchen Philoſophen und Hiſtoriker trägt darum den Widerſpruch in ſich, daß ſie gleichzeitig den Krieg als dauernde Welteinrichtung ſchroff verneinen, aber ſelbſt vor der Billigung grauſamſter Vernichtungskriege nicht zu⸗ rückſcheuen, wo es Mützlichkeitsintereſſen gebieten. (Man denke an Indien und die engliſchen Feudalherrn im Kampf mit den Negern im Süden der Vereinigten Staaten.) All dem entſpricht auch die utilitariſche Moraltheorie genau. Alle jene ſpezifiſch vitalen Tugendwerte, deren poſitive Schätzung ein kriegeriſches Volk auszeichnen, als da ſind Mut und Liebe zum Ohngefähr und zur Gefahr, Sinn für das Edle und Heldiſche, Ritterlichkeit, Treue, Opferkraft, Ehr⸗

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gefühl und Ruhmbegierde pflegen die englifchen Moraltheo⸗ retiker traditionell aus der nützlichen Wirkung abzuleiten, welche nicht etwa der Beſitz dieſer Eigenſchaften, ſondern nur das Dafürgelten, daß man ſie beſitze, vor dem „unbeteiligten Zuſchauer“ und der „öffentlichen Meinung“ mit ſich führe. Es iſt faſt zum Lachen, wie Smiths Theorie von der Her⸗ kunft moraliſcher Werte und des Gewiſſens aus dem reflexiven Mitgefühl des Übeltäters mit dem lobenden und tadeln⸗ den Urteil des „unbeteiligten Zuſchauers“ dem engliſchen cant, wie D. Humes Ableitung der Schätzung des Ehr⸗ gefühls im zweiten Teile ſeines Traktates aus dem Nutzen und der Kreditfähigkeit, welche die Achtung anderer mit ſich führen, die Natur des eben nur englifchen „Ehrgefühls“ theoretiſch apologetiſiert. (Siehe das Genauere im Anhang dieſes Buches.) Die Herren wiſſen nicht: „De te fabula nar- ratur“! Sie merken nicht, daß fie überall da, wo „menſch⸗ liche Natur“ ſteht, ein „wir Engländer“ zu ſetzen hätten. Genau ſo wie in praxi der engliſche Soldat nur Schrittmacher des Kaufmanns iſt, ſo erſcheinen auch in der Theorie der Philoſophen die vitalen und kriegeriſchen Tugenden nur als Derivate der ſpezifiſch kaufmänniſchen Tugenden, wie ſie ſich in Fleiß, Solidität, Rechtlichkeit, Sinn für Sekurität in allen Lebens beziehungen, guten Ruf, Klugheit und Konſtanz der Willensenergie uſw. verkörpern. Das Kriegeriſch⸗Ritter⸗ liche von dem Räuberiſchen zu unterſcheiden iſt den engliſchen Moraliſten ſtets am ſchwerſten geworden eben darum, da ihre Kriegführung ſtets räuberiſchen Charakter hatte. Kein Wunder denn auch, daß ſie den Krieg ſelbſt philoſophiſch und pſychologiſch auf eine Art Räuberei und ſchließlich de

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facto darauf zurückführen: daß die Welt noch nicht in ge⸗ nügendem Maße in das Geſchäftshaus Old England & Co. als Kommis eingetreten iſt. Erſt dann würde das „ſoziale und politiſche Gleichgewicht“ völlig erreicht ſein.

Darf man von dem Kriege, den wir eben führen, hoffen, daß die oben bezeichneten Ideengänge, die ein großer Teil unſeres Volkes und unſerer Parteien allzubereitwillig von England übernahm, zurücktreten werden? und wir wieder mit unſeren eigenen deutſchen Augen die Dinge ſehen werden, ſo darf man vielleicht auch hoffen, daß jene ſchon vorher zurück⸗ gewieſene roheſte und törichteſte theoretiſche Auffaſſung des Krieges verſchwindet, die wir ſo lange ſowohl von Angehöri⸗ gen des Pazifizismus als von Leuten der Kriegspartei vorgetra⸗ gen hörten, und die aus der engliſchen Biologie, beſonders aus den Theorien Darwins, als beſonderen Anwendungen des Utilitarismus auf die Lebenserſcheinungen, hervorging.

Der Krieg ſagte ich hat, obzwar ein eigentümlich menſchlicher Vorgang, eine Wurzel im Weſen des Lebens überhaupt. Aber dieſe Wurzel iſt gerade nicht wie uns die Darwiniſten und H. Spencer verſichern der tieriſche Daſeins⸗ und Nahrungskampf; ſie iſt nicht eine Folge ge⸗ wiſſer Disharmonien der „Anpaſſung“, die alſo mit ſteigender „Anpaſſung“ überwunden würde. Die wahre Wurzel alles Krieges beſteht darin, daß allem Leben ſelbſt und unabhängig von ſeiner beſonderen, wechſelnden Umwelt und deren Reizen eine Tendenz zur Steigerung, zum Wachstum und zur Ent⸗ faltung ſeiner Mannigfaltigkeitsarten (Organ, Funktion uſw.) innewohnt. Gleichzeitig und durch die gleichen Agen⸗ tien beſtimmt betätigt ſich dieſe Tendenz in Organbildung

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reſp. Organdifferenzierung und in Erweiterung ſowie Heraus⸗ formung einer der Artorganiſation entſprechenden „Umwelt“ aus dem Geſamtdaſein der toten Welt.“ Dieſer Tendenz aber ſind jene Momente, die Darwin und Speneer zu den alleinigen Weſenszügen des Lebens machen, nämlich „Daſeinserhaltung“ und „Anpaſſung innerer Beziehungen an äußere“ der Um⸗ welt ganz untergeordnet. Analog ſind die individualerhalten⸗ den und ⸗ſteigernden Tendenzen und Kräfte (darunter auch die Erwerbsfähigkeit neuer „Gewohnheiten“ bei den höheren Wirbeltieren) den arterhaltenden und artſteigernden Kräften (wie in den echten „Inſtinkten“) nicht wie Spencer wenig⸗ ſtens für die Urſprünge annimmt, übergeordnet, ſondern untergeordnet. Zwei Merkmale hat alſo jener Darwin⸗ Spencerſche Lebensbegriff, welche uns tiefere Einſicht heute zurückzuweiſen zwingt: Er iſt (trotz mancher entgegengeſetzter Anläufe Darwins) ſchroff individualiſtiſch und er iſt ganz paſſtoiſch und mechaniſch. Er entwendet, wie ſchon Nietzſche, neuerdings Bunge“ treffend ſagten, dem Leben fein Weſen: „die Aktivität“. Die großen Entfaltungs⸗, Differenzierungs⸗ und Formänderungserſcheinungen in der Lebewelt ſollen nach dieſer überall mit Analogien aus der Mechanik ſpielenden Lehre keine eigene autonome Urſache haben. Sie ſollen nur gleichſam ſtatiſtiſche Durchſchnittserfolge davon fein, daß zu: fällig variierende Individuen und Individualkeime ſich im „Daſein erhalten“. Alle Ent⸗faltung ſoll nur Epiphänomen ſein zu Er⸗haltungsprozeſſen; alles Wachstum nur Folge der Aufnahme und Bindung äußerer Stoffe in der Ernährung. Das Leben der Art und alle von ihm abhängigen pſychologi⸗ ſchen Kräfte aber ſollen dem Individuum nicht real immanent,

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fondern nur eine Zuſammenfaſſung unferes künſtlichen Ver: ſtandes fein, die er an den Erfolgen der individuellen Variation, den individuellen Erwerbungen (Spencer) und der an dieſen Er⸗ werbungen und richtungsloſen zufälligen Umbildungen ſtatt⸗ findenden Selektion des Untauglichen durch äußere Kräfte vor⸗ nimmt. Faktiſch aber geht die Tendenz zur Erweiterung und aktiven Formung der Umwelt Nietzſche nannte fie einſeitig und unzweckmäßig den „Willen zur Macht“ allen jenen Prozeſſen vorher, die nur die ſteigende (und ſinkende) An⸗ paſſung der Individuen an ihre Umwelt beſtimmen; faktiſch geht wie die Menge der Reſtitutionen zeigten die Ten⸗ denz zur Neubildung von Organen allen Prozeſſen vorher, die auf Grund äußerer Einwirkungen nur ihre Umbildung veranlaſſen. Faktiſch iſt die Wachstumstendenz ſchon der einzelnen Zelle Bedingung jener normalen Ernährung.“ Steigende Anpaſſung an die Umwelt, die nicht mit jener pri⸗ mären Tendenz zur Erweiterung und Erformung einer „Um⸗ welt“ gleichzeitig iſt, iſt alſo ſo wenig die mögliche Urſache einer „Entwickelung“, daß ſie vielmehr häufig zum Verluſt ſchon entfalteter Organe führt und zur Entdifferenzierung der Art. Eine Reihe Schmarotzer haben ihre Bewegungsorgane und vieles andere durch „Anpaſſung“ verloren und faſt nur ihre Verdauungsorgane blieben ſchließlich zurück; ſie gleichen einer Geſellſchaft, die nur mehr Handels: und Induſtrie⸗ geſellſchaft wäre. Anpaſſung und Erhaltung des Angepaßten kann ſchon darum wahre Entwicklung und Entfaltung der Organiſation nicht erklären, da auf jeder Stufe der Orga⸗ niſationshöhe die Individuen in allen beliebigen Graden ihrer (von Organiſation zu Organiſation wechſelnden) Umwelt

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angepaßt und nicht angepaßt fein können: Die Qualle wie der Menſch.“ Nur indem Spencer die „Menſchenumwelt“ auch den Tieren und Pflanzen zugrunde legt anſtatt deren jeweiliges Milien fo, wie es jetzt von Uxküll fo inſtruktio ge- ſchieht, beſonders zu ſtudieren kann er vermeinen, die echten Organiſationsänderungen auf Kumulierung von Anpaſſungs⸗ und Standartsvariationen zurückführen zu können. Durch dieſe grundirrigen Vorausſetzungen erhielt aber auch der ſogenannte „Kampf ums Daſein“ und um die Nahrung eine ganz falſche Bedeutung zugeſchrieben. Während er für Darwin der hier charakteriſtiſcherweiſe von den an den engliſchen Induſtrieverhältniſſen der dreißiger und vierziger Jahre gewonnenen fozialen Bevölkerungslehren des ortho⸗ doxen Puritaners Malthus ſeinen Ausgang nahm und die Sonderart ihrer Verhältniſſe gleichſam in die Natur hinein⸗ projizierte einer der bedeutſamſten Faktoren der Fortent⸗ wicklung des Lebens zu höherer Organiſation iſt, gilt für eine zutreffendere Auffaſſung des Lebens das Umgekehrte. Es gilt, daß ſolcher Kampf um die Nahrung genau nur ſoweit und in den Grenzen ſtattfindet, als jene primäre Tendenz zur Erweiterung und Erformung eines beſonderen Milieu, ſowie gleichzeitiger, durch dasſelbe Agens beſtimmter Organbil⸗ dung, in ihrer Kraft nachläßt, das heißt als das Leben in einer Art ſtagniert und niedergeht. Was in Lebeweſen zur Entfaltung, zur Erweiterung und Erformung ihres eigen— tümlichen Milien führt, das eben hemmt zugleich dieſen Konkurrenzkampf um die Nahrung und macht ihn relativ unnötig. Nur ſoweit ſich die Milieus der Lebeweſen jeweilig noch ſchneiden und das heißt ſoweit die Wirk ſamkeit der

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urfprünglichen Differenzierungsurſache von Organ und Um: welt ſtagniert, gibt es und kann es folchen „Kampf“ um eine gemeinſame Nahrung geben. Mangelnde Machtent⸗ faltung des Lebens alfo führt zu Daſeins⸗ und Nahrungs⸗ konkurrenzkampf. Je ſchärfer die Artorganiſationen ge⸗ ſchieden ſind, und je tiefer zwiſchen ihnen die Verſchieden⸗ heiten in den vital wichtigſten Organen und Funktionen gehen, deſto mehr gibt die lebendige Natur dem geiſtigen Auge das Bild eines friedlichen Zuſammenwohnens und einer Solidarität der Kräfte, und nur an den Grenzen und unklaren Übergängen herrſcht das Prinzip des Nahrungs⸗ kampfes. Analog gilt: Soweit die Organismen überhaupt im Verhältnis von Jäger und Beute zueinander ſtehen nicht alſo bloß des Nahrungskonkurrenzkampfes deſto ſpezifiſcher wird die Beute bei wachſender Organiſation, während gleichzeitig die Eintracht der Familien oder Herd⸗ genoſſen der ſoziallebenden Tiere und ſchließlich der Art⸗ genoſſen bei Verteilung und Verzehren der Beute, bei wach⸗ ſender Höhe der Organiſation zunimmt und mit ſinkender ſich verringert. Die Hyänenmutter die Hyäne iſt ein ſtark parafitäres Tier entreißt ſelbſt ihren Jungen die Beute im Gegenſatz z. B. zu Löwe und Tiger. Beide Fak⸗ toren verringern alſo den Beutekampf. Desgleichen gilt, daß Ausſcheidung der ſchwachen und kranken Individuen aus der Fortpflanzung denn nur dies iſt echte Selektion nicht nur durchaus nicht in dem Maße ſtattfindet, als Darwin meinte eine ſehr genaue Unterſuchung an unſern Nordſeeheringen ergab z. B. das gegenteilige Reſultat ſondern auch nur in dem Maße erfolgt, als die mit niedriger

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Organiſation im allgemeinen wachſende, mit höherer ab: nehmende Vermehrungstendenz der Arten ſich ſteigert. Am irrigſten aber iſt die Meinung, daß das Reüſſieren im Da⸗ ſeins⸗ und Nahrungskampf, ſoweit er unter Arten ſelbſt ſtattfindet, auch Folge oder Zeichen höherer Organiſation ſei. Das iſt ſo falſch, daß vielmehr gerade umgekehrt ſehr häufig die große Maſſe der niedrig und ſchlecht organifierten Lebensformen die höhere und edlere Lebensform im Kampfe um bloße Nahrung überwindet und zum Ausſterben bringt. Eine ganze Reihe hochorganiſierter ausgeſtorbener Tierarten und Pflanzenarten geben uns Beiſpiele hiervon.

Ich ſagte: menſchliche Dinge wie der Krieg und die Arbeit können niemals vollſtändig aus biologiſchen Geſetzen begriffen werden; denn der neue Faktor „Geiſt“ kommt bei ihnen hinzu. Aber gleichwohl haben ſie alle eine vitale Wurzel. Wir müſſen alſo zwei Wurzeln auch aller menſch⸗ lichen Kämpfe unterſcheiden. Für allen wirtſchaftlichen Konkurrenzkampf zwiſchen Individuen und Völkern iſt dieſe Wurzel dieſelbe, die den tieriſchen Mahrungskampf und Beutekampf leitet; dieſe Wurzel iſt für die Ausbildung der Technik und der ökonomiſchen Organiſationsformen das Prinzip der ſteigenden Anpaſſung an eine gegebene ſtationäre Umwelt. Sie hat gleichzeitig die individualiſtiſche Tendenz zur Vorausſetzung. Dieſe Wurzel aber iſt für den Krieg nicht eines dieſer Prinzipien oder beide zuſammen, ſondern das andere, das tiefere und dem Leben weſentlichere Prinzip urſprünglicher Machtſteigerung in Erweiterung und Er⸗ formung der Um⸗ und Wirkenswelt der edleren und höher⸗ gearteten menſchlichen Gruppen. Und gleichzeitig iſt die

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Wurzel des Krieges das dem individualiſtiſchen Prinzip übergeordnete Prinzip des Univerſalismus des Lebens, wie es ſich in der Staatsbildung als der Bildung eines in allen In⸗ dividuen identiſch gemein ſamen, ſelbſtändigen, über alle In⸗ dividualintereſſen und ⸗neigungen real erhabenen, die Zeitinter⸗ eſſen der Generationen real überdauernden Lebenswillen des Staatsweſens und ſeiner vernünftigen Regelung verkörpert. Eben darum liegt aber auch Wachſen und Werden, liegt Machtſteigerung im Weſen des Staates ſelbſt; es iſt kein ak⸗ zeſſoriſches Moment für ihn, das da ſein oder fehlen könnte. Der nicht wachſende Staat, der Staat, der nur auf „Erhaltung“ ſeines Seins und Soſeins bedacht wäre, es wäre der tote, der er⸗ ſtarrte, der fein Weſen aufgebende, der ſinkende Staat. Alles Tote, Mechaniſche ſucht ſich nur zu „erhalten“ und gehorcht den bekannten mechaniſchen „Erhaltungsprinzipien“; während Leben wächſt oder niedergeht. Krieg aber, das iſt der Staat in feinem aktuellſten Wachſen und Werden ſelbſt. Krieg ift,, Poli: tik katexochen“, wie Treitſchke richtig ſagt. Es iſt alſo darum auch nicht richtig, daß es „natürliche Grenzen“ der Nationen gäbe, denen der Staat ſich nur „anzupaſſen“ hätte, wie es jüngſt wieder Ludo Hartmann auf dem Soziologentag mit, wenn auch noch ſo geſchickten Gründen, für die deutſche und tſchechiſche Mationalität vertreten hat. Der Staat iſt nicht von der „Umwelt“ des naturgegebenen Volkes abhängig: er bildet ſie, er ſucht erſt für die Geiſtes⸗ und Willensrichtung ſeines volklichen oder nationalen einfachen oder gemiſchten Subſtrates die deren Aktionsgröße und Richtung gemäße territoriale Umwelt. Alſo iſt der Krieg mit der Exiſtenz des Staates und der Vielheit der Staaten gleich urſprünglich,

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wie ſchon Treitſchke richtig hervorhob. Ja, der kriegführende Staat iſt der Staat in der höchſten Aktualität ſeines Daſeins. Alle ökonomiſche Arbeit der Geſellſchaft und alle ihr dienende und ſich wandelnde Produktionstechnik und Organiſationsform der Arbeit hingegen folgt dem, dem Leben nicht minder weſent⸗ lichen, aber ſeinem urſprünglichen Aktivismus untergeordneten Prinzip des Reaktivismus oder der Anpaſſung, desgleichen des ökonomiſchen Konkurrenzkampfes. Anpaſſung wie Kampf finden aber immer nur innerhalb des Ganzen der Milieu⸗ grenzen ſtatt, welche die Staaten in Krieg und Koloniſation erformt und gebildet haben. Und nur die, nach an ſich be⸗ ſtehenden Vernunftprinzipien, zugleich aber auf Grund des eigentümlichen Volksweſens, erfolgende Ordnung der inneren Organiſation und der von all dieſen Organiſationen um⸗ ſpannten Privatintereſſen, ſtellt das durch den Staat geſetzte „Recht“ dar. Alſo iſt dem Staat Macht und Machtwerden nicht minder weſentlich als Setzung und Realiſierung der Rechtsordnung durch eine poſitive Geſetzgebung.

Eben dieſe eigentümliche Art der Verwurzelung des Krieges im Leben ſelbſt bringt es nun auch mit ſich, daß er im ge⸗ ſchichtlichen Daſein analoge Funktionen ausübt, wie die ur⸗ ſprünglichſte Tendenz des Lebens ſelbſt. Spencers biologiſch fundierte Soziologie war in einem falſchen Lebensbegriff fundiert und darum konnte Spencer dieſe wahre Funktion des Krieges nicht fehen ;3° darum allein konnte er glauben, den unbegrenzten Fortſchritt des induſtrialiſtiſchen Pazifizismus ſoziologiſch recht⸗ fertigen zu können. Sieht man genau auf die weſentlichſten Punkte der engliſchen Biologie hin, ſo gewahrt man ja nun ganz deutlich, daß fie nur die Projektion und Univerfalifierung

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der vorhin genannten liberalen und utilitarifchen Prinzipien der engliſchen Kaufmannsphiloſophie auf das ganze Reich des organiſchen Lebens iſt. Alles entſpricht ſich hier aufs ge⸗ nauſte: der Individualismus hier und dort (ſiehe Vertrags⸗ lehre), die grob⸗mechaniſtiſche Metaphyſik, der Glaube an „Nutzen“ und „Anpaſſung“ ſogar als lebensſteigernder Mächte, die Verwechſlung von „Umwelt“ und „Welt“, der Okonomismus aller Geſchichtsauffaſſung, die Unterord⸗ nung der Tugenden des Edlen unter das Mützliche, des Or⸗ gans unter Werkzeug und Maſchine.s:. So unvergleichlich tief alfo find hier Naturauffaſſung, Ethik, Staatslehre und Ge⸗ ſchichte dieſes Volkes ineinander verwachſen! Kein Wunder drum, daß Spencer (im Unterſchied von älteren Utilitariern) aus ſeinen biologiſchen Prinzipien auch wieder den Liberalis⸗ mus, Pazifizismus und Utilitarismus abgeleitet hat; ja daß er damit gerade was Neues zu ſagen wähnte! Der Grund, daß er es vermochte, iſt einfach der, daß er ja zuerſt dieſe traditio⸗ nellen Prinzipien engliſchen Denkens in die Lebenserſcheinun⸗ gen hineingedeutet hatte! Nun aber ſehen wir, daß der Krieg ſo wenig aus „ökonomiſchen Faktoren“ zu begreifen iſt oder als fortgebildeter Nahrungskampf und Beute⸗ oder Raub: zug daß es vielmehr die mileuerweiternde Kraft des Krieges für die Sphäre des Staatswillens mit ſich führt, daß die Intenſität und die Gewaltformen des Nahrungskampfes ſich durch den Krieg verringern.

Dieſer Gewaltkampf um Wirtſchaftswerte im Frieden iſt durchaus kein bloßes Merkmal unentwickelter Wirtſchafts⸗ verhältniſſe. Er verſchwindet in der hiſtoriſchen Entfaltung des Wirtſchafts lebens nicht, ſondern ändert allein feine Form von

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der mehr unmittelbar phyfifchen Gewalt zur ökonomiſchen und moraliſchen Vergewaltigung die fich gerade in langen, dem Kapitalismus günſtigen Friedenszeiten immer ſtärker ausbreitet und unter dem modernen Wirtſchaftsprinzip „freier Konkur⸗ renz“ fogar an Intenſität und Ausbreitung im Verhältnis zu anderen Zeitaltern un verhältnismäßig gewachſen iſt. Preis⸗ unferbiefung und ⸗überbietung, ungerechte Monopoliſterung, Kartellierung und Vertruſtung, Sabotage, Streik mit Ver⸗ tragsbruch, lügenhafte und gewiſſenloſe Reklame, all die tau⸗ ſenderlei auf Liſt und Täuſchung beruhenden Kunſtgriffe des Börſianers, des Schiebers und Wucherers, der Grundſtück⸗ ſpinne, die durch die weiten Maſchen der Geſetze hindurchfallen, die bekannten Formen des Beleidigungsprozeſſes, durch die der mißliebige Gegner mundtot gemacht wird, wie immer er das ſittliche Recht zur Seite habe, und tauſenderlei Ähnliches ſind Gewaltformen des Kampfes im Frieden, die moraliſch nicht um ein Haar weniger verdammenswert ſind, weil ſie ſich der Geſetze und des „Rechtes“ gar noch zur Erreichung ihrer Zwecke bedienen. Wohl aber ſtehen ſte ſittlich unendlich tief unter der Gewalt, die im Kriege angewandt wird, da fie nicht wie dieſe dem idealen Ziele der politiſchen Selbſtändigkeit, Freiheit und Macht des Staates, ſondern nur Privat⸗ intereſſen dienen und gegenüber jener offenen und ehr⸗ lichen Gewalt noch den Schein einer phariſäiſchen Kor: rektheit vortäuſchen. Denken wir uns nun aber einen dau⸗ ernden Friedenszuſtand in einer Geſellſchaft, in dem alle Machterweiterung, die dem Abfluß der Privatintereſſen und des wirtſchaftlichen Unternehmungsgeiſtes nach außen (Koloniſierung) dienſam werden kann, alle möglichen Zu⸗

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ſammenſtöße mit fremden Völkern vermieden worden wären, ſo müßten ſich im Innern dieſer Geſellſchaft gerade dieſe niedrigſten Gewaltformen bis aufs äußerſte ſteigern. Die Ge⸗ ſamtſumme der „Gewalt“ auf Erden würde nicht ſinken, ſondern bedeutend anwachſen. Denken wir gar die Menſch⸗ heit von jeher im Friedenszuſtand, (wobei wir anzunehmen hätten, daß ſich die vorhandenen Gruppen nur die nach Natur, Klima, Bodenbeſchaffenheit, Fruchtbarkeit günſtigſten Po⸗ ſitionen der Erde zu ihrem Wohnort ausgeleſen hätten), ſo iſt gar nicht auszudenken, welche Zunahme und Intenſi⸗ tätsſteigerung dieſe Art von Gewaltkämpfen angenommen hätte. Ich glaube, die Menſchen hätten ſich gegenſeitig „friedlich“ aufgefreſſen, wenn nicht die Würde des Kriegs ſelbſt noch die Gewalt geheiligt und auf gemeinſame Ziele großer Gemeinſchaften geſpannt hätte. Es iſt der Krieg wie ſchon Kant ſah der die Erdkugel gerade in den Zonen bevölkert hat, die durch die Arbeit, die ſie als weniger von Natur begünſtigte, erzwangen, Technik und Ziviliſations⸗ bildung aufs ſtärkſte gefördert, ja erſt möglich gemacht hat. Es iſt der Krieg, der die faktiſchen Milieus der Völker erſt aus möglichen ausſchnitt, an welche dann techniſche und ſonſtige Anpaſſung vermöge Werkzeug, Maſchine, Arbeit und die gewerblichen uud kaufmänniſchen Tugenden erfolgen konnte. Die Waffe ging dem Werkzeug vorher und auch faſt alle alte und neuere höhere Mechanik iſt als Unterſtützung der Kriegs⸗ und Befeſtigungstechnik entſtanden (Galilei,? Ubaldi, Leo⸗ nardo). Gleichzeitig aber ſchafft der Krieg damit auch dem Rechte des edleren Volkes eine weitere und weitere Sphäre der Verbreitung und Anerkennung. Vor allem aber wirkt der 46

Krieg jenem ruinierenden Nahrungskampfprinzip entgegen, das wie ſich zeigte gerade die höheren und edleren Lebens⸗ organiſationen mit ihrer vergleichsweife ſinkenden Vermeh⸗ rungstendenz und ſteigendem durchſchnittlichem Lebensalter zur Beute der vom Standpunkt der Anpaſſungswerte ge: meſſenen häufig weit beſſer angepaßtem und fortpflanzungs⸗ kräftigeren großen Maſſe der gemeineren und niedrigeren kurzlebigeren Lebensformen werden läßt. Dächte man ſich die Geſchichte ohne Krieg und in ihr nur dasjenige Geſetz der Erhaltung des Mützlichen und der beſtangepaßten und an⸗ paſſungsfähigſten Varietäten wirkſam, das in menſchlichen Verhältniſſen vor allem in den ökonomiſchen Konkurrenz⸗ kämpfen der Individuen und Klaſſen und ihren Ergebniſſen hervortritt, ſo wäre die notwendige Folge, daß überall die bloße Menge des Kleinen das ſtets in Minorität befindliche Mächtige und Differenziertere vernichtete. Analog würden die Beſitzer der Anpaſſungstugenden und =Iafter, Schlauheit, Schmiegſamkeit, Arbeitſamkeit, Sinn für Sicherheit, aber auch Feigheit, Mißtrauiſchkeit, Verlogenheit, Sersilität, egoiſtiſche Rechenhaftigkeit die Beſitzer der entgegengeſetzten, das heißt der „edlen“, der „heldiſchen“ Eigenſchaften über⸗ leben und überdauern! Darum iſt der Krieg in ſeinem Erfolg nicht nur die Wirtſchaftspolitik katexochen, ſondern auch die qualitative (nicht quantitative) Bevölkerungspolitik katexochen. Wenn das wirtſchaftliche Kampfprinzip nur auf Erhaltung und Steigerung der Quantität der Bevölkerungsvermehrung auf einem gegebenen Territorium durch ſteigende Technik und klügere Organiſation gerichtet iſt, damit aber gerade die niedrigeren Lebensformen von Hauſe aus begünſtigt,

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fo wirkt das kriegeriſche Kampfprinzip dem eben dadurch entgegen, daß es die Fortpflanzungsfähigkeit der qualitativ edleren Minoritäten im Völkerkampf ſteigert, die durch die Wirkſamkeit des erſten Prinzips allein dem ſicheren Ruin ausgeliefert wären. Ein Volk oder eine Gruppe, die wir „edel“ nennen, zeigt die damit angedeutete Höhe ſeiner geiſtig⸗vitalen Artung eben durchaus nicht in geſteigerter An⸗ paſſungsfähigkeit an alle möglichen Verhältniſſe der Matur und Herrſchaft. Umgekehrt erweiſt es dieſe Artung darin, daß es tief in ſeiner Seele geſonnen iſt, lieber zu ſterben als „ſo“ d. h. unter beliebigen Verhältniſſen zu leben. Nur wo es Natur und ſoziale Umwelt ſeiner vitalen und geiſtigen Eigen⸗ art anpaſſen kann, akzeptiert ſein tieferes Wollen und Ge⸗ fühl Daſein, Leben und Fortpflanzung. Es ſind die Diener⸗ völker, die ohne ſelbſtändige, politiſche Organiſation und Ter⸗ ritorium weiter zu exiſtieren und ſich allen beliebigen Natur⸗ und Herrſchaftsverhältniſſen „anzupaſſen“ vermögen. Es iſt das Unkraut, das überall gedeiht! In ebendieſer Situation der edleren, differenzierteren Minorität aber befindet ſich gegenwärtig derjenige Teil der germaniſch⸗keltiſch⸗ſlaviſchen Völker Weſteuropas, in denen der Geiſt des Edelſinns auch noch die Herrſchaft im Staate beſitzt und nicht vor einſeitigen reaktiven Racheimpulſen wie in Frankreich und rein kapita⸗ liſtiſchem Räubergeiſt wie in England abgedankt hat, gegen⸗ über des Ganzen der ruſſich⸗byzantiniſchen und gelben Völker⸗ welt. Wären wir alſo auf den friedlichen, ökonomiſchen Konkurrenzkampf allein angewieſen, ſo würde Weſteuropa, auch derjenige Teil, der heute verblendet genug iſt, aus purem Haß gegen uns Deutſche ſich zum Vorkämpfer Rußlands

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und der gelben Kaffe zu machen, alsbald der Unterlegene, Beſiegte ſein. Obzwar dieſe öſtlichen Völker unfähig waren und find, die Methoden und Techniken zu erſinnen und fort: zubilden, die unſere höhere, auch unſere höhere ökonomiſche Ziviliſation herbeigeführt haben, haben ſie doch ein dauerndes Übergewicht über die edlere Minorität Europas. Dieſes Übergewicht erwächſt ihnen mit der Zeit notwendig, ſchon durch das Zuſammenwirken der leichten, nicht bloß in unferer Eigenſucht und Torheit, ſondern im Weſen dieſer und aller utiliſtiſchen Methoden und Techniken, auch noch im Weſen der Reſultate der exakten Wiſſenſchaften (im Unterſchied zu Kunſt, Religion, Philoſophie) liegenden internationalen Ver⸗ breitbarkeit und Ablösbarkeit von ihrem nationalen und kul⸗ turellen Urſprungsboden, verbunden mit ihrem weit ſtärkeren quantitativen Bevölkerungswachstum. Auch hier kann alfo gerade nur das kriegeriſche, nicht das friedlich⸗ökonomiſche Kampfprinzip dieſe edlere Minorität auf die Dauer vor dem Untergang retten. Ein ſiegendes Rußland wäre auch der Anfang vom Ende der engliſchen Herrſchaft in Perſien und Indien und die Unterſtützung Japans durch England hinſicht⸗ lich ſeiner chineſiſchen Aſpirationen wird ſich bei der erſten Ge⸗ legenheit gegen England ſelbſt wenden. Nur die Annahme, Herr Grey habe, nach bekannter engliſcher Methode, die Kontinentalmächte nach Bedarf gegeneinander auszuſpielen, damit gerechnet, daß Rußland als der gefährlichſte Konkur⸗ rent Englands ohne zu große engliſche Einbuße durch Englands Teilnahme am Dreiverbande geſchwächt werde, läßt ihn noch als einen politiſchen Kopf, wenigſtens im macchia= velliſtiſchen Sinn erſcheinen. Und fo paradox es auch heute noch

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klingen mag, fo find wir doch überzeugt, daß diefer ungeheure Krieg, in dem wir jetzt allein und von aller Welt verlaſſen ſtehen, nicht nur die felbftverftändliche Folge eines innigeren Zuſammenſchluſſes des deutſchen Reiches und Oſterreichs haben wird, als des feſteſten und durch den Kapitalismus engliſcher Herkunft noch am wenigſten in ſich zerfreſſenen Kernes weſt⸗ licher Kultur, ſondern daß gerade in ihm und ſeinen Folgen eine politiſche, geiſtige und wirtſchaftliche Solidarität Euro⸗ pas angebahnt wird, die allein in dem immer näher rückenden Kampfe gegen den Oſten überhaupt, der Sache der weſteuro⸗ päiſchen Kultur und ihrer Völkerwelt den dauernden Sieg verheißen kann.? Man laſſe nur erſt England genügend ſchwere Enttäuſchungen über ſeine jetzigen „Freunde“ Ruß⸗ land und Japan, Frankreich aber womit Belgien, was England betrifft, ſchon beginnt —, ſeine noch ſchwerere über Wert und Bedeutung ſeiner ruſſiſch⸗engliſchen Freund⸗ ſchaft erleben, und die Bündnisfähigkeit der weſteuropäiſchen Mächte zu einer ſolidariſchen Einheit der Weſtmächte über⸗ haupt gegen den Oſten, das Ganze zentriert um den Kern eines ſieghaften Deutſchland und Oſterreich, wird gewaltig geſteigert fein. Iſt der Krieg überhaupt die ſtärkſte ſtaaten⸗, völker⸗ und nationalbildende Kraft der Geſchichte nicht aber, wie der oberflächliche Blick allein ſieht, nur Prinzip der Menſchenſcheidung, fo iſt es alfo dieſem unerhörten Kriege vielleicht vorbehalten, die weſteuropäiſchen Nationen zu einer Art der Einheit und Solidarität zuſammenzuſchweißen, für die uns noch der Name fehlt.

Für die innere Unklarheit unſerer darwiniſtiſchen Kriegs⸗ ideologen iſt nichts charakteriſtiſcher, als daß ſie aus demſelben

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biologifchen Kampf ums Dafeinsprinzip bald einen extremen Pazifizismus und Induſtrialismus, bald den Militarismus und die meiſt ſehr niedrig einzuſchätzenden Intentionen bloß von militäriſchem Standesehrgeiz und Berufsintereffe geleiteter ſogenannter „Kriegsparteien“ abgeleitet haben. Die letzteren „Darwiniſten“ ſehen im Kriege nur den menſchlichen Spezial⸗ fall zu jenem „Kampf ums Daſein“, den ſie durch Darwin geiſtig angliſtert für den Motor aller Entwicklung halten. Wie ſchon E. v. Hartmann meint (ſiehe „Phänomenologie des ſittlichen Bewußtſeins“, S. 670) iſt ihnen der Krieg ein „Prin⸗ zip der natürlichen Zuchtwahl zwiſchen Raſſen und Völkern“, das ſolange die Herrſchaft beſitzen müſſe, als bis „künſtliche Zuchtwahl fie ablöſe“. Dieſe Lehre iſt ſchon darum ganz un⸗ ſinnig, da ſie ſtreng genommen nur für die ſittlich wie rechtlich ab⸗ ſolut zu verurteilenden Kriege,“ die puren Vernichtungskriege einen Sinn haben könnte, d. h. für Erſcheinungen, welche die neuere Zeit innerhalb der zivilifierten Welt nicht kennt. Denn nur Vernichtung einer Gruppe ihrem Naturdaſein nach führt zum Ausſchluß aus der Fortpflanzung. Die bloße Neuver⸗ teilung der politiſchen Macht ſchließt ja fernere Fortpflan⸗ zung nicht aus, ja pflegt auch die Fortpflanzungsgröße durch⸗ aus nicht weſentlich zu ändern. Uberwundene und beherrſchte Völker pflanzen ſich oft ja meiſt wie die dienenden Schich⸗ ten überhaupt reichlicher fort als die herrſchenden Grup- pen. Dazu bürgt jene rein phyſiſche Stärke und Übermacht, welche die Anhänger dieſer Lehre gemeinhin allein im Auge haben, mit nichten für höhere Macht, geſchweige Kultur⸗ potenz. Der gerechte und ungerechte Krieg würde hier un— unterſcheidbar. Der Vorzug wenigſtens der logiſchen Konſe—

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quenz aus den an fich falfchen darwiniſtiſchen Vorausſetzungen kommt denn auch hier durchaus den pazifiziſtiſchen Geſchichts⸗ naturaliſten zu. Sie ſagen ganz richtig, daß der Krieg nur eine beſtimmte Form der biologiſchen Kämpfe ſei, die ſich ohne Verletzung des Nahrungskampfprinzips überhaupt in der Lebewelt ſehr wohl hiſtoriſch überleben könne, indem an ihre Stelle eben die ökonomiſchen Intereſſenkämpfe und an⸗ dere unkriegeriſche Kampfformen träten. Die pazifiziſtiſchen Darwiniſten weiſen weiter ganz richtig (von dem falſchen in⸗ dividualiſtiſchen Standpunkt ihrer engliſchen Geiſtesväter natürlich nur) darauf hin, daß gerade die Kriegsform des Kampfes kontraſelektoriſch wirke, indem es ja gerade die jüng⸗ ſten, kräftigſten, mit den beſten Erbwerten ausgeſtatteten In⸗ dividuen find, die, häufig vor der Fortpflanzung überhaupt, zum Teil wenigſtens ohne die ihnen ſonſt mögliche Fortpflan⸗ zungsleiſtung aus den Volkskörpern ausgemerzt werden.““ Irrig iſt nur die individualiſtiſche Vorausſetzung des Schluſſes. Die momentane Ausſcheidung einer größeren An⸗ zahl der Tüchtigſten in einem Volke kommt gegenüber den hohen vitalen Erbwerten der kriegeriſchen Eigenſchaften des ganzen Volkes, die im Notfall anſtatt zur Unterwerfung unter den Gegner zum Kriege drängen, gar nicht in Betracht. Um⸗ gekehrt iſt der ſeeliſche Impuls zur Erhaltung der Tüchtigſten, der im Gegenſatz zur kriegeriſchen Tugend der Opferbereit⸗ ſchaft gerade der Tüchtigſten und der von der Umwelt Gelieb⸗ teſten für das Vaterland ſteht, ein ſicheres Zeichen auch der biologiſchen Niedergangstendenz diefes Volkes. Dieſe Opfer⸗ bereitſchaft aber gerade in den Tüchtigſten und ihrem An⸗ hang iſt ein ſicheres Zeichen des reichen, hohen Lebens in dieſem

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Volke. Alles hochgeartete Leben iſt verſchwenderiſch mit feinen Kräften. Der Schrei „a bas la guerre“ ſeitens der franzöſiſchen Frauen und Kinder, ihr Sichhinwerfen vor die Schienen der Züge der abziehenden Soldaten, war ſicherlich kein Zeichen der franzöſiſchen Lebenskraft. Dazu balanciert das, was die Vorbereitung auf den Krieg, zumal im ſtehen⸗ den Volksheer an Willenserziehung, an Förderung der Leibes⸗ geſundheit und Abhärtung leiſtet in weitem Maße jenen Aus⸗ fall. Endlich wird der Ausfall quantitativ durch die in ihren Urſachen noch nicht erklärte, aber ſchon von Süßkind, neuer⸗ dings durch Pleß, Düſing u. a., feſtgeſtellte Tatſache einer erhöhten Knabengeburt nach Kriegen eine Art Reſtitution des volklichen Geſamtorganismus zum Teil wieder wett⸗ gemacht.

Wir erſehen nun, daß beide Teile, ſowohl Pazifiziſten wie Militariſten, die aus den darwiniſtiſchen Prinzipien ihre Lehren folgern, gleich unrecht haben und zwar darum, weil ihre gemeinſamen Prämiſſen falſche ſind. Wie vielmehr in der menſchlich⸗hiſtoriſchen Sphäre der bloße Daſeins⸗ und Nahrungskampf aufhört, ein Kampf um Exiſtenz und Fort⸗ pflanzung zu ſein; wie ſich dieſer Kampf vielmehr in einen bloßen Konkurrenzkampf um die höhere Lebenshaltung ver- wandelt und ſich nur mehr um Eingliederung der Einzel⸗ ſubjekte in die beſtimmten Klaſſen eines irgendwie gegliederten Klaſſennetzes dreht; wie gleichzeitig für Erhaltung durch Ver⸗ erbung das Prinzip der Kumulation der Kultur- und Zivili⸗ ſationsmittel durch Tradition (Sprache, Geiſt) an die erſte Stelle tritt: ſo tritt an die Stelle jener primären Tendenz des Lebens zur Machterweiterung durch Milieuerweiterung

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und neue Organbildung der Krieg als Mittel willentlicher Machtoerteilung an die Völker in den fie umfaſſenden Staa⸗ ten. Daß dieſe tiefgreifende Umformung der Entwick lungs⸗ kauſalität auf der Stufe des Menſchendaſeins notwendig wird, hat feinen Grund darin, daß mit ſteigender Entwick⸗ lungshöhe des Lebens die fernere rein vitale Entwicklungs⸗ fähigkeit abnimmt; beim Menſchen als dem höchſtorgani⸗ ſierten Tier alſo die kleinſte iſt. Der Menſch iſt wie Weismann treffend ſagt, die organologiſch „fixierteſte Tier⸗ art“. Daß aber dieſe Umformung auch möglich iſt, hat ſeinen Grund im „Geiſte“, jenem autonomen und aus aller „Natur“ unableitbaren Prinzip, das im Menſchen hervor⸗ bricht und eine neue Welt über aller Natur geſtaltet und formt: Die Ziviliſation, die von ihr grundverſchiedene „Kul⸗ tur“ und das geiſtig geſchichtliche Leben.

Es iſt alſo erſt eine eigentümliche gegenſeitige Befruchtung, welche die urſprünglich kriegeriſche Art des Lebens ſelbſt („vi- vere est militare“ ſagt ſchon ein alter ſtoiſcher Satz) als einer urſprünglichen Tendenz des Wachſens und der Entfaltung von Mannigfaltigkeit, mit dem Geiſte und feinen ſpezifiſchen Wer⸗ ten eingeht, die uns die Stelle ſichtbar macht, die der Krieg in der Weltordnung beſitzt. Es war ein Irrtum auch die ge⸗ ſchichtliche Erfahrung von J. G. Fichte bis Bismarck hat es uns gelehrt wenn die alte deutſch⸗idealiſtiſche Philoſophie (Kant, Fichte, Hegel) die gleich urſprünglichen Erſcheinungen von Staat und Krieg nur aus einem dieſer beiden Prinzipien, dem vernünftigen Geiſte verſtehen wollten. Dieſer Irrtum iſt nicht minder groß wie jener der rein naturaliſtiſchen Kriegsauf⸗ faſſung. Daß der Atem des Staates, auch des ITationalftaates

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Macht ift, blieb diefen Rationaliſten hierdurch verfchloffen. Selbſt bei J. G. Fichte, dem Herrlichen, der unter den deutſchen Philoſophen noch am meiſten Sinn für das heldiſche Moment in der Geſchichte beſaß, und der die Nationalidee unter den deutſchen Denkern am tiefſten formulierte, bleibt der deutſche Nationalſtaat nur die Form, in der ſich eine univerſale Ver⸗ nunftgeſtaltung und ⸗bildung vermittels einer Art Erziehung der Menſchheit durch das „Urvolk“, das „Vernunftvolk“, durchſetzen ſoll. Der nationale Staat hat ihm als konkrete Kollektivperſönlichkeit noch kein letztes metaphyſiſches Recht er iſt noch nicht nur ſich ſelbſt und Gott verantwortlich; er behält für ihn nur den Wert einer Einrichtung der „gött⸗ lichen Erziehung des Menſchengeſchlechts“ (Leſſing) zur Ver⸗ wirklichung deſſen, was ſein Lehrer Kant, noch unmittelbarer als er ſelbſt, als Maßſtab an die Geſchichte anlegte: Zur Realifierung der Idee der Weltrepublik. F. Meinecke, der in ſeinem Buche „Weltbürgertum und Nationalſtaat“ in äußerſt feinfinniger Weiſe die Wandlungen der deutſchen Nationalidee verfolgt, bemerkt in bezug auf J. G. Fichte: „Zum Weſen des Machtſtaates gehört die lebendige Be⸗ wegung nach außen hin, Berührung mit den Nachbarn in Freundſchaft und Feindſchaft und eine gewiſſe Pleonexie. Hierzu mit in erſter Linie gebraucht er ſeine Selbſtändigkeit und Unabhängigkeit. Nach Fichte ſoll er fie jetzt gerade um⸗ gekehrt dazu gebrauchen, ſich abzuſchließen von den Macht⸗ kämpfen der übrigen Staaten.“ Aller Kolonialpolitik, durch die allein eine durch Machtverteilung vermittelte optimale Kulturberteilung auf der Erdkugel erfolgen kann, ſchneidet Fichte die Wurzel ab mit dem Satze: „O möchte doch den

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Deutſchen fein günſtiges Geſchick ebenfo vor dem mittelbaren Anteile an der Beute der anderen Welten bewahrt haben, wie es ihn vor dem unmittelbaren bewahrte!“ Den Grund aber für dieſe ſtatiſche und letztlich univerſaliſtiſche Auffaſſung des Nationalſtaates gibt Fichte ſelbſt an, wenn er ſchreibt: „Das bunte und verworrene Gemiſch der ſinnlichen und geiſtigen Antriebe durcheinander ſoll überhaupt der Welt⸗ herrſchaft entſetzt werden, und der Geiſt allein, rein und aus⸗ gezogen von allen ſinnlichen Antrieben, ſoll an das Ruder der menſchlichen Angelegenheiten treten.“ Alſo bleibt auch Fichtes Nationalidee doch in jener Grundſtimmung des Nur⸗ dichterdenkerdeutſchen beſchloſſen, die unſeren Johann Paul Richter ſagen ließ, daß bei der Verteilung der Erde „Frank⸗ reich das Reich der Erde, England das Reich des Waſſers und Deutſchland das Reich der Luft zukomme.“ Nein nicht „der Geiſt oder gar die Vernunft allein“, ſondern unter den individuell konkreten Nationalperſönlichkeiten, die als ſolche immer mit ihrer Geiſt⸗ und Perſonnatur zugleich letzte unteil⸗ bare Einheiten menſchlicher Lebensmächte verkörpern, die edelſte „ſoll“ ans Ruder, nicht der „menſchlichen“, wohl aber der europäiſchen?' Angelegenheiten treten. Und dieſem idealen „Soll“, nicht der bloßen Verteidigung irgendwelcher „natürlicher Grenzen“ der Nation dient der Krieg, in dem er das Examen rigoroſum für den Wert aller phyſiſcher, intel⸗ lektueller und Charakterkräfte an den Völkern vollzieht. Ihm dient auch dieſer hehre Krieg, deſſen Erfolg das Gottesgericht über die Frage enthalten wird, welche Rangabſtufung zwiſchen den Herrſchaftswürdigkeiten über Europa und ſeine Kolonien zwiſchen den führenden Nationalperſönlichkeiten exiſtiere.

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Es war aber ein noch tieferer Irrtum, als der jener philo— ſophiſchen Rationaliſten Staat und Krieg, ſo wie es Spencer und die darwiniſtiſchen Militariſten taten, aus bloßen Lebens- geſetzen verſtehen zu wollen und das eigentümliche Prinzip des Geiſtes im genauen Gegenſatze zum Fehler unſerer klaſſi⸗ ſchen Philoſophen zu vergeſſen. Der Staat, d. i. an erſter Stelle eine geiſtige Willensperſönlichkeit, aufgebaut auf einen vitalen Geſamtorganismus des Volks. Beide ſind nicht min⸗ der real wie die einzelnen Organismen und Perſonen; das geiſtige Prinzip aber iſt für den vitalen Unterbau leitend und lenkend. Der Krieg iſt demgemäß zugleich Ausdrucksgebärde und impulfive, ſtoßartige Entladung dieſes unteilbaren und nur in abstracto zu ſcheidenden Ganzen der geiſtig⸗vitalen „Nation“ und willentliche Lenkung dieſer Entladung, um zu einem beſtimmten Staatszweck, des Staates Willen einem anderen Staate durch Gewalt aufzunötigen. So hat der Krieg immer die zwei entgegengeſetzten Eigenſchaften in ſich: die Eigenſchaft eines elementaren, ſeeliſch vitalen Matur⸗ ereigniſſes, in dem ſich lange geſtaute Kräfte und „Span⸗ nungen“ löſen und einer bewußten Zweckhandlung der Staats⸗ perſon mit mehr oder minder feſt umſchriebenen „Forderungen“ an den fremden Staat. Auch ſprachlich kommt dies klar zum Ausdruck, indem man einmal ſagt: der Krieg „bricht aus“, und ein andermal, er wird „erklärt“. Bei aller Er⸗ forſchung der Urſachen der Kriege muß ſtets mit beiden, ihrer Natur nach ganz verſchiedenen Kauſalreihen gerechnet werden. Weder eine rein geiſtige Zweckauffaſſung, noch eine nur natu⸗ raliſtiſche Auffaſſung des Krieges als eines ſoziologiſchen Naturphänomens würde ihm gerecht.

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2. Krieg und Geiſteskultur

Iſt mit dem Geſagten die vitale Wurzel des Krieges an⸗ gedeutet nicht als einer hiſtoriſchen Erſcheinung, ſondern als einer dauernden Welteinrichtung ſo entſteht nunmehr die große Frage, die ſo viele unſerer beſten Deutſchen getrennt hat, wie er und ſein Subjekt der Staat ſich nun nicht mehr zur Wirtſchaft und zur geſamten Mützlichkeitsziviliſation, die er, wie gezeigt, als eine ganz von ihm abhängige Er⸗ ſcheinungsgruppe bedingt und bedingen ſoll, ſondern zur freien Geiſteskultur in Kunſt, Philoſophie, Wiſſenſchaft uſw., und ihrem Höhen: und Breitenwachstum verhält; und wie er ſich in zweiter Linie der einheitlichen, religiös-fittlichen Aufgabe des Menſchengeſchlechtes und ihren höchſten pofitiven Ideal⸗ bildungen, ſei es einordnet ſei es ihnen widerſtreitet.

Als Fr. Nietzſche und Jakob Burckhardt, der Verfaſſer der griechiſchen Kulturgeſchichte, ſich im Sprechzimmer der Univerſität Bafel den Brand des Louore gelegentlich der Einnahme von Paris im Jahre 1871 mitteilten, da durch⸗ zuckte kein Freudenſtrahl die Herzen beider ob unſeres Sieges. Nur tiefe Trauer über den möglichen Verluſt all dieſer Kunſtſchätze, gemiſcht mit Entrüſtung gegen die preußiſchen „Barbaren“ ward laut. So maßen dieſe bedeutenden Männer die großen geſchichtlichen Dinge. J. Burckhardt zeigt auch in ſeinen hiſtoriſchen Arbeiten für den Atem des Staates keinen Sinn. In der griechiſchen Kulturgeſchichte tritt die Polis faſt gewollt auffällig zurück. Den Eindruck eigent⸗ tümlicher Leere und Unvollſtändigkeit, den ſelbſt die, jenem Werke weit überlegene „Kultur der Renaiſſance“ durch den

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Mangel aller Berückſichtigung des Staatslebens der Re⸗ naiſſance und ſeiner tollen Kriegstänze macht, hat Treitſchke mit Recht hervorgehoben. Man ſieht ſchimmernde Spitzen eines hiſtoriſchen Lebenszuſammenhangs, auch die Breite von bunten Gebräuchen, Sitten man ſieht keine Lebens⸗ und Mächtebaſis und alles ſcheint wie in der Luft zu ſtehen. Man ſieht Bild, hört Geſang, aber ihr tiefer Einklang mit dem Klirren der Schwerter und dem Blitzen der Waffen bleibt verborgen. Damit auch verborgen, wie dieſe Kultur ganz aus dem Gewaltſtaat der Renaiſſance geboren war. Hatten dieſe Männer etwa darin unrecht, wenn ſie in ihren Wertſchätzungen den geiſtigen Kulturinhalt und ſeine freien Schöpfungen über alle bloße Macht erhaben wähnten? Wenn ſie den Genius über den Helden ſetzten?

Nein, darin hatten ſie recht! Hier gibt es nicht Vorliebe und Geſchmack, ſondern nur ganz einfache ewige Geſetze, die das Herz ſo klar ſieht, wie der Verſtand einfachſte mathe⸗ matifche Beziehungen.“ Erkenntnis der Wahrheit, die Werte reiner Schönheit und Erhabenheit ſtehen an Rang über dem Werte des „Edlen“; ebenſo wie dieſes „Edle“ über dem „Mützlichen“ ſteht; wie der Logos über dem gopoerdes, dieſes aber über dem Erıdupntıxöv, fo wie es Platos tiefes Gleichnis des Wagenlenkers und des hinauf und hinab ziehen⸗ den Roſſes ausdrückt. Echte Kultur iſt ein Höheres als Macht, höchſte perſonhafte Geiſtesbildung ein Höheres als Herrfcher: tugend; der „Genius“ iſt von höherem Range als der „Held“.ss Plato und Sophokles bedeuten mehr für uns als Miltiades. ' Mag ſich Sinn und Geiſt auch noch am Bilde desjenigen Helden erheben, der nicht unſerem eigenen Volke

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und Staat angehört; das ift nur ſinnvoll, wenn wir zuvor dieſes ganze Volk, deſſen Held er iſt, bejaht haben; und iſt nur möglich durch die Vermittlung reflektierter hiſtoriſcher Erkenntnis. Nur die Helden unſeres Volkes ſind uns durch das ruhmbekränzte plaſtiſche Bild, das ſchon geheimnisvoll wirkſame Tradition weiterträgt, unvermittelt durch Geſchichts⸗ betrachtung und Werturteil für die Anſchauung und Herzens⸗ ſtärkung zugänglich. Eines Werturteiles bedarf es nur hier nicht; denn in unſerem Helden verehren wir unſer eigenſtes nationales Sein. Der Genius aber bedarf dieſer zwiefachen Vermittelungen nicht! Wir können ihn lieben ohne Durch⸗ gang durch ſeine Beziehung zu ſeinem Volke; und er iſt uns ge⸗ geben mit ſeiner eigentümlichen „Welt“ unmittelbar in ſeinem Werke ſelbſt, das gerade um ſo größer iſt, je unabhängiger von der wechſelnden hiſtoriſchen Umwelt ſein tiefſter Gehalt iſt, und je direkter es die Gnade hat, uns anzuſprechen und zu ſich in feine Höhe zu reißen. Alſo ſteht überall „Geiſt“, „Vernunft“, „Perſon“ über dem „Leben“, dem „Organis⸗ mus“, Geiſteswerte über den Werten der Macht, des Edlen, der Herrſchaft. Der ältere türkiſche Staat vor Abſchaffung der Janitſcharen war „edel“ und kriegeriſch bis auf die Knochen. Aber ſeine Macht war leer von allem urſprüng⸗ lichen, über Sinnenluxus hinausgehenden Kulturgehalt. Die Hagia Sofia allein klagt ſeine Exiſtenz an. Heute noch iſt der Türke wahrhaftig, treu, edel, bieder, aber Barbar. Roheit, die das nicht einſteht wie die Roheit der ſog. Raſſeethik und Marſtallpolitik iſt nicht beſſer als engliſche Krämermoral, die den Helden zum Diener des Kaufmanns und Technikers macht; ſich kultiviert dünkt, indem fie nur ziviliſtert iſt.

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Nicht darin alfo lag die Irrung jener apolitifchen Men⸗ ſchen. Sie lag in ihrem Begriff von „Kultur“ und in einer prinzipiellen Nichtvergegenwärtigung des ſchöpferiſchen Bo⸗ dens der kulturbildenden Kräfte. Ich ſagte, daß im Weſen der Mützlichkeitswerte nichts liegt, was ihre Hervorbringung und ihren Gebrauch auf beſtimmte individuelle Völker, Na⸗ tionen, Staaten, ja Kulturkreiſe wie z. B. Weſteuropa, Rußland, Mongolentum einſchränkte. Es wäre ganz kon⸗ ſequent, wenn derjenige, der dieſe Werte zu den höchſten Werten und ihre Hervorbringung zu den höchſten Zielen menſchlichen Wirkens machen wollte, auch die Vielheiten der Staaten und Völker als etwas zu Überwindendes anfähe und in ihrer Exiſtenz einen Beweis für die noch allzujugend⸗ liche Entwicklungsſtufe der Menſchheit erblickte.“ Inſofern iſt die poſitiviſtiſche Mützlichkeitsphiloſophie mit ihrem Ideal der einen friedlichen Herde, durchaus konſequent; auch dann noch, wenn ſie auf Auflöſung des Nationalgefühls und des nationalen Staates hinarbeitet. Die Realifierung der Utilitäts⸗ werte hat daher durch ihr Weſen allein auch keinen not⸗ wendigen Bezug zur politiſchen Freiheit und Selbſtändigkeit der Völker. Sie find ihrem Weſen nach „international“ und von Volk zu Volk leicht übertragbar. Ganz anders die Werte höchſter freier Geiſteskultur. Ihnen fehlt gerade jene Art von „Allgemeinmenſchlichkeit“, die Werkzeugen und auch noch Ergebniſſen exakter Wiſſenſchaften zukommt. Denn auch dieſe Wiſſenſchaften ragen nur durch ihre Me⸗ thoden noch in die Sphäre der Kultur hinein. Geiſtige Kultur⸗ werte ſind perſönlich, individuell, national, ſind im höchſten Fall europäiſch oder ruſſiſch oder chineſiſch oder indiſch, ſo⸗

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wohl nach den Kräften ihres Urſprungs wie nach ihrer vollen Verſtehbarkeit. Und ſie ſind es von Hauſe aus. Chemie und Phyſik iſt in Paris, Berlin, Petersburg, Tokio, Kalkutta dieſelbe; nicht aber Kunſt, Philoſophie, religiöſe Lebensform. Die „Wiſſenſchaften“ konnten in dem Völkerwirbel des Alexandria der Ptolemäer ſich hoch entwickeln. Die griechi⸗ ſche Philoſophie forderte die Selbſtändigkeit der helleniſchen Nation und ging mit ihr zugrunde. Und nicht trotz, ſondern gerade wegen ihres Anſpruchs auf Weltbedeutung und abſo⸗ luten, nicht mehr auf „menſchliche Bedürfniſſe“ bezogenen Sinn, ſind dieſe Werte national, reſpektiv in einem Kultur⸗ kreis z. B. europäiſch verwurzelt; wegen dieſes Anſpruches ſind ſie einmalig und nicht wie Werkzeug und exaktes Wiſſen⸗ ſchaftsreſultat nach übertragbaren Methoden und Techniken der Herſtellung durch jedes Volk und jeden Kulturkreis nen reproduzibel; nicht auch ſind ſie wie dieſe Gebilde jeweilig wertvoll als bloße Phaſen eines kontinuierlichen Fortſchritts⸗ prozeſſes, der die Genien der Völker und Kulturkreiſe über⸗ ſpringt. In der Sphäre echter Kulturwerte gibt es nur ge- ſchichtliches Wachstum ſelbſtwertiger Tatbeſtände, keinen, jede Generation mediatifierenden ſogenannten „Fortſchritt“; gibt es nur ein immer wieder „Zurück“ in ihre dauernde ſchöpferiſche Quelle des nationalen Geiſtes und Neubildung aus dieſer Quelle heraus, kein kontinuierliches Weiterbauen. Die Begriffe der „Renaiſſancen“ und „Reformationen“ unſinnig und nur „Rückſchritt“ für alle Ziviliſation er⸗ halten erſt hierdurch einen Sinn. Nur die banalſten Dinge, die unſer Weſen nicht berühren, ließen ſich in einer noch ſo vollkommenen Weltſprache ausdrücken. Daß ſie nicht „fort⸗

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ſchreiten ! eben das läßt echte Kulturgebilde an der einzig: artigen Stelle, wo fie geboren, wie in Ewigkeit erglänzen! Aber eben deswegen iſt auch die Hervorbringung dieſer Kul⸗ turgebilde ganz und gar bedingt durch die politiſche Freiheit und Selbſtändigkeit des Staates, als des organifierten Volkes. Und ſelbſt bei vollerreichter, gleichmäßig verbreiteter Mutz⸗ und Menſchheitsziviliſation, bei gleichzeitiger äußerſter öko⸗ nomiſcher Intereſſenſolidarität würde die unverletzliche Freiheit und Fähigkeit zur immer neuen Hervorbringung freier Werke des Geiſtes allein noch Machtſtaat und Krieg rechtfertigen und notwendig machen. Das iſt es, was Jakob Burckhard überſieht. Er betrachtet die Geiſteskultur zu ſehr wie ein genießender Antiquitätenſammler, der ſeine Sachen und Sächelchen von dem organiſchen Ganzen losreißt, in dem fie einſt lebten. Er ſieht fie nicht vom Staudort derer, die ſie ſchufen und immer weiter ſchaffen ſollen; auch nicht derer, die darin die Heimat ihres eigentümlichen Geiſtes fanden. Was Krieg, was Feuer, Waſſer, Roft und Motten zer- ſtören kann, das Völkerrecht fordert, auch dies nach Mög⸗ lichkeit zu vermeiden das iſt niemals die lebendige „Kul⸗ tur“ ſelbſt, ſondern ſind nur die materiellen Vorrichtungen, durch die wir uns ihrer bewußt werden; an denen wir Durch⸗ blicke gewannen in die „geiſtige Welt“ des Künſtlers und Stichproben von ihr. In dieſer Welt aber lebt, was allein „Kunſtwerk“ zu heißen verdient. Mögen die Kriege beliebig viele ſolcher Vorrichtungen und Kulturmittel vernichtet haben, ſo haben ſie nicht dieſe „Welt“, ſondern nur unſere Einſichtnahme in ſie vernichtet. Dafür aber haben die Kriege für die Kulturſchöpfung die eminent poſitive Bedeutung,

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daß fie die vorhandenen Begabungen tief zurücktauchen laſſen in die ſchöpferiſchen Quellen des nationalen und perſönlichen Geiſtes. Denn nur im Kriege ſelbſt wird Hiſtorie ſonſt nur eine Wiſſenſchaft zu einer erlebten Erfahrung. Wie der Krieg ſo daß man ſein ſelbſteigenes geiſtiges Daſein wie des Himmels Sonne gewahren kann das Volk eint, ſo verdichtet er auch deſſen geſchichtliches Bewußtſein und ſpannt den Geiſt ganzer Generationsketten zu neuer ſich durch⸗ dringender Einheit. In allem, im Staatsleben, in der Dich⸗ tung und Muſik wird man ſich plötzlich wieder der tiefen Zuſammenhänge mit der Vergangenheit bewußt. Ihre eben noch vom Lärm des Friedenstages wie abgeſchreckten hehren Geſtalten Klaſſiker, Staatsmänner, Heerfüher, Fürſten treten wie aus dem Dunkel der Nacht hervor und an unſere Seele heran. Unſer Tag wird verdunkelt; aber die Geſchichte wird hell und ihre großen Schatten beginnen ſich zu rühren! Große Geſchichtſchreibung iſt daher ſtets eine Folgeerſcheinung des Krieges. Der Geiſt des Dramas, durch⸗ aus nicht nur des „hiſtoriſchen“ oder deſſen, für das der Krieg Stoffquelle iſt, wird aufgeweckt.

Es bleibt dabei ganz richtig, daß das hohe Kultur⸗ werk niemals durch den Staat unmittelbar beſtimmt iſt. So läßt ſich die tauſendfältige Befruchtung, welche alle Geiſteswiſſenſchaften durch die deutſche Romantik erfuhren, läßt ſich auch der reine Kunſtgehalt dieſer Bewegung ohne die Befreiungskämpfe bis zum Jahre 1813 gar nicht denken. Karl Joel hat jüngſt in ſeinem Buche „Antibarbarus“ eine wundervoll geſättigte Darſtellung des Ineinander von Dich⸗ tung, Philoſophie und Heldentum in dieſer Zeit gegeben.

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Die Überwindung des individualiſtiſchen Rationalismus der Aufklärung, die erſte fundamentalſte Vorbedingung für alles tiefere Verſtändnis geiſtiger Kulturwerte von Staat und Recht, Poeſie und Religion, die Wiederfindung des Begriffes des „objektiven Geiſtes“, das tiefere Verſtändnis fremder Nationalkulturen iſt eine Nebenfrucht dieſer Verdichtung des hiſtoriſchen Bewußtſeins durch die deutſche Erhebung. Oder wer möchte die atheniſche Blüte in Tragödie, Plaſtik, Philoſophie vor und nach den Perſerkriegen ohne die geiſtige Neugeburt verſtehen, welche der atheniſche Staat durch die ſiegreiche Abwehr der Barbaren in ſich erlebt hatte? Wenn man die geiſtigen Kulturwerke als „Werke des Friedens“ be⸗ zeichnet, ſo hat man recht, wenn man an ihren geiſtigen Aus⸗ bau denkt; an all das, was „Mühe“, „Arbeit“ an ihnen, und was das Glück des ruhigen Genuſſes ihrer iſt. Geht man aber zurück auf die tiefen geheimnisvollen Stunden ihrer Geburt im Geiſte, ſo gehen dieſe Werke alleſamt aus einem Zuſtand des Geiſtes hervor, der mehr als „kriegeriſch“ denn als „friedlich“ zu bezeichnen iſt. Was in jedem einzelnen Falle das ſchöpferiſche Individuum vor der Inangriffnahme eines großen Werkes erlebt, bei ſeiner ſogenannten „Kon⸗ zeption“, dies wunderſame Heraustreten der Seele aus dem feſtdeterminierten Gang regelhaft dahinfließender Tage, ihr Sichzurückbeugen auf ihr wahres Kräftezentrum, aus dem die Lebensquelle mit wachſender Konzentration immer reiner fließt, das ſtürmiſche Ergriffenſein und Erzittern durch die hier gewahrten, in abwechſelnden großen Geſichten ſpielenden Kräfte, eben das erleben im großen die Völker und Nationen in ihren Kriegen als ſoziale Ganzheiten. Hier befruchtet Eiſen

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und Blut den Geift auf dunkle Weiſe, und das Geheimnis der „Wiedergeburt“ umfaßt nicht nur den Staat, der in jedem echten Kriege neuerſteht, ſondern auch die hinter Staat und fertiger Kultur quellenden Kräfte ihrer immer neuen Her⸗ vorbringung. Es kommt dabei durchaus nicht in erſter Linie darauf an, daß der Krieg der Kunſt eine neue Stoffquelle gibt: künſtleriſch plaſtiſche oder poetiſche Verherrlichung der führenden Perſonen, hiſtoriſches Drama, Belebung der Archi⸗ tektur durch Werke, welche die neue nationale Einheit ſym⸗ boliſch verkörpern, Schlachtenmalerei, Soldatenlied und vieles Ahnliche. Auch das iſt von Bedeutung. Es genügt, Namen wie Pindar, Taſſo, Kleiſt, Hölderlin, die Mar⸗ ſeillaiſe zu nennen. Aber weit wichtiger als dieſe neue Er⸗ weiterung der künſtleriſchen Stoffgebiete iſt die neue geiſtige Einſtellung auf Leben und Welt überhaupt, welche der krie⸗ geriſche Geiſt der feurigen Liebe und Hingabe an ein großes Ganzes (des Vaterlandes) und die neue Kraft der Opferfähig⸗ keit aller ſelbſtiſchen Intereſſen, auch im Künſtler und Denker erzeugt. Es war ein tiefes und äußerſt deutſches Wort, das Adolf von Hildebrand jüngſt in einem Briefe über die Be⸗ ſchädigung der Kathedrale von Reims geſprochen: Daß es ein Teil derſelben Kraft geweſen ſei, die uns jetzt nach der Befeſtigung dieſer Stadt und Benutzung der Kathedrale zu Kriegszwecken durch die Franzoſen dieſes verehrungs⸗ würdige Kunſtwerk zum Teile zu zerſtören gebot, derſelben Kraft, durch die dieſes Meiſterwerk einer himmelſtürmenden Gotik einſt erbaut war. Ja, die tiefere Seele dieſes Bau⸗ werkes wahrlich die äußerſte Antitheſe zu jener „Weltan⸗ ſchauung! der es beklagenden Rechtsanwälte, die zurzeit Frank⸗

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reich regieren, einer Weltanſchauung, wie fie fich in der dummdreiſten Außerung des Herrn Briand malte, es „habe die moderne Wiſſenſchaft die Sterne des Himmels ausge⸗ löſcht“, ſie würde, vermöchte ſie zu denken und zu fühlen, noch im Schmerze unſerer Kanonenſchüſſe, die ihre Verkör⸗ perung trafen, jauchzend die Kraft wahrgenommen haben, die jene Kanonen abſchoß, als freundlicher, als näher ihrer eigenen großen, religiöſen Seele, als der Entrüſtung jener vollendet ‚‚zivilifierten‘‘ Rechtsanwälte, die über ihre Beſchädi⸗ gung zeterten. Wie lange wohl mußte ihre Seele ſchon über eine franzöſiſche Regierung bitter gelächelt haben, die ſeit Jahren alles mit Füßen trat, was zu dem großen Geiſtes⸗ zuſammenhang gehörte, von dem ſie ſelbſt ein Teil iſt? Die Liebe, die das künſtleriſche Schauen und Schaffen be⸗ flügelt, die den Geiſt heraustreibt aus dem egoiſtiſchen Ich und der Konvention der gemeinen Natur⸗ und Weltanſicht ſie iſt im letzten Grund ein und dieſelbe Liebe mit jener, die der Genius des Krieges in der Seele hervortreibt. Kultur freilich, deren Schöpfer der Staat ſein will, Kultur auf Grund von Staats⸗ auftrag iſt meiſt nur Oldruck und Kuliſſe. Und doch behält der Staat, ſeine Autonomie und Freiheit den Charakter einer mittelbaren Bedingung auch zur Geiſteskultur. Die erſte und ganz unauf hebliche Bedingung iſt nicht etwa, daß er dem Genius vorſchreibe oder Richtungen erteile, ſondern daß er ihm einen freien Boden ſeines Schaffens dadurch gewähre, daß er die egoiſtiſchen Triebe des nur durch Intereſſe und Vorteil bewegten geſellſchaftlichen Seins und Handelns zwecks natio⸗ naler Wohlfahrt bändige und einſchränke. Immer wieder werden aus Griechen Graeculi werden, wenn der Staat durch

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Verluſt feiner Macht diefe Aufgabe nicht mehr erfüllen kann. Der Zioiliſation mag man als Sklase vielleicht ebenfo gut, ja noch beſſer dienen denn als Freier: der echten Kultur nicht! Der Genius bedarf weſensnotwendig des Rückhaltes edler, ritterlicher Kräfte gegen alles Maſſenhafte, Kräfte, über die er aus ſich ſelbſt heraus nie verfügen kann. So grundverſchieden daher die Kräfte find, aus denen die Macht des Staates und aus denen freie Geiſteskultur erwachſen, ſo gottgeſchenkt und von der Staatsmacht ganz unabhängig die erſteren, ſo entſcheidet doch Selbſtändigkeit und Macht des Staates ganz und gar, wie weit aus der, durch die vor⸗ handenen Begabungen möglichen Kultur wirkliches und faktiſches Kulturwerk wird.

Dieſe einfachen und prinzipiellen Satze zu RR en, find frei: lich wenige Völker fo ſehr verſucht wie wir Deutſche. Scheint uns doch gerade unſere Geſchichte eine beſonders weitgehende Unabhängigkeit von Kulturblüte und ſtaatlicher Einheit und Macht aufzuweiſen. Selbſt ſo wohlwollende Beurteiler unſeres Weſens wie Romain Rolland und Bernhard Shaw halten dem Deutſchland Bismarcks das Deutſchland Goethes und Beethovens als Vorbild entgegen. Unſere bisher höchſte Blüte der Dichtkunſt wie manche meinen auch der Philo⸗ ſophie fiel zuſammen mit äußerſter ſtaatlicher Zerſplitte⸗ rung. Leibniz und Kant hatten noch kein ſtarkes nationales Bewußtſein und fühlten ſich ganz als Glieder der „wiſſen⸗ ſchaftlichen Republik“; noch weniger hatten ſie ein deutſches Staatsbewußtſein. Goethe dichtete an den Befreiungs⸗ kriegen vorbei und ſah Napoleon als äſthetiſches Phänomen. Umgekehrt war das erſte Jahrzehnt des Reiches nach dem Kriege

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von 1870 die zweifellos geiſtig tiefſtſtehende Epoche des ganzen neunzehnten Jahrhunderts: Überall niedrigſter Materialis⸗ mus.! Selbſt in dieſen Tagen höchſter nationaler Begeiſterung kann man die bange Frage hören: Wie wird es diesmal werden?

Gegen diefen Einwand ift aber weit mehr zu antworten, als man anzunehmen pflegt. Zuerſt vergißt man doch allzu⸗ ſehr, daß jene Einheit einer bloßen Kulturnation ohne politiſche Form, die Deutſchland vor der Reichsgründung geweſen iſt, auch kein rein apolitiſches Werk puren Friedens geweſen iſt. Nicht immer waren die Deutſchen nur „Dichter und Denker“ geweſen. Es gab einſt ein herrliches deutſches Kaiſertum; es gab die Zeiten einer kühnen, kraftvollen Hanſa.“

Das Abendrot dieſer ſtolzen Zeiten, die Majeſtät und das Licht des alten Reichsgedankens haben trotz Glaubenskämpfen und dem Elend des Dreißigjährigen Krieges niemals aufge⸗ hört, das deutſche Volk zu durchleuchten. Das Mittelalter kennt Interregnumsdauern, die länger waren als die Zeit zwiſchen dem endgültigen Zerfall des alten und dem Auf bau des neuen Reiches im Jahre 1870. Nur die Zurückdrängung der großdeutſchen Idee, deren Vertreter in einer tiefen Be⸗ wußtſeinskontinuität mit dem alten Reichsgedanken und dem alten deutſchen Kaiſertum lebten, haben für unſer Bewußt⸗ ſein, nicht aber für unſer tiefes hiſtoriſches Leben, die innere Bindegewalt dieſer großen politiſchen Vergangenheit auch auf unſer Denken und geiſtiges Schaffen zeitweiſe verſtecken müſſen. Gewiß das war eine hiſtoriſch⸗politiſche Not⸗ wendigkeit! Wir kennen heute die Irrungen des Frankfurter Parlaments wie die Irrungen derer, welche ſich tatlos die

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politifche Reichseinheit aus der ökonomiſchen Einheit des deut⸗ ſchen Zollvereins hervorwachſend dachten. Nur an der feſt⸗ konſolidierten Grundlage des preußiſchen Machtſtaates konnte der regionale deutſche Ideen- und Fürſtenpartikularismus ſein Gegengewicht finden; nur an Preußen konnte der bis zum embarras de richesse reiche und mannigfaltige deutſche Geiſt und Sinn, konnte der mit Anlagen und Kräften unerhört begabte, an ihnen faſt zerberſtende deutſche Junge ſeinen rauhen Lehrer des realen Lebens finden, den „Zwingherrn zur Deutſchheit“ fo wie ihn ſchon der alte J. G. Fichte fernſichtig gefordert hatte.!“ Die große Sehnſucht nach politiſcher Ein⸗ heit erfüllte ſich nur auf dem dornigen Wege zweier Kriege, deren erſter Oſterreich aus der Kontinnität des alten Reichs⸗ gedankens ausſchied, ſo aber dies war Bismarcks Meiſter⸗ werk, dem wir gerade heute mit aufgehobenen Händen danken müſſen daß Oſterreich durch unſere Mäßigung bünd⸗ nisfähig erhalten wurde; deren zweiter aber uns die Reichs⸗ einheit brachte, die eben jetzt auf dem Felde ihren erſten Exiſtenz⸗ kampf zu beſtehen hat. Aber wie dürften wir wähnen, daß es mit dieſer Einheit des Jahres 1870 zu Ende ſei? Darum hervor an die Sonne wieder du großdeutſcher Gedanke mit all den ſtolzen Erinnerungen an das alte deutſche Reich und Kaiſertum! Der Grund zur zeitweiſe notwendigen Verdrän⸗ gung dieſer nie zerriſſenen Tradition beginnt zu weichen. Die Feindſchaft einer ganzen Welt, die heute älteſte Stammes⸗ liebe und Kulturgemeinſchaft zwiſchen Oſterreich und dem Reiche neu zuſammenſchmiedet, öffnet uns wieder die Wände, die vor der Zukunft der großdeutſchen Idee ich ſage der großdeutſchen Kulturidee, nicht einer Verkörperung derſelben

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im politiſchen „alldeutſchen“ Sinne fo lange geftanden hatten. Darum aber auch weg mit der müden Weisheit unſerer Aſtheten und Peſſimiſten, der Deutſche könne nur als ein Leidender in geiſtigen Dingen bedeutend ſein! Die alte Kulturnation, in der Goethe und Schiller wirkten, war noch von eben dem Reichsgedanken genährt, deſſen Seele in dieſem Kriege wieder aufflammt. Nehmen wir dieſes ſein unbewußtes Fortwirken weg, wo wäre dann auch nur die Einheit der bloßen deutſchen Kulturnation geblieben? Und iſt nicht der Anfang des neuen Selbſtbewußtſeins, mit dem Leffing der frangöfifchen Tragödie entgegentritt und neue Formen und Maße für Literatur und Dichtung aufſtellt, wiederum ganz bedingt durch den Siebenjährigen Krieg Friedrich des Großen? Die Haupt⸗ figur aus dem erſten deutſchen Luſtſpiel, Tellheim, iſt ein Offi⸗ zier aus dieſem Krieg. Ebenſo wenig aber dürfen die geiſtigen Opfer vergeſſen werden, die uns auch in kultureller Hinſicht Armut und Kleinſtaaterei gekoſtet haben; nicht auch darf durch eine einſeitige akademiſche Verhimmelung dieſes Zeitalters aus den Augen gedrängt werden, was dieſe Kulturidee an Einſeitigem und Fragwürdigem in ſich barg.

Die Lebensſchickſale Leſſings, Kleiſts, Hölderlins um von Geringeren zu ſchweigen reden eine Sprache, grauſam genug. Was aber das andere angeht, ſo fehlt dem Ganzen dieſer Kultur doch vor allem dies: daß ſie ein organiſcher Be⸗ ſtandteil des nationalen Lebens und eine aus deſſen tiefſten Kräften ſelbſt auf keimende Verherrlichung dieſes Lebens und ſeiner Wirklichkeit geweſen wäre. Die bildende Kunſt und die Architektur, deren Nährboden noch in höherem Maße wie jener der Literatur und Dichtung politiſche Freiheit,

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Größe, Stolz und Reichtum des Dafeins ift, lag wie das Kunſtgewerbe ganz darnieder! Die Kunſt⸗ und Schönheits⸗ ideale ſind von Goethe abgeſehen von einem wirklich⸗ keitsflüchtigen Zug beherrſcht, gleichgültig ob man wie Schiller Schönheit erſt im ſogenannten „Reich des Ideals“ finden konnte, ob man zu Griechen oder ins Mittelalter floh. Etwas Mattes, Abſtraktes, gelehrtenhaft Unmännliches, etwas Abſeitsſtehendes, Blut⸗ und Leidenſchaftsloſes im Kerne dieſer Kulturidee, ſelbſt noch angeſichts Goethes zu empfinden, darum wird kein echtes Kind unſerer Tage herumkommen. Dazu dichtet und philoſophiert hier faſt ausſchließlich ein ein⸗ ziger ſozialer Beſtandteil des deutſchen Volkes, der bei aller innerer Gemütsgröße doch auch ſehr beſtimmte Grenzen feiner geiſtigen Welt und ſeiner Perſpektiven hat: das deutſche Klein⸗ bürgertum, ſich ſonnend in der Luft kleiner und oft kleinlicher Höfe. Die vollen Tiefen des Lebens eines leidenſchaftlichen Volkes öffnen ſich in dieſer Dichtung ſo wenig, wie ſie an⸗ dererſeits durch ſie voll ergriffen und nach höheren Zielen ge⸗ führt wurden. Man weiß ja, wie wenig dieſe Großen geleſen wurden!“ Eben weil wir den unvergeßlich Großen jener Tage nichts als Dank und Liebe ſchulden, dürfen wir nicht vergeſſen, was der Staat und die deutſche Geſellſchaft ihnen ſchuldig blieb und was ſie und die Unzähligen, denen Kleinſtaaterei und Armut den ſang⸗ oder weisheitsbereiten Mund verfchloffen, hätten ſchaffen können, wenn Zeit, Volk und Staat ihrer und ihres Geiſtes würdig geweſen wären. Wenn aber die Zeit nach 1870 kulturell ſo wenig Hoffnungen erfüllte, ſo lag dies in erſter Linie nicht daran, daß es eine allgemeine Regel wäre, daß fiegreiche Kriege den Materia⸗

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lismus und Zurückdrängung alles Geiſtigen im Gefolge haben müßten; oder daß der Deutſche nur im Leiden groß ſein könne, im Glücke aber an der Erde klebe. Es lag auch nicht allein an der Befruchtung des Unternehmertums und der „Gründer“ durch die fünf Milliarden eine Folge, die wir diesmal auch bei 30 Milliarden ſicher nicht zu erwarten haben. Es lag viel⸗ mehr daran, daß das neue große leere Reichshaus eine Ein⸗ richtung und einen fruchtbaren Garten forderte, auf deren Her⸗ ſtellung ſich bei uns im Gegenſatz zu den Fällen ſtegreicher Kriege anderer Mationen z. B. den Kriegen Ludwigs XIV. zunächſt die geſamte Kraft der Nation zu ſpannen hatte. Es lag aber auch daran, daß gleichzeitig mit unſerem national⸗ politiſchen Aufſchwung der allgemeine Weltkapitalismus von engliſchem Typus ſeinen höchſten Kulminationspunkt zu er⸗ ſteigen begann und unſer national wirtſchaftliches wie „weltpoli⸗ tiſches! Aufftreben in Formen zwang, die der deutſche Geiſt ſchon aus ſeiner, ſo lange währenden rein ideologiſchen Richtung heraus, nicht aus ſich ſelbſt geboren hatte, die ihm vielmehr im weſentlichen durch die Konkurrenz der Völker engliſcher Zunge, gegen fein wahres Weſen aufgenötigt wurden. Daß der Deutſche gleichwohl auch in dieſen beſonderen Formen, die ihm von Hauſe aus, trotz ſeines uralten ökonomiſchen Wirklich⸗ keitsſinnes fremd waren, das hiſtoriſche Urſprungsland dieſer Formen überflügeln konnte, darin iſt die letzte Urſache der Spannungsbildung zu ſehen, die ſich zuerſt in der engliſchen Einkreiſungspolitik, ſchließlich in dieſem Kriege entluden.* Denn dieſer Krieg iſt wie immer der diplomatiſche Her⸗ gang ſeiner Entſtehung eine andere Meinung nahelege zuerſt und zuletzt ein deutſch⸗engliſcher Krieg. Hier liegt

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feine prima causa und fein letztes Ziel; und alle anderen Ur⸗ ſachen und Ziele ſind abgeleiteter Art. Dieſer Krieg iſt aber eben darum von deutſcher Seite aus geſehen nicht ein Krieg, welcher der Konkurrenz mit England in dieſen neu⸗ und hoch⸗ kapitaliſtiſchen Formen, und Englands in ihnen Überflüge⸗ lung dient! Dieſer Konkurrenzgedanke iſt nur Sinn und Ziel des engliſchen Krieges gegen uns! Er hat vielmehr die viel tiefere und welthiſtoriſchere Bedeutung, daß er auf Befreiung abzielt von jenen neukapitaliſtiſchen Lebensformen überhaupt, in denen mit England zu konkurrieren und ſie dabei ſelbſt anzunehmen, die welthiſtoriſche Situation uns zwang, vor allem die Tatſache zwang, daß wir ſo ſpät erſt und zu einer Zeit, da dieſe Formen ſchon gebildet und da fie von England aus den Siegeszug durch die Welt gemacht hatten, zu einem Leben realökonomiſcher Geſamttätigkeit gelangten. Nicht alſo ſiegreiche Konkurrenz, ſondern ſteigende Erlöſung vom Zwang einer Konkurrenz mit England, die uns allerdings zeitweiſe von unſerem hiſtoriſchen Weſenscharakter abge⸗ fallen ſcheinen laſſen konnte, iſt das Hauptziel des engliſch⸗ deutſchen Krieges in dieſem Kriege. Denn jeder Krieg gegen England als gegen das Mutterland des modernen Hochkapi⸗ talismus iſt auch Krieg gegen den Kapitalismus und ſeine Auswüchſe überhaupt.“ Sehe ich recht, ſo war in dem letzten Jahrzehnt in unſerem Lande, war zumal in ſeiner neuen herr⸗ lichen Jugend, die jetzt auf dem Schlachtfelde den inneren Wert ihres neuen Geiſtes und ihrer Beſtrebungen an des Tages Licht bringt, war in Weltanſchauung und Lebensart ein tiefgehender Bruch mit eben jenem kapitaliſtiſchen Bürger⸗ geiſt engliſcher Provenienz aufgekommen, der ihre Väter noch

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allzuſehr umſpannen mußte. Ich habe andernorts über diefe Wendung gehandelt.“ Dieſer neue deutſche Jugendgeiſt wird ſich in dieſem Krieg beflügeln und ſeine Grundſtruktur wird ſich härten und ſtählen. Gibt uns Gott den Sieg, ſo wird in dem fertiggebauten und gefüllten und hoffentlich erweiter⸗ ten Reichshauſe nach denjenigen Formen weitergearbeitet werden, die uns nicht von außen aufgedrungen wurden, die vielmehr zum Geiſte und Weſen ſeiner Bewohner paſſen. Das aber wird auch unſeren vielverſprechenden kulturbilden⸗ den Kräften in Kunſt und Wiſſenſchaft, in Philoſophie und Religion die Muße, die Freiheit gegenüber der fatalen Aus⸗ leſekraft des Bourgeoisgeſchmacks, die Leidenſchaft geben zu einer großen, zu einer blut⸗ und lebensvollen deutſchen Kultur, die nichts mehr von Wirklichkeitsflucht in ſich hat, ſondern die fein wird: Wirklichkeitsverherrlichung.

Aber jene pofitive Beziehung des Krieges zur Freilegung der ſchöpferiſchen Kraft aller Geiſteskultur vermag die Ge⸗ ſamterſcheinung des Krieges nicht im entfernteſten zu recht⸗ fertigen. Möchte ſie ſo tief wie immer ſein der eigentliche Sinn, der letzte Wert und Unwert des Krieges, beſtimmt ſich allein nach feinem Verhältnis zur ſittlichen und reli⸗ giöſen Aufgabe und Miſſton unſeres Geſchlechtes. Es wäre auch ein prinzipiell irriger Standpunkt, die ſittlichen Werte als bloße „Bedingungen“ höchſter Kulturentfaltung abzu⸗ leiten, wie es Hegel und W. Wundt verſuchten.“ Weder der alle Sachwerte überragende Wert der Perſon noch die qualitative Eigenart der ſittlichen Werte, wäre aus dieſer Annahme verſtändlich. Und noch weniger ginge es an, den religiöfen Grundwert, der alle Bildung religiöſer Objektvor⸗

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ftellungen leitet, den Wert des „Heiligen“ als bloße „Er⸗ gänzung“ und letzte „Grundlegung“ für alle übrigen Kultur⸗ werte verſtehen zu wollen.

Eine Welt, ſo eingerichtet, daß Leben und Kultur in ihr prinzipiell nur unter der Wirkſamkeit einer Kraft gediehen und wüchſen, die uns die ſonnenk laren Einſichten mußten ver⸗ dammen laſſen, die alles menſchliche Ethos begründen eine ſolche Welt könnte nur eine teuf liſche genannt werden. Denn unbeugſam iſt echte ſittliche Einſicht gegen alle bloße Wirk⸗ lichkeit des Irdiſchen gegen allen „Erfolg“ und gegen alle jene Klugheiten und Weisheiten der „Welt“, die ach ſo ſchal ſind, wenn ſie ein gottinniges Gewiſſen mit jenem fröhlichen metaphyſiſchen Leichtſinn betrachtet, den im letzten Grunde alle bloß „irdiſchen“ Angelegenheiten ſo ſehr ver⸗ dienen. Wie das Edle über dem Mützlichen, der Held über dem „führenden“ oder „großen“ Mann der Ziviliſation ſteht, die Macht und die Herrſchaft über dem Nutzen; wie das geiſtige Wort der Erkenntnis an Rang über dem Edlen, die geiſtige Kultur über Vital: und Raſſekraft und ⸗tugend, der Genius über dem Helden ſteht: Alſo ſteht der Wert des „Heiligen“ an Rang über allen geiſtigen Werten von Er⸗ kenntnis und Schönheit, die Religion, darin wir Gott und die Geſtalten des „Heiligen“ erfaſſen, über aller Kultur der Heilige aber an Rang unendlich über dem Genius!

Und was nun iſt es, das der Krieg in dieſer Perſpektive bedeutet?

3. Krieg und Ethik

Was immer alſo der Krieg für Erhaltung und Förderung höchſter menſchlicher Lebenswerte (Kap. J) und Kulturwerte (Kap. II) bedeute, es würde ihm die höchſte Sanktion, die alles menſchliche Tun fordert, gebrechen, könnte er zu rechtem Ziele und auf rechte Weiſe geführt, nicht Beſtand haben vor dem ſittlichen Gewiſſen und dem religiöſen Sinne des Daſeins und Lebens unſeres Geſchlechts. Hätten die⸗ jenigen, die ihn von hier aus prinzipiell verwerfen, ſei es vom Standort der Idee der Gerechtigkeit, ſei es vom Standort des Liebesgebotes aus, in der Sache recht, ihre Stimme könnte noch ſo ſchwach und klein, könnte gegen die Kräfte, die immer neu in Kriege treiben, noch ſo unwirkſam ſein, der Krieg wäre doch gerichtet! Er wäre gerichtet, auch wenn er allein den biologiſchen Aufſtieg der Menſchheit garantierte; er wäre gerichtet, auch wenn er die ſtärkſte kulturſchöpferiſche Kraft der Geſchichte wäre. Nur der ſittliche Peſſimismus hinſichtlich der menſchlichen Matur und die alte proteſtan⸗ tiſche Lehre von der radikalen Sündhaftigkeit des Menſchen gewännen die ſtärkſte ihrer Stützen.

Die Unſinnigkeit gewiſſer exzeſſiver Zeitungs⸗ und Partei⸗ anklagen gegen den Krieg iſt leicht zu ſehen, z. B. feine Auf: faſſung als „Maſſenmord“. Denn zum Morde gehört zu allen Zeiten als Weſensmoment, daß der Wille vor der auf Tötung gerichteten Abſicht die Exiſtenz einer indi⸗ viduellen Perſon als Perſon verneint, fie gleichſam ihres Daſeins und ihrer Würde entmächtigt. Nichts davon findet im Kriege ſtatt. Kriege werden nicht gegen Individuen,

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fondern gemeinhin auf vorherige Erklärung und nach freiwilligem Übereinkommen gegen Staaten geführt. Ihr Prinzipalzweck iſt Wehrlosmachung des fremden Staates, beziehungsweiſe ſeiner Regierung; nicht das Töten von Menſchen! Auch im Gefecht ſteht dem Soldaten nicht eine Summe von Individuen und Perſonen als Gegner vor dem geiſtigen Auge, fondern die dort wogende Kollektiv: gewalt des „Feindes“, als eines Werkzeugs der fremden Regierung, deren Wille in dieſer Gewalt als Ganzes tätig iſt. Schon dies allein ſchlöſſe den ethiſchen Tatbeſtand des „Mordes“ völlig aus.“ Vor allem aber beruht jede echte Kriegführung analog wie der Zweikampf auf dem ritterlichen Prinzip, das Achtung und Perſonbejahung des Gegners im⸗ pliziert; ja das ſogar einſchließt, daß die geiſtige Willens⸗ perſönlichkeit des Gegners auch noch im Töten ſeines Organis⸗ mus um ſo tiefer und herzlicher bejaht und geachtet werde, je beſſer und erfolgreicher er auf Schlag mit dem eventuell töd⸗ lichen Gegenſchlag antwortet. Dieſes Töten iſt ein Töten ohne Haß, ja ein Töten mit der Einſtellung der Achtung! Das macht die Majeſtät des furchtbaren Werkes aus. Dar⸗ um iſt überall in der Geſchichte das Recht, die kriegeriſche Waffe zu führen, an ganz feſt umſchriebene Qualitäten, ins⸗ beſondere die Anerkennung des Waffenträgers als einer freien Perſon geknüpft. Mag der Nahkampf Wut, Zorn, momen⸗ tanen Rachedurſt entzünden der Haß des Gegners iſt ein dem echten Kriege völlig fremdes Element. Der Schuß eines einzigen Franktireurs erzeugt mehr Rachedurſt und Haß als die ſchärfſte Niederlage, die von regulären Truppen bei⸗ gebracht iſt. Nur ganz unkriegeriſche, weichliche, ſinnliche,

feige Völker, wie z. B. jetzt die Belgier, find es, die eine geringe Unterſcheidungsgabe für ritterliche Tötung im Krieg und den gemeinen Mord der Franktireurs beſitzen. Jene naturali⸗ ſtiſche Lehre vom Krieg als,, Maſſenmord“ würde dieſe feigen und ſchwachen Völker rechtfertigen! Genug alſo von der Torheit und Niedrigkeit, den Krieg als „Maſſenmord“ zu bezeichnen!

Das chriſtliche Ethos aber ſteigert das Prinzip der Ritter⸗ lichkeit oder der Feindesachtung, das ſchon den heidniſchen Krieg, ja den Krieg zwiſchen allen edleren Naturvölkern be⸗ herrſcht, zur Forderung, daß die Nächſtenliebe zu dem Bruder in Gott alfo bezogen (den „Feind“) und erlebt in dieſer tranſzendenten Seins⸗ und Wertſphäre auch im Kriege nicht ausſetze, ſondern auch mitten im Kampfe weiterwirke („Feindesliebe!“) Internationale Organiſationen wie jene des Roten Kreuzes ſtellen dieſes Prinzip auch äußerlich und gleich⸗ ſam techniſch dar. Leute, die das Prinzip der chriſtlichen Liebe von der auf völlig anderem Boden gewachſenen Idee der modernen „Menſchenliebe“ oder Liebe zu „allem was Men⸗ ſchenangeſicht! trägt, nicht zu unterſcheiden vermögen“, ver⸗ kennen natürlich auch von Grund aus den Sinn der Forde⸗ rung der „Feindesliebe“. Sie machen daraus das von ihr völlig verſchiedene: Nur keine Feindſchaft! Aber die Tiefe und die Paradoxie dieſer Forderung gegen das natürliche Bewußtſein beſteht ja eben darin, daß der Beſtand von Feindſchaft und auch des edlen hohen Charakters der Kräfte des Gemütes, die zu ihr im Privat⸗ und Völkerleben treiben können, von Jeſus vorausgeſetzt und pofitiv anerkannt werden; und dann doch mitten im Kampf und Krieg Liebe

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des „Bruders in Gott“ gefordert wird. „Chriſten ſtreiten als ſtritten fie nicht“ ſagt Richard Rothe. Nicht aber: „Chriſten ſtreiten überhaupt nicht“. Im Neuen Teſtament werden häufig Kriege prophezeit (Lukas 21, 9— 18; Mar⸗ kus 13, 7—26); bei Matthäus heißt es (10, 34) Jeſus ſei nicht gekommen, den Frieden zu bringen, ſondern das Schwert und bei Lukas (12, 49) er ſei gekommen um Feuer und Spaltung auf die Erde zu werfen. In der Antwort, die bei Lukas (3, 14) Johannes den Kriegsleuten gibt, auf ihre Frage nach gerechter Buße, ſteht keine Silbe, daß ſie ihr Handwerk aufgeben ſollen. Die Friedenspreiſungen (Pau⸗ Ins an die Koloſſer 3, 18, Petrus Ep. I, 5, 14, Paulus an die Philipper 4, 7, an die Epheſer 2, 14, an Timotheus II, 2, 22, an die Römer 12, 17—20, an die Hebräer 12, 14) ſtehen zu alledem nicht im mindeſten Gegenſatz. Nirgends meinen ſie den Begriff desjenigen „Friedens“, der nur der „Nichtkrieg“ iſt, d. h. eine von der Idee des Krieges hergebildete negative Korrelatidee des „Krieges“. Sie wenden ſich teils gegen das individualiſtiſche Prinzip der Habſucht, des Neides, des ehr⸗ geizigen Konkurrenzſtrebens, das gerade in ſeiner ganzen Ge⸗ walt dem Nichtkrieg oder dem „Friedenszuſtand“ das generelle Gepräge gibt und das der, die Individuen und Parteien geiſtig einigende Kriegszuſtand gerade verringert, ja in höchſten Mo⸗ menten aufhebt; teils meinen fie jenes tranſzendente Ruhe⸗ gefühl, Stillegefühl, jenes Erlebnis von Geborgenheit des alle Menſchen als „Bruder in Gott“ mit ſich einſchließenden Gemütes, die natürlich nur den Lautkomplex „Friede“ mit dem gemein hat, was das Gegenteil des Kriegszuſtandes, den „Nichtkrieg“, bedeuten ſoll. Dieſer „Friede“ der Friedens⸗

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preifungen aber kann auch noch im Kriege, ſo er ritterlich und fromm geführt wird die Leidenſchaften durchſchneiden wie der Sonnenſtrahl den Sturm. Es ſind denn auch nur gewiſſe, moraliſtiſche, den Erlöſungs⸗, Gnaden⸗ und ſupra⸗ naturalen Charakter des Chriſtentums durch und durch ver⸗ kennende utopiſtiſche moraliſtiſche Sekten, wie z. B. Wieder⸗ täufer, Quäker, Mennoniten und andere, geweſen, die eine Ver⸗ urteilung des Krieges überhaupt aus den Evangelien ableiten wollten. Keine der großen chriſtlichen Kirchen iſt dem gefolgt.“ Und es ſind andererſeits Perſonen und Gruppen, welche die mo⸗ derne, ganz irdiſche und auf den Erfolg eingeſtellte Wohlfahrts⸗ moral, für welche „Liebe“ nicht eine in ſich höchſtwertige Gemütsbewegung, ſondern nur ein ſeeliſcher Kauſalfaktor für den allgemeinen Nutzens iſt, mit der chriſtlichen Ethik aufs peinlichſte vermiſcht haben, die heute noch das Evangelium gegen den Krieg überhaupt zitieren zu können glauben.

Aber dieſer Tatbeſtand, daß die höchſte und reinſte Yor- mung, die das ſittliche Bewußtſein bisher gefunden hat, den Krieg nicht prinzipiell verwirft, ſagt noch nichts über das poſitibe Sinnverhältnis aus, das Friedenszuſtand und Kriegs⸗ zuſtand für jenes höchſte Ziel beſitzen, das die chriſtliche Lebens⸗ lehre ſtets im Gedanken der Verwirklichung eines „Gottes⸗ reiches“, das zugleich ein Reich der Liebe und des Friedens (im pofitiven Sinne) iſt, gefunden hat.

Hier aber liegt in der Tiefe ein auf den erſten Blick eminent paradoxes, poſitives Verhältnis vor, das gerade die⸗ jenige Ethik zum Kriege beſitzt, die nicht wie antiker Stoizis⸗ mus oder wie die Ethik Immanuel Kants in der univerſalen Gerechtigkeit oder in einem „Reiche von Vernunftperſonen, in

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dem Jedes Freiheit mit der Freiheit Jedes widerfpruchslos zu⸗ ſammen beſtehen kann“, die auch nicht in allgemeinſter, größter Wohlfahrt oder in höchſter Kulturevolution (wie die Ethik Hegels und Wundts), ſondern in einem Maximum von Liebe auf Erden das höchſte Ziel aller menſchlichen Beſtre⸗ bung erblickt.

Der Architekt des Haager Friedenspalaſtes hat ſeinen Bau mit der Devife geſchmückt einer Transformierung des bekannten Wortes „si vis pacem, para bellum“ „Si vis pacem, para justitiam“. Die Phraſenhaftigkeit und Nichtig⸗ keit dieſes Satzes beſteht zunächſt in der kindlichen Voraus⸗ ſetzung, daß man die „Gerechtigkeit“ irgendwie ſchaffen und bereiten (parare) könnte ſo wie man etwas ganz anderes, nämlich gerechte oder ungerechte Rechtsinſtitute ſchaffen und „bereiten“ kann. Aber daneben beſteht ein Irrtum, den jener Architekt mit den ſtrengen Vertretern einer jeden rationa⸗ liſtiſchen Gerechtigkeitsmoral teilt. Es iſt der durch das Chriſtentum zuerſt aufgedeckte, nur negative und begrenzende, nicht pofitive und ſchöpferiſche Charakter jeder reinen Gerech⸗ tigkeitsmoral und ihre notwendige Unterordnung unter die Moral der Liebe. Dieſe Unterordnung iſt in Begriffen aus⸗ gedrückt der Kerngehalt der Bergpredigt. Wie fein und ſubtil wir die Idee der „Gerechtigkeit“ auch analyſieren, fie führt nie und nimmer hinaus über eine bloß logiſch⸗formale Ordnung und Syſtematiſterung von Willenszwecken: Es werde Gleichwertiges Gleichwertigem unter gleichwertigen Um⸗ ſtänden. Was aber zu wollen und zu tun fei und was nicht, davon ſagt uns dieſe Idee nichts. Sie ſcheint uns nur dann etwas Derartiges zu ſagen, wenn wir Verhal⸗

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tungsweiſen, wie Achtung, Liebe, Wohlwollen in den Sub⸗ jekten heimlich ſchon vorausſetzen, um deren „Gerechtigkeit“ es ſich handelt, beſtimmte inhaltlich wertvolle Eigenſchaften aber in denen, auf die ſie zielt. „Syſtematiſch“ können die Ziele des Teufels ebenſo ſein, wie die Ziele Gottes! Nennt man z. B. Gleiche gleich ſtark haſſen, quälen, beſtehlen, berauben unter gleichen Umſtänden, ſinnvoll keine „gerechte“ Hand: lung, ſo gibt man ſelbſt zu, daß man alles „gerechte“ Ver⸗ halten gegen jemand bereits in irgendwelcher Form einer auf die Anſchauung pofitiver Werte in ihm gegründeten Liebe verwurzelt hatte. „Gerechtigkeit“ iſt eben keine neben oder gar über der Liebe ſtehende ſittliche Grundidee, ſondern nur die logiſche Ordnung in der Betätigung irgendeiner Art und Form von Liebe, reſp. eines von Liebes⸗Geſinnung noch irgend- wie um ſpannten inneren Verhaltens.? Es iſt der tiefſte ſittliche Grundgedanke des Chriſtentums, daß die vollkommene Liebe, auch alle nach dem Maßſtab der Gerechtigkeit „guten“ Akte des Willens und Handlungen von ſelbſt in ſich ſchließe und nur eben noch ein unvergleichliches Etwas hinzufüge, das ſie erſt zu rein ſittlichen Handlungen mache! Darum „enthält“ nach dem Geiſte der Bergpredigt das Liebesgebot alle anderen „Geſetze“ und Gebote, als von ihm abgeleitet, in ſich. Auguſtin hat dieſen Gedanken ſchon mit klarſter und ſchärfſter Kon⸗ ſequenz herausgeſtellt. Wenn aber dieſes Grundvoerhältnis von „Gerechtigkeit“ und „Liebe“ zugegeben wird, dann iſt auch ohne weiteres klar, daß die „Gerechtigkeit“ eines Subjekts nie wertvoller ſein kann, als die jeweilige Art und der jeweilige Wert der Liebe des Subjekts, die ſie notwendig fundiert und inſpiriert. Die höhergeartete Liebe oder jene Liebe, die ſich auf

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Schutz, Erhaltung, Förderung von Werten höheren Ranges in einem anderen Weſen, wenn auch vielleicht gegen die nie⸗ driger gearteten Impulſe, Wünſche, Zwecke dieſes geliebten Weſens richtet, beſtimmt alſo auch erſt die Höhenlage der zu dieſem Weſen auch nur möglichen Gerechtigkeit. Eine Liebe, die man ſchon als eine „Dispoſition, anderen wohlzu⸗ tun“, d. h. im Sinne der Mützlichkeitsmoral definieren würde, eine ſolche Liebe kann freilich auch dann nicht mehr „wehe⸗ tun“ und unter Umſtänden „züchtigen“; auch dann nicht mehr, wenn die Forderung des höheren Wertes im Gegenüber, die Bewahrung der Geiſteswürde des anderen, die Förderung ſeiner zentralſten Intentionen, die er ſelbſt vielleicht eben preisgeben will, dies erforderte. Die echte Liebe aber, die nicht auf die Wünſche, ſondern die Wertess und die Würde des anderen Teiles und auf ſein wahres „Heil“ gerichtet iſt, kann auch hier nach dem Vorbilde Gottes verfahren, der weiſe „züchtigt, die er liebt“. Das gilt auch noch im Völker⸗ leben. Man hat uns z. B. den Vorwurf gemacht, daß wir 1871 unſere Erwerbung der uns von Ludwig XIV. entriſſenen Landesteile des Elſaß nicht von einem Plebiszit der Elſäſſer Bevölkerung abhängig machten. Aber die Zugehörigkeit zu einer Nation beſtimmt ſich nicht nach Wunſch und „Na⸗ tionalbewußtſein“ der in Frage kommenden Subjekte. Sie beſtimmt ſich nach Art und Richtung der Arbeit, der For⸗ mung, die dieſer Boden in ſich aufgenommen hat und nach jenen tieferen Lebens⸗Schaffens⸗Werttraditionen, die jenſeits der Oberfläche des „Urteilsbewußtſeins“ und des „Wunſches“ in dieſer Bevölkerung leben. Die eben vollzogene Formu⸗ lierung dieſes Grundverhältniſſes der Idee „Gerechtigkeit“ zur

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Idee „Liebe“ hat den Einwurf zu gewärtigen, daß doch die Gerechtigkeit erfordere, „ohne Liebe und Haß zu richten“, be⸗ ziehungsweiſe Geſetze, die Gerechtigkeit verwirklichen ſollen, „ohne Liebe und Haß“ aufzuſtellen. ! Aber es iſt offenſichtlich, daß in dieſem Satze etwas ganz anderes mit dem Worte „Liebe“ gemeint iſt als in unſerem: Nämlich Vorliebe für eine Partei vor der anderen Partei. Was wir oben meinten, bedeutet dieſes ganz andere: daß weſensgeſetzmäßig alle „gerechte“ Haltung (Gerechtigkeit als Tugend) von irgendeiner Form der Liebe gegen jene Geſamtheit ſchon beſtimmt ſei, in der das gerechte Verhalten eine vernünftige einheitliche Ordnung der Zwecke bewirken ſoll und daß gleichzeitig die Sachidee der „Ge⸗ rechtigkeit ! durch beſtimmte Werte bedingt und getragen fei (und eine Rangordnung ſolcher), die Objektgrundlagen dieſer Liebe ſind. Nur gegen jene Neigungen der „Begierde“, die eben das Gegenteil von Liebe (jeder Art) ſind, ſoll Gerechtig⸗ keit das ſein, als das ſie Dichter und bildende Künſtler dar⸗ ſtellen: „Blind“. Eine auch wert- und liebesblinde Gerechtig⸗ keit aber wäre auch blind und ohnmächtig für die Ge⸗ rechtigkeit ſelbſt. Und wieder gilt nicht, daß Liebe ſondern daß die Begierde „blind“ mache, wogegen die Liebe das geiſtige Auge überhaupt erſt für alle die Werte öffnet und ſie in den Geiſt einſtrömen läßt, deren fühlendes Sehen irgend- welche Gerechtigkeit erſt möglich macht. Die Liebe iſt die Wurzel aller echten „Objektivität“ im Verhalten ſie iſt es in der Moral wie in der Erkenntnis und das einzige, letzte Agens, das unſeren Geiſt aus dem Umkreis unſeres Leibes und ſeiner Begierdeimpulſe ſich heraus ins Freie, zu Dingen und Werten hinbewegen läßt. Man muß auch

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Gerechtigkeit und Erkenntnis noch „lieben“, um darnach zu verlangen und in einer dieſer Richtungen tätig zu ſein. Die pure Gerechtigkeitsmoral (beſſer ſagte man „Geſetzlichkeits⸗ moral“) wird nun dadurch, daß ſie alle anderen willensbeſtim⸗ menden Faktoren außer der Idee formaler Geſetzlichkeit aus⸗ ſchließlich in Egoismus, Intereſſe, Luft, Mutzen verlegtss, gleichwohl aber doch Liebe das Fundament auch der, über „Ge⸗ ſetzlichkeit / hinausgehenden „Gerechtigkeit“ iſt, dazugeführt, die Liebe nur als „Dispoſttion zur Förderung allgemeiner Wohl⸗ fahrt“ anzuſehen. Das heißt ſie wird gerade im Hauptpunkt aller Ethik ihrer Stellung zum Liebesgedanken zu einer bloßen Unterform des Utilitarismus. Sie ſetzt bei all ihren Ableitungen darum ſchließlich nichts voraus als kämpfende Indiobidualegoismen ihre Wohlfahrt aber als Summe der Wohlfahrt aller Einzelnen und eine logiſche Regel ihrer durch das Wollen zu bewirkenden Ordnung. Aber ſelbſt bei dieſer Anſetzung vergißt fie, daß fie den Satz vom poſitiven Wert der Wohlfahrt und ihrer Liebenswürdigkeit als einen un⸗ mittelbar evidenten Satz und ſo wenigſtens die niedrigſte Form der Liebe als der Liebe zu dem, was allem menſchlichen Wert⸗ bewußtſein „gemeinſam“ iſt d. h. Sinnenluſt und⸗ſchmerz bereits heimlich vorausgeſetzt hat. Eben darum gerät die Ge⸗ rechtigkeitsmoral auch ſofort in den zweiten Grundirrtum, der neben der Verwechslung von „Begierde“, „Neigung“ und „Liebe“ ſtets die Haupthemmung für das Verſtändnis von Volk, Nation und Krieg gebildet hat: er beſteht darin, daß man die „höherwertige Liebe“ nicht gleichſetzt mit der Liebe zum Trä⸗ ger höherer Werte (wie groß oder klein auch der Kreis der Träger dieſer Werte immer ſei), ſondern mit der Liebe zum

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jeweilig größeren Menſchenkreiſe und feiner „Wohlfahrt“. So wird die echte (auch „chriſtliche“) „Nächſtenliebe“ zu etwas total Anderem, zur „Liebe zur Menſchheit“ umgebogen; und es kann nun natürlich alle Liebe zu Heimat, Volk, Nation, Staat, Kulturkreis, ex definitione nur als eine Art widerrecht⸗ liche Entziehung eines Liebesquantums erſcheinen, das man der „Menſchheit“ als ſolcher, als dem größten Kreiſe ſchuldet. Hierbei wird aber eben die Hauptſache überſehen: daß die „höherwertige“ Liebe, auch die „innigere“ und tiefer in das zentrale Weſen ihres Gegenſtandes eindringende Liebe faktiſch ſtets die auf die höheren Werte (alſo z. B. nicht Wohlfahrt, Nutzen, ſondern dem Edlen und den geiſtigen Werten der Kul⸗ tur, nicht Sach werten, ſondern Perſonwerten uf.) aufgebaute Liebe iſt; und daß gleichzeitig eben die Sphäre dieſer höheren, alle „Wohlfahrt“ weit überragenden Werte, von Hauſe aus nicht allen Menſchen „gemeinſame“ find, ſondern nur volkliſch national oder nach Kulturkreiſen differenzierten Eigenſchaften, Werken und Kräften der Menſchen zukommen können. Dar⸗ um iſt denn auch faktiſch jede ſogenannte Liebe zur Menſch⸗ heit und zu ihrem Geſamtwohl fo berechtigt und notwendig ſie auf ihrer Rangſtufe iſt und ſo ſehr gerade dieſe Liebesart die Vorausſetzung iſt auch aller „internationalen“ Moral, in⸗ direkt alles Privat⸗ und öffentlichen Rechts in dem Augen⸗ blick eine widerſittliche und darum auch widerrechtliche Ent⸗ ziehung von Liebe gegen die Träger jener „höheren Werte“, die z. B. als echte Kultur⸗ und Perſonwerte ſich in der Sphäre jener großen geiſtigen Geſamtperſonen, die wir Nationen nennen, darſtellen und eben nur hier ihren „Ort“ haben in dem Augenblick, als dieſe „Liebe zur Menſchheit“ in Kon⸗

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flikt mit der Liebe zu den Trägern der an ſich auf Grund ihrer Qualität höheren Werte tritt. Mit ihrem unumſtöß⸗ lichen Fundament, der „Liebe zur Menſchheit“ und dem ihr als ſolcher Liebe allein noch zukommenden Wohlfahrtswert, iſt aus dieſem Grunde auch die Forderung „allgemeinmenſch⸗ licher Gerechtigkeit“ ſo lange in ihrer willensbeſtimmenden Kraft ausgeſetzt, als bis den Forderungen der höherwertigen Liebe zu Nation und Staat und ihrer geiſtigen Kultur volles Gehör und Folge gegeben wurde.““

Damit ſind die fundamentalen ethiſchen Axiome kurz be⸗ zeichnet, die auch für die Beurteilung des Krieges als Oberſätze zu gelten haben. Die pure rationale Gerechtigkeitsmoral deren reinſtes Muſterbild immerdar die Ethik Immanuel Kants dar⸗ ſtellen wird fordert von ihren falſchen und durch die chriſtliche Liebesethik längſt überwundenen Grundſätzen aus, in völlig ſchlüſſiger und ſtrenglogiſcher Weiſe auch den „ewigen Frie⸗ den“ als regulative Idee alles politiſchen Handelns; fie fordert weiter internationale Rechtsinſtitute, die auf Grund der Idee und Norm der „Gerechtigkeit“ alle internationalen Gegen⸗ ſätze auf rechtliche Weiſe ſchlichten. Dieſe ihre Schlüſſe und Forderungen erfahren aber auf Grund des Primates der Liebe über die Gerechtigkeit und des Satzes von der notwendigen Fundierung aller Gerechtigkeit in Liebe, der „höheren“ Ge⸗ rechtigkeit aber in „höherer“ Liebe, nun eine tiefeinſchneidende Einſchränkung: Ihre logiſch ſchlüſſige Forderung nach Friede und ihn gewährleiſtende Rechtsinſtitute, iſt eine ſittliche Forderung“ nur inſoweit und inſoferne, als auf Grund des Friedens eine gleichgroße Fülle von Liebe auf Erden und zwar von Liebe der höchſten Arten und gemeſſen nach dem

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Range diefer Arten erhalten bleibt. Wenn dagegen durch eine, vermöge dieſer Inſtitute, gemäß der Morm der „Gerechtig⸗ keit“ zu gewährleiſtende Ordnung der Intereſſengegenſätze die Geſamtfülle der Liebe in der Welt (und an erſter Stelle der Arten der höheren und höherwertigen Liebe) abnähme, und wenn dies auch in beliebigem Maße außerdem noch zugunſten der Maximiſterung „allgemeinmenſchlicher Wohlfahrt“, durch Entfallen aller der unſäglichen Kriegsübel geſchähe, ſo wäre ſolche Ordnung auch in der Idee eine weſenhaft widerſitt⸗ liche, „böſe“ Ordnung und darum auch eine „ungerechte“ nicht etwa nur wegen der faktiſchen Schwierigkeiten ihrer Her⸗ ſtellung auf Grund der menſchlichen Schwäche und unſerer gegenwärtigen hiſtoriſchen Entwicklungsſtufe. Denn alle mög⸗ liche „Rechtsordnung“ erhält ihre eigene Würde und Digni⸗ tät erſt inſofern, als fie ſich aus der ſittlichen Ordnung ableitet nicht aber umgekehrt, wie heute eine gewiffe „neukantiſche“ Karikatur der großen Ethik Kants will. Das beſagt der unver⸗ gleichlich tiefſinnige Satz: „Summum jus, summa injuria!“ Und das zeigt auch, daß es widerſinnig iſt, die nationalen Lebens⸗ und Kulturgemeinſchaften mit Subjekten in Analogie zu be⸗ handeln, die überhaupt keine echten „Gemeinſchaften“, ſondern nur auf gemeinſamen Nutzen hin gegründete „Geſellſchaften“ find, Gruppen alſo, in denen man egozentriſche Individual- oder Kollektivintereſſen („Intereſſen“ ſind weſenhaft „egozentriſch“, wenn ſie auch das ſogenannte „Gemeinintereſſe“ beliebig vieler find) als die einzigen, zum „Streit“ treibenden und durch Ver: trag und Recht zu ſchlichtenden Kräfte vorausſetzt und voraus⸗ ſetzen darf. Die Idee der geiſtig⸗vitalen Liebes gemeinſchaft aber iſt Vorausſetzung der Idee aller bloßen „Geſellſchaft“

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wie Liebe überhaupt Fundament und Bedingung alles Rech⸗ tes. Dieſen Satz verkennt die „formale“ Ethik der Gerech⸗ tigkeit ebenſo wie die Wohlfahrtsmoral; nur in anderer Richtung! Sie verkennt damit auch, daß ſich das richtig for⸗ mulierte Prinzip der Gerechtigkeit auf Staaten und Nationen faktiſch gar nicht anwenden läßt. Denn dieſes richtig for⸗ mulierte Prinzip fordert nicht, daß „unter denſelben Umſtänden beſtimmten Subjekten Gleiches geleiſtet und genommen werde“, ſondern daß Gleichen oder gleichwertigen Subjekten unter gleichwertigen Umſtänden Gleichwertiges widerfahre. Wo aber wäre auch nur ein denkbarer Maßſtab für den Wert der Staaten und Nationen, der ſchon für die Herſtellung der „Normen“ eines ſolchen Gerichtshofes nicht erſt feiner Recht⸗ ſprechung Vorausſetzung wäre? Nur unter der ſtändigen Fiktion der Gleichwertigkeit und der gleichen Herrſchafts⸗ würdigkeit der Staaten könnte ſolcher Gerichtshof operieren: d. h. unter einer Fiktion, welche alle „höhere Gerechtigkeit“ ſchon prinzipiell und von Haufe aus als widerſittlich verneint. Natürlich hatte z. B. Polen vor ſeiner erſten Teilung das formale Recht für ſich. Und doch ſagt jede geſunde Ver⸗ nunft, daß dieſer Staat ſein Recht auf Exiſtenz verloren hatte, da er durch ſeine innere Anarchie jeder Herrſchafts⸗ würdigkeit bar geworden war. Auch jetzt hatte Belgien gegen uns das „Recht“ für ſich, wie der Kanzler ſo großartig im Gegenſatz zu allerhand mit fragwürdigen Argumenten ver⸗ nünftelnden Juriſten zugegeben hat. Und doch war unſer Verhalten fo , ſittlich! wie „gerecht“! Nicht alſo iſt der wert⸗ vollere Staat derjenige, der in der Geſchichte am meiſten bei⸗ trägt, die Idee eines internationalen, nach Gerechtigkeit ge⸗

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ordneten Friedensreiches zu verwirklichen (Kant); fondern der wertvollere „Staat“ „ſoll“ herrſchen und der Krieg ent⸗ ſcheidet nach der „höheren Gerechtigkeit“ eines Gottesgerichts in lebendiger Tat, einer Tat, die eben nicht die leere Fik⸗ tion der Gleichwertigkeit der Staaten, als bloßes Zugeſtänd⸗ nis an die menſchliche Schwäche macht, welcher Staat der wertvollere ſei! Eben damit iſt aber der „gerechte Krieg“ das Vehikel, durch das ſich auch die jeweilig höhere Gerechtigkeit und die vermittelnden Syſteme ihrer Realiſterung, d. h. die höherwertigen und „gerechteren“ Rechts⸗ und Geſetzesſyſteme auf Erden auf die maximal beſte Weiſe verbreiten. Die Er⸗ oberungen Roms wurden auch zu Eroberungen eines Teiles der Welt für das höhergeartete römiſche Recht. Wie iſt Preußiſch⸗Polen ganz anders geordnet, ſeit es preußiſch iſt und liegt darin nicht eine „höhere“ Gerechtigkeit als ſie im Spruch jenes Schiedsgerichtes gelegen geweſen wäre, das Polens for⸗ males Recht gegen feine Teilung geſchützt hätte??“

Eben damit iſt der letzte Grund der Harmonie aufgedeckt, der zwiſchen echter chriſtlicher Liebesmoral und jeder Moral beſteht, die den „kriegeriſchen Geiſt“ und die „kriegeriſchen Tugen— den“ des Menſchen einer poſitiven und hohen Wertſchätzung unterwirft. Und es iſt gezeigt, wie das pazifiziſtiſche Ideal, im herkömmlichen Sinne aller ſeiner Formen, der rationaliſtiſchen und utiliſtiſchen niemals aus den Grundſätzen der Liebesmoral gewonnen werden kann, ſondern vielmehr immer nur aus falſcher Gerechtigkeitsmoral und Utilitarismus oder einer Verbindung beider. Die Liebesmoral bildet nicht nur hiſto⸗ riſch und faktiſch, z. B. innerhalb der älteren keltiſchen, germa⸗ niſchen, romaniſchen und ſlawiſchen Welt, ſondern auch ihren

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inneren Weſensbaugeſetzen nach, eine ſtrenge Stileinheit mit der kriegeriſchen Moral und der hohen Wertſchätzung der fpezififch „edlen“ und „ritterlichen“ menſchlichen Eigen⸗ ſchaften. Verſchiedene Kriegshelden ſind zugleich Heilige. Liebes⸗ und Kriegsmoral bilden eine ſolche genau im ſelben Sinne, wie umgekehrt rationale Gerechtigkeitsmoral, Utili⸗ tarismus und Pazifizismus, oder eine jener beiden Moralen und Pazifizismus ſolche inneren Stileinheiten darſtellen! Dieſe Stileinheiten find auf evidente Weſenszuſammenhänge zwi: ſchen Werten und ſittlichen Akten gegründet, die aller poſi⸗ tiven hiſtoriſchen Erfahrung vorhergehen und ihr gegenüber „a priori“ find, die aber ſelbſt noch notwendig find, um die faktiſche hiſtoriſche Entwickelung zu „verſtehen“ . Nichts finde ich gegenwärtig von Kulturparteien, Philo⸗ ſophen, Ethikern, Hiſtorikern mehr verkannt als den Be⸗ ſtand eben dieſer moraliſchen reinen Typen und Stilgeſetze der Moralen. Da gibt es zunächſt eine Gruppe ſolcher, welche die innere Unmöglichkeit einer bloßen Kantiſchen Gerechtigkeitsmoral wie eines Utilismus begreifen, welche eine neue Wertſchätzung der „edlen“, kriegeriſchen, ritter⸗ lichen Eigenſchaften der Menſchen fordern, aber gleich⸗ zeitig der Meinung ſind, daß man gerade dann auch die Grundſätze der echten“ chriftlichen Ethik preisgeben müſſe. In dieſer Linie bewegt ſich Fr. Nietzſche, dem nicht nur „eine gute Sache den Krieg“ heiligt, ſondern dem „der Krieg jede gute Sache“ heiligen ſoll. In dieſer Richtung bewegen ſich auf tiefſtem Nioeau und mit Nietzſches Tiefſinn nicht zu dergleichen eine Reihe Ethiker, die aus den Grundſätzen Darwins, nicht wie H. Spencer höchſt ſinnvoll den Pazi⸗

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fizismus ſondern das Recht einer kriegeriſchen Moral ab: leiten wollen. Der Unſinn von Vorausſetzung wie Ableitung bei dieſen Schriftſtellern wurde früher aufgewieſen. Aber auch tiefe Denker gehen von einem ſinnvolleren und rich tigeren Begriff des „Lebens“ und der „Lebensentwickelung“ aus dieſen Weg, z. B. der Franzoſe Guyau. Auch W. Rathe⸗ nau ſtellt in feinen ſchönen und leſenswerten Büchern“ ähn⸗ lich wie Fr. Nietzſche das germaniſche „Mutethos“ dem chriſtlichen „Mitleids⸗, Paſſions⸗, Demuts⸗, Liebesethos“ als ſich ausſchließende Gegenſätze der Stilformen des ſittlichen Bewußtſeins und feiner möglichen Strukturen gegenüber ohne freilich wie Nietzſche einſeitig für das eine oder andere Partei zu ergreifen. (Ich gedenke dabei nicht jener „lächer⸗ lichen“ Karikaturen dieſes Standpunktes, die uns auffor⸗ dern, uns wieder lange Bärte wachſen zu laſſen, an Stelle Chriſtus „Wuotan“ oder ſonſt was der Art zu ſetzen, welche Religion aus der „Raſſe“ ableiten und die ſittliche Güte in „Langſchädligkeit“ zu erkennen glauben. Sie ſind der Widerlegung nicht wert.) Der Grund dafür, daß fie die aufgewieſene Stileinheit von echter Liebesmoral und Hoch⸗ ſchätzung wenn auch nicht ſpartaniſchrohe Höchſtſchätzung des kriegeriſchen Ethos verkennen, iſt an erſter Stelle ein voll⸗ kommenes Mißverſtändnis der chriſtlichen Liebesethik. Dieſes Mißoerſtändnis beſteht teils in der Verwechslung von chriſt⸗ licher Liebe mit Schopenhauerſchem“ Mitleid oder Comte⸗ ſchem „Altruismus“, teils mit moderner „Menſchenliebe“ und „Humanität“, teils in der Verwechſlung von (poſitiver) tapferer „Duldung“ mit „Paſſivität“, von „Demut“ mit „Servili⸗ tät“, dies alles verbunden mit einer Naturaliſierung der

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chriſtlichen Geſamtidee, wie fie freilich auch einem Teile der ſogenannten „liberalen“ chriſtlichen Theologie zur Laſt fällt. In geringerem Maße iſt der Grund für die Annahme dieſes „Gegenſatzes“ auch die einſeitige und rohe Faſſung des kriege⸗ riſchen Ethos als bloßes blindes Draufgängertum, bloßes „Mutethos“ und wohl gar noch irdiſches, nur auf die eigene Gruppe bezogenes Herrſchaftsethos. Kriegeriſches Ethos iſt aber ebenſo urſprünglich wie es Mutethos iſt, auch Ethos ritterlicher Selbſtbeherrſchung der eigenen Triebe und Opfer⸗ ethos; kriegeriſches Ethos iſt gerade nicht rohes Säbeltum, ſondern ritterliches und großherziges Degenethos, das mitten im Kampf den Feind bejaht und achtet und „Haß“ und „Neid“, d. h. die ſpezifiſchen Haltungen der „Ohn⸗ macht“ nicht kennt; iſt nicht nur Ethos des guten Befehlens, ſondern auch des guten echten Gehorchens (im Gegenſatze zu ſklaviſcher, meiſt mit dem Bewußtſein äußerſter „Selbſtändig⸗ keit“ gepaarten Beeinflußbarkeit und Anſteckbarkeit durch fremdes Wollen); nicht nur Ethos der Siegesfreude, ſondern auch Ethos ruhigen und ſtillen Duldenkönnens einer Nieder⸗ lage; nicht nur irdiſches Herrſchaftsethos, ſondern auch der Unſterblichkeit zugewandtes Ruhmesethos. So liegen im kriegeriſchen Ethos faktiſch bereits alle die Anknüpfungen zu dem höheren, es unendlich überragenden Stockwerke der höch⸗ fen rein religiöſen, ſittlichen, chriſtlichen Tugenden und dies eben im Gegenſatze zu aller utilitariſchen Kaufmanns⸗ und zu aller brutal „biologiſchen“ blonden Beſtienmoral, die von Selbſtbeherrſchung, Gehorſam, Opfer, Demut, Duldung, Fortleben nichts wiſſen will. Nur durch dieſe doppelte Ver⸗ kennung ſowohl des echten Liebes⸗ als des echten kriegeriſchen

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Ethos vermögen die Vertreter diefes Dualismus von Liebes⸗ und Kriegsmoral natürlich auch für die tiefgreifendſte Er⸗ ſcheinung der weſteuropäiſchen Geſchichte, für die Annahme des Chriſtentums durch Germanen und Kelten, keinerlei Ver⸗ ſtändnis mehr zu gewinnen. Dieſe allen ſonſtigen Geſchichts⸗ verlauf Weſteuropas bedingende Geiſtesſyntheſe muß ſür ſie ein vollendetes Rätſel ſein. Wäre das chriſtliche Ethos von Haufe aus eine auf Reſſentiment beruhende Skladen⸗ und Dienerreligion und ⸗moral geweſen wie konnten die Ger⸗ manen und Kelten, dieſe kriegeriſchen Herrſchervölker, ſo un⸗ endlich inſtinktoerlaſſen fein, es anzunehmen? Waren fie aber fo ſuggerierbar dann waren es auch keine „Herren“! Nur der Sklave läßt ſich feine Inſtinkte wegſuggerieren. Unſer Stilgeſetz aber macht die Geſchichte der Ausbreitung der chriſtlichen Moral in der nordiſchen Völkerwelt ſinnvoll und verſtändlich. Das entgegengeſetzte macht ſie zu einer patho⸗ logiſchen unfaßlichen Maſſenſuggeſtion.

In anderer Richtung verkennen dieſe Stilgeſetze alle die⸗ jenigen, die umgekehrt wie die puren Kraftethiker alle kriege⸗ riſche Moral mit dem Kriege ſelbſt im Namen der chriſt⸗ lichen Liebe verwerfen, wie z. B. Tolſtoi; fie ſetzen gleichfalls Liebesmoral mit Wohlfahrts⸗ und moderner Menſchheits⸗ liebemoral gleich, nur daß ſie dies im Gegenſatze zu den hier konſequenten „Utilitariern“ nicht merken, alſo eine radikale Begriffsverwechslung begehen. Weitere Verkennung der Stilgeſetze liegt vor bei allen chriſtlichen Theologen, die eine chriſtliche Moral auf den kategoriſchen Imperativ aufbauen wollen (zwei Dinge, die ſich ausſchließen wie Feuer und Waſſer) und die darum auch zum Kriege (im Gegenſatz zu

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dem tiefſinnigen, konſequenten Kant) nur eine ganz opportu⸗ niſtiſche halbe, ſchwächliche Stellung gewinnen können. Eben dieſem Verhältnis der Kriegsmoral als einer Vor— ſtufe zur religiöfen Liebesmoral entſpricht es, daß der Krieg eben⸗ ſowohl die Kraft in ſich birgt, die Gemüter innerlich zu einen, als er die große Kraft iſt, die Menſchen äußerlich zu trennen und zu ſcheiden; wogegen der Friedenszuſtand die Menſchen ebenfo äußerlich eint, als er fie innerlich atomiſtert und trennt! Gewiß iſt dieſe Einung, die der Krieg im Laufe der Geſchichte innerhalb wachſend größerer und umfaſſenderer Gruppen be⸗ wirkt (aus Stämmen Völker, aus Völkern Nationen bildend und ſchaffend) zunächſt nur durch das Motio der Schwäche, gemeinfamer Not der Individuen, gemeinſamer Exiſtenz⸗ gefahr, gemeinſamer Feindſchaft, ja wohl auch gemeinſamer Angriffsluſt oder gemeinſamer Rache beſtimmt. Aber das iſt nun das Entſcheidende, daß die Akte der tieferen Willens⸗ und Geſinnungseinigung und das Wachstum der Liebe, die durch dieſen Notſtand nicht gemacht, ſondern nur als in ſich freie Kräfte zur Betätigung ausgelöſt werden, nach ihrem Grade und ihrer Tiefe hin angeſehen, nicht mit dem Notſtand, der fie ins Spiel ſetzte, vergehen, ſondern weiter durch die Folge⸗ zeiten des Frieden hindurchſchwingen. Die einmal ausgelöſte Kraft wirkt und ſammelt weiter. Daß es überhaupt erſt ſolcher „Motive“, daß es des Krieges auch nur zum Geburts⸗ helfer der, echte „Gemeinſchaft“ bildenden Liebeskraft über⸗ haupt bedarf darin, aber auch nur darin ſah die chriſtliche Lehre mit Recht eine „Folge der menſchlichen Sündhaftig⸗ keit“, die fie auf Sündenfall und Erbſünde zurückführten. Gleichwohl bleibt der Krieg, indem er dieſe Auslöſung voll⸗

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zieht, hierdurch ein poſitibver Weſensbeſtandteil der göttlichen Erlöſungsordnung. Und wie hart, rauh gewunden und dornig dieſer Weg immer ſei, ſo iſt er doch noch ein geraderer und ſanfterer Weg zu dem überſchwenglichen Ziele des „Reiches Gottes“, als ein „ewiger Friede“ wäre, der durch bloße ſtei⸗ gende Intereſſenſolidarität der Völker und vollkommene Aus⸗ dehnung der Vertrags⸗ und Rechtsidee über die Staatenwelt ſich anbahnte. Denn dieſer „ewige Friede“ würde nicht aus⸗ ſchließen, daß fein ſittlicher Inhalt in chriftlicher Sprache zugleich das „Reich des Teufels“ ſei. Das iſt der Grund⸗ irrtum aller naturaliſtiſchen Kriegs⸗ und Friedensphiloſophie, daß man, ganz auf das äußerlich Sinnliche und Sichtbare des Menſchlichen gerichtet, den Krieg nur als Macht der Schei⸗ dung und der Trennung unter Menſchen verſteht; den bloßen „Nichtkrieg“ aber, der durch eine kluge Verzahnung der Intereſſen erreicht iſt, für ein pofitives Liebes⸗ und Friedens⸗ reich hält.

Aber ſcheidet und trennt wirklich der Krieg die Menſchen mehr als er ſie eint? Scheidet und trennt er ſie mehr als ein dauernder Friedenszuſtand ? Und worin ſcheidet er, worin trennt er?

Hier gerade liegt die ungeheure Paradoxie des Krieges, daß er, der auf den erſten Blick Kraft und Prinzip tiefgreifendſter und furchtbarſter Scheidung und Trennung unter den Men⸗ ſchen zu ſein ſcheint, faktiſch und tiefer geſehen, die ſtärkſte Kraft der Menſcheneinigung darſtellt, ſo daß man ſeinen Genius geradezu den mächtigſten Einheitsbildner unter Menſchen nennen kann.

Die erſte und ſittlich bedeutſamſte Einigungsleiſtung, die

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der Krieg einer fozialen Gruppe, fei fie Stamm, Volk, Na⸗ tion, hervorruft, iſt die Einigung der Teile der in den Krieg ziehenden Gruppen untereinander. Schon der erſte Ruf „Auf zum Kriege“ trifft die Egoität eines Jeden mit einer Ge⸗ walt, wie es Zungen von Engeln nicht vermöchten. Die Diſtanzen der Individuen, der Klaſſen, der Stände, des Hoch und Nieder, des Arm und Reich, vermindern ſich mit einem Male; die harten Eigentumsbegriffe des Friedens werden weich und flüſſig; ſtarre bislang in ſich beſchloſſene Herzen und Gemüter öffnen ſich und ſehen ſich verwundert in einen großen, einheitlich dahinrauſchenden Strom macht⸗ vollen Lebens einſchmelzen. Der Geiſt der Liebe und Opfer⸗ bereitſchaft, das wiederkehrende Bewußtſein der Tiefe auch vorher ſchon vorhandener Liebe zur gemeinſamen Heimat, Sitte, Staat, das der auf die materiellen Werte bezogene Konkurrenzgeiſt des Friedens verſteckte und verbarg, alles das leuchtet hell und ſcharf auf. „Keine Parteien mehr“ und hinter mir das „ganze deutſche Volk!“ Der Friedenszuſtand mit dieſer neuen Wachheit und Helle über gemeinſame Werte, (und unter ihnen über die gemeinſamen höchſten Herzens⸗ und Geiſteswerte) verglichen, gleicht hiegegen einem Zuſtand des Schlafes und der Gefühls- und Geiſtesblindheit. Jetzt aber ſehen die vorher Blinden, hören die vorher Tauben, gehen die vorher Lahmen! Im Frieden erblickt das Auge des Herzens nur die jeweiligen Differenzwerte als Werte über⸗ haupt“; nur das, was einer „mehr iſt“ als ein Anderer, das, was einer „mehr hat“ oder weniger, iſt hier als Wert gegeben; oder noch ſchlimmer, was Jeder nicht hat! Denn für die Kräfte menſchlicher Habſucht, für Strebergeiſt, für

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Ehrſucht und Neid, die der Friede hegt und pflegt, find nur eben dieſe Differenzwerte Angriffspunkte der Betäti⸗ gung des Handelns und der Sorge. Alles andere wird für das erlebende Bewußtſein in nächtlichem Dunkel gehalten. Der Krieg dagegen läßt uns aus dieſem Schlaf, dieſer Blindheit erwachen: Wir ſehen, was wir ſind und was wir beſitzen. Wir begehren weniger und lieben viel mehr! Verſchlafene, in der Gewohnheit des ſelbſtverſtändlichen Hin: nehmens der Tage, erſtickte Liebe zwiſchen Gatten, Geſchwiſtern, Eltern und Kind, Freund und Lebenskamerad glüht wieder auf, da ſie ſich in das große einheitliche Schickſal des Volkes einbeſchloſſen und durch die Bewegung des Ganzen mit in eine große Bewegung gezogen ſieht. Mag der Freund, der Geliebte, der Gatte, der Sohn ſterben; dies iſt dann ſchwere Herzensnot. Aber vorher wurde das Band verſchlafener Liebe neu geknüpft. Und nun ſtarb der Geliebte als Geliebter während im Frieden ebenderſelbe länger gelebt hätte aber ungeliebt, vielleicht nur dem Namen nach „Freund“, „Gatte“, „Bruder“. Alſo erhöht, erweitert, vertieft und ſpannt auf die höchſten, gemeinſamen unteilbaren Werte der Krieg unſer ſittliches Bewußtſein! Er gibt uns eben damit auch für den folgenden Frieden ein neues Maß unſerer Exiſtenz; hängt über uns eine neue Forderung, die zu ver— geſſen wir uns von nun an ſchämen müſſen. Im Bilde und Nachleben der Erinnerung wird im Frieden „Norm“, ein „Soll“, ein „Ideal“, was „damals“ die geſteigerte Wirklichkeit ſelbſt war. Alſo bildet ſich die „Norm“ des Friedens aus der erhöhten ſittlichen Wirklichkeit des Krieges. Mag der Kampf der Klaſſen, der Parteien im Frieden wieder

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beginnen. Immer doch finden wir die packenden beſchämenden Argumente der Führer der Unterdrückten des Volkes, der Maſſen gegen wiedererwachenden Klaſſenegoismus, Klaſſen⸗ ſtolz: „Denkt an damals, da ihr uns die Hand drücktet und wir Kameraden waren.“

Wenn aber der Krieg ſchon durch einen, in jeder Staats⸗ einheit ablaufenden Vorgang die Geſamtfülle der Liebe auf Erden bedeutend ſteigert wie immer er auch die allgemeine Wohlfahrt ſchädigt ſo gewinnt er für den moraliſchen Geſamtſtatus keine geringere Bedeutung dadurch, daß er in ganz großem Stile die furchtbaren Spannungen von Haß, Neid, Arger, Rache, Zorn und Ekelgefühle, die der Frie⸗ denszuſtand zur Verdrängung in die tieferen Schichten der Seele führt, gleichſam mit einem Male auswirft und ſo erſt die Vorbedingung echterer gegenſeitiger Achtung und Zu⸗ neigung unter den Völkern wiederherſtellt. So iſt er eine Pſychotherapeutik der Völker im großen, wie ſehr er auch gerade die Geiſteskrankheiten einzelner ſteigert.! Mit Recht hat man daher zu allen Zeiten den Krieg mit dem luft⸗ reinigenden elementaren Maturphänomen des „Gewitters“ ver⸗ glichen. In der Tat, der Krieg iſt das Gewitter der moraliſchen Welt. Ich kenne viele, und ich leugne nicht, daß ich ſelbſt zu ihnen gehöre, die mit Entſetzen und Grauen den furcht⸗ baren Ausbruch des Haſſes, des Neides, der Verärgerung wahrnahmen, dazu die darauf ſich erſt als Wirkungen auf⸗ bauenden Illuſtonen's und Mißverſtändniſſe, die („Barbar“, „Ulau“, „Attila“, „toller Hund“ uſw.) gleich nach dem Be⸗ ginn des Krieges allem deutſchen Weſen auch aus vielen neu⸗ tralen Staaten entgegenſchlugen. Von dieſem Phänomen

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waren wir alle, waren auch folche, die wußten, wie viele Nei⸗ der wir hatten und die die billigen Manöver von Vortäu⸗ ſchungen einer „Entſpannung“ z. B. zwiſchen Deutſchland und England längſt durchſchaut hatten, doch auf das äußerſte überraſcht. Wie war doch das ganze Heer dieſer gelben und biſſigen Gefühle unter den Masken des Geſchäftsintereſſes und geſchmeidiger Geſchäftsmoral gegen uns als den „Kunden“ und unter den ein wenig feineren des Wohlanſtandes und internationaler Kourtoiſie verſteckt, aber nicht etwa weniger, ſondern ſtärker wirkſam geweſen! Denn ſtärker wirkt auf das Ganze der Seele der durch Anſtand, Manier uſw. ver⸗ drängte als der ausgedrückte Affekt. Und doch tröſtet mich heute tief der Gedanke, daß das rabiate Ausbrechen dieſes Haſſes in formuliertes Mißoverſtändnis, in Maſſenilluſtonen und Schimpf die ganz fundamentale Bedingung dafür iſt, daß fürderhin deutſches Weſen im Auslande ein tieferes, wahreres Verſtändnis und echtere Würdigung finde. Denn nicht der Krieg oder unſere Kriegführung hat ja dieſe lieblichen Gefühle und Affekte erſt geſchaffen; der Krieg löſt ſie nur und bringt ſie zum Ausdruck; er leitet ſie nur ab und entlaſtet die Völker von ihnen. Unſer wahres Verhalten in dieſem Kriege, das ſich mit der Zeit gegen alle Lügen durchſetzen wird, unſer weiteres Verhalten beim Friedensſchluß, das beſonders gegen Frankreich das der Großmut und der Ritter⸗ lichkeit ſein wird, werden dann auf die ſo erſt gereinigten Volksſeelen ein echteres und wahreres Bild deutſchen Weſens ſich einprägen laſſen, als es vor dem Kriege beſtand.

Aber ſehen wir von dieſer Ableitung des Haſſes ab; ſo wird man, was Weſen und Urſachen des Krieges betrifft, noch er-

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heblich weiter gehen müſſen. Man wird zur Einſicht kommen müſſen, daß es neben und unabhängig von allen „hiſtoriſch“ ſo unendlich variablen Urſachen zum Kriege, neben allen Inter⸗ eſſen⸗ und Machtkonflikten, Beleidigungen uſw., die zu Kriegen führen, noch eine konſtant wirkſame Urſache zur rhythmi⸗

ſchen Abwechſlung von Frieden und Kriegszuſtand gibt, die

auch bei Fehlen aller jener hiſtoriſch variablen Kauſalfaktoren

noch in Wirkſamkeit bliebe, und die zum mindeſten rhythmiſch

abwechſelnde Kriegs- und Friedensneigungen erzeugte. Dieſe gleichſam organiſch wirkſame Miturſache zum Kriege iſt ſo paradox es klingen mag nichts anderes als der „Friede“ ſelbſt. Wenn nichts anderes den Krieg erzeugen würde der „Friede“ ganz allein würde ihn immer aufs neue hervor⸗

treiben! Schon F. Doſtojewski, dieſer unvergleichliche Seelen⸗

analytiker, macht in feinem Aufſatz: „Rettet denn ver⸗ goſſenes Blut?“ (f. Politiſche Schriften) die Bemerkung: „Und als Reſultat erſt erweiſt es ſich, daß der bourgeoiſe lange Friede zu guter Letzt ſelbſt das Bedürfnis nach Krieg erzeugt, ihn wie eine traurige Folge von ſich ſelbſt aus ſich heraus ſchafft.“ Ein allwiſſendes Weſen, das die Phaſen der Geſchichte mit einem Blick zu umfaſſen vermöchte, könnte ſicher eine Regel des Rhythmus in der Abwechſlung von Krieg und Frieden auf Erden gewahren, die ihm nicht ver⸗ wunderlicher wäre als der Rhythmus des Ein⸗ und Aus⸗ atmens, eine Regel, die erſt ſuperponiert mit allen anderen kon⸗ kreten Geſchichtsurſachen und terminbeſtimmenden Anläffen der Kriege ihm die volle und letzte Einſicht über die Kauſalität von Krieg und Frieden gewährte. Denn ſo iſt einmal die menſch⸗ liche Matur eingerichtet, daß die bloße Form des „Friedens⸗

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zuſtandes“ als ſolche ganz abgeſehen von dem wechfelnden Inhalt des Friedens und den variablen Volkscharakteren und ihren Geſchicken konſtitutive Gefahren, ja konſtitutive Kraftfaktoren ſittlicher und intellektueller Schädigungen der Seele und der alle, Kultur und Ethos tragender Vi⸗ talität der Gemeinſchaften in ſich ſchließt, die nur der Krieg und nichts anderes als der Krieg heilen und ab- ſtellen kann. Eine dieſer konſtitutiven Schädigungen iſt eben jene ſeelenzerwühlende Verdrängung der Gemütsbe⸗ wegungen und Affekte des Neides, des Haſſes, des Argers, des Zornes, der Rache, der Eiferſucht, welche die feſten ſach⸗ haften Zwangsordnungen der Friedensarbeit zuſammen mit dem konſtitutiven Phariſäismus aller Friedensmoral mit ſich führen. Es gibt einen Punkt, wo die Kumulation dieſer gelben Gefühle in den Seelen der Maſſen einen Grad er⸗ reicht, bei dem nur noch das „Ausbrechen“ des ſchon kryp⸗ togam vorhandenen Krieges wie die Sprache ſo tiefſinnig ſagt die Erlöſung und den tieferen Frieden der Seele gibt. Darum iſt auch, ganz unabhängig von politiſcher Vor⸗ ausberechnung und Kenntnis der diplomatiſchen Verwick⸗ lungen bei ganz apolitiſchen Menſchen (Bauern, Kauf: leuten, Künſtlern, Forſchern) meiſt ein in ſich wenig klares, aber doch ſehr beſtimmtes Vorgefühl für den nahenden Krieg vorhanden; vergleichbar dem Vorgefühl, das der erfahrene Seemann für den Sturm hat, ohne daß er doch die Zeichen angeben kann, auf die er ſein Urteil ſtützt, oder gewiſſer Leute für das Wetter. Ich habe eine ganze Reihe völlig apolitiſcher Kaufleute zirka zwei Monate vor dem Krieg geſprochen, die, ob ſie gleich kein Intereſſe am Krieg hatten,

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ſagten: Wir Kaufleute hier (in Halle a. S.) können den Zuſtand nicht mehr ertragen, und wünſchen, daß der Krieg endlich ausbräche. Die Gründe, die ſie angaben, waren dabei ganz verſchieden. Die einen fanden die Kreditverhältniffe unerträglich; andere klagten über ganz andere Dinge. Die Gründe waren alſo zu dem Vorgefühl wohl nur hinzuge⸗ macht! Und wer hätte nicht auch in den Tönen unſerer jüngſten Dichtung“ und in unſerer bildenden Kunſt bis hinein in futuriſtiſche Auswüchſe gar mancherlei vom kom⸗ menden Kriege läuten hören und blinken ſehen? Selbſt die Reichſten begannen Ekel an ihrem Reichtum und ihrem allzu großen Kuchen zu empfinden. Überall war Überſättigung an den immer korrupteren Vergnügungen des Friedens, an Hyperkompliziertheit und Greiſenhaftigkeit der Genüſſe des ausgelebten europäiſchen Kapitalismus eingetreten, überall fand man ſich, was auch nur den primitivſten Reiz des Lebens betrifft, an der Grenze; und nicht nur bei uns in Deutſchland, ſondern in allen kriegführenden Staaten war der Geiſt einer „neuen Jugend“ an der Arbeit, den allzu⸗ langen Friedensgeiſt Europas zu beſtatten. Was man in Frankreich „l’esprit nouveau“ in Literatur, Dichtung, Philo⸗ ſophie nannte,” was man bei uns als „Geiſt der neuen Jugend“ bezeichnete und ſo mannigfaltig beſchrieb, es hatte vice versa auch ſeine nachweisbare Analogie in Oxford und Cambridge, ja ſogar in Petersburg und Moskau. Man vergeſſe bei Erforſchung der Urſachen zu dieſem Kriege ja nicht, daß er vor allem auch der Krieg einer neuen Gene⸗ ration iſt der Krieg der Jugend Europas! Denn eben nach der Ordnung der Generationenaufeinanderfolgen wirken

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naturgemäß in jene „organiſchen“ Urſachen, von denen ich hier rede.

Wer gegen dieſe liebesſteigernde und haßabreagierende Kraft des Krieges einwendet, daß doch anderer ſeits der Krieg ſchon dadurch, daß immer ein Teil unterliegen müſſe, auf Jahrzehnte, oft Jahrhunderte hinaus neuen Haß erzeuge, der hat nur für den Fall Recht, daß es ſich entweder um einen ungerechten Krieg, oder um ungerechten und politiſch törichten Friedensſchluß, oder um verbrecheriſche Kriegsführung, oder endlich um ganz unkriegeriſche Völker handelt, die das Weſen des Krieges nicht begreifen können. Hat der unter den furcht⸗ barſten Opfern verlaufende und ſo kurz erſt verfloſſene ruſſiſch⸗ japaniſche Krieg es ausgeſchloſſen, daß Ruſſen und Japaner ſich alsbald wieder ſehr wohl verſtanden, jetzt aber gegen uns zuſammengehen ? Hat das blutige Ringen der Buren mit England es ausgeſchloſſen, daß jetzt General Botha England ſeine Loyalität verſichert? Im „gerechten Krieg“ aber führt auch die blutigſte Niederlage nicht zum dauern⸗ den Haſſe, ſondern allein zur geiftig-fittlichen Einkehr des beſiegten Volkes, ſowie zur Einſicht in die, durch den Krieg aufgedeckten Fehler und Mängel ſeiner ſtaatlichen und ſittlichen Exiſtenz. So waren die Niederlage der deutſchen Heere bei Jena und der Zuſammenbruch des preußiſchen Staates „gerecht“ von Grund aus und ſie erſt konnte die großen Stein⸗Hardenbergſchen Reformen, den großen Geiſt des Befreiungskrieges zeitigen. Das ſchmerzende Schwert des überlegenen Feindes wird eben in einem gerechten Kriege nof- wendig immer auch als heilendes Richtſchwert empfunden. Und das allein ſchon ſchließt dauernden „Haß“ des Gegners

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aus, der dies Richtſchwert führt. Andererſeits muß der ge: rechte Krieg ſo geführt werden, daß er die Möglichkeit des Beſtandes desjenigen Vertrauens nicht untergräbt, das zu einem künftigen Friedensſchluß und dem Glauben an die Feſt⸗ haltung ſeiner Bedingungen notwendig iſt. Mit Recht for⸗ dert daher J. Kant in ſeinem ſechſten Präliminarartikel: „Es ſoll ſich kein Staat mit einem anderen im Kriege ſolche Feind⸗ ſeligkeiten erlauben, welche das wechſelſeitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müſſen; als da ſind An⸗ ſtellung der Meuchelmörder, Giftmiſcher, Brechung der Ka⸗ pitulation, Anſtiftung des Verrats im bekriegten Staat uſw.“ Aber auch die Friedensbedingungen ſelbſt müſſen ſo gehalten fein, daß fie die mögliche Bündnisfähigkeit des befiegten Staates bei etwa eintretender Gemeinſchaft der Intereſſen mit dem ſiegenden Staate nicht ausſchließen. Dazu iſt vor allem nötig, möglichſte Schonung der Ehre des fremden Staates und ſeiner Repräſentanten; freie ritterliche An⸗ erkennung der in ſeinem Kampfe aufgewandten Energie und der Tapferkeit ſeiner Armee; endlich Unterlaſſung von ſolchen territorialen Erwerbungen, die der ſiegende Staat nach Maß⸗ gabe der Volkscharaktere und feiner moraliſchen Affimilations- kraft nicht dauernd zu verwalten und ſich zu aſſimilieren die Kraft in ſich fühlt.” Andererſeits iſt die radikale Fortführung eines Krieges bis zur möglichſt vollſtändigen Klärung der Machtoerhältniſſe gerade eine fundamentale Bedingung da⸗ für, daß nachdauernder Haß vermieden werde. Ein zu früher Friedensſchluß, ein zu frühes Zurückweichen vor den, dem Kriege natürlich abholden, ſich meiſt unter dem Banner der „Humanität“ heuchleriſch verbergenden Intereſſen des inter⸗

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nationalen Börſenkapitals, zurückbleibende Unklarheit, ob nicht etwa bloße Zufälle die Entſcheidung herbeigeführt haben, ſind für die, dem Kriege folgenden Zeiten von größtem Übel. Die dauernden Haß erzeugende Kraft, die man dem Kriege fälfch- lich nachſagt, fällt aber zum größten Teile nur einer falſchen, unritterlichen Kriegsführung zur Laſt. Es iſt ein Zug tiefer Vornehmheit der Menſchennatur, der darin in die Erſchei⸗ nung tritt, daß auch die ſchwerſten, opferreichſten Nieder⸗ lagen, die von regulären Truppen in offener Feldſchlacht bei⸗ gebracht worden ſind, nicht den tauſendſten Teil ſo erbitternd wirken, wie der Schuß eines einzigen Franktireurs aus dem Hinterhalt oder eine andere der von Kant angeführten ver⸗ brecheriſchen Maßnahmen. Eben darin zeigt auch der ge⸗ meine Mann, wie wenig er nach den Regeln der Wohl⸗ fahrtsmoral fühlt und denkt. Oder: hätte der Kaiſer von Oſterreich dem gefangenen ſerbiſchen Oberſtkommandierenden nicht ritterlich freien Abzug gewährt, hätte er die Gunſt des Zufalls benutzt und ihn während des Krieges gefangen gehalten dieſe eine Handlung hätte mehr Haß und Erbitterung erregt, als eine Anzahl ſchwerer ſerbiſcher Niederlagen. Wäre der Krieg an ſich ungerecht, griffe er die Struktur unſeres moraliſchen Bewußtſeins auf löſend an wie könnte fich dieſes feine, haarſcharfe Unterſcheidungsbewußtſein für „ge⸗ recht! und „ungerecht“, für ritterlichen Tod und Tod als Verbrechensfolge auch im Kriege erhalten? Warum gerade dieſer Krieg in dieſer Richtung ſo viel zu klagen gibt, darauf komme ich gegen Schluß zurück.

Abgeſehen von der Kriegsführung gibt es nur eine Emo⸗ tion, die der Krieg im Beſiegten hervorrufen kann: das iſt

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der Rachegedanke und das Rachegefühl nicht zu ver⸗ wechſeln mit der Idee der „Revanche“. Nun iſt zu aller erſt die Racheemotion“ in keiner ihrer exiſtierenden Formen mit „Haß“ identiſch. Sie kann auch in intenſtoſter Form ohne dieſe exiſtenzentmächtigende Gefühls⸗ und Willensvernei⸗ nung des Gegners beſtehen, die wir „Haß“ nennen. Das zeigt ja ſchon die Tatſache, daß das Rachegefühl mit der voll: zogenen Rache erliſcht, während beim echten Haſſe eine regel⸗ mäßige Form fehlt, durch die er zur Erlöſchung gebracht wird. Haß iſt auf das dauernde Weſen und die Weſens⸗ eigenſchaften des Gegners gerichtet: Rache iſt die emotionale Reaktion gegen eine Handlung oder Handlungsreihe nicht gegen das Weſen des Gegners. Der Haß führt ſehr leicht zur „Rachſucht“ gegen das gehaßte Subjekt, d. h. dazu, in jeder Außerung des Gegners einen Rachegrund zu wittern, oder in alle auch harmloſe Äußerungen eine feindliche Spitze hineinzulegen. Die Racheemotion aber kann nicht umgekehrt zum Haſſe führen, wenn nicht noch andere, in den Charakteren liegende Momente der Abſtoßung hinzukommen, auf die die Racheemotion höchſtens aufmerkſam macht oder ſie heller als vorher beleuchtet. Trotz dieſer Weſensverſchiedenheit von Haß und Racheemotion, kann auch die heimlich, in der Seele fort⸗ glimmende Racheemotion zu lange dauernder Untergrabung der Kulturgemeinſchaft zwiſchen Völkern führen und immer neue Ketten feindſeliger Handlungen hervorbringen. Doch auch zwiſchen der eigentlichen Racheemotion und dem, was wir nicht umſonſt mit dem franzöſiſchen Ausdruck „Revanche“ zu belegen pflegen, iſt ein tiefgreifender Unter⸗ ſchied. Das Wort „Revanche“ bezeichnet nicht nur als deut⸗

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ſches Fremdwort, ſondern auch als rein franzöſiſches Wort ein weit weniger ſcharfes und biſſiges Gefühl, als es die echte RNacheemotion darſtellt. Es iſt kein Zufall, daß wir ſogar im Spiele von „Revanchenehmen“ und „Revanchegeben“ reden, oder in heiterer ſpieleriſcher Rede von einem „Sich⸗ revanchieren“ (3. B. für einen luſtigen Spott) ſprechen. In dieſen Fällen kann man das Wort nie durch „Rache“ er⸗ ſetzen. Wird das Wort auf ſo ernſte, vom Spiele weitab⸗ liegende Dinge gebraucht, wie auf das franzöſiſche Volks⸗ gefühl gegen uns nach dem ſiebziger Kriege, ſo liegt zwar alles leicht Spieleriſche fern; aber dennoch bleibt, was es be⸗ zeichnet, von eigentlicher Racheemotion verſchieden. Die fran⸗ zöſiſche Sprache hat denn auch für Rache ein eigenes Wort, das Wort vengeance, das unſerer „Rache“ genau entſpricht. „Vengeance“ bezeichnet ein ganz ſubjektives, dunkles, bitteres Gefühl „Revanche“ iſt objektiver, freier, weniger bitter und gewinnt ſeinen vollen Sinn erſt durch ſeine noch fühlbare Kontinuität mit dem ritterlichen Kriegsſpiel des Turniers, deſſen beſondere Emotionen ſich bei den Galliern ſtets bis zu einem gewiſſen Grade bis in den wirklichen Krieg fortgeſetzt haben.“ Die Revancheidee iſt auch hiſtoriſch weit weniger durch den Verluſt von Elſaß⸗Lothringen und durch die Höhe der Kriegskontribution im Jahre 1871, noch viel weniger durch die eigentlichen menſchlichen Kriegsopfer und das Nach⸗ gefühl dieſer Opfer bei Eltern, Kindern, Verwandten, Freun⸗ den ausgelöſt worden hier wäre „Rache“ vielmehr am Platz als durch den Flecken, den durch unſern Sieg das hell: ſtrahlende Banner der ruhmgekrönten und (mit Ausnahme von 1813) ruhmgewohnten „gloire“ -durftigen franzöſiſchen

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Armee erhielt. Das franzöfifche alte Mationallaſter der Eitel⸗ keit, das in Frankreich ſo leicht wie nirgends in der Welt mit Ehrgefühl verwechſelt wird, und der ganz eigenartige, einſt ſo großartige und helle galliſche „Gloiregedanke“ ſind die Wur⸗ zeln der Revancheidee. Trotz der Tatſache des gegenwärtigen Krieges und des frankoruſſiſchen Bündniſſes, das zu ihm führte, muß heute noch geſagt werden, daß dieſes Revanche⸗ gelüſte kein urſprüngliches franzöſiſches Volksgefühl iſt; es war urſprünglich lediglich ein Gefühl der geſchlagenen Ar⸗ mee und ihrer Führer und nur durch die Sympathie mit der Armee hindurch, aber nicht urſprünglich aus der Tiefe des Volkstums hervorſchießend, fand es ſeine Verbreitung; durch Männer der Armee, zuerſt durch Gambetta, in dem ſich Armee und Volk verband, auch ſeine immer wieder neue Anfachung. Es gehört wie mir ſcheint zu jenen tiefen, ſchwer zu beſeitigenden Mißverſtändniſſen, die im Gegenſatz der Volkscharaktere wurzeln, daß wir in die franzöfifche Re⸗ vancheidee, auch in ihre erſten Entwickelungsphaſen, immer Momente deutſchen Ernſtes und deutſcher Schwere hinein⸗ dichteten, die ſie anfangs nicht beſaß. Sie iſt zuerſt ganz ritterlicher Gloiredurſt, dann ſpäter aber viel mehr flackerndes Strohfeuer geweſen als eine große, tiefe, ſtill wirkſame Volks⸗ kraft. Beriefe man ſich alſo auf die franzöſiſche Revanche: idee, um zu beweiſen, daß der Krieg zum mindeſten immer erbittertes Rachegefühl im Unterlegenen und damit eine Wurzel zu neuen Kriegen zurücklaſſen müßte, ſo würde man nicht nur etwas ganz ſpezifiſch Galliſches zu Unrecht genera⸗ liſieren, ſondern man würde auch die Wirkkraft der primären Form der Revancheidee in der Vorgeſchichte dieſes Krieges

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ganz bedeutend überſchätzen. Wir waren zu verſchiedenen Malen einem deutſch⸗franzöſiſchen Bündnis näher als man allgemein weiß und am Marokkokonflikt z. B. hatte die Rebancheidee kaum einen Anteil. Selbſt dieſer ſeltene und ausgezeichnete Fall beweiſt mit nichten, daß Kriege dauernden „Haß“ erzeugen müſſen; nichts auch gegen die einigende Kraft des Krieges.

Hier alfo liegt der Kern der großen ethiſchen Paradorie des Krieges: Im Namen einer „allgemeinen Menſchenliebe“, im Namen der „Humanität“ werden die großen, weitſchichti⸗ gen Anklagen der Modernen und Liberalen gegen den Krieg gerichtet. Aber gebraucht oder mißbraucht man den edlen Namen der „Liebe“ nicht für ſolche kluge Verzahnung der Pri⸗ vatintereſſen, daß die Förderung jedes ihrer Teile die anderen Teile mitfördert, alſo für eben das, was die edelſte Kraft im Menſchen, das Göttliche in ihm, was Liebe, Opfer, Pflicht, ja am Ende Geiſt überhaupt fo lange ökonomiſch „ſpart“, bis aller Geiſt überflüſſig wird;? und mißbraucht man den Namen „Menſch“ nicht für das, was, weil es allen Menſchentieren gemeinſam ſein kann, dem „Menſchen“ eben auch mit dem Tiere gemeinſam iſt z. B. ſinnliche Luſt⸗ und Schmerz⸗ fähigkeit, ſieht man ein, daß wahrhaft „menſchlich“ in dem aufrecht gehenden Zweifüßler nur das in ihm Gottähnliche iſt, und daß es eben zu dieſer Idee des „Menſchen“, wie zu aller höchſten Werte, Religion, Kunſt, Philoſophie, Sittlichkeit, Staat, Recht, Weſen gehört, daß ſie ſich nur in einer Fülle charakteriſtiſch verſchiedener Volks⸗ und Nationaleinheiten darſtelle; und daß umgekehrt alle Werte zu „allgemeinmenſch⸗ lichen“ oder allen Menſchen gemeinſamen machen zu wollen

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ſchon das Weſen diefer, von Hauſe aus individuellperſönlichen höchſten Werte leugnen, gerade für ſie erblinden und alle Werte auf die niederſten der Sinnenluſt und des Schmerzes reduzieren und nivellieren heißt: ſo gibt es den Höhepunkt der echten „Menſchenliebe“ und der „Humanität“, in deren Namen man den Krieg verwirft, wenigſtens als Maſſen⸗ erſcheinung nicht vor dem Krieg, nicht nach dem Krieg, ſondern gerade nur im Kriege ſelbſt. |

Gibt es darum im Laufe der Geſchichte eine wahrhaft dauernde Erhöhung des moraliſchen Status und eine Stei⸗ gerung der Innigkeit und Tiefe in der Einigung der Menſch⸗ heit, ſo ſind nicht der Weltfriede, ſondern der Krieg und die kumulierten, aus ſeinen Traditionen und tiefen Erinnerungen fließenden moraliſchen Dauereffekte in der menſchlichen Seele die konſtruktive Auslöſekraft für dieſe Erhöhung und Einigung. Nicht das Abſterben des kriegeriſchen Geiſtes, der als Geiſt des wachſenden Lebens ſtets zugleich Auslöſung einer über alle „Intereſſen“ hinausreichenden Liebe, Großmut, Opferkraft iſt, und das Auf hören des Krieges, ſondern die Tatſache, daß immer umfaſſendere und immer inniger und tiefer ſelbſt früher einmal durch den Krieg in ſich geeinte Gruppenein⸗ heiten zu kriegführenden Mächten werden; daß der Krieg die gemüterſcheidenden und gemeinſchaftszerſetzenden Kräfte, die in bloßer Friedensziviliſation und ⸗geſellſchaft wirkſam ſind, immer umfaſſender und in immer größeren Gruppen kontrebalanziert, kann als Vehikel des ſittlichen Fort⸗ ſchritts angeſehen werden. Dies aber iſt nicht der Fortſchritt über den Krieg hinaus zu einem ſogenannten Weltfrieden, ſondern der Fortſchritt des Krieges ſelbſt (die immer reinere

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Ausprägung feines Weſens und feine Vergeiſtigung) und der ſittliche Fortſchritt gerade durch die gemeinſchaftsbildneriſche Kraft des Krieges. Die poſitiviſtiſchen Philoſophien und Pazifi⸗ ziſten vergeſſen immer, daß die gegenwärtigen, großen geiſtig und territorial geeinten Gruppeneinheiten, auf deren Tatſäch⸗ lichkeit ſie ihre Ideen von Vertrag und Schiedsgericht ſtützen, in unſerer gegenwärtigen univerſalhiſtoriſchen Entwicklungs⸗ periode die großen „Nationen“, zum größten Teile und der Hauptſache nach ſelbſt das Werk und Reſiduum von Kriegen ſind; daß ſie durch Kriege zuſammengeſchweißt wurden und die gemeinſame Kriegserinnerung eben den Kern ihrer Schick⸗ ſalsgemeinſchaft ausmacht, die gemeinſamen Bilder ihrer Helden aber die ſtärkſte Kraft ihres Zuſammenhalts und ihrer Einheit darſtellen. Dieſe Kraft bildet ein Band, das ſelbſt gemeinſame Raſſezugehörigkeit, Sprache, geiſtige Kultur an Stärke weit übertrifft. Wie großartig ſehen wir dies eben jetzt in Oſterreich. Wohl ſchaffen die Mächte der Friedensarbeit ihrerſeits gleichfalls eine große Fülle menſch⸗ licher Einheitsbildungen. Aber ſehen wir von Ehe und Fa⸗ milie in ihrer engen Begrenztheit, von der Kraft des Eros, von rein perſönlichen Geſinnungsbeziehungen und frommen, durch heilige Liebe geeinten Sekten ab, ſo ſind dieſe Einheiten immer nur partikulare, eventuell durch Recht und Vertrag geordnete Zweck⸗ und Intereſſengeſellſchaften, nicht aber durch irgendeine Art der Liebe zuſammengefaßte Lebensgemeinſchaften, deren Kräfte von innen und wie durch einen Stoß von rückwärts, nicht durch den Zug des Zweckes wirkend, das ganze konkrete Leben der Glieder um⸗ faſſen und durchfluten. Sie ſind, ſo umfaſſend ſie ſein mögen,

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wie etwa die großen internationalen Einheiten des Verkehrs⸗ weſens und gleichgültig, ob ſie materiellen oder geiſtigen Zwecken dienen und wie vollkommen „organiſtert“ fie ſich darſtellen, doch alleſamt auf das Prinzip des Egoismus und der bloßen Inter⸗ eſſenſolidarität, im höchſten Falle theoretiſcher Arbeitsgemein⸗ ſchaft gegründet, nicht auf das der tiefen Geſinnungs⸗ und Willensſolidarität. Eben darum könnten dieſe Verbindungs⸗ arten ſelbſt eine, in ihrer Linie unendliche Vollkommenheit er⸗ reicht haben nicht nur ſo, daß der Zuſtand der menſchlichen Geſellſchaft der Idealformel Kants entſpräche, daß „Jedes Zweck mit jedes Anderem Zweck in einem einigen Reiche widerſpruchslos zuſammenbeſtehen könnte“, ſondern ſelbſt po⸗ fitio fo, daß „Jedes Zweck den Zweck jedes Anderen in feiner Erreichung auch unmittelbar objektiv fördere“ jene ganz weſensverſchiedene Einheit einer immer umfaſſenderen Lebens⸗ gemeinſchaft der Menſchen würde auch in dieſem idealen Zuſtande, den die Mächte der Friedensziviliſation wie einen unendlich fernen Punkt aſymplotiſch anſtreben, nicht um ein Minimum gefördert, geſchweige erreicht werden. Freilich: Auch der ganz weſensverſchiedene hiſtoriſche Prozeß, in dem durch die einheitsbildende Macht des Krieges die Menſchheit immer tiefer und inniger (gleichzeitig aber extenſiv umfaſſender geeinigt wird), hat einen idealen Richtpunkt, der als „regulative Idee“ bezeichnet werden kann: Aber dieſer Richtpunkt wieſe nicht wie für die konſequenten poſitiviſtiſchen Vertreter eines dau⸗ ernden Weltfriedens auf den Weg einer ſteigenden Auflöſung der Völker in Nationen, der Nationen aber in eine nur mehr durch Intereſſen verträge in ſich äußerlich geeinten ſogenannten Menſchheit, ſondern im Gegenteil daraufhin, daß die Grup⸗

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pen, die ſich heute nur als Nationen darſtellen, das heißt als weſentlich durch die gebildete Minorität getragene geiſtige Kulturperſönlichkeiten ſich zu noch höheren Lebensverbänden! zuſammenſchlöſſen, gleichzeitig aber ſelber jene noch innigere Einheit und Einigkeit unter ihren Gliedern annähmen, die jetzt das „Volkstum“ charakteriſiert; die Menſchheit aber ſelbſt allmählich ſo jene Tiefe der Willens⸗ und Geiſtesgemeinſchaft erreichte, die gegenwärtig den Kulturkreis, Mation und Volk charakteriſiert. Auch nach dieſer „regulativen Idee“ kann der Krieg nur dem univerſalhiſtoriſchen Endziel dienen, den Krieg überflüſſig zu machen. Und doch hätte es keine Spur von Sinn, die Idee dieſes ewig anzuſtrebenden „Endzuſtandes“ denn nur als regulative Idee, nicht als Utopie dürfte er gelten als „allgemeinen oder ewigen Weltfrieden“ zu bezeichnen; es hätte dies ſo wenig Sinn als zu ſagen, die Teile eines heutigen Volkes oder einer heutigen Nation befänden ſich untereinander im Zu⸗ ſtande des „Friedens“. Der „Friede“ iſt eben nur die rein negafive Korrelatividee des Krieges und fest als Sein und Begriff, Sein und Begriff des Krieges als pofitiver Weltein⸗ richtung voraus! Mit dem Überflüffigwerden dieſer Weltein⸗ richtung gäbe es auch keinen ſolchen negativen „Frieden“ mehr, ſondern nur mehr die poſitive Idee einer umfaſſenden Liebes⸗ gemeinſchaft aller Geiſt⸗ und Vernunftweſen, d. h. eine Idee, die das polare Gegenteil des poſttiviſtiſchen Ideals einer bloß durch Intereſſenſolidarität und Verträge geeinten Menſchen⸗ maſſe ift!

Dieſe Idee hat ſtets den Kernbeſtandteil der chriſtlichen Idee eines einzigen allumfaſſenden, katholiſchen Liebes⸗ und Gottesreiches gebildet. In dem Kriege, in dem wir uns

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befinden, beſtätigt ſich dieſe höchſte und edelſte Dienſtſchaft des Genius des Krieges an die heilige Liebesgemeinſchaft aller Perſonen, indem er auf der feſten Grundlage einer viel tieferen Gemeinſchaft der europäiſchen Zentralmächte, Deutſchlands und des öſterreichiſchen Kaiſerſtaates, eine Solidarität der euro⸗ päiſchen Weſtmächte gegen Aſien als die nächſte Vorſtufe zu dem überſchwänglichen Ziele vorbereiten wird, von deren pofi= tiven geſchichtlichen Ausſichten hier nicht die Rede fein ſoll.

Zur Metaphyſik des Krieges

Realitäten der finnlichen und intelligiblen Welt zu allen

Zeiten und in allen individuellen und ſozialen Geſamt⸗ lagen des Gemütes und des Geiſtes in ganz gleichmäßiger Weiſe erleben und erkennen könnte. Faktiſch gilt dieſer Satz nur und ausſchließlich für den Betrieb und die Methode der⸗ jenigen Wiſſenſchaften, die es mehr mit einem Ordnen der Gegenſtände zwecks ihrer Lenkung und techniſchen Beherrſch⸗ barmachung, als mit adäquater Erkenntnis ihres Weſens zu tun haben, welch letztere Erkenntnis allein die evident erlebte Berührung mit der Sache ſelbſt und ihrer Fülle gibt. Außer⸗ dem gilt dieſe Annahme nur für Erkenntnis von ſolchen Gegen⸗ ſtänden, die auf die Organiſation einer gleichförmigen „menſch⸗ lichen Natur“ oder doch des Lebens in ihr überhaupt daſeinsrelativ find; gleichzeitig aber auch erkenntnisrelativ auf eine, durch Konvention „allgemeingültige“ Gruppe von ſym⸗ boliſchen Zeichen und deren Verknüpfungen; nicht aber gilt ſie für die Erkenntnis der, ihrem Daſein nach abſoluten und aſymboliſchen Gegenſtandswirklichkeiten, mit denen es die Philoſophie oder die Weſenserkenntnis zu tun hat. Für die Erkenntnis der abſoluten Dinge aber gibt es überall eigen⸗ tümliche, bevorzugte Haltungen des Gemütes und Geiſtes,

E iſt ein großes Vorurteil, daß man die vorhandenen

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gewiſſe Geſamtſituationen und Lebensarten, die nicht ohne einen ſittlich⸗geiſtigen Aufſchwung, unter Umſtänden durch dauernde Übung einer Lebensart, der ganzen Menſchen⸗ perſon in eine höhere Daſeinsordnung, zum „Weſenhaften“, wie Platon ſchon die wahre Aufgabe des Philoſophen definiert in das erlebbare Selbſtdaſein treten können. An Stelle des unſere Sinne unterſtützenden Inſtrumentes und der logiſchen Schlußfolgerungen, die uns in den poſttiven Wiſſen⸗ ſchaften über die Schranken unſeres natürlichen Weltbildes weit hinausführen, z. B. zur Feſtſtellung von Strahlen, für die uns Sinne fehlen tritt hier als erkenntnisbedingendes und erkenntnisdisponierendes Mittel eine innere Tat des Zen⸗ trums unſerer Perſon ſelbſt, eine Tat, die immer auch eine ſittliche Tat iſt, ein machtvolles „Heraus“ aus unſeren ſonſtigen allzumenſchlichen, vitalen und leiblichen Bedingt⸗ heiten. Und erſt an die in dieſer Tat vermittelte Anſchauungs⸗ reinheit ſchließt ſich dann das volle Erleben von Realitäten an, für die wir ohne jene Tat blind waren, blind ſein mußten.“ Wer natürlich der Realität der Dinge zuerſt die lächerliche Bedingung auferlegt, ſie müſſe ſich von „Jedem“, in „jeder“ Lage des Gemütes und auf jedem Nivean des ſitt⸗ lichen Höhenganges eines Lebens gleichmäßig zur Erkenntnis geben und bringen laſſen es gäbe alſo für gewiſſe Teile und Arten der Realität nicht auch ganz ſpezifiſche Bedin⸗ gungen einer Gemüts⸗ und Geiſteshaltung, um mit ihnen im Erleben in eine mögliche Berührung zu treten, ja es „könne“ gar keine ſolche geben: der muß freilich das in ſolchen inneren Lagen Erlebte und Erſchaute „a priori“ für eitel „Phantaſie“, „Einbildung“, „Traum“ halten. Aber

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was kümmert ſich die Realität ſelbſt um Erkenntnisbedin⸗ gungen, die ihr die Gelehrten auferlegen wollen? Welch lächerliche Illuſton, die Dinge hätten die Verpflichtung auf ſich genommen, ſich ohne ſolchen Geſamtaufſchwung der Seele und des Geiſtes jederzeit jedem in jeder Lage zu er⸗ kennen zu geben! Gerade wenn es abſolute Realität gibt, und wir uns nicht damit erſchöpfen müſſen, bloß Gegenſtände, die eine ſpezifiſch menſchliche Erfahrungsart und ⸗form ſchon gebunden hat und die ſo zur bloßen „Erſcheinung“ geworden ſind, eindeutig zu ordnen, ſo iſt eben dieſer Fall der un⸗ wahrſcheinlichſte von allen möglichen Fällen.

Eine ſolche erkenntnisdisponierende Bedeutung für abſolute Wirklichkeiten eignet aber dem Kriege, eignet dem eigentüm⸗ lichen Aufſchwung des Geiſtes, den der Krieg hervorruft, in ganz beſonderem Maße.

1. Die Realität der Nation

Eine erſte Erkenntnis, die der Krieg möglich macht, und die an die Form der „Kriegserfahrung“ in ihrer vollen Fülle geradezu gebunden iſt, iſt die Erkenntnis der Realität der Nation als geiſtige Geſamtperſon.

Im Kriege erſt werden ſich jene großen machtvollen geiſti⸗ gen Kollektivperſönlichkeiten, die wir „Nationen“ nennen, ihrer Exiſtenz und ihres Weſens voll bewußt. Und es ſind dieſelben geiſtig⸗ſoziologiſchen Prozeſſe, auf denen das Dahin⸗ ſchmelzen der kleinen Egoitäten in den Strom der Kriegs⸗ begeiſterung, das ſich Offnen und das ſich Verklammern der Herzen, und auf denen dieſe neue Wachheit der im Frieden wie ſchlafenden Nationalperſönlichkeit, ihr volles Seins⸗ und

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Werterlebnis beruht. Im Frieden iſt die Nation für ihre Glieder mehr ein ſymboliſcher Begriff als ein anſchauliches, erlebtes ſelbſtdaſeiendes Etwas; mehr eine komplizierte Kollek⸗ tion und Relation als eine ſubſtantielle Perſon. Erſt im Kriege wird dieſer Begriff mit jener Anſchauung und jenem geheimen Leben erfüllt, die auch noch im Frieden ſein, hier nur für Anſchauung und Gefühl unerreichbares Fundament bilden; erſt hier wird die gleichſam konſtitutionelle, in der Friedens⸗ egoität begründete metaphyſiſche Täuſchung, Nation ſei ein bloßer Beziehungskomplex oder ein mehr oder weniger künſtlich zuſammengebundenes Kollektivum klar durchſchaut. Jetzt erſt meinen wir voll das große geiſtige Weſen zu ſchauen und zu fühlen, dem wir alle als ſeine Glieder angehören und das uns erſt jetzt als bloße „Glieder“ ſtürmiſch zu ſich an ſein pochendes Herze reißt. Sowohl hinſichtlich aller mikroſkopi⸗ ſchen, wie aller makroſkopiſchen Realitäten iſt ja unſer Geiſt von Hauſe aus von Täuſchungsformen benebelt, die alle in der Dienſtſchaft des Geiſtes an die gemeinen Lebensbedürfniſſe begründet find.5 Jetzt erſt wird die in der leiblichen Egoität begründete beſondere Täuſchungsform des nur atomiſtiſchen Sehens der geiftigen Welt fo, als ob die einzelnen ſicht⸗ baren Leiber die Fundamente für die Einheiten und Gliede⸗ rungen auch der geiſtigen Welt wären zerbrochen. Als ob das Bewußtſein „im Kopfe“ wäre! Die Realität der Na⸗ tion wird für das geiſtige Auge wahrhaft ſichtbar und greif⸗ bar und die ihr im Frieden zuerteilte Rechtfertigungspflicht ihrer Realität vor dem Einzelbewußtſein fällt nun umgekehrt auf das Einzelbewußtſein als Laſt der Rechtfertigung zurück. Jeder empfindet nun, es ſei viel ſelbſtverſtändlicher und ſehr

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viel evidenter, daß die Nation „ſei“ als daß er felber „ſei“; und jeder empfindet, er müſſe ſein Sein vor ihr, der Nation rechtfertigen und durch Tat verdienen nicht aber wie vorher ſie vor ihm. In dieſem großen Erlebnis aber liegt eine metaphyſiſche Erkenntnisbedeutung des Krieges, die auf niedrigerer wie höherer Stufe ihr Analogon hat. Auf niedrigerer Stufe gibt das Erlebnis der „Verſchmelzung“ von Seele und Leib im liebebeſeelten Umfangen der Ge⸗ ſchlechter die Erkenntnis der realen Einheit des Lebens, trotz ſeiner an organiſchen Körpern räumlich und zeitlich diskreten Erſcheinungsweiſe. Auf höchſter Stufe aber geht uns in jener Gottinnigkeit heiliger Liebe, in der wir uns ſchon als Menſchen, ja darüber hinaus als „Inbegriff aller perſönlicher Geiſter“ alle als Brüder und als Kinder eines „göttlichen Vaters! fühlen und ſehen, die ganze Ausdehnung des geiſtigen Reiches auf.

Zu dieſer Richtung der Anſchauung, deren Gegenſtand die chriſtliche Kirche das „myſtiſche Corpus Chriſti“ nennt, leitet uns aber der Krieg trotz alles Kampfes der Völker als der Glieder dieſes Korpus mehr als der Friede, deſſen vorwiegende geiſtige Einſtellung jenes atomiſtiſche Sehen aller geiſtigen Einheiten und Realitäten iſt, die ſie ganz als bloße anhangende Modi der ſichtbar getrennten körperlichen Einheiten und deren Teilen und wie als bloße Komplexionen der leiblich noch lokali⸗ ſierten Empfindungsgruppen auffaßt; fo aber ſchon das An⸗ ſchauen der Richtung erſchwert, die zur Idee eines Gottesreiches führt. Mag auch bei vielen der Geiſt ſtehen bleiben an der neugegebenen Realität der Nation und nicht darüber hinaus⸗ gehen, ein Bruch mit jener konſtitutiv materialiſtiſchen Schau⸗

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form des Friedens iſt doch vollzogen, jener Schauform, die den Geiſt „im Kopfe“, das Streben nur im Unterleibe wähnt und der gemäß man nur durch Schlüſſe (Analogieſchluß) vom Selbſterlebten aus zu fremdem Seelenleben, ſeiner Exi⸗ ſtenz und feinem Inhalt zu gelangen glaubt.” Ein Weg iſt geöffnet, eine Quelle iſt aufgetan, die, ſo man ihnen folgt, an die Grenze leitet, wo die Religion und ihre Welt beginnt.

2. Der Krieg und der Tod

Aber dies iſt nicht der einzige metaphyſiſche Erkenntniswert, den der Krieg in ſich birgt. Sein Genius haucht uns allen, jedem einzelnen, eine Wahrheit ins Ohr, für die uns die Ge⸗ räuſche des Friedens taub machen. Sie iſt ausgedrückt in den alten deutſchen Worten: „Ich leb, ich weiß nicht wie lang, ich ſterb, ich weiß nicht wann, ich fahr, ich weiß nicht wohin, mich wundert, daß ich fo fröhlich bin“. Der Krieg ſtellt das wahre, das der Wirklichkeit angemeſſene Verhältnis von Leben und Tod für unſer Bewußtſein wieder her. Er vollbringt dies große Werk, indem er jenes „Leben“, das im Frieden ſich nur an uns abſpielt, uns wie eine dumpfe Kraft weiter von dem be in die Tage horizontlos in die Weite hineinſtößt,

ls „unſer“ Leben, d. h. das Leben nicht als identiſch mit Di Derfon, Küken nur als Eigentum und Spielraum unſerer freien geiſtigen Perſönlichkeit auch wahrhaft ſchauen, fühlen, empfinden lehrt als kurzen, endlichen Spielraum, als Inſel auf einem Meer unendlichen ſchwarzen Schweigens; aber als Spielraum für eine Perſon von unendlichen, über dieſen Spielraum weit hinausſchießenden Kräften, Zielen und ewigen Forderungen; als Spielraum für eine Perſon, die im

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felben Akte zu den ewigen Sternen greift, in dem fie ihr Leben wagt und dahingibt. Ich ſuchte anderen Ortes“ zu zeigen, daß die letzte Wurzel alles neueren Unglaubens an die Un⸗ ſterblichkeit nicht in irgendwelchen „wiſſenſchaftlichen Erkennt⸗ niſſen über den Zuſammenhang ſeeliſcher und phyſtologiſcher Vorgänge oder über die zuſammengeſetzte Natur des Ich beſteht, ſondern in etwas ganz Einfachem: In dem Nicht⸗ ſehen des Todes, in der Verdrängung und Verdunkelung der zu allen Zeiten hell und klar in uns leuchtenden, nicht erſt aus der induktiven Erfahrung der Sterbenserſcheinungen in der organiſchen Natur abgezogenen Todesidee, durch die täuſchenden Schleier einer zu ſtumpfer Gewohnheit geworde⸗ nen Lebenspraxis. Dieſe biologiſch zweckmäßige Täuſchung läßt den Erdenwurm bei jeder durchlaufenen Strecke nur die kleine näch ſte Strecke erblicken, die er nun zu durchlaufen hat. Sie läßt ihn ſich nicht „erheben“ über ſeine Bahn, um ſie in ein Ganzes zuſammenzuſchauen. Wer vom Tode nicht nur „weiß“ aus Büchern, oder vom Hörenſagen, auch nicht nur mit ihm „rechnet! wie die Lebensverſicherungen, ſondern ihn vor ſich ſieht, der ſieht „ſich!“ d. h. feine geiſtige Perſon, fein wahres Selbſt zu gleicher Zeit über den Tod als Lebens⸗ grenze hinausſchwingen und hinausleben. Man kann nicht das eine ohne das andere. Ein Weſenszuſammenhang der Schauungen bindet das eine an das andere. Der Genius des Krieges befreundet unſer geiſtiges Auge (nach Überwin⸗ dung der erſten Furchtſchauer der pfeifenden Kugeln) mit dem Tode; er bringt unſeren dumpfen Lebensdrang, der ihn uns immer zu verbergen ſtrebt, zu einer tiefen Verſöhnung mit der großen herben Realität des Todes; er macht ſie ſüß

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und ſüßer. Diefer Genius erhebt das Bewußtſein des dahin⸗ kriechenden Erdenwurms über feine Bahnkurve und läßt dieſe Kurve als geſchloſſenes Ganzes wie aus Sternenblick das geiſtige Auge gewahren. Er demonſtriert auf eine un⸗ widerlegliche Weiſe die große Wahrheit, das „Leben“ ſei etwas das wir „haben“ und erweiſt es uns als Täuſchung des Frie⸗ dens, daß es etwas ſei, was „uns“ hat (unſere Perſon). Denn nur, wer es gewagt, innerlich dahingegeben und wie durch Gnade zurückerhalten hat, hat ſein Leben fürderhin und für alle Zeiten wahrhaft „im Beſitz“. Dieſes „Wagen“ und „Dahin⸗ geben“ haben als innere Akte noch nichts zu tun mit dem wirklichen Sterben; aber dieſes „Wagen“ und die Liebe, um derentwillen es gewagt war, ſind hier die erkenntnisdisponie⸗ renden Akte für das Schauen der Exiſtenz⸗Erhabenheit und damit auch des Fort⸗ und Hinauslebens der Perſon über den Leib und kein Beobachten und Schließen kann Akte ſolcher Art erſetzen. Wieder wird hier das, was die Denker, was der homo religiosus auf ſeine Weiſe gefunden und der auf⸗ horchenden Menge als wie eine fremde, dem Alltag ferne Mär erzählt hatten, zum erlebten Gemeingut. Jeder wird Metaphyſiker, indem jeder ein Held werden kann! Denn die wahre Spekulation ift im Gegenſatz zu pofitiver Wiſſen⸗ ſchaft nur Heldentum des Gedankens; ſo wie auch der Held ein „praktiſcher Metaphyſiker“ genannt werden kann. Beide leben, beide wachſen miteinander in uns in die Höhe, Held und Metaphyſtker.““

Wie auf Stufen läßt der Genius des Krieges ſeinen Lehr⸗ ling bis an die Grenze der großen herrlichen religiöfen Wahr⸗ heit wandeln: die da heißt „Unſterblichkeit“, Gewißheit und

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Sicht auf ewiges Leben! Er zeigt feinem Jünger zuerft Ehre und Auszeichnung und lockt ihn heraus aus dem dumpfen, in ſich geſchloſſenen Ichgefühl, das ihn in Friedenszeiten ſo leicht ſeinen Leib und deſſen Luſt und Schmerz als die Wurzel ſeines wahren Selbſt vorſpiegelt! Er führt ihn hinaus über die Liebe zu ſeiner Ehre und läßt ihn im Blick auf die ge⸗ liebte Fahne, im Kampf und Einſtehen für ſie, die Ehre eines Größeren, die Ehre des „Regimentes“, bis zur Armee, den Fährniſſen wie feines Leibes fo auch feiner eigenen Ehre vor: ziehen. Aber das alles iſt noch irdiſch allzuirdiſch für den großen Lehrer. Ehre und Nichtehre hängen vom Ver⸗ halten der noch Lebenden ab, vom Verhalten der Umwelt und Nachwelt. Viele taten Kühnſtes ohne daß es jemand weiß! Viele erhielten nicht die Auszeichnung und Ehrung, die fie verdienten; viele erhielten Auszeichnungen, die fie nicht verdienten. Die „Fahne“ fo herrlich fie dort winkt und fo berechtigt das Symbol unſer Gefühl erregt für Gott iſt fie nur ein Stück Tuch. Aber der Genius des Krieges verfügt über noch tiefere Künſte, die ſchlafenden Seelen zu ſich ſelbſt zu erwecken. Er führt ſeinen Schüler vor etwas, das größer und beſſer iſt als alle Ehre: vor den Ruhm, vor die „irdiſche Unſterblichkeit“, wie ſchon die Alten den Ruhm nannten. Denn Ruhm, das iſt das lebendige bildneriſche Fortwirken und Fortexiſtieren der Perſon in ihrer Willenstat oder in ihrem Werke auf die irdiſchen Dinge ſelbſt, Ruhm⸗ liebe, Vorgefühl und Sehnſucht nach dieſer Wirkſamkeit in der Dauer einer unmeßbaren Geſchichte. Ruhm beſteht durch⸗ aus nicht in Sehen und Schätzung dieſes Fortlebens und ⸗wirkens durch Umwelt und Nachwelt, d. h. durch andere, die

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fich auch täuſchen oder blind fein können. Wer dies meint, ver⸗ wechſelt ihn mit bloßer „Ehrung“. Es ſelbſt, dieſes Sein und Schönſein im Aktus des Fortwirkens über alle begrenzte Geſchichte und Zukunft iſt der wahre Ruhm. Wer Ruhm gewinnt, wird nicht mit ihm „gekrönt“ und „bekränzt“ und „geſchmückt“ durch Um⸗ und Nachwelt: er ſchmückt, kränzt und „verewigt“ ſich, im irdiſchen Sinne, ſelbſt in edler Tat und ſchlägt fein Bild in ein dauerhafteres Element, als in menſch⸗ liche Meinung und Schätzung: in den lebendigen Wirkungs⸗ zuſammenhang des hiſtoriſchen Wirkens ſelbſt, das ſo geheim⸗ nisvoll und lautlos den Kern ſeiner Exiſtenz in ſeiner Tat oder ſeinem Werke verborgen ins Ungemeſſene weiterträgt auch tragen würde, wenn es keiner keiner wüßte. Hier ſchon hängt Wert und Weiterwirken nicht mehr ab von dem wechſelnden Verhalten, der Schätzung, der Ehrung anderer, Mit⸗ oder Nachwelten: hier hängt umgekehrt der Wert, die Schätzbar⸗ keit der „anderen“, der Um⸗ und Nachwelt davon ab, daß fie den ſehen und „ehren“, der „ſich mit Ruhm bedeckt“, der jene „irdiſche Unſterblichkeit“ errang. So iſt der Ruhm ſehr viel ſtiller, ſehr viel geräuſchloſer, aber größer und herrlicher als alle und jede „Ehre“ und „Ehrung“, die ſtets ein wenig klappern. „Ehre“ das bringen uns die anderen; wir können „uns“ nicht mit Ehre „bedecken“. Solche Rede erlaubt die Sprache nicht. Aber wir können uns bedecken mit Ruhm, auch noch als verlorener ungekannter Poſten in der Schlacht. Die Nachwelt verherrlicht nur, auf den ſich dieſer hehre Glanz niederließ und mißt ſich ſelbſt darin ab, wie weit fie es tut und wie weit fie es nicht tut. Sie prägt den Glanz nicht. Im Sehnen nach dem Ruhme, da beginnt ſich leiſe und

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unmerklich unſer geiſtiges Antlitz abzuwenden vom Irdiſchen und ſich nach einem „Oben“, wie nach Sternen zu kehren. Darum beginnt hier zuerſt der Durchbruch des Erlebens durch die Schranken und durch die „Angſt des Irdiſchen“. Der Anhauch der Ewigkeit und ſeine Aufnahme im Vorgeſchmack des ewigen Lebens beginnen im Ruhmgedanken gar wunder⸗ bar miteinander Fühlung zu nehmen.

Das iſt der höchſte Punkt, zu dem der Genius des Krieges uns führen kann: zur Pforte in die religiöſe Unſterblichkeit, zur Schwelle des Glaubens an fie. Den Eintritt über die Schwelle aber muß der Glaube vollziehen, ſo dieſe Schwelle betreten iſt.

3. Der Krieg als Gottesgericht

Wie uns das kriegeriſche Prinzip der Ritterlichkeit an die Schwelle der Feindesliebe, die erſchaute Realität der Nation an die Schwelle des Gottesreiches, der ſtille, ſchöne Heldenruhm an die Schwelle des ewigen Lebens führt, alſo führt uns die mit jedem echten Kriege verbundene Empfindung eines in ſeinem Ausgang ſtattfindenden „Gottesgerichtes“, eine Empfindung, der ſich auch die ſogenannten „Ungläu⸗ bigen“ nur mit dem Munde, nicht mit dem Herzen ent⸗ ſchlagen können, an die Schwelle des Erlebens der göft- lichen Realität ſelbſt und ihres heiligen Regimentes. Nur der allerverſtändnisloſeſte Aberwitz hat daran Anſtoß ge⸗ nommen, daß ſich im Kriege alle kämpfenden Parteien gleich⸗ mäßig auf Gott ſtützen und von feiner Gnade und Gerechtig⸗ keit den Sieg erflehen und erhoffen. Natürlich kann dieſe Hereinziehung des Namens Gottes ſeitens der kriegführenden

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Parteien auch tief irreligiöſen Charakter haben. Dies iſt dann der Fall, wenn anſtatt demütige Unterwerfungsbereit⸗ ſchaft unter den göttlichen Willen vor aller Kriegsentſchei⸗ dung, aber gleichzeitiges Vertrauen auf das eigene Recht und die göttliche Hilfe, bewußt oder unbewußt die Gottheit wie zur eigenen Partei herübergezogen erſcheint ſo daß der Monotheismus eigentlich in den Henotheismus des älteſten Judentums und ſeines Stammesgottes Jahwe auseinander zu fallen, die Tendenz gewinnt. Das war ſtets eine Gefahr proteſtantiſchen Staatschriſtentums. Die Rede „Unſer alter Preußengott“ iſt ficher leicht in dieſem Sinne mißverſtändlich. Dieſes „unſer“ iſt nicht das „unſer“ des Vaterunſers. Auch die Rede vom „Deutſchen Gott“ ſollte man unterlaſſen. Eine andere Gefahr die ſpezifiſch engliſche, (fiehe den Anhang über den cant) iſt umgekehrt die unbewußte Verſteckung ſeiner Intereſſen unter den Namen eines ganz univerſal und echt monotheiſtiſch ſchein⸗ intendierten „Gottes“. Die letztere Gefahr iſt die häßlichere, unfrömmere. So wenig aber iſt vom Standort der echten Religion an der rechten Anrufung Gottes Anſtoß zu nehmen, daß umgekehrt ſchon die Voraus⸗ ſetzung einer irdiſchen Rechtsinſtanz, durch die eine Einung über die in einen „gerechten Krieg“ (ſiehe folgende Kapitel) treibenden Konflikte herbeizuführen wäre, eine unerhört an⸗ maßende Verleugnung der letzten und höchſten aller Rechts⸗ inſtanzen, der Inſtanz des lebendigen Gottes iſt; ein vor⸗ witziger Verſuch, ihr in den Arm zu fallen! Eben weil die Rechtsidee nicht erſt aus dem vom Staate geſetzten Rechte ſich ableitet, ſondern die logiſche Weſensordnung eines reinen unendlichen Vernumftwillens ſelbſt ausdrückt, gleichwohl

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aber jeder Staat „ſouverän“ iſt und keine irdiſche poſttive Rechtſetzung über dieſe ſeine Souveränität anerkennen kann vermag nur Gott im Richterſpruch des Krieges, d. h. im Richtſpruch der Tat, ſolche Rechtsfrage zu entſcheiden. Es iſt alſo entweder Erniedrigung oder Beugung der Erhaben⸗ heit der Rechtsidee in die Grenzen menſchlicher Inſtitute, Schwächen und Bedürfniſſe oder es iſt Leugnung der Got: veränität des Staates, wenn man prinzipiell an die Stelle des göttlichen Gerichtes durch den Krieg ein menſchliches Schiedsgericht ſetzen will; wenn man die Erhabenheit des Krieges zu einem „Streit“ vor Perücken erniedrigen will. Daß dieſe Art der Rechtsſuche und der Rechtsfindung in der Form eines Gewaltkampfes zwecks Erprobung der Macht verläuft, erſcheint nur der Sentimentalität der Gottheit un⸗ angemeſſen. Gott iſt auch Gott der Macht iſt „All⸗ mächtiger“. „Daß Gott immer bei den ſtärkſten Batail⸗ lonen ſei“, ein Wort, das ein Brief der Pompadour dem Marſchall Turenne zuſchreibt und das nicht von Friedrich dem Großen ſtammt iſt, ſo frech es vielleicht gemeint iſt (auch dies muß es nicht ſein, da es an der Stelle, wo es ſteht, nur die engliſche Form von Bigotterie treffen will) doch auch geradezu wahr; nämlich eine ſtrenge De⸗ duktion aus der Idee göttlicher Allmacht. So ſchlägt die noch witzigere Wahrheit des Satzes den Witz der iro: niſchen Intention des Argumentes! Wie in höchſter menſch⸗ licher Güte und Weisheit Spuren der göttlichen Güte und Weisheit und Lichtblicke von deren Exiſtenz in die Erſcheinung treten, ſo auch in der ſiegreichen Wucht der Macht Spuren und Durchblicke auf die göttliche Allmacht. Gott iſt ſo ur⸗

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fprünglich „allmächtig“, als er allgerecht und allweiſe iſt und nur eines iſt er noch urſprünglicher und wurzelhafter als dies alles zuſammen: Alliebend und allgnädig! Es iſt eine durch das Chriſtentum überwundene antik⸗gelehrtenhafte Gottes⸗ idee, wenn man nur den „Allweiſen“ in ihm fieht und dann auch konſequent Schöpfermacht und Weltregiment ihm ab⸗ ſprechen muß, ſo wie es Ariſtoteles konſequent tun mußte und tat. Es iſt nicht minder ein Rückgang gegen die chriſt⸗ liche Gottesidee, wenn der moderne Rationalismus (3. B. Kant) ausſchließlich den „gerechten Wiedervergelter und Richter in Gott ſieht und ſeine Allmacht nur als ein äußer⸗ liches Werkzeug ſeiner Gerechtigkeit annehmen will; wenn derſelbe Rationalismus auch im menſchlichen Bewußtſein das Könnensbewußtſein nach dem Satze „Du kannſt, denn du ſollſt“ erſt auf das „Sollensbewußtſein“ aufbauen will.” Das iſt Verwechſlung der Macht mit der Gewalt, die allein verdient „Werkzeug“ zu heißen und deren gerade Gott nicht bedarf. Die „Macht“ iſt alſo ſo urſprünglich im Weſen der Dinge verwurzelt wie das Recht; die Kraft ſo urſprüng⸗ lich wie das Geſetz. Wer nur im Säuſeln der Pappeln und im Gezwitſcher der Vögel das Wehen des göttlichen Geiſtes vernimmt und nicht auch in dem Donner der Ge⸗ ſchütze, der iſt vielleicht ein liebenswürdiger, aber kein ganzer und liebenswerter Menſch. Gewiß iſt es auch tiefe Irrung, ſo wie es Calvin und in anderer Form Spinoza getan haben, die „Allmacht“ in der Gottesidee ſo zu überſteigern, daß ſich wie bei Spinoza der falſche, frivole Satz ergibt „Macht iſt Recht“ oder die Gnade eine Äußerung der Liebe wie bei Calvin (und im ſchärfſten Gegenſatz zu Auguſtin) zu

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finſterer Willkür der grundloſen „Erwählung“ wird. Auf Erden ſuchen vielmehr echte Macht und echtes Recht einander, die in Gott ſich real decken und eines ſind. Oft findet die wahre Macht nicht ihre Rechtsform und ihren Rechtsausdruck, da ſie durch die bloße Gewalt oder die Schlauheit des faktiſch Ohnmächtigeren daran verhindert wird. Oft auch findet das faktiſche Recht nicht die Macht, in der es ſich behauptet. Aber erſt da, wo ſie ſich finden, da wird die Welt voll⸗ kommen „gut“ und ihres Schöpfers wert. Der gerechte Krieg, das eben iſt die höchſte Form dieſes Suchens und Fin⸗ dens! Wo Willkür und pure Gewalt ohne heiliges Rechts⸗ bewußtſein für die eigene Sache den Krieg vom Zaune brechen, da beſteht freventliche verbrecheriſche Amwendung dieſer höchſten Form der Rechtsſuche durch die lebendige Tat und vor dem Richterſtuhle Gottes ſelbſt. Solche „ungerechte“ Kriege hat es natürlich gar viele gegeben. Aber auch kaum mehr, eher viel weniger als ungerechte Gerichte und ungerechte Geſetze! Manche Kabinettskriege des 18. Jahrhunderts, manche Kriege, die man nur anzettelte, um die verlorene Gewalt im Staate wieder zu erreichen, manche Handels⸗ und Menſchenvernichtungskriege ſind Kriege ſolcher Art geweſen. Aber auch wo pures Pochen auf das eigene Recht eines Staates vorliegt, wo der ganze und heilige Wille fehlt, die Machtprobe zu wagen und die eigene Exiſtenz für ſein Recht auf die Karte zu ſetzen, wo die Diplomaten noch ſchwatzen, wenn allein nur mehr die Waffen freier Män⸗ ner das Wort haben ſollen fehlt faktiſch das ganze und volle Rechtsbewußtſein; denn dieſes drängt, voll lebendig von ſelbſt zu Tat. Nur derjenige Staat, dem es fehlte,

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und der damit ſchon vor fich ſelbſt verloren wäre, könnte fich alſo einem Schiedsſpruche unterwerfen. Wie alſo ſollten denn die Kriegsparteien nicht, jede ihrerſeits Gott als den höchſten Richter, den Richter in der lebendigen Tat ſelbſt anrufen und dies wahrhaft und aus vollem Herzen, wenn ihnen nur dieſes volle Rechtsbewußtſein nicht gebricht? Das bedeutet durchaus nicht, Gott gleichſam auf die eigene Partei herüberziehen. Das bedeutet vielmehr ſich ſeinem Gerichte eben in und mit der Wucht eigener Tat, zugleich demütig unterwerfen.

Zu dieſer Vorſtellung des Krieges als Gottesgericht führt aber das volle Erlebnis des Krieges ſelbſt notwendig hin und die Geſchichte, durch es erleuchtet, beſtätigt das Erlebte. Der echte Krieg bringt alle Weſenskräfte des Volkes oder der Nation zur Geltung, im Gegenſatz zum Zweikampf, den nur der Zynismus heute noch als Gottesgericht bezeichnen könnte, mit ſeinem Zufall und ſeiner einſeitigen Meſſung bloß phyſiſcher Kraft oder irgendeiner Waffenkunſt. Er mißt ihren konkreten Geſamtwert ab auf eine Weiſe, wie es keine noch ſo ſubtilen und objektiven Urteile menſchlicher Richter vermöchten, auch nicht mit den feinſten ethiſchen, politiſchen und ökonomiſchen Maßmethoden. Nicht nur der momentane Stand der Nationalkräfte, auch der Wert der geſamten Friedensarbeit findet erſt im Kriege die volle Bewähr ſeiner Realität. Richtig nennt H. von Treitſchke den Krieg das „Examen rigorosum“ der Staaten.

Zu allernächſt wird nicht nur für die auswärtigen Be⸗ trachter, ſondern auch für den kriegführenden Staat ſelber Wert und Kraft feines innerpolitiſchen Aufbaus, feiner Ver⸗

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faſſung, Rechtsform und Organiſation, wie der in ihm ent- haltenen Gruppen⸗ und Parteikonſtellationen klarer und heller erleuchtet, als es zehntauſend amtliche und außeramtliche En⸗ quèten im Frieden vermögen. Gruppen, die ſchon vorher nur aus Zwang oder Not zum Staate hielten, die er ſich aus eigener Schuld nicht zu aſſimilieren wußte, mit denen er nur unpolitiſchen Raubbau trieb wie die Karthager mit ihren Eroberungen die er lange belog oder täuſchte, fallen bei der erſten Gelegenheit ab; ſo wie wir es jetzt in Rußland bei einem kleinen Teile der Polen, einem Teile der Ruthenen, einem gewiſſen Teil der Galizier und der ruſſiſchen Juden ſehen. Umgekehrt erweiſt ſich langjähriges Mißtrauen der „ſtaats⸗ erhaltenden“ Parteien gegen gewiſſe Parteien und Gruppen entweder auf einen nun zurück flutenden radikalen Phraſen⸗ ſchwall von Preſſe und Führer ſchaft jener Parteien, oder um: gekehrt auf die bloße Profitgier und Stellenjägerei jener „Staatserhaltenden“ gegründet. Wagten ſie dieſe früher mit dem Staate zu identifizieren, fo wird jetzt dies Verhalten als frivole Frechheit kund. Beide Momente treten jetzt in Deutſchland und Oſterreich bei den Sozialdemokraten her⸗ vor, in Oſterreich bei den Tſchechen und Alldeutſchen, in Deutſchland zum Teil im Elſaß und in Polen. So ſondert ſich Freund und Feind des Staates, Echtes vom Unechten ſcharf und klar voneinander. Jeder kleinſte Zweig der Ver⸗ waltung, das Maß von Ordnung oder Unordnung, Pünkt⸗ lichkeit und Unpünktlichkeit in ihm, der innere Wert aller dem Verkehr und dem Nachrichtendienſt dienenden Organi⸗ ſationen, erhält jetzt ſeine haarſcharfe Beleuchtung und in die dunkelſten Winkel des Staatslebens flutet das Licht des

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Tages. Sofort z. B. wurde in dieſem Kriege neben der Güte und Ordnung der Verwaltung unſeres Eiſenbahn⸗ und Trans⸗ portweſens, unſerer Kriegsinduſtrie uſw. die Mangelhaftig⸗ keit unſeres internationalen Nachrichtendienſtes klar. Das Maß fozialpolitifcher Vorbereitung (Verſicherungs weſen uſw.) äußert ſich haarſcharf in der inneren Kriegsbereitſchaft der Armee und der Zahl der Freiwilligen; denn nur da ziehen die Leute gerne ins Feld, wo ſie Familie und Kinder geborgen wiſſen; es äußert ſich nicht weniger in der Ruhe, dem Sicher⸗ heitsgefühl der Zurückbleibenden in der Erhaltung der wäh⸗ rend eines Krieges ſo wichtigen inneren Ordnung des Staates. Die geſamte Volkswirtſchaft, Ackerbau, Induſtrie, Börſen⸗ Bankweſen, nach Organiſation und nach den in ihr wirkſamen moraliſchen Kräften der Nation, werden genau auf ihre Tüch⸗ tigkeit und Tragfähigkeit geprüft; aber auch jeder einzelne auf ſeine Solidarität und Ehrlichkeit.

Man ſpricht, daß der Kriegszuſtand fo viele „trübe Fluten erzeuge, in denen dann ſo viele Leute fiſchen gingen! Ja, das iſt gerade feine hehre Kraft nicht die trüben Fluten zu „erzeu⸗ gen“, wie man irrig ſagt, ſondern ſie ſichtbar zu machen und an das Tageslicht zu ziehen. Sie waren ja ſchon vorher da die „trüben Fluten“, und auch der Wille zum Fiſchen iſt nicht durch den Krieg geboren! Das iſt ja eben der Sieg der Gerechtigkeit, über den die Engel lachen, daß der vornehme, unnahbare Herr von geſtern, heute auch als der notoriſche Lump herumläuft, der er iſt; daß der befreiende und heilende Eiter ausbricht, wo tief verborgen ſittliche Krankheiten ſchlum⸗ merten. Das iſt gerade im Moraliſchen die ungemeine Be⸗ deutung des Krieges, daß er die Masken herabreißt, die der

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Friede über jenes „Tieriſche“, „Wilde“ und „Niedrige“ der Menſchennatur fo kunſtvoll breitet und über das die liberalen Illuſtoniſten dann immer fo klagen, wenn fie es ſehen. Ein moraliſcher Rückſchritt Europas, bewirkt durch die kapita⸗ liſtiſchen Lebensformen, welchen die Tieferſehenden längſt er⸗ kannt hatten, iſt durch die Formen der Kriegsführung, die das geſamte Mittelalter an Grauſamkeit übertreffen, vor aller Welt nun völlig klar aufgedeckt worden. Denn nur jener konſtitutive Phariſäismus alles Friedenszuſtandes ſamt den jetzt zurückweichenden, die echten ſittlichen Werte verſteckenden Motiven des Geſchäftsgeiſtes und der Geſchäftsmoral ver⸗ hüllte auch jenes Tieriſche, Niedrige, Rohe, Grauſame der menſchlichen Natur vor den Augen der Öffentlichkeit; ließ es aber gerade um ſo ſtärker auf den vielveräſtelten Wegen wirken und graben, die das kompliziertere, beziehungsreichere Daſein des Friedens an die Hand gibt. Im Innern des Staates wie innerhalb der kriegführenden Armee ſelbſt ſon⸗ dern ſich alſo jetzt ſcharf die inneren, moraliſchen, die tiefen echten Gewiſſensbindungen des Handelns, des Egoismus, der Habſucht, der Begierde jeder Art von jenen nur äußeren Bin⸗ dungen, die das Böſe nur zurückdrängen von der Sphäre der Sichtbarkeit und des Bekenntniſſes; die es aber gerade hier⸗ durch ſich tiefer und tiefer in den Kern der Perſonen eingraben ließen! Was die „Wohlfahrt“ verlieren mag, das gewinnen jetzt die echten moraliſchen Kräfte und Werte, die nun erſt in ihrem eigenen Glanze klar zu leuchten beginnen. Nur wer draußen im Feindesland nicht ſtiehlt, nicht plündert, nicht die fremde Frau verführt, wer jetzt dem Fremden ſeine Ware bezahlt, wer jetzt zu Hauſe nicht den Preis drückt oder Gold

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theſauriert und dem Freunde die Treue hält, nur der iſt im moraliſchen Sinne wertvoll! Es ift dasſelbe Motivd, das Jeſus gegen den Phariſäismus und gegen die Halbheit, Ver⸗ ſchwommenheit und das Verſteckſpiel der menſchlichen Mo⸗ five, gegen das lächerliche, ſchon im Altertum bei den Stoikern beliebte Verſteckſpiel eben mit ſeiner tieriſchen Matur, kämpfen läßt, das ihn auch ſagen läßt, er ſei „nicht gekommen den Frieden zu bringen, ſondern das Schwert!“

Das Bild des ganzen, großen, umfänglichen Menſchen, von dem der Friede nur eine kleine, graumelierte mittlere Zone ſehen ließ das Bild des Menſchen, wie er vor Gott ſteht, die Füße tief im Moraſte ſeiner Tierheit, beladen mit den Geſchwüren der Erbſünde und ſeiner eigenen Schuld, und das Haupt im Lichte der Sonne und im Glanze der Sterne, dort und da den Himmel berührend, dies Bild ſteht jetzt plaſtiſch vor uns. Der Krieg erſt ermißt den Umfang, die Spann⸗ weite der menſchlichen Natur; der Menſch wird ſich feiner ganzen Größe, ſeiner ganzen Kleinheit bewußt.

Das iſt einer der Grundfehler der naturaliſtiſchen Kriegs⸗ auffaſſung, daß ſie das geheime, unſichtbare Zuſammenweben der geiſtigen, moraliſchen, vitalen und organiſatoriſchen Fak⸗ toren nicht zu finden vermag, die den endgültigen Sieg be⸗ ſtimmen. Daß ſie nur auf Säbel und Kanonen blickt! Sie neigt dazu, den Krieg nur als eine Entſcheidung für die phy⸗ ſiſche Gewalt der Völker, eventuell ihre Leiſtungen für die Heeresorganiſation, höchſtens noch für das Maß von Klug⸗ heit und Ordnung in der Organiſation der Armee und der Volkswirtſchaft zuzugeſtehen: Eigenſchaften, die doch mit be⸗ liebigem Tiefſtand der höheren Moral und der Geiſteskultur

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eines Volkes verbunden fein könnten. Das ift auch heute ein weitverbreifetes Bild im neutralen Ausland, daß in unſerem Kriege ein ganz einſeitig militariſtiſch und ökonomiſch hoch⸗ organiſierter Staat mit Völkern in den Kampf getreten ſei, die ihn zum Teil an Geiſteskultur, Lebensform und Aus⸗ geglichenheit der Bildung hoch überragen. Das iſt ja auch mit der Sinn des Vorwurfes von den „Barbaren“. Nietzſche fand noch 1871 nicht in jedem Betrachte mit Unrecht daß mitten im Siege Deutſchlands mit den Waffen die franzöſiſche Kultur die unſrige in analoger Weiſe überwunden habe, wie die helleniſche jene des Reiches Alexanders, ja ſelbſt ſpäter Roms; wie die antike Kultur überhaupt bis zu einem gewiſſen Grade diejenige der ihre Staatsformen zerſchlagen⸗ den germaniſchen Völker!

In der Tat gibt der Ausgang des Krieges weder über den Wert der vorhandenen Kulturwerke und Kulturformen noch über den Wert der in den Völkern ſchlummernden ſchöpfe⸗ riſchen Kulturkräfte irgendeine Entſcheidung. Bilder, philo⸗ ſophiſche Syſteme und mathematiſche Abhandlungen wer⸗ den nicht ſchlechter und nicht beſſer, nicht wahrer und nicht falfcher, ob das Volk, aus dem fie hervorgingen, fiege oder unterliege. Für die vorhandenen und ererbten Werke und Formen kommt dem Kriege nur eine Bedeutung zu, die in⸗ des auch nicht gering anzuſchlagen iſt: Er wirkt ähnlich wie in der Moral als der große Scheidekünſtler des Echten und Unechten. Was nur durch die Gunſt des Staates und ſeiner herrſchenden Schicht, durch Konvention, Mode oder vor einem zu beſchränkten nationalen Zeitgeſchmack im beſiegten Volke als „gut“ galt, das geht nun verloren und nur das Echte

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überdauert den politifchen Niedergang des Volkes! Und ana⸗ log wird im ſiegenden Volke alle Art von Kunſt, Lebensform, die ohne echte Ergriffenheit von ihrem innewendigen Wert nur modiſch nachgeahmt werden, als Anreiz des eigenen Schaffens preisgegeben. So z. B. wird man nach dem Kriege ſehen, wie weit die jungdeutſche an den franzöſiſchen Im⸗ preſſionismus anknüpfende Malerei auf ſolch echter Wert⸗ ergriffenheit beruhte und wie weit die unerhörte Angliſierung unſeres Geiſtes und unſerer Sitten auf Gemeinſchaft des „Stammesgefühls“ und des deutſch⸗engliſchen Kulturgeiſtes oder auf blöder Nachäfferei beruht. Daß Tolſtoi und Doſto⸗ jewski ihre Bedeutung behalten werden, des bin ich z. B. gewiß, wenn man auch das ſlaviſche Chaos des Gefühls und das dem europäiſchen Weſen überhaupt Fremde in ihren Werken deutlicher gewahren wird. Daß aber der Krieg nur in dieſer bezeichneten Beſchränkung eines Scheidekünſtlers in der Geſchichte auf die Kultur wirkt und ſoweit er eben dieſe Beſchränkung einhält, dies macht gerade ſeinen edlen und erhabenen Charakter aus; gerade dies zeigt, daß er nicht, wie die Pazifiziſten meinen, ein Reſt des, Barbarentums“ iſt. Der Krieg ſchafft gerade damit die denkbar vollkommenſte Kultur⸗ kritik und Kulturverteilung in Raum und Zeit im großen. Das Allerniedrigſte iſt es daher, wenn ein Volk oder Gruppen des Volkes ſich hinter Kulturwerke verſtecken, gleichſam Bilder als Deckung vor dem feindlichen Schuß benützen, architek⸗ toniſch wertvolle Städte befeſtigen uſw., und damit in freoler Weiſe das hohe Werk ihrer Ahnen zum Deckmantel ihrer fehlenden Kräfte oder ihres fehlenden Mutes zu dem Zwecke machen, ſpäter Anklagen gegen die „Barbaren“ erheben zu

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können, die dieſes niedrige Sklavenreſſentiment durchſchaut hatten und auch dann mit vollem Rechte die Kunſt⸗ werke nicht ſchonten. Denn wer dem Bilde die Funktion eines Walles gab, nicht wer darauf ſchoß hat es zerſtört! Er tat nicht beſſer wie jene feigſten Völker, die Weiber und Kinder in den Kampf voranſchicken, um dann den darauf ſchießenden Feind der „Grauſamkeit“ anklagen zu können. Dieſes niedrigſte Reſſentiment wir haben es an Belgien in Löwen und in Frankreich in Reims erlebt. Was nun aber die kulturbildenden Kräfte betrifft, ſo entſcheidet der Krieg abgeſehen von der nicht hierhergehörigen Kraft der durchſchnittlichen Intelligenz, Bildungshöhe und Bildungs⸗ verbreitung in einem Volke (Wert des Schulweſens) ſicher nicht unmittelbar über den Wert dieſer ſchöpferiſchen Kräfte. Wir wiſſen nicht, welche Kräfte durch Verluſt poli⸗ tiſcher Selbſtändigkeit der Völker, dem ſie angehörten, durch Tötung ihrer Träger im Kriege uſw., zur hiſtoriſchen Unwirk⸗ ſamkeit verurteilt wurden. Noch weniger vermag er da ſolche Kräfte zu ſchaffen, wo keine ſind. Wohl aber beſtimmt ſein Ausgang in erſter Linie und vor allen ökonomiſchen Fak⸗ foren der Beſtitzverteilung, die dies erſt in zweiter Linie tun, welche der überhaupt vorhandenen Kräfte zu fernerer bilden⸗ der Wirkſamkeit gelangen werden. So ſeligiert der Krieg mögliche Kultur zu wirklicher. Richtung dieſer Kräfte und eventualer Wertinhalt ihrer Hervorbringungen, Stil und Geſamtſtruktur des nationalen Kulturwerkes ſind und bleiben alſo von der durch die Kriege ſich vollziehenden Machtvertei⸗ lung auf die Staaten prinzipiell völlig unabhängig. So un⸗ ſinnig die ökonomiſche Geſchichtsauffaſſung iſt, die uns auch

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nur den Bauſtil der Kathedrale von Reims geſchweige fie ſelbſt als eine abhängige Funktion von den ökonomiſchen Verhältniſſen ihrer Erbauungszeit aufſchwatzen will, ſo un⸗ ſinnig wäre es auch zu meinen, daß die Machtverteilung und die ſie beſtimmenden Faktoren (wie der Krieg) jemals den eigentümlichen künſtleriſchen und religiböſen Wertgehalt dieſes Bauwerkes verſtändlich machen können. Jedes Kulturgebiet folgt in ſeiner Entfaltung autonomen ſpontanen Kräften des Geiſtes nach den ihm allein immanenten Regeln der Wertbildung und der beſonderen Geiſtes⸗, Schau⸗ und Liebes⸗ ſtrukturen der Völker. Aber das ſchließt nicht aus, daß Macht wie ökonomiſche Beſitzverteilung die jeweiligen Durch⸗ bruchsſtellen dieſes ſpontanen, eigengerichteten ſchaffenden Geiſtes in jene Wirklichkeitsſphäre der Geſchichte, die der

Hiſtoriker ſchon als „gegeben“ vorfindet, öffnen und ſchließen

kann. Und ebendies heißt: Sie ſeligieren möglichen (das heißt nach dieſen Kräften möglichen) Kulturinhalt zu wirklichem. Aber auch dieſes „Offnen“ und „Schließen“, von dem alle wirkliche Kulturgeſtaltung ebenſowohl abhängig iſt, wie jenen ſpontanen Geiſteskräften ihr purer idealer Gehalt entſpricht, geſchieht nach einer beſtimmten Regel der Wirkſamkeit der das „Offnen“ und „Schließen“ regierenden Faktoren. Und dieſe Regel iſt, daß die Machtverteilung dieſe Selektion „möglicher“ zu „wirklicher“ Kultur vor und unabhängig von den ökonomiſchen Faktoren erfolgt; daß die Befigverhältniffe alſo erſt zu ſelektiver Wirkſamkeit kommen da, wo jene erſte Selektion ſchon erfolgt iſt.

Gerade darum iſt aber die äußerſte Anſpannung zu mili⸗ täriſcher, innerer und äußerer Kriegsbereitſchaft die erſte und

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fundamentalſte Pflicht eines Staates, die er gerade gegen die in ſeiner Bevölkerung ſchlummernden kulturbildenden Kräfte beſitzt; und ſie iſt zehntauſendmal fundamentaler als die Pflicht, durch ſogenannte „Kulturausgaben“, durch die er ſein Mili⸗ tärbudget über deſſen Bedarf kürzte, auf unmittelbare Weiſe die Kultur durch ſeine Staatstätigkeit zu fördern! Es wäre eben damit die tiefſte moraliſche Schuld gegen das, in ſeinen Grenzen geſtaltende geiſtige Leben, der ihn der Kriegsausgang als Gottes urteil ſchuldig ſprechen müßte, wenn er dieſer funda⸗ mentalſten Pflicht vergäße oder fie nur ungenügend erfüllte. Der Standpunkt, wie ihn kürzlich vor dem Kriege der preu⸗ ßiſche Kriegsminiſter Herr von Falkenhayn zum Problem Militarismus und Kultur im Reichstag einnahm, iſt paradoxerweiſe genau derjenige, den jeder echte Liebhaber geiſtiger und ſchöner Dinge einzunehmen hat. Gott behüte uns vor dem ſogenannten „Kulturſtaat“ und aller unmittel⸗ baren „Staatskultur“, Gott behüte uns vor aller Er⸗ wartung, daß Ausgaben für die Univerfitäten, Laboratorien, Inſtitute, Hoftheater, Akademien, Staatsaufträge für die Künſtler uſw. uſw., die unſer Militärbudget über das be⸗ rechtigte Maß kürzten, das je hervorzubringen vermöchten, was allein ein freies Geſchenk der ſpontanen Kräfte des Genius, der ihn frei Verſtehenden, freier Kritik und hoch⸗ herziger, verſtändnisvoller Perſonen und Mäzene ſein kann ewig ſein darf! Mit Ausnahme der kleinen Strecke von Kant bis Herbart in Preußen, hat ſich die geſamte europäiſche Philoſophie ſeit Descartes in allen Ländern völlig jenſeits der ſtaatlichen Univerſttäten vorher und nachher entwickelt. Konrad Fiedlers Schriften haben hinſichtlich der Bedeutung

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von Akademien und ſtaatlichem Ausſtellungsweſen für die bildende Kunſt genau dasſelbe Ergebnis.” Der Genius hat allzeit den ruhmgekränzten Soldaten, der ſeine Freiheit ver⸗ teidigt, tiefer geliebt, als den Herrn Beamten, der ſich anmaßt, über ihn und ſein Werk „zu befinden“. Schwert und Geiſt können ein ſchönes, würdiges Paar bilden. Sie erklingen miteinander in tiefer Harmonie. Geiſt und grüner Tiſch ſchließen ſich aus und ergeben einen abſoluten Desakkord. Wer daher unter „Kulturbefähigung“ die Kraft verſteht, weiſe, ſchöne und bedeutende Dinge hervorzubringen, in der Philo⸗ ſophie reiner Wahrheit zu dienen, „für ſie“, wie ſchon Schopenhauer ſagt, nicht „von ihr“ zu leben, wer nicht die zu bloßer Ziviliſation gehörigen Fragen allgemeiner Schul⸗ bildung, exaktwiſſenſchaftliche Inſtitute zu feinſter Größen⸗ meſſung, Bibliotheken, Akademien zur Organiſation wiſſen⸗ ſchaftlicher Arbeit uſw. in dieſen Begriff einſchließt, für welche kulturtechniſchen Inſtitute der Staat ſelbſtverſtänd⸗ lich zu ſorgen hat der möge das Wort „Kulturſtaat“ ſchnellſtens aus ſeinem Wörterbuch ſtreichen; er möge flugs zur altgermaniſchen Auffaſſung zurückkehren, in der Macht und Recht allzeit den Inhalt der Zentralaufgaben des Staates gebildet haben. Wir Deutſche bedanken uns für ein „Miniſterium der ſchönen Künſte“ wie es in Frankreich exiſtiert, und mit welchem Wert für die Kunſt, das wiſſen die Kenner. Und Deutſche, die das Weſen von Philo ſophie und Wiſſenſchaft verſtehen, lieben in allen Dingen der Kultur das „Syſtem Althoff“, dieſes unſchematiſche, auf der Beurteilung von Perſonen durch eine Perſon beruhende Syſtem kluger Gunſt und Ungunſt, verbunden mit weiteſter

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Heranziehung freien Mäzenatentums. Dies, was man „Kor⸗ ruption“ zu nennen beliebte (dieſer Bourgeoiſtephiloſophie erſcheint ja ſchon die Exiſtenz von „Perſonen“ als eine Korrup⸗ tion eines „tranſzendentalen Vernunftſchematas“), dient im höchſten Maße echter Kultur. Vor einer Auswahl der kultur⸗ bildenden Kräfte nach der „ſtrengen Gerechtigkeit“ der ſonſt üblichen Schematismen, die das Aufrücken von „Beamten“ regeln ſei es auch nur der regelmäßige Vorſchlag der Fach⸗ koterien und Fakultäten davor bewahre uns der Himmel noch genau ſo lange als er uns bewahre, daß wir je in jenen vollkommen „ziviliſterten!“ Zuſtand eingingen, in dem der Reichstag oder ſonſt ein Ausſchuß durch Beſchlüſſe über Kul⸗ turwerte „befindet“ und jene „Auswahl“ beſorgt.

Die inneren Kulturbeſtrebungen eines Volkes werden durch den Krieg, aber nicht nur in ihrer unmittelbaren Bedeutung für den Sieg, ſondern auch nach ihrem eigenen Werte wenigſtens in einer Richtung einer ſcharfen Kritik unter⸗ zogen. Und wieder iſt dieſe Wirkung nicht etwa Ablenkung aus ihrer bisherigen Richtung oder Erhöhung ihres Wertes wohl aber Reduktion ihrer vielfachen komplizierten Er⸗ ſcheinung auf ihren weſenhaften Gehalt. In den großen Stunden der Tat vermag unſere Seele nur in jenen einfachen großen Geſtalten und Gedanken zu leben, die irgendwie den Sinn des Lebens komprimieren und zuſammenfaſſen. Was in Kunſt und Philoſophie nur ſubtiler Technik, was dem Virtuoſentum und der bloßen Gelehrigkeit, nach einer ge⸗ gebenen Methode ein wenig fortzuſchreiten, fein Daſein ver: dankt, was nur durch die zweifelhafte Gunſt einer maß⸗ loſen Arbeitsteilung lebte, die den Vertreter eines jeden Faches

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und Fächleins zwingt, die Leiſtung jedes anderen Faches und Fächleins a priori zu beſtaunen, wenn ſie nur in der kleinen Koterie jener Fachvertreter gelobt wird, was dem Sich⸗ emporloben der Vertreter kleiner Zirkel in Literatur und Kunſt ſein Anſehen verdankt, was durch bloße Geſuchtheit und Geiſtreichtum glänzte und Logik und Wahrheit verachtete, das alles hat nach dem Kriege ſeine Zukunft verloren. Es war ein Mann, der in Feldlagern ſchrieb, der die vielfachen ſubtilen Regeln der ſcholaſtiſchen Logik auf die wenigen ein⸗ fachen Sätze der „Regulae“ feines Discours zurückführte René Descartes. Es iſt daher wohl verſtändlich, daß der philoſophiſche, ſynthetiſche, integrierende Geiſt nach Kriegen ein gewiſſes Übergewicht über den Geiſt der Spezifizierung, Analyſe und Differenzierung, die Philoſophie aber über die Spezialwiſſenſchaften erhält das heißt derſelbe Geiſt, aus dem die Wiſſenſchaften geboren waren und, wo ſie neue Me⸗ thoden in ſich aufnehmen, immer aufs neue geboren werden. Und es iſt analog zu erwarten, daß gleichzeitig auf dem Boden der Philoſophie ſelbſt die Luſt an bloßer formaliſtiſcher Haar⸗ ſpalterei zurücktritt und nur das, was auf ſelbſtändige ori⸗ ginale Anſchauung der Welt ſich zurückzuführen vermag, das neue Intereſſe gewinnt. Die große griechiſche Philoſophie des Platon und Ariſtoteles iſt ohne die Perſerkriege nicht denkbar; die Philoſophie Hegels mit ihren Stärken und Schwächen nicht ohne die Napoleonſchen Beſtrebungen zu einem franzöſiſchen Weltimperialismus, wie Kuno Fiſcher ſehr treffend dartat. (Siehe Hegels Leben und Werke.) Iſt der Krieg nur mit dieſer Einſchränkung ein Gottes⸗ gericht über die Kultur der Völker, ſo werden aber gewiſſe

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formale Grundeigenſchaften der Kulturgeſinnungen und Be⸗ tätigungen, die als Grundbeſtimmungen des nationalen Geiſtes auch andere Betätigungsrichtungen mit umfaſſen zum Beiſpiel auch Wirtſchaft, Technik und Kriegführung der Armee, als unmittelbare ſieg⸗ und niederlagebeſtim⸗ mende Faktoren bedeutſam. Die deutſche unvergleichliche Standhaftigkeit in der Kriegführung und die Unermüdlich⸗ keit in der Verfolgung des Feindes bis zu feiner vollen Auf: reibung wie fie ſchon die Vernichtungstheorie von Clauſe⸗ witz lehrt iſt dieſelbe Kraft, die ſich in den ungeheuren Werken Mommſens und L. von Rankes, in dieſer unver: gleichlichen Zähigkeit in der Verfolgung ergriffener Zwecke und der Gründlichkeit ihrer Ausführung Form gegeben hat; eine gewiſſe geiſtige Schwerbeweglichkeit und eine zu große Liebe zum Methodiſchen im Gegenſatze zu jener Eigenſchaft, die ſich in den Franzoſen in den Wiſſenſchaften als „Ingenio⸗ ſität“, im Kriege als kühner Angriffsgeiſt und Vorliebe für die offene Feldſchlacht, aber ohne nachhaltige Kraft, einen ge⸗ wonnenen Vorteil gründlich auszunützen, äußert, charakteri⸗ ſiert Wiſſenſchaft wie Kriegführung der Deutſchen. Die franzöſiſche Vorliebe zur Deduktion aus wenigen Prinzipien und zur „Klarheit“, auch auf Koſten der Fülle der Realität in den Wiſſenſchaften, beſitzt eine tiefe Analogie mit der Tendenz der franzöſiſchen Kriegsführung, die Ereigniſſe auf den Erfolg einer Hauptſchlacht zuzuſpitzen. Eine Maxwell⸗ ſche Abhandlung dagegen, die höchſt undurchſichtig ihre Er⸗ gebniſſe von allen möglichen getrennten Reihen von Einzel⸗ daten her gewinnt; die nicht Wahrheit, ſondern eine zweck⸗

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Anregungen zu erteilen“, wie Maxwell hinſichtlich der „Bilder“ in ſeinen Arbeiten zur Elektrizitätslehre ſagt, hat die tiefſte Analogie mit der alten engliſchen Kriegsführung, die Erfolge durch Summierung vieler kleiner Erfolge an den verſchiedenſten Punkten der Operationsbaſis zu erreichen und dem ganzen Krieg nur einen utiliſtiſchen Zweck unterzulegen. (Vgl. den Anhang über den engliſchen cant.) Über den Wert eben dieſer formalen umfaſſenden geiſtigen Grundeigenſchaften, die zuſammen mit den analogen moraliſchen den „Geiſt“ der Völker ausmachen, ſpricht der Kriegserfolg aber gerade an erſter Stelle ſein Urteil. Und das iſt viel wichtiger noch als jenes Urteil, das er über Wiſſenſchaft und Technik eines Volkes inſofern fällt, als dieſe, wie Mechanik, Ingenieur⸗ kunſt, die Kriegswiſſenſchaften ſelbſt, Befeſtigungslehre, Stra⸗ tegie, Taktik, Waffentechnik, mediziniſche Wiſſenſchaft und

Technik, unmittelbar die Ereigniſſe und den Geſamteffekt be⸗

einfluſſen. a | Allen dieſen Faktoren, über die der Krieg zu Gericht fit,

übergeordnet ſind aber die vitalen und moraliſchen Gemüts⸗

und Willenskräfte der Nationen, beide in letzter Linie

bedingt durch ihre religiöſe Glaubenstiefe. Wie die techno⸗

logiſche Geſchichtsauffaſſung, die den Kapitalismus aus der Maſchine, die Denkformen einer Zeit aus ihren Arbeits⸗ formen, die religiöſen Gegenſtands⸗Ideen mit Uſener aus dem Kult, die Kunſtſtile aus wechſelndem Material und Technik (Semper), den Stil des Dramas aus der Theater⸗ und Regiekunſt uſw. ableitet, auf jedem Gebiete gleich ver⸗ kehrt und irrig iſt, fo iſt fie es auch da, wo fie die innere Heeresorganiſation und ihren Wandel ſowie den Erfolg der

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Kriege aus dem Stande der Waffentechnik reſpektiv deren Höhe und Artung ableiten will. Das Rittertum iſt nicht durch die Schießwaffe zugrundegegangen, wie Delbrück in ſeiner Geſchichte der Kriegskunſt eingehend nachgewieſen hat.! Unſer ſogenannter „großer Brummer“ iſt eine vorzügliche Sache, aber Sieg und Niederlage entſcheidet nicht er viel eher die Geſamterfolge derjenigen Geſinnung, die uns ſo lange über dieſen Beſitz ſchweigen ließ und ihn den Kapitalintereſſen der Waffeninduſtrie zuwider, für unſer eigenes Heer aufſparte. Allen dieſen Dingen aber, Kriegstechnik und Heeresorgani⸗ ſation geht als ſie formend voran der geſamte Vitalcharakter und Vitalwert des Volkes oder der Nation.

Vor allen Schulmeiſtern denen der deutſche Gelehrte nicht nur bei „Auſterlitz“ eine allzuhohe Bedeutung anzu⸗ weiſen liebt beſtimmen die Mütter den Ausgang der Schlachten. N

Die römiſche Matrone ein Typus, der im zweifachen Gegenſatz zur griechiſchen Köchin und Gebärmaſchine wie zur Hetäre ſteht iſt eines der Fundamente des Imperiums geweſen. Das Übergewicht des Fortpflanzungswillens über den individualiſtiſchen Willen zur Luſt, das ſchon Tacitus der deutſchen Jungfrau nachſagt, iſt eines der Fundamente aller germaniſchen Eroberungen. Sie ſuchte „in der Wahl des Mannes den künftigen Vater“, nicht umgekehrt im Kinde eine bloße Erinnerung an den Geliebten wie ſo ausgeprägt die modern⸗franzöſiſche Frau. Das Grundverhältnis zwiſchen Mütterlichkeit und Hetärismus innerhalb des Frauentums eines Volksganzen und hier zuerſt der herrſchenden Schich⸗ ten kommt ebenſo unmittelbar in Qualität und Quan⸗

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tität des Bevölkerungswachstums mit deren fundamentaler Bedeutung für das Heeresmaterial, wie in den moraliſchen Eigenſchaften der Art und Tiefe der Kinderliebe ſowie der Opferfähigkeit der Frauen zum Ausdruck, mit der fie ihre Gatten, Geliebten, Kinder uſw. „gerne“ oder „ungerne“ in den Krieg ziehen laſſen und ſich bei Heilung der Schäden und Wunden, die er brachte, intenſto oder weniger intenſto be: teiligen. Es beſteht ein tiefer innerer Zuſammenhang zwiſchen dem franzöſiſchen Zwei- und Dreikinderſyſtem und dem Ruf der franzöſiſchen Frauen à bas la guerre! Die franzöſtſche Frau empfindet ſelbſt dunkel mit dem feinen Vorgefühl des Weibes daß der Spruch des Krieges gegen ſte und ihre Kinder und Gatten ausfallen muß. Der ſittlich ſehr hochſtehende Frauentypus der Franzöſin wie gegen ſolche geſagt ſei, die ſich ihren Begriff an der Pariſer Ehebruchs⸗ komödie oder auf den Boulevards zurechtgemacht haben iſt trotz ſeiner geradezu ſelten innigen und zärtlichen Kinder⸗ liebe weit weniger „mütterlich“ als die deutſche Frau. Es iſt zuviel Geiz und Individualismus auch in dieſer Kinderliebe, der Geiz und Individualismus der Schwäche und des mangeln⸗ den Fortpflanzungswillens; derfelbe Geiſt, der in Frankreich auf ökonomiſchem Gebiete das Heer der „kleinen Sparer“, das Kleinrentnertum, ſowie den maßloſen Andrang an die Staatskrippe hervorbringt. Das Kind wird um des Ge⸗ liebten im Manne willen, nicht der Mann als Vater des Kindes geliebt; und dieſe zärtliche und verzärtelnde Kinder⸗ liebe, die ganz nur auf die Individualität des Kindes ge⸗ richtet iſt, läßt der Franzöſin, wenn zwei bis drei Kinder da ſind, ein weiteres Kind ſchon als Beraubung der vorhandenen

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an Liebe und Erbeigentum erſcheinen. Wie könnte ſo dieſer Typus denſelben Willen zum Opfer auch des Mannes, des Geliebten, des Kindes hervorbringen, der die Frau kriegeriſcher Völker auszeichnet? Die Mütter der für das Vaterland ge⸗ fallenen Spartaner feierten ein Freudenfeſt, daß es ihnen ver: gönnt war, die Helden zu gebären, die fürs Vaterland ſterben durften. Dies erſcheint auch uns als „barbariſch“ und im entgegengeſetzten Sinne als unweiblich. Und doch iſt der deritſche Typus dieſem ſpartaniſchen noch näher als dem fran⸗ zöſiſchen. Die höhere Opferkraft der deutſchen Frau iſt die Opferkraft des größeren verſchwenderiſcheren Lebens nicht Kälte, Temperamentsloſigkeit oder Leidenſchaftsmangel, wie man es ſich in Frankreich auslegt. Alſo muß auch der Krieg über die Frau fein furchtbares Gericht halten! Und er hält damit gleichzeitig Gericht über das Erziehungsſyſtem in der Familie und ſekundär auch über die Schule und ihren Geiſt.

Über allen dieſen vitalen Faktoren aber zuſammen ſteht als der letzte Faktor der Entſcheidung die Größe und Tiefe der ſittlichen Opferkraft des Volkes oder der Nation, die ſich für ihre Freiheit und Selbſtändigkeit einſetzt. Was alle anderen Faktoren inſpiriert, was die Vehemenz des Angriffes, die Standhaftigkeit in der Verteidigung beſtimmt, was auch den ſchwächeren Willen ſtark und gerade macht, was den Geiſt beflügelt und ökonomiſch durchhalten läßt, das iſt ſchließlich die Geſamtfülle der Liebe, die unter den Gliedern der Nation gegeneinander, die zu ihrem Eigentümlichen des Landes, der Sitte, der Geiſteskultur gegenwärtig und kräftig iſt. Von dieſer Liebe iſt auch die Opferkraft die abhängige Funktion. Sieg gibt der Gott der Liebe den Liebenden. Die Größe des

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Willens zum Siege und die Tiefe des echten Glaubens und Wer: trauens auf die eigene Kraft, die im Kriege ſo weſentliche Mit⸗ urſachen des Geglaubten werden, ſind wieder ganz abhängig von dieſem erlebten Opfernkönnen in jeglicher Hinſicht. Dieſe Opfer⸗ macht iſt überlegen aller Vehemenz jenes vitalen Mutes, der die Gefahr verachtet, weil er ſie nicht ſieht oder ihr Sehen ſtumpf und automatiſch unterdrückt; überlegen auch jenem Mute, der den mongoliſchen japaniſchen Barbaren treibt, da er noch kein Gefühl für die Individualität und ihren ewigen Wert hat, da ſein „Ich“ noch im „Wir“, ſeine Perſon noch im Stammes⸗ gefühl ertrinkt. Sie erſt erhöht den zuſtändlichen „Mut“ zu geiſtesbeſeelter bewegter Kühnheit und zu ſittlicher, das heißt die Gefahr klar ſehender und die Furcht bewußt unterdrückender, die Dauer eines ganzen Feldzugs aushaltender Tapferkeit des Willens. Erſt durch fie hindurch werden auch Ehrgeiz und Ruhmbegier der Führer oder hiſtoriſcher Regimenter, die partikular wirkend ſo häufig um den Sieg betrogen haben und auch Söldner beſeelen können, zu fruchtbaren Motiven.“

Hier erſt wird die Idee des Krieges als Gottesgericht völlig klar. Iſt Gott ein Gott der Liebe, ſo wird er auch dem Volke den Sieg geben, in dem die Liebe die reichſte, die tiefſte, die hochgeartetſte iſt!

Und eben hier wird wieder der Genius des Krieges wie von ſelbſt zur Religion zum Führer zu Gott. Er wird es auch für den vorher Ungläubigen; denn die Opferkraft, die ſo aus der Liebe geſpeiſt in der Seele emporwuchs, ſie iſt zu groß, ſie iſt zu maßlos, als daß ſie der Verſtand aus der Summe natürlicher begrenzter Motive voll begreifen könnte, die er vor ſich ſteht und auf ihre Kraft hin zuſammenzählt. Das

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erlebte Emporquellen diefer Opferkraft aus der Seele Wurzeln lenkt das verwunderte Auge von ſelbſt auf einen tieferen und univerſelleren Urſprung zurück als ihn das Bewußtſein der eigenen natürlichen Kräfte und der dieſe Kräfte anziehenden Gegenſtände und Inhalte bietet. Das Maßloſe fordert eine maßloſe Quelle! Und indem das geiſtige Auge dem Urſprung dieſer Quelle, in ihre Tiefe nachgeht und ihn weiter und weiter mit dem Blicke verfolgt, gewahrt es wie von ſelbſt das Meer von Gnade und Liebe, das die Seele ſpeiſt und in dieſem Meere die Gottheit! Im Frieden gewahren ſie nur wenige; und die Mehrzahl „glaubt“ nur an fie. Jetzt aber gewahren fie viele, und viele zum erſten Male, um ihrer nie wieder vergeſſen zu können. Damit aber wird das Gottesgericht des Krieges Erlebnis. | Wenn ich hier die Wurzeln aufwies, die der echte Krieg in das metaphyſiſche Erdreich unſeres Daſeins hineinerſtreckt, ſo ſoll dies durchaus keinen rein hiſtoriſch⸗empiriſchen Sinn haben, als ſei es eine Ausſage von allen Erſcheinungen der Geſchichte, die man „Kriege“ nennt. Wir ſprachen allein von jenem Weſen des Krieges, jener der Anſchauung zugänglichen Idee des Krieges, die auch die Vorausſetzung des möglichen Ver⸗ ſtändniſſes aller hiſtoriſchen Kriege iſt nicht aber eine Folge dieſes Verſtändniſſes. Von derfelben Idee des „abſoluten Krie⸗ ges“ war die Rede, die auch Clauſewitz ſeinen Erörterungen zugrunde legt. Dabei bleibt die Tatſache voll beſtehen, daß der Zufall in allen wirklichen Kriegen eine ungeheure Stelle beſitzt und noch mehr die andere: daß es neben dem „gerechten Krieg“ auch ungerechte, ja verbrecheriſche Kriege in der Ge: ſchichte gibt, die als Gottesgericht aufzufaſſen Sünde wäre.

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Was den „Zufall“ als Sieg oder Niederlage beftimmen- den Faktor betrifft, ſo iſt aber dies offenſichtlich, daß ſeine Be⸗ deutung in der Geſchichte der Entwicklung des Krieges bis zum modernen Volks⸗ und Maſſenkrieg immer geringer und geringer wird. Die größte Rolle ſpielt der Zufall offenbar im Zweikampf, deſſen Ausgang als „Gottesgericht“ anzuſehen eben deswegen frivol wäre. Er ſpielt auch eine um ſo größere Rolle, je kleiner die Heere, je ungleichförmiger Zinilifation und Kriegstechnik zwiſchen den Völkern verbreitet ſind, je mehr ein einziges, reſpektive ganz wenige, nicht eine große Gruppe verſchieden gearteter Zuſammenſtöße das Ende des Krieges ent: ſcheiden; je eingeſchränkter der Kriegszweck, je beziehungsloſer die Lebensfaktoren (Wirtſchaft, Kultur, Ziviliſation, Organi⸗ ſation uſw.) im Leben der Völker noch zu einander find, die ſeinen Ausgang beſtimmen. Je mehr ſich dieſe Momente in die Richtung der modernen Nationalkriege wie ſie ſich ſeit Mapoleons Auftreten geſtalteten abändern, deſto ge⸗ ringer wird relativ die Rolle des Zufalls; deſto mehr heben einander zugleich die noch vorhandenen „Zufälle“ bei Freund und Feind einander auf. Das heißt aber auch: Ein deſto gerechteres Maß wird der faktiſche Krieg für Wert und Höhe des Ganzen der nationalen Geiſtes⸗, Gemüts⸗ und Vitalkräfte. So „wird“ der Krieg ſelbſt im Laufe der Ge⸗ ſchichte, kraft ſeiner eigenen Entwicklung auch de facto immer mehr die immer gerechtere Realiſierungsform einer höheren Rechtsordnung; einer höheren, als diejenige iſt, die menſchliche Rechtsinſtitute je verwirklichen können, d. h. er wird em⸗ piriſch immer mehr das, was er ſeiner Idee nach iſt und ſein ſoll.

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Der gerechte und ungerechte Krieg

unterſchieden werden und das Recht dieſer Unterſchei⸗

dung ſowohl gegen ſolche gewahrt werden, die wie Hegel oder in der Richtung des Schillerſchen Worres „die Weltgeſchichte iſt das Weltgericht“ zu pantheiſtiſchen AUn- betern des bloßen Erfolgs und zu Glorifikatoren des pofitiven Geſchichtsverlaufs werden, als gegen ſolche, die den Krieg überhaupt als eine „Form menſchlicher Ungerechtigkeit“ an⸗ ſehen und darum den Begriff des „gerechten Krieges“ nicht kennen. Für jene ſind ſchließlich alle Kriege, für dieſe keiner „gerecht“. Will man ſagen, ob ein Krieg „gerecht“ ſei, ſo darf man indes nicht etwa die ſogenannten „Rechte der Parteien“ abwägen und je nach Ausgang dieſer Erwägung es gerecht oder ungerecht nennen, daß dieſe Partei ange: griffen hat oder ſich verteidigt. Wäre dieſe Feſtſtellung der Rechte der Parteien überhaupt vor der Kriegsentſchei⸗ dung möglich, ſo hätte ja der Pazifizismus a priori recht und es bedürfe nicht notwendig des Krieges zur Feſtſtellung dieſer Rechte. Ob ein Krieg gerecht oder ungerecht iſt, das iſt auch nicht darnach zu entſcheiden, wer Angreifer und wer Vertei⸗ diger war und auf welche Weiſe es zur Erklärung des Krieges kam. Die Urſachen der Kriegserklärung ſind niemals die Ur—

E muß aber der gerechte und der ungerechte Krieg ſcharf

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fachen des Krieges, ſondern höchſtens die Urſachen feiner Termin: und Zeitbeſtimmung. Wer Angreifer und Vertei⸗ diger war, läßt ſich in zahlloſen Fällen überhaupt nicht ſicher feſtſtellen; hängt aber, wo es feſtſtellbar iſt, häufig von zu⸗ fälligen Umſtänden ab; gibt aber auch da, wo dies nicht der Fall iſt, keineswegs das Recht, etwa generell den Angriffs⸗ krieg ungerecht, den Verteidigungskrieg gerecht zu nennen.“ Das Volk hat immer die Neigung, den Verteidigungskrieg gerechter zu finden. Aber ohne tieferen Grund. Haben das, im Verhältnis zu einem anderen Staate beſchleunigte An⸗ wachſen der Macht eines Staates oder der Machtniedergang, reſpektive die innere Korruption des angegriffenen Staates, oder haben Urſachen, die während des Friedens wirkten und die dem angegriffenen Staate Vorteile, Gebietserweiterungen uſw. verſchafften, die ſeiner Macht und ſeinen politiſchen Herr⸗ ſchaftskräften nicht entſprechen, eben darum aber nach höherer Gerechtigkeit „ungerecht“ ſind wie immer ſie das formelle hiſtoriſche Recht für ſich in Anſpruch nehmen mögen ſo kann der Angriffskrieg durchaus der Gerechtigkeit entſprechen.“ Die Karthager z. B. verdienten die von ihnen im Laufe des Fortſchritts ihrer Handelspolitik annektierten Gebiete nicht zu behalten, da ſie keinerlei Fähigkeiten beſaßen, ſie politiſch zu organifieren und zu verwalten und da fie keine höhere Geiſtes⸗ kultur hinter ſich hatten. Iſt andererſeits das Machtverhält⸗ nis der angegriffenen Partei zur angreifenden Partei ſchon vor dem Kriege völlig klar, iſt ſie ſich z. B. heimlich ihrer Ohnmacht und mangelnden Kriegsbereitſchaft gewiß, ſo kann auch der Verteidigungskrieg als ſinn⸗ und zweckloſe Hin⸗ opferung von Menſchen ungerecht und verbrecheriſch ſein.

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Wäre der Angriffskrieg generell ungerecht, fo müßte da jeder Krieg einen Angreifer vorausſetzt, ja ſchließlich auch jeder Krieg „ungerecht“ ſein.

Ob ein Krieg gerecht oder ungerecht iſt, bemißt ſich viel⸗ mehr allein und ausſchließlich nach zwei Maßſtäben: Nach der Art und Natur der zum Kriege führenden Gegenſätze und nach der Echtheit und wahren Provenienz des Willens zum Kriege in den beteiligten Völkern, Staaten, Nationen, Kulturkreiſen. Die Gegenſätze müſſen kriegs gewichtig fein und es muß der Krieg den echten Gemeinwillen (der „vo- lonte generale“, nicht der „volonte de tous“) der We Völker und Nationen entſprechen.

Die primäre Bedingung iſt hierbei die Kriegsgewichtigkeit der Gegenſätze. Kriegsgewichtige Gegenſätze ſind es, wenn es ſich um die Exiſtenz, die politiſche Selbſtändigkeit und Frei⸗ heit des Staates (abſoluter Krieg)“, in zweiter Linie um um: ſchriebene Rechte, die ſeiner faktiſchen Macht entſprechen, in dritter Linie um Bewahrung ſeiner internationalen Ehre und ſeines „Preſtige“ handelt (Formen des relativen Krieges). Gegenſätze, die ſich nicht unmittelbar oder mittelbar auf dieſe Werte beziehen, oder aber, obzwar von Hauſe aus anderer Ma⸗ tur (3. B. ökonomiſche, Raſſen⸗, Religions⸗ und Glaubens⸗ gegenſätze), im Verlauf der hiſtoriſchen Dinge die genannten Werte in eine, ihrem Weſen entſprechende Mitleidenſchaft ziehen, können, da ſie eine andere Form von Schlichtung der Gegenſätze fordern wie erlauben als die kriegeriſche Form, nie⸗ mals zu „gerechten Kriegen“ Anlaß geben. So ſind generell „ungerecht“ alle bloßen Handelskriege, alle puren Raſſenkriege und Glaubenskriege, alle reinen Kulturkriege und generell alle

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ſogenannten „Präventiokriege“.“ Kriege aus rein ökonomi⸗ ſchen Gründen verſuchen die Kampfform des Krieges an Stelle der den ökonomiſchen Werten allein entſprechenden, Kampfform der freien Konkurrenz und handels- und zoll⸗ politiſcher Maßregeln zur Erziehung der Induſtrie oder Prohi⸗ bition zu ſetzen. Sie hemmen damit die ökonomiſche Entwick⸗ lung der Menſchheit, der Grundbedingung einer ſtetigen Befreiung des Geiſtes. Dazu widerſtreiten ſie dem evidenten Vorzugsgeſetz, daß menſchliche Vitalwerte ſolchen des Nutzens vorzuziehen ſind. Indes iſt natürlich nicht aus⸗ geſchloſſen, daß ökonomiſche Gegenſätze auch die kriegsge⸗ wichtigen Gegenſatzarten in weſentliche Mitleidenſchaft ziehen. Das iſt zum Beiſpiel überall da der Fall, wo die Armut oder die qualitativ zu partikulare Ausſtattung und enge Begrenztheit der durch Eigenproduktion herzuſtellen⸗ den Güterarten und mengen eines Staatsterritoriums im Verhältnis zu feiner Bevölkerungsmenge deſſen Ernährung während eines möglichen Krieges, der durch gewichtige Gegen⸗ ſätze ausgelöſt wäre, grundſätzlich in Frage ſtellt. Da dies z. B. für Englands Inſeln in weitem Maße zutrifft, ſo ſind die engliſchen Handelskriege nicht generell ungerecht. Hier nimmt die Form des Exiſtenzkrieges wie von ſelbſt häufig die Form eines Handelskrieges an. Generell ungerecht ſind weiter alle bloßen Glaubenskriege, alle Verſuche, alſo eine Religion oder einen Glauben durch die Gewalt der Waffen anſtatt durch friedliche Miſſion und Überzeugung zu verbreiten. Nur in dem Maße, als die Staatsform ſelbſt theokratiſchen Charakter trägt, wird der Krieg eines ſolchen Staates gerecht; und nur ſeine Staatsform ſelber iſt dann von einer höheren Moral und

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Religion aus verwerflich. Der fogenannte „heilige Krieg“ der mohammedaniſchen Welt iſt hiernach zu beurteilen. Nicht min⸗ der iſt der Raſſenkrieg ungerecht; er iſt es ſchon darum, da er nur als Vernichtungskrieg einen möglichen Sinn beſitzt und jeder Vernichtungskrieg (nicht des Staates, ſondern der Menſchen) ungerecht iſt; er iſt es auch darum, weil er an Stelle der Kampfform der inſtinktiven Liebeswahl und konkurrenz und der auf ihren Wahlfaktoren beruhenden Blutmiſchung, welche allein die, günſtigſte Miſchungen verſprechende Selektions⸗ und Steigerungsart der Raſſenwerte darſtellt, die ganz ungeeig⸗ nete Form des Krieges ſetzt. Er iſt es endlich, weil er gleich: zeitig Weſen und Würde des Staates prinzipiell verneint, deſſen Aufgabe eben darin mitbeſteht, Menſchengruppen verſchiede⸗ nen Blutes zur Einheit eines geiſtigen Willens zu vereinen und die Gewalt der bloßen Blutsgegenſätze durch ſeinen ſitt⸗ lichen Willen zu bändigen. Ungerecht wäre auch ein Kultur⸗ krieg, das heißt ein Krieg, bei dem geiſtige Kulturgegenſätze die unmittelbar kriegsbeſtimmenden Urſachen wären und die Gegner auf die Vernichtung der gegneriſchen Kultur abzielten. Denn nicht der Krieg, ſondern die friedliche Solidarität im Auf bau der Kultur (nicht alſo wie bei den ökonomiſchen Werten die internationale Konkurrenz) iſt die Form und die weſenhafte Kraft aller Kulturförderung. Die ökonomiſchen, ziviliſatoriſchen und die Raſſengegenſätze laſſen ſich unter den Begriff der „kriegsuntergewichtigen“, die Glaubens- und Kulturgegenſätze unter den Begriff der „kriegsübergewich⸗ tigen“ Gegenſätze zuſammenfaſſen, beides Arten der „kriegs⸗ nichtgewichtigen Gegenſätze. Alle mögliche Ausbildung von internationalen Rechtsinſtituten kann nur darauf abzielen, die

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kriegsnichtgewichtigen Gegenſätze zu ſchlichten und gleichzeitig zu hindern, daß ſolche Gegenſätze für die Entſtehung von Kriegen beſtimmend werden. Das heißt ſie haben nicht den Krieg je zu erſetzen, ſondern den ungerechten Krieg zu verhüten. Ungerecht iſt generell aber auch jeder Präventiokrieg, da aller hiſtoriſche Hergang ein einmaliges Geſchehen iſt, alſo ſeiner Natur nach jede Berechnung nach Naturgeſetzen ausſchließt. Auch Fürſt Bismarck hat den Präventiofrieg mit Recht generell als „verbrecheriſch“ verworfen. Jede Art, ihm ein ſittliches Recht zu vindizieren, ſchlöſſe eine unſittliche Bevor⸗ rechtung des älteren Staates vor dem jungen Staate und da⸗ mit das Recht zu einer prinzipiellen Einſchränkung und Ab⸗ tötung der in der Menſchennatur gelegenen Mannigfaltig⸗ keiten von Entwicklungsmöglichkeiten in ſich und eben damit eine ſittliche Rechtfertigung eines ſtarren, tödlichen, allgefräßi⸗ gen Konſervativismus in der Welt. Völlig verkehrt wäre es aber andererſeits, die präventive Kriegserklärung mit dem Präventiokrieg zu verwechſeln. Die präventive Kriegserklä⸗ rung beſtimmt ja nicht den Krieg, ſondern nur ſeinen Zeit⸗ punkt präventio und ſetzt voraus, daß man das Daſein ſchon beſtehender kriegsgewichtiger Gegenſätze (nicht erſt künſtlich zu ſchaffender) kenne, außerdem aber den Krieg um ihretwillen in der Willensrichtung der beteiligten feindlichen Staaten gelegen

wiſſe. Die präventive Kriegserklärung iſt daher unter Um⸗

ſtänden ein an ſich völlig gerechtes Vorgehen. Unſer gegen⸗ wärtiger Krieg wäre alſo auch dann gerecht und „Verteidi⸗ gungskrieg“, wenn wir unſererſeits jetzt zum Kriege gedrängt hätten; denn wir kannten die Pläne unſerer Feinde, die franzöſiſch⸗engliſchen und belgiſchen Pläne und militäriſchen

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Abmachungen bezüglich der Entſendung eines englifchen Ex⸗ peditionskorps nach Belgien vom Jahre 1906, ſeit Juni 1914 die engliſch⸗ruſſiſchen Oſtſeeabmachungen und die Natur des franko⸗xuſſiſchen Bündniſſes genau; es wäre nur ein Gebot der Klugheit geweſen, nicht auf den weiteren Ausbau des durch den japaniſch⸗ruſſiſchen Krieg geſchwächten ruffifchen Heeres und die Ausführung der beſchloſſenen dreijährigen Dienſt⸗ zeitgeſetze in Frankreich zu warten. |

Die zweite Bedingung für den gerechten Krieg ift der Be⸗ ſtand eines echten Gemeinwillens in den beteiligten Völkern zum Kriege. Seit der Ausbildung der Volksheere, deren erſtes das Revolutionsheer Napoleons war, zuerſt in Spanien, dann in Oſterreich und Preußen (3. September 1814) iſt der Menſchheit dieſe ſittliche Forderung klar zum Bewußtſein gekommen. Alle Kabinettskriege im Stile des 18. Jahr⸗ hunderts, alle durch Ehrgeiz, Geld⸗ und Ländergier, militä⸗ riſche Ruhmſucht, Ableitungsabſicht einer revolutionären Be⸗ wegung im Staatsinnern ſeitens einer Dynaſtie oder einer ſonſtigen Regierung hervorgerufenen Kriege, aller Kriege, die bloß den Intereſſen einer Klaſſe oder bloß den politiſchen und religiöfen Forderungen einer Partei im Staate („Milli⸗ tärparteien“) entſprechen, find alſo ungerecht. Sie find de facto zum großen Teil nur heimliche unterirdiſche Bürger⸗ und Klaſſenkämpfe, die nur den Beſtand echter Kriege vortäu⸗ ſchen. Sie alle verneinen wie der ſogenannte „Bürgerkrieg“ das Weſen des Staates ſelbſt in dem betreffenden Staate. Indes beſagt die obige Anforderung an einen „gerechten“ Krieg nicht, daß die Majorität, auch nur die Majorität der Waffenberechtigten in einem Staate, ausdrücklich für den

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Krieg und nicht gegen denſelben öffentlich eintreten müſſe. Der „Gemein“ wille des Volkes iſt weder notwendig der Wille oder gar der ausdrückliche Wille „aller“, noch der Wille und ausdrückliche Wille der Majorität ſeiner Staats⸗ bürger. Es iſt vielmehr derjenige Wille, der in der erlebten (darum nicht notwendig „gewußten“) hiſtoriſchen Kontinni⸗ tät der faktiſchen Strebungsrichtungen (nicht „Willens⸗ zwecke“) des Volkes oder der Nation als einer realen Strebens⸗ einheit liegt;“ und es iſt die Staatsverfaſſung, die aus der⸗ ſelben Geſamtſtrebensrichtung geboren, beſtimmt, in welcher Form dieſer Gemeinwille und ſein auf Krieg oder Nicht⸗ krieg zielender Inhalt feſtzuſtellen ſei. Nach unſerer Reichs⸗ verfaſſung iſt der Kriegserklärung durch den deutſchen Kaiſer zugleich die prinzipielle Bedeutung vindiziert, den Gemein⸗ willen des deutſchen Volkes zum Kriege feſtzuſtellen und zu vollziehen. Indes kann natürlich auch ein formell verfaſſungs⸗ mäßig feſtgeſtellter Gemeinwille dem wahren Gemeinwillen des Volkes nicht entſprechen; ſei es, daß die faktiſche Ver⸗ faſſung ſelbſt dem faktiſchen Gemeinſtreben nicht mehr ent⸗ ſpricht, ſei es, weil die verfaſſungsmäßigen Rechte der zur Kriegserklärung berechtigten Inſtanz einem Mißbrauch für anderweitige partikulare Zwecke als zur Abwägung der Kriegsgewichtigkeit der Gegenſätze und zur Feſtſtellung des Gemeinwillens unterworfen wurden. All dies kann im Einzel⸗ falle nicht auf juriſtiſche Weiſe, ſondern nur hiſtoriſch und moraliſch feſtgeſtellt werden. Nicht notwendig iſt in der For⸗ derung der Übereinftimmung des Kriegswillens mit dem Ge⸗ meinwillen eingeſchloſſen, daß der Krieg auch „populär“ ſein müffe. Denn die ſogenannte „öffentliche Meinung“ und

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ihr Ausdruck in der Preſſe find durchaus nicht notwendig adäquate Ausdrucksformen des echten Gemeinwillens. Wenn die für uns ſelbſt ſo ſonnenklare Tatſache, daß auf unſerer Seite die Führung des Krieges dem deutſchen Gemeinwillen entſpricht, heute im geſamten Ausland mit Einſchluß der neutralen Staaten einen ſo ſeltſam geringen Glauben findet; wenn ſeitens der Geiſtesführer und des weit überwiegenden Teiles der Preſſen faſt der ganzen anderen Welt fortwährend die Behauptung ausgeſprochen wird, es ſei das deutſche Volk wider ſeinen innerſten Willen durch eine preußiſche Kriegs⸗ und „Militärpartei“ zum Kriege gezwungen oder ſuggeriert worden, und man müſſe nicht nur ſich ſelber, ſondern auch das deutſche Volk „retten“ vor „Potsdam“ und dem preußiſchen „Militarismus“, ſo iſt es nicht ausſchließlich Böswillig⸗ keit der Gegner, was zu dieſem Vorwurfe geführt hat. Es iſt vielmehr der prinzipielle Fehlſchluß von dem Inhalt der „öffentlichen Meinung“ und des größten Teiles der deutſchen Preſſe der letzten Jahre vor dem Kriegsausbruch hinſichtlich unſerer moraliſchen Kriegsbereitſchaft und des eventualen Kriegswillens auf die faktiſche moraliſche Kriegsbereitſchaft und den faktiſchen deutſchen Gemeinwillen. Das Ausland kann die Größe des Unterſchiedes der öffentlichen Meinung vor dem Kriege und jetzt nicht begreifen: So wenig brachte alſo Preſſe und öffentliche Meinung den Gemeinwillen des deutſchen Volkes Jahre hindurch zu adäquatem Ausdruck!

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1. Seine Gerechtigkeit

er ruhig prüft, ob der gegenwärtige Krieg in II dieſem ſcharf beſtimmten Sinne ein „gerechter

Krieg“ iſt, der wird ihm meiner Überzeugung nach dieſen Titel als Einheit eines Krieges nicht verweigern können. Nur wer ſolche Prüfung ernſthaft nicht anſtellen will, wer nicht aufhört die Rechte (und das Rechtsbewußt⸗ ſein) der kriegführenden Parteien, die ja eben der Krieg erſt durch Tat gottesgerichtlich entſcheiden ſoll, mit der „Ge⸗ rechtigkeit ! des Krieges, als Geſamterſcheinung, zu verwech⸗ ſeln; oder wer fälſchlich die Gerechtigkeit des Krieges mit der Frage gleichſetzt, auf welche und ob auf rechtmäßige oder auf unrechtmäßige Weiſe es zur Erklärung und zur zeitlichen Terminbeſtimmung des Krieges gekommen iſt, nur der kann meines Erachtens dieſe Frage verneinen.

Ich leſe faſt jeden Tag Reden und Erklärungen von Männern, die man mit mehr, weniger oder gar keinem Recht zu den deutſchen Geiſtesführern zählt, daß dieſer Krieg im Kern ein ganz „ungerechter“ fei, da er „Intrigen und Wort⸗ brüchigkeiten einer ruſſiſchen Kriegspartei“, „engliſchem Ver⸗ rat“ uſw. fein Daſein verdanke; daß er uns wider alles Recht „aufgezwungen“ ſei und wir mitten im Frieden ſozuſagen an gar nichts Böſes denkend von unſeren Feinden „räuberiſch überfallen“ und ſo zur „Notwehr“ gezwungen worden ſeien.

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Ich kann nicht finden, daß eine folche einſeitig juriſtiſche oder ſubjektiv moraliſche Frageſtellung und Auffaſſung der Größe und Würde des ungeheuren Ereigniſſes mit feinen beifpiel- loſen Opfern entſpricht. Noch weniger kann ich finden, daß fie mir und irgendeinem mir ähnlich empfindenden deutſchen Soldaten irgendwelche höhere Befriedigung gewähren könnte. Ich ſehe nicht, wie die klägliche, notige Lage, in die ich durch den Überfall eines gemeinen Räubers verſetzt werde, wie einen ſolchen „Notwehrkampf“ irgend ſo etwas wie Begeiſterung oder auch nur das Gefühl, für eine erhabene Sache zu kämpfen, ja irgendeine Art höherer Befriedi⸗ gung überhaupt begleiten könnte. Das klägliche Gefühl, die Beute eines Verbrechens zu ſein, mag den unfruchtbaren Affekt moraliſcher Entrüſtung erwecken, auch wohl ver⸗ zweifelten Widerſtand bewirken. All die erhabenen Empfin⸗ dungen, die einen ritterlichen Krieg begleiten, in deſſen Be⸗ wegung die Weltgeſchichte einen fühlbaren Schritt weiter⸗ ſchreitet, ſchließt dies Gefühl mit Sicherheit aus. Der Gedanke, durch jene gemeine Not, die auch die furchtſamſten Tiere, z. B. die Wölfe, angriffsluſtig zu machen pflegt, ge⸗ zwungen zu ſein, in einem ungerechten Kriege die Waffen er⸗ greifen zu müſſen und für Erhaltung der nackten „räuberiſch“ bedrohten „Exiſtenz von Weib und Kind“ das eigene Selbſt und ſeine Lebensarbeit aufs Spiel ſetzen zu müſſen, könnte nur das äußerſte Gefühl der Tragik und der Sinnloſigkeit alles Lebens in mir hervorrufen. Denn gibt es ein ſchreck⸗ licheres Gefühl als durch gemeine Not gezwungen zu ſein, ſich an einer ganz ungerechten verbrecheriſchen Sache beteiligen zu müſſen, die dann ja durch beſſere Staatsleiter und eine klügere

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Diplomatie leicht hätte vermieden werden können, alfo auch wenn Herr Grey ein anſtändigerer Menſch und der Zar weniger ſchwach gegen ſeine Großfürſten geweſen wäre? Für nichts als ein „Malheur“ die ungeheuren Opfer an Blut, Leben, Gut, Arbeit geben zu müſſen? Auch könnte es, fühlte ich mich ſelbſt ſo engelrein wie die Engel im Himmel ſelber, mich nur gar wenig befriedigen, die halbe Welt um mich herum in eine Räuber⸗ und Diebsbande verwandelt, die andere Hälfte der Welt aber zum weitaus größten Teil zu deren Werk beifällig in die Hände klatſchend zu ſehen. Sähe ich ſolch Ungeheures ſelbſt die Kraft zu moraliſcher Entrüſtung würde jenes erhabene Solidaritätsgefühl mit der Menſchheit als eines großen Ganzen, eines Ganzen, das uns zu Kindern eines Vaters macht, und das ſelbſt noch die ſitt⸗ liche Vorausſetzung jedes echten Krieges iſt, in mir verzehren. Nur ein furchtbarer Zuſammenbruch alles inneren Lebens und Glaubens, aller der Gewiſſens maße ſelbſt, nach denen ich mich ſelbſt als engelrein und die Welt als „verbrecheriſch“ anſah, ein Zuſammenbruch unter Weinen, Klagen, Trä⸗ nen, wäre die Folge dieſes neuen Bildes der Welt! Ja, ich geſtehe: Ich würde in ſolchen Kampf weniger ziehen, um mein Volk und die Meinen auch nur zu „verteidigen“, als darum, um möglichſt raſch die erlöſende Kugel zu empfangen, die mich aus einer Welt hinausläßt, die ſich plötzlich in eine ge⸗ meine Verbrecherhöhle umgewandelt hat.

Doch weg von dieſem traurig⸗kläglichem Traum gelehrter Kleinbürger und Pantoffelträger, die durch den Genius des Krieges ihren gewohnten Beſchäftigungen entriſſen nun ihre fade moraliſche Entrüſtung in eine Welt verpuffen,

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welche von denen, die nicht im Krieg mitwirken, nur eines fordert: Ehrfurcht und Stille, was ſie Großes zu gebären ſich anſchickt; die aber am allerwenigſten erlaubt, jene „höheren Rechte Deutſchlands über die Welt und gegen feine Feinde“, anſtatt ſie gläubig in der Seele feſtzuhalten, aus mora⸗ liſchen Lehrſätzen ſchon vorher zu deduzieren „Rechte“, die nur ſeine Waffen bewähren und an das Licht des Tages bringen können. Weg, du kläglicher Philiſtertraum, un⸗ würdig eines großen, mächtigen, wachſamen, kriegeriſchen Volkes! |

Dieſer Krieg ift wie felten einer ein gerechter und darum auch ein heiliges Recht findender Krieg. Laſſen wir die zweckmäßige Illuſion eines „räuberiſchen zufälligen An⸗ geiffs‘‘ denen, deren Herz es zwar noch erkennt und fühlt, daß dieſer Krieg gerecht iſt und deren tatkräftiger Wille, ihn tapfer und herzhaft zu führen, es ihnen heimlich gegen ihr eigenes Urteil bezeugt, die aber auf Grund ihrer gewohnten pazifiziſtiſchen alten Träume ihre faktiſche moraliſche Willens⸗ bereitſchaft, ihn zu führen, nur noch mit dieſer Illuſion der „Notwehr“ gegen einen „räuberiſchen Uberfall“ vor ihrem gebrechlichen Verſtande rechtfertigen können: Uns Andere aber laßt auch noch vor dem klaren Urteil des Bewußtſeins die große Tatſache ſeiner Gerechtigkeit erkennen!

Ob er gerecht oder ungerecht iſt, das entſcheidet ſich ja gar nicht nach jener oberflächlichen Entſtehungsgeſchichte ſeiner letzten diplomatiſchen und ſonſtigen Anläffe, ſondern ent⸗ ſcheidet ſich auch hier nach Art, Größe und Kriegsgewichtig⸗ keit der Gegenſätze, die in ihm treiben und die er ordnen ſoll.

Dieſer Krieg iſt gerecht ſchon darum an erſter Stelle,

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weil er ein durch und durch politiſcher Krieg ift und gar nicht an erſter Stelle durch „ökonomiſche! Urſachen beſtimmt, wie zum Teil die letzten Kolonialkriege, ein Krieg um die Macht im Herzen der Welt, ja um das Herz des Her- zens der Welt, um die Hegemonie in Europa.“ Er iſt gerecht, weil gleichzeitig höchſt charakteriſtiſche und große, hiſtoriſch be⸗ währte Kulturideen hinter den kämpfenden Mächten ſtehen.

Ganz und gar politiſch iſt nicht nur der öſterreichiſch⸗ſer⸗ biſche und der ruſſiſch⸗öſterreichiſch⸗-deutſche Krieg, ſondern auch der engliſch⸗deutſche Krieg.

Die ruſſiſche Hegemonie über die Balkanſtaaten mit dem Endziel einer Eroberung von Konſtantinopel⸗Byzanz, der Murtterſtadt ruſſiſchen Geiſtes und ruſſiſchen Glaubens, rufft- ſcher Geſellſchaftsverfaſſung, Kunſt und Sitte iſt wirklich nicht der bösartige Einfall „einer kleinen brutalen Kriegs⸗ partei“, ſondern das ſeit Jahrhunderten in der Ferne ſchim⸗ mernde Ideal des geſamten echtruffifchen Volkes und aller ſeiner großen Staatsmänner und Geiſtesführer. Seit Iwan III. im Jahre 1483 die byzantiniſche Braut heimführte den zweiköpfigen byzantiniſchen Adler über ſein altes Wappen ſetzte und damit die Pflicht auf ſich nahm, alle rechtgläu⸗ bigen Völker unter ſeinen Schutz zu nehmen gegen Muſel⸗ manen und gegen alles weſtliche ihm als ketzeriſch geltende Chriſtentum hat kein ruſſiſcher Staatsmann, kein ruſſiſcher Denker, der aus dem Geiſte ſeines Volkes ſchuf, bis zu F. Doſto⸗ jewski dieſes politiſch⸗religiös⸗ kulturelle Ideal verleugnet. Im apokryphen Teſtamente Peters des Großen war das Ziel „Konſtantinopel“ eine Hauptbeſtimmung. Im März 1877 ſchrieb Doſtojewski ſeinen Aufſatz: „Früher oder ſpäter

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muß Konſtantinopel doch uns gehören.“ Er redet unter anderem von der „Notwendigkeit der Standhaftigkeit Ruß⸗ lands in der Orientfrage und der energiſchen Durchführung jener Politik, die uns unſere ganze Geſchichte zur Pflicht ge⸗ macht hat.“ „In dieſer Angelegenheit“ ſagt er „dürfen wir Europa keine einzige Konzeſſion machen, denn hier handelt es ſich für uns um Leben und Tod.“ Faſt prophetiſch aber ſieht er voraus: „Mit einem Wort: dieſe furchtbare Orient⸗ frage das iſt in Zukunft beinahe unſer ganzes Schickſal. In ihr liegen geradezu alle unſere Aufgaben und vor allem unſere einzige Möglichkeit, in die große Geſchichte der Menſchheit einzutreten. In ihr liegt auch unſer definitiver Zuſammenſtoß und unſere definitive Vereinigung mit Europa, und zwar auf neuer, mächtiger, fruchtbarer Grundlage. Wie ſollte Europa dieſe ganze, uns vom Schickſal beſtimmte Lebensbedeutung, die für uns in der Entſcheidung dieſer Frage liegt, jetzt ſchon begreifen? Womit auch die gegenwärtigen, vielleicht notwendigen diplomatiſchen Unterhandlungen und Verträge mit Europa enden ſollten, früher oder ſpäter muß Konſtantinopel doch uns gehören, und ſei es auch erſt im nächſten Jahrhundert.“ Die ruſſiſch⸗türkiſchen Kriege des vorigen Jahrhunderts, alle unternommen unter der Debife, mehr noch die Rechtgläubigkeit als die „Slavenbrüder“ vom türkiſchen Joch zu befreien, begleitet Doſtojewski fortlaufend mit ähnlichen Bemerkungen. Und in der Tat: Alles Sehnen, alle Wirk ſamkeit der Lebensfaktoren Rußlands koinzidieren in dem Ziele: Byzanz. Die militäriſche Forderung des Aus⸗ tritts der Kriegsflotte aus dem Schwarzen Meer durch Bos⸗ porus und Helleſpont, die durch Konſtantinopel und durch

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Verträge geſperrt find; der Drang nach der Freiheit und dem weiten Atem der Meere, die Abſatzbedürfniſſe der wachſenden ſüdruſſiſchen Induſtrie, die Sicherung des Kaſpi⸗ ſchen Meeres und der Weg durch Turan nach Indien, die natürliche Sehnſucht eines ganzen Kulturgeiſtes nach ſeinem Mutterboden, ſeiner Mutterſtadt; weiter die gerade im ruſſt⸗ ſchen Volke ſo mächtige religiöskirchliche Sehnſucht nach einer vollen Konſolidierung der Rechtgläubigkeit unter dem „weißen Zaren“ als ihrem geheimen Oberherrn gegen weft: liches „Ketzertum“ wie gegen die Welt des Iſlam. Dieſer machtoolle Zug eines Rieſenvolkes war durch die ruſſtſch⸗ türkiſchen Kriege Schritt für Schritt gefördert worden; immer begleitet von größeren und kleineren Zuſammenſtößen mit den großen europäiſchen Staaten. Schon der 82 jährige Fürſt Gortſchakoff, Bismarcks ebenbürtiger Gegner, hatte ein Jahr, nachdem Doſtojewski dieſe Worte ſchrieb, im Jahre 1878 gelegentlich des Berliner Kongreſſes, der den auf Englands und Oſterreichs Betreiben geführten Krieg gegen die ruſſt⸗ ſchen Wünſche beendete, geurteilt: „Konſtantinopel muß in Berlin erobert werden.“ Erſt mit dem immer fühlbarer werdenden notwendigen Zuſammenſtoß mit den öſterreichiſchen Expanſtons⸗ und Handelsbeſtrebungen nach Offnung der Wege zum Orient wurde es zum anerkannten oberſten Daueraxiom der ruſſiſchen Politik, daß „der Weg nach Konſtantinopel nur über Wien und Berlin“ gehe, wurde zugleich das franzöſtſch⸗ ruſſiſche Bündnis zur Folge dieſes Axioms. Dazu führte die durch die deutſch⸗engliſche Spannung (Bagdadbahn) ver an⸗ laßte Verſtändigung Rußlands mit England über die Auf⸗ teilung Perfiens und anderer Orientfragen (1907) zur Aus:

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ficht, die ruſſiſche Politik auf das alte Axiom neu einzuſtelleu. Iſt etwa dieſes Axiom eine willkürliche Erfindung böſer Diplomaten? Ach nein: Es iſt genau ſo eine welthiſtoriſche Notwendigkeit als das entgegengeſetzte politiſche Axiom, daß Oſterreich und Deutſchland dieſem Zuge des ruſſiſchen Volkes notwendig entgegentreten müſſen! Es iſt auch vollkommener Unſinn zu ſagen, nur wirtſchaftliche und partikulare Inter⸗ eſſen des ſüdöſterreichiſchen Grundbeſitzes, der Induſtrie und des Handels hätten zu dieſem Zuſammenſtoß geführt ver⸗ bunden mit einer überſpannten Idee von unſerer Bündnistreue zu unſerem öſterreichiſchen Bruderſtaat. Nein: ſo groß und alle Lebensgebiete Rußlands umfaſſend der ruffifche Drang nach Konſtantinopel iſt, ebenſo groß und umfaſſend iſt auch die Schickſalskraft, die uns zum Widerſtande dagegen treibt! Die geſamte Einheit des öſterreichiſch⸗deutſchen Wirtſchaftsſyſtems, nicht nur „ſüdöſterreichiſche“ Intereſſen fordert freies Feld in den Orient, und dies um ſo mehr, je abhängiger die Teile dieſes Syſtems mit jedem Tage voneinander wurden und werden. Und darüber weit hinaus fordert die noch erſt end⸗ gültig zu vollziehende Aufteilung des ſüdweſtlichen Aſiens die Macht über Konſtantinopel, dieſen Schlüſſel Aſiens, in die Hand der europäiſchen Kernvölker. Zu der jetzt durch die Osmanen zu erwartenden Sperrung des Suezkanals und dem vollzogenen Einfall der uns verbündeten Osmanen in Agypten erhält unſere Bagdadbahn eine Rechtfertigung, die weit über unſere ökonomiſchen kleinaſtatiſchen Intereſſen hinausgeht. Und Bündnistreue? So tief dieſes unſer Bündnis in Stammes⸗ gefühl, Sprache, Kultur gegründet ſein mag all dies allein genommen forderte nur vor der antieuropäiſchen Sentimentali⸗

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tät des „Alldeutſchtums“ ein politifches Zuſammengehen: auch wenn das deutſch⸗öſterreichiſche Bündnis gar nicht beſtanden hätte, es hätte aus rein politiſchen Gründen, aus europäiſchen Gründen geſchloſſen werden müſſen, um Rußland entgegenzu⸗ treten! (Vergleiche das Kapitel über „Die geiſtige Einheit Europas“.) Die heiligen Intereſſen der auf Tat und Liebe und nicht wie die Rechtgläubigkeit auf Chaos der Empfindung, Quietismus und gnoſtiſche vereinſamende Kontemplation ge⸗ gründeten chriſtlichen Kirche müſſen ſich gleichfalls gegen das ruſſiſche Streben ſperren. Und unſer iſt, nicht Englands, dieſe große Miſſion! Englands „Weltherrſchaft“ iſt ja Eon: ſtitutib tranſitoriſch, wie immer auch für oder gegen Eng: land gerade dieſer Krieg ausgehe. Sie wird zum Atavis⸗ mus im Augenblicke, da ſeine Kolonien reif zur Selbſtändigkeit geworden, Japaner und Mohammedaner ihre Rechte durch⸗ ſetzen die Fortſchritte der Kriegstechnik erlauben, die engliſchen Häfen vom Lande zu beſchießen und die Unter ſeeboote die teuren Dreadnought entwerten. Und wenn auch gegenwärtig Eng⸗ land und Frankreich dieſe ruſſiſche Politik zu unterſtützen ſchei⸗ nen (England tut es ja ſicher nur zum Scheine), ſo bleibt es doch ein weit über alle momentanen Intereſſenkombinationen der europäiſchen Staaten erhabener Grundſatz, daß es ein europäiſches Gemeinintereſſe iſt, den ruſſiſchen Drang nach Konſtantinopel aufzuhalten. Ein ruſſiſches Reich mit Kon⸗ ſtantinopel, mit freiem Feld nach dem Süden über Rumänien hinweg, mit dann unausbleiblicher Balkanhegemonie das wäre der Anfang nicht einer tranſttoriſchen (wie der engliſchen), ſondern einer dauernden Weltherrſchaft, gegen die Englands „Weltreich“ trotz ſeiner quantitativen Geblähtheit nur ein

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Kinderfpiel geweſen wäre. Noch gibt es kein bewußtes und gewolltes „europäiſches Gemeinintereſſe“. Dieſer Krieg wird es ſchaffen, in ungeahnter Weiſe. Und dann wird dieſer Gegenſatz gegen die ruffifche Politik von Jahrhunderten einer ſeiner wichtigſten Dauerinhalte ſein. Andererſeits können ſchon die ungeheuren, aber von dem ruſſiſchen Koloß ſpielend ertragenen Opfer, die er ſeit dem 17. Jahrhundert um dieſes Ziel gebracht hat (2,79 Millionen Menſchen ſind im 18. und 19. Jahrhundert dafür verblutet) niemals ihn auf dieſes Ziel verzichten laſſen. Wie aber ſollte Rußland in der Situ⸗ ation, die ſich vor dieſem Kriege geſtaltet hatte, nicht dieſem furchtbar vehementen Drang gefolgt fein? Die Erpanfion des wachſenden Rieſen nach dem Oſten war im ruſſiſch⸗japa⸗ niſchen Kriege zurückgeworfen worden. Der Balkankrieg hatte das welthiſtoriſche Ergebnis, die Osmanen aus Europa zu werfen. Wenn Rußland nicht hier ſchon eingriff und ſich gegen Oſterreich wandte, ſo war es nur, weil es auf die volle Kriegsbereitſchaft der franzöſiſchen Verbündeten wartete. Im Jahre 1913 hemmten wir ſeinen Einmarſch in Armenien. Jetzt, wo ihm der Rettungsruf Serbiens Gelegenheit bot, ein⸗ zugreifen, wo es ihm die Erhaltung ſeines Preſtiges auf dem Balkan unbedingt gebot und die Kriegsbereitſchaft der Ver⸗ bündeten erheblich geſteigert ſchien, hätte es aus Grundſätzen einer Privatmoral heraus, die auf Völker anzuwenden Kinderei und Poſſenſpiel iſt um den politiſchen Mord eines verhetzten Knaben nicht zu unterſtützen zögern ſollen? Ja, vielleicht hätte es dies ſollen von ſeinem Standpunkt aus nämlich aus Gründen der Kriegsbereitſchaft ſeiner ſelbſt und des fran⸗ zöſiſchen Verbündeten! Aus einem anderen Grunde wirklich

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nicht! Das einzige, was demgegenüber die Telegramme zwiſchen dem Zaren und dem deutſchen Kaiſer zeigen, iſt nicht die „Ungerechtigkeit“ des Krieges, ſondern nur das eine: daß der Zar ein Schwächling iſt, daß in ihm der ruſſiſche Volksgeiſt nicht wahrhaft kulminierte, da er zu einer Zeit noch mit Friedensideen ſpielte, als der Krieg not⸗ wendig geworden war, und die ruſſiſche Seele ihn in ihrem tieferen Gemeinwillen machtovoll forderte; und daß die ruffi- ſchen Großfürſten dies erkannten und den ſchwächlichen Fan⸗ taſten, der zeitlebens zwiſchen gewiſſen parfümierten Ideen Weſteuropas (Haag) und dem Einfluß myſteriöſer Gaukler und Mönche herumſchwankte, auf ruſſiſche Manier in ſeiner Pflicht unterwieſen, iſt dies zu verwundern? So kam es zum Schein eines Wortbruches von Miniſtern, der faktiſch auf der Pflichtoergeſſenheit des Schwächlings beruhte, die ſchon erteilte Anordnung der Mobiliſterung ſeinen Miniſtern recht⸗ zeitig mitzuteilen.

Wie das für den gerechten Krieg weſentliche Merkmal der Kriegsgewichtigkeit der Gegenſätze hier voll gegeben iſt, ſo alſo auch das Merkmal des Gemeinwillens zum Krieg. Denn ob das ruſſiſche „Volk“ den Krieg „will“, oder ob er nur das künſtliche Werk einer „ehrgeizigen Kriegspartei“ iſt und ein Mittel, die „innere Revolution abzuleiten“ darüber ſind ja wirklich nicht gewiſſe revolutionäre Teile der Polen, Ruthenen, Finnen, Juden, noch die ganz einſeitigen Bilder zuſtändig, die wir nachgewieſenermaßen vor dem Kriege durch die faſt ausſchließlich in den Händen der kapitaliſtiſchen „Intelligenz“ gelegenen, internationalen Telegramm⸗ und Preßvermittlungsinſtitute erhalten haben! Dafür iſt zuſtändig

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die tiefe und lebendige Kontinuität der Idee, die das ruſſiſche Kriegsziel und die ruſſiſche Kriegsleidenſchaft beſtimmt, die Analogie mit Rußlands früheren Kriegen und Kriegsopfern, die dasſelbe Ziel hatten, und die gemeinſame Ausſage der von keinen „Klaſſen“-, Partei- und Hof- oder Militärintereſſen, auch nicht von denen einer „Kriegspartei“, abhängigen großen ruſſiſchen Geiſtesführer. Dieſe Loyalität des Urteils for⸗ dert, darf fordern auch der ſchlimmſte unſerer ſchlimmen Feinde von einem Volke, wie dem deutſchen ritterlichen Kriegervolk.

Nicht ganz ſo klar iſt die Frage nach dem gerechten Krieg im deutſch⸗engliſchen Kriege. Daß der von England an⸗ gegebene Grund zur Kriegserklärung an uns die Ver⸗ letzung der belgiſchen Neutralität zwar feſte Überzeugung der meiſten Engländer, aber gleichzeitig Humbug des engli⸗ ſchen cant ift” darüber braucht kein Wort verloren werden. Wenn Herr Grey ſagt, England hätte auch Frankreich den Krieg erklärt, wenn es ſeinerſeits die belgiſche Neutralität verletzt hätte, ſo zeigt er nur, wie ſein cant nachträglich faktiſche Abſichten umkonſtruiert. Aber für die „Gerechtig⸗ keit! des deutſch⸗engliſchen Krieges im oben definierten Sinne, und zwar des Krieges ſelbſt nicht ſeiner Erklärung und Zeitbeſtimmung ſeitens Englands iſt dies alles äußerſt unerheblich. Die ſogenannte „Kriegserklärung“ im modernen Volkskrieg iſt ſtets die Folge des auf Grund der angewachſenen Spannungen im „Ausbruch“ bereits begriffenen Krieges, d. h. die bewußte öffentliche Anerkennung dieſes Tatbeſtandes und die öffentliche Willenserklärung des Staates nicht ſein davon unabhängiger Willens akt ihn zu führen; nicht aber iſt der Krieg die Folge der Kriegserklärung. Dieſe Folge iſt

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nur der „juriſtiſche Tatbeſtand“ des Kriegszuſtandes zwiſchen Staaten, der den faktiſchen Tatbeſtand des Krieges als ſeine Grundlage vorausſetzt. Auch hier bemißt ſich die Gerechtig⸗ keit des Krieges vielmehr allein nach der inneren Natur der Gegenſätze. Sind dieſe kriegsgewichtig oder ſind ſie es nicht? Sie wären es ſicher nicht, wenn wirklich nichts als „Profitgier“ der engliſchen Kaufleute und unbequeme Konkurrenz auf dem Weltmarkte zum Kriege gegen uns geführt hätte;% fie wäre es erſt recht nicht, wenn wie H. Münſterberg meint die perſönliche Antipathie König Edwards gegen den deutſchen Kaiſer die Einkreiſungspolitik zur Folge gehabt hätte und dieſe zur Übernahme von Verpflichtungen Englands an Frankreich und Rußland geführt hätte, die dem engliſchen Volke offiziell verborgen, jetzt ihre unumgängliche Einlöſung gefordert hätte; oder wenn gar, wie E. Häckel fo naiv ver⸗ kündete, der perſönliche Ehrgeiz und die Geſinnungsniedrig⸗ keit des Herrn Grey, „des größten Verbrechers der Geſchichte“, die Schuld dieſes Blutmeeres ganz perſönlich allein zu ver⸗ antworten hätte. Die Gegenſätze wären auch nicht kriegs⸗ gewichtig, wenn wir umgekehrt nicht aus den innerſten Not⸗ wendigkeiten unſeres nationalen Volkswachstums heraus Kolonialpolitik zu treiben angefangen und uns in den Handel der Welt gemiſcht hätten, dazu eine weit über den Zweck des Küſten⸗ und Handelsſchutzes hinausgehende Flotte ausgebaut hätten, um bei der Verteilung der noch kulturbedürftigen Erdkugel auch unſer Teil zu erhalten und unſeren Handel zu ſchützen, ſondern dies alles nur aus „Großmannsſucht“ unter Abfall von unſeren traditionellen nationalen hiſtoriſchen Idealen unternommen hätten, wie man uns jenſeits des

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Kanals, ja faft in der ganzen Welt vorwirft. Aber mögen ſich oberflächliche Zeitungsleſer hüben und drüben mit ſolchen Hin⸗ und Herargumenten begnügen der nur ein wenig ernſter Geſchichte Kundige wird ihnen darin nicht folgen. Er wird alles in allem überſehen, auch dem engliſch⸗deutſchen Kriege einen notwendigen Machtkonflikt zugrunde legen müſſen, der aus Weſen und hiſtoriſcher Entwicklung beider Völker notwendig hervorwuchs, den kein Edward und kein Grey hätte willkürlich ſchaffen, kein Tirpitz hätte vermeiden können, an dem unſere Diplomatie ſo unſchuldig iſt wie ein Kindlein wenn ſie auch die ſogenannte künſtlich gemachte „Entſpannung“ weniger ernſt zu nehmen verpflichtet geweſen wäre, als ſie ſie nahm. Nicht der Gegenſatz, ſeine Ver⸗ tuſchung wurde künſtlich gemacht. Man kann ruhig die Behauptung wagen, daß die Geſamtſumme der ökonomiſchen engliſchen Privatintereſſen weit mehr gegen als für dieſen Krieg ſprach.“ Das hatten auch während der Entſpannungs⸗ komödie hervorragende Nationalökonomen mit ungeheuren ſtatiſtiſchen Materialien ganz richtig herausgerechnet, um gemäß ihrem ökonomiſchen Kriegsſchema die Ent⸗ ſpannung zu rechtfertigen. Der deutſche und engliſche Handel konnten ganz abgeſehen von dem ungeheuren deutſch⸗ engliſchen Geſchäft (ein Zehntel des Geſamthandels der ver⸗ einigten Königreiche) ſich vertragen und beide konnten zu ihrem Vorteil kommen. Nicht in dieſen ganz richtigen Rechnungen in der ſelbſt allzuengliſchen „ökonomiſchen Geſchichtsauffaſſung“ lag der Fehler!

Was vermögen die amtlichen Vertreter dieſer ſonderbaren zweizinkigen Politik, die gleichzeitig zum Bau einer nur als

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gegen England gerichtet aufzufaſſenden Schlachtflotte führte und zu einer ernſten Entſpannung mit England (ſeit der Hoch⸗ ſpannung der Gegenſätze im Jahre 1911) führen ſollte, für ihre Annahme einer ſeit dieſer Zeit eingetretenen Entſpan⸗ nung anzugeben? Etwa die ſchlechte Nachahmung jenes engliſchen cant, mit dem ſie die einzig mögliche Richtung dieſer Flottenpolitik unter „ökonomiſchen“ Argumenten zu ver⸗ bergen ſuchten? Das heißt doch die liebenswürdige Form, in der engliſche Staatsmänner ſolchen Verſicherungen zu „glau⸗ ben“ pflegen, gar zu ernſt nehmen. Für die Entſpannung führt man jetzt lauter Dinge an, welche die Spannung faktiſch nur ſteigern konnten und die ihrer Natur nach im äußerſten Falle das engliſche Bewußtſein ſeiner Kriegsbereitſchaft, nicht ſeines Kriegswillens hätten vermindern können. So ſagt man, daß England töricht genug war, uns Helgoland zu verkaufen, und dieſe Torheit hinterher einſah; daß die Einführung der Dreadnoughts ihm zum Nachteil ausſchlug, da fie das Zahlen⸗ verhältnis unſerer und ſeiner Großkampfſchiffe zu unſerem Vorteil beeinflußte und den größeren älteren Schiffsbeſtand Englands gegen unſeren kleineren relativ entwertete (2); daß es durch die Zunahme der öffentlichen Laſten für ſeine durch Lloyd George inaugurierte, der deutſchen Sozialgeſetzgebung nachgeahmte geſetzliche Sozialpolitik für eine der deutſchen Flottenrüſtung proportionale Vermehrung ſeiner Flotte in die Lage gekommen ſei, eher eine Verſtändigung als eine wachſende Spannung mit Deutſchland anzuſtreben; daß in England während der Marokkokriſis und des Balkankrieges die Einſicht reifte, der deutſche Wohlſtand ſei ſo groß, daß man auf die durch einen Krieg früher erhoffte ökonomiſche

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Aushungerung Deutſchlands nicht mehr rechnen könne; daß die deutſche Luftſchiffflotte in einem Seekriege den Operationen der deutſchen Marine ein nicht abzuſehendes Übergewicht verſchaffen müſſe. Aber welche Naivetät mußte dazu gehören, aus dieſen Gründen eine ernſtliche Entſpannung der gerade in dem parlamentariſchen England ſo wichtigen Volksleidenſchaft zu hoffen? Mußten nicht gerade dieſe Gründe den Haß, den Neid, die Feindſeligkeit gegen Deutſch⸗ land im ſelben Maße ſteigern, als ſie dieſe Leidenſchaften von der Schwelle öffentlicher Bemerkbarmachung durch die offiziellen Vertreter der engliſchen Politik in die Tiefen der Volksſeele zurückdrängten? Und glaubte man ernſtlich, daß auf dieſe Gründe hin England ſeinen alten Anſpruch auf Allſeegeltung und ein arbitrium mundi ruhig fallen Iaſſen und ſich in das Unabänderliche fügen werde? Oder ließ man ſich in dieſen Glauben dadurch wiegen, daß England mit lächelnder cant-Miene, aber im Geheimen mit den Zähnen knirſchend, ſchließlich nach mancherlei Zugeſtändniſſen von unſerer Seite zu unſerer Bagdadbahn ja ſagte und unſeren Abſichten, in Weſt⸗ afrika unſeren Intereſſenſpielraum gelegentlich zu vergrößern, nicht entgegenzutreten verſprach? Entſpricht nicht vielmehr die ſcharfe Trennung dieſer einzelnen Fragen von der Geſamt⸗ politik des Staates und beſonders von der dazu ganz unver⸗ hältnismäßigen Kriegs⸗ und Friedensfrage allen Gepflogen⸗ heiten der engliſchen Politik? Alle dieſe Dinge, auf die man offiziell die Annahme einer Entſpannung auf baute, berührten den faktiſchen deutſch⸗ engliſchen Gegenſatz fo oberflächlich, waren zugleich ſo ſehr auf die Kenntnis der ſpezifiſchen Be⸗ rufspolitiker lokaliſtert, daß man eine Wendung der öffent⸗

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lichen Meinung nicht im entfernteſten erhoffen durfte. Dafür waren fie ihrer Matur nach alle wohl dazu angetan, den cant zu vergrößern, die Lippe noch freundlicher lächeln, die Rede noch öliger fließen zu machen, der die faktiſch ſteigende Span⸗ nung verbarg nicht aber eine Entſpannung herbeizuführen. Faktiſch war denn auch jene gefährliche Annahme einer Ent⸗ ſpannung auf unſerer Seite weit ſtärker durch jenes alte, ſonder⸗ bare deutſch⸗liberale Gemeingefühl mit der liberalen Partei Englands regiert, das ſeit dem Beginn der liberalen Miniſter⸗ präſidentſchaft von Asquith trotzdem Grey im Amt blieb von einer liberalen Regierung keinen Krieg erwartete. Daß eben dadurch die Abhängigkeit der Regierungsentſchlüſſe von der öffentlichen Meinung, beſonders im mittleren Durch⸗ ſchnittskaufmann, die gerade der eigentliche Ausgangspunkt der Spannung von je geweſen iſt, nur noch erheblich geſteigert wurde, das zu erkennen fehlten unſeren deutſchen Bewunderern der herrlichen „engliſchen Freiheit“ natürlich alle Organe. Andere Faktoren emotionaler Art traten noch hinzu. Solche Faktoren ſind für andere Entſpannungskünſtler der Pangermanismus, der ſich genau wie der Panſlavismus als die leere Sentimentalität, die er ſtets geweſen, nun auch vor der Welt erwieſen hat, teils eine maßlos überſchätzte ſogenannte „deutſch⸗engliſche Kulturgemeinſchaft“ und eingebildete „pro⸗ teſtantiſch⸗religiöſe Solidarität“. Es iſt ja faſt unglaublich, was in den letzten drei Jahren von einem gewiſſen Typus ebenſo repräſentativer als in der Forſchung unbedeutender Rede⸗ profeſſoren von hüben und drüben, Beſchwichtigungshofräten, öden Schwätzern, die in der Philoſophie, die ſie einſt als neu⸗ hegelſches Kauderwelſch in Oxford traktiert, ſo langweilig und

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unoriginell waren, wie in der Politik nach der Art des Lord Haldane; was andererſeits von gewiſſen proteſtantiſchen Theo⸗ logen, die ſich die völlig haltloſe Idee eines über den abgrund⸗ tiefen Gegenſätzen von Luthertum, Puritanismus, Kalbinismus und Hochkirche ſtehen follenden liberalen Proteſtantismus man nannte ihn auch gerne „Tranſzendentalismus“ gemacht hatten, von der tiefen Notwendigkeit der deutfch-englifchen, meiſt dazu noch amerikaniſchen Geiſtes⸗ und Kulturgemein⸗ ſchaft gegen die geſamte übrige Welt (einfchließlich des geſamten ſüdlichen und weſtlichen katholiſchen Deutſchlands und Offerreichs) zuſammengeredet worden iſt. Leider find auch Forſcher beſſeren Ranges dieſer Auffaſſung allzu nahe gekommen. In dem hierfür äußerſt intereſſanten Brief⸗ wechſel einer Reihe engliſcher Theologen mit Adolf von Harnack findet man ſehr charakteriſtiſche Äußerungen in dieſer Richtung. Gelegentlich einer Wiederholung des be⸗ kannten Geredes vom belgiſchen Neutralitätsbruch, als Grund der Kriegserklärung ſeitens Großbritanniens, das A. v. Harnack mit gebührender Schärfe zurückweiſt, finden ſich in dieſem engliſchen Schreiben Stellen wie: „Wir können niemals das Geſetz an Stelle des Krieges zu ſetzen hoffen, wenn feierliche internationale Verträge nach dem Belieben einer beteiligten Macht zerriſſen werden können. Solche Verpflichtungen binden aber nach unſerer Auffaſſung beſon⸗ ders ſtreng, wenn ſie die Garantie einer Neutralität betreffen.“ Nach allgemeiner geſchichtlicher Erfahrung und beſonders derjenigen, die uns England ſeit Jahrhunderten gibt (fiehe fein Verhalten zu Dänemark und die Beſchießung Kopenhagens) ganz beſonders wenig ſtreng! „Denn die ſtetige Erweiterung

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der Neutralität erſcheint uns als einer der ficherften Wege zur fortſchreitenden Austilgung des Krieges vom Antlitz der Erde.“ Als ſei nicht nur die Schwäche der Grund zu ſo⸗ genannter ewiger Neutralität und böten nicht gerade die⸗ jenigen ewig neutralen Staaten, die im Gegenſatz zu ſtark bewehrten neutralen Staaten wie die Schweiz, ihre Neu⸗ tralität nicht ehrlich zu wahren wiſſen, eben den Haupt⸗ grund zur Entſtehung von Kriegen! Es hat weiter die Herren „mit tiefſten Schmerze erfüllt, zu ſehen, wie ein chriſtliches Volk ein Kriegsheer wurde mit kriegsheermäßiger Moral“. Die Herren find in echt engliſcher Generaliſie⸗ rung offenbar von der ſtets minderwertigen Moral der Kriegsführung ihrer kolonialen Räuberheere zur Vorſtellung gekommen, daß eine chriſtliche Moral einer kriegeriſchen (im Unterſchiede zur „Räubermoral“) Moral widerſtreite. „Wir verabſcheuen jeden Krieg uſw.“ Ich meine, Über: einſtimmung oder Differenzen religiös⸗ſittlicher Auffaſſungen prinzipieller Art können ſich zehnmal beſſer als in allem gelehrten Disput an der inneren Stellungnahme zu einem ſo ungeheuren Vorgang in der moraliſchen Welt als ihn dieſer Krieg darſtellt erweiſen. Und würde auch nur ein einziger jener deutſchen Theologen, die dieſe tiefe „engliſch⸗deutſche Geſinnungsgemeinſchaft“ vertreten und Jahre hindurch geför⸗ dert haben, ein fo unendlich oberflächlich pazifiziſtiſches“ Urteil über den Krieg überhaupt teilen ein fo unchriſtliches, ja wider⸗ chriſtliches Urteil, wie es dieſe Sätze enthalten? Nicht das „Geſetz“ und den „Vertrag“ oder die Intereſſenſolidarität an Stelle des Krieges, ſondern die Liebe an Stelle des Krieges und darum Krieg ſo lange unter den Bedingungen eines ge⸗

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rechten Krieges, als die Liebe noch nicht zur Reife gekommen das iſt für denjenigen ein „chriſtliches Ideal“, der nicht in engliſch-merkantilem cant die unter den Namen „Huma⸗ nität“ ſich verbergenden Jutereſſen engliſcher und anderer Kaufleute und Börſen mit „‚chriftlicher Liebe“ verwechſelt; und der auch nur auf die Kenntnis der erſten Elemente des Evangeliums und des Alten Teſtamentes Anſpruch machen will. Aber auch A. von Harnack ſchreibt in ſeiner übrigens aus⸗ gezeichneten Antwort auf das engliſche Schreiben, einen Satz ſeiner Rede an die Berliner Amerikaner zitierend: „Unſere Kultur, der Hauptſchatz der Menſchheit, war vornehmlich drei Völkern, ja ihnen faſt allein anvertraut: Uns, den Ameri⸗ kanern und den Engländern. Weiter ſage ich nichts. Ich verhülle mein Haupt!“ Und ſpäter heißt es: „Wir und Groß⸗ britannien im Bunde mit Amerika konnten die Menſchheit im friedlichen Verein auf eine höhere Stufe heben und im Frie⸗ den die Welt leiten, jedem das Seine laſſend. Wir Deutſche kannten (I) und kennen (11) kein höheres Ideal als dieſes“. Ich verſtehe, ich fühle mit, daß Harnacks Enttäuſchung unter dieſen Vorausſetzungen unendlich, ja einer ſich im Verhüllen des Hauptes zum Ausdruck kommenden Verzweiflung am Schickſal aller höheren europäiſchen Kultur gleichkommen muß! Wir aber teilen dieſe Verzweiflung nicht im minde⸗ ſten! Nicht nur finden wir Harnacks Sätze im Widerſtreit mit aller derjenigen echten Kultur, Religion, Ethos, deren Seele noch deutſch ſind, welche Seele eine gewiſſe Enge und Borniertheit in aller engliſchen Philoſophie und Wiſſenſchaft, dürres hochmütiges Puritanertum, engliſche Geſchäftsmoral und engliſchen cant ſtets als giftige Fremd⸗

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körper von fich ausſtießen oder hätten ausſtoßen ſollen; nicht nur ſehen wir zwiſchen engliſchem Chriſtentum aller Spiel⸗ arten und deutſchem Luthertum nebſt ſeinen Fortſetzungen eine weit tiefere Differenz als zwiſchen Luthertum, deut⸗ ſchem Proteſtantismus und der germaniſchen Form des Ka⸗ tholizismus es, wir finden auch die tiefen Bezüge, die nicht nur den ſüdweſtlichen Teil unſeres Landes und das uns von nun an jedenfalls in irgendeiner Form ſo viel nähertretende Deutſch⸗Oſterreich, die vielmehr den ganzen germaniſchen Geiſt und ſeine hehrſten Führer mit Italien und Frankreich als Kul⸗ tureinheiten und mit der, anglo⸗amerikaniſchen Weſen am tief⸗ ſten entfremdeten Antike verbinden und ſtets verbunden haben, hier in mehr als auffälliger Form mißachtet. Auch für Eruft Troeltſch, dem weit überragenden Kopf in der ſyſtematiſchen Theologie und Religionsgeſchichte des heutigen deutſchen Pro⸗ teſtantismus, iſt es „am ſchmerzlichſten“, daß unſere geiſtigen Bande zu dem ſtammes verwandten England fo nachdrücklich zer⸗ riſſen ſind. Soweit es ſich um internationale Inſtitute gehandelt hat und handelt, die den exakten Wiſſenſchaften dienen, auch noch dem techniſchen Betriebe der Geiſteswiſſenſchaften, mag man dies natürlich wie jede ſolche Zerſchneidung internatio⸗ naler Fäden tief bedauern. Soweit es ſich aber um den Geiſt, um die tieferen Methoden der Wiſſenſchaften, der Künſte, den Frömmigkeitsgeiſt der Religion und um das chriſtlich⸗ religiöſe Ethos handelt, die alle echte „Theologie“ erſt be⸗ dingen und geſtalten iſt es im Gegenteil im höchſten Maße zu begrüßen, daß dies künſtliche Gemächte einer ſogenannten „Kulturgemeinſchaft“ nunmehr einer ganz exemplariſchen Prüfung ſeiner Echtheit und Feſtigkeit durch dieſen Krieg

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unterzogen wird! Und was gerade Chriſtentum und Theo⸗ logie betrifft Gott ſei Dank ſchweigen jetzt auch alle kon⸗ feſſtonellen deutſchen Kämpfe! ſo möge es dieſem Kriege beſchieden ſein, die Träger des deutſchen chriſtlich religiöſen Lebens überhaupt energiſch an den gemeinſamen Beftand” des evangeliſch⸗lutheriſchen und katholiſchen pofitiven Chriſten⸗ tums zu erinnern, zumal bei der geographiſchen Religions⸗ gliederung jeder mögliche Zuwachs deutſcher Machtſphären, auch nur der Macht einer tieferen Kulturbeeinfluſſung (nicht notwendig gerade Zuwachs territorialer Macht) nur ein Zuwachs katholiſcher Volksteile und katholiſchen Geiſtes ſein kann. Eine gleichzeitige Verminderung des romaniſchen Einfluſſes in der katholiſchen Kirche und eine tiefere Wür⸗ digung des Tiefen und Echten in ihr, durch die proteſtan⸗ tiſche Theologie, dürfte eine Auslöſungsfolge eines ſiegreichen Krieges ſein, der mit der Zeit ſelbſt die „Verzweiflung“ und den „tiefen Schmerz“ an jener eingebildeten engliſch⸗deutſchen Geiſtesſolidarität auch in dieſer weſentlichſten Sphäre alles echten Menſchentums verſchwinden laſſen könnte. Auch hier iſt eben dieſer Krieg ein unerbittlicher Kritiker, und dieſe Kritik der Tat wenn auch ſchmerzhaft zu empfinden, und ihr gemäß ſeine Begriffe zu korrigieren, dürfte dem Klagen, Jammern und dem „Verhüllen des Hauptes“ hier ganz entſchieden vorzuziehen ſein.

Neben dem voll berechtigten Angriffsgeiſt, der jetzt in Deutſchland gegen England wütet, iſt der davon ganz unab⸗ hängige ſpezifiſche Haß gegen England nur die Folge dieſer weitverbreiteten Illuſtonen über unſer wahres hiſtoriſches Ver: hältnis zu England. Aber die grundſätzliche Selbſteinkehr

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über dieſe Illuſionen und ihr mutiges Abtun wäre beſſer als der ſich in fachlich ganz unmotiviertem Zurück enden englifcher Auszeichnungen und Beſchimpfung von Perſonen bekundende Haß, der nur anzeigt, daß dieſe Illuſionen immer noch fo ſtark vorhanden ſind, daß ſie ſolche unmotivierte Haßakte gebären müſſen. Der bloße um ſich herum ſchlagende Haß des betrogenen Liebhabers wirkt auch zwiſchen Völkern mehr komiſch als ernſthaft und iſt kein ſittlich würdiges Verhalten. Das gilt insbeſondere auch von der deutſch⸗engliſchen „Kultur⸗ gemeinſchaft“, die ſich von ſo alten unaktuellen übernatio⸗ nalen Figuren wie Shakeſpeare, Milton, Byron, Shelley, Keats, Scott und dem geiſtig halbdeutſchen Carlyle ab⸗ geſehen zu einem großen Teile nur auf die mehr als pein⸗ lichen Abhängigkeiten berufen kann, in die der deutſche Geiſt insbeſondere in Philoſophie (Meuhumeanismus), Pſychologie (Aſſoziationspſychologie), einem großen Teile der National⸗ ökonomie, auch wie ſchon Zöllner und Dühring beklagten in der Phyſik ganz unverhältnismäßig aber in der Bio⸗ logie (Darwin, Spencer) entgegen ſeinem wahren Weſen und den jüngeren deutſchen Beſtrebungen gekommen war. Dieſe Einbildungen und falſchen Abhängigkeiten, verbunden mit der Entſpannungsvortäuſchung und der hiſtoriſch⸗tradi⸗ tionellen Vorbildhaftigkeit Englands für unſeren geſamten Liberalismus in Verfaſſungsfragen, Politik, Okonomiepro⸗ bleme und Moral ſind es, die heute zuſammenwirkend, ein⸗ zelnen Perſonen wie König Edward oder Grey und Chur⸗ chill und bloßen bösartigen Intrigen die Schuld des deutſch⸗engliſchen Krieges fälſchlich beimeſſen oder auch in völliger Unbekanntſchaft mit dem Weſen des cant, die eng⸗

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liſchen Staatsmänner bewußter Lüge zeihen. Dieſer Haß, der Einzelne unſeres Volkes zu den verdammenswerteſten Schimpfworten gegen die Perſonen engliſcher Staatsmänner und Souveräne hinriß natürlich um das engliſche Volk als Ganzes von aller Schuld zu entlaſten der ſich auch in völlig unbegründeter Zurück ſendung ſelbſt gelehrter Auszeich⸗ nungen an engliſche wiſſenſchaftliche Geſellſchaften verrät, iſt aber nur die Enttäuſchung einer Jahrzehnte dauernden grund⸗ falſchen Art von Liebe zu engliſchem Weſen und blindeſter Nachäffung ſeiner geweſen. Wer von all dieſen Quellen der Täuſchung und des Mißverſtändniſſes abſieht, gewahrt hinter dem deutſch⸗engliſchen Gegenſatz nicht bloßen Handels⸗ neid wie es A. Wagner zu beweiſen ſucht —, nicht „Pennyjagd“, nicht einzelne „böſe“ Staatsmänner und Für⸗ ſten, ſondern den hiſtoriſch notwendigen, in der Linie der ganzen engliſchen Geſchichte gelegenen Exiſtenzkampf der engliſchen Seemachtſtellung um jene dauernde Präponderanz, die Vor⸗ ausſetzung ſeiner Art von Weltmachtſtellung iſt. Auch wenn Chamberlains großartige Pläne auf Herſtellung eines Zoll⸗ ſchutzberbandes des Mutterlandes mit den Kolonien und einer britiſchen ökonomiſchen Autarkie in Erfüllung gegangen wären, wäre dieſe Urſache des Krieges nicht verſchwunden. Zu allen Zeiten ſeit dem Gewinn ſeiner Seegeltung war England der erklärte Feind der jeweilig ſtärkſten und in ihrer Entwickelung ausſichtsreichſten Seemacht. Zuerſt kehrte es ſich gegen Spanien und Portugal, dann gegen Holland und ſeit der Zeit des Colbertſchen Merkantilismus gegen Frankreich, deſſen Feind es blieb bis unſere Seemacht geboren war, und ſich in kurzer Zeit bis zu einer Höhe entwickelte, die bei

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einem Kampfe auch wenn er ſiegreich für England aus: ginge und die deutſche Flotte völlig vernichtet würde die Präponderanz der engliſchen Seemacht in der Welt in Frage ſtellte und insbeſondere die Freiheit der engliſchen Maßnahmen gegen Japan, den großen oſtaſtatiſchen Gegner ſeiner Welt⸗ machtſtellung in Indien und ſeiner Expanſtonspläne in China, ſtark einſchränken müßte. Vermöge dieſer Tatſachen entſpricht die ſogenannte „Einkreiſungspolitik“ und der jetzige Krieg Englands gegen uns haarſcharf den alten, dauernden tradi⸗ tionellen Methoden der engliſchen Politik. Wer fie mit uns verdammt, wende fich gegen dieſe Methoden nicht gegen Perſonen! Nur darüber konnte in England Streit ſein und beſteht noch Streit, ob man nur die junge Seegeltung Deutſch⸗ lands, ſeinen Welthandel, ſeine Kolonialkonkurrenz bei erſter Gelegenheit vernichten müſſe, oder ob auch ſeine innereuro⸗ päiſche Machtſtellung zu treffen das Ziel der engliſchen Politik ſein müſſe. Daß man in den führenden engliſchen Kreiſen hier nicht den radikalen Ausführungen von Homer Lea in feinem Buche “The day of the Saxon” (Berlin 1913 auch deutſch) gefolgt iſt, der nur in einer Renaiſſance des „kriege⸗ riſchen“ Geiſtes in dem vermerkantiliſterten England und der vollen Vernichtung des deutſchen Reiches das engliſche Heil ſieht, daß man auch hier der alten engliſchen Methode treu blieb, die Kontinentalmächte gegeneinander auszuſpielen und in dieſem Falle das deutſche Reich als Sturmbock gegen das Indien und Perfien gefährliche Rußland zu gebrauchen ja allenfalls es zu dieſem Zwecke zu erhalten, das duldet keinen Zweifel. Dies hat ſeinen Grund in der Unmöglichkeit ſolcher „Renaiſſance“, wie ſie Lea als Vorausſetzung fordert. Auch

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die noch bleibenden Differenzen der öffentlichen Meinung Englands und ſeiner ernſt zu nehmenden führenden Politiker in dieſem Kriege betreffen und betrafen nicht dieſes Axiom von der Vernichtung der deutſchen Seemacht, ſoweit ſie mehr iſt als Küſtenſchutz und Beſchützerin des deutſchen Handels. Hierin iſt alles einig, was Anſpruch auf politiſche Beachtung in England hat und nicht den obengenannten Täuſchungs⸗ quellen unterliegt, die ſich auch analog auf unſerer Seite finden. Dieſe Differenzen betreffen allein die Frage, ob auch nur unter einem rein kontinentalen Siege Deutſchlands das engliſche Preſtige in der Welt nicht dauernd leiden werde und ob es zweckmäßig ſei, ſo lange als größere Erfolge der beiden Verbündeten auf dem Lande gegen Deutſchland noch ausge⸗ blieben, und große Stücke Belgiens in unſerem Befis find, offene entſcheidende Seekämpfe zu wagen oder ob ſo lange nur der Kleinkrieg des Handels und des Kolonialkrieges und der ökonomiſchen Aushungerungspolitik gegen uns zu führen fei ja ob man es im Falle dauernder kontinentaler Nieder⸗ lagen der durch das Expeditionskorps unterſtützten Verbün⸗ deten zu einem entſcheidenden Schlage in diefem Kriege über⸗ haupt kommen laſſen ſolle. Alles das, was unſere geheimen enttäuſchten Englandfreunde jetzt ſo maßlos haßerfüllt Per⸗ ſonen und Intrigen zuſchreiben wollen, iſt faktiſch eine Folge des dauernden engliſchen Weſens, der dauernden Macht⸗ bedingungen des Inſelſtaates als Spinnenleib eines „Welt⸗ reiches“, das ein Viertel der Landmaſſe und der Bevölkerung des Erdbodens umfaßt, und der durch den deutſchen Flotten⸗ bau geſchaffenen Konſtellation. Auch dieſer Flottenbau aber war eine Notwendigkeit. Als wir von Bismarcks Prinzi⸗

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pien der hierin noch ähnlich Fichte und dem älteren deut⸗ ſchen Typus dachte abgingen, und unter den Augen unſeres weitblickenden kaiſerlichen Herrn eine Kolonialpolitik begannen, die uns den „Platz an der Sonne“ ſchaffen ſollte, den allein ſchon das rapide Wachstum unſerer Bevölkerung und das Fehlen aller Ausdehnungsſpielräume im Inlande an unſeren Grenzen gebieteriſch forderte, da ſind wir dem Rufe eines Schickſals gefolgt, das genau ſo ehern und feſtgefügt iſt in der ganzen bisherigen deutſchen Geſchichte wie das Schick⸗ ſal Englands! Dieſe Schickſale beider Völker mußten zu⸗ ſammenſtoßen! Sie können nur in einem radikalen Kriege end⸗ gültig entſchieden werden. Sollte dieſer jetzige Krieg ſie nicht entſcheiden, ſo wird es ein anderer Krieg oder eine ganze Kette ſolcher Kriege tun. Herr Romain Rolland ſchrieb in ſeinem Briefe an Herrn Gerhart Hauptmann: „Der Franzoſe glaubt nicht an das Fatum, das Fatum iſt die Entſchuldi⸗ gung der Schwachen“. Er deckt mit dieſem Satze, ohne es zu wiſſen, nur das Prinzip der frechen unheiligen Willkür auf, das die franzöſiſche Geſchichte ſeit der franzöſiſchen Re⸗ volution, in dem ſie klaſſiſch wurde regiert! Umge⸗ kehrt gilt: Wie nur der ſtarke und große Menſch ein echtes „Schickſal“ hat, ſo auch gerade das ſtarke, große vor den inneren Notwendigkeiten ſeiner Geſchichte ehrfürchtige, und den tiefen Weiſungen ſeiner inneren Konſtitution über alle momentanen Opportunitätszwecke, etwaige Regierungs⸗ und Diplomatenwillkür hinaus folgende Volk. Eben die Schick ſalsmäßigkeit des deutſch⸗engliſchen Krieges iſt es, die den Krieg zu einem „gerechten“ Kriege macht; und vor der die törichten Anklagen von Perſonen voll Ehrfurcht verſtummen

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ſollten, Anklagen, die einen fo großen Raum hüben und drüben einnehmen! .

Eine ſchwere, berechtigte Anklage gegen Perſonen iſt allein und ausſchließlich bezüglich der unter Bülow begonnenen, dann bis vor wenigen Wochen vor dem Kriege ſich fortſetzenden Ent⸗ ſpannungspolitik zu erheben. Daß man hier das Wahre und Richtige ſehen konnte, das zeigt vollendet klar das Buch des Generals Bernhardi „Deutſchland und der deutſche Krieg“, erſchienen im Oktober 1911. Die jetzt häufig gehörte Rede⸗ wendung, das alles ſei doch, zum mindeſten von deutſcher Seite, vollendet „gut gemeint“ und von der berechtigten Ab⸗ ſicht, den Frieden möglichſt lange zu erhalten, getragen geweſen, iſt eine völlig falſche, ja verdammenswerte Auffaſſung. Dar⸗ um und darum allein handelt es ſich, daß wir gleichzeitig die über Küſten⸗ und Handelsſchutz hinausgehenden Seerüſtun⸗ gen betrieben und doch jene Entſpannungspolitik betrieben eben hierdurch aber die von Frankreich unter Delcaffe ſchon zu Bülows Zeit um die Jahrhundertwende gewollte und er⸗ ſtrebte Bündnisannäherung an Fraukreich ausſichtslos machten und auch ſpätere Gelegenheiten, darunter eine ruſſiſche ver⸗ ſäumten. Ich kenne Sozialdemokraten, die im Gegenſatz zu meiner Auffaſſung nicht dieſe Entſpannungsoerſuche, ſondern umgekehrt den geſteigerten Flottenbau verwerfen. Aber in der Verurteilung dieſes inneren Widerſpruchs und der Mitſchuld der von ihm beſeelten Doppel politik an der „Einkreiſung“ Deutſchlands, find fie mit mir einer Meinung. „Wohlmeinend“, „gute Abſicht“ ja! Aber unter der tiefſten Unkenntnis des Weſens und der dauernden politiſchen Methoden zweier großer Nationen,

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unter illufioniftifcher Verdrängung der Wahrheit und Wirk⸗ lichkeit an Stellen und bei öffentlichen Gelegenheiten, welche eine Verantwortungsübernahme von einer Schwere erheiſchen, die nur auf Grund dieſer Kenntnis und äußerſter Selbſtkritik gegen alle außerpolitiſchen „Neigungen“ (Stammesgefühl, liberalparlamentariſche Neigungen, evangeliſche Solidarität uſw. uſw.) ſittlich berechtigt übernommen werden darf, ſich auf bloße Wohlmeinendheit zu berufen, wie es jetzt beſonders eine Reihe von Gelehrten tun, die ſich bei dieſer Mache mit⸗ beteiligten, das iſt nicht deutſches Ethos, das iſt nicht Ethos der „inneren“ Wahrhaftigkeit, ſondern iſt ſchlecht nach: geahmter cant.

Wenn es einen berechtigten und tiefen Zweifel gibt über das Vorhandenſein der Kriterien des „gerechten Krieges“ in dieſem Kriege, fo kann er ernſtlich allein den deutſch⸗fran⸗ zöſiſchen Teilkrieg betreffen. Daß hier Gegenſätze und Machtkonflikte fehlen, wie fie im ruſſiſch⸗deutſch⸗öſterrei⸗ chiſchen und deutſch⸗engliſchen Kriege vorhanden ſind, das fieht Jeder. Intereſſengegenſätze von der Art, wie fie in Marokko, in Sachen des Kongoſtaates und der jüng⸗ ſten franzöſiſchen Levantepolitik beſtehen, rechtfertigen einen innereuropäiſchen Krieg felbftverftändlich nicht. Sie find evident „unterkriegsgewichtig“. So bleiben als letzte kriegs⸗ beſtimmende Faktoren für dieſen Krieg nur die Ideen der Wiedergewinnung Elſaß⸗Lothringens, die alte romaniſch⸗ germaniſche Raſſenfremdheit und die ſchon in ihrem Weſen gekennzeichnete, ſeit der Kriſe von 1911 und der Ab⸗ tretung des Kongo neubefeuerte Revancheidee. Von ihnen kann aber als „kriegsgewichtiger“ Gegenſatz nur die Wieder⸗

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gewinnug des Elſaß überhaupt ernftlich in Frage geſtellt werden.

Die Wiedergewinnung eines durch kriegeriſche Gewalt eroberten Landesteiles, über deſſen rechtmäßige Zugehörigkeit zu den beiden in Frage kommenden Staaten bei deſſen Be⸗ wohnern grundverſchiedene Rechtsauffaſſungen dauernd ob⸗ walten, kann der inneren qualitativen Natur des Konfliktes zufolge einen kriegsgewichtigen Gegenſatz bilden. Freilich nur unter gewiſſen Vorausſetzungen: Daß der Krieg, der zur Einkörperung dieſes Landesteiles in den fremden Staat ge⸗ führt hat, entweder ſelbſt ein ungerechter Krieg war, reſpektive ein ſolcher „gerechter“ Krieg, in dem der Zufall bei der Ent⸗ ſcheidung eine, eben dieſe Entſcheidung herbeiführende Rolle ge⸗ ſpielt hat oder daß der eigentliche Kriegszuſtand faktiſch nicht aufgehört hat, ſondern nur in Latenz ſich befunden hat, da der befiegte Staat den Friedensſchluß nicht in einem echten Willensakt vollzog, ſondern ſeine Bereitwilligkeit zum Frieden ſeinerſeits nur als Waffenſtillſtand anſah, ſeine Be⸗ dingungen aber als die eines faktiſchen Waffenſtillſtandes. Die Franzoſen haben hinſichtlich des Elſaß eine dauernde Rechtsauffaſſung ihren Kindern in allen Schulen gelehrt, nach der ſeit der Teilung des Reiches Karls des Großen, den ſie als franzöſiſchen Herrſcher auffaſſen, das Reichsland nur ein heilloſes Kampffeld für die Fürſten geweſen ſei, bis es Ludwig XIV. aus dieſem Schickſal rettete und ihm durch Ein⸗ verleibung in ſeinen Staat die Bedingungen ruhiger Blüte und Kultur gab. Unſere deutſche Auffaſſung iſt eine radikal andere und es konnte nie einen anderen objektiven Richter ge⸗ ben, um hier zu entſcheiden als den Krieg. Der gerechte Krieg

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von 1870 und 1871 und fein Friedensſchluß hatte aber die Frage entſchieden. Er hatte hier eben jenes „höhere Recht“ gefunden, das bei Gegenſätzen ſolcher Natur der Krieg allein finden kann. Oder hat man unſeren Sieg für einen Zufalls⸗ ſieg gehalten? Die an ſich bewundernswerte Einkehr des franzöſiſchen Volkes nach dem Kriege, die Wiederkehr des Bewußtſeins feiner tieferen Kräfte und deren baldige über- raſchende Entwicklung, die fruchtbare Kritik, die damals frei⸗ mütig am Heere von großen Franzoſen geübt wurde, das noch vor kurzer Zeit erfolgte Zugeſtändnis eines Forſchers wie Erneſt Denis, der Sieg Deutſchlands ſei wohl verdient geweſen, vor allem aber die im entgegengeſetzten Falle ganz unbegreifliche Friedensdauer von 44 Jahren, während der man ſich zweimal bis zur dichteſten Nähe eines deutſch⸗franzöſiſchen Bündniſſes entgegenkam, bezeugen das offenſichtliche Gegenteil. Bezüg⸗ lich der Eventualität des latenten Krieges urteilt Kant: „Es ſoll kein Friedensſchluß für einen ſolchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht worden‘ (1. Präliminarartikel). Und er ſetzt er⸗ läuternd hinzu: „Denn alsdann wäre es ja ein bloßer Waffen⸗ ſtillſtand, Aufſchub der Feindſeligkeiten, nicht Friede, der das Ende aller Hoſtilitäten bedeutet, und dem das Beiwort „ewig“ anzuhängen ſchon ein verdächtiger Pleonasmus iſt. Die vorhandenen, obgleich jetzt vielleicht den Paziszierenden ſelbſt noch nicht bekannten Urſachen zum künftigen Kriege ſind durch den Friedensſchluß insgeſamt vernichtet, ſie mögen auch aus archivariſchen Dokumenten mit noch ſo ſcharfſichti⸗ ger Ausſpürungsgeſchicklichkeit ausgeklaubt fein.‘ Nur um den Preis, Frankreich die Schuld eines verbrecheriſchen Frie⸗

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densſchluſſes zu vindizieren, könnte man alfo die Sache des Elſaß als einen kriegsgewichtigen Gegenſatz gelten laſſen. Aber ſelbſt ein ſolcher beſtand faktiſch nicht. Wie wäre ſonſt während dieſer Zeit dieſe doppelte Bündnisnähe mög⸗ lich geweſen?

Es bleibt alſo nur die, in die alte romaniſch⸗germaniſche Raſſenfremdheit eingebettete Revancheidee, die bereits in ihrem Weſen charakteriſtiert wurde. Nun iſt nichts klarer, als daß ein purer „Revanchekrieg“ ein abſolutes ſittliches Monſens ift. Die eitle, mehr und mehr zum niedrigen Rachegefühl herab⸗ geſunkene Spieleridee der Revanche ohne neu entſtandene oder vorher ſchon lebendige Machtgegenſätze zum ziel- gebenden Moment der Politik eines großen, in ſeinen Kultur⸗ leiſtungen bewunderungswürdigen Volkes zu machen, an⸗ ſtatt, da der Franzoſe nun einmal ſo eitel iſt, zu einem unter⸗ geordneten Bedürfnis, das gelegentlich einmal, wenn es ernffe pofitive Zwecke erlauben und ſich die Sache in fie einfügt, be⸗ friedigt werden kann das iſt und bleibt der Gipfelpunkt des politiſchen Verbrechens. Ich vermag in Ehrfurcht auf die großen, welthiſtoriſchen Gegenſätze zu ſehen, die zwiſchen Deutſchland⸗Oſterreich und Rußland, Deutſchland und Eng⸗ land beſtehen; ich vermag dabei zwar ohne Liebe aber doch mit dem kühlem Blicke geſchichtlich nacherlebenden Ver⸗ ſtehens auf dieſe uns feindlichen Völker zu blicken. Hier aber ergreift ſinnloſer Schmerz meine Seele über einen beiſpielloſen Niedergang menſchlicher und nationaler echter Größe. Trauer und Schmerz über ein ſo verführeriſches und leicht verführtes und mit Hilfe ſeiner eigenen Schwächen von klugen und ſkru⸗ pelloſen fremden Staatsmännern verführtes Volk und tiefſte

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Verachtung der Perſonen, die ein ganzes Volk, die die geiſtige Perſönlichkeit einer edlen Nation zur Sklavin ihrer eigenen ſpieleriſchen Eitelkeit und ihres unfruchtbaren Haſſes entwür⸗ digt haben. Es gibt keine traurigere Geſchichte einer Idee und eines Gefühls tragiſch fie zu nennen fehlt ihr die Würde der inneren Notwendigkeit als die Geſchichte der franzö⸗ ſiſchen Revancheidee. Es gab eine Zeit, wo fie ſich nicht nur einem Gefüge höherer politiſcher Zwecke wie dem des Wieder⸗ auf baues des Frankreich durch England Stück für Stück entriſſenen Kolonialreiches auf der Grundlage der ihm noch gebliebenen und neuerworbenen afrikaniſchen Beſitzungen unter⸗ zuordnen ſchien; wo ſie außerdem noch jenes Zuges ritterlicher Helle, Bravour und Kühnheit nicht entbehrte, die dem Fran⸗ zoſen trotz der dieſe Tugenden begleitenden Schatten ſo wohl anſteht und die ihrer Herkunft aus dem ritterlichen mit galli⸗ ſchem Sinn für edle „gloire“ geführtem Kampfſpiel entſpricht. Beſchränkt vor allem auf die Armee, getragen von einer ſtarken Seele wie der Seele Gambettas, und noch nicht in die tieferen Schichten der Volksexiſtenz als wurmendes Reſſen⸗ timent hineingefreſſen, war ſie weder ohne jenes höhere Recht, das eine glorreiche Geſchichte einer ritterlichen Armee gibt, noch ohne den echt galliſchen Reiz einer gewiſſen ſchönen und liebenswürdigen Verwegenheit. Erſt dadurch, daß ſte dieſen ihren urſprünglichen Ort die Armee verließ und eine Kette von bourgeoiſen, politiſch aller höheren Pläne baren, in 40 Jahren Zo mal wechſelnden Regierungen anſteckte, die bald mehr von Gnaden eines plutokratiſchen Pöbels bald mehr von Gnaden eines, alle Grundlagen moraliſcher Autori⸗ tät zerſetzenden Maſſengeiſtes lebten, eines Pöbels, der

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auf alle Fälle alle großen Traditionen Frankreichs, voran jene des Geiſtes und der Religion mit ſeinen dicken Bour⸗ geoisfüßen niederzutreten begann und dem alles, was in Frankreich noch Geiſt, Würde und Hoheit beſaß (in Kunſt, Literatur, Prieſtertum) ſich ſtets ſo auffällig ferne hielt, erſt als gleichzeitig mit dieſer Verallgemeinerung und Ver⸗ gröberung, die Revancheemotion in einer Friedenszeit faſt eines halben Jahrhunderts ihre ritterliche Helligkeit verlor und bis zur Ausbildung eines immer dumpferen, verhaltene⸗ ren halberſtickten Rachegefühls gleichſam in das Innere der Volksſeele, wühlend, zerſetzend und vergiftend zurückſchlug: erſt ſeit dieſer Zeit iſt ſie zu jener unſeligen Macht ge⸗ worden, die Frankreich ſchließlich zur willfährigen Dirne der klugen Pläne König Eduards, der ruſſiſchen Staats⸗ männer und der in den Volksentwicklungen Rußlands und Englands wohlgegründeten Machtintereſſen gemacht hat. Seit Frankreich aber gar alle ſeine Rechtsforderungen auf Agypten aufgeben mußte und das damals in Paris ſo ge⸗ ſcholtene „perfide Albion“ ſeinem großen Plane, einen Ko⸗ lonialſtaat von Senegambien quer durch Afrika bis zum Roten Meere und Abeſſinien zu legen ſich entgegenſtemmte, als es von Faſchoda, das den Übergang zu ſeinem öſtlichen Beſitze bilden ſollte, durch Englands Kriegsdrohung vertrieben wurde und dieſen Kampf um ein pofifives, großes Ziel nicht wagte oder nicht wagen durfte, ſeitdem fehlen feiner äußeren Politik auch alle größeren, beherrſchenden Ziele. Nachdem die Schmach von Faſchoda wie vergeßlich war hier das leicht⸗ verletzliche, nachträgeriſche Frankreich! vergeſſen war, und König Eduard, zuerſt als überall ſich in Paris an⸗

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ſchwatzender Lebemann, dann als König ſchon unter der Herrſchaft der Idee der Einkreiſungspolitik alles tat, um Frankreich zu gewinnen und die „Schmach“ Frankreich ver⸗ geſſen und unter der alten Revancheidee gegen Deutſchland er⸗ ſticken zu laſſen (1904), als gar noch England in der Marokko⸗ ſache Frankreich hilfreichen Beiſtand leiſtete, waren auch die äußeren Dispofitionen gegeben, um den Revanchegedanken zum Axiom ſeiner Politik zu machen. Nichts lenkt ja den Geiſt ſo einſeitig zu unträchtigem Verweilen in der Sphäre der Vergangenheit zurück, nichts hütet und hegt ſo ſehr einen alten halberſtickten „Groll“ wie der Mangel großer, das Leben beherrſchender Aufgaben. Bildung und Geiſt leben in Frankreich ſeit langem ferne von der Sphäre ſeiner Regie⸗ rung. Erſt ſeit Aufkommen des ſogenannten „Nouveau esprit“ und Poincaré erfolgte eine leiſe Annäherung. Der Typus des gewandten beredten Rechtsanwaltes (ſchon Auguſte Comte nennt ihn verächtlich den „Legiſten“ und den Typus des ſchlech⸗ teſten Staatenlenkers), der Fragen der großen äußeren Politik nach Analogie mit den Privathändeln ſeiner Aktenbündel auf⸗ zufaſſen pflegt, konnte ſolche Aufgaben nicht erſpähen; fühlte ſich aber in ſeinem Plebejerherzen geſchmeichelt, wenn ein hoher engliſcher oder ruſſiſcher Herr, der ihn in ſeinem Privatberuf und auf Grund ſeiner Perſon keines Blickes gewürdigt hätte, ihn eines Geſpräches über die Geſchicke der Welt würdigte. So kam es zu den rieſenhaften Anleihen Frankreichs an Rußland (17 Milliarden), unter dem feſten Druck Rußlands zu dem Beſchluß der dreijährigen Dienſtzeit, die bis zum Jahre 1918 Frankreich in volle Kriegsbereitſchaft geſetzt hätte, zu den be⸗ kannten, trotz ihrer ſcheinbar nur militäriſch⸗techniſchen Fragen

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dienenden Natur, verſchwöreriſchen Beſprechungen mit Eng: land, ſo dazu, daß Frankreich wider ſeinen tieferen Gemein⸗ willen von dem ekelgewordenen, von England und Rußland emporgefütterten Gefühl ſeiner Rache in einen Krieg ge⸗ ſchleppt wurde, der es vielleicht in eine Macht zweiten Ranges zurückwerfen kann, auch dann noch könnte, wenn Deutſch⸗ land gegen ſeine übrigen Feinde keinen zweifelloſen Sieg erfechten würde.

Hier und hier allein beſteht alſo das Recht, einzelnen Per⸗ ſonen und Koterien in der franzöſiſchen Regierung, ſowie ein⸗ zelnen Perſonen der engliſchen und ruffifchen Regierung und Diplomatie (König Eduard, Grey, Iswolsky u. a.), die auf die erſteren anfeuernd einwirkten, eine die franzöſiſche Kriegs⸗ politik mitentſcheidende Schuld moraliſcher Natur beizu⸗ meſſen, die von tragiſcher Verſchuldung notwendiger Volks⸗ entwicklungen wohl zu ſcheiden iſt.“ Hier klage man an, hier zeige man auch moraliſche Entrüſtung! Das iſt die ungeheure Paradoxie, die für jeden Denkenden ſo unendlich lehrreich iſt, daß gerade in demjenigen Staatsweſen, das ſich als der klaſſiſche Hüter der republikaniſchen Staatsform und der Demokratie fühlt, in dem Mitglieder der radikal⸗ ſozialiſtiſchen Parteien längſt regierungsfähig ſind, über ein Jahrzehnt hindurch die geſamte äußere Staatspolitik ſich in Bahnen bewegen konnte, die den tieferen Gemeinwillen des franzöſiſchen Volkes völlig entgegen waren und deren Be⸗ ſchreiten in einer Weiſe von einzelnen ehrgeizigen ſpieleriſchen Abenteurern und deren Anhang inauguriert worden iſt, wie dies in keinem monarchiſchen europäiſchen Staat, nicht einmal im autokratiſchen Rußland je möglich geweſen wäre!

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Der innere Widerfpruch einer gang monarchifch geformten, hyperzentraliſtiſchen Verwaltung und ſtets wechfelnder Kam⸗ mermajoritäten, die fie regieren, läßt dieſen Hergang allein mög: lich erſcheinen. Selbſt die Nachtträume eines deutſchen Kaiſers in der Nacht bringen den Gemeinwillen des deutſchen Volkes noch tiefer zum Ausdruck als die wachen Gedanken und Über⸗ legungen jener Männer Frankreichs. Und angeſichts dieſer nicht nur undemokratiſchen, ſondern ethiſch antidemokratiſchen franzöſiſchen äußeren Politik, die Frankreich an den Rand des Abgrundes geführt und zu einem Kriege gegen den echten Gemeinwillen des franzöſiſchen Volkes gebracht hat, wagt man in England und Italien (fiehe das Verhalten der italie⸗ niſchen Republikaner), ja ſelbſt in Amerika zu ſagen, daß die deutſche Sache darum gegen die „Demokratie“ der ganzen Welt gehe, da ſie gegen Frankreich gehe, ihren „Hort“, und daß ſelbſt Rußland noch der „Demokratie der ganzen Welt“ diene, da es Frankreich helfe! Beginnt hier nicht ſchon das Satyrſpiel zu jenem unſagbar tiefen Fall Frank⸗ reichs?

Auch das zweite Hauptkriterium für einen gerechten Krieg daß er dem echten Gemeinwillen des Volkes entſpreche, fehlt alſo dem franzöſiſch⸗deutſchen Krieg auf franzöſiſcher Seite. Es war das grauſige Schauſpiel, das Schwächlinge bieten, die ein Jahrzehnt lang eine dunkle Sache mit uner⸗ müdlicher Heftigkeit betrieben haben, im letzten Augen⸗ blick, da fie zur Verwirklichung führen ſoll, aber im er⸗ wachenden Gefühl ihrer eigenen Schuld und ihres Nicht⸗ gewachfenfeins vor der Verantwortung zurückſchandern, gleich⸗ wohl aber von den Konſequenzen ihres dunklen Treibens mit

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der Gewalt der praktiſchen Logik gezogen, zur Tat gezwungen werden, das die franzöfifche Regierung bot, als fie von der unſrigen nach Eintritt unſerer Mobiliſierungsordre gefragt wurde, wie ſie ſich verhalten wolle. Hinter ihrer halb trotzigen, halb ausweichenden Antwort, „ſo wie es dem Intereſſe des franzöſiſchen Volkes gemäß“ ſei, lag der ganze Jammer einer im Kerne unſchlüſſigen, aber durch die Logik ihrer Politik über das, was ſie verantworten konnte, weit fort⸗ geriſſenen Regierung. Man ſieht: Es war nicht ein neuer reſoluter Willensakt, der ſeitens der franzöſiſchen Regierung die Führung dieſes Krieges bejahte es war lediglich die ſchon jetzt als furchtbar empfundene bloße Konſequenz der eingegangenen Bündnisverpflichtungen zu Rußland ſamt der 17 Milliarden Kredit, die nun einen Entſchluß Menſchen

abrangen, die ſich zu klein für ihn fühlten. Umgekehrt lag

die Sache bei uns. Wir wollten dieſen Krieg, als er reif und notwendig geworden war. Wir ſchrieen nicht à bas la guerre, bevor wir nach Frankreich zogen! Aber wahrlich, wir wollten nicht jene Politik der Eduard, Grey, Iswolsky, Delcaffe, die ihn auch gegen Frankreich notwendig machte; dieſe Politik, die unter dem Schein der Liebe zu Frankreich und der ſchmeichelnden Bewunderung ſeiner Reize nur die ſuk⸗ zeffive Großfütterung des tiefſten Feindes war, den Frank⸗ reich gegen ſich ſelbſt in ſeinem Buſen barg: Seiner ihm alle poſitiven, politiſchen Ziele verdeckenden Rachſucht. Ich kann mich des Eindruckes nicht entſchlagen: Es iſt etwas Teuf⸗ liſches, etwas grauſig Dämoniſches in einer Politik, die durch die Großfütterung eines, ein ganzes Volk verderbenden und zerfreſſenden Haſſes kalt nur auf die Förderung der eigenen

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egoiſtiſchen Zwecke durch eben dieſen Haß gerichtet iſt! Die das eigene Gute oder für gut Gehaltene durch das Böſe und das Selbſtmörderiſche im „Freunde“ verwirklichen laſſen will! Ewig ſchließt dies die ſittliche Weltordnung von ſich aus! Ewig wird die Häupter derer, die es getan, jene Schmach bedecken, die die Schmach des Judas iſt den Dante in die tiefſte Tiefe der Hölle verweiſt. Auch das ift kein ſchönes Amt, hier der vom göttlichen Richter beſtellte Henker ſein zu müſſen; hier die ſo heillos verletzte ſittliche Ordnung der Welt, die eine Ordnung des heiligen Gottes iſt, wieder einrenken zu müſſen. Und das iſt nun unſeres Amtes geworden! Aber mag es „ſchön“ oder „unſchön“ fein: Wir Deutſche find keine galliſchen Schönredner und wir folgen hier wahrlich am wenigſten unſerer Neigung, fon: dern dem Gebot einer furchtbaren Pflicht. Dies Amt iſt nicht „ſchön“ aber es iſt heilig! Selbſt das Merkmal ewiger Dummheit, das der ſinnvolle Volksmund mit dem des ewigen Haſſes dem „Teufel“ zuteilt, fehlt hier nicht. Denn wie ſollte die Politik, die ein Volk innerlich tötet, auch nur den Intereſſen der Verführer dauernd helfen? Wenn der Kündiger der Herzen auch heute auch jetzt in dieſem Augen⸗ blick prüfte, bei welchen Völkern mehr echte Liebe iſt für Frankreich, viel Liebe dabei, die ſich ſchüchtern wie vor ſich ſelbſt verſteckt, die ſich unter dem Druck des Krieges nicht hervorwagt, die ſich ſchämt und zittert, bei den Verbün⸗ deten, deren Heere auf ſeiner Seite kämpfen oder bei uns, die wir jetzt ſeine Felder und Städte verwüſten und ſeine Jugend dezimieren und dies mit jener deutſchen Kraft und deut⸗ ſchem Angriffsgorn, der nichts weiß von giftigem Haſſe

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was würde er gewahren? Er würde auch ich kenne viele Beiſpiele beim gemeinen Mann ſelbſt, der nichts weiß von franzöſiſcher Form, Kultur, von klaſſiſcher Logizität und der tiefen Schönheit franzöſiſcher Wiſſenſchaft, erſt recht nichts von franzöſiſcher Fineſſe, hinter der empfundenen ſittlichen Notwendigkeit, dieſen volkswidrigen Staat ebenſo furchtbar zu ſtrafen, als ſeine Sünde furchtbar war, er würde hinter allem Angriffszorn und aller Angriffswut der „Barbaren“ noch eine faſt gerührte Liebe zum großen guten Kerne Frank⸗ reichs gewahren, zum Volke Frankreichs, zu all dem auch, in dem es uns ſittlich und geiſtig komplementär zu ergänzen, in dem es das ernſte, dunkle, unbewußte, ſchwere, erhabene, ger⸗ maniſche Leben heiterer, klarer, leichter und ſchöner zu machen vermag. Er würde daneben überall in Deutſchland ein tiefes Mitgefühl finden für die Mot und das Geſchick Frankreichs, das mitzuverwirklichen uns die ewige Gerechtigkeit als ſchwer⸗ ſten Dienſt in dieſem Kriege verordnet hat.

Aber noch mehr! Sehen wir einmal von England ab. Sein Bündnis mit Rußland iſt völlig anderer Natur, als das Bündnis Frankreichs mit Rußland. Es entſpricht nicht, wie das letztere, dem Wunſche, Deutſchland auch als inner⸗ europäiſche Macht in eine Macht zweiten oder dritten Ranges zu verwandeln; es iſt nur Folge der alten Gleichgewichts⸗ methode und im Geheimen rechnete man mit einer ſtarken Schwächung Rußlands durch die deutſchen Waffen. Dazu find die politiſchen Lebensgeſetze des Inſelſtaates fo eigentüm⸗ liche und ſpezifiſche, daß er jedenfalls denjenigen Weſtſtaat dar: ſtellt, der von der großen welthiſtoriſchen Auseinanderſetzung der Oſtmächte mit den kontinentalen Weſtmächten, die ſeit

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dem japaniſch⸗ruſſiſchen Kriege in den Geſichtskreis der Welt⸗ geſchichte getreten iſt, in ſie ein ganz neues Bewegungs⸗ element hineingetragen und relativ am unabhängig⸗ ſten iſt. Hätte der große Drang von Oſt nach Weſt, der mit der Niederlage des zum Teil ſeeliſch noch immerhin europanahen Rußlands und der Erſchütterung ſeiner Ex⸗ panfionspläne gegen den Oſten begann, und der ſich in dieſem Kriege als Bewegung der halbaſtatiſchen Autokratie, des Byzantinismus und der Orthodoxie, gegründet auf das Eigentümliche und relative Aſtatiſche in der ruffifchen Welt⸗ anſchauung, aber im Gegenſatze zu der ſogenannten Euro⸗ päiſterungsbewegung in Rußland ſeit Peter dem Großen fortſetzt, hätte dieſer Drang welthiſtoriſchen Erfolg, wür⸗ den die weſteuropäiſchen Kontinentalmächte aus derjenigen führenden geiſtigen und politiſchen Weltſtellung verdrängt, durch die ſie in einem gewiſſen Sinne der ganzen menſchlichen Kulturwelt den Stempel ihres eigentümlichen Weſens auf: drückten, ſo würde damit das engliſche Weltreich noch relativ am wenigſten betroffen. Die Wendung ſelbſt aber wäre die radikalſte, die ſeit dem Untergang des Römerreiches und dem Erſcheinen der Germanen die Geſchichte genommen hat. Englands Exiſtenz hängt viel mehr von der techniſchen Frage der Landungsmöglichkeit an feinen Küſten ab, als von dieſer welthiſtoriſchen Frage. Freilich: Gelänge es dabei dem Weſten nicht, im Sinne des weitſichtigen, ſeiner Zeit nur zu ſehr auf die gelbe Gefahr verengten Kaiſerwortes „Europas heiligſte Güter zu wahren“, d. h. die oſtweſtliche Bewegung umzukehren, ſo wäre es mehr als fraglich, ob England, ſelbſt wenn es dann noch politiſch und ökonomiſch exiſtenzfähig

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wäre, allein auf fich geſtellt, auch die Führerſchaft der euro⸗ päiſchen geiſtigen Kultur auch nur bewahren, geſchweige dieſe Kulturmacht führen und ſteigern könnte. Wahrſcheinlicher iſt, daß der alte utiliſtiſche Geiſt in ihm dann noch mehr das Übergewicht erhielte und es lediglich zum Lieferanten und Dienſtboten der Ziviliſationsmechanismen, die für dieſe neue, nun zur Herrſchaft gekommenen öſtlichen Kultur brauchbar wären, herabſänke, im Banne, in den Scheuklappen ſeines jetzt ſchon ſo ſtarken „inſulären Denkens“ aber völlig ſich geiſtig verdunkelte. Von Newman, O. Wilde bis zu Cheſterton und Shaw zeigt ſich immer ſtärker, daß in England der Geiſt, wenn nicht wie in Newman als Märtyrer nur mehr als Poſſenreißer Platz hat. Die ruſſiſche Gefahr kennt auch Eng⸗ land gut genug; und da es fie kennt, würde es einer Ruſſiftzie⸗ rung Europas, ſelbſt einem über Deutſchland ſiegenden Ruß⸗ land ſicher entgegentreten wenn nur die deutſche Flotte vorher vernichtet iſt. Das Wort des Poſſenreißers Shaw, man müſſe zuerſt „mit Hilfe Rußlands den deutſchen Militarismus, dann mit Hilfe Deutſchlands die ruſſiſche Autokratie treffen“, gibt ſo widerſpruchsvoll es iſt die eben hier „widerſpruchsvolle“ Meinung des Inſelvolkes ganz treffend wieder. Wie ganz anders aber iſt das franzöfifcheruffifche Bündnis, iſt die Unter⸗ ſtützung, die das arme verführte Frankreich jetzt der großen Bewegung von Oſt nach Weſt leiſtet, zu beurteilen! Schon in der Tatſache dieſes perverſen Zuſammengehens ſteckt auf

ſeiten Frankreichs ein geheimer Wille zur Dekadenz, eine

Wirkung eben desſelben Grundwillens, der ſich im Bevölke⸗ rungsrückgang und Zwei⸗ und Dreikinderſyſtem äußert, eine ſo geſuchte Nichtachtung weſteuropäiſcher Kulturwürde,

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rc Be W 33 * Wir,

eine fo hyſteriſch weibiſche Preisgabe jahrhundertelangen Staats⸗ und Kulturwollens für eigenes Rancüne⸗ und Rache⸗ gelüſt zugunſten des autokratiſchen Oſtſtaates, daß ſchon die Tatſache des Bündniſſes wenn man ſie allein für ſich betrachtete die ſtärkſte Sprache für die Wahrheit des ſogenannten Teſtamentes Peter des Großen und jener ſlavo⸗ philen, byzantiniſchen Geſchichtsphiloſophie der Doſtojewski, Leontjew, Soloojew, Pobjedonoszew, Tolſtoi reden würde, die bei aller ſonſtigen Verſchiedenheit der Gedanken und Ziele die Lehre von der weltgeſchichtlichen Ermüdung und Ausgelebt⸗ heit des europäiſchen Weſtens predigen und dem ruſſiſchen Volk und Staat das ſchimmernde Ideal einer großen kultu⸗ rellen Zukunft in Weſteuropa prophezeiten. Hier darf man wirklich einen Augenblick die ernfte Frage im Sinne jener großen ſlaviſchen Denker ſtellen:

Iſt Weſteuropa vielleicht doch wert, zugrunde zu gehen, da einer der zentralſten Urſprungsquellen feiner jahrhunderte⸗ langen weltorganifierenden Aktion zum willfährigen Diener ſeines größten Dauerfeindes, des Ruſſentums und des Zaris⸗ mus, geworden iſt? Frankreich, des Weſtens Verräter! Frank⸗ reich, der Verräter aller, aber auch aller feiner eigenen Staats-, Rechts⸗, Kulturideale, feines eigenſten Wollens, feiner eigenen Kraft! Du edles, du klaſſiſches Frankreich des 17. Jahr⸗ hunderts, Reine, Stolze, Ritterliche du, unſerer heiligen weſt⸗ lichen antignoſtiſchen, auf Tat und Liebe gegründeten Kirche älteſte Tochter, du Land der Klarheit des Geiſtes, der höchſten Ingenioſttät des erfinderiſchen Denkens und der politiſchen Freiheit wie iſt all dein Adel und ſchließlich ſelbſt all dein Reiz von dir abgefallen! Wie klein und gemein, wie niedrig biſt du

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geworden wie zerſtört dein Antlitz, ſeit Haß und Neid nur mehr die geheimen Schöpfer deiner politiſchen Liebe wurden und du dein eigenes Weſen, dein Selbſt dem niedrigſten Affekte der Rache zum Opfer bringſt! Seit du nichts mehr biſt als Reaktivität, zerwühlt und zerfreſſen von nichts als Reſſentiment! Eine Staatengruppe, die wie diejenige Europas durch Kulturgeiſt ſolidariſch iſt, deren Glieder aber ſich politiſch nur mehr „lieben“ aus gemeinſamem Haß gegen ein anderes Glied der eigenen Gruppe, und die mit Staaten außerhalb dieſer Gruppe nur aus gemeinſamem Haß gegen ein, der eigenen Gruppe angehöriges Glied in eine Bündnisverbindung treten, wäre nach allen Grundgeſetzen des geiſtigen Lebens, die vom Elementarſten ins Komplizierteſte hineinreichen, der notwen⸗ digen Auflöſung verfallen. Dies bedenke man! Man ſtelle ſich Frankreichs Revanchegelüſte für 1870 durch einen jetzt erfolgenden Sieg des Zweibundes geſtillt und befriedigt vor! Vielleicht findet es dann ſein Weſen wieder! Vielleicht kommt es dann wieder zu ſich ſelbſt. Aber es wäre zu ſpät! Nachdem es einmal den gemeinſamen Kulturboden Weſteuropas, den es mit Italien als erſter gedüngt und be⸗ arbeitet hat, verraten hätte verraten nur für ſeinen Haß würde es mit Schrecken in das Antlitz eines neuen Herrn Europas ſehen, der ſchon durch die Kraft ſeiner zeugenden Lenden allein den zierlichſten Ritter unſerer Ziviliſation zu ſchanden machen müßte. Dieſe zuerſt nur platoniſch⸗ romantiſche damenhafte Koketterie mit dem Zarismus, deren reale Folge ſchon zu Beginn des Krieges der Franzoſe mit innerſtem Er⸗ ſtarren und dem kläglichen Schrei: „a bas la guerre“ gewahrte, war mit all ihrem perverſen Reiz des Alten zum Jungen,

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des Uberziviliſterten zum Roh⸗Naiven, des unfruchtbaren Schönen zum fruchtbar Maſſigen, ja ſelbſt nur möglich, weil ein ſelbſtändiges nationales Deutſchland und Oſterreich allzu derbe Annäherungen der Verliebten verwehrte. Nur die Entfernung, das weit vom Schuß, machte den Reiz und die Möglichkeit dieſer allzu romantiſchen Liebe aus.

Man würde daher dieſen Krieg unter einem prinzipiell falſchen Geſichtswinkel ſehen, ſähe man nur ausſchließlich die deutſche und öſterreichiſche Sache an ſeinen Ausgang geheftet. Wie groß dieſe Sache und wie ſelbſtwertig ſie immer ſei, das, was heute auf dem Spiele ſteht, iſt faktiſch Tod oder Sieg des lebendigen Kulturodems, der ſeit den klaſſiſchen Griechen alle weſtliche Geſchichte und Leiſtung, allen Staat, alles Recht bis auf deren religiös⸗metaphyſiſche Wurzeln im weſtlichen Chriſtentum aus ſeiner Tiefe ausgehaucht hat. Und fo weit, und doch fo charakteriſtiſch muß die Idee dieſes Kultur⸗ odems gefaßt werden, daß Hellas und Rom, ja Antike und Mittelalter, Renaiſſance, Reformation und Nenzeit darin ebenfo nur relativ zufällige Spielformen ausmachen, wie erft recht die inneren nationalen und volklichen Sonderformen dieſer europäiſchen Kulturbildungen, wie die Weltanſchau⸗ ungen von Gregor VII. bis Voltaire, von Thomas bis Kant, wie alle differenten gegenwärtigen politiſchen und ſozialen Kräfte und Ideale von Bebel bis zu Herrn von Hertling und Herrn von Heydebrand. Alles dies und noch tauſendfältig anderes fällt noch nicht heraus aus dem Hauche dieſes Odems, ſondern war in ſeiner Möglichkeit noch enthalten. Aber wahrhaft aus ihm heraus fällt nicht etwa das Slaven⸗ tum in toto wohl aber jener tiefe Zuſammenhang, den

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griechiſche Orthodoxie, Zäſaropapismus, Byzantinismus, religiöſer Quietismus, Knute und Schnaps, Peitſche und Zuckerbrot, der brutale Sadismus einer rohen, niedrig ge⸗ ſtirnten Herrſcherkaſte und weibiſcher Maſochismus einer knutenlüſternen, unorganiſchen Maſſe, den weibiſcher Ge⸗ fühlsüberſchwang und Vernunftverachtung miteinander bilden. (Vergleiche das Kapitel: „Die geiſtige Einheit Europas“.)

Was alſo täten wir in Wahrheit, wenn wir Frankreich an der Erreichung des Erfolges dieſer ſeiner eigenen Selbſtproſti⸗ tution und in ihr des Weſtens hindern, indem wir es nieder⸗ ringen? Wir täten objektiv nichts anderes, als daß wir mit Einſatz unſerer eigenen Exiſtenz ſein beſſeres Selbſt retten und den ſchönen Genius ſeiner Kultur für eine fernere große Auswirkung in der Geſchichte bewahren! Ich wage zu ſagen: wir vollzögen, indem wir jetzt vielleicht zunächſt ſein militäri⸗ ſcher Henker werden müßten, die größte Tat der Liebe auch an ihm, die zur Zeit an ihm möglich iſt! Und ich wage zu ſagen: einſt wird dies Frankreich erkennen! Wird ihm das Heil widerfahren, von uns gründlich beſiegt, ohne als Großſtaat vernichtet zu werden, wird es damit errettet ſein von der ewigen Schmach, durch ſeinen Verrat des weſtlichen Kulturodems die Fahne der Kultur und Zivilifation an Amerika abgeliefert und Europa endgültig aus ſeiner Führer⸗ ſtellung herausgedrängt zu haben, ſo wird alles Gute und Große in dieſem edlen Volke wieder erwachen! Es wird ſeine abenteueriſchen Rechtsanwälte, die Frankreich von einer, ſeiner tiefſten Wurzeln, ſeiner Religion und Kirche, in der Kultgeſetz⸗ gebung (1901-1906) frech und ehrfurchtslos abzuſchneiden ſuchten, die all ſeinen Beſitztum an Geiſt und einer edlen ritter⸗

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lichen Heerestradition mit ihrer willkürlichen Regiererei aus der franzöſiſchen Politik möglichſt herauszudrängen ſuchten, die es ohne volle Kenntnis von den faktiſchen Bedingungen der vollen Kriegsbereitſchaft eines modernen Staates in dieſes Bündnis und in dieſen Krieg hineinlockten es wird das ganze Syſtem, das zur Herrſchaft dieſes Typus Menſch in Frankreich führte, ein Typus, der ſich ſeit Jahrzehnten in immer niedrigeren, theatraliſcheren Skandalen (Panama 1892, Dreyfusprozeß 1894, 1906, Schlachtſchiffkataſtrophen 190 und 1911, Caillauxprozeß) ſo wundervoll ſelbſt charakte⸗ riſterte, es wird dies Syſtem, deſſen erſte hiſtoriſche Keime ſchon Balzac ſo herrlich in ſeinen lächerlichen Typen zu ſchildern begann und dem er in der Vorrede zur Comédie humaine das Urteil ſpricht, zur Rechenſchaft ziehen und über den Haufen werfen; es wird die wahre Natur ſeiner „Freunde“ erkennen und, wie wir alle zu Gott hoffen, dann mit uns in eine dauernde Bündnisfähigkeit gelangen.

Alſo möchte dieſer ungerechte Krieg vielleicht doch noch für Europa zur Wurzel eines neuen höheren Rechtszuſtandes werden? Er kann es. Aber er birgt wie jede an ſich um: gerechte Sache auch für uns ein hohes Maß von Wer: führung, einer zwiefachen Verführung, der wir nicht folgen dürfen, nicht, um keinen Preis! Die erſte Gefahr dieſer Verſuchung beſteht darin, daß wir, von vornherein an einen eventuellen Krieg mit Frankreich fo viel beſſer angepaßt, als an einen Krieg mit Rußland und erſt recht mit England, mehr dasjenige tun, was wir können als das, was wir ſollen; dazu ſind unſere militäriſchen Operationen gegen Frankreich ſo ſehr viel weiter fortgeſchritten als jene gegen Rußland und

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England! Die Gefahr liegt allzunahe, daß wir eine wirk⸗ liche Austragung des echten welthiſtoriſchen Gegenſatzes zwiſchen uns (einfchließlich Oſterreichs) und Rußland iſt in dieſem Kriege von Hauſe aus nicht zu erwarten ohne end⸗ gültige Auseinanderſetzung mit England zu einem zu frühen Ge⸗ ſamtfrieden gelangen würden; dann aber für die ungeheuerſten Opfer und Unkoſten dieſes Krieges in einſeitiger Weiſe Frank⸗ reich, und Frankreich zum großen Teile auch dafür belaſteten, was uns unſere anderen Feinde an Schaden zugefügt haben. Dies aber müſſen wir nach Möglichkeit unbedingt zu vermeiden ſuchen! Soweit es nur irgendwie angeht, müſſen wir in den beiden gerechten Kriegen überhaupt, hier aber an erſter Stelle mit England zu einer möglichſt endgültigen Aus⸗ tragung der großen Gegenſätze kommen. Und kein Opfer darf uns für dieſes Ziel zu teuer ſein! Die Spannung mit Frankreich iſt aufzuheben mit dem gegenwärtigen Typus von franzöſiſcher Regierung; die anderen Spannungen ſind ſolche welthiſtoriſcher Art erſter Ordnung und müſſen ſollten ſie nicht hinlänglich ausgetragen werden in immer neue Kriege hineintreiben! Iſt aber eine Austragung jener welthiſtoriſchen Gegenſätze in dieſem Kriege, wie zweifellos die Austragung ihrer gegenüber Rußland, nicht möglich nun ſo müſſen wir jedes Verfahren gegen ein befiegtes Frankreich vermeiden, das es dauernd ausſchließt, daß die dann ſicher und notwendig noch folgenden Kriege in einem Bündnis mit Frankreich geführt werden. Wir müſſen weiſe ſein wie Bismarck in Prag, als er der „Queſtenberg im Lager“ hieß! Mit Abſicht rede ich hier nur ſo allgemein und beſtimme nicht näher, was hier „Austragung der Gegenſätze“ und was jenes zu „vermeidende

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Verfahren gegen Frankreich“ im einzelnen bedeuten möchte. Denn dazu iſt die Zeit noch nicht da! In einem ungerechten Krieg ziemt Großmut dem Sieger mehr wie in einem ge⸗ rechten!

2. Der Glaube an unſer höheres Recht in dieſem Kriege

Alles Bewußtſein des höheren Rechtes eines Volkes wäh⸗ rend eines noch ſich vollziehenden Krieges, ob er an ſich „gerecht“ iſt oder „ungerecht“, muß und darf nur ſo ſagte ich die Form des Glaubensbewußtſeins haben, nicht aber jenes vermeſſenen ſcheinbaren Wiſſens, das die lebendige Tat der Rechtsfindung, die im Erfolg der Waffen in einem gerechten Krieg allein nur beſtehen kann, überflüſſig machen würde: und zwar jenes Glaubens, das nicht ein un⸗ vollkommenes Wiſſen iſt, ein Mangel an Wiſſensevidenz, das vielmehr feine eigene Art von Evidenz hat, eben die „Glaubensevidenz“, eine Art der Eoidenz, die ſich nur an jenes tätige Feſthalten der Güte eines Willens und der Wahrheit eines Gedankens im Zentrum der Perſon, an jene Selbſtidentifizierung der Perſon mit einer Sache knüpft, die wir „Glauben“ in jenem tiefen Sinne nennen, in dem Luther das Wort begriff. Ein Glaube hat keine „Gründe“, die ihn notwendig machen, wie der Schlußſatz aus den Prämiſſen heraus notwendig iſt. Aber er hat „Grundlagen“, die ihn rechtmäßig motivieren oder nicht motivieren und dieſe „Grundlagen“ ſind nicht etwa mit ſeinen ſeeliſchen Urſachen zu verwechſeln. Die Grundlagen des Glaubens an das höhere Recht

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eines Volkes find aber immer und weſensnotwendig zugleich Grundlagen des Glaubens an feinen Sieg! Denn eben der Sieg iſt hier zugleich die Erwirkung und Bewährung auch des höheren Rechtes! Selten war das höhere Recht eines Volkes ſo beſtritten wie das unſrige! Noch ſeltener ward an ſolches Recht tiefer und heiliger geglaubt! Und zwar geglaubt auf unſere Weiſe, ſo wie eben nur der Deutſche an ſein Recht „glauben“ kann, glauben muß, ſo er glaubt. Vergeſſen wir es nie, vergeſſen wir es auch nicht in dieſen Tagen, daß eine gewiſſe tiefſte Wurzel deſſen, was man „Kosmopolitismus“ nennen darf, ſelbſt ein Weſens⸗ merkmal des deutſchen, gerade als eines eigentümlichen natio⸗ nalen Geiſtes iſt! Das erſcheint paradox, daß jenes tiefe Verſtehen, das mit dem Herzen und dem Geiſte Umfaſſen⸗ können von fremdem Volkstum, fremder Geiſtesart, das unſere Geiſteswiſſenſchaften und unſere Geſchichtswiſſenſchaft ſo groß gemacht, daß analog im Sittlichen eine tief⸗geheime Mitoerantwortlichkeitsempfindung für das Geſchick der ganzen Menſchheit im deutſchen Geiſte gerade die Seinsform eines einmaligen, ganz individuellen, „nationalen Geiſtes“ angenommen haben. Aber eben dieſes Paradox iſt die Wirk⸗ lichkeit des Deutſchen! Auf eben dieſen Beſtandteil des Deutſchtums gründet ſich an erſter Stelle mit, feine Welt⸗ beſtimmung, fein Weltberuf, feine Pflicht zum Welt ſinn all ſeiner Tat und Arbeit. Und aus ihr folgt, daß es das deutſche Gewiſſen ewig dem Deutſchen verbietet, ſich irgend⸗ ein Recht und irgendeine Pflicht anzumaßen, die er gegen den Sinn jenes großen, in der Tiefe ſolidariſchen Ganzen empfände, das wir die „Welt“, die Welt Gottes nennen!

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Dieſer „Kosmopolitismus“ des deutſchen Weſens hatte im Laufe der Zeiten gar verſchiedene Geſtalten. Fr. Meinecke hat ſie uns innerhalb der politiſchen Sphäre jüngſt feinſinnig mit allen ihren hiſtoriſchen Ubergängen entwickelt; darunter auch Geſtalten, die wir allmählich als falſch, als verderblich erkannt haben. Im 18. Jahrhundert hatte fie zu falſcher Anpaſſung an Fremdes, bis zum Unglauben an den Wert des eigenſten deutſchen Weſens geführt, ja noch mehr bis zur Verſchüttung des Sinnes für unſer Eigentümliches, ſelbſt dafür noch, daß eben der Kosmopolitismus ſelbſt gar nichts Kosmopolitiſches, ſondern ein Eigentümliches, uns national Eigentümliches iſt. Aber auch bei Fichte, bei Stein, Harden⸗ berg, Wilhelm von Humboldt bis herauf in den roman⸗ tiſchen Jugendkreis des Fürſten Bismarck mit ſeinen beiden legitimiſtiſch geſinnten Freunden Gerlachs behielt der Kosmo⸗ politismus noch eine Macht neben, dann innerhalb der lang⸗ ſam ſich entfaltenden, vielgewandten deutſchen National⸗ idee ſelbſt, die noch nicht ſeine tiefſte Form darſtellt, die er annehmen kann. Er war immer noch zu unmittelbar, zu rationaliſtiſch, zu phyſiſch, zu politiſch! Immer noch galt in irgendeiner Form der Gedanke, daß ſich der Deutſche in ſeinem politiſchen Handeln nicht nur ſein eigentümliches Beſtes, ſondern ein politiſches „Weltbeſtes“ zum Ziele ſetzen, ja zum bewußten Zwecke zu machen habe; auch wenn, wie in Fichtes „Reden“ dieſes „Weltbeſte“ in der deutſchen Miſſion ſelbſt enthalten gedacht war. Der „Vernunft“ begriff jener Zeit (Fichte z. B. ſchildert in ſeinen Reden das deutſche Volk als das Vernunftvolk) ſchloß im tiefſten Grunde den Begriff einer „geiſtigen Individualität” aus,

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d. h. einer ſolchen Individualität, die nicht erſt auf Grund ihrer naturhaften, ſinnlichen Beimiſchungen und Funda⸗ mente zur Individualität bloß beſchränkt ſei, die viel⸗ mehr als rein Geiſtiges ſelbſt ſchon individuell und national in einem pofitiven Sinne nicht alſo in dem einer Berau⸗ bung und Beſchränkung einer allgemeinen Vernunfttätigkeit ſei. Erſt Bismarck gab uns die in Tat und Wort ſo große, ſo ehrliche Lehre, die einen ungeheuren Fortſchritt in der politiſchen Moral bedeutete, daß eine „Politik für das Welt⸗ beſte“, ſei es auch nur im Sinne Fichtes oder des ganz anders⸗ artigen Gerlachſchen „Legitimismus“, für einen Staat der Abgrund der Sünde ſei. Der Abgrund der Sünde nicht etwa ein „utopiſches Ziel“, das anzuſtreben nur die realen Bedingungen alles Staatslebens verſagen! Aber dieſe große, herrliche Lehre wurde nicht immer richtig verſtanden! An⸗ ſtatt eine Umformung und Verinnerung des deutſchen Kos⸗ mopolitismus in ihr zu ſehen, der zum Deutſchen gehört wie die Luft zum Vogel, das Waſſer zum Fiſch, der das heilige Element iſt, in dem die deutſche Seele allein lebt und atmet allein leben, atmen kann, atmen frei und ſelig im ewigen Gegenſatz zu engliſch inſulärer Borniertheit, engliſcher Ver⸗ wechslung von Umwelt und Welt, engliſcher Sitte mit kos⸗ miſchem Geſetz, zu engliſchem Dummſtolz, aber auch zu galliſcher Eitelkeit, allüberall die „Humanité“ zu vertreten ſahen gewiſſe „deutſchnationale Kreiſe“ in Bismarcks großer Lehre einen Bruch mit der kosmopolitiſchen Idee überhaupt. Sie wagten es, allen Kosmopolitismus „Traum“ und „Wahn“ zu nennen! Sie erdreiſteten ſich, an die Tiefe der deutſchen Seele zu greifen, an den Kern des deuffchen.

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Gewiſſens ſelbſt! Sie nannten fich „alldeutſch“ und löſchten zuerſt ein Weſensmerkmal aus der Deutſchheit ſelbſt aus, das ſie konſtituiert. Sie wollten alldeutſch ſein und waren noch nicht einmal deutſch! Sie nannten fich „alldeutſch“ und ahmten äffiſch den engliſchen Egoismus und Jingoismus, engliſche Endlichkeit, nur entſetzlich vergröbert, nach! Ihre Deutſchheit war alſo nur Reſſentiment gegen England, das ſie verdammten, indem ſie es nachahmten, das ſie nachahmten, indem ſie es verdammten! Aber wie kann alldeutſch ſein, wer zuerſt das Weſen des Deutſchen ſo abgrundtief verkennt? Nein! Das iſt vielmehr die große Umformung, daß jetzt erft nach Bismarcks tiefer Lehre der „Kosmopolitismus“ den heiligſten Ort im Deutſchen fand, an den er hingehört, der ſeiner Tiefe und inneren Schönheit allein ganz würdig iſt: Den Ort der deutſchen Geſinnung, des deutſchen Ge⸗ wiſſens, des deutſchen Herzens und zwar an der Stelle, wo dieſe drei ihre Geiſtesaugen vor dem Ewigen auftun nicht vor dem Irdiſch⸗Politiſchen wo ſie ſtille und abgeſondert von der Erde unmittelbarer Tat und Erdenarbeit vor Gott und der Welt Gottes ſtehen. Wo ſie ſich geheimnisvoll mit Gott als dem Genius der Welt auch über das noch beraten, was der deutſche Staat zu tun habe, was nicht! Das iſt alſo die Umformung, daß im 18. Jahrhundert und in gemäßigter Form auch noch ſpäter der Kosmopolitismus ganz irdiſch war, ja ein politiſcher Zweck, das Nationale aber umgekehrt ganz ein halbtranszendentaler Traum in den Lüften der Dich⸗ tung und Literatur; daß nun aber die Nationalidee zur einzigen und ausſchließlichen zweck beſtimmenden Idee des politiſchen Handelns des deutſchen Staates wurde, das Kos⸗

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mopolitiſche aber ganz in die Sphäre des Gewiſſens, der Geſinnung, d. h. des metaphyſiſchen und ethiſchen Wie alles und jedes politiſchen Handelns fiel. Alles mit Kosmopolitis⸗ mus, nichts aus Kosmopolitismus, möchte man mit einer Transformierung des tiefen Schleiermacherwortes über die Religion ſagen! Was Bismarck erkannt, war alſo: Ein kosmopolitiſches Gut, irgendein Weltbeſtes als Zweck für das Handeln eines Staates zu ſetzen iſt nicht eine ſchöne und hu⸗ mane, ſondern eine freche, unehrfürchtige Haltung, iſt un⸗ verſchämter Eingriff in die Güte, die Macht des heiligen Gottes, der allein die Alliebe und die Allweisheit hat, für das „Weltbeſte“ zu ſorgen! Wer ſich das anmaßt, ein Einzelner oder ein Staat, der tut nichts anderes, hat nie ein anderes getan, als ſeine Intereſſen unter die Idee des „Welt⸗ beſten“ zu verſtecken; d. h. er iſt ein Phariſäer und Heuchler! Mit dieſer Unverſchämtheit hat ſchon Ludwig XIV., hat auch Napoleon feine Eroberungsgier gedeckt, hat Talleyrand auf dem Wiener Kongreß die Sieger betrogen und zu dieſem Zwecke das leere Idol des „Legitimismus“ erfunden. Mit dieſer unerhörten Frechheit gegen den lebendigen Gott im Munde hat England bis zu den Worten des Imperialiſten Chamberlain, „es liege zweifellos in der Vorſehung Gottes für die Menſchheit begründet, daß der Globus künftighin möglichſt viel engliſch Rot enthalte“, oder dem Worte Curzons 1894, daß „das Britiſche Reich von der Vor⸗ ſehung zum größten Werkzeug für das Gute beſtimmt ſei, das die Welt je geſehen hat“, bis zu ſeiner jetzigen Geſte, es habe mit ſeiner Kriegserklärung an uns „für die Rechte der überfallenen kleinen Völker, Serbien und Belgien aus

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Gründen der Gerechtigkeit eintreten müſſen“, Vorſehung geſpielt und allen ſeinen ungerechten Kolonialeroberungen zuletzt ſeinem niederträchtigen Verhalten in Agypten die Schmach der Lüge und die tiefere der Verleugnung und Verläfterung des lebendigen Gottes hinzufügt! Wir Deutſchen alſo, wir wollen nicht für das Weltbeſte, nicht für „die Rechte fremder Nationen“ in dieſem Kriege eintreten, ſon⸗ dern ganz ſchlicht und recht für unſere eigenen Rechte, für unſer „Beſtes“! Ja, wir halten ſchon die Moral, nach der „gut“ iſt, was die Engländer hier „gut“ nennen, für abſolute Unmoral! (ſ. Anhang). Nicht aber für unſer „Beſtes“ im Sinne des engliſchen „Nutzens“, ſondern für das „Beſte“ in uns, d. h. das eigentümlich Geiſtige und Mächtigſte in uns und für ſeinen notwendigen Spielraum der Tat wollen wir eintreten! Aber indem wir das tun werden, werden wir es tun in unſerer eigenſten kosmopolitiſchen deutſchen Geſinnung, die unſere handelnde Seele umſpült und umweht als ihr einzig mögliches ſchönes Element! Nicht in Kontinuität mit dem alſo, was andere Völker für ihr Wohl oder für das „Wohl der Menſchheit“ halten, oder was wir uns ſelbſt anmaßten, dafür zu halten, ſondern in erlebter Kontinuität mit dem Herzen der Welt ſelbſt, in deſſen unendlicher Um⸗ hegung wir demütig das Herz unſeres eigenen Volkes pochen fühlen, werden wir handeln und dabei werden wir nicht wiſſen und deduzieren, wohl aber werden wir es glauben, es werde eben auch dies für die Welt, für Gottes Welt das Beſte ſein!

Und in dieſem Sinne „glauben“ wir es und halten es tief in unſerer Seele feſt, daß eine Bewahrung unſerer Freiheit

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und Selbſtändigkeit, daß zugleich eine Neugeburt des deut⸗ ſchen Staates und Oſterreichs in dieſem Kriege obzwar der Zweck unſeres Tuns allein nur und ausſchließlich durch die Idee un ſeres Heiles beſtimmt ift auch noch einen „Sinn“ beſitzen möge, der weit über unſer nationales Heil hinausgeht, der alſo gar nicht Teil unſerer „Zwecke“ iſt, ſondern allein Folge davon, daß wir Deutſche es ſind, die die Zwecke ſetzen, daß es die kosmopolitiſche deutſche Seele iſt, aus der ſich die Zwecke emporringen!

Das erſte und zweifelloſeſte Fundament dieſes unſeres Glaubens an unſer Recht iſt, daß wir einen Verteidigungs⸗ krieg führen, und zwar einen Verteidigungskrieg um Exiſtenz, Selbſtändigkeit und Freiheit unſeres Staates nicht alſo um eines partikularen „Zweckes“ wegen, deſſen Aufgeben uns dieſen Krieg hätte erſparen können, das Schwert ergriffen. Und dieſer Satz ſteht feſt völlig unabhängig davon, ob wir Oſterreichs Mote an Serbien kannten oder nicht, ob dieſe Note den Krieg Serbiens mit Oſterreich vorausſehbar not⸗ wendig machte oder nicht, ob Oſterreich und wir Rußlands Eingreifen bei einem ſerbiſch⸗öſterreichiſchen Kriege voraus⸗ ſahen oder nicht. Wie ſich im einzelnen dieſe Hergänge voll⸗ zogen, darüber dürfen wir vielleicht einmal nach einem Jahr⸗ zehnten ſtrengen Aufſchluß aus den Archiven erwarten. Auch wenn unſere Verhandlungen ſo beſchaffen waren dies wäre ein eminentes Verdienſt unferer Diplomatie geweſen daß wir durch ſie unſeren Gegner moraliſch zwangen, uns jetzt und nicht erſt zwei oder drei Jahre ſpäter anzugreifen, ſo bleibt unſer Krieg gleichwohl ein purer Verteidigungskrieg. Beſſer als alle Uberlegungen über die Politik unſerer Feinde

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feit 1891 (deutſch⸗franzöſiſches Bündnis), 1904 (Einver⸗ nehmen Englands mit Frankreich) und 1907 (Einvernehmen Englands mit Rußland), beſſer ſelbſt als die große Menge von allzuberedten, jetzt an das Tageslicht gekommenen Tat⸗ ſachen und Einzelabmachungen zwiſchen Belgien⸗Frankreich, Belgien⸗England, Rußland⸗England über militäriſches Zu⸗ ſammenwirken gegen uns, zeigt dies der einfache Tatbeſtand, daß uns beſtimmte angebbare Zwecke in dieſem Kriege außer eben der Erhaltung unſerer politiſchen Reichsexiſtenz ſelbſt fehlen. Vernichtung der deutſchen Seemacht, des deutſchen Kolonialreiches und des deutſchen Handels even⸗

tuell Abſchneidung Deutſchlands vom Meere, Wieder⸗ gewinnung des Elſaß, Rußlands Balkanhegemonie und Kon⸗ ſtantinopel dies ſind klar durchſchaubare „Zwecke!“ Wo wäre auf unſerer Seite ein Gleiches? Haben wir einſt „Zwecke“ erſt durch dieſen Krieg, erſt in ihm wurden ſie und werden fie geboren! Von einer innereuropäiſchen Ex⸗ panſtonspolitik konnte bei uns auch nicht im entfernteſten die Rede ſein! Friedlich geſinnt bis zu einem Grade, der uns den frechen Ruf der franzöſtſchen Preſſe „Il a peur, le bon Guil- laume“ (bei Unkenntnis der Perſon unſeres Kaiſers) faſt ver: ſtändlich machen konnte, der „reine Thor“ in dem Itnmer⸗ und Immerwiederglauben an engliſche Friedens- und Freund⸗ ſchaftsbeteuerungen, auch in unſeren ökonomiſchen und gei⸗ ſtigen Intereſſen ganz nur auf den Frieden gerichtet, konnte es für uns einen eigentlichen pofitiven Kriegs zweck gar nicht geben. Allein unſere Exiſtenz, allein unſere Exiſtenz als machtvolles, wachſendes Volk und als wachſames, auf feine Rüſtungen bedachtes Staatsweſen war der Dorn im Ange

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unſerer Feinde war das dauernde Hindernis für ihre poli: tiſchen „Zwecke“. Hier alſo eine große zuſammenhängende nationale, ſtammesgleiche Exiſtenz⸗, Lebens⸗, Liebes⸗ und Kul⸗ tur gemeinſchaft! Dort eine künſtliche, in einen „Verband“ zuſammengewachſene, nur in der Gemeinſchaft des Haſſes ge⸗ einte Zweck geſellſchaft von Staaten! Was Italien betrifft, ſo war der Dreibund ſeit Italiens Feldzug nach Tripolis er⸗ heblich gelockert. Und die durch dieſe Annexion noch erſchwerte Stellung Italiens gegen England kannten wir zu gut, um mehr als wohlwollende Neutralität erhoffen zu dürfen. Und was konnte denn das noch Gemeinſame in den Zwecken dieſer Geſellſchaft gegen uns ſein! Nur und nur eines: Die Vernichtung des deutſchen Reiches als politiſcher Einheit, die Abſprengung der Bundesſtaaten von ihrem „Kerne“, von Preußen. Nur dieſer eine Zweck macht es, daß dieſer Krieg nicht aus drei Kriegen beſteht, die nur zufällig in der Zeit zuſammenträfen und bei denen ſich die Intereſſen der verbündeten Feinde nur an gewiſſen Stellen berührten, daß er vielmehr den Charakter einer einzigen Kollektiohand⸗ lung und eines einzigen Krieges an ſich trägt, auch an ſich trüge, wenn man nicht auf dem Papier übereingekommen wäre, nur gemeinſam einen Friedensſchluß zu machen. Und da dieſer Krieg einer iſt, ſo verdient er auch nur einen Namen! Dieſer eine Name kann aber vermöge des einzig Identiſchen in den Zwecken unſerer, in ihren Intereſſen ſo unſagbar weit auseinandergehenden Feinde nur der Name der Sache ſein, um deren Weſen und Exiſtenz es ſich handelt: der Name „Deutſchland“. Dieſer Krieg iſt nicht der „Weltkrieg“ auch Amerika gehört zur „Welt“ trotz ſeiner europäiſchen

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Bedeutung nicht der europäiſche Krieg (auch Italien, Schwe⸗ den, Spanien, Portugal, Dänemark, Norwegen, Holland, die Schweiz uſw. gehören zu Europa) es iſt der „Deutſche Krieg“ ſchlechthin. Vielleicht ſehen jetzt die Parteien, die den deutſchen „Befreiungskrieg“ von 1813 vorſchnell mit dem Namen „Freiheitskrieg“ benannten, daß ſie dieſen Namen als zweite Beſtimmung des Deutſchen Krieges noch aufſparen mußten. Denn jetzt erſt handelt es ſich um die Freiheit des deutſchen Volkes und Staates ſchlechthin der damals noch nicht beſtand um die Freiheit, die nicht eine auf⸗ und ab⸗ klebbare Eigenſchaft ſeiner Exiſtenz, als einer Summe von Menſchen, ſondern die Wurzel ſeiner geiſtig politiſchen Exiſtenz ſelber iſt; ihr Grund und ihr Sinn zugleich! Dieſe „Freiheit“ geht der Exiſtenz voran, ſie folgt ihr nicht! Gäbe es nichts weiteres zu ſagen über unſeren Glauben an unſer höheres Recht in dieſem Kriege dies allein machte ihn zu einem „heiligen“ Kriege. Und nicht nur zu einem heiligen Krieg „für uns“ nein zu einem heiligen Kriege nur durch uns aber für Europa! Denn nicht nur für uns, nein für Europa, ja durch die Europaeinheit hindurch für die Welt, für die Welt Gottes iſt es von unermeßlicher Bedeutung, daß das Weltoolk, das kosmopolitiſche Volk, das Volk, deſſen nationale Eigenart eben dieſe große welt⸗ ſammelnde Kraft, dieſe große Kraft der Liebe und des Wer: ſtehenkönnens alles Menſchlichen, ja alles Lebendigen iſt, geiſtig und politiſch frei bleibe, frei für ſeine kosmopolitiſche, ihm in dieſer beſonderen eigentümlichen Eigenſchaft allein von Gott geſetzte Aufgabe! Und wenn uns unſer Leben nichts gälte nichts auch das freie Leben von unſeren Kindern

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und Enkeln, nichts unſer Land mit feinen füßen Fluren und ſeinem geheimnisreichen Wald unſer, unſerer geiſtigen Eigenart entſprechendes, gottgeſetztes Werk müßte uns der

Feſthaltung der Fundamentalbedingung ſeiner möglichen Aus⸗

führung jedes nur denkbare Opfer bringen laſſen!

Haben wir zunächſt auch keinen weiteren „Zweck“ in dieſem

Kriege, als unſere über allen „Zwecken“ erhabene ihnen vor⸗ angehende Freiheit, höher und edler als die Zwecke, die ſich der Geiſt vor der Tat „ſetzt“, um dann Mittel für ſie zu berechnen und zu ſuchen, ſind in allem lebendigen Geiſt jene Zwecke, die ſich ſelbſt aus der Tat der Erkämpfung dieſer ſeiner Freiheit aus einem Geiſtesweſen wie von ſelber emporringen. Höher als alle „Zwecke“ überhaupt iſt der Geſamtſinn einer Handlung. Und damit kommen wir zu weiteren Fundamenten des Glaubens an unſer „höheres Recht!“

Solcher ſich aus der Tat dieſes Krieges ſelbſt mit Macht emporringender „Zweck“ iſt aber an erſter Stelle die Zurück⸗ werfung jener Bewegungskette, die mit der ruſſiſch⸗japani⸗ ſchen Niederlage einſetzte und die ſich nun in den ruſſiſch⸗öſter⸗ reichiſchen und ruſſiſch⸗deutſchen Krieg fortſetzt! Lernen wir doch dieſe Wiederanknüpfung der Weltgeſchichte an die mon⸗ goliſchen und hunniſchen Eroberungskriege als eine einzige dynamiſche Kette begreifen, durch die ein Strom der Be⸗ wegung hindurchläuft!

Was gab dieſem Kriege auf unſerer Seite jene abſolute

Ibereinſtimmung mit dem deutſchen Gemeinwillen, ja jene

noch dazutretende abſolute Popularität, die er bis in die Reihen

der linksſtehendſten Sozialdemokraten hinein beſitzt: erſtens,

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daß es ein Krieg iſt um die deutſche Freiheit, zweitens, daß es ein Krieg iſt gegen Rußland! Und wie tief und wahr empfindet hier unfer deutſches Arbeitervolk tiefer und wahrer noch als es ſelbſt weiß, wenn es dieſe Haltung nur darum einnimmt, weil es den Hort aller „Reaktion“ im ruſſiſchen Staate ſieht, wenn es nur des dauernden Bruches der zweifel⸗ haften, dynaſtiſchen Freundſchaft zwiſchen den Hohenzollern und den Romanows ſich freut, die ſtets in Widerſtreit zu dem beiderſeitigen deutſchen und ruſſiſchen Volkswillen und Volksgefühl ſtand und ſo oft jene gefährlichen Züge des Preußentums unterſtützt und gehegt hat, durch den es vor un⸗ geiſtiger Gewalt nicht immer zurückſcheute. Das arbeitende Volk ahnt aber hinter dieſer Abneigung noch mehr. Es ahnt auch noch in dieſer ſchwachen, einſeitigen Begründung ſeiner Empfindung daß die Zurückwerfung dieſer Be⸗ wegungskette, die aus dem äußerſten Oſten von dem längſt auf China lüſternen Japan ihren Ausgang nimmt, auch nicht nur ſeinen geknechteten Genoſſen in Rußland ſelbſt und aller Weiterentwicklung, auch nur der nicht etwa „europäiſchen“, ſondern aus der eigenen Idee Rußlands geborenen Kultur⸗ politik Rußlands notwendig iſt, ja das Schickſal aller Idee der in Rußland möglichen politiſchen Freiheit in Ruß⸗ land mitentſcheiden wird, es beginnt zu ahnen, daß es völlig unabhängig von allen innereuropäiſchen Differenzen der Weltanſchauung, der Religion, der Politik, der Klaſſe ja de jure der Nation, nur eine jetzt erſt klar und allfeitig er⸗ kannte weltpolitiſche Aufgabe für jeden ‚guten Europäer“ unter der, ſchon durch ihre geographiſche Lage beiden Ländern in die Hand gegebenen Führung Deutſchlands und Öfterreichs gibt:

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diejenigen Kultur⸗ und diejenigen menſchlichen Lebensformen auf die Dauer zu retten, welche ſelbſt für alle jene Differenzen mit Rußland, die noch gemein ſame europäiſche Baſts für alle europäiſchen Nationen ſind, und deren Kontinuität ſich räum⸗ lich über das heutige Berlin, Wien, Paris, Rom und London erſtreckt, zeitlich aber von ihnen zurückreicht über das Rom der Päpfte des Mittelalters bis in das Rom des Julius Cäſar und das Athen des Perikles! Das iſt das zweite Fundament für den Glauben an die Gerechtigkeit unſerer Sache und gerade hier, wo es kaum mehr irgend⸗ welche gemeinſame Maße für die Werte echt ruſſiſcher und europäiſcher Ideale? überhaupt gibt, muß das Wort „Glaube“ dreimal unterſtrichen werden. Mitten in dem Narrentanz eines gegenüber ſeiner Solidarität als menſch⸗ liche Lebens⸗ und Kultureinheit anarchiſch gewordenen Haupt⸗ teiles Europas, deſſen Nationen nur mehr die eigenen, im Verhältnis zur welthiſtoriſchen Miſſton Europas winzigen Nationalintereſſen kennen und nach ihnen tanzen, ſteht Deutſch⸗ Iand⸗Oſterreich ruhig da, um mit einem faſt erhabenen Sinn für Ordnung und Vernunft, der „einzig Nüchternen unter Trunkenen“, möchte man mit dem Wort des Ariſtoteles von Anaxagoras ſagen, Ordnung und Einheit zu ſchaffen und zu bewirken zwiſchen den von Pleonerie, Neid, Rache, Haß trunkenen europäiſchen Genoſſen und ſein Schwert ge⸗ zogen gegen die ungeheure Maſſe des andrängenden Oſtens ganz ein vernünftiger Richter, ganz ein furchtbarer Krieger, einziger Hort und Wächter europäiſcher Würde! Daß Frankreich, daß England es nicht begreifen, daß der Gegen⸗ ſatz Geſamteuropas gegen die ruſſiſche Expanſtonsflut, die

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ſeit zwei Jahrhunderten fo erfolgreich nach allen Himmels⸗ richtungen vordrang, ein Gegenſatz ganz anderer Größen— ordnung (wenn ich mich eines Bildes aus der Phyſtk be⸗ dienen darf) iſt als die innereuropäiſchen Gegenſätze, daß beide Völker im Banne des Scheuleders ihrer partikularen Intereſſen und ihres Haſſes die Solidarität der weſtlichen Kultur verraten, das macht ihr ſonnenklares weltgeſchicht⸗ liches Unrecht in dieſem Kriege aus! Und wenn, in welchem Maße immer, dabei England den feſten Willen in ſich trägt, Rußland nicht zu weit nach Weſten vordringen zu laſſen, ja ſogar heimlich hoffen mag, daß ſein unbequemer ruſſiſcher Konkurrent in Indien und Perſten durch Deutſch⸗ land geſchwächt werden möge: auf das Können, nicht auf das Wollen kommt es an! Der politiſche Wille eines Staates, hinter dem keine, ſeinen Zielen angemeſſene eigene Kraft ſteckt, iſt die Sünde der Sünden und er muß auf die Dauer zuſchanden werden! Es gibt kein echtes „Wollen“ ohne Könnensbewußtſein; nicht den Namen Wollen, ſondern nur den des „Wünſchens“ verdient ein Streben, dem diefes Moment fehlt. Das eben iſt die Frevelhaftigkeit jener eng⸗ liſchen „Gleichgewichtspolitik“, daß fie in einem Medium wie der Menſchengeſchichte, wo es keine „Berechnung“ gibt und je geben kann und darf, nur mit auswärtigen „Kräften“ „rechnet“, „Kräften“, die es ſelbſt nicht beſitzt, die es auch beim beſten Willen nicht lenken kann, da ſolche Unlenkbar⸗ keit von außen her die „moraliſche Kraft“ im Gegenſatz zur mechaniſch⸗ phyſiſchen geradezu definiert! Woher hätte Eng; land, das ſeine kriegeriſchen Inſtinkte nach Lea's treffender Beſchreibung in einem merkantilen Leben verkümmern ließ,

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deſſen einft fo gewaltiger Adel ſeit der Reformbill ſchon immer mehr an Einfluß verlor und gleichzeitig ganz und gar ſich merfantilifierte, auch durch Nachſchub reich gewordener Kauf leute und Blutmiſchung ſich innerlich immer mehr auf: löſte, denn die kriegeriſche Kraft, woher die militäriſche Landmacht, die ruſſiſche Expanſtonsflut zu hemmen, wenn nicht wir ſie von den Grenzen Europas zurückdrängten? Und wie hätte dieſe Kraft ohne uns Frankreich, das dazu nicht ein⸗ mal den „frommen Wunſch“ Englands gegen eine zu weite Ausdehnung Rußlands nach Weſten für ſich anführen kann? Es iſt eine ungeheure Naivetät, wenn England ſich einbildet, es könne ſich auch bei einem welthiſtoriſchen Gegenſatz von dieſer Größenordnung mit ſeiner Gleichgewichtspolitik durch die Geſchichte hindurchſchlängeln, ſo wie es dies bisher in Zeiten, da die europäiſchen Staaten durch die Aufgaben ihres inneren nationalen Aufbaues und durch Verfaſſungskämpfe von aller eigentlichen Europapolitik abgelenkt waren und ſo viel geringere Konflikte in Frage kamen, getan hat! Dieſe „Gleichgewichtspolitik“ hat, wenn irgend etwas, ihr Welt⸗ alter hinter ſich und iſt genau ſo wie das engliſche Vorurteil, daß die finanzielle Übermacht (die „letzte Million“) bei Kriegen entſcheide ſchon der Balkankrieg hatte den Satz von der entſcheidendſten Bedeutung des Geldes völlig wider⸗ legt eigentlich ſchon ſeit der Entſtehung des modernen abſo⸗ luten Volkskrieges und dem Verſchwinden der nur relativen Kabinettskriege, ein purer Anachronismus. Ein Atavismus aus dem 18. Jahrhundert und ſeinem mechaniſtiſchen Geiſt! Wie weit das Ziel, das in dieſem Kriege zum erſtenmal klar als das Ziel einer deutſchen und europäiſchen Politik noch von

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Jahrhunderten auf leuchtet, das Ziel, das Ruſſentum auch geographiſch nach Aſien zurückzuwerfen, es vom Schwarzen Meer einmal dauernd zurückzudrängen, die Oſtſeeprovinzen unſerem Staate einzuverleiben, Finnland die ihm gebührende Freiheit zu geben, ſeine auf Byzanz gerichteten Pläne zu, vernichten und die Balkanſtaaten, die bisherige Boheme Europas, zu einer geordneten, von den Inſpirationen Ruß⸗ lands unabhängigen Staatenwelt zu erziehen, ein felbftändiges Polen als Bollwerk zwiſchen Rußland und Weſteuropa zu bilden und ſo Rußland zu zwingen, auch ſeinerſeits wieder der Weſt⸗oſtbewegung in feiner Expanſtonspolitik nach dem Oſten zu folgen, wie weit von dieſem gewaltigen Ziel in dieſem Kriege auch nur der geringſte Bruchteil erreicht wird, das ſteht noch ſehr dahin! Wir glauben ehrlich geſagt daß von dieſem Ziele gar nichts erreicht wird, daß Erhal⸗ tung der Grenzen Deutſchlands und nicht zu große Opfer Oſterreichs noch das beſte iſt, was wir gegen Rußland erreichen können. Aber ein Grundelement unſerer dauernden poli⸗ tiſchen Geſinnung wird, muß durch dieſen Krieg die dauernde Wacht gegen Rußland werden! Und eben darin zeigt ſich nun gleichzeitig der europäiſche und hierdurch vermittelt der indirekt kosmopolitiſche Sinn unſerer geiſtigen und poli⸗ tiſchen deutſchen Sendung wie unſeres geographiſch⸗hiſtoriſchen Schickſals, daß nur durch entſchiedenen Sieg über unſeren weſtlichen und nördlichen Feind jene Solidarität Europas, jene dauernde Abſtellung ſeiner inneren Anarchie erreicht werden, und das große oben bezeichnete Ziel in der Folgezeit mit ge⸗ meinſamen europäiſchen Kräften auch nur ſcharf ins Auge gefaßt werden kann! Denn die wahre Größenordnung dieſes

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Gegenſatzes wird fich auch in der Zeitdauer erweiſen, in der er die Weltpolitik noch in Atem halten wird! Denn das darf kühn geſagt werden: längſt wenn Europas Schulknaben es mit Mühe ihrem Gedächtnis einprägen müſſen, daß es einſt einen „Revanchekrieg“ Frankreichs gegen Deutſchland gab, längſt, wenn die Frage der Verteilung der Seemacht zwiſchen Deutſchland und England dauernd geklärt und das ſeinem Weſen nach tranſttoriſche engliſche „Weltreich“ mit oder ohne Gewalt in tauſend Winde geweht ſein wird, wird dieſe Frage noch zu den aktuellſten und brennendſten Fragen der europäiſchen Politik gehören! Das ruſſiſche Reich ift trotz aller Revolutiönchen und Revolutionen von einer ganz anderen Dauerhaftigkeit als dieſer engliſche Koloß auf töner⸗ nen Füßen, dieſes ſchon allein an die Fortſchritte der Kriegs⸗ technik niemals zu dieſen Fortſchritten gemäßer mariniſtiſcher Anpaſſung zu bringende engliſche „Weltreich“ dieſer welt⸗ hiſtoriſche Anachronismus in effigie, der ſelbſt ſchon auf ſeinem eigenſten Gebiete, dem des Welthandels, angefangen hatte, ein erſtarrender Anachronismus zu werden. Wer aber da hofft, daß der ruſſiſche Rieſe an ſeinen inneren politiſchen Wirren ſich langſam verblute, wer hofft, daß die mangelnde Organi⸗ ſationskraft der Slaven und ihre geringeren ökonomiſchen Tugenden und Geſchicklichkeiten eine dauernde, mächtige und ohne das Zuſammentun aller europäiſchen Kräfte erfolgreiche Expanſtonspolitik Rußlands nach Süden, Südweſten, Weſten und Nordweſten ausſchließe, ja wer gar, wie jüngſt in einem Artikel des Berliner Tageblattes Jaſtrow, auf einen Zerfall des ruſſiſchen Reiches in einzelne kleinere ſelbſtändige Staaten hofft der gibt ſich jenen ganz groben Täuſchungen hin, die

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aus der Anwendung weſteuropäiſcher Maßſtäbe auf einen nicht nur unſere Leiſtungen auch unſere Maßſtäbe und hiſtoriſche Erklärungsarten a priori verneinenden Kulturkreis ſo oft hervorgehen. Wie unberührbar hat der ruſſiſche Rieſe im Lanfe der letzten Jahrhunderte Millionen von Menſchen feiner ſüdlichen Expanſtonspolitik geopfert; was hat er dabei im Laufe der Zeit alles für ſich gewonnen, ganz unvergleich- bar einem weſtlichen Staate; wie raſch hat er ſich gegen alle unſere europäiſchen Erwartungen aus der ökonomiſchen Miſere erholt, die die Folge des ruſſiſch⸗japaniſchen Krieges war fo daß die Staatsrente in kaum einem Jahr wieder die alte Höhe erreichte und die großzügige ruffifche Agrar⸗ politik ihr rieſenhaftes Werk errichten konnte! Dazu nehme man die von keinem europäiſchen „Individualismus“ an⸗ gekränkelte Vermehrungstendenz dieſer Raſſe, die allein ſchon, wenn nicht der Krieg fie aufhält (fiehe „Krieg und organiſches Leben“), auch über alle europäifche Technik und alle Beweglichkeit weſteuropäiſchen Verſtandes den Sieg behalten müßte! Und was an Organiſationsſinn und ⸗talent dieſem Volkstum mangeln mag noch wiſſen wir nicht genau, was hier Jugendlichkeit und Unreife, was dauern⸗ der Mangel der „Anlage“ iſt das erſetzt es durch die Unerſchöpflichkeit ſeiner Menſchenmaſſen, ſeine ſo reichen und vielſeitigen Naturſchätze, aber noch mehr durch ſein beſpiellos ſtarkes, feiner Primitivität entſprechendes Ein⸗ heitsgefühl ſeiner vor allem religiös geeinten Bevölkerung. Ob und wie weit die Autokratie durch den Fortgang der ruſſiſchen Revolution uſw. eine Einſchränkung erfahren wird oder nicht - das iſt gegenüber den genannten Kräften äußerſt

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gleichgültig. Selbſt bei Fortfall der Autokratie und bei Ein- tritt jener unerhörten Verfaſſungsänderungen, über die der Ruſſe im felben Maße gerne uferlos daher ſchwätzt und reflek⸗ tiert, als er unfähig iſt, auch nur innerhalb der jetzigen Ver⸗ faſſung für das Volk ein kleinſtes Pofitives im freiheitlichen Sinne zu leiſten, würde ſich die Richtung der äußeren Politik Rußlands und würde ſich auch der Kern ſeiner politiſchen Seele kaum weſentlich ändern. Denn dieſe Politik iſt alles in allem geſehen volkstümlich von Grund; ſie wird zunächſt die Auto⸗ kratie überall nur ſtärken. Ja, ſolange ihr lieben Marxiſten eure „ökonomiſche“ Geſchichtsauffaſſung eine zu raſche Gene⸗ raliſterung eines kleinen Winkels letzter europäiſcher Geſchichte, ja eigentlich nur eines Stückchens dieſer Geſchichte, der Ge⸗ ſchichte Englands auf die ganze Welt und auch auf die Frage von Rußlands Zukunft und Möglichkeiten anwendet fo lange werdet ihr freilich auch recht zu behalten ſcheinen, wenn ihr Rußland für einen „harmloſen Gegner Europas“ haltet, der, im Sinne außerdeutſcher Marxiſten geſprochen, jetzt Frankreich und damit die Sache der „Demokratie“ vor dem Untergang durch den „preußiſchen Militarismus“ bewahrt. Aber ſeht ihr denn nicht, daß dieſe „ökonomiſche“ Auffaſſungs⸗ form der Geſchichte ſelbſt und die Tatſachen, auf die fie fich ſtützt, ſelbſt nur ein winziges Elementchen eben derjenigen Kultur iſt, deren Macht und Stärke, deren inneres Recht zugleich gegenüber der ruſſiſch⸗ſlaviſchen hier gerade in Frage ſteht? Gerade darum iſt der Krieg hier allein „ultima ra- tio! —, im ſtrengſten Wortſinn, weil zwiſchen Weſteuropa und Rußland alle gemeinſamen hiſtoriſchen Erklärungs⸗ prinzipien und Wertmaßſtäbe, die über die ganz formale Ge⸗

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ſchichtsmethodik der Quellenkritik hinausgehen, aufhören. Kein Menſch kann es darum auch „beweiſen“, daß es „beſſer“ iſt, daß der deutſche Bauer, als daß der ruſſiſche Muſchik den Boden Brandenburgs pflüge daß es „beſſer“ iſt, den Brüdern in Liebe zu dienen und tatkräftig für ſie zu arbeiten als auf dem Berge Athos ein Mönch zu werden und Gott und den eigenen Nabel zu beſchauen! Kein Menſch kann es „beweiſen“, daß es „beſſer“ iſt, ein ſtrenges Leben der Ordnung und der Vernunft zu führen, als im Chaos der Gefühle und der Reflexion leidensgenüßlich ruſſiſch zu ſchwelgen, „beſſer“ ein deutſcher Staatsbürger als ein „treuer Hund“ des Zaren zu ſein und in jedem Kuß eines Beamten⸗ mantels zu vermeinen, man küſſe ein Ende von Gott. Jeder Verſuch des Beweiſes müßte ſich gewiſſer axiomatiſcher Prämiſſen bedienen, die die Partei, der gegenüber man „be⸗ weiſt“, die der „ruſſiſche Menſch“ von vornherein ab⸗ lehnen müßte. Hier heißt es das Rechte „einſehen“ und an feine Miſſion „glauben“ und nur das läßt ſich hier „beweiſen“, daß ſchließlich dieſelben Axiome, die Voraus⸗ ſetzung unſerer deutſchen politiſchen und kulturpolitiſchen „Beweiſe“ ſind, auch die faktiſch anerkannten unſerer Feinde im Weſten und Norden und aller jener europäiſchen und amerikaniſchen neutralen Staaten ſind, die jetzt in ihrer Ge⸗ ſinnung unſere Gegner ſind, da ſie unſere europäiſche, unſere kosmopolitiſche Miſſion für Europa gegen Rußland (alſo auch für ſie ſelber noch) nicht begreifen. „Beweiſen“ läßt ſich hier vor allem alſo eines: Daß unter all den Illuſtonen, die nicht ſowohl (wie man meint) Urſachen als vielmehr Wir⸗ kungen des Haſſes unſerer Feinde und ihres Geſinnungs⸗

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anhanges, nicht etwa Folgen der wahren kriegsgewichtigen Gegenſätze find, Illuſtonen, die das Abſchneiden unſerer Kabel und die große Lügenfabrik der ausländiſchen Preſſe nicht erſt hervorgebracht hat, ſondern nur nährt keine einzige ſo unſinnig und unbegründet iſt, als unſeren eventuellen end⸗ gültigen Sieg als eine „Niederlage der Demokratie Europas und der ganzen Welt“ anzuſehen und das Schreckgeſpenſt eines volks⸗ und kulturverwüſtenden „Militarismus“ für dieſen Fall an die Wand der europäiſchen Zukunft zu malen! Hier ein paar Worte über die Arten diefes „Haſſes“ ſelbſt. Das Bild der „Barbaren“, „Hunnen“ (gerade „Hunnen“, wo wir als einzige die alte Hunnentendenz des Oſtens be⸗ kämpfen!) iſt wenigſtens auf die romaniſche Völkerwelt, die ſich hier ein Recht auf die Kontinuität des antiken Sprach⸗ gebrauches zu haben einbildet, beſchränkt. Der Vorwurf geht ſeiner Intention nach nicht auf eine abſchätzige Beurteilung unſerer geiſtigen Kulturleiſtungen und unſerer perſönlichen Geiſtesbildung, wie gewiſſe deutſche Verteidigungen ein wenig naiv annehmen, um dann auf „Goethe, Schiller, Kant, Beethoven“ hinzuweiſen. Er zielt auf gewiſſe Seiten unſerer äußeren Erſcheinung auf Reiſen und in Geſellſchaft, auf welche die feine Empfindlichkeit der romaniſchen Sinne ſo ſtark und einſeitig eingeſtellt iſt; daneben auf gewiſſe unleug⸗ bare deutſche Mängel des Ethos der feineren Geſelligkeit, wie ſie ſich z. B. in franzöſiſcher Herzenshöf lichkeit und Liebens⸗ würdigkeit, engliſchem Formſinn und engliſcher Diskretion äußern. Auch das aus der deutſchen Geſchichte wohlber⸗ ſtändliche Fehlen eines inſtinktiven nationalen Geſchmacks, der auch dem gemeinen Mann und Durchſchnittsmenſchen

in Fleiſch und Blut überging, der ihn ohne fein Verdienſt und ſeine Arbeit auf ein beſtimmtes Niveau des Urteils über menſchliche, literariſche, künſtleriſche Dinge, der ſcheidenden Kritik, Wahl und einer wie felbftverftändlichen Achtung und Liebe zur eigenen nationalen Kultur erhebt ein Mangel, der durch geiſtige Höchſtleiſtungen, nach abſolutem Maße gemeſſen, nicht ausgeglichen wird, iſt mit dem ungeeig⸗ neten Ausdruck „Barbaren“ intendiert. Man mag dieſen ſeit Jahrhunderten wiederkehrenden Vorwurf der Romanen gegen uns Deutſche immer in ſeine berechtigten Grenzen zurück⸗ weiſen: Aber ich meine, daß wir genug einzigartige deutſche Vorzüge beſitzen, um gewiſſe Mängel unſeres Weſens zu: zugeſtehen und ihn nicht ganz ſo hart zu empfinden, als er jetzt meiſt empfunden wird; zumal dann, wenn dieſe Mängel auch jene Vorzüge in gewiſſem Maße bedingen ſollten. Der Deutſche lebt nun einmal ein hartes und ſchweres Leben! Was mag es geweſen ſein, was Schiller zu ſeiner tiefſinnigen und ganz deutſchen Definition des Schönen führte es ſei „Freiheit in der Erſcheinung“, Überwindung deffen, was auch Friedrich Nietzſche den verderblichen „Geiſt der Schwere“, den böſen Dämon der Deutſchen nannte, was Goethe mit dem etymologiſchen Reiz des Wortes das „Nieder⸗ trächtige“, „das Mächtige“ nannte, über das ſich niemand „beklagen“ ſoll? Ach es war die Erfahrung der Deutſchheit und eine aus ihr geborene, ſelbſt wieder gerade echt deutſche Sehnſucht nach jener Helle, harmloſen Güte, Froheit, Leicht⸗ heit, Klarheit nach jenem freien Lächeln eines ſchon natür⸗ lich, aus ſich ſelbſt geformten dahinſtrömenden Lebens, das die romaniſchen Länder wie eine, Natur und Geſellſchaft

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gleich erfüllende glückvolle Atmoſphäre erfüllt; dieſelbe Sehn⸗ ſucht, die den Deutſchen immer wieder nach Italien trieb ganz unabhängig von Italiens Kunſt!

Und analog im Sittlichen und Kulturellen! Es iſt nicht eine ganz ſo ſelbſtverſtändliche Entkräftung der uns in dieſer Richtung gemachten Vorwürfe, als man meint, wenn wir auf ſie immer mit Hinweis auf unſere großen Kulturleiſtungen antworten: Wir ſeien das Volk Goethes, Kants, Beethovens! Denn es handelt ſich hier mehr um das Sein der Menſchen als um die ſachliche Leiſtung, und zwar um das Sein des Menſchen des Durchſchnitts, nicht um das Sein des einzelnen Großen, in dem ſich die Deutſchheit über alle Leiſtung hinweg zuweilen zur Welt einer Perſönlichkeit höchſten Stiles zu⸗ ſammenſchließt; mehr auch um das Sein, das in der lebendigen Berührung der Geſelligkeit ſich bildet, als um das einſame Sein der Seele vor dem Gewiſſen und vor Gott! Ein wohltätiger Strom von allgemeiner Gunſt und Güte wenn auch durch⸗ aus nicht des tieferen Herzens und der „Geſinnung“ im deut⸗ ſchen Wortſinne ſo doch von Ausdruck und ſichtbarer, hör⸗ und ſpürbarer Bewegung trägt in den romaniſchen Ländern das Beſtreben jedes Einzelnen und ſtellt Bega⸗ bung und Talent mit einer faſt automatiſchen inneren Logik auf den ihnen gebührenden Platz. Bei uns geht alles das, was die naturhafte Schwere der arbeitenden Menge und den Schematismus und die Enge des Beamtentums über⸗ windet, alles, was ſich zu irgendeiner höheren Lebensform emporringt, erſt aus dem Kampfe gegen dieſe niederziehenden Mächte hervor; und erſt als Leidender wird der Deutſche meiſt bedeutend! Er ſelbſt wie ſeine Leiſtung werden dann freilich ge⸗

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prägter, fie werden größer und herrlicher als bei den Romanen; fie wachſen unter Umſtänden zu gigantiſcher Erhabenheit und zum Heldentum des Märtyrers auf. Oft gibt man aber auch mit großen Geiſtesgaben bloß nach außen eine ungeheure Leiſtung ab, ohne dabei im Innern und als Ganzer zu wachſen und ſich wahrhaft zu „bilden“! Und analog dazu gibt es eine ſowohl jenſeits der „Pflicht“ als der tieferen, zentraleren „Liebe“ liegende moraliſche Schicht von Eigenſchaften, als da ſind „Zuvorkommenheit“, „Loyalität“, „Ritterlichkeit“, „Freundlichkeit“, „Gunſt“, „Takt des Herzens“, „Dis: kretion“, menſchliche Milde deren Segen wir ſo häufig im deutſchen Leben vermiſſen.

Aber ich frage: Muß es denn ewig dabei bleiben, daß dieſe beiden Weſenszüge ſich nur abſtoßen; daß man ſich die Män⸗ gel hier und dort nur vorwirft und das beiderſeitige Poſitive überſieht? Gibt es gerade hier nicht fo etwas wie harmo⸗ niſche Ergänzung zum „guten Europäer“ und Freude an dieſer Ergänzung? Wer dies verneinen wollte, dem kann eine Tat⸗ ſache aufgezeigt werden, die wenn auch nur en miniature wenigſtens die Möglichkeit ſolcher Ergänzung zwiſchen Germaniſchem und Romaniſchem zeigt: Es iſt die tiefere Durchdringung und das Verſtehen norddeutſch-preußiſchen und ſüddeutſchen Weſens in unſerem Lande ſelbſt, die dieſer Krieg wie irrten unſere Feinde auch hier! nicht ver: mindern, ſondern noch gewaltig ſteigern wird. Wir Süddeutſche und die Süd weſtdeutſchen wiſſen es natürlich ſehr gut, daß die ungeheure Abneigung faſt der ganzen Welt, die heute deut⸗ ſches Weſen trifft, ſich durchaus nicht primär gegen uns richtet, ſondern vielmehr gegen das ſpezifiſch „Preußiſche“

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auf uns aber nur mit überſtrömt. Und wir haben hier gelitten und wir leiden wahrhaft nicht weniger an eben derſelben Gruppe von Charakterzügen des Preußentums, welche die Abneigung des beſonders romaniſchen Auslandes jetzt gegen das, „Deutſche“ überhaupt hervorruft. Aber gleich⸗ wohl gerne und willig nehmen wir dieſe Abneigung auch auf unſere Schultern, und wir wären tief unglücklich, wenn wir ſie nicht mit unſeren preußiſchen deutſchen Brüdern mit⸗ tragen und mitverantworten dürften! Denn wir haben durch unſere Geſchichte gelernt, etwas von unabänderlicher, aber eben darum entrüſtungs⸗ und tadelsfreier Tragik darin zu er⸗ kennen, daß eben die Eigenſchaften des Preußentums, durch die es allein von allen deutſchen Völkern und Stämmen der ſtaatliche und militäriſche Bildner und Führer unſeres Deutſch⸗ land werden konnte, Pflichtgedanke, Schlichtheit, Pünkt⸗ lichkeit, Organiſationsgeiſt uſw. mit jenen anderen Eigen⸗ ſchaften, die uns fremd ſind und uns leiden machen, ſo unſag⸗ bar tief aneinander geknüpft ſind, daß eben vor der Erkenntnis dieſer tragiſchen Weſensverknüpfung auch die Härte des Leidens zergeht und zu jener echteſten, realiſtiſchen Elaffifchen unromantiſchen Liebe einer guten Ehe wird, die ihren Gegen⸗ ſtand mit ſeinen Fehlern liebt da ſie ſeinen Weſenskern liebt, aus dem ſie Fehler wie Tüchtigkeiten mit gleicher Notwendigkeit hervorfließen ſieht. Und nun frage ich: Möchte nicht einmal im großen innerhalb der größeren Völkerfamilie des kontinentalen Weſteuropa ſich eben derſelbe oder ein analoger Prozeß der Verſtändigung vollziehen, der ſeit 1870 in Deutſchland abgelaufen iſt: fo daß dieſes Fon: tinentale Europa in Deutſchland zuerſt ſeinen feſten Schutz

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und Schirm und feinen militäriſchen Führer und Einheits⸗ bildner gegen den drängenden Oſten ſähe und achtete, ein Weſen in ihm achtete, das ſchon darum härter gefügt und härter gepanzert ſein und bis ins bürgerliche Leben hinein noch alſo auch einherſchreiten muß als glücklichere Völker, denen ein blaues ſonniges Meer das Gefühl der Freiheit und Leichtheit gibt und denen es zugleich die Notwendigkeit von Befeſtigungen und Rüſtungen in höherem Maße abnimmt. Europa wird noch einmal in der Bewunderung der Größe des deutſchen kulturbildenden Geiſtes die ja auch jetzt nur momentan durch die Leidenſchaften des Krieges verdeckt iſt die Doppeltheit jener tragiſchen Verwebungen erkennen und als ſolche empfinden, die bei Romanen Glück, Heiterkeit, Schön⸗ heit, Helle, Liebenswürdigkeit, organiſche Kulturtradition mit dem Fehlen abſoluter Höchſtleiſtungen und abſoluter Perſon⸗ größe, bei uns Deutſchen aber ein ſchweres, ſo leicht in die Tiefe und ins Maſſenhafte niederziehendes Leben mit oben genannten „ſchwierigen“ Eigenſchaften, aber auch mit Er⸗ habenheit von Menſch und Leiſtung eingegangen haben. Und verletzten die romaniſchen Völker nicht ihr eigenes, jetzt fo ſehr von ihnen in Anſpruch genommenes Lebensgeſetz der Urbanität und Humanität, wenn ſie gegen den Deutſchen, der mehr leiſtet und leidet als ſie, zuweilen mehr iſt als ihre Genien, ſo gar nichts von jenem großen menſchlichen Mit⸗ gefühl auf bringen können, das ſie uns nur abſprechen, weil es ſich weniger unmittelbar und weniger ſchön und „liebens⸗ würdig“ zu äußern vermag? Ich meinerſeits hoffe es nicht nur, ich glaube es aus tiefſter Seele, daß ſich in Zukunft noch eine eigenartige Gefühlsmiſchung auf beiden Seiten ſehr

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verſchieden aber doch fich in ergänzungsbedürftiger und er⸗ gänzungsfroher Liebe und Achtung deckend, einſtellen wird, die allen jetzigen Haß, die auch den Vorwurf des „Barbaren⸗ tums“ in ſich begraben wird. Es wäre undelikat, dieſe Miſchungen in Worte zu kleiden hier ſind die Worte zu roh! Nur dies: Wie das frohe Lachen über das Komiſche in einer Erſcheinung die Bitterkeit und Kälte der ſatiriſchen Empfindung löſt, ſo löſt die Erkenntnis der unabänderlichen Tragik einer Verknotung guter und ſchlechter Eigenſchaften, auch das Brennen des Schmerzes über die ſchlechten! Je mehr wir hüben und drüben unſere guten und ſchlechten Eigen⸗ ſchaften komifizieren und tragifizieren werden, die guten frei bewundern lernen, die Verbindung der ſchwereren, ſchlechten aber mit ihnen als tragiſchen Tribut an die menſchliche Enge, die leichteren als „komiſch“ zu empfinden vermögen, deſto freier und fruchtbaren werden wir uns gegenſeitig das Leben machen und deſto mehr Ausſicht gewinnt auch die europäiſch⸗ kontinentale politiſche Solidarität!

Ganz anders ſteht es mit dem Vorwurf des allgefräßigen deutſchen „Militarismus“ und der prinzipiellen Gefährlich: keit unſeres Sieges „für die Demokratie der ganzen Welt“, mit dem unſere Feinde jetzt ihr höheres Recht zu erhärten ſuchen. Dieſer Vorwurf iſt weit mehr noch engliſcher und amerikaniſcher Herkunft als romaniſcher!

Es heißt wahrlich frechen Spott der ſchwerſten Notlage eines Volkes hinzufügen, wenn man uns unſere Rüſtun⸗ gen nach dieſer jahrelangen Einkreiſungspolitik und ihren Früchten noch vorzuwerfen wagt. Ja, zu einer Stunde die Rede wagt, es müſſe das deutſche Volk ſelbſt „aus ſeinem

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Panzer“ „zu feinem eigenen Heile“ gelöft werden, da felbft die ſtreng antimilitariſtiſchen und republikaniſch denkenden Kreiſe dieſes Volkes ſich von der übermächtigen Gewalt der Logik der Tatſachen überzeugen ließen, daß dieſe Rüſtungen wenigſtens unter der Geſamtſituation Europas vor dem Kriege notwendig waren. Dieſer Vorwurf iſt nicht, wenigſtens halbverſtändlich wie jener der „Barbaren“ er iſt von jener paradoxen Unverſchämtheit, die faſt ſchon a priori ſeine engliſche Herkunft bezeugt. Aber ſehen wir einmal ab von den, in den längſt ſichtbar geweſenen Tendenzen der Ein⸗ kreiſungspolitik gelegenen ſpezifiſchen Urſachen zu dem auf die Dauer für alle europäiſchen Nationen in der Tat uner⸗ träglichen Rüſtungsfieber der letzten Jahre, blicken wir auf den „Militarismus“ als dauernde Einrichtung auch nach dem Kriege, ſo gibt gerade dieſer Krieg für ſeine Not⸗ wendigkeit und ſeinen Sinn einen ganz neuen Aufſchluß; aber auch für die Richtung ſeiner Erhaltung und Fortent⸗ wicklung eine ganz neue Gewähr. Hätte der deutſche „Mi⸗ litarismus“ als bloßer zweckfreier Ausdruck, als Seinsgeſte jener beſtimmten Lebensform einer Gemeinſchaft, in der ſich der höhere Rang der Werte des „Edlen“ (des duposıöcs) über die Werte des Mützlichen und Angenehmen, der Ehre über den Vorteil, der Macht über Intereſſe und Gewalt bekundet und allem Volke, ja der ganzen moraliſchen Welt ſichtbar, fühlbar, greifbar wird; hätte er weiter als das feſteſte Boll⸗ werk gegen die Überflutung durch den kapitaliſtiſchen Geiſt, durch Reſſentimentmoral und Pleonexie, auch keinerlei, von ſeinem politiſchen Zwecke unabhängige und allen „Zwecken“ vorgeordnete Bedeutung; wären ſelbſt alle innerweſteuro⸗

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päiſchen Rüftungsmofive einmal dauernd ausgeſchaltet, gäbe es ſo etwas wie die „Vereinigten Staaten Weſteuropas“, ſo würde ganz allein die Vormachtſtellung Deutſchlands in Weſteuropa gegen die oſtweſtliche Bewegung den „Mili⸗ tarismus“ dauernd notwendig machen notwendig auch zugunſten derjenigen Völker, die heute das deutſche Volk von ihm „erlöſen“ wollen. Den deutſchen Militarismus vernichten, das hieße Europa gegen Rußland und gegen den Druck der mongoliſchen Horden abrüſten, hieße die Fahne aller freien höchſten Kultur, deren Baſis Europa war und iſt, Europa entreißen und dauernd Amerika über⸗ laſſen. Können unſeren „Militarismus“ unſere Nachbar⸗ völker fürderhin nur begreifen als „tragiſche“ Notwendig⸗ keit, als ein Opfer an Lebensleichtigkeit und ⸗freiheit, das Deutſchland ſeiner, ihm durch ſeine Lage und durch ſein inneres Weſen erteilten Miſſion ſchuldet und bringen muß, ſo mögen ſie dies; aber dies iſt auch das Minimum, was ſie auch müſſen! Und die „Demokratie der Welt“! Gibt es eine ehrliche Solidarität innerhalb der , Demokratie der Welt“, die auch wir, das Wort richtig verſtanden, aus Herzensgrund bejahen, fo müßte ſchon aus dieſem Grunde die Erhaltung des deutſchen Militarismus einer ihrer fundamentalſten Grundſätze ſein. Und für die deutſche Demokratie, in der das Bild eines Krieges gegen Rußland bis zu Auguſt Bebel ſtets populär war, gilt jedenfalls, daß durch dieſen Krieg ihr dieſe Not⸗ wendigkeit des deutſchen Militarismus auch für die Dauer klar und hell geworden iſt. Denn die Sicht auf noch Jahr⸗ hundertelange Kämpfe gegen die oſtweſtliche Bewegung iſt durch dieſen Krieg nicht mehr wie vorher eine Einſicht

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einzelner politifcher Köpfe, fondern fie wurde und wird nun⸗ mehr zu einem Gemeingut der politifchen Bildung aller deutſcher Parteien werden. Es kann alſo nur die Frage ſein, welche Umformung der „Militarismus“ eben durch dieſe ganz neue Tatſache, daß die deutſche Demokratie ſeine Not⸗ wendigkeit einzuſehen beginnt, mit zu erleiden habe und welche Ausſichten eine ſolche Umformung beſitze. Denn dies iſt klar: Kommt wirklich wie wir hoffen auch nach dem Kriege die deutſche Demokratie zum Militarismus, ſo muß auch der Militarismus zur deutſchen Demokratie kommen! Das Wort „Militarismus“ bedeutet ja nun freilich noch etwas ganz anderes als das Vorhandenſein eines ſtarken, ſchlagkräftigen, vom Kaiſer allein geleiteten Heeres. Es be⸗ deutet beſonders in Preußen die Tatſache, daß der innere Auf bau des Heeres und ſeine ſpezifiſche Berufsmoral auch das formale Strukturvorbild für die geſamte außer⸗ militäriſche Geſellſchaft, und hier vor allem für den Auf bau und die Wirkſamkeit der geſamten Kräfte iſt, die aus des deutſchen Volkes Fülle heraus die Talente und Begabungen auswählt, um ſie den notwendigen Aufgaben des geiſtigen und materiellen Volksbedarfs zuzuführen. Das Wort „Mili⸗ tarismus“ bedeutet vor allem auch, daß die zivile Beamten⸗ ſchaft militärförmig aufgebaut iſt (Militäranwärtertum uſw.), und häufig in einem analogen autoritativen und ſche⸗ matiſierenden Geiſt ihre Befugniſſe auffaßt, als er relativ im Weſen jeder Armeediſziplin liegt; dazu aber mit einem dem Offizier nachgeahmten Kommandoton ihre Pflichten erfüllt, alſo in einem Geiſte, der im deutſchen Heere durch jedes Heeres wichtigſtes ſittliches Fundament, die Diſziplin, und

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durch feinen Zweck jedenfalls unbedingt notwendig ift. Dieſer „Militarismus“, nicht des Militärs, ſondern des Zioils iſt eine nachſchleppende Tradition des vorreichsdeutſchen preußi⸗ ſchen Beamtenſtaates weit hinaus über ſeinen urſprüng⸗ lichen Sinn und ſeine urſprüngliche Zweckmäßigkeit. Dieſer „Militarismus“, verbunden mit der politiſchen Einfluß⸗ loſigkeit der Volksvertretung des Deutſchen Reiches, die einfach ſchon den notwendigen Auswahlfaktoren der geiſtigen Kräftefülle eines großen Volkes zwecks Hervorhebung der beſten Kräfte widerſtreitet, dieſer „Militarismus“, der Begabun⸗ gen und Kräfte mit einer häufig ebenſo großen Sicherheit da⸗ hinmäht, mit der die Armee wenigſtens die Tendenz hat, ſie innerhalb ihres Raumes, zu den ihnen würdigen Aufgaben gelangen zu laſſen, und der höchſtenfalls alle höheren Talente und Begabungen in das private Wirtſchaftsleben hineindrängt und von der Realiſterung aller überindividuellen Werte ab⸗ drängt, dadurch aber den „kapitaliſtiſchen Geift‘‘ maßlos ſtei⸗ gert, dieſen „Militarismus“ nach dem Kriege dauernd zu beſeitigen, das wird eine Hauptaufgabe derjenigen ſtarken, mächtigen deutſchen Demokratie fein, welche die Notwendig⸗ keit des einzigguten Militarismus des Militarismus des Militärs begriffen hat. Dieſe Aufgabe wird ſie aber auch nur dann löſen können, wenn ſie auf Grund des oben genannten neuen Gemeingutes politiſcher Bildung mit dem Militaris⸗ mus im anderen Sinne, als ſtarke Heeresorganiſation reſolut Frieden ſchließt. Erſtes Erfordernis aber für die Be⸗ ſeitigung des falſchen Militarismus iſt es dann für ſie, daß ſie das verderbliche „militariſtiſche Vorurteil“, das im Glauben an die notwendige Stilidentität des Auf baues der Heeres⸗

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organiſation mit der Zivilverwaltung eines Staates hüben wie drüben, bei Militariſten wie Antimilitariſten ſeine letzte Wurzel hat, reſolut aufgibt und die ſes Vorurteil nicht gerade dadurch anerkennt und neu beſiegelt, daß fie auch eine Demo⸗ kratiſterung der Heeresverwaltung, d. h. eine unberechtigte und dem hiſtoriſchen Weſen des deutſchen Heeres wider⸗ ſprechende Verminderung oder Einſchränkung der Armee⸗ gewalt des deutſchen Kaiſers und ſeiner wahrhaft mehr als „wohlerworbenen“ Rechte auf die alleinige Leitung des Heeres fordert. Das neue Vertrauen, das durch dieſen Krieg wie immer er ausfalle zwiſchen Kaiſer und Volk, zwiſchen den Führern und dem gemeinen Soldaten gerade in Hinſicht auf die Armee ſo einzigartig geknüpft wurde und in jeder Sekunde ſich ſteigert, darf von Niemand, von keiner Partei nach dem Kriege mißachtet werden. Über die nähere Durch⸗ führung dieſer großen Aufgabe mag man verſchiedener Mei⸗ nung fein. Es ſoll hier mit Abſicht keine aktuelle Poli⸗ tik getrieben werden. Aber ſoviel ſollte ſelbſt unſeren Feinden klar ſein: Das deutſche Reich iſt ſeiner Matur nach hiſtoriſch eine demokratiſche Schöpfung gegenüber dem Fonfervativen und dynaſtiſchen Geiſte der Einzelſtaaten. Keinerlei Einzel⸗ heiten vermögen dieſe große hiſtoriſche Tatſache zu erſchüttern. Daß es den demokratiſchen Ausbau nicht fand, ferner daß ſein moraliſches Gewicht gegenüber den Einzelſtaaten und beſonders gegen Preußen nicht in dem Maße zunahm, in dem es ſeiner geſchichtlichen Wurzel und ſeinem Weſen entſprochen hätte, das war allem voran die Folge der im falſchen Sinne antimilitariſtiſchen Haltung des größten Teiles ſeiner bisherigen Demokratie ſamt den

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vielen englifchen Krankheiten der geiſtigen und theoretiſchen Grundlagen derſelben Demokratie, von denen ſchon im erſten Teile die Rede war. Wie unſere „Alldeutſchen“ die Affen des engliſchen Egoismus und „Imperialismus“ wurden und ihrer Deutſchheit eben darin am meiſten vergaßen, wo ſie dieſe ſuchten und zu ſteigern meinten, ſo wurden unſere Anti⸗ militariſten die Affen der engliſchen Lehre, daß das ſtehende, zentralgeleitete Heer mit allgemeiner Dienſtpflicht „eine ſtän⸗ dige Gefahr für die politiſche Freiheit eines Staates“ und die echte Demokratie ſei. Vorſtellungen über das Verhältnis von Heer und Volk kamen ſo oft auf beiden gegneriſchen Seiten zur Verbreitung, die dem vornapoleoniſchen Zeitalter der Kabinettskriege entſprachen, wo das Heer nur Werk⸗ zeug der Regierung war nicht aber dem modernen konti⸗ nentalen Volksheer mit abſolutem Kriegszweck als welches ſtets und ſchon von feiner Verwurzelung in dem Revolutions⸗ heer aus eine „demokratiſche“ Einrichtung war und ſein wird. Auch das verderbliche „militariſtiſche Vorurteil“ in oben definiertem Sinne, konnte auf Seiten der regierenden Kreiſe eben dadurch gar nicht fallen, da es auf Seiten des größten Teiles unſerer Demokratie ja ganz und gar geteilt und unter⸗ ſchrieben wurde. Denn auch jede entſchloſſene Preisgabe des Geiſtes des alten preußiſchen Beamtenſtaates mußte ſo als Beraubung der auf ſeiten der Regierung klar erkannten Not⸗ wendigkeit einer ſtarken militäriſchen Rüſtung erſcheinen. Die tiefen, ſteigenden Gegenſätze zwiſchen Militär- und Zivil⸗ gewalt, welche die letzten Jahre, nicht nur im Falle „Zabern“, aufgewieſen haben, die unverwiſchbare feſte Tatſache, daß in allen Hauptfragen äußerer Politik, beſonders in Hinſicht auf

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England (fiehe Bernhardis Buch) unfere militäriſchen Poli⸗ tiker fo gewaltig viel weiter und tiefer ſahen, als die Zivil⸗ leitung unſerer außerpolitiſchen Angelegenheiten und unſere ſo fragwürdig gewordene Diplomatie, Abrechnungen großen Stils mit dieſen Übeln werden nach dem Kriege nicht ausbleiben die neue natürliche innere Gefühlsgemeinſchaft, die dieſer Krieg zwiſchen militäriſchen Führern und unſerer auf den Schlachtfeldern kämpfenden demokratiſchen Jugend heraus⸗ bilden wird alle dieſe Kräfte wird eine wohlberatene De⸗ mokratie in Zukunft klug zu verwerten verſtehen. Die Neu⸗ geburt aber des Reichsgedankens und ſeiner innerſten demokra⸗ tiſchen Kraft durch einen Sieg im Deutſchen Kriege und das Wachstum der Innigkeit in der Zuſammengehörigkeit der nördlichen und ſüdlichen von Hauſe aus demokratiſcheren Teile Deutſchlands, müſſen im Gegenſatze zur Meinung unſerer Feinde, gerade auch die Demokratie fördern und damit auch dieſe ihre große Aufgabe. Die beſondere Komik der Tatſachen, daß uns dieſer Vorwurf der Antidemokratie von einem Lande gemacht wird, das wie England ſeit langem eine ungeheure Kriſis ſeiner Demokratie und ſeiner geſamten inneren Ver⸗ faſſung überhaupt erlebt, von einem Lande, deſſen Demokratie ſich noch vor kurzem als ſo völlig unfähig zur Ordnung des Kohlenſtreiks und der drängenden iriſchen Frage erwieſen hat, daß dieſe Tatſache ſelbſt auf den Zeitpunkt der Kriegserklä⸗ rung nicht ohne Einfluß blieb; von einem anderen Lande aber, das ſeit Jahrzehnten nach dem Urteil aller ſeiner Kenner die Tendenz hat, von einer demokratiſchen in eine ariſtokratiſche Republik überzugehen (den Vereinigten Staaten) und gar noch von einem dritten (Frankreich), deſſen „Demokratie“ es

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nicht einmal verhindern konnte, daß der Staat gegen den Gemeinwillen des franzöſiſchen Volkes in einen Krieg geſtürzt wurde, der das größte Nationalunglück ſeiner ganzen Ge⸗ ſchichte darſtellt, dies ſei hier nur beiläufig erwähnt.

Doch zurück zu unſerer öſtlichen Miſſion! Wie wäre es denn, wenn wir beſtegt dieſe europäiſche Miſſion gegen den andrängenden Oſten dauernd nicht erfüllen könnten und auch England nicht für uns als Vormacht Europas gegen die öſtliche Flut eintreten könnte?

Ich habe ein Geſicht, das grauſigſte, das ſich die Phantaſie, nur erſinnen kann. Dieſe herrliche Erdkugel ſchließlich auf⸗ geteilt in drei große Reiche: in ein großes mongoliſches Reich unter Japans Führung und unter Japans Deoiſe „Aſien für Aſien“; in ein über den Weſten expandiertes ruſſiſches Reich, in das ſich vielleicht europäiſche Kulturd in ge, nicht fie frei ſchaffende Kulturkräfte noch hineinretten könnten, und ein mehr oder weniger mechanifiertes Amerika, das ohne das europäiſche Vorbild und ohne Europas ewig mahnendes Ge⸗ wiſſen, ſich allein ſeinen ſpezifiſchen, nur allzu „ſpezifiſchen“ Begabungen überließe! England höchſtens politiſch freier Dienſtbote eines ruffifizierten Europas! Deutſchland, Frank⸗ reich und Italien politiſch und kulturell gelähmt und auf Stufen eines Spaniens herabgedrückt.

Wo iſt die Schönheit noch, wo die Form, wo der Geiſt, wo das höhere Leben noch in ſolcher Welt? Wo etwas, das berufen wäre, die großen Traditionen der alten Mittelmeer⸗ kultur und des Chriſtentums der Tat und der Liebe fortzu⸗ führen? Der Anfang und das Ende der Barbarei, die zwei ſtreng komplementären Formen aller echten und wahren Bar⸗

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barei, eine, die individuelle Seele für nichts achtende autori⸗ tativ⸗cãſaropapiſtiſche oder aber eine gleichwertige Maſſen⸗ herrſchaft von Slavenhorden und Gelben und eine für dieſe Seele nicht minder tötliche hyperziviliſterte Allmechani⸗ ſierung des Lebens. Beides ſich teilend über die Erde!

Hier Freunde laßt uns das Haupt verhüllen!

Ich ſehe ein anderes Geſicht: ein ſiegendes Deutſchland⸗ Oſterreich und ein Europa, deſſen Kontinentalmächte ſich wahr⸗ haft geeinigt haben, das endlich in ſich gegangen iſt und ſeine So⸗ lidarität gegen den Oſten unter deutſcher militäriſcher Führung begriffen hat. Ein Europa, in dem die reichen, einzigartigen Anlagen feiner Volksindividualitäten einträchtig und ſich er⸗ gänzend, die großen Überlieferungen der großen Mittel⸗ meerkultur bewahrend zum Auf bau einer Kultur der Frei⸗ heit, des Geiſtes und der Individualität zuſammenwirken; ein Europa, das engliſch⸗amerikaniſchen Kapitalismus und dazugehörige caloiniſtiſch⸗puritaniſche Verödung der Chriſt⸗ lichkeit aus ſeinem Blute wie ein fremdes Gift ausſcheidet und gleichzeitig die oſt⸗weſtliche Expanſtonsbewegung in eine weſt⸗ öſtliche wieder zurückwandelt.

Ich verneine das erſte Geſicht unbedingt! Ich bejahe das zweite Geſicht unbedingt!

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Die geiftige Einheit Europas und ihre politiſche Forderung“

it dieſem tieferen wirtſchaftlichen und politifchen

| Solidaritätsbewußtſein würde aber Weſteuropa

nur eine präziſere Formgeſtaltung deſſen ge⸗

winnen, was es kulturell längſt ſchon iſt. Es würde gleich⸗

zeitig die Einſicht an Macht und Ausbreitung wachſen, die

heute noch eine Einſicht ganz weniger iſt: Daß es über den

europäiſchen Nationen, aber völlig unabhängig von den for⸗

malen internationalen Intereſſen und Inſtitutionen einen

feſten europäiſchen Menſchen⸗ und Kulturtypus gibt einen „guten Europäer“!

Alle Urteile über Geſchichte, Politik, Wirtſchaft, Kultur leiden ja unſagbar daran, daß unſer Denken immer noch unter dem ganz primitiven Kategoriengegenſatz von „Natio⸗ nalismus“ und „Internationalismus“ dahinläuft dieſer bloßen Negation des Nationalen oder „Kosmopolitismus“, ein Begriff, der ſeine Herkunft aus einem Zuſammenhang geiſtiger Intereſſen und geiſtiger Kongenialität ſo deutlich verrät, wie der Begriff des „Internationalen“ ſeine Herkunft aus der Sphäre der induſtriellen Arbeit und der Wertſphäre des „Nutzens“. Denn durch das ausſchließliche Denken in dieſen Gegenſätzen wird die Tatſache und Idee einer europäiſchen Kultur gemeinſchaft völlig unterdrückt, und wir wer⸗ den zwiſchen einem engen chauviniſtiſchen Mationalismus oder „Imperialismus“ und einem leeren, nivellierenden Inter⸗

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nationalismus oder Kosmopolitismus geiſtig hin und her ge: riſſen: Ideen, die beide die innere Lage nicht auszudrücken vermögen, welche wir innerhalb der Gliederung der Erdbevöl⸗ kerung faktiſch einnehmen. Schauen wir aber dann über die geiſtigen und politiſchen Grenzen unſerer Mation hinaus ſo meinen wir ſchon in eine Sphäre der „Welt“, der „Welt⸗ literatur“, der „Weltwirtſchaft“, „Weltpolitik“ uſw. zu blicken, während wir doch faktiſch alle dabei, Deutſche, Fran⸗ zoſen, Italiener uſw. die „Welt“ noch durch die ſehr be⸗ ſtimmte Struktur des europäiſchen Geiſtes hindurch gewahren, neben der noch völlig verſchiedene Strukturen exiſtieren. Was wir faktiſch gewahren, iſt dann meiſt nur die Euro⸗ päerwelt.

In Wirklichkeit entſpricht das ausſchließliche Denken in dieſen Kategorien ebenſo ſehr einer völlig überwundenen Stufe unſeres Wiſſens vom Menſchen, als einer völlig überwun⸗ denen Stufe unſerer hiſtoriſchen Lebenserfahrung. Dieſe Denkart iſt zunächſt ein Ballaſt, den wir mitſchleppen aus den Zeiten, da ſich die modernen europäiſchen Nationen lang⸗ farm gegen Realität und Idee eines Kaiſer⸗ und Papſttums mit univerſalen Machtanſprüchen erhoben haben. Die ſo⸗ genannte „Univerſalität“ dieſer Anſprüche aber war im Grunde mehr eine Folge der felbftverftändlich gewordenen Einſchränkung des Geſichtskreiſes, in dem man die faktiſche Erdbevölkerung und ihre Geiſtesarten begriff, als ein ernſter auf das Ganze der Erde („Univerſum“) gerichteter Wille zur Herrſchaft. Sie war vor allem eine Folge der Einſchränkung auf den „Orbis terrarum“ der Alten, der ſich zur wirklichen Erde etwa ſo verhielt, wie der aſtronomiſche Kosmos des

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Ariſtoteles mit feinen Schalen zur Welt des Kopernikus und G. Bruno. Selbſt die Kreuzzüge, in denen das Reich über den Orbis hinauszuſchauen begann, waren nicht eigentlich Eroberungskriege, die ſich auf den Anſpruch der „Univerſali⸗ tät“ ſtützten, ſondern Verteidigungskriege des Kreuzes und Sehnen nach dem Grab des Herrn. Und will etwa ernſtlich nicht auf dem Papier der römiſche Papſt, in dem ſich dieſer alte Anſpruch heute am ſtärkſten forterbt, den Mikado und den Dalai Lama erſetzen? Die geiſtige Korrelatidee zum römiſchen Imperialismus, der in Papſttum und Kaiſertum fortlebte, ſchon vorher zerbrochen in oſtrömiſches und weſt⸗ römiſches Kaiſertum und den tiefen Gegenſatz byzantiniſcher und weſtlicher Religioſttät und Kirche war der von den Stoikern geſchaffene Begriff des „Kosmopolitismus“, der im Grunde die Völker und ihr Leben nie umfaſſen, ſondern nur eine übernationale Geiſtesgemeinſchaft der geiſtig⸗freien und kulturſchöpferiſchen Minoritäten bezeichnen ſollte: Ein ſich die Hand reichen der „freien Geiſter“, hinweg nicht nur über den Raum, ſondern auch über die Zeit und Geſchichte. Aber auch dieſer „Kosmopolitismus“ blieb in den Grenzen der Spannweite des alten Imperiumsgedankens und des Orbis. Niemand dachte dabei auch in weit ſpäterem Gebrauch ernſtlich an die Geiſtesführer der Azteken, an die Medizin⸗ männer und Prieſter der Neger, kaum noch an Konfutſe und Buddha. Und dieſen Faktizitäten entſprach ziemlich genau eine beſtimmte Stufe der Erkenntnis des „Menſchen“ hinſichtlich ſeiner Einheitsform, die trotz allem inhaltlichen Wechſel beſtehen blieb bis zur Hochblüte z. B. der deutſchen Literatur, Philoſophie und Wiſſenſchaft im Anfang des

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19. Jahrhunderts; eine Stufe, die nicht nur Leſſing, Goethe, Schiller, Wilhelm von Humboldt, ſondern ſelbſt ſo genaue Kenner der Völkerwelt wie Alexander von Humboldt und Immanuel Kant, Herder und Hegel noch mitumfaßt. Man darf ruhig ſagen: Von der Erzählung der Geneſts des Alten Teſtamentes an, nach der die Menſchheit von einem Paare und von einem Orte der Erde, dem Paradieſe, abſtammt, bis zu den erleuchteten Vertretern dieſer unferer „Humanitätsepoche“ findet ſich in dieſem Punkte kein weſentlicher Unterſchied. Wie ſehr ſelbſt A. von Humboldts Denken hier weniger durch die Tatſachen als durch ein Vorurteil faſt einen Wunſch ſeines Zeitalters beſtimmt iſt, zeigt die Außerung, er wolle am Monogenismus feſthalten „um der unerfreulichen Annahme von höheren und niederen Menſchenraſſen zu wider⸗ ſtreben“. Herders Humanitätsidee iſt überall von der An⸗ nahme einer Gemeinſamkeit aller menſchlichen Raſſen und Gruppen in der intellektuellen und ſittlichen Maturanlage, wie von der weiteren Annahme des einheitlichen Urſprungs des Menſchengeſchlechts geleitet; auch geiſtig ſind ihm „der Menſchenfreſſer in Neuſeeland und Yenelon, der verworfene Peſcheräh und Newton Geſchöpfe einer und derſelben Gat⸗ tung“. Für Leſſing, Schiller, Goethe, W. von Humboldt iſt die Idee des „Allgemeinmenſchlichen“, halb die Idee einer faktiſchen gemeinſamen Berührbarkeit aller Menſchen durch die höchſten Werte von Leben, Erkenntnis, Kunſt, halb die Idee eines idealen Maßes, durch das die faktiſchen Menſchen und Werke ſelbſt gemeſſen werden follen ein mit ſtärkſten poſitiven Wertgefühlen betonter Begriff. Immanuel Kant, obzwar er in ſeiner Anthropologie von den Zeitgenoſſen wohl den

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tiefſten Begriff ſowohl der Raſſengegenſätze als der MNational⸗ gegenſätze beſitzt, legt doch feiner geſamten Erkenntnistheorie die Idee einer einheitlichen intellektuellen Organiſation des Menſchen als erforſchbares Objekt zugrunde und ſpricht aus⸗ drücklich die Anſchauungsformen von Raum und Zeit bei den Verſtandesformen ſteht es anders dem Menſchen qua Menſchen bei. Selbſt wo man im Urteil der Theorie über die Grenze dieſer Anſchauung hinauszugehen ſcheint, bleibt doch für Anſchauung und Gefühl und beſonders für alle hiſtoriſch⸗politiſchen Einſtellungen die Überzeugung von einer einheitlichen, geiſtigen, ſpezifiſchen Geſetzmäßigkeit der Men⸗ ſchennatur und deren Unwandelbarkeit ebenſo feſt beſtehen, wie die Lehre von ihrem einheitlichen Urſprung. Die Geſchichts⸗ philoſophen der Zeit, Herder, J. G. Fichte, Hegel, aber auch ihre pofitisiftifchen Gegner der Franzoſe A. Comte, der Eng: länder Buckle und ihre Schüler ſtellen „Entwickelungsziele“, reſp. „Stadiengeſetze“ der Menſchheitsentfaltung auf, von denen es zum Teil ſchon L. von Ranke“ offenſichtlich war, daß fie auch da, wo fie überhaupt Außereuropäiſches heran: ziehen was ſelbſt nur in ſehr engen Grenzen des Materials geſchieht auf die naioſte Weiſe europäiſche, ja zum Teil nur modern nordeuropäiſche Ideen und Rhythmen der hiſto⸗ riſchen Abfolge auf jenes fremde Material konſtruktio über⸗ tragen. Die europäiſche Unruhe der Arbeit und der Seele, eine an ganz einzelnen, engen Sachgebieten, Wiſſenſchaft, Technik, Staatsverfaſſungen uſw. (und dieſe wieder nur be⸗ ſchränkt auf das moderne Europa) abſtrahierte Idee des menſchlichen „Fortſchrittes“, werden ebenſo auf ſeiten der idealiſtiſchen, von J. Kant bis Fichte und Hegel weſentlich

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von der Idee der politiſchen Freiheit geleiteten, wie auf feiten der poſitiviſtiſchen, von den Ideen des Fortſchritts von exakter Wiſſenſchaft und Technik beſtimmten Lehre auf die außer⸗ europäiſche Welt fälſchlich übertragen. Die Fortſchritts⸗ lehre unſeres Durchſchnittsliberalismus ſtammt noch aus dieſer Zeit. Tritt aber nun neben dieſe alten univerſaliſtiſch⸗ humaniſtiſchen Ideen mit kosmopolitiſchem Geltungsanſpruch und doch nur faktiſch europäiſchem Inhalt freilich einem europäiſchen Inhalt, der um ſo vager und undeutlicher iſt, als er doch als bloßeuropäiſch nicht erkannt wird eine andere, gegen das 18. Jahrhundert neue geiſtige Einheits⸗ form, ſo iſt es ausſchließlich die Einheit der Nation (oder wie bei Herder des naturgegebenen „Volkes“). Dies iſt ja bei der ganz einſeitigen Beſchäftigung der euro: päiſchen Völker im 19. Jahrhundert mit ihren inneren, nationalen Verfaſſungsangelegenheiten und dem neuen Hoch⸗ gang der nationalen Wellen in Rußland, Deutſchland, Ita⸗ lien gegen Napoleons praktiſch⸗politiſche Wiederaufnahme der alten Imperiumsidee auch wohl begreiflich.

In dieſe Lage der Dinge aber iſt zunächſt durch die mit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts beginnende gewaltige Erweiterung der Weltwirtſchaft, der Folge der geſteigerten Kommunikationstechnik, und den ſich an⸗ ſchließenden Austauſch geiſtiger Erzeugniſſe, Lehren und Lehr⸗ kräften eine erhebliche Breſche geſchlagen worden. Während früher unſere Kenntnis außereuropäiſchen Weſens auf die Beobachtungen und Mitteilungen einzelner Reiſender und Miſſionare, für China und Tibet z. B. der Jeſuiten be⸗ ſchränkt war, lernten ſich nun die europäiſchen und außer⸗

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europäiſchen Völker felbft in Handel und Wandel, in Ge: ſchäft und Lebenspraxis kennen. Und gerade der Prozeß, den man fälſchlich die „Europäiſierung“ der fremden Raſſen und Völker genannt hat, d. h. die Übernahme der Wiſſen⸗ ſchaften, der Technik, der kapitaliſtiſchen Methoden, gewiſſer europäiſcher Rechtsformen (z. B. Japans neues, unſerem Bürgerlichen Geſetzbuch nachgebildetes Recht) lief überall an ſcharf laufende Grenzen auf, die zwiſchen der dauernden Geiſtesart des Europäers und des Mongolen, des Megers, der osmaniſchen Welt und des Weißen Aſiens beſtehen. Gerade die formale Internationaliſterung gewiſſer Inſtitute (Konvention über Maße, Gewichte, Münze, Schiffahrt, Poſt, Telegraph, internationales Privat⸗ und Völkerrecht uſw.) hob auf deren Hintergrund gleichſam etwas, was von dem ſo Internationaliſierbaren grundverſchieden iſt, und was dennoch die europäiſchen Mationen als ein gemeinſames Band um⸗ faßt, als ein Band, das über dieſe formale Solidarität der Mützlichkeitsintereſſen an Qualität weit hinausgeht, hob einen einheitlichen Typus des Europäertums und einer euro⸗ päiſchen Kultur ſcharf und genau ab.

Der Begriff des „Internationalen“ iſt von jenem des „Kosmopolitiſchen“ nach Inhalt und Urſprung ganz ver⸗ ſchieden: beide aber grundverſchieden von der Erſcheinung eben dieſes „europäiſchen“ Typus. Während das Kosmopolitiſche nur auf die Gemeinſchaft geiſtiger Betätigung höchſtgebildeter Minoritäten in der Löſung gewiſſer Aufgaben (Erkenntnis, Kunſt, Philoſophie) geht, und auch eine zeitlich hiſtoriſche Er- ſtreckung hat (Plato reicht z. B. Kepler und Kant über „die Jahrhunderte weg“ „kosmopolitiſch“ die Hand) iſt der Ber

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N ! griff des „Internationalen“ gerade von den unteren Volks⸗ maffen aus (ſiehe Wortverbindungen wie „internationales Proletariat“, „internationale Arbeit“) und von gewiſſen ganz formalen Nützlichkeitsintereſſen (internationale Kommunika⸗ tionsintereſſen, Rechtsintereſſen uſw.) gebildet, und umſpannt dabei im Gegenſatz zum Kosmopolitiſchen nur die jeweilig gleich⸗ zeitig lebende Menſchheit. Kosmopolitismus iſt ein von „oben“ her, den „Denkern“ aus, Internationalismus ein von unten, der Maſſe her gebildeter Begriff. „Kosmopolitiſch“ dachten im 18. Jahrhundert gerade die Denker (Leibniz, Voltaire, Kant uſw.), auch die Denker unter den Fürſten (Friedrich der Große uſw.), während das „Volk“ zuerſt nur regional und dynaſtiſch dachte, dann aber allmählich im Laufe der Selbſt⸗ behauptung gegen Napoleon „national“ zu denken lernte. „International“ dagegen iſt ein Begriff, in dem die ſtürmiſche Seele des neuen vierten Standes pulfierf, wogegen gerade die geiſtigen Minoritäten im 19. Jahrhundert, wie ſie ſich aus den, ſich allmählich durchdringenden , Ständen“, Adel und Bürger⸗ tum herausheben, vor allem den Mationalgedanken trugen. Erſt in den letzten Jahrzehnten hat ſich dies ein wenig geändert. Erſt in der geahnten Einheit eines „Europäismus“ (Techet) entſtand eine freilich bis heute noch ſehr dünne Fläche von Gemeinſchaft der arbeitenden Maſſen, des höheren Bürger⸗ tums und der geiſtigen Führer der Mationen. In Deutſch⸗ land traten innerhalb der Sozialdemokratie ziemlich unwillig begrüßte Männer wie Hildebrand, Schippel und andere auf, die den Gedanken einer weſteuropäiſchen Wirtſchafts⸗ und Zollgemeinſchaft gegen Amerika propagierten. Andererſeit⸗ bildete Friedrich Nietzſche den Begriff des „guten Euro⸗

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päers“ und das geiftige Zuſammenwirken der europäiſchen Geiſtesführer, die ſteigende Literatur und Kunſtbefruchtung der Nationen, der rege wiſſenſchaftliche Gedankenaustauſch zwiſchen ihnen, gaben dieſem Worte eine ſtarke reale Wurzel. Das große, wenn auch politiſch uns zur Zeit ſeiner Aus⸗ ſprache wenig nützliche Kaiſerwort „Völker Europas wahret eure heiligſten Güter“ gab der Idee eine politiſche Spitze gegen die mongoliſche Welt! Kurz es wurde erkannt, daß, wenn wir alle menſchlichen Verbindungen in die zwei Grund⸗ arten der Intereſſen und Zweckverbände und der Liebes⸗ und Lebensgemeinſchaften einteilen, Europa trotz der in ihm liegen⸗ den nationalen Gegenſätze noch auf die Seite der Lebens: und Liebes gemeinſchaften gehört, nicht wie die wahrhaft „internationalen“ Verbindungen auf die Seite der Intereſſen⸗ und Zweckverbände.

Eine erhebliche Rolle ſpielte in der Ausbildung des Be⸗ griffes des Europäertums das Bild, das die Angehörigen ver⸗ ſchiedener europäiſcher Nationen dem geiſtigen Auge der Gelben und anderer Nichteuropäer darboten. An der eigen⸗ tümlichen Einheit des Stiles und der Ausdruckseinheit dieſes Bildes im Nichteuropäer von uns, lernte der Europäer, deſſen Auge jahrhundertelange nationale Kämpfe nur auf die Differenzen der Nord⸗ und Südeuropäer, der Romanen, Germanen, Slaven, Engländer eingeſtellt hatten, ſelber erſt die Einheit ſeines eigenen Typus ſehen und begreifen. Ver⸗ wundert bemerkte man, daß es jenſeits engliſcher Steif— heit, ſüditalieniſchen Geſtenreichtums, deutſcher Schwer⸗ fälligkeit, franzöſiſcher Behendigkeit und Anmut ein gemein⸗ ſames europäiſches Geſicht, als Ausdrucksfeld der Geinüts⸗

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bewegungen und europäiſche Geſetze der Geſten gäbe, die einen nie in Frage gezogenen unbewußten Kanon für alles geiſtig⸗ ſeeliſche Verſtändnis innerhalb Europas bilden. Wie anders da⸗ gegen das „japaniſche Lächeln“, das ſchon kleine Kinder haben gelegentlicher ſchmerzlicher Vorfälle! Wie anders ſchon jene Balkanobölker (Serben, Griechen), die „ja“ und „nein“ nicht mit Nicken und Schütteln des Kopfes, ſondern umgekehrt ausdrücken. Wie anders die afiatifche Ruhe und Würde, oder die komplizierte chineſiſche Indirektheit in allen Lebensformen und Sitten bis zu Kaufen und Verkaufen von Waren. Wäh⸗ rend die geiſtigen Differenzen der europäiſchen Mationen fo tief fie gehen mögen erſt bei komplexeren Seelenvorgängen und hochkomplizierten ſeeliſchen Leiſtungen beginnen, gehen diejenigen der europäiſchen und außereuropäiſchen Völkern häufig auf ſehr elementare ſeeliſche Grundvorgänge zurück.

Bezüglich der muſikaliſchen Grundqualitäten der Töne: und Klangverbindungen und deren Wohlgefälligkeit zeigte C. Stumpf und ſeine Schule, beſonders die Herren E. von Hornboſtel und O. Abraham, Differenzen des muſtkaliſchen Gehörs zwiſchen Europäern und Nichteuropäern auf (ins⸗ beſondere Siameſen, Japaner, Inder, um nur hochkultivierte Gruppen zu nennen), die vordem kaum auch nur für möglich gehalten wurden.“

Das Prinzip der fiamefifchen Tonleiter zum Beiſpiel weicht von jenem der europäiſchen ganz ab. Man teilt die Oktave in ſieben gleiche Stufen, ſo daß jeder Ton zum folgenden und vorausgehenden ein überall gleichbleibendes Verhältnis hat. „Nicht ein einziges unſerer Intervalle iſt vorhanden, weder rein, noch in den noch für uns zuläſſigen Grenzen temperiert.

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Es gibt keinen Unterſchied von Ganz: und Halbſtufen. Die kleine und die große Terz ebenſo wie die kleine und die große Sexte und Septime ſind zu einer neutralen Terz, Sexte, Septime zuſammengezogen; die Quarte iſt erhöht, die Quinte vertieft. Für die Herſtellung dieſer beider beſitzen die Siameſen ein wunderbar feines Gehör.“ (C. Stumpf.) In Java finden ſich analoge gleichſtufige Syſteme. Das ganz befremdliche dieſer Erſcheinung iſt, daß dieſe Völker vom Prinzip der Konſonanz, dieſem natürlichſten Prinzip aller Leiterbildungen, nur für das Ganze der Oktave, nicht für den Oktavenraum An⸗ wendung machen. Eine harmoniſche Muſik iſt mit dieſem Prinzip der Leiterbildung von Hauſe aus unvereinbar. Ge⸗ hört auch dieſe Eigentümlichkeit des ſiameſtſch⸗javaniſchen Gehörs kaum ſchon der Beſonderheit ihrer äußeren Sinnes⸗ organe und ihres inneren Sinneszentrums an, ſo iſt es doch eine ſchon ſehr elementare Variable, die dieſes ihr fehlendes Konſonanzbewußtſein bedingt. Nicht ganz fo große Dif— ferenzen, aber gleichfalls ſehr tiefgehende zeigt das Gehör der Japaner. Ihr abſolutes Tongehör iſt weit unentwickelter wie das europäiſche. Auch der japaniſchen Muſik fehlt der har⸗ moniſche Charakter, ſowie unſer Leitton; desgleichen fehlt unſere ſcharfe europäiſche Rhythmiſierung. Die geſamte japaniſche Muſik iſt in vier hierarchiſche Rangordnungen eingeteilt, der vier Klaſſen von Berufsmuſikern entſprechen, die Gakunin, die Genin, die blinden und die weiblichen Mu⸗ ſiker (Geiſ has), welch letzteren die klaſſiſche, heilige Muſtk ganz verſagt iſt.

Die indiſche Muſikmethodik iſt abgeſehen von tiefgehen⸗ den Differenzen des Tonſyſtems durch die Geſetzmäßigkeit

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des Räga gekennzeichnet, für das fich in der europäiſchen Muſik überhaupt keine ſtrenge Analogie findet. Es be⸗ deutet weder Tonart, Modus noch Melodie, ſondern wäre nach O. Abraham und Hornboſtel noch am beſten durch den Begriff eines „Melodienſkeletts“ wiederzugeben, das für alle heutigen Melodien normativ wurde, wenn es auch ur⸗ ſprünglich eine beſtimmte Melodie geweſen iſt. Die noch wenig geförderten analogen Probleme für den Farbenſinn und die Farbenbewertung, für die Wohlgefälligkeit und Be⸗ vorzugung einfachſter Raum- und Zeitgeſtalten (Rhythmen) und Linienzüge in Auffaſſung und Bewertung, deuten analoge Reſultate an. Aa

Ganz in die Tiefe aber greifen die Differenzen des Ethos und die Verſchiedenheiten der Strukturen und Kategorien des erkennenden Geiſtes, wie ſie ſich in Sprache ns und Mythos, in Wiſſenſchaft und Religion ausdrücken. Man nehme als Beiſpiel Japan.

Alle tieferen europäiſchen Kenner Japans ſind ebenſo wie die ernſteren Köpfe dieſes Volkes ſelbſt heute darin einer Meinung, daß die ſogenannte „Europäiſierung“ Japans faktiſch nur eine Techniſterung und Kapitalifierung war, daß die übernommenen Neuerungen dieſem Volkstum kaum unter die äußerſte Haut gingen, und die Differenzen der Grundeinſtellungen zu Welt, Leben, Gott, Kunſt ganz und gar unberührt ließen. Japan wollte ſich mit abendländiſcher Kultur nicht durchſäuern, „ſondern nur bepanzern.“ (Haus⸗ hofer.) Und überall, wo analoge Vorgänge, welche außer⸗ europäiſche Völker in den internationalen Mechanismus des Verkehrs einbezogen, ſtattfanden, da traten in dem letzten

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Jahrzehnt konſervative Reaktionen hervor (fehr ſtark in Ja⸗ pan, s in China die ſogenannte chineſiſche Orfordbewegung, s in der Türkei die Reaktion gegen die Jungtürken, in Ruß⸗ land die Bewegung gegen den Witteſchen Geiſt) die dieſe Tatſache den Völkern zum klaren Bewußtſein brachten. Für das japaniſche Ethos z. B. fehlt allen europäiſchen Völkern gleichmäßig der „Patriotismus“. Wie natürlich iſt dieſes Urteil! In Japan ertrinkt das Individuum vollſtändig in einer Stammesverehrung und einem Ahnenkult, der die ja⸗ paniſche natürliche Volks⸗ und Stammeseinheit vom Stiefel⸗ putzer bis zum Mikado religiös⸗metaphyſiſch verankert. Alle Japaner ſtammen nach dem Mythos dieſes Volkes in Linien von verſchieden großer Direktheit vom Urahn des Volkes (dem erſten Mikado), der ein Sohn der Gottheit iſt. Jeder iſt nicht nur, ſondern empfindet ſich auch nur als anonymes Glied der Generationskette“ und der japanifchen Geſamtfamilie. Was alſo bei uns „Patriotismus“ heißt, iſt dort nur ein ausgedehntes religiös⸗metaphyſiſch verankertes Familien⸗ gefühl. Eine perſonal⸗ individuelle Unſterblichkeit kennen fie nicht, ſondern nur ein übernatürliches Fortwirken der ganzen Dynamik der Generationskette auf die lebendige Geſchichte, die eigentlich in der Hauptſache von den toten Ahnen ges macht wird. Der letzte Japaner wäre ſterblich; denn er wäre kein Ahn. In alle Geſchäfte, vom kleinſten bis zum größten ſpüren ſie die Ahnen hineinwirken. Dem entſpricht ein uns völlig unfaßbares abſolutes Gebot des elterlichen Gehorſams, demgemäß z. B. ein Mädchen, „gut“ handelt, wenn es ſich auf Wunſch der Eltern proſtituiert. Im ja⸗ paniſch⸗ruſſiſchen Krieg kam es z. B. (ich zitiere einen ſtreng

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glaubwürdigen däniſchen Offizier, der den Feldzug mit⸗ machte) vor, daß ſich abgeſprengte Teile von Regimentern töteten, damit ihre „Seelen“ raſcher zu den im Kampf ſtehen⸗ den Stamm des Regimentes zurückkommen könnten, um da „mitzukämpfen“. Ein Zurückdenken an die Familie und Freunde zu Hauſe, galt ihnen als ſchwerſtes Verbrechen; die Opfertötung eines Geliebten als Mittel, die Reizurſache der Ablenkung vom Kampf zu beſeitigen, galt als „heldiſche“ Tat. Jeder Rückzug galt als prinzipiell falſch welch Opfer dieſes militäriſche Prinzip auch koſtete. Eine ungeheure Menge Soldaten ſuchten nicht den „Sieg“, ſondern den Ruhm des Todes. Der Mikado mußte Erlaß für Erlaß geben, um das Heer aufmerkſam zu machen, daß es zu ſiegen nicht zu ſterben gelte. Die Kategorie der „Individualität“ fehlt aber auch ihrer Liebesauffaſſung, ihrem Ethos, ihrer Kunſt. Für „Liebe“ gibt es in der japaniſchen Sprache kein gleichſinniges Wort. Die Beziehungen der Geſchlechter regeln ſich entweder nach rein ſenſuell⸗äſthetiſchen Motiven, oder nach dem Willen der Eltern, der ja auch der der Kinder ſein muß wenn die Kinder nur Kombinationen der Ahnenqualitäten, ihr Sehnen vererbtes Ahnenſehnen iſt, wie es die japaniſche Liebes⸗ lehre beſagt. Die Ehe iſt ein Teil der japaniſchen Groß⸗ familie, wie dieſe ein Teil der geſamten Stammesgeſamt⸗ familie; nicht alſo iſt die individuell geſchloſſene Ehe der Ausgangspunkt einer neuen Familie. Ihr Schamgefühl wie das Ehrgefühl iſt vom europäiſchen grundverſchieden. Zu dieſem Ethos bildet das Ethos der europäiſchen Völker trotz aller tiefen Unterſchiede einen einzigen ſichtbaren Gegenſatz; es bildet einen Gegenſatz, der einer ganz anderen Dimenſion

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angehört oder Größenordnung, als die innereuropäiſchen na⸗ tionalethiſchen Differenzen. Es beſteht hier ein Unterſchied ſchon der Vorzugsregeln einfachſter Wert qualitäten, nicht wie in Europa ein ſolcher Unterſchied, der nur die Anpaſſung dieſer hier noch gemeinſamen Regeln des Wertvorzugs auf verfehiedene hiſtoriſche Lebenswirklichkeiten und Volksanlagen betrifft!” Ganz analoge Unterſchiede finden ſich innerhalb des Kunſt⸗ und Naturgefühls, der zelthaften Bauweiſe, und dem, was bei der Nahrung für appetitlich (zum Beiſpiel rohe Fiſche) und unappetitlich reſpektive „ekelhaft“ gilt. Gleiches zeigt die bildende Kunſt. Der Mangel unſerer Art von Perſpektibe auf japaniſchen Bildern iſt nicht mangelhaftes Können wie man lange annahm ſondern entſpricht einem anderen Raum Sehen und äſthetiſchen Werten der Welt. Ahnlich iſt vom europäiſchen Weſen grundverſchieden der aufgeſchloſſene Sinn für die kern⸗ und ſubſtanzloſe Sen⸗ fation (Schatten, Spiegelbild der Sterne im Waſſer, ein leiſer Duft) in der japaniſchen Lyrik und im japaniſchen Tanze. Für die am tiefſten Verſtehenden unter den euro⸗ päiſchen Japankennern halte ich, ähnlich wie dem indiſchen Kulturkreis gegenüber ſtets diejenigen Perſonen, die ſagen, daß wir für ewige Zeiten den Kern der japaniſchen Seele niemals verſtehen werden. Dieſe Forſcher allein ver⸗ meiden es, das Beobachtete unter europäiſche Schauformen und Geiſteskategorien zu bringen; ſie allein gewahren wenig⸗ ſtens noch die Grenze, über die ſie eine feine Ahnung hinaus⸗ führt, die Grenze unſeres europäiſchen Geiſtes. Die dauernden Einſchränkungen einer ſinnvollen chriſtlichen Miſſtonstätig⸗ keit, deren unbewußte Vorausſetzung ſo lange die Annahme

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einer geiftigen Einheit der Menſchennatur geweſen war, find feit einigen Jahren allen aufgegangen, die Japan und China mit dieſem Intereſſe bereiſt haben. Die Rede, die vor kurzer Zeit der ausgezeichnete Göttinger Theologe Otto auf dem letzten internationalen Religionskongreß gehalten hat, gibt in vorzüglicher Weiſe dieſe neue Einſicht wieder. Ein Ein⸗ dringen in den tieferen Geiſt des Chriſtentums iſt ſeitens der Mongolen, iſt auch ſeitens der großen indiſchen Völker⸗ gruppen zu keinem, auch noch ſo entfernten Zeitpunkt zu er⸗ warten. Selbſt die Ausſicht einer ganz äußeren irreligiöſen Konfeffionalifierung find nach allen Sachkennern in Japan gleich null.“

Aber auch gegenüber der chriſtlichen Orthodoxie Rußlands und was beſonders lehrreich iſt auch gegenüber den ruſſt⸗ ſchen ſo mannigfachen häretiſchen Gegenbewegungen gegen die Staatskirche, alſo gegenüber den Sekten, an denen Rußland ſo überreich iſt, ſtellt das weſtliche Chriſtentum, trotz ſeiner ſo mannigfaltigen tiefgehenden Spaltungen in Katholizismus, proteſtantiſche Formen der Orthodoxie und des Liberalismus, Luthertum, Caloinismus, reformierte Lehre und allem weſt⸗ lichen Sektenweſen eine einzige charakteriſtiſche religiöſe Lebenseinheit dar. Dieſe Einheit läßt ſich nicht im entfern⸗ teſten ausſchließlich an den dogmatiſchen und vielleicht ver⸗ gänglichen Inſtitutionen (Cäſaropapismus) ermeſſen. Auf dieſe Differenzen iſt aber der Blick des bloßen Theologen meiſt allzu einſeitig gerichtet. Je tiefer man in die ruſſiſch⸗orthodoxe Religiofität eindringt man vergleiche dabei ihre ſcharfe Um⸗ riſſenheit in Doſtojewskis „Brüder Karamaſow“ und in ſeinen „Politiſchen Schriften“ deſto mehr wird man dies erkennen. Je

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mehr man die hier überragende Herrſchaft des alten griechiſch⸗ gnoſtiſch gefärbten Logosgedanken über die perſönlichen Ge: ſtalten der weſtlichen Religionsanſchauungen, je mehr man die Herrſchaft der Idee der realen Solidarität der Individuen in Schuld und Werdienft'” über das weſteuropäiſche Prinzip der Selbſtverantwortlichkeit und bloß ideeller Solidarität, je mehr man die Herrſchaft gnoſtiſcher vereinſamender Spe⸗ kulation über die weſtchriſtlichen Ideen gemeinſchaftserzeugen⸗ der Tat und Liebe, » die Herrſchaft paffiver byzantiniſcher Devotion über aktive „Duldung“ und ſich geiſtig öffnende weſtliche „Demut“; je mehr man die tiefe Differenz weftlich- tätigen und ruſſiſch⸗kontemplierenden Mönchtums, je mehr das Weſen des weſtkatholiſchen Autoritätsbegriffes, nach dem auch „Autorität“ in ihrem ſchroffſten integralen Sinne noch in letzter Linie ein im Herrſchen Dienendes, nicht ein durch den Kult byzantiniſch als Selbſtzweck zu Verherrlichendes iſt, be⸗ greift; je mehr man ſich die ſchmerzheiſchende und liebende ruſſiſche Opferidee fie erfüllt wie die weltlichſten Geſtalten der Epen Doſtojewskis auch den Geiſt der ruſſiſchen Armee von der weſtlichen Opferidee, nach der der Opfernde ſeinen Blick nicht an erſter Stelle auf dem Schmerz des Opfers, ſondern auf dem Gute weilen läßt, für das er opfert; je mehr man in der weſtlichen Trennung von Staat und Kirche die Gewähr aller individuellen Freiheit, in ihrer öſtlichen Ver⸗ einigung den Hort aller Unterdrückung der individuellen Seele ſehen lernt: Deſto mehr wird ſich innerhalb der reichen Spiel⸗ formen des weſtlichen Chriſtentums dem Betrachter ein feſt⸗ begrenzter gemeinſamer Spielraum an religiöſen Grundein⸗ ſtellungen herausſtellen, innerhalb deſſen die hiſtoriſchen

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Schwenkungen feiner dogmatiſchen, kultiſchen, moraliſchen, inſtitutionellen Beſonderheiten allein möglich ſind. Selbſt das Tolſtoiſche Chriſtentum iſt bei allem Rationalismus mit ſeiner wörtlichen Auffaſſung des Satzes „Widerſtehe nicht dem Übel“, mit feiner Eiferſucht auf heitere harmloſe Freude, mit ſeinem bitteren Reſſentiment gegen Schönheit und Lebens⸗ fülle, mit ſeinen ſelbſt den weſtlichen Zeloten noch unfaß⸗ lichen Urteilen über Goethe, Schopenhauer, Richard Wagner, mit ſeiner feindlichen Frontſtellung ſchon gegen die erſten Prin⸗ zipien der weſtlichen Wiſſenſchaft, mit ſeinem gnoſtiſchen Dualismus zwiſchen Ewigem und Zeitlichem (ſiehe Tolſtoijs Schrift über den „Sinn des Lebens“), mit ſeiner dürr wörtlichen Auffaſſung des evangeliſchen Wortes, mit ſeinem verzweif⸗ lungsvollen Dualismus zwiſchen Geſinnung und Tat, dem europäiſchen Weſen fremder als ſich integraler Katholizismus und liberaler Proteſtantismus, ja den Grundeinſtellungen nach, liberaler Atheismus jemals werden können. Das erſcheint nur anders, wenn man die dogmatiſchen Begriffe und Worte wichtiger nimmt als die Struktur des religiöſen Lebenspro⸗ zeſſes, der die Häreſien und antireligiöſen Weltanſchauungen hier wie dort noch mitumfaßt. Auch die Häreſten und Prote⸗ ſtantismen folgen eben in der Geſchichte der Religion dem Geſetze, daß ſie an den Glaubensbeſtand, von dem ſie häre⸗ tiſch abweichen oder gegen den ſie „proteſtieren“, irgendwie in ihrer Struktur gebunden bleiben. Auch der Verfolger zahlt noch den Tribut geheimer Folge!

Zu den fundamentalſten Unterſchieden jener Konſtanten, auf deren Grundlage ſich alles hiſtoriſches Leben bewegt, ge⸗ hören auch die Unterſchiede im ſeeliſchem Verhältnis von

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Weib und Mann. Und hier finden wir eine ſtrenge An⸗ erkennung wenigſtens der metaphyſiſchen und öffentlich rechtlichen Perſonalität und Individualität des Weibes mit allen den ungemeinen Folgen dieſer Tatſache bis ins kleinſten ausſchließlich innerhalb des europäiſchen Geiſtesſpiel⸗ raumes. In Indien hatten die Engländer mit der Witwen⸗ verbrennung hart zu kämpfen. Der Koran ſpricht dem Weibe die höhere Perſonalität ab das religiöſe Fundament des Ha⸗ rems. In Japan iſt trotz der Überwindung des Syſtems der Nebenfrauen und der Zeitehen, die Tradition und Sitte nicht zur Anerkennung der Perſonalität des Weibes gelangt. Selbſt in Rußland, in dem die chriſtliche Religion dieſe furchtbare Lehre von der Nichtperſonalität des Weibes ausſchließt, über⸗ wiegt innerhalb der Landmaſſe der patriarchaliſche Charakter im Verhältnis von Mann und Frau den Charakter einer ge⸗ heiligten Liebes⸗ und Lebensgemeinſchaft ſelbſtändiger Per⸗ ſonen. Wieder alſo erſcheint bei allen nationalen Verſchieden⸗ heiten innerhalb Europas in den geſchlechtlichen Beziehungen dieſe eine große Konſtante! Analoge Größenordnungen von Unterſchieden beſtehen zwiſchen den, für die geſamte leiblich⸗ geiſtige Weiterbildung des Menſchengeſchlechtes fundamental⸗ ſten Vorzugsregeln der Geſchlechtswahl. Was ſoll man von der engliſchen Einheit zwiſchen Weltanſchauung und Politik heute ſagen, wenn Herr Grey, ein Anhänger der Frauenſtimm⸗ rechtsbewegung, politiſch mit den Japanern und dem Zaren zuſammengeht?

Wir halten es völlig falſch, wenn man verſucht, geiſtige Ein⸗ ſtellungsunterſchiede der Art, wie wir ſie an dieſen Beiſpielen zwiſchen Europäiſchem und Nichteuropäiſchem verdeutlichen

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wollten, auf den bloßen Gradunterſchied verſchiedener hiſtori⸗ ſcher Entwicklungsſtadien zurückführen zu wollen; ſo etwa wie es Sidney Gulick für Japan dartun wollte, wenn er das heutige Japan mit dem europäiſchen Mittelalter vergleicht. Vielmehr bedingt jede dieſer Einſtellungsarten auch eine beſondere Richtung der hiſtoriſchen Entwickelung, die auch durch keine Art der „Rezeption“ dauernd abgelenkt werden kann. Aber wie der Gegenſatz des Nationalen und Allgemein⸗ menſchlichen nicht mehr unſerer hiſtoriſchen Lebenserfahrung entſpricht, ſo auch nicht mehr unſerer wiſſenſchaftlichen Er⸗ kenntnis des Menſchen. Die Lehre von der geiſtigen und leiblichen Einheit der menſchlichen Matur ging auch innerhalb der vergleichenden Anatomie und Phyſtologie der Raſſen, der Entwicklungsgeſchichte, der Anthropologie, Ethnologie und der Völkerpſychologie zuſehends in die Brüche. Iſt auch zwiſchen der monophyletiſchen und polyphyletiſchen Lehre noch viel unausgeglichenerer Streit niemand würde es wagen, die Frage in der Weiſe A. v. Humboldts kurzerhand zu entſcheiden. Die pſychologiſche Raſſenlehre ſoweit fie ſich über lächerliche, hochmütige Idolatrie des Germanentums er⸗ hebt und ohne Wertung die Differenzen der Raſſen heraus⸗ ſtellen möchte, liegt zwar noch in den Windeln. Die Einheiten von Zeit, Ort und Handlung aber, in denen die ältere chriſt⸗ liche Geſchichtsauffaſſung, auch weit über ſie hinaus, die meiſten modernen „Weltgeſchichten“ noch die Geſchichte der Menſchheit gleich einer alten franzöſiſchen Tragödie Racines dahinrollen ließen, ſind ſchon durch den vermutlichen Urſprung des Menſchen hart in Frage gezogen. H. Klaatſch, der zwiſchen den menſchenähnlichen Affenarten und den Haupt⸗

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raſſen der Menſchen eingehende anatomiſche Vergleichungen vorgenommen hat, hat Folgendes wahrſcheinlich gemacht: „So wie die Menſchenaffenvorfahren bereits Verſchiedenheiten voneinander beſaßen, als die Simiation eintrat, ſo ſind auch die Menſchenformen nicht einander gleiche, weil ebenfalls ſchon vor der Homination Verſchiedenheiten ſich angebahnt hatten. Hieraus ergibt ſich zum großen Teil eine Erklärung für die Raſſenverſchiedenheiten der Menſchen. Die Raſſen gewinnen dadurch eine größere Bedeutung und auch die Ab⸗ neigung mancher Raſſen wird mehr verſtändlich! (H. Klaatſch „Die Stellung des Menſchen im Naturganzen“). Hugo de Vries führt den homo sapiens als das bekannteſte Beiſpiel dafür an, daß Linne mehrere ſcharf geſonderte Spezies zu einer künſtlichen Einheit verſchmolz. Ich zeigte anderenorts, daß das, was von einer mehr als künſtlichen Einheit des „Men⸗ ſchen“, und vom „Menſchen“ im Gegenſatze zum „Tiere“ alle Sprachen ſprechen läßt, überhaupt kein pſychiſcher und phy⸗ ſiſcher Maturunterſchied iſt, ſondern nur in noetiſchen Begriffen definiert werden kann; ja in einem gewiſſen Verſtande ſchon die Bezugidee auf eine Gottheit vorausſetzt. Die Idee des „Menſchen“ iſt wirklich, wie ſchon Platon, Descartes und Malebranche lehrten, in gewiſſem Sinne ein Theomorphis⸗ mus. Die Ideen von „Vernunft“, „Sprache“, „Gewiſſen“ ſind keine induktiven Abſtraktionen an den einzelnen Gliedern der Naturgattung „Menſchentier“. Sie werden vielmehr an ſpezifiſchen Sach⸗ und Wertzuſammenhängen ds, ſowie ihnen entſprechenden Aktgeſetzmäßigkeiten des Geiſtes gewonnen ähnlich wie die Sätze der ſogenannten Farbengeometrie, die der Phyſik der Farbe wie der Phyſiologie des Farbenſehens

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vorhergehen. Worte wie „„Wermunft‘‘, „Gewiſſen“ drücken nur Inbegriffe derjenigen Aktgeſetzmäßigkeiten aus, (des „Den⸗ kens“, der „Werthaltung“, des „Sprechens“ des „Fühlens“, des „Liebens“ und „Haſſens“), die einer rein ſachgültigen Logik, Ethik und reiner Grammatik uſw. entſprechen. Und erſt dieſe Aktinbegriffe ſind es, welche Weſen, die über die ſubjektibe Befähigung, in ſolchen Aktgeſetzen ſich zu betätigen, verfügen, als,, Menſchen“ in einem anderen als dem natur⸗ wiſſenſchaftlichen Sinne des Menſchentieres kenntlich machen. Für die Naturwiſſenſchaft iſt der ſogenannte Menſch, d. h. das Menſchentier nur eine kleine Ecke innerhalb der höchſt⸗ organiſierten Wirbeltiere d. h. felbft ein Tier. Der Natur⸗ forſcher hat nirgends das geringſte Recht, die Begriffe „Menſch“ und „Tier“ einander entgegenzuſetzen. Aber ob der ſo als „Vernunftweſen“ definierte „Menſch“ faktiſch mit dem Naturweſen „Menſchentier“ überall ſich auch in der Sphäre des Begriffsumganges decke das muß ſicher zum mindeſten als ſehr fraglich angeſehen werden. Lord Aveburn (John Lubbock) beſtritt, daß die meiſten Natur⸗ völker ein „Gewiſſen“ beſitzen, obgleich das „Gewiſſen“ als Inbegriff der Vermögen zu gewiſſen evidenten Vorzugsregeln zwiſchen Werten, den „Menſchen“ in einem Sinne, in dem allein dieſer Begriff eine vom „Tier“ ſtreng getrennte Einheit darſtellt, erſt mitdefiniert v. Es gibt ſehr tüchtige Erforſcher des primitiven Geiſteslebens, die es beſtreiten, daß gewiſſe totemiſtiſche Stämme gemäß dem Satze des „Widerſpruches“ denken, wenn ſie z. B. eine ſtrenge Identität zwiſchen je einem Gliede des Stammes und je einem Exemplar des Totemtieres an: nehmen und behaupten. Das ſchadet natürlich dem „Satze

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des Widerſpruches“ gar nichts. Daß dieſer durch folchen Befund in Frage gezogen ſei, das müßten nur ſolche Logiker annehmen, die dieſen Satz für ein pfychologifches, induktio gefundenes Naturgeſetz halten. Wohl aber ſtellte es die „Menſchlichkeit“ jener Stämme im Sinne des eigentlichen Begriffes „Menſch“ in Frage; d. h. im Sinne desjenigen Be⸗ griffes , Menſch“, der eine mehr alskünſtliche Ordnungseinheit unſeres Verſtandes iſt. In tauſend ähnlichen Fällen, die natür⸗ lich zur Frage nach der geiſtig⸗ſchöpferiſchen Begabung der Raſſen und Völker zur Kultur⸗ und Zioiliſationsbildung (einer „Begabung“, die man von jeder, wenn auch noch ſo großen „Dreſſierbarkeit“ ſcharf ſcheiden möge, der ſchon die höheren Tiere ſo weitgehend fähig ſind) einen ganz weſentlichen Bezug haben, müſſen wir jedenfalls auf die Dauer mit der Möglichkeit rechnen, daß gewiſſe ſtrenge Geiſtesgeſetzmäßig⸗ keiten, deren Beſitz auch zum Auf bau aller Kultur notwen⸗ dige Vorausſetzungen ſind, nicht „allen“, ſondern nur einigen Vertretern des natürlichen Begriffes „Menſchentier“ zu eigen ſind. Beſonders werden wir auf das Ziel der Herſtellung einer einzigen Weltanſchauung und „Welt“ unter den Men⸗ ſchen völlig verzichten müſſen wobei ich unter dem Worte „Weltanſchauung“ und „Welt“ nicht das hiſtoriſch wandel⸗ bare Produkt willkürlicher Forſcherleiſtungen wiſſenſchaftlicher Minoritäten und deren Gegenſtände, ſondern jene letzten Strukturen des Weltanſchauens und Weltſeins, jener Glie⸗ derungs⸗ und Geformtheitsarten der ſinnlichen Stoffe verſtehe, von denen irgendeine Art gleichviel welche zum Weſen der Weltwirklichkeit ſelbſt notwendig gehört. Die Kategorien: tafel Immanuel Kants“, deren Kategorien Kant für „Bedin—

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gungen alles möglichen Erfahrens“ der Gegenſtände und darum auch für Bedingungen der Gegenſtände der Erfahrung ſelbſt hielt, erſchöpft kaum das, was man die mögliche Erfahrung des Europäers oder die der Europäerwelt nennen kann ge⸗ ſchweige auch nur alle Formen des vernünftigen Geiſtes der verfchiedenen Raſſen überhaupt. Die europäiſche „Wiſſen⸗ ſchaft“, die Kant als Datum vorausſetzt, entſpricht mit allen ihren ungeheuren Differenzen von Thales über Thomas Aqui⸗ nos bis zu Newton und H. Spencer nur einer einzigen der vor⸗ handenen und möglichen „Weltanſchauungen“, das Wort in unſerem Wortſinne genommen. Sie entſpricht wahrſcheinlich nur derjenigen europäiſchen Struktur des Geiſtes, welche die möglichen Phänomene der Natur und Seele überhaupt nach dem Range ihrer möglichenaktiven Beherrſchbarkeit ordnet und die jeweilig weniger beherrſchbaren zu abhängigen Funk⸗ tionen der beherrſchbarſten werden läßt (d. h. als Abhängige von Maſſe und Bewegung). Das indiſche Denken z. B., ſo weit und tiefſinnig es in ſeiner Art iſt hätte niemals dieſe „Wiſſenſchaft“ und ihre Methoden hervorbringen können. Denn der indiſche Geiſt beſitzt völlig andere Strukturformen des Schauens und Denkens der Welt als der europäiſche. Nur die Sätze reiner Logik, die noch nichts von Kants „Kate⸗ gorien“ und „ſynthetiſchen Prinzipien des Verſtandes“ ein⸗ ſchließen, ſind hier und dort noch identiſch. Und ſchon das erſte Wort des nach Kant vermeintlich univerſalbernünftigen und für „alle Vernunftweſen“ giltigen Sittengeſetzes „Handle ſo uſw.“ iſt gegenüber dem indiſchen höchſten ethiſchen Ideal des Nichthandelns, der puren Betrachtung der Welt und Verſenkung in fie, ein bloß europäiſcher Imperativ während

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gar die Kant eigene, ganz eigenartige „Pflichtidee“ nicht einmal deutſch, ſondern nur preußiſch iſt. Je tiefer wir in die kategoriale Struktur der Syntaxen der großen Sprach⸗ ſtämme eindringen (in der Weiſe etwa geſchieden wie ſie nach Wilhelm 9. Humboldts Studien über die Welt⸗ anſchauung in der Sprache und die ſogenannte „innere Sprachform“ neuerdings Finck geſondert hat), deſto mehr wird uns klar, daß ſich auf dem Hintergrund einer das

Weſen von Wort und Sprache überhaupt umgren zenden

„reinen Grammatik!“ grundverſchiedene Gliederungsformen des ſinnlichen Weltſtoffes vorfinden, unter denen die europäi⸗ ſchen Sprachen bei allen ihren Differenzen den gemeinſamen Widerſchein einer Welt des Seins und der Werte gewahren laſſen, neben der noch völlig anders geartete „Welten“ und ihnen entſprechende Erlebnisformen des Seins beſtehen.

Unterſchiede, wie ich ſie hier im Auge habe, reichen bis in die elementarſten Kategorien des Erlebens hinein. Daß zum Beiſpiel „Wollen“ und die dem Erlebnisinhalt des Wil⸗ lenswiderſtandes eigene phänomenale Auszeichnung, welche „wirkliche“ Weltinhalte von „unwirklichen“, ſonſt aber im Bildinhalt, der fenfitiven Fülle und Intenſität gleiche Inhalte, unterſcheidet, etwas darſtellen, was dem Nicht⸗ wollen und dem Fehlen dieſer Auszeichnung der „Wirk⸗ lichkeit!“ (alfo der Unwirklichkeit des Gegenſtandes) vorzu⸗ ziehen ſei ſagen wir populärer, daß der Wirklichkeits⸗ ſinn dem Unwirklichkeitsſinn, deſſen Höherſchätzung z. B. auch die Idee des ſeligen, indiſch-buddhiſtiſchen Nirwana entſpricht, vorzuziehen ſei das iſt ein Axiom des europäiſchen Geiſtes, ein Axiom der europäiſchen Wiſſenſchaft und Kultur.

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Yan ee

Es iſt ein „Axiom“, das ganz jenſeits alles logiſch Erweis⸗ baren liegt.“ Ahnliches gilt z. B. für den Unterſchied, daß für den Inder der Tod des Individuums, für uns ſeine Fort⸗ exiſtenz inſtinktib die Laſt des Beweiſes trägt. n“ Man kann über ſolche Dinge, alſo über Europäer: und Inderwelt nicht einmal ſinnvoll ſtreiten da contra principia negantem non est disputandum. Irgendeine noch beſtehende Gemeinſchaft lebendiger „Tradition“ enthüllt ſich eben immer mehr in den Geiſteswiſſenſchaften als die Vorausſetzung jedes, über die philologiſchen Worthüllen und den logiſchen Sinnzuſam⸗ menhang hinausgehenden möglichen Verſtehens; des Ver⸗ ſtehens z. B. des altindiſchen und altchineſiſchen Schrifttums. Da aber ohne irgend welche eigentümliche, über den Gehalt reiner Logik hinausgehende Sach- und entſprechende Geiſtes⸗ ſtrukturen das, was wir die „Welt“ der Gegenſtände nennen, eſſentiell gar nicht möglich iſt, ſo werden wir das, was wir ſeit den älteſten Griechen das „Univerſum“ oder den „Kos⸗ mos“ nannten, immer mehr nur als eine Welt neben anderen Welten anſehen müſſen. An Stelle des „Univerſum“ würde beſſer treten, was W. James das „Multiverſum“ genannt hat.» Denn dies „Iniverſum“ unſerer Väter, das war nur die Europawelt. Und dieſe Europawelt iſt wirklich nichts, was wir durch „Reiſen“ und gingen fie bis auf den Mond je überwinden können. Sie läuft mit uns wie unſer Schatten, wo⸗ hin wir auch gehen und wohin ſich unſer Auge wendet. Das gegliederte Antlitz des Seins und die Sprache der Dinge bleibt „europäiſch“ auch noch in den Tiefen Chinas und Afrikas und auch der Mond wie er auf dem Monde ſelbſt erſchiene, könnten wir ihn beſchreiten, bliebe uns der europäiſche Mond“.

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Daß in „dieſe Welt fo viele Welten“ hineingeſtickt find wie Hebbel ſagt das gewahren wir freilich nicht, oder gewahren es doch um ſo weniger, als wir uns begnügen, dem Seienden nur eine bequeme Ordnung zuteil werden zu laſſen, die uns erlaubt, die Sachen nach ihren bloß äußerlichen Beziehungen zur Befriedigung der ſogenannten „allgemein menſchlichen“ Bedürfniſſe, d. h. derſelben Bedürfniſſe, die wir mit den höheren Wirbeltieren eben noch teilen nutzbar zu lenken. In einem Adreßbuch können wir ja auch die menſchlichen Charaktere nicht feſtſtellen, die zu den Namen des Buches gehören. Wem alle „Erkenntnis“ nur ein öko⸗ nomiſcher „Weltkatalog“ iſt, dem mag die Welt freilich als eine „Einheit“ erſcheinen. Wir beneiden aber Herrn Oſtwald und Genoſſen um dieſe „Einheit“ nicht. Aber gerade je mehr wir uns im Geiſte den Sachen, ihrem Gehalt, ihrer Fülle und ihrem Kern annähern und geiſtig zubewegen, je mehr wir vom eindeutigen Ordnen der Sachen zu ihrer Erkenntnis vor⸗ dringen, zu jener Vermählung des Geiſtes mit der Sache, die allein „Erkenntnis“ zu heißen verdient; je mehr wir von der Mützlichkeitsziviliſation zur wahren „Kultur“ aufſteigen, alſo gerade je objektiver, je „ſachlicher“ wir uns verhalten und das „Tieriſche“ unter uns laſſen deſto mehr wird die vor⸗ gegebene Einheit der Weltwirklichkeit, an die unſere Väter der „humaniſtiſchen“ Zeit ſo feſt glaubten, zu einer oberfläch⸗ lichen fable convenue. Deſto reicher erglänzt vor unſerem geiſtigen Auge auf die Fülle der „Welten“, in unſag⸗ baren Fernen.

Je mehr wir aber dieſe ferne Kälte anderer „Welten“ ge⸗ ahnt haben, deſto wärmer, deſto heimlicher und näher, deſto

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vertrauter umſpielt uns aber auch das Fluidum Europas im Sinne der europäiſchen Welt als ein einziger gemeinſamer Daſeins⸗, Lebens: und Wirkraum! Unendliche hiſtoriſche Aufgaben ſtellt die Idee möglicher Europawelt den euro⸗ päiſchen Nationen. Mur langſam können die Nationen in ihrer Geſchichte jede Nation wieder mit beſonderen Ein⸗ ſtellungen auf die eine Europawelt, jede auf einen beſonderen Ausſchnitt dieſer Welt gerichtet, ihre Grenzen ausmeſſen und wohl in keiner endlichen Zeit je vollſtändig ermeſſen! Und zu all jenen, zu allen Zeiten gleich notwendigen ewigen, un⸗ vergänglichen Formen der Liebe, die da heißen „Heimatliebe“, „Vaterlandsliebe“, „Liebe zur Mation“ und zum nationalen Staate, wird je mehr uns dies klar wird, nicht mehr jene verächtliche, aus bloßem Heimats-, Vaterlands⸗, Natio⸗ nalhaß geborene Reſſentimentſcheinlieben zur „Menſchheit“ hinzu treten, die, ſoweit ſie nicht in der Liebe zu allem „Leben⸗ digen“ verſchwindet und nur ein notwendiges Element eben dieſer Liebe zum „Allebendigen“ iſt, nur alle höchſten Men⸗ ſchenwerte nivelliert und zerſtört. Es wird ſich zu dieſen Liebes⸗ formen fügen eine neue poſttive, am gemeinſamen Zug und Sehnen zu gewiſſen Werten und Formen geborene Liebe zur „Europäität“ wenn ich dieſe Wortbildung wagen darf und zum „guten Europäer“ in allem Menſchlichen, zum gut Europäiſchen in allem Kosmiſchen!

Der Patriotismus Europas er wird im Blute und Eiſen dieſes Krieges erſt jetzt geboren! Ach fühlt ihr L empfindet ihr, ihr Freunde, dieſe herrlichſte aller Liebesgeburten der Weltgeſchichte ſeit urdenklich langen Zeiten? Wie ſie her⸗ vortritt aus dem, alle Geſtalten nivellierenden Nebelreich aller

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„Internationalismen“, wie fie ſich aus dem kreißenden Schoß unſerer leidenden Nationen im Feuer und Donner der Schlachten von Erde und Waſſer und Luft, wie in jener heiligen Durchdringung aller beſonderen nationalen Säfte und Kräfte, die nur der Genius des Krieges als der große Gehilfe des Genius der Liebe bewirken kann, Glied für Glied, Form für Form aus eurem Kampfe emporarbeitet, wächſt, ſich bildet und ſchöner und ſüßer wird euerer Nationen Aller junges ſtrahlendes Kind „Europa“ in unendlicher Weite und Fernſicht ſein glänzendes Auge über eine neue, nun erſt mögliche Geſchichte aufgeſchlagen die Zeugung eures Schwertes, aber mehr und ein Beſſeres wie ihr Zeugenden und euer ideales Maß? Europa, das Europa des Geiſtes!

Und fühlt ihr, wie in Mitleid und verſchämter Liebe zu dem chriſtlichen Bruder in Gott, den euch heilige Pflicht und Liebe zum Vaterlande zu töten oder gefangen zu nehmen befahl, wie in jenen furchtbaren „Reiſen ins Ausland“, die das echte „Volk“ ſonſt auf feiner feſten Scholle ſitzend im Gegenſatz zu Diplomaten, Luxusmenſchen, Geſchäftsmännern und Commis Voyageurs, die auch im Frieden D-Zug ins Ausland reiſen, nur im volksverbindenden Kriege zu machen pflegt, ein euch ſelbſt zuerſt kaum verſtändliches, und euren Begriffen noch ſo ſtummes unausſprechliches Gefühl in euren Herzen auf keimen will: der erſte, blaſſe Keim für die einſt herr⸗ lich ſchwellende Liebe einer neuen Richtung, einer neuen Leiden: ſchaft, einer neuen Idee und eines neuen Wertes ? Der Liebe zur Scholle, der Liebe zum Geiſte und zum Weſen Europas?

Ihr deutſchen Soldaten im Felde ſeht zum erſtenmal Ko⸗ ſaken, Inder, ihr ſeht Leute aus Kanada, Neufundland,

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Auſtralien, Meuſeeland, ſeht Araber, Perſer, Türken, Japa⸗ ner, Maoris und ſteinewerfende Neger, ſeht gar viele ſonderbare Leute, von denen ihr euch alle nach dem Kriege ſo viel erzählen werdet: Schaut ſie alle genau an! Leidet auch im ſchärfſten Kampfe ſtets den Schmerz der lebenden Kreatur mit! Achtet den edleren Schmerz des Menſchentieres in allen euren Gegnern, des Menſchentieres, aus dem auch der Menſch geboren ward! Ehret noch die „Weißen“, aus denen der Europäer emporſtieg aber liebet mir, nachdem ihr eurer heili⸗ geren Liebe zu eurer Nation gefolgt ſeid, den Franzoſen, Eng⸗ länder, den ſangesreichen und kriegeriſchen Serben! Und ver⸗ geſſet nie auch gegen den Ruſſen, daß er wie mißverſtanden immer und ferne eurem Weſen Jeſus gehorchen will, unſerem Herrn! Das iſt die Abſtufung der Gefühle, in der ihr fühlen ſolltet. Dieſe „Europäität“ haben unſere modernen Kommuni⸗ kationsmittel, haben Freizügigkeit und Auf hebung oder Ver⸗ minderung der Zollſchranken nicht etwa „geſchaffen“, fo daß dieſelben Kräfte, wäre dieſe Lehre des Technizismus wahr, auch noch darüber hinaus eine „internationale“ Geſellſchaft „ſchaffen“ könnten, deren Glieder uns Europäern gleich nahe ſtünden wie die europäiſchen Nationen! Dieſe Kräfte haben die „Europäität“ nur entdeckt und gefunden, fo wie der Aſtronom einen neuen Stern! Sie haben, indem ſie ſich über Europa hinausbewegten und hinauswirkten, aber zu⸗ gleich das „Andere“, die Andersheit, das Außereuropäiſche gefunden, dasjenige gefunden, was „unſer“ nicht iſt und nie fein kann! Und eben das müſſen wir lernen, daß es nicht nur einen europäiſchen „Geſichtspunkt“ auf die eine reale Welt gibt,

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d. h. eine Art der ſubjektiven Einſchränkung des Sehens der „Welt“ (im bisherigen hiſtoriſchen Wortſinne), ſondern gerade umgekehrt eine faktiſch beſtehende Europäerwelt, die dem Anſich der Dinge näher ſteht als andere „Welten“; und daß gerade jene „eine“ Welt, die vorgeblich das objektiv beſtehende Korrelat des vermeintlichen europäiſchen „Geſichts⸗ punktes auf die Welt“ wäre, faktiſch nur eine ganz ſubjek⸗ tiv menſchliche Sache internationaler und interraſſenhafter Konbenienz iſt nicht aber jene eine wahre Welt Gottes, für die wir fie fo lange fälſchlich hielten. Die wahrhaftige Welt Gottes aber, die allein wahrhaft eine Welt, iſt die Welt, in der auch die Europäerwelt als die ihr vielleicht vielleicht! nächſtkommende noch enthalten iſt!

Über dies „Vielleicht“ hinaus führt allein der euro⸗ päiſche Glaube nicht das Wiſſen!

Was uns aber Ethos und Erkenntnis lehren, das lehrt uns auch die Kunſt. Faſt unſere geſamte ältere europäiſche Aſthetik hat Ideen von „Schönheit“, „Erhabenheit“, „An— mut“ uſw. entwickelt, dazu ideale Maßſtäbe der Kunſt und des Wertens des Kunſtwerkes, die fie als „allgemeinmenſch⸗ lich verbindlich“ hielt. Eine jüngere äſthetiſche Forſchung und Kunſterkenntnis hat ſie zum größten Teil als ganz ſpezifiſchen, europäiſchen Einſtellungen entſprechend klar er: kannt. Riegl hat zuerſt auf die damit verbundene Torheit hingewieſen, gewiſſe Erſcheinungen auf ein Nichtkönnen der außereuropäiſchen Künſtler ſchon innerhalb der ägyptiſchen und archaiſch⸗griechiſchen Kunſt zu ſchieben, wo ein anders⸗ artiges „Kunſtwollen“ vorliegt. Die Welt der Gegenſtände ſelbſt, die der Künſtler ſich zum Vorwurf machte, iſt ihm

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bier fo völlig andersartig gegeben, daß er vermeinen konnte, die Dinge ganz „naturaliſtiſch“ treu zu geben.“ Schon die Wertideale der Kunſtanſchauung und des triebhaften Kunſtwollens, die ſchon vor dem Darſtellungsprozeß die ſinn⸗ lichen Stoffkomplexe zu eigentümlichen und grundverfchie- denen Form⸗ und Werteinheiten zuſammennehmen, weichen häufig von den europäiſchen ganz ab. Man ſah, wie grund⸗ verfchieden eine Stiländerung dieſer Dimenfion von jenen ganz anderen Anderungen iſt, die nur die wechſelnde künſt⸗ leriſche ſubjektive Auffaſſung einer noch gemeinſam äſthetiſch ausgezeichneten Wirklichkeit durch Perſonen oder durch „Schulen“ betreffen. Die entgegengeſetzten Schaurichtungen der Verlebendigung des Toten und der Vertotung, Geometri⸗ ſierung, Erſtarrung auch des Lebendigen traten ſchon für die ägyptiſche Hochkunſt und die griechiſche Kunſt auseinander. Die erſte Richtung, die unſere Aſthetiker wie z. B. Lipps aller äſthetiſchen Betrachtung für weſentlich hielten, war als etwas ſpezifiſch Europäiſches erkannt.“ Es gibt für die bildenden Künſte als gemeinſame europäiſche Grundlage eine gemeinſame europäiſche Art des Sehens worin be⸗ ſchloſſen iſt eine beſtimmte Gliederung des Raumes und ins⸗ beſondere der Tiefenwerte im Verhältnis zu einer gegebenen Eindrucksfülle, Bevorzugung gewiſſer Raumformen, Ge⸗ ſtalten und Kurvenzüge, ſchon in der Bildung der natürlichen Wahrnehmung der Dinge, Bevorzugung des dynamiſchen? Sehens, d. h. des Sehens in einem Zuge vor dem punktieren⸗ den und die Punkte nachträglich verbindenden Sehens, Bevor⸗ zugung gewiſſer Farbenkombinationseinheiten und beſtimmter Gefühlswerte dieſer Kombinationen. Dieſe Art des Sehens,

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ſtellt gegenüber der wechſelnden aktiven Aufmerk ſamkeit und Wahl ebenſo wie gegenüber dem puren Empfindungsmaterial des äußeren Senſoriums und den beſonderen Dingobjekten eine ganz beſondere Variable dar.

Die anderen europäiſchen Künſte zeigen eine noch tiefere Wer: wandtſchaft. Die höhere polyphone Muſtk iſt ein ganz ſpezifiſch⸗ europäiſches Gut, gegenüber dem ſelbſt die indiſche Muſtk, ge⸗ ſchweige die Muſik der fo muſtkaliſch begabten Schwarzen wie aus einer anderen Welt zu tönen ſcheinen. Die innere hiſto⸗ riſche Verflechtung der europäiſchen Nationalliteraturen, der gemeinſame Charakter ihrer Grundformen in Lyrik, Epik, Ro⸗ man, Drama, Tragödie, Luſtſpiel, Poſſe uſw. gibt uns die Idee einer Einheit, die gelegentliche Nachahmungen natürlich im europäiſchen Geiſte ſelbſt nur orientaliſcher Poeſie wie in Goethes weſtöſtlichen Divan, in Rückerts Verſuchen, nie⸗ mals verwiſchen können. Welche andere Welt in einem in⸗ diſchen Drama oder gar in einem japaniſchen Schauerſtück oder einer Geiſhaaufführung! Die Goetheſche Idee einer „Welt⸗ literatur“ blieb, wenn auch nicht dem Stoffe nach, ſo doch der Wahlkategorien nach, in denen er den Stoff ſeligierte, durch⸗ aus europäiſch gebunden. Auch hier war der „Kosmopolitis⸗ mus“ der Zeit nur vager und unbeſtimmter Europäismus.

Aber was iſt das eigentlich für eine Einheit, die wir als die des Europäers, der europäiſchen Werte, der europäiſchen Kultur bezeichnen? Und wo liegen ihre Grenzen, wo beginnt das andere? Iſt es eine Einheit im geographiſchen Sinne, oder eine Einheit des Blutes, reſpektive eine Einheit deſſen, was man vieldeutig genug „Raſſe“ nennt ein Wort, mit dem man bald eine Einheit der innerhalb der Art des Menſchentieres

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rein ſyſtematiſch und diagnoſtiſch zu ſcheidenden Varietäten der körperlichen Organiſation, bald eine ebenſolche der ſeeliſchen Anlagen, oft aber etwas ganz anderes, nämlich einen real zu⸗ ſammenhängenden Geſamtzug generativer Bluts⸗ und Abſtam⸗ mungseinheit bezeichnet. Dieſe Einheit beſitzt als ſeeliſches und hiſtoriſches Korrelat einen gewiſſen Zuſammenhang ſeeliſcher Erbqualitäten und im großen ganzen auch eine gemeinſame „Tradition“. Mit dieſem Worte bezeichnen wir nicht die ge⸗ meinſamen hiſtoriſchen Lebensſchickſale der Erwachſenen, oder das durch bewußte Erfahrung und Lehre Erworbene, ſondern ausſchließlich alles das, was durch unbewußte, ſeeliſch⸗leibliche Anſteckung, durch Mitdenken, Mitleben, Mitausdrücken, Mittun in den erſten Kinderjahren bis zur „Mündigkeit“ in den Menſchen an ſeeliſchen Grundeinſtellungen gebildet wird.

Daß hier von einem bloß geographiſchen Begriff nicht die Rede fein kann, iſt wohl ſelbſtoerſtändlich. Die Bevöl⸗ kerung Nordamerikas gehört nach Sprache, Geiſt, Ab⸗ ſtammung der Spannweite dem europäiſchen Menſchen⸗ typus an. Immer noch iſt Nordamerika bis auf un⸗ abſehbare Zeiten hinaus eine europäiſche Kulturkolonie; trotz ſtaatlicher Selbſtändigkeit und allmählicher Ausbildung eines eigentümlichen nationalen Weſens. Mag Nordame⸗ rika wirtſchaftlich nicht einer europäiſchen Nation, ſondern nur ganz Weſteuropa äquivalent ſein, mag es im Sinne der „Nation“ aber in nicht allzulanger Zeit eine eigentümliche nationale Geiſteseinheit darſtellen, fo liegt es doch durch: aus innerhalb der Struktur des europäiſchen Geiſtes und hat zur Bevölkerung des geographiſchen Weſteuropas kulturell nur die Bedeutung einer beſonderen Nation nicht jene

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eines eigentümlichen Kulturkreiſes wie Rußland, Indien, die Mongoleuländer; einer Nation, die ſogar mit Eng- land und Deutſchland verglichen an Eigenart hinter der Differenz der Franzoſen oder Italiener mit den Deutſchen ganz erheblich zurückbleibt. Abgeſehen von der Größe des Landes und der Zahl der Menſchen, auch von der Zeitdauer ſeiner Exiſtenz und Arbeit, würde ein gedachter Ausfall der Kulturarbeit Nordamerikas aus der geſamten Arbeit des Menſchengeſchlechts noch immer nicht im entfernteſten ſoviel bedeuten als der Ausfall Frankreichs oder Italiens, dies wenigſtens, wenn man nicht aufs Quantum der Leiſtung, ſondern Qualität und Eigenart der erfinderiſchen Produktion ſieht. Noch viel mehr gilt dies für große Teile des ſpaniſchen und portugieſiſchen Südamerikas und für Auſtralien. Rechnet man Europa in geographiſchem Sinne des Wortes gen Oſten bis zum Ural, fo hört andrerſeits die geiſtige Spann⸗ weite des Europäertums ſchon weit früher auf; und man muß mit Hettner das ganze Oſteuropa als „Halbaſien“ anſehen. Nach Südoſten zu muß die Grenze der Spannweite des Europageiſtes ausdrücklich als problematiſch bezeichnet werden.

Hier, zunächſt hinſichtlich Ungarns und Rumäniens, tobt noch auf Jahrhunderte hinaus der Kampf. Ob das Ma⸗ gyarentum, halb mongoliſch⸗tatariſcher, halb finniſcher Her⸗ kunft und ſtark mit Osmanentum nach Blut und Sitte ge⸗ miſcht, in der jetzt ſich allmählich vollziehenden Bildung einer ungariſchen „Nation“ mit europäifcher Grundartung auf- gehen wird, oder trotz ſeiner Minderzahl dieſe Bildung ver⸗ hindernd, ſchließlich doch noch einmal dem ungariſchen Staate einen Charakter aufprägen wird, der mehr aſiatiſch als euro⸗

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päiſch zu nennen wäre, das wird ganz wefentlich von einem Fortbeſtand des öſterreichiſchen Kaiſerſtaates abhängen; oder ſagen wir davon, ob in Oſterreich der europäiſche Geiſt, der dieſes Staates Exiſtenz als Hauptwerkzeug ſeiner Ausbreitung nach Oſten und Südoſten fordert, das Übergewicht behalten wird über die Spezifität der öſterreichiſchen Nationalitäten und damit auch des ſpezifiſch germaniſchen Geiſtes, wie er ſich im Deutſchtum Oſterreichs darſtellt. Das eben iſt hier die Eigenart der Lage: daß der deutſche Mationalgeiſt in Oſter⸗ reich nur als primus inter pares der Diener, nicht als Herr der öſterreichiſchen Staatsidee ſeine europäiſche Miſſion er⸗ füllen kann ſeine große, erhabene Miſſton zur Solidari⸗ tät und zur möglichſten Erhaltung und Ausbreitung der Spann⸗ weite des Europageiſtes über das bunte Völkermaterial ſeiner eigenen und der angrenzenden Nationalitäten. Das möge das Deutſchtum innerhalb des Reiches und in Oſterreich wohl be⸗ denken! Auch jene deutſchen Reichskreiſe mögen es bedenken, die unter gewiſſen, hier nicht zu bezeichnenden Umſtänden jetzt viel⸗ leicht geneigt wären, einen Separatfrieden des Deutſchen Rei⸗ ches mit Rußland zu ſchließen d. h. Oſterreich mehr oder weniger preiszugeben. Eine obzwar im machiavelliftifchen Sinne kluge, für die momentane Situation militäriſch viel⸗ leicht zweckmäßige Politik, könnten dann, des ökonomiſchen Vorteiles freier Ausfuhr und Einfuhr mit Rußland während eines länger dauernden engliſchen Krieges nicht zu gedenken, doch alle deutſchen Reſtkräfte gegen England ſofort konzentriert werden aber einer kurzſichtigen und antieuropäiſchen Politik, ſteht jene andere weitſichtige europäiſche deutſche Politik gegen⸗ über, die ihren Trägern alles verbietet, was gegen die europäiſche

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Solidarität als dem höchſten Sinne dieſes Krieges iſt. Diefer europäiſchen Politik aber iſt ein ſelbſtändiges Oſterreich wich⸗ tiger, als Verbreiter und Erhalter des europäiſchen Geiſtes, als die größere Bequemlichkeit und Gefühlsbefriedigug eines ein⸗ heitlichen alldeutſchen Nationalſtaates bis zur Adria (Trieſt).

Ahnlich ſteht es mit dem europäiſch⸗problematiſchen Ru⸗ mänien, das mit ſeiner ſtark wachſenden begabten, ſtandhaften, patriotiſchen Bevölkerung von allen Balkanſtaaten die ſtärkſte Aufnahmefähigkeit für die endgültige Gewinnung ſeiner Be⸗ völkerung für die Spannweite des europäiſchen Geiſtes auf⸗ weiſt. Solange als es mit einem ſelbſtändigen Oſterreich ſym⸗ pathiſtert, wird es für die ruſſiſchen Expanſionstendenzen (aber auch für die einſeitig magyariſchen rumäniſchen Aſpirationen) den ſtärkſten Riegel bilden. Ob es aber ohne dieſe Anlehnung die Kraft beſitzen wird, durch die Expanſton des ruffifchen Rieſen einmal endgültiger Hinausdrängung aus der europäiſchen Geiſtesſphäre zu entgehen, das iſt mehr als fraglich. Weit problematiſcher und in ihrer europäiſchen Fragwürdigkeit weniger bloß an ſtaatliche Geſchicke gebunden, mehr ſchon in ihrer Anlage für die endgültige Einbeziehung in den Kreis der europäiſchen Geiſtesſtruktur zweifelhaft ſind die Serben, Montenegriner, Albaner aber auch noch das tapfere Bauernvolk der Bulgaren. Mögen aber dieſe gleichnamigen Nationen und Staaten als ſolche wie ſelbſtändig immer bleiben der Alternative können ſie nicht entgehen, ent⸗ weder ſich ſchließlich doch in die Sphäre der weſteuropäiſchen Geiſtesſtruktur einzubilden, oder endgültig dem ruſſiſchen Kulturkreis ſich noch vollſtändiger einzugliedern, als es bereits auf Grund der gemeinſamen Religion und zum kleineren Teil

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des ſlawiſchen Raſſegefühls der Fall if. Auch Griechenland wird ſeinen relativ europäiſterenden Einfluß auf die Völker⸗ welt des Balkans nur dauernd ausüben können, wenn es ſich nicht gegen Oſterreich ſtellt. Denn wer immer fich heute gegen jenen erhabenen Staat ſtellt, der, freilich unter ſtetigen furcht⸗ baren Zuckungen ſeiner inneren Exiſtenz von der Vorſehung wie auserſehen ſcheint, den Idealismus der europäiſchen Staats⸗ idee zu verkörpern und ihre Erhabenheit über den ungezügelten Naturdrang des Blutes wie der bloßen Nationalität darzu⸗ ſtellen, gegen die heroiſche Kraft dieſer Idee, die bloßen Naturdifferenzen in die Einheit eines geiſtigen Willens zu binden, der ſündigt an der Heiligkeit des europäiſchen Geiſtes!

Nicht oft genug kann ja auch für die allgemeine Beurtei⸗ lung unſeres öſterreichiſchen Bruderſtaates, deſſen geheiligtes Haupt uns jene tiefe, über alle bloße Idee eines Bündnis⸗ vertrages hinausgehende, Treue bewährt hat auch bewährt hat zu einer Zeit, da König Eduard mit allen Mitteln ſeiner Schlauheit und Liebenswürdigkeit ihn, den Kaiſer Franz zu gewinnen ſuchte —, jene tiefe Treue, die man als leuchtendes Exempel für den altgermaniſchen Treuegedanken, der nichts von „Verträgen“ weiß, die,, Nibelungentreue“ genannt hat, hervor⸗ gehoben werden: Daß es der Vorſehung ewiglich zu danken iſt, daß fie in einem Zeitalter des allgemeinen Naturalismus, da der Weg der Völker in der Tat wie Grillparzer ſagte die Richtung „Von der Humanität über Nationalität zur Beſtialität“, d. h. bloßer Raſſengemeinſchaft einzuſchlagen ſchien, im öſterreichiſchen Kaiſerſtaat vor der ganzen Welt das edle heroiſche Bild der Macht, der Hoheit und Feſtigkeit der puren, gleichſam ſtoffloſen Staatsidee aufgerichtet hielt,

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wie um an diefem einen Beiſpiel eine in die bloße Trieb: haftigkeit der Natur zurückſinkende Welt immer fort zu ge: mahnen: An die Macht des ſittlichen Willens über die bloße Natur und das bloße Triebhafte des Menſchen!

Daß das Osmanentum nicht nur mehr problematiſch, ſon⸗ dern trotz allem Jungtürkentum und europäiſcher Phraſen aus der Struktur des europäiſchen Geiſtes herausfällt, braucht nicht geſagt zu werden. Im Grunde theokratiſch und auf einem feudalen Lehensſyſtem aufgebaut, den Byzantismus Oſtroms nicht eigentlich aufgebend, ſondern nur ſeine Hierarchie mit ſkythiſchem Geiſte erfüllend, ohne höhere Verdienſte um die Kultur die hinausgingen über einen aſta⸗ tiſchen Luxus der Sinne ein biederes, ehrliches Reitervolk ohne Adel des Geiſtes, höherer Freiheit und Form, iſt das Osmanenfum über den formalen Internationalismus der Ziviliſation und den Salon hinaus vom europäiſchen Geiſte im Kerne unberührt geblieben. Aber gerade weil es aus Europa völlig herausfällt, können momentane rein politiſche und militäriſche Verbindungen mit den Osmanen auch für den Auf bau einer politiſchen Form für die europäiſche Soli⸗ darität zweckmäßig ſein. Denn als der Feind Rußlands, des gemeinſamen Feindes Weſteuropas und als gegenwärtiger Eigentümer der Dardanellen, hat es ſolange es noch dieſes Bollwerk zu halten vermag mit Weſteuropa ein ge⸗ meinſames Intereſſe gegen den europäiſchen Oſten. Als das führende Volk der mohammedaniſchen Welt, im Beſttze ihrer höchſten geiſtlichen Würde, des Kalifats und der grünen Fahne des Propheten, vermag es den europäiſchen Außenſeiter eines politiſch und ökonomiſch ſolidariſchen Weſteuropa, vermag es

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Englands Tendenz, das Kalifat auf den ihm unterworfenen Khedive von Agypten oder eine andere engliſche Puppe zu über⸗ tragen, in Schach zu halten. So vermag es mitzuwirken, durch Aufregung, beſonders Agyptens gegen Englands Annexion dieſes Landes, eine dem Werte der europäiſchen Nationen entſprechendere Form der Koloniſation der von der mohamme⸗ daniſchen Welt beſtedelten Gebiete vorzubereiten. Daß die Osmanen durch den Balkankrieg aus dem geographiſchen Europa zum erſtenmal ſo gut wie vollſtändig hinausgedrängt wurden, iſt für die Spannweite des europäiſchen Geiſtes nur dann ein wirklicher Gewinn, wenn durch den Fortbeſtand Oſterreichs und Rumäniens und deren ſüdliche Miſſton für Geſamteuropa, die Ruffifizierung der Balkanſtaaten gehemmt und auf dieſer Grundlage und nur auf ihr, auch die euro⸗ päiſierende Miſſion Griechenlands in der Richtung auf Salo⸗ niki und darüber hinaus gewährleiſtet iſt. Im anderen Falle iſt dieſe Schwächung des Osmanenreiches für den europäiſchen Geiſt vorläufig noch ein Verluſt feiner Herrſchaftsſphäre.

Iſt aber der Begriff des „Europäers“ kein geographiſcher Begriff, ſo darf er ebenſowenig eine Raſſeneinheit bezeichnen wollen. Sicher iſt er keine Raſſeneinheit in dem Sinne, in dem Raſſe als Syſtembegriff (im Unterſchiede zum zweiten möglichen Inhalt dieſes Begriffes, in dem die genetiſche Abſtammungs⸗ einheit vorwiegt) genommen wird. Daß er nicht mit der Sphäre des Begriffes der weißen Raſſe zuſammenfällt, das lehrt ſchon der bloße Hinweis auf Inder und Perſer und der weißen Semiten, auch nicht mit den ſelbſt ſo ſchwierigen Begriff der „Indogermanen“ der Hinweis auf Inder und Perſer. Laſſen wir hier das vertrakte europäiſche Raſſenproblem zur Seite

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liegen. Auf alle Fälle ſtellt der Träger des europäiſchen Geiſtes eine generatib zuſammenhängende Miſchraſſe vorwie⸗ gend aus Kelten, Romanen, Slaven und Germanen und einer verſchwindenden jüdiſch⸗ſemitiſchen Minderheit dar, die ſich geographiſch betrachtet in die vagen Typen der hellen, nordiſchen, blonden Raſſe, der alpinen und der mediterranen Raſſe gliedern läßt. Laſſen wir auch deren Merkmale auf ſich be⸗ ruhen und ihre im einzelnen ſo überaus fragwürdige Ver⸗ breitung. Wie immer das Raſſenproblem einmal in Zukunft ausſehe, wenn die bisherigen rohen Verſuche, mit körperlichen Merkmalen (wie Langköpfigkeit und Rundköpfigkeit uſw.) auch zugleich geiſtige Eigenſchaften, ja höchſte Wertqualitäten verbunden zu denken, einmal aufgehört haben wird; und wenn, im hiſtoriſchen Leben allein fühlbar wirkſame und moti⸗ vierende phyſiognomiſche Einheiten des leiblichen Ausdrucks ſowie letzte pſychiſche Einſtellungsunterſchiede, die ſich in Vor⸗ zügen und Fehlern gleich ſehr äußern, nicht Werteigen⸗ ſchaftsunterſchiede wie Treue, Wahrhaftigkeit uſw. zu einer ſolchen Gliederung der europäiſchen Raſſen geführt haben werden, die im Gegenſatz zu rein metriſchen oder anatomiſch⸗ naturwiſſenſchaftlichen Beſtimmungen für die Geiſteswiſſen⸗ ſchaften allein von irgendwelcher Bedeutung ſein kann: auf alle Fälle iſt es nur ein Vorurteil, daß ſich die Einheit des euro⸗ päiſchen Geiſtes gerade aus der Raſſenmiſchung müſſe be⸗ greifen und ſich als ein Gemiſch von Beſtandteilen elementarer geiſtiger Raſſenhaltungen müſſe darſtellen laſſen.

Gerade da, wo wir noch die exakteſten pſychologiſchen Nach—⸗

forſchungen zu machen vermögen (3. B. Phyſtopſychologie der Farbe, der Geſtaltwahrnehmung) wiſſen wir, daß ſehr zu—⸗

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ſammengeſetzten phyſiſchen und phyſtologiſchen Bedingungen ganz einfache, unzerlegbare geiſtige Einheiten entſprechen können. Und hier im Komplizierteſten ſollte uns die Methode ein anderes Vorgehen gebieten? Iſt der franzöſiſche und eng⸗ liſche Geiſt nicht ein einheitlicher Typus trotz aller verwickelten Miſchungen von Normannen, Kelten, Romanen und der mannigfachen germaniſchen Stämme? Und was ginge die Geiſteswiſſenſchaft und Geſchichte überhaupt gar eine objektio körperliche Differenz an, für deren Träger nicht methodiſch zuerſt eine geiſtige oder eine ſolche nicht geiſtige Differenz (des Landes z. B. feiner Geographie, Geologie) aufgewieſen iſt, die noch in die fühlbare und als wirkſam erlebte Motivation des hiſto⸗ riſchen Menſchen hineinreicht? Ich behaupte: Nichts. Meine Antwort auf die Frage, welcher Art Einheit denn dann das „Europa“ iſt, oder der „Europäer“, von dem ich rede, iſt daher dieſe: der Kern dieſer Einheit iſt eine beſtimmte Geiſtesſtruktur, z. B. eine beſtimmte Form des Ethos, eine beſtimmte Art des Weltanſchauens und der tätigen Welt⸗ formung. Gerade dieſer europäiſche Geiſt, den man immer „ableiten“ möchte, ſei es aus Raſſe, Klima, Milien iſt der unableitbare Kern im Begriffe des Europäiſchen. Und was gefragt werden kann, das iſt nur dies: Wie ſich die Spannweite dieſes Kulturgedankens „Europa“ zu anderen Einheiten, wie z. B. zu Einheiten der Bewohnerſchaft beſtimmter geo⸗ graphiſch⸗abgegrenzter Territorien oder zu den Einheiten von Generationsraſſenzügen verhält, welche er von letzteren Ein⸗ heiten noch umfaßt, welche nicht. Nicht aber kann dieſe Geiſtesſtruktur aus anderen Einheiten hergeleitet oder wie man ſagt „erklärt“ werden! Umgekehrt iſt dieſe Struktur

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die Vorausſetzung auch aller „Erklärungen“, die das Teil⸗ geſchöpf des europäiſchen Geiſtes, die europäiſche „Wiſſenſchaft“ von dieſem oder jenem Tatbeſtande zu geben vermag auch noch die vielleicht einmal exiſtierende Wiſſenſchaft von der Raſſe und von der genetiſchen Bildung der Nationen. Und gerade dieſe einfache, elementare Natur des europäiſchen Geiſtes iſt es, die den Gedanken des Europäertums erſt ſeine ganze Würde und Größe verleiht. Gerade darauf kommt es uns hier an, daß dieſe europäiſche geiſtige Einheit und ihre Unzerlegbarkeit, daß Europa als Liebes⸗ und Geiſtesgemein⸗ ſchaft erſt im letzten Halbjahrhundert zur Entdeckung ge⸗ kommen iſt. Gewiß hat dieſe europäiſche Geiſteseinheit auch ihr beſonderes natürliches geographiſches Milieu ſowie ein be⸗ grenztes Raffen- und Nationalitätenmaterial je eigentümlicher Artung zum Stoffe möglicher Bearbeitung. Der Träger diefer. ſchon definitoriſch beſtimmten Geiſtesart kann z. B. dauernd nicht in den Tropen gedeihen; ſeine Kinder werden unfrucht⸗ bar, ſein pſychiſcher Status verändert ſich in gewiſſen Milieus und ſeine Kreuzungen mit gewiſſen Raſſen (z. B. Negern) ſind wahrſcheinlich für die Erhaltung dieſer Geiſtesſtruktur verderblich. Aber das alles ſind lediglich Fragen der Be⸗ ziehung deſſen, was den Kern und das Weſen des Euro: päers ausmacht zu gewiſſen Natureinheiten. Um Fragen, die ſolche „Beziehungen“ betreffen, zu löſen, muß das Weſen des Europäiſchen als das Weſen des Trägers dieſer Geiſtesart immer ſchon bewußt oder unbewußt vorausgeſetzt werden. Nicht als „Anlage“ einer ſchon ſonſt naturaliſtiſch definierten Men⸗ ſcheneinheit darf das „Europäiſche“ geſucht werden, ſondern umgekehrt ſo, daß jede andere Menſcheneinheit außer oder in

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der Spannweite des europäiſchen Geiſtes erft in Hinſicht auf die Träger X, Y, Z dieſer ſchau⸗ und fühlbaren Geiſtes⸗ einheit definiert wird.

Mit dem Begriff des Kulturkreiſes z. B. des Europäertums verhält es ſich auf höherer Stufe nicht anders als mit dem bisher ſo viel mehr und ſo viel präziſer unterſuchten Begriff der „Nation“. Weder Volks⸗ und Rechtseinheit, weder Bluts⸗ noch Spracheinheit, weder Staatseinheit, noch eine Territorial⸗ einheit, die geologiſch, hydrographiſch, pflanzen⸗tiergeographiſch abgrenzbar wäre, weder Glaubenseinheit noch Kultur- und Bil: dungseinheit oder eine beſtimmt geartete Miſchung all diefer Einheiten vermag das nur Fühl⸗ und Schaubare zu decken, was wir die „nationalen“ Einheiten nennen. Für jeden Verſuch,

eine oder eine Kombination dieſer Einheitsmomente zur Er⸗

klärung der nationalen Einheiten zugrundezulegen, laſſen ſich viele Ausnahmen aufdecken, Fälle, wo gerade die je bevorzugten Momente fehlen, andere der genannten aber vorhanden ſind.

Zu Fermenten für die Ausbildung eines einheitlichen Mational⸗

bewußtſeins aber können nachweisbar alle dieſe Momente, ſogar die Religion (wie z. B. bei den katholiſchen Kroaten, die mit den orthodoxen Serben gleichen Stammes ſind) wer⸗ den. Niemals aber iſt die nationale Einheit aus ſolchen Unter⸗

einheiten zuſammenge ſetzt. Immer ſtehen vielmehr dieſe Unter⸗

einheiten zur Mation nur im Verhältnis der Fundamente und Bedingungen für die nationale Lebens- und Schick ſalsgemein⸗ ſchaft, die ſchließlich ein einheitliches, einfaches und letztes Geiſtiges iſt. Um Fundamente und Bedingungen dieſer Ein⸗ heit aber zu prüfen, müſſen wir Weſen und Sinn der kon⸗ kreten Nation immer ſchon erfaßt haben; können ſie alſo

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nicht erſt aus den Teileinheiten als eine bloße Miſchung der- ſelben gewinnen. Nur eine Idee genau derſelben Art, aber eine Idee auf höherer Stufe, iſt auch jene der „Geiſtesſtruktur“ und des zugehörigen „Kulturkreiſes“, von denen unſer Europa (geographiſch Weſteuropa) ein Beiſpiel iſt: eine Liebes und Geiſtesgemeinſchaft, welche die europäiſchen großen Nationen, ſo in ſich befaßt, wie dieſe einzelne Völkerſtämme, Raſſen, Religionsgemeinſchaften, die aber dennoch als ein Eigentüm⸗ liches ſich zugleich über ſie erhebt.

Aber das iſt nun die Haupt⸗ und Grundfrage für die rich: tige Auffaſſung des Deutſchen Krieges, wie Rußland zu dieſem Europa fich verhält und wie England das als Nation ein ſelbſtoerſtändlicher Teil Europas iſt durch die dauern⸗ den Weſenszüge ſeiner Politik zu der etwaigen politiſchen und ökonomiſchen Formung dieſes faktiſch geiſtig⸗ſolidariſchen Weſteuropäertums ſteht, damit aber auch zur Aufgabe der Hervorbringung des geſteigerten Bewußtſeins dieſer Soli⸗ darität unter den Völkern Europas.

Zwei Einſtellungen ſcheinen mir für die Feſiſtellung des Verhältniſſes der Spannweite des europäiſches Geiſtes zum Ruſſentum beſonders verderblich. Erſtens die Auffaſſung Rußlands nur als einer „Nation“ unter anderen Nationen, analog Deutſchland, Frankreich, England; zweitens die Tei⸗ lung in ein europäiſiertes und aſiatiſches mongoliſch⸗tatariſches Rußland eine Scheidung, die man von der harmloſen eines europäiſchen und afiatifchen Rußlands im geographiſchen Sinne wohl ſcheiden möge.

Was das erſte betrifft, ſo hat aber Rußland ſicher nicht nur den Wert einer Nation, ſondern mindeſtens den Wert eines

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Kulturkreiſes ſowie Weſteuropa als Ganzes felbft wieder einen Kulturkreis, darſtellt. Es heißt alſo Rußland in einem Sinne ſchon unter ſchätzen, wenn man es eine „Nation“ nennt. Aber in einem anderen Sinne heißt es auch Rußland erheblich über⸗ ſchätzen. Vergeſſen wir nicht, daß „Nation“ ſelbſt ein Begriff des weſteuropäiſchen, ja nur des modernen weſteuropäiſchen Kul⸗ turkreiſes iſt, und es Außereuropäiſches ſchon vergewaltigen heißt, wenn man es unter dieſe Kategorie zu bringen ſucht. Um eine Nation zu fein iſt Rußlands Bevölkerung nehmen wir allein den echt ruſſiſchen Teil, Großruſſen, Weißruſſen, Klein⸗ ruſſen, Tataren und ſehen von den Anhängen des Reiches, den Polen, Littauen, Letten, Juden, Finnen, Eſten, Schweden, Ru⸗ mänen ab trotz der Einheit der Sprache und Religion in der geiſtigen Bildungshöhe viel zu tief in ſich verſchieden. Die Trägerin der Nationalidee im Gegenſatz zum natürlichen Volkstum aber iſt überall, wo dieſe Kategorie ſinnvoll iſt, eine geiſtige Minorität. Die Seele beſonders der ärmeren ländlichen Bevölkerung bleibt überall im naturgegebenen „Volkstum“ man denke z. B. an Bayern beſchloſſen. Sie erhebt ſich nur im Kriege zum Gefühl der „nationalen“ Einheit. Sieben Achtel der ruſſiſchen Geſamtbevölkerung aber lebt auf dem flachen Lande. Eine ſolche geiſtige Mino⸗ rität, welche die eigentümliche Idee Rußlands trüge, und nicht bloß trüge ganz verſchiedene, meiſt Europa entſtammende Ideengruppen, darunter auch noch die dann auf Rußland ſekundär angewandte europäiſche Idee der „Nation“ gibt es aber in Rußland als Einheit nicht. Gerade die ruſ⸗ ſiſche Bildung iſt in Wirklichkeit heute noch die am meiſten kosmopolitiſche reſpektive internationale der Welt. Nirgends

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fpricht die „Intelligenz“ fo viele Sprachen und iſt fie fo kosmo⸗ politiſch wie in Rußland. Rußland beſteht alſo weder aus Nationen wie Oſterreich noch iſt es ſelbſt eine Nation. Es iſt eine, faſt alle klimatiſchen, pflanzen⸗ und tiergeogra⸗ phiſchen Hauptzonen der Erde umfaſſende äußerſt bunte Völker⸗ miſchung, die kulturell in Religion und Sprache und einer ebenſo eigentümlichen Geiſtesſtruktur, wie ſie Weſteuropa nur als Ganzes aufweiſt, politiſch im Cäſaropapismus des Zaren⸗ tums ſeine Einheit hat und gleichzeitig eine dünne faſt aus⸗ ſchließlich vom Adel (darunter ſtark vom deutſchen baltiſchen und polniſchen) und Judentum herkommende Schicht kosmo⸗ politiſcher Bildung auch dann noch kosmopolitiſch nach Herkunft, wenn fie fich „panſlaviſtiſch“ oder „nationaliſtiſch“ gebärdet auf feiner ungeheuren kompakten Landmaſſe liegen hat. Sowohl der ſogenannte „Panſſlavismus“ als der ſpezifiſch ruſſiſche Nationalismus ſind, ſofern ſte das Blut oder die Nation über die Orthodoxie, Byzantinismus und den Zaren ſetzen, nachweislich weſteuropäiſcher Import.

Ebenſo irrig aber iſt, die Einheit Rußlands in ein euro- päiſches und aſiatiſch⸗mongoliſches Element zu zerbrechen. Rußland iſt trotz der mannigfachen Raſſemiſchungen des fIa= viſchen Elements in den Großruſſen mit den Finnen, in den Kleinruſſen mit den Tataren, trotz der reichen Unterſchiede der Großruſſen von den mit dem Polentum ſtark gemiſchten Weißruſſen und beſonders den ſüdlichen beweglichen Händlern der Kleinruſſen und der Ukraine ein Land eines einheitlichen, ſcharf ausgeprägten Seelenrhythmus.

Überall diefelbe gutmütig⸗tieriſch rohe Kraft vereint mit Liebe zu einer myſtiſchen Beziehungsloſigkeit des inneren Ge⸗

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fühls und der gedanklichen Reflexion zu den jeweiligen Zielen diefer Kraft und den Aufgaben des Handelns. Überall diefelbe ſonderbare Verbindung von ungeheurer Ausdauer, Trägheit und Konſtanz in dem vom Inſtinkt Ergriffenen und vom Mangel an europäiſcher Arbeitſamkeit, europäiſchem Ord⸗ nungsſinn, europäiſchem Fleiß, europäiſcher Pünktlichkeit und Willensenergie. Überall das Clair⸗obſeur von Melancholie, Weichheit, Sentimentalität, Romantik und bodenloſem Leicht⸗ ſinn. Überall das ſchon in den zärtlichen Sitten (Oſterkuß, Kuß beim Abſchied, der Menge der Koſenamen) zum Ausdruck kom⸗ mende unperſönliche zerfloſſene Gemeinſchaftsgefühl bei gleich⸗ zeitigem Fehlen aller Willenskraft zu künſtlicher Organiſation von Menſchenmaſſen auf ein reich gegliedertes Zweckgefüge. Überall dieſelbe Liebe und Ehrfurcht zur „Einteilung“ um ihrer ſelbſt willen, zu byzantiniſchem Reichtum ſtufenförmiger hier⸗ archiſcher Gliederung aber dieſe Neigung ganz unabhängig von jener lex parsimoniae, dem ökonomiſchen Prinzip, das in Europa alle Teilung der Arbeit, alle wiſſenſchaftliche Klaffifi: kation, allen Auf bau des Beamtentums leitet. Selbſt der Lehr⸗ ſtoff der Schulen wird in immer neuen Lehrbüchern immer neu eingeteilt und der Beamtenkörper bildet eine richtige, metaphy⸗ ſiſch verankert empfundene Hierarchie im byzantiniſchen Sinne.

In der moraliſchen Sphäre kann ſich der Europäer nicht genug wundern über das Zuſammenſpiel von Gewalt⸗ tätigkeit, Korruption und Beſtechlichkeit aller Behörden mit einem beiſpielloſen uneuropäiſchen Opferſinn, ja einer eigentümlichen Opferliebe, oft Opfer ſucht des Einzelnen für feine Ideen. Die Menge und die Kühnheit der ruf- ſiſchen Spione, der weiblichen Soldaten in dieſem Kriege

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gab uns davon wieder aufs neue einen Begriff. Die ruſſiſche männliche und weibliche Jugend der „Intelligenz“ (wie charakteriſtiſch ſchon dieſer Ausdruck, der eine kleine ſcharf abgegrenzte Gruppe gegen die ungeheure Landmaſſe ſtellt) welch ſchwebend gefährliches Leben zwiſchen Zarismus und Maſſe führt ſie ſeit Jahrhunderten! Und welcher unerhörter Opfer war ſie fähig! Und doch wie falſch wäre es auch nur, dieſe ſittlichen Verhältniſſe an europäiſchem Ethos zu meſſen! Kein europäiſches Land ertrüge zwei Wochen lang den tauſendſten Teil dieſer Korruption, ohne ſofort in voll⸗ ſtändige innere Verwirrung zu geraten. Und doch erträgt ſie Rußland, ja gedeiht mit ihr! Gedeiht ganz anders als Nord— amerika mit ſeiner Korruption. Der Grund dafür, iſt daß hier das Prinzip ungeordneter geſetzloſer Gewalt durch das Prinzip eines ebenſo ungeordneten geſetzloſen Liebespatriarcha⸗ lismus, der von aller ruſſiſchen Autoritätsidee ebenſo unab- trennbar iſt wie das Gewaltprinzip immer wieder ausgeglichen wird. Beides dem europäiſchen Weſen gleich unbekannt! Gewalt, Brutalität von oben und eine Maſſe, die fie nicht nur erträgt und duldet, duldet für auch nur ein bißchen, plötzlich mit weichem Gefühl gegebenes Zuckerbrot, nein die fie geradezu heiſcht, die trotz alles bewußten Gegenwillens unterbewußt im Grunde ſo beherrſcht ſein will, das iſt der ethiſche Grundaſpekt dieſer Völker! Schon in dem Schluß des Briefes, in dem das erſte ruſſiſche Herrſchergeſchlecht, die ſchwediſchen Ruriks, ins Land gerufen wurde, „kommt, be⸗ herrſcht uns!“ tritt dieſer Zug des Heiſchens der Gewalt ſeitens der ruſſiſchen Menge ſo plaſtiſch hervor. Zärtlichkeit und Leidensſucht, die Prügel wünſcht, dies fordert, wie die

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Frau des Muſchiks vom Manne, ſo diefe Maſſe von ihrer Regierung.

Der Europäer, der dies alles nach ſeiner Idee von Gerech⸗ tigkeit und der Herrſchaft des Geſetzes mißt, verkennt mit ſeinem Schimpfen auf die ruſſiſche Knute dieſe Knutenbedürftig⸗ keit, dieſes Heiſchen nach Knute ſeitens der Maſſe, und ver- gißt meiſt dabei die gleich darnach kommende beiſpielloſe Zärt⸗ lichkeit und Liebe, (die Geſte auch in der Anrede „Väter⸗ chen“, „Mütterchen“). Er ſieht da nur eine ſchlechte praktiſche Moralität nach ſeinem Ethos, dem europäiſchen Ethos, wo ein ganz anderes Ethos herrſcht. So fieht er auch in Rußland meiſt nur „Reaktion“ und „Unfreiheit“. Und doch erſcheinen wir Weſteuropäer dem ruſſiſchen Auge ganz einheitlich, ob wir Engländer, Deutſche, Franzoſen, Italiener ſind alle⸗ ſamt ſo häufig als ganz „unfreie Philiſter“, als Monomanen einer ſozialen Ordnungsidee, als äußerſt „eng“ in unſeren Urteilen über das Individuum, ſeine Lebensart, ſeine Sitten; „eng“ auch in unſerm Urteil über die uneheliche Mutter, „eng“ in unſerem Urteil über den Verbrecher. In Rußland iſt Ver⸗ brecher einfach der „Unglück liche“. Und in der Tat: Was Rußland an politiſcher Freiheit abgeht, das erſetzt es wieder durch den Beſitz einer ganz eigenartigen ſozialen Freiheit des Individuums vom Zwang der „öffentlichen Meinung“, einer beiſpielloſen Fülle originaler Lebenstypen, die ganz nur „nach ihrem Kopfe“ leben, träumen, ſinnen. Wie unfrei iſt z. B. dem gegenüber der Amerikaner und Engländer bei aller „poli⸗ tiſchen ! Freiheit und „Demokratie“; wie gebunden der konven⸗ tionelle, ſchematiſche Franzoſe, der auch in der Kunſt, man denke an Balzac überall Typen der menſchlichen Mena⸗

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gerie ſieht, „die“ Frau von 30 Jahren, „die“ Kurtiſane uſw.! Auch unſer europäiſches Maß von Bedürfnis nach Lebens⸗ ſicherheit legen wir dem Ruſſen ſo gerne unter, wenn wir das gefährliche Leben der Intelligenz zwiſchen Maſſe, Knute, Sibirien und Peter⸗Paulsfeſtung beklagen. Was aber erzählt uns Th. G. Maſaryk in ſeinen Skizzen zur ruſſiſchen Reli⸗ gions⸗ und Geſchichtsphiloſophie? Es iſt nach ihm eine ganz typiſche Erſcheinung, daß die oft lange Jahre von der ruſſiſchen Staatspolizei wie Hunde gehetzten geiſtigen Führer der ruffi- ſchen Revolution ſich einmal nach Ruhe, Stille, Sicherheit der Exiſtenz ſehnen wie der Matroſe im Sturm nach einem Waldſpaziergang. Dieſes Gefühl, dieſe Sehnſucht treibt ſie dann nach Europa und gelingt es zu entkommen fo leben fie in Deutſchland, Frankreich, England, Ita⸗ lien, Schweiz eine Zeitlang ruhig atmend und regelhaft. Aber nicht länger als ein bis zwei Jahre genießen ſie dieſe Ruhe. Dann ergreift fie tiefer Abſcheu vor der europäi⸗ ſchen „Sicherheit“ und „Ordnung“ und die Sehnſucht nach den alten Abenteuern, nach dem alten gefährlichen, ſchweben⸗ den Leben zwiſchen Autokratie und Maſſe erwacht wieder in ihnen. Das iſt die ruſſiſche Seele! Wie prägt ſie ſich aus in dem abenteuerlichen Leben eines Bakunin, Herzen, Krapotkin (fiehe Selbſtbiographie), eines Leontjew, Doſto⸗ jewski uſw.! In feinem 1881 geſchriebenen Aufſatz „Was iſt Aſien für uns?“ will Doſtojewski die Frage beantworten, warum Europa Rußland ſo ſehr haſſe. Er antwortet: „Wir tragen eine ganz beſondere Idee, eine andere als Europa in die Menſchheit.“ Die „ruſſiſchen Europäer“ fährt er fort „verſichern dagegen Europa, Rußland habe keine beſondere

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Idee, es wolle nur Europa nahekommen.“ „Europa jedoch glaubt unſeren ruſſiſchen Europäern wenigſtens dieſes eine nicht. Es ſtimmt hier mit dem echten Ruſſentum überein.“ „Europa glaubt ganz wie die Slavophilen, daß wir eine Idee haben, eine eigene beſondere, nicht europäiſche Idee, und daß Rußland fähig ſei, eine Idee zu haben.“ Bis heute trotz allen ökonomiſchen Veränderungen, trotz Revolution, Witteſche Periode, Duma uſw. hat Doſtojewski recht.

Der Unterſchied des Ethos wie des intellektuellen Status Rußlands von dem Europas beſteht darin, daß das Verhält⸗ nis von „Regel“ und „Ausnahme“ ſich auf die entgegen⸗ geſetzten Inhalte und Werte verteilt. Das gilt vom Gegen⸗ ſatz von Gewalt, Liebe und Geſetz, Gerechtigkeit; von Gefahr und Sicherheit; Abenteuer und Geordnetem Leben; es gilt auch von Kriegszuſtand und Friedenszuſtand, von Wunder und Naturgeſetz, von Maſſe und individuelle Seele. Rußland hatte nach Kuropatkin, im Laufe von 200 Jahren 130 Kriegs⸗ jahre, 70 Friedensjahre, darunter 90 Jahre Eroberungskrieg. D. h. im Grunde iſt hier der Friede trotz der religiös gefärbten Friedensgefühlsneigung der ruſſiſchen Menge noch ein Aus⸗ nahmezuſtand. Das Wunder iſt Europa auch noch für die frömmſten Katholiken eine gottgewollte Ausnahme der zu⸗ nächſt als felbftverftändlich geltenden Geſetzmäßigkeit der Matur. Das Wunder, nicht das Geſetz trägt zum mindeſten auch für den römiſchen Papſt, ja noch für die ſpaniſche Bauern⸗ frau das onus probandi. Der kirchliche Prieſterrationalis⸗ mus hat es ſtets auf ein Minimum zu beſchränken geſucht. Dem ruſſiſchen Menſchen der „altruſſiſchen Erkenntnis⸗ theorie“, wie Maſaryk zu fagen pflegt iſt derſelbe Inhalt,

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den wir objektiv „Wunder“ und ſubjektio puren „Glauben“ nennen, die Regel und eine Ausnahme iſt ihm das „Ge⸗ ſetz, das Geſetz in Natur wie in Staat. Überall trägt die Behauptung einer Geſetzmäßigkeit das onus probandi. Dagegen ſagt es gar nichts, daß Rußland große wiſſenſchaft⸗ liche Forſcher zu den Seinen zählt. Ich fagte ſchon: erſt in dem beſonderen Geiſte der wiſſenſchaftlichen Methoden der Völker nicht im Fortarbeiten in gegebenen Methoden zu neuen Reſultaten erweiſt ſich die geiſtige Selbſtändigkeit der Nation. Trotz aller ſogenannten „Internationalität“ der Wiſ⸗ ſenſchaft gibt es in dieſem Sinne nur eine, „die“ europäifche Wiſſenſchaft und in ihr z. B. einen deutſchen, franzöfifchen, englifchen, italieniſchen Methodengeiſt. Es gibt keinen ruſſt⸗ ſchen Methodengeiſt. Ruſſiſche Phyſiker und Mathematiker arbeiten meiſt nach dem franzöſiſchen Vorbild möglichſter Deduktion aus ganz wenigen Prinzipien. Sie haben keine eigene Art des Erkenntnisfortſchrittes. Viel eher ſchon gibt es eine „ruſſiſche Philoſophie“ wenn auch die offiziellen Lehrer meiſt ganz und gar von Kant, Fichte und Hegel, oder vom engliſch⸗franzöſiſchen Poſitivismus, die geiſtigen Führer der revolutionären Maſſe vom Marxismus abhängig ſind. Aber in der Geiſtesart von Leontjew, Solobjew bis zur Einſtellung des gegenwärtigen Petersburger Forſcher Loſſkij, ſteckt etwas, was auf eine tiefe Weiſe mit dem mythiſchen Denken dieſes Volkes zuſammenhängt und was ganz unenropäiſch iſt. Von dem tiefen Gegenſatz der Orthodoxie und der zu ihr gehörigen Häreſien zum europäiſchen Chriſtentum wurde ſchon früher eingehend geſprochen. Die religiöſe Einheit und ihre Grundeinſtellungen, die auch der wechſelnden kirchlichen Ent-

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wickelung von der Selbſtändigkeit der Kirche bis zu ihrer Vereinigung mit dem Staate im Cäſaropapismus vorangeht, die fich erſt in Peter dem Großen vollendete, iſt aber das ſtärkſte Einheitsmoment des Ruſſentums. Auch die Autokratie würde fie überdauern. Und auch bei den wechfelnden Inhalten, welche die ruſſiſche Intelligenz aus Europa aufnahm ſei es Kant, Hegel, Poſttivismus, Marxismus bleiben dieſe Einſtel⸗ lungen konſtant; ergreifen ſie das Fremde und bringen es in die eigentümlichen Geſtalten ihres Rhythmus.

Iſt es mit der Kunſt anders? Trotz der unvergleichlichen Größe eines Tolſtoi und Doſtojewski, eines Gogol und Puſch⸗ kin beſteht die Tatſache, daß der ruſſiſche Geiſt die euro- päiſche Kategorie einer „reinen Kunſt“ gar nicht kennt. Viel⸗ leicht iſt das ein Vorzug. Ich fälle hier kein Werturteil. Aber überall, wo dieſe „Kunſt“ wahrhaft groß iſt, iſt fie nicht nur uneuropäiſch ſondern überhaupt nicht „Kunſt“, im europäiſchen Sinne. Sie iſt eine auch äſthetiſch oft un⸗ geheuer reizvolle grandioſe Prophetie, ein undifferenzierter Mythos oder Sang von Religion, Weisheit, Politik, iſt in den bildenden Künſten (abgeſehen von europäiſchen Nach⸗ ahmungen) entweder Schmuck (wie die alte Bauernkunſt) oder Form und Mittel des religiöfen Kultus. Miemals aber „reine“, ſelbſtändige Kunſt, die ſchon der Idee nach ein europäiſches „Vorurteil“ iſt. Von der tiefen Fremdheit der Geſtalten dieſer Kunſt, deren exotiſch anziehender Charakter uns gerade ſo oft eben dieſe Fremdheit verbarg, ſei hier nicht die Rede.

Was beſagt nun hiergegen die ſeit Peter dem Großen fort⸗ ſchreitende ſogenannte „Europäiſierung Rußlands“? Wieder finde ich, daß man hier entweder einen ganz von innen kommen⸗

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den Fortgang der ruffifchen Geſellſchaft oder Folgen allgemei⸗ ner internationaler Kapitaliſterung der Wirtſchaft, wie ſich Beides in Bauernbefreiung, Aufhebung der Leibeigenſchaft bis zur Duma und zur jetzt ſich vollziehenden Auflöſung der altruſ⸗ ſiſchen Agrarberfaſſung, des Mir und gleichzeitiger Prole⸗ tariſterung und Induſtrialiſierung der bei der Agrarreform leer ausgehenden Kleinbeſitzer vollzieht, fälſchlich für „Europäi⸗ ſierung“ hält. Auch jene formale Techniſierung, Eintritt in die Arbeit exakter Wiſſenſchaft, Eintritt in die inter⸗ nationalen Verkehrsinſtitute iſt keine „Europäiſterung“. Dieſe Erſcheinungen finden wir doch genau ebenſo in Japan, China, bei Osmanen und Ägyptern.

Freilich: wer wie die Vertreter der ökonomiſchen Geſchichts⸗ auffaſſung „Kapitalismus“ für das Weſen, den Kern „Europas“ hält und wer dazu noch glaubt, daß die öko⸗ nomiſchen Prozeſſe den ſogenannten geiſtigen „Überbau“ be⸗ ſtimmen, der mag, der muß dieſe Dinge für Zeichen der „Europäiſterung“ halten.

Der ſoll dieſe Prozeſſe der Jnternationaliſterung des Kapi⸗ talismus für Europäiſterung halten! Denen aber, die folches tun, habe ich ehrlich und frei ehrlich und frei auch noch mitten in dieſem Kriege folgendes zu ſagen: Unterſtelle ich ihre Anſicht eine Sekunde als wahr, die Anſicht als wahr, daß der Kern Europas der Kapitalismus, der Kern des europäiſchen Geiſtes der „kapitaliſtiſche Geiſt“ iſt, und der Bourgeois, wie ſein Schatten der Sozialiſt, die Hochblüte und der letzte Menſch Europas, dann ſtehe ich nicht an zu ſagen, daß dieſer Krieg auch der Anfang vom Ende Europas ſein wird; ja ich wage zu ſagen, ſein ſoll!

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Er wird es fein! Denn iſt faktiſch der kapitaliſtiſche Geiſt das Weſen des europäiſchen Geiſtes, dann kann auch nicht mehr diejenige Macht in Europa dauernd das Lebenszentrum dieſes Geiſtes ſein und ſeinen politiſchen Kriſtalliſationspunkt bilden, die noch der machtvollſte Träger des antikapitaliſti⸗ ſchen, des heroiſchen, des antiindividualiſtiſchen Geiſtes und jener antiken Staatsidee iſt, die den Staat als eine überindi⸗ viduelle Willensrealität faßt: Deutſchland! Dann ſiegen, müſſen auf die Dauer fiegen in Europa lauwarmer eng: liſcher Komfort und konventionelle Ziviliſation über originale perſönliche Kultur, der Bourgeois über den Geiſt Friedrichs des Großen, Goethes und Kants. Dann wird ſich mit innerer Notwendigkeit jene Anarchie Europas, die vor dem Kriege von Jahr zu Jahr anſchwoll und deren erhabener Arzt nach unſerer Meinung dieſer Krieg iſt, fort⸗ und weiterfreſſen und eben mit dem, was hiernach „Europäiſterung der Welt“ genannt werden müßte, müßte Europa als eigentümlicher Kulturkreis von der Erde verſchwinden. Eben dieſer Europas vermeintliche Sieg wäre ſein Fall! Ein Europa als ein bloß techniſch⸗ökonomiſcher Dienſtbote fremder eigentümlicher Geiſtes⸗ und Kulturartungen, ein ſolches Europa hätte auch kein Anrecht mehr auf politiſche Selbſtändigkeit ſeiner Teile, und keine Macht fie dauernd aufrecht zu erhalten.

Das iſt die ganze Größe der welthiſtoriſchen Situation: Daß dieſer unerhörte Krieg entweder der Beginn der Neu— geburt Europas oder der Beginn ſeines Abſterbens iſt! Es gibt kein Drittes!

Und noch mehr: Wenn Kapitalismus Kern und Weſen Europas ausmacht „ſoll“ Europa auch die Führung

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in der Geſchichte der Menſchheit, die es ſeit der Antike inne hatte, verlieren und es ſollen ſich bewahrheiten die Ideale der größten und tiefſten Geiſter Rußlands. Dann, ja dann ſchlöſſe ich mich den Worten Leontjews, des Lehrers ſo vieler ruſſiſcher Geiſtesführer der neueſten Zeit, des tiefſinnigen Lehrers auch des flachen Pobjedonoscew an: „Wäre es nicht fürchterlich und beleidigend zu denken, daß Moſes den Sinai beſtiegen, daß die Griechen ihre ſchönen Akropolen errichtet, die Römer die puniſchen Kriege führten, daß der geniale ſchöne Alexander in ſeinem federwallenden Helm den Grani⸗ kus überſchritt und bei Arbela kämpfte, daß die Apoſtel pre⸗ digten, die Märtyrer litten, die Dichter ſangen, die Maler malten und die Ritter auf den Turnieren glänzten, nur deshalb allein, daß der franzöſtſche, deutſche oder ruſſiſche Bourgeois in ſeinem häßlichen Gewande auf den Ruinen all dieſer Herrlichkeiten ‚individuell‘ und Kollektio“ ſich 1 befinden möchte?“

Aber Leontjew macht ja denfelben Grundfehler wie unſere Vertreter der „ökonomiſchen“ Geſchichtsauffaſſung. Er hält den Kapitalismus für den Kern Europas!

Wie wir anderen an eine eigentümliche urſprüngliche Geiſteseinheit Europas glauben, ſo halten wir es auch mit Doſtojewski und der beſonderen „Idee“ Rußlands. Wir find dabei weit entfernt, dieſe Idee zu mißachten. Unſere inneren Zweifel ſind ungeheuer groß, ſie auch nur voll zu verſtehen. Denn die gefühlte und geahnte Differenz iſt hier ja ſo uner⸗ meßlich viel größer als die begriffene, in Worten ausdrück⸗ bare. Aber deswegen fordern wir, im Gegenſatz zur öko⸗ nomiſchen Geſchichtslehre daß die autonome Kulturſoli⸗

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darität Europas in ihrer, hinter allem internationalen Kapitalismus gelegenen pofifiven Eigenart auch ihre zugehörige wirtſchaftliche Autarkie und ihre politiſche Form finde, daß die Masken von Gleichförmigkeiten, die der Friede, die das Geſchäft, die Salon⸗ und Hotel⸗„Kultur“, die Nachahmung und Mimikry über die tiefen Organiſationsverſchiedenheiten des europäiſchen und ruſſiſchen Weſens ſtülpten, jetzt endlich fallen! Und nicht um ſogenannte „panſlaviſtiſche Tendenzen“ die ſich auch gegenwärtig in Böhmen nur als phantaſtiſch⸗ ſentimentale Vorwände einer einſeitig nationaliſtiſchen gegen Oſterreich gerichteten Tſchechenpolitik (zum Teil aber auch als ſelbſtgemachten „Feind“ des Alldeutſchtums) erweiſen han⸗ delt es ſich hier. Es handelt ſich überhaupt nicht um Raſſen⸗ begriffe, ſondern allein um den Gegenſatz Europa und Ruß⸗ land als zweier Einheiten von geiſtigen Erlebnisformen der Welt. So begeiſtert wie es uns die Preſſe ſchilderte, gehen ja nach dem Urteil genaueſter Sachkenner die Tſchechen durch⸗ aus nicht gegen Rußland mit. Aber auch dieſe Kühle folgt nicht aus „panſlaviſtiſcher“ Gefühlseinheit mit dem Ruſſen⸗ tum, ſondern aus dem Streben nach einem ſelbſtändigen Königreich Böhmen. Nur ein Teil der tſchechiſchen Sozial⸗ demokraten hat das Verdienſt, für den anationalen euro⸗ päiſchen Vormachtſtaat Oſterreich ernſthaft einzutreten. Auch auf tſchechiſcher Seite genau wie bei den ſogenannten „All⸗ deutſchen“ im Reich und Dfterreich, überflutet ein ſchranken⸗ loſer Nationalismus die Idee der europäiſchen Solidarität, die eine Erhaltung des heroiſchen Kaiſerſtaates fordert.

Wer aber iſt, nicht wie Frankreich der momentane nein der konſtitutibe Feind dieſer politiſchen Bewußtwerdung und

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politiſchen Formung der europäiſchen Solidarität? Diefer Feind iſt England! Diefer Staat kann, ſolange er das Ge⸗ füge ſeiner, ſeit dem 17. Jahrhundert erwachſenen dauernden, politiſchen Prinzipien und Methoden beibehält, d. h. ſeit dem Beginn der Aſpirationen, die in ſeinem Marinismus, ſeinem Anſpruch auf Allgeltung zur See endeten, nie und nimmer⸗ mehr ein ehrliches Mitglied der europäiſchen Staatengeſell⸗ ſchaft werden. Genau fo lange, als England ſeine All⸗ ſeegeltung behält, genau ſo lange muß es das Geſchick jedes einzelnen europäiſchen Staates, ja trotz aller Geiſtes⸗ und Kulturzuſammengehörigkeit mit Weſteuropa, das ganze Weſteuropa außer ſich ſelbſt in feine politiſche Weltrechnung nicht anders einſtellen, wie jeden außereuropäiſchen Staat. Genau ſo lange trägt es den radikalen Exiſtenzwiderſpruch in fich, zugleich ein kulturelles Glied und ein politiſcher Außen⸗ ſeiter der europäiſchen Staatengeſellſchaft zu ſein. Es kann, ſolange es an allen möglichen Punkten der Welt ſo überragend und über alle europäiſchen Staaten weit hinaus engagiert iſt, nie und nimmer Europas „heiligſte Güter“ wahren! Es muß für ſeine Weltintereſſen jeden winkenden Vorteil in ſeinem „Weltreich“ preisgeben und auch alle anderen europäiſchen Staaten auf dem Stadium jener anarchiſchen Form von Welt⸗ politik fixieren, welches die letzte Wurzel auch dieſes Krieges iſt. Ginge es das nächſtemal zufällig einmal mit Deutſchland und etwa gegen Rußland, weil es das für ſeine Herrſchaft in Indien oder Perſien nötig hat, oder auch gegen Japan, das änderte an dieſer Prinzipienfrage nicht das mindeſte. Erſt wenn England ſo weit in ſeiner Allſeegeltung beſchränkt würde, daß es keinen weltpolitiſchen Schritt unternehmen kann, ehe es das

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Einverſtändnis der europäiſchen Mächte erreicht hat, könnte

ſich dieſe ſeine Außenſeiterſtellung in die Stellung eines Glie⸗

des innerhalb der europäiſchen Staatengeſellſchaft verwandeln.

Das Prinzip der „Gleichgewichtsmethode“, das Englands cant

ſeit einem Jahrhundert und mehr trotz des vielfachen Wider⸗

ſpruches ſeiner Liberalen gegen dieſes Prinzip, als die Garantie

der „Ruhe und des Friedens in Europa“ erklärt, iſt faktiſch

das für Europas Schickſal auf die Dauer abſolut tödliche Prin⸗

zip. Denn nicht eine von England hervorzubringende mecha⸗ niſche Einheit, oder ein „Gleichgewicht“ von Intereſſenver⸗ bänden ſondern eine Liebeseinheit iſt Europa ſeinem kulturellen Weſen nach (mit Einſchluß Englands), und ſoll es auch wirt⸗ ſchaftlich durch eine europäiſche Autarkie und politiſch durch ein dauerndes ſtetig weiter greifendes Staatenbündnis werden. Was England „Liebe zum Schwachen“ nennt, das iſt aber faktiſch nur ein heuchleriſcher Name für „Haß auf den Star⸗ ken“, den es jeweilig um ſo mehr fürchtet, je mehr es erwartet, daß er ſeine politiſche Außenſeiterſtellung gegen Europas Soli⸗ darität durch ſeine eigene wachſende Seegeltung gefährden könnte. „Gleichgewicht der Kräfte“ iſt ideell ja das gerade Gegenteil von Solidarität. Dort mechaniſche Aufhebung zweier entgegengeſetzt gerichteter Kräfte hier eine einzige Kraft der Liebe und des Willens in mehreren Einheiten, eine Kraft der⸗ ſelben Richtung. Nicht das machen wir hier England an erſter Stelle zum Vorwurf, daß es in gegenwärtiger Konſtellation Rußland unterſtützt und ſich des japaniſchen Ehrgeizes und ſeiner aſtatiſchen Expanſtonstendenzen auf China gegen Deutſchland bedient. Momentane politiſch⸗militäriſche Verbindungen euro⸗ päifcher Staaten mit außereuropäiſchen find, ehe die Solidarität

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Europas eine politiſche Form gefunden hat ſchwer ganz zu vermeiden. Auch wir gehen in dieſem eng begrenzten Sinne zurzeit mit den Osmanen, und die Ehrlichkeit gebietet zu ſagen, daß wir eine Wendung Japans nicht nur gegen Rußland, ſondern auch gegen England nicht ungern geſehen, ja unterſtützt hätten, wäre fie wie Unkenntnis der hiſto⸗ riſchen Tatſachen ſeit dem japanifch-ruffifchen Kriege und Torheit anfänglich vermutete eingetreten. Ein deutſch⸗ engliſch⸗japaniſches Bündnis mit der Spitze gegen Rußland, wie es uns ſeinerzeit Chamberlain nach Englands Schwächung durch den Burenkrieg unter Bedingungen anbot, die wir Gott ſei Dank ablehnten, könnte bei einer neuen politiſchen Kon⸗ ſtellation die Solidarität Europas nicht weniger gefährden. Darum handelt es ſich vielmehr, daß Englands dauernde poli⸗ tiſche Methodik die Anarchie Europas in Permanenz erhalten muß, und daß es nur ein einziges Mittel gibt, die dauernde und konſtitutive Hemmung der europäifch-politifchen Solidarität gegen den Oſten zu beſeitigen: das Zerbrechen des Anſpruchs Englands auf Allſeegeltung und die daraus folgende Erzwin— gung der Preisgabe dieſer Methodik! Will England wenn dies geſchehen iſt ein ehrliches Mitglied der europäiſchen Staatengeſellſchaft werden, fo fei es mit Freuden in dieſe auf: genommen und dies genau nach demjenigen Anſpruche, die der Wert feiner eigentümlichen Spielform europäiſcher Kultur und ſeine eigenartige Stellung als Inſelſtaat, ihm auf ein Mit⸗ handeln in der Politik der europäiſchen Staatengeſellſchaft und auf Kolonifierung außereuropäiſcher Länder, der faktiſche Wert ſeiner Ware aber ihm Anteil an dem Welthandel erteilt. Nicht wir ſind es, die England aus der Einheit Europas aus⸗

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ſchließen wollen, ſondern es ſelbſt iſt es, das ſich durch feine politiſchen Methoden politiſch daraus ausſchließt; und wir ſind es, die es auch zum Heile Geſamteuropas zwingen müſſen, ſich auch politiſch auf den Standpunkt des „guten Europäers“ zu ſtellen, anſtatt ſich als eine übereuropäiſche Weltmacht „imperialiſtiſch“ aufzuſpielen, die mit Europa nur als einem Faktor unter anderen Faktoren in ſeiner großen ökonomiſch⸗-politiſchen Weltrechnung rechnet. Daß dieſer Zwang erfolge, das iſt im Gemeinintereſſe aller europäiſchen kontinentalen Staaten, und iſt ſogar noch das Intereſſe Eng⸗ lands als eines Gliedes von Europas ſelbſt, das es kulturell ja zweifellos iſt. Solange England ſeine Allſeegeltung und jene einſeitigen Hirten⸗ und Weidenmethoden gegenüber einem ſo großen Teile der Erdkugel aufrecht erhalten kann, die ſein cant Lehr⸗, Miſſions⸗ und Kulturmethoden nennt, ſo lange muß es ſtets zu künſtlichen Bündniſſen, künſtlichen Neutrali⸗ täten unter den europäiſchen Staaten Anlaß geben, die weder deren beſonderen Nationalintereſſen noch dem ſolidariſchen Intereſſe Europas entſprechen. So hält es jetzt Italien durch deſſen natürliche Angſt vor der Verletzung ſeiner Mittelmeerintereſſen und ſeiner afrikaniſchen Kolonien durch die engliſche Flotte in Schach und ſucht es zu einem Auf⸗ geben feiner Meutralität und zum Krieg gegen Oſterreich zu drängen; ſo hat es Portugal ſchon durch deſſen Intereſſen im afrikaniſchen Angola auf ſeine Seite gezogen; ſo wirkt es aufwiegelnd auf Dänemark, das es 1864 auf ein paar Worte Bismarcks hin preisgab, ſo auch ökonomiſch vergewal⸗ tigend auf Norwegen und Schweden. Gelänge es ihm, Deutſchland zu einem Binnenſtaate zu machen und, wie

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man es ſchon englifcherfeits als Ziel des englifchen Krieges gegen uns bezeichnet hat, den Nordoſtſeekanal zu „neutrali⸗ ſieren wir haben es ja auch in dieſem Kriege gelernt, was England unter „Neutralität“ im Seerecht verſteht welches Schickſal würde dieſen nordiſchen Völkern erblühen? Analoges aber gilt auch für die Erreichung des höchſten Zieles, das ſich die europäiſche Wirtſchaftspolitik zu ſetzen hat: die ökonomiſche Autarkie Weſteuropas ſamt der ihm angegliederten Kolonien gegen den Oſten und Amerika, ver⸗ mittelt durch eine zunächſt herzuſtellende mitteleuropäiſche Wirtſchaftsgemeinſchaft, wie ſie Julius Wolf und Andere längſt gefordert haben. Auch die Erreichung dieſes Zieles iſt durch Englands Allſeegeltung dauernd gehemmt. Nur zwei prinzipielle Wege kann die britiſche Wirtſchaftspolitik ein⸗ ſchlagen: entweder den Weg mehr oder weniger reinen, wahl⸗ loſen Freihandels, jedenfalls ohne Berückſichtigung der ſpezi⸗ fiſchen Einheit Europas oder jenen Weg, den feiner Zeit Chamberlain gehen wollte: Maximale ökonomiſche Autarkie des britiſchen Geſamtreiches, ſtarke Vorzugszölle zwiſchen Mutterland und Kolonien und Abſperrung nach außen. Beides aber verhindert die Erreichung jenes oben bezeichneten höchſten Zieles unbedingt. Beides verhindert aber auch dauernd die Erlöſung Deutſchlands vom kapitaliſtiſchen Geiſte engliſcher Provenienz vermittels ſeiner Loslöſung von dem Zwange, mit England in Formen konkurrieren zu müſſen, die der engliſche Geiſt des Hochkapitalismus nicht der deutſche vorher zum europäiſchen Wirtſchaftsgeiſt überhaupt gemacht hat. Und wieder ſehe ich nur in dem Zuſammenwirken beider Richtungen der Politik der Richtung auf die europäiſche

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politiſche Solidarität ſowie auf die ökonomiſche Autarkie und auf Brechung der engliſchen Allſeegeltung eine mögliche Aus⸗ ſicht auf endgültige Ausſtoßung des Giftes des ſeiner Haupt⸗ provenienz nach engliſchen kapitaliſtiſchen Geiſtes aus Europa. Vermöchten wir auch die engliſche Allſeegeltung zu zerbrechen, aber ohne mit der deutſch⸗nationalen eine mindeſtens mittel⸗ europäiſche Wirtſchaftspolitik zu vereinigen, fo wäre dieſe hohe Ausſicht darum nicht gefördert, weil uns der Zwang, mit Nordamerika, (das ökonomiſch dem ganzen Weſteuropa, nicht einer einzelnen Nation gleichwertig iſt) in den Formen engliſchen Geiſtes zu konkurrieren, ſofort wieder in die Fangarme des „kapitaliſtiſchen Geiſtes“ hineinſtürzen würde. Würden wir aber auf Grundlage einer deutſchen ſogenannten imperialiſtiſchen Politik analog wie ſeiner Zeit Chamberlain für das britiſche Reich eine deutſche ökonomiſche Autarkie an⸗ ſtreben, ſo hieße dies entweder ein Unmögliches erſtreben, oder es hieße uns zu einem ganz reaktionären Gegner auch des In⸗ duſtrialismus machen, der mit dem „kapitaliſtiſchen“ Geiſt durchaus nichts zu tun hat. Im erſten Falle würden wir nur wieder ganz undeutſch England ebenſo ſervil nachahmen, wie wir es ſeit ſo langer Zeit getan haben. Auf alle Fälle aber hieße es die Anarchie Europas auch politiſch verewigen und es einſchließlich unſerer eigenen Exiſtenz ſchließlich an die ruſſiſche Expanſtonspolitik der nächſten Jahrhunderte preis⸗ geben. Denn nur unter Vorausſetzung einer „imperialiſtiſchen“ deutſchen Welt⸗ und Raubpolitik größten Stils könnte dieſes Ziel deutſcher Autarkie ohne ökonomiſche Reaktion der ökono⸗ miſchen Betriebsformen auch nur ernſtlich aufgeſtellt werden. Nur durch den ſchließlichen Zwang, daß auch England ſich

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endlich wie weit dies Ziel auch immer noch entfernt fei, einem europäiſchen Zollverband gegen Amerika, unter er⸗ heblicher Dezimierung ſeines jetzigen Weltbeſitzes eines Viertels der Erdoberfläche, eingliedert, iſt es möglich, der kapitaliſtiſchen geiſtigen Angliſterung Europas dauernd und kräftig in den Weg zu treten und das aufgenommene Gift wieder aus dem Körper Europas, voran unſeres Deutſchlands, herauszuſtoßen. Dazu aber iſt Zerbrechen der engliſchen Allſeegeltung die allerfundamentalſte Bedingung!

Aber ich kann dieſes Kapitel über die Solidarität Europas nicht beſchließen, ohne des ſchmerzlichſten Anblicks zu gedenken, den dieſer Krieg für den „guten Europäer“ bietet, für jeden bieten muß, welcher Nation er auch gehöre. Dies iſt der Anblick nicht nur der beiſpiellos niedrigen, unritterlichen Kriegsführung und Verlogenheit unſerer Gegner, ſamt der tragiſchen unſer edles Heer verrohenden Gegenmaßregeln, die ſie notwendig machen müſſen, es iſt für mich der noch ſchmerzlichere Anblick des beiſpielloſen Verſagens aller euro⸗ päiſchen Kulturträger und faſt aller übernationaler euro⸗ päiſcher religiös⸗moraliſcher Mächte und Autoritäten. Die Preisgabe auch ſchon alles gemeinſamen europäiſchen Kapitals an ſittlichen Maßſtäben und Prinzipien zur Beurteilung der ungeheuren Vorkommniſſe in der moraliſchen Welt, wie fie dieſer Krieg mit ſich führt, ſcheint nicht mehr zu übertreffen zu ſein. Daß Europa keine übernationale, ſpirituell moraliſche gemeinſam anerkannte Autorität mehr beſitzt, die Bedeutung dieſer Tatſache nicht nur die beklagenswerte Uberſchwemmung aller Grenzen des Völkerrechts, trat ſeit dem Niedergang des mittelalterlichen Papſttums, der letzten Form ſolcher all⸗

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verehrter Autorität, noch niemals mit fo furchtbarer greller Deutlichkeit in der weſteuropäiſchen Geſchichte hervor, wie während dieſes Krieges. Aber damit auch gleich das andere: wie ephemer, wie windig und nichtig der Anſpruch der ſo⸗ genannten „vorausſetzungsloſen“, alſo wohl auch national „vorausſetzungsloſen“ Wiffenfchaft geweſen iſt, eine ſolche ſpirituelle, durch ihr moraliſches Gewicht und ihre geheiligte Tradition mitwirkende europäiſche Autorität zu erſetzen. Mit einer geradezu erſchreckenden Plaſtik und Klarheit traten die Folgen jenes grenzenloſen Subjektivismus hervor, der die ver⸗ borgene Seele jener ſpezifiſch modernen Abart der ſo „objektiv“ tuenden Wiſſenſchaft und ihrer Vertreter iſt, die Naturalismus und Poſttivismus an die Stelle zuerſt echter „Philoſophie“, dann gar an die Stelle einer mit Autorität ausgerüſteten über⸗ nationalen religiöſen Gemeinſchaft zu ſetzen, ſich vermeſſen wollten. Es muß geſagt werden: die Außerungen aller Art, die mannigfachen Briefwechſel der Gelehrten verſchiedener europäiſcher Nationen über Krieg und Kriegführung wieſen einen intellektuellen und moraliſchen Tiefſtand auf, eine Ver⸗ dumpfung des Urteils, ein Sehen aller Dinge durch Maſſen⸗ affekte, genährt durch eine teils pofitio lügneriſche, teils alle Wahrheit unterdrückende Preſſe, bis ins Groteske geſteigert durch jeden Mangel an Fähigkeit, ſich auch nur weſteuropäiſch⸗ gemeinſam anerkannter Grundſätze im Gedankenaustauſch, vor der Hin⸗ und Herrede zu verſichern ganz zu ſchweigen von der Befriedigung des Anſpruchs auf jene faſt überirdiſche Sachlich⸗ keit und „Vorausſetzungsloſigkeit“, auf welche dieſelben Herren ſonſt für das, was ſie „Wiſſenſchaft“ nennen, Anſpruch zu machen pflegen, daß ſelbſt der Gegner jenes radikalen Ratio⸗

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nalismus und Szientifismus, der dem größten Teil unferer europäiſchen Gelehrten zum Unheil aller echter Wiſſenſchaft eigen iſt, nur mit ich finde kein anderes Wort mit Ent: ſetzen dieſen Zuſammenbruch auch der wohlberechtigten Würde der wiſſenſchaftlichen Vernunft gewahren konnte. Selbſt die Preſſe mußte die „Wiſſenſchaft“ korrigieren. Mur darum nenne ich keine Namen, weil ich die betreffenden Perſonen an dieſer Tatſache für ganz unſchuldig erachte. Sie waren ſo „gewiſſenhaft“, als ſie ſein konnten. Nur das iſt das Be⸗ klagenswerte, daß ſie das Prinzip hatten, keine andere Er⸗ kenntnisquelle des an ſich und evident Rechten und Guten anzuerkennen, als ausſchließlich ihr ſubjektives, ſo unendlich relatives enges, kleines, verdumpftes „Gewiſſen“. Oft konnte einem zumute fein und ich kenne viele, denen es fo erging als ſchlügen die Wellen des Chauvinismus, dieſes Feindes aller geordneten Liebe, auch der geordneten Liebe zum Vater⸗ lande, bis an die Grenzen eines Wahnſinnes, der ſelbſt die primitioſten Iogifchen und ſittlichen Wahrheiten nicht mehr ſieht und achtet. Auch in den zum Teil vornehmen und ge⸗ mäßigten Auseinanderſetzungen zwiſchen den Oxforder Pro- feſſoren und deutſchen Akademikern öffnete ſich eine Kluft, ſchon in den gemeinſam anerkannten Prinzipien von Recht, Moral, Staatsidee, Kriegsauffaſſung, Geſchichtsauffaſſung, die jeden erſchauern laſſen mußte, der im Gegenſatze zu einem ſeichten nationalen und hiſtoriſtiſchen „Relativismus“ an ab⸗ ſolute evidente Prinzipien in Logik, Ethik, Recht glaubt. Wer nicht wie der Schreiber dieſer Zeilen ſeine Exiſtenz im letzten Grunde in den Tiefen einer überweltlichen Macht verankert hatte, die gelaſſen, allweiſe und allgerecht auf die menſchlichen

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Engen, Täuſchungen und Irrtümer herabblickt, der konnte der mußte bei dieſer radikalen Zerſprengung aller Bande der höheren Kultur und Moral, unter ſeinen Augen einen nie ge⸗ ahnten Abgrund, ein nie geſehenes Chaos ſich öffnen ſehen; ein unförmliches hölliſches Etwas, von dem er ſich ſagen mußte: es kann eimmal die europäiſche Kultur bis hinein in ihre tiefſten geiſtigen Wurzeln verſchlingen. Es muß es auf die Dauer wenn ſich Geiſt und Gewiſſen Europas nicht ermannt. Ich kenne viele edle und dennoch wirklichkeitstapfere Seelen, die es tränenden Auges ſahen. Nicht nur das gilt, was der deutſche Kaiſer in ſeinem Appell an den amerika⸗ niſchen Präſidenten Wilſon wörtlich hervorhob, daß die Krieg⸗ führung auf „eine Stufe hinter das Mittelalter zurückge⸗ ſunken“ ſei; für den „Gedankenaustauſch“ der gegenwärtigen europäiſchen Kulturträger gilt, daß es uns iſt, als träten wir aus muffiger dumpfer Gefängnisluft in eine weite ſonnenhelle Halle, wenn wir den Zuſtand von europäiſcher Kultur und Ethos bei analogen Anläſſen auf der Höhe des Mittelalters mit dieſem Zurückſinken in roheſte Trieberſchlaffung ver⸗ gleichend betrachten. Wie erhaben über Erörterungen, wie fie z. B. zwiſchen Romain Rolland und Gerhart Hauptmann, zwiſchen Maeterlinck und den deutſchen Antworten auf ſeine ungezügelten Ausfälle möglich waren, iſt auch noch ein Brief⸗ wechſel, wie jener von ſo mittelmäßigen Perſonen wie David Friedrich Strauß und Ernſt Renan über das Elſaß im 1870er Krieg! Daß unſer Kaiſer, daß auch andere europäiſche Mächte ſich gezwungen ſahen und waren fie etwa nicht gezwungen? den Präſidenten von Nordamerika zum Gegenſtande eines mora⸗ liſchen Appells über die Kriegführung europäiſcher Staaten

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zu wählen, welche tiefe Schande für die geiſtige Würde und den Beſtand von moraliſcher Autorität in Europa! Wahr⸗ lich nicht wegen der Perſönlichkeit des Präſidenten, die durch⸗ aus verehrungswürdig iſt nein, wegen des damit zugeſtan⸗ denen Mangels einer ebenſo verehrungswürdigen Perſönlichkeit in Europa. Präſident Wilſon hat mit jener Vornehumheit, Schlichtheit und Demut geantwortet, die dem Oberhaupt eines großen Staates in allgemein⸗moraliſchen Dingen, gerade wegen der notwendigen Inkompetenz eines Staatsoberhauptes für Fragen dieſer Art geziemt und allein geziemen ſoll. Er wies jedes Richteramt ab; er verwies die appellierenden Par⸗ teien an die göttliche Gerechtigkeit und auf ſpätere Ausein⸗ anderſetzungen zwiſchen den großen Kulturſtaaten Europas. Er verwies die gegeneinander Proteſtierenden mit Würde auf ſich ſelbſt zurück; er tat es, ohne daß ſie in Scham erglühten. Innerhalb Europas ſtellt ſich uns als letzter Reſt einer über⸗ nationalen ſpirituell⸗moraliſchen Autorität das Papſttum dar.

Für den Papſt war es bei der Beteiligung katholiſcher Völker die franzöſiſche Regierung ſuchte die Katholiken und den Papſt durch Abſchaffung der antikirchlichen Kult⸗ geſetzgebung gleich zu Beginn des Krieges zu gewinnen auf beiden feindlichen Parteien einen moralifch-fpirituellen Rat zu erteilen, nicht ohne Schwierigkeit. Der Papſt erteilte gleichwohl einen ſolchen Rat in einer Enzyklika, die wir trotz aller Bemühung noch nicht zu Geſicht bekamen und trat außerdem entſchieden für die Neutralität Italiens ein. Bei der faktiſchen modernen Begrenztheit der päpſtlichen Autorität konnte freilich auch der Widerhall der päpſtlichen Worte nur ein ſehr begrenzter ſein.

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Iſt zu erwarten, daß fich die kirchliche moraliſch⸗ſpirituelle Autorität über Europa, der letzte Reſt einer übernationalen ſpirituellen Autorität in Europa überhaupt nach dieſem Kriege hebe? Für die katholiſche Kirche find große und heilige Inter⸗ eſſen mit dieſem Kriege und ſeinem Ausgange verknüpft. Der franzöſiſchen Regierung iſt fie für die Abſchaffung der anti⸗ kirchlichen Kulturgeſetzgebung wahrlich keinen Dank ſchuldig. Sie geſchah nur, um die Katholiken momentan für den Krieg auch innerlich zu gewinnen, oder ihnen wenigſtens den Gewiſſens⸗ fErupel zu nehmen, für eine irreligiöſe und kirchenfeindliche Regierung kämpfen zu müſſen. Siegte Frankreich und in ihm die jetzige Form der Republik, ſo würde dieſe Geſetzgebung als⸗ bald wieder aufgerichtet. Unterliegt Frankreich, ſo würde ſie durch eine neue vermutlich bonapartiſtiſche Regierung ſowieſo ſicher gefallen ſein. Das franzöſiſche Patronat über die katholiſchen Chriſten Kleinaſtens würde im Falle einer Niederlage Frankreichs erheblich in Frage geſtellt ſein. Die kirchenfreundliche Gegenrevolution in Portugal da⸗ gegen, die noch mehr zum bewaffneten Eintreten für England zu neigen ſcheint, als die jetzige antikirchliche Regierung, vielleicht auch die Idee der Erhaltung eines ſelb⸗ ſtändigen Belgien, gibt der Kirche ein gewiſſes Maß vom gemeinſamen Intereſſe mit dem Dreiverband. Dem ſtehen aber ganz unverhältnismäßig ſtärkere Intereſſen, die ſie mit einem Sieg der kontinentalen Zentralmächte teilt, gegenüber. An erſter Stelle eine Zurückwerfung der Orthodoxie auf dem Balkan und gegen den Oſten überhaupt; die Erhaltung eines ſelbſtändigen öſterreichiſchen Kaiſerſtaates und des katholiſchen Glaubens in der ſüdſlaviſchen Welt; die eventuelle Ausſicht

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auf ein mögliches ſelbſtändiges Polen mit einem katholiſchen König. Dazu muß jeder Sieg Deutſchlands, der eine etwaige Erpanfion des Deutſchen Reiches in irgendeiner Richtung zur Folge hätte, die katholiſche Bevölkerungsteile in die Majori⸗ tät gegenüber den evangeliſchen bringen unter gleichzeitiger Schwächung der evangeliſchen Solidarität mit England. Für eine evenfuelle Annexion Belgiens iſt dies ohne weiteres offen⸗ ſichtlich. Andererſeits müßte ein entſchiedener Sieg der Zentral⸗ mächte das Gewicht der germaniſchen tieferen, innigeren und religiöferen Form des Katholizismus erheblich ſteigern. Eine innere (nicht dogmatiſche) Reform der katholiſchen Kirche, die ihr über ihre gegenwärtige lateiniſche Partikulariſterung, die Anwartſchaft auf eine allſeitigere ſpirituelle Leitung Euro⸗ pas vielleicht wieder zurückgeben könnte, möchte nur unter dieſer Bedingung einige Ausſicht auf Erfolg gewinnen.

Ehe ſolche Reform in die Erſcheinung treten wird, bleibt es bei dem Furchtbaren, das dieſer Krieg zur Erſcheinung brachte: Daß es in Europa zurzeit keinen Mann, keine Stelle, keine Autorität mehr gibt, die der, ihre Ausſprache unwirkſam machenden Gefahr der Parteilichkeit ſo ſehr durch ihre innere Würde und durch ihr moraliſches Gewicht überhoben wäre, die zugleich jenes Maß gemeinſamer Ehrfurcht und ge⸗ meinſamer Anerkennung genöſſe, daß ihr Wort über die natio⸗ nalen Gebundenheiten des Geiſtes hinweg in das Herz Europas hineinſchallte. Das iſt der Aſpekt der Zeit: Jeglicher iſt frag⸗ würdig geworden; über jeden herrſcht eine unbegrenzte Zahl ent⸗ gegengeſetzter Meinungen und nur die Maſſe und die Gewalt geben noch einige Bedeutung. Lieber alter Auguſte Comte: Du fühlteſt das Bedürfnis, das jetzt heißer wie je in jedes Euro⸗

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päers Herzen pocht, du wollteſt an Stelle der alten kirchlichen übernationalen Autorität eine europäiſche „pouvoir spirituelle“ aufrichten, die aus einem Senat von poſitiviſtiſchen Gelehrten beſtehen ſollte. Hätteſt du deine an ſich große nur auf eine falſche Philoſophie gepfropfte, darum unfruchtbare Idee angeſichts des gegenwärtigen Zerfalles aller gemeinſamen ſpirituellen Bande Europas wohl feſtgehalten? Und des Zer⸗ falles der „wiſſenſchaftlichen“ vor dem Zerfall aller anderen?

Nicht minder ſchwach als die wiſſenſchaftliche, ja geradezu als kläglich unwirkſam erwies ſich die evangeliſche Solidarität, wie ſie noch kurz vor dem Kriege auf der internationalen evangeli⸗ ſchen Weltmiſſtonskonferenz ſich äußerlich dargeſtellt hatte.

Zu all dieſen beklagenswerten Erſcheinungen, die zuſammen⸗ genommen einen nun offenſichtlich gewordenen erheblichen moraliſchen Rückſchritt der gegenwärtigen europäiſchen Menſchheit trotz aller „Fortſchritte“ von Wiſſenſchaft und Technik repräſentieren und die vor dem Auge ſämtlicher außereuropäiſchen Völker eine ſo tiefe Schande implizieren, daß das europäiſche Preſtige auf eine Stufe geſunken iſt, die ſeinen Tiefſtand durch das Verhalten Europas während der Balkankriege noch gewaltig überbietet, finde ich indes häufig ſchon jetzt eine Stellung eingenommen, die im Keime als grundirrig zu bekämpfen iſt.

Sehen wir ab von jenem niedrigſten Chauvinismus und Moral⸗ und Rechtsrelativismus, der ſich heute frech und zyniſch jauchzend freut, daß ſich alle volksverbindenden geiſtigen Mächte, daß ſich Moral und Recht als „ganz ſubjektiv“ und „relativ“ erwieſen haben, daß alles Völkerrecht nur „papiernes Recht! fei, fo finde ich gerade bei den wohlberechtigten Gegnern

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diefer wüſten Beſtienmoral faft ausſchließlich den Krieg felbft und den europäiſchen Militarismus vor dem Kriege für dieſen inneren Zuſtand Europas in die Anklage erhoben.

Nichts aber erſcheint mir irriger und auch für das künftige Schickſal der europäiſchen Geiſtesſolidarität verderblicher als dieſe Behauptung. Was? Den diagnoſtizierenden aufdecken⸗ den und wie zu hoffen den erhabenen, heilenden Arzt für die inneren Fäulnisprozeſſe des moraliſchen Europa der letzten vierzig Jahre haltet ihr für die Urſache der Fäulnis und der Krankheit? Wie ungerecht, wie undankbar für die bittere, heilende Arznei, für die gütige Hand Gottes, die euch in dieſer ſo wunderbaren, wie ſchrecklichen Offenbarung eures wahren Weſens noch einmal in ganz großem Stile zeigen will, was aus euch geworden iſt, indem ſie euch züchtigt! Wie unheilbar die Seele, die den Arzt für die Krankheit hält! Nein! Nicht dem Kriege fällt dieſe Art der Kriegsführung, fällt der ſich darin bekundende moraliſche Niedergang zur Laſt. Umgekehrt iſt die pure Tatſache dieſes heilvollen und ſittlich heilenden Krieges vielleicht noch das einzige, was ſelbſt noch dieſe niedrige Dum⸗Dumkriegsführung, die Grauſam⸗ keiten aller Art relatib rechtfertigt, den ſinnloſen Haß aller Art rechtfertigt; rechtfertigt wenigſtens als Symptom, als heilende Offenbarwerdung der beiſpielloſen inneren moraliſchen Fäulnis des vorangegangenen europäiſchen „Friedens“.

Und iſt etwa der beiſpielloſe Haß, iſt Menſchen⸗ und Bürgerhaß, Haß der regierenden Perſonen und Staatsober⸗ häupter der jeweilig feindlichen Staaten, Affekte, die dieſen Krieg, deſſen ſittliche Seele wie die Seele jedes Krieges Ritter⸗ lichkeit und Achtung des Feindes iſt und ſein ſollte, unaustilgbar

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beſchmutzten und in die Goſſe gezogen haben, ift dieſer Haß eine Folge der in Europa noch nachglühenden kriegeriſchen und militäriſchen Moral oder iſt er umgekehrt die Folge der lang⸗ ſamen Überwindung der kriegeriſchen von der pazifiziſtiſch utilitariſchen Moral in Europa, d. h. der Voranſtellung des Nützlichen vor dem Edlen? Schon die Frage enthält die Antwort. Der Antwort der ſittlichen Einſicht entſprechen die Tatſachen. Wo wird denn am meiften gehaßt ? Mit welchen Eigenſchaften der Gruppen ſteigt und ſinkt der Haß in dieſem Kriege? Am meiſten haßten unter Völkern diejenigen, die am unkriegeriſchſten ſind die⸗ jenigen, die relativ am meiſten Geld und am wenigſten Macht beſitzen. Allen voran die ſinnlichen, in Weichlichkeit und Uppigkeit erſtickenden Belgier, deren Staat ewige Neu⸗ tralität garantiert war, die aufrecht zu halten er zu ſchwach war und der von parfümierten Rechtsanwälten regiert wird. Und in den Völkern welche Gruppen? Am meiſten haßten unter ihnen nicht die kämpfenden Armeen, ſondern die Zurück⸗ gebliebenen, die nichts zu tun haben, reſpektive diejenigen, die ſich wider alles Völkerrecht am Kampfe als Franktireurs beteiligten. Und hat etwa das relativ kriegeriſchſte Volk unter unſeren Feinden, hat Rußland Dum⸗Dumkugeln? Nein es hat die bei Wunden gleicher Art am wenigſten lebengefährdenden Kugeln. Aber das kommerzielle England, das ſchießt mit dieſen Kugeln. Gerade die pazifiziſtiſche Lehre, Krieg fei „Maſſenmord“, iſt es, die in dieſem Kriege den Mord gegen⸗ über ritterlicher Kriegsführung rechtfertigt. Daß dieſer Krieg aber überhaupt noch möglich war, möglich war als heilender Ausbruch jener tiefen Krankheitsprozeſſe des europäiſchen mora⸗

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liſchen Status, die ich andernorts zu ſchildern ſuchte, das, und nur das iſt noch die einzige, die letzte Hoffnung darauf, daß Europa noch einmal geneſe noch einmal an Deutſchland als Ganzes geneſe, d. h. an ſeinem noch innerlich geſündeſten unter ſeinen edlen Organen. Was dieſer geiſtig ſittliche Zerfall anzeigt, was die Rückkehr zu einer Kriegführung hinter jene der ſchlimmſten Kolonialkriege Englands das iſt allein die tiefe Demoralifierung, welche die kapitaliſtiſchen bourgeoiſen Lebensformen, eine maßloſe allgemeine Pleonexie, die damit einhergehende Verweichlichung und Materialiſierung des Lebens in Europa als Europas hiſtoriſch typiſchen, freilich über die Länder, Klaſſen, Berufe, Stände ſehr verſchieden verbreiteten Lebensſtil geſchaffen hatten. Ich habe den Prozeß dieſer Demo⸗ raliſterung, das Weſen und die Urſachen des Wandels der ethi⸗ ſchen Ideale und Vorzugsregeln nicht nur ihrer Betätigung in meinen Abhandlungen „Das Reſſentiment im Auf bau der Moralen“ und „Der Bourgeois“ eingehend geſchildert. Das nun auch für den bisher Blinden ſichtbar gewordene Er⸗ gebnis dieſes Wandels iſt der ungeheure moraliſche Rückſchritt wie er ſich in der Führung dieſes Krieges und den Verhand— lungen über ihn, wie er ſich in der bald mehr lügneriſchen, bald mehr feigen und ſervilen Preſſe Europas offenbarte. Aber ich habe in dem Aufſatz „Die Zukunft des Kapitalismus“ auch an⸗ gedeutet, wie und wodurch eine innere Reform des Lebens⸗ ſtiles des europäiſchen Menſchen als Vorausſetzung jeder anderen äußeren Reform zu erwarten iſt.

Auf jener neuen Jugend Europas, an die in dieſen Arbeiten appelliert ward, auf jener Jugend, die jetzt im Felde kämpft, auf ihres Schwertes Spitze ſteht auch der neue menſchliche Typus,

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der „Ethos“ und „Geiſt“ des Kapitalismus überwinden kann überwinden muß. Noch im äußerſten Kampf gegeneinander iſt dieſe europäiſche Jugend gegen ihre Friedensväter ſolidariſch in dieſer einen Richtung: in der Richtung auf eine Beſeitigung des moraliſchen Umſturzes, der den kapitaliſtiſchen Geiſt charakteri⸗ ſtert. Und wenn der deutſchen Jugend hier eine ausgezeichnete Stelle zukommt, fo iſt es darum, weil dies Land des „Mili⸗ tarismus“, des Volksmilitarismus noch relativ am we⸗ nigſten von jenem Umſturz angeſteckt war, der die Religion und ihre Inſpirationen aus der Führung der öffentlichen An⸗ gelegenheiten ausſchaltet, der wie Frankreichs regierende Rechts⸗ anwälte alles Heilige beſpeit, der die geiſtigen Kulturwerte zur Ware erniedrigte und das national und international Mütz⸗ liche dem national und europäiſch Edlen vorzieht wie Eng⸗ land: das Mutterland des modernen Kapitalismus, das Europa allzulange nachgeahmt hat.

Alſo fort mit der Greinerei ſo vieler Leute über die ab⸗ geriſſenen Fäden der internationalen wiſſenſchaftlichen Ver⸗ bindungen, Organiſationen, Freundſchaften uſw. Iſt das Band des Geiſtes nicht feſt genug geweſen, die nationalen Leiden⸗ ſchaften des Krieges zu überdauern dann war es nicht des Geiſtes Band, das hier knüpfte. Dann bewirkte der Krieg nicht die Anarchie der Kultur ſondern er enthüllte ſie nur und riß dem bloßen Nutzintereſſe, das hier band, die gleißneriſche Maske des Geiſtes und der höheren Liebe zu Wahrheit, Recht, Schön⸗ heit vom blinzelnden Geſicht. Dann wird es nach dem Kriege Sache der Jugend ſein, echtere und haltbarere Bänder, wahr⸗ haft „geiſtige“ Bänder um die geiſtigen Minoritäten der euro: päiſchen Nationen zu ſchlingen und wahre „Freundſchaft“

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unterſcheiden zu lernen von „internationalem“ Komödienſpiel und von Intereſſengemeinſchaft, die ſich als ſolche der Kultur, des Geiſtes und der Religion aufzuſpielen die Frechheit hatte.

So ergeben uns alſo die Unterſuchung über die Struktur⸗ einheit des europäiſchen Geiſtes und des gegenwärtigen Aus⸗ drucks dieſer Einheit innerhalb der gegenwärtig zerriſſenen euro⸗ päiſchen Kulturgemeinſchaft völlig entgegengeſetzte Reſultate. Europa iſt eine Liebes⸗ und Geiſteseinheit, ob es dieſe Tatſache weiß oder nicht weiß. Europa beträgt ſich aber in ſeinen offi⸗ ziellen Kulturführern wie eine zänkiſche Familie, deren Glieder in ihrer Wut gegeneinander vergeſſen, daß ſelbſt dieſe Wut nur auf Grund der gemeinſamen geiſtigen Einſtellungen mög⸗ lich ift, die fie verbinden noch mehr aber vergeſſen, welches entſetzliche Bild fie dabei MNichteuropäern bieten, der mongoli⸗ ſchen, der mohammedaniſchen, der altruſſiſchen Welt; Welten bieten, deren ſtärkſte, jahrhundertwährende Leidenſchaften die europäiſchen Nationen jetzt ſo unſäglich leichtfertig vor ihre beſonderen Intereſſen zu ſpannen wagen ohne mögliche Ab⸗ meſſung, wohin einſt dieſe entfeſſelten Leidenſchaften führen werden. Wer wird den neu entfeſſelten Ehrgeiz Japans, wer den Fanatismus der mohammedaniſchen Welt im heiligen Krieg, wer den durch ihm bewirkten orthodoxen Gegenfanatismus der ruſſiſchen Welt, lenken und dämmen können, wenn dieſe gefährlichen Kräfte die Intereſſen der europäiſchen Nationen bis zu demjenigen Punkte gefördert haben werden, bis zu wel⸗ chem jene Intereſſen reichen? Mit welchen furchtbaren Feuern ſpielt das leichtſinnige, das allzu ſelbſtbertrauende Kind?

Und doch iſt die Frage: „Wo iſt heute die Einheit des Europageiſtes“ eine Frage, die der Frage deſſen gleicht, der

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nach feiner Brille ſucht, die er auf der Naſe hat. Die wahre, die echte Einheit des Europageiſtes, die einzige zu⸗ gleich, die für die Zukunft die Gewähr bietet, daß einmal aus ihr heraus, fich jene echteren, haltbareren Geiſtesverknüpfungen bilden, die der aufgewieſenen Struktureinheit des Europageiſtes auch Ausdruck und Realität in Geſinnung und Werk zu geben vermögen, dieſe Einheit iſt fo paradox es klingen mag gegen wärtig nicht über dem Kriege, ſondern befindet fich in ihm ſelbſt. Dieſe Geiſteseinheit iſt der noch intakte, noch nicht kapitaliſtiſch angefaulte edle kriegeriſche Geiſt der europäiſchen Jugend. Nur in ihm, in dieſem gemeinſamen Idealismus, der alle Kämpfe der Nationen durchſchneidet, der ſich gegenſeitig ehrt und achtet, liegt die Gewähr, daß dieſe in ihre Länder und Städte zurückkehrende Jugend alle Gebiete des Lebens, Wirt⸗ ſchaft, Politik, Kunſt und Wiſſenſchaft mit ihrem Weſen durchſäure und ſo das alte materialiſtiſch und merkantil zer⸗ morſchte Europa langſam beſtatte. Schon jetzt klingen die Feldbriefe fo morgendlich, fo anders als das vielfache Gewinfel der Zurückgebliebenen! Auch einen europäiſchen Generations⸗ ſinn fo ſagte ich ſchon hat gerade dieſer Krieg im höchſten Maße. Und dieſer Sinn iſt im letzten Grunde weſentlicher und wichtiger noch als alle beteiligten nationalpolitiſchen Intereſſen. Selbſt auf engliſcher Seite kämpft die edelſte Jugend Englands aus Oxford und Cambridge gegen die Gewohnheit der Väter mit auf den Schlachtfeldern. Alles, Alles wird aber bei der Neuknüpfung der echten geiſtigen Bänder um die europäiſchen Nationen, Alles ſelbſt für die innere Lebenserneuerung der europäiſchen Völker innerhalb ihrer nationalen Grenzen darauf ankommen, daß nicht die alten, jetzt meiſt zurückgebliebenen

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eingefahrenen Partei: und Schulgehirne, die Nichts mehr lernen wollen oder können, die Zügel in den öffentlichen An⸗ gelegenheiten behalten, Zügel, die fie fo fehr im Sande ſchleifen ließen; ſondern eben diejenigen ſie erfaſſen, die ſich in dieſem Kriege zu einer neuen und echteren Europaliebe zuſammen⸗ gekämpft haben; ja deren längſt vor dem Kriege kundgewor⸗ dener neuer Geiſt und deren neue ſittliche Haltung in dieſem Kriege ihre tiefſte Erfüllung heimlich geſucht und nun gefun⸗ den haben.

Dieſe Forderung gilt in gleicher Schärfe für die geiſtige Führerſchaft innerhalb der politiſchen Sphäre wie für jene innerhalb der höchſten Gebiete des Kulturſchaffens. Warum haben nicht nur Angehörige der Sozialdemokratie, ſondern Mitglieder aller Parteien den Heldentod des freiwillig zu den Fahnen eilenden Reichstagsabgeordneten Frank ſo tief be klagt? Es geſchah darum, weil man in dieſem treff lichen Manne, weit hinaus über den Verluſt eines klugen, ernſten Kopfes, der unſerer verdoktrinariſterten Demokratie eine poſi⸗ tive und ſchöpferiſche Richtung hätte einhauchen und das nun flüſſig gewordene Erz unſerer Parteibildungen neu hätte ſchmie⸗ den helfen können, in dem Gefallenen ein Beiſpiel des Typus des deutſchen und europäiſchen Menſchen ſah, wie wir ihn eben nach dem Kriege auf allen Gebieten ſo notwendig haben werden wie das tägliche Brot.

Schon jetzt machen ſich bei den Zurückgebliebenen auf allen Gebieten allzulaute Stimmen bemerkbar, die anſtatt durch dieſen Krieg eine Erweiterung und Neubefruchtung des deutſchen Kulturgenius in einem vertieften europäiſchen Sinne zuerhoffen, uns in ein verdumpftes, gewolltes, reflektiertes Deutſchtum

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fürderhin einfperren wollen; die dazu, anſtatt ehrfurchtsvoll zu warten, welche Art Befruchtung der neue gemeinſame euro⸗ päiſche kriegeriſche Geiſt unſeren beſten deutſchen Schaffens⸗ kräften in Malerei, Bildnerei, Muſik Philoſophie bringen werde, ſchulmeiſterliche Programme, geleitet von einem nationaliſtiſchen Purismus, in abgeleiteten Kategorien auf⸗ zuſtellen ſich anſchicken, deren Zerbrechung die wichtigſte Wirkung dieſes Krieges ſein wird. Da vertritt ein Profeſſor der Kunſtgeſchichte nach einigen ſehr treffenden Worten gegen ein genüßliches Aſthetentum, das bald byzantiniſche Moſaiken, bald japaniſche Holzſchnitte einſchlürft, einen völligen Abſchluß der deutſchen Malerei in ſich ſelber; ein Rückgehen auf Cornelius und Schwind, einen antiromaniſchen Haß des Farbenreizes und eine bewußte Einſtellung auf, zuerſt vermöge der hiſtoriſchen Reflexion als „deutſch“ auch akade⸗ miſch feſtgeſtellter Gemütswerte. Der Internationalismus der Sozialdemokratie, den er für die Idee einer übernationalen Kunſt verantwortlich macht, iſt demſelben Hiſtoriker ein Reſt des Kosmopolitismus des 18. Jahrhunderts (J). Alle klaſſiſche Kunſt ſteht ihm auf der Stufe des „Diplomatenfranzöſiſch“. Das Graziöſe, das er verwunderlich genug mit den niedrigen Werten des „Schicken“ und „Puppenhaften“ in einem Atem nennt, ſoll aus dem deutſchen Weſen und feinem Kunſtſtil radikal ausgerottet werden, „Ernſte tüch⸗ tige“ Deutſche aber, die gegenwärtig einen „heiligen Zorn gegen Kunſt überhaupt“ in ſich auf bringen, „als ſei Kunſt nichts Anderes als Sybaritismus, ein Verweichlichungs⸗ prozeß, der der Nation das Mark aus den Gliedern ſauge, alle ihre guten Kräfte annage, alſo eine Krankheit, die

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man vom blühenden Leib der Nation fernhalten müſſe“, irren zwar, „indem ſie glauben, in einer Zeit, die ſtärkſte Nerven fordert, ſei für Kunſt kein Platz weiter. Aber dieſe Urteile „ſind ehrlich und treffen eine Art von Wahrheit“. Ahnliche Stimmen hörten wir für die deutſche Muſik, gegen die ſich ein ausgezeichneter Feldpoſtbrief von Paul Bekker in Nr. 331 der „Frankfurter Zeitung“ wendet. (Natürlich ein Feldpoſtbrief!, die einzige „Poſt“, von der man zurzeit Sinnvolles zu erwarten hat.) Innerhalb der Philoſophie nennen für Beurteilung philoſophiſcher Dinge völlig inkom⸗ petente Perſonen H. Bergſon einen „Feuilletoniſten“, da er ſich nach der ungeprüften Nachricht des „Petit Pariſten“ eine unſagbare Plattheit über deutſchen „Zynismus und Bar⸗ barei“ entſchlüpfen ließ; Andere argumentieren gegen den philoſophiſchen Senſualismus, er ſei engliſch und darum irrig. In all dieſen Argumentationen iſt durchaus nicht falſch, daß alle höchſte Kultur auf europäiſchem Boden, gerade je vollen⸗ deter ſie iſt, auf dem Hintergrunde der gemeinſamen europäiſchen Kunſtideale für den nachträglich hinzutretenden Betrachter ein eigentümliches nationales Gepräge befißen müſſe, ſtets beſeſſen habe und beſitze. Falſch aber und dazu noch undeutſch, ja antideutſch, iſt die ſich in all dieſen Beſtrebungen ver⸗ ratende Doppeltendenz, für jedes der großen Kulturſachgebiete eine ihm jeweilig allein entſprechende innere Logik ſeiner Werte und ſeines Aufbaus, und eine Eigenform ſeines beſonderen und von dem Wachstum anderer Gebiete unabhängigen ge- ſchichtlichen Wachstums und Niedergangs zu leugnen, in deren Grenzen erſt ſich der beſondere Duft des Kulturkreiſes und des Nationalen einzeichnet; außerdem aber dieſes „Natio⸗

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nale“ zu einem bewußt intendierten und reflektiertem Zweck der ſchaffenden Genien machen zu wollen. Alles aber, was in Kunſt und Philoſophie als deutſch „gewollt“ wird, iſt ſchon darum falſch und undeutſch, weil es „als“ deutſch „gewollt“ wird. Dieſer „Wille“ ſchließt ewig aus, daß das Werk deutſch auch werde, deutſch wachſe und deutſch ſe i. Denn am allermeiſten undeutſch, weit undeutſcher noch als impreſſtoniſtiſcher Far⸗ benreiz, als alle „Verdebüßyrung“ der Muſik, iſt alles das⸗ jenige, was auf dieſem Boden der Kulturſchöpfung nicht ſtille geworden und gewachſen iſt, ſondern „gemacht“ wurde, und ſei es „als deutſches ! gemacht. Die Herren Hiſtoriker der nächſten Jahrhunderte werden alſo nur dann für ihre Arbeit einen möglichen Stoff echt deutſcher Kunſt und Philoſophie und dadurch überhaupt ein ferneres Exiſtenzrecht haben, wenn gegen⸗ wärtig die auf dieſen Gebieten Schaffenden ſo geartete Rat⸗ ſchläge wie Feuer meiden und wenn ſie fortfahren, in ehrlicher Auseinanderſetzung mit allen nicht deutſchnationalen Werten allüberall das ab ſolut Künſtleriſche, das abſolut Wahre, das Gute zu ſuchen.

Und dieſen Geiſt für das Vollkommene im Gegen⸗ ſatze zur hiſtoriſtiſchen Gebrochenheit und Geiſtesverkrüppe⸗ lung vieler unſerer lieben Väter ernſthaft zum Gemeingut Europas zu machen, dazu helfe uns die aus dem Kriege zurück⸗ kehrende Jugend!

Los von England!

ie aber nähern wir uns dem zweiten Geſicht, von IT dem ich gefprochen hatte wie der Verwirk⸗

lichung dieſes Glaubens an unſer höheres Recht und unſere europäiſch und eben hierdurch kosmopolitiſch emp⸗ fundene deutſche Miſſton? Ich antworte: Nicht dadurch, daß wir vermeinen, eine Aufgabe, die wie die endgültige Zu⸗ rückdrängung der ruſſiſchen Expanſton eine ſolche von Jahr⸗ hunderten ſein wird, mit dieſem einen Kriege löſen zu können, und etwa gar andere gegenwärtig weit dringlichere Aufgaben darüber verſäumen. Das kann ja keine Frage fein, daß in der Größenordnung der Gewichtigkeit der Gegenſätze, die zu dieſem Kriege geführt haben, dem engliſch⸗deutſchen Gegenſatz nur die zweite Stelle eingeräumt werden kann. Aber das ſchließt nicht aus, daß der möglichſten Beſeitigung des kriegsbeſtimmenden Gegenſatzes zu England in der Zeitfolge unſerer und der euro⸗ päiſchen Kriegsaktionen der Zukunft die erſte Stelle gebührt. Ja in einem Falle wäre dies ſogar notwendig: Wenn eine Beſeitigung dieſer Gegenſätze auch die Bedingung dafür wäre, daß die ihrer Matur nach tieferen und dauernderen zu Ruß⸗ land einmal beſeitigt werden können. Dies aber ſcheint mir bei dem zweiten der kriegsgewichtigen Gegenſätze, in dem ge⸗ rechten Kriege von Deutſchland und England in der Tat der

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Fall zu fein. Nehmen wir einmal an, wir müßten uns dies⸗ mal begnügen, Rußland in ſeine Grenzen zurückzuweiſen, wir nähmen ihm durch militäriſche und ökonomiſche Schwächung auf eine gewiſſe Zeitdauer die Luſt, ſeine alten hiſtoriſchen Expanſionspläne nach Weſten und Südweſten wieder aufzu⸗ nehmen; nehmen wir an, wir wären auf Grund unſerer mili⸗ täriſchen Operationen in der Lage, Frankreich ſo in die Knie zu zwingen, daß wir ihm die Hauptlaſten dieſes Krieges allzuviel Geld dürfen wir von Rußland auf keinen Fall er⸗ warten auf die Schultern wälzen könnten; und auch in der Lage wären, durch Annexionen der militäriſch wichtigſten feſten Plätze Frankreich militäriſch zu desarmieren. Nehmen wir wie unter dieſen beiden Vorausſetzungen zu erwarten ift an, daß England nach dieſen Enttäuſchungen auf dem Kontinent Neigung zum Frieden verriete, auf alle Fälle aber ſich dem dann in Ausſicht ſtehenden Kontinentalfrieden anſchließen möchte, und es bis zu dem Zeitpunkt dieſer Ent⸗ ſcheidungen vermiede, ſeine Schlachtflotte zu größeren Macht⸗ proben zu ſtellen; und daß wir, die wir ja ſo lange, ſo un⸗ faßbar lange engliſchen Verſprechungen getraut haben, dieſen Krieg ohne kriegeriſche Beſeitigung der deutſch-engli⸗ ſchen Machtgegenſätze beendeten. Was wäre die Folge? Die erſte Folge wäre, daß wir dem eigentlichen Einfädler derjenigen Politik, die zum Kriege führte und dem Verführer Belgiens, ohne ihm dauernd zu ſchaden, einen gewaltigen Dienſt durch die Schwächung Rußlands, einen noch größeren durch unſere eigene ökonomiſche Schwächung geleiſtet hätten, die ſich naturgemäß auch in einer erheblichen Herabſetzung unſeres Flottenbudgets für die folgenden Jahre bekunden müßte;

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daß es durch den Beſitz des größten Teiles unſerer Kolonien gleichzeitig vorzüglich in der Lage wäre, uns beim Friedens⸗ ſchluß weitgehende Vorſchriften in allen, Belgien und die fernere deutſche Weltpolitik betreffenden Fragen zu machen; daß dabei der wahre Grund zur engliſch⸗deutſchen Spannung aber völlig unvermindert fortbeſtünde, unechte Bündnis⸗ komödien aufs neue Platz griffen und daß dazu Frankreich in eine Lage gedrängt wäre, die unſerer verzweifelten Lage gegen Napoleon vor und während der Befreiungskriege erheb— lich ähnelte. Das heißt aber: Keine einzige der eigentlichen Quellen diefes Krieges wäre völlig verſtopft die des eng— liſchen Krieges gar nicht, die des ruſſiſchen wie von vorn⸗ herein zu erwarten nur auf eine gewiſſe Zeit abgelenkt. Die deutſch⸗ franzöſiſchen Gegenſätze wären auf Jahrhunderte hinaus gewaltig und bis zum verzweifelten Widerſtande Frankreichs geſteigert. Die Hauptſache: Jede Bildung einer Solidarität des kontinentalen Europa gegen den Expanſions⸗ drang vom Oſten her wäre unmöglich gemacht. Möchten wir ſelbſt auf dieſe Weiſe genügende augenblickliche Ent⸗ ſchädigungen für unſere Kriegsopfer gewinnen, dabei bei jahrelanger Anweſenheit unſerer Armee Frankreich ökonomiſch ausſaugen und militäriſch ſo gewaltig ſchwächen, daß es in abſehbarer Zeit nicht in der Lage wäre, uns eruſt⸗ lich zu bedrohen, fo wäre doch unſere politiſche Geſamtſituation nicht verbeſſert, ſondern im Verhältnis zu der Situation vor dem Kriege ganz erheblich verſchlechtert. Nichts durfte Eng⸗ land in der Zeit vor dem Kriege mehr fürchten als das Zu— ſtandekommen eines deutſch⸗franzöſiſchen Bündniſſes am meiſten in dem kritiſchen Moment der Jahrhundertwende

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nach Faſchoda. Dieſer Furcht wäre es nun, wenn Frank⸗ reich durch unſer Vorgehen ſelbſt als möglicher Bundesgenoſſe Deutſchlands entwertet iſt, ein für allemal enthoben. Es würde völlig frei fein, feine oſtaſtatiſche Politik nach Gewohnheit völlig unabhängig von dem europäiſchen Geſamtintereſſe zu betreiben; und indem es aus ſeinem Einzelintereſſe heraus das ſo ſtark aufſtrebende Japan zunächſt noch in ſeiner chineſiſchen Po⸗ litik unterſtützte, würde es den Geſamtdruck des Oſtens gegen den Weſten ſogar noch erheblich ſteigern; alſo auch die für uns allein erlöſende Expanſtion Rußlands gegen den Oſten und den Süden nach Möglichkeit hemmen. Das heißt aber: Der ruſſiſch⸗deutſche Gegenſatz, der zugleich ein ruſſtſch⸗weſt⸗ europäiſcher iſt, würde durch ſolche Löſung gleichzeitig ver⸗ ſchärft und dazu noch jede, zu feiner dauernden Auf löſung notwendige Solidarität des kontinentalen Europa dauernd möglich gemacht. Alſo würde durch eine ſolche Löſung uns vollſtändig die Möglichkeit genommen, dem zu folgen, was ich unſere und Oſterreichs europäiſche Miſſton gegen den Oſten genannt habe und damit auch den europäiſchen Sinn dieſes gan⸗ zen Krieges. Ja, könnte einem Kriege überhaupt noch irgendein höherer hiſtoriſcher Sinn beigelegt werden, bei deſſen Abſchluß die wahrhaft kriegsgewichtigen Gegenſätze, die zu ihm führten, im Kern ziemlich unvermindert beſtehen blieben, und nur dort der allein entſcheidende Kriegserfolg die Niederwerfung der feindlichen Heeresmacht erzielt würde, wo faktiſch keine kriegsgewichtigen Gegenſütze beſtanden hatten und nur Irrtum und vermeidbare Schuld von Regierungen und Perſonen, wider den beiderſeitigen Gemeinwillen der Völker den Krieg herbei⸗ führten? Einem Kriege, deſſen „gerechte“ Teilkriege nicht

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die rechtsfindende Kraft bewähren können, die wir dem „ge⸗ rechten Kriege“ beilegen mußten, da fie nicht zu endgültigen Entſcheidungen gelangen, und deſſen notoriſch „ungerechter“ Teilkrieg dieſe Kraft ebenſo wenig bewähren kann, weil eben der ganze Krieg ungerecht war? Ich will nicht reden von der furchtbaren (objektiven) Verletzung aller und jeder Idee von Gerechtigkeit, die ſchon darin läge, daß die Ver⸗ führer und voran der Hauptverführer Frankreichs, daß England den Vorteil des Ganzen hätte, ein von einer ſchlechten Regierung verführtes Volk aber den Schaden des Ganzen. Ich will nicht von dieſer furchtbaren Tatſache reden, die das ſittliche Gefühl jedes Ehrlichen in der ganzen Welt und Nachwelt aufs tiefſte verletzen muß. Denn nicht wir ſind wie geſagt dazu da, Vorſehung zu fpielen und ein univer⸗ ſales Richteramt zu üben. Dies iſt Gottes! Aber das iſt unſere Sache, dieſem Kriege diejenige Richtung zu erteilen, die unſerem dauernden deutſchen Heile gemäß iſt und die jenen europäiſchen und kosmopolitiſchen Sinn unſeres ſtaatlichen Handelns wenigſtens nicht direkt ausſchließt, deſſen Vernich⸗ tung wir auf ewige Zeiten als einen Schlag ins Geſicht gegen unſer nationales Weſen und Gewiſſen empfinden müßten. Wie wir für den Fall, daß wir nach Beſeitigung unſerer nationalen Exiſtenzgefahr durch die uns feindlichen Kontinen⸗ talmächte, nicht nur mit dieſen Mächten, ſondern auch gleich⸗ zeitig mit England einen Frieden ſchließen würden dies zu erreichen, ſoll es ſchon jetzt die geſchickte engliſche Diplomatie an keiner Anſtrengung fehlen laſſen gar für unſere unge⸗ heuren Kriegsopfer Entſchädigung von auch nur einiger An⸗ gemeſſenheit finden ſollten, ohne wie geſagt Frankreich dauernd

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für jedes Bündnis mit uns wertlos zu machen, iſt gar nicht auszudenken. Auch unſer Beſitz von Belgien würde uns dann wenig nützen, da ein großer Teil unſerer Erwerbungen darauf gehen müßte, als Kompenſationsobjekt für unſere Kolonial⸗ vberluſte zu dienen. Was Öfterreich in Serbien aber erreicht hat, das würde ſchon bei dem Friedenſchluß mit Rußland kaum ausreichen, um ſeine Verluſte in Galizien zu kompen⸗ ſieren.

Und darum ſage ich: Der Deutſche Krieg hat auch als der „heilige“ Krieg, der er allein gegen Rußland genannt werden kann denn „heilig“ iſt uns der Geiſt der weſteuropäiſchen Kultur nur dann jene höchſte Bedeutung, die er haben kann, die Be⸗ deutung, das erſte Glied notwendiger und fruchtbarer Aktionen Weſteuropas gegen die oſtweſtliche Bewegung zu fein, wenn er reſolut und ohne jede Rück ſicht, ob ſich England ſtellen will oder nicht, gegen England geführt wird; und wenn wir gleich⸗ zeitig nach einem unumgänglichen Friedensſchluß mit Ruß⸗ land, den Rußland ſchon die trotz japaniſcher Unterſtützung ſteigende Begrenztheit feiner Rriegsmittel, die türkiſchen Er⸗ folge und der ſteigende Mangel an geeigneter Führung bald nahe legen dürfte, gegen Frankreich, das mit ſeinem Vertrauen auf Rußlands Stoßkraft für dieſen Fall ſeiner ferneren Bereit⸗ ſchaft zur Fortführung des Krieges wohl beraubt wäre, ſo ver⸗ fahren, daß ein Bündnis mit ihm möglich bleibt; Frankreichs Armee aber, die ſich jetzt mit ſo bewundernswertem Helden⸗ mut ſchlägt, in der weiteren Kette von Kriegen, welche die nach dieſem Krieg noch nicht ausgeglichenen kriegsgewichtigen Gegenſätze eventuell notwendig machen, mit uns und auf unſerer Seite kämpfte.

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Schon jetzt iſt Frankreich mannigfach enttäuſcht über Eng- land; ſchon jetzt iſt es innerlich ſchwankender geworden in ſeinem Vertrauen auf Rußlands Siege, als es zugibt. Das ungleiche Paar der älteren, zum Teil monarchiſtiſchen Natio⸗ naliſten, die niemals voll an Frankreichs moraliſche und mili⸗ täriſche Kriegsbereitſchaft geglaubt haben, und der Syndika⸗ liſten, dazu noch ein erheblicher Teil der Sozialiſten wollen baldigen Frieden und drängen in dieſelbe Richtung! Iſt die Hoffnung Frankreichs auf Rußlands Siege durch Friedens⸗ ausſicht Rußlands mit uns und Hſterreich zerſtört, iſt unſere Übermacht gegen Frankreich auch ohne Vernichtung ſeiner Heeresmacht ſo klar an den Tag gekommen, daß Verhand— lungen uns nicht mehr als Schwäche ausgelegt werden können, dann iſt der Moment gekommen, Frankreich von unſerer Seite her die Hand zu einem Separatfrieden zu bieten: zu einem Frieden deutſcher Großmut und europäiſcher Weisheit, der alten Haß begräbt und die Wunden Europas heilt.

Noch immer (ich füge dieſen Satz am 6. Dezember dem ſchon vor Wochen Geſchriebenen bei) ſind die militäriſchen Operationen noch nicht ſoweit fortgeſchritten, daß über das Wie dieſes Friedensſchluſſes auch nur eine beſtimmte Ver⸗ mutung geäußert werden könnte. Daß ſich (wie wir gemäß den obigen Sätzen ſchon vor Wochen erwarteten) das Haupt⸗ gewicht der Kontinentalkämpfe nach dem öſtlichen Kriegs⸗ ſchauplatz verlegt hat, iſt offenkundig geworden. Ein kon⸗ tinentaler Friedensſchluß dürfte auch darum von beginnenden Verhandlungen mit Rußland ſeinen Ausgang nehmen. Ruß⸗ land beſitzt auch nicht das Maß von Verpflichtung, das Frankreich beſitzt, nur in Gemeinſchaft mit England einen

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Frieden zu ſchließen, wobei außerdem eine Schwächung Eng: lands ſeinen Intereſſen ebenſoſehr entgegenkommen würde, als Englands Intereſſen die möglichſte Schwächung Ruß⸗ lands entgegenkäme. Würde Rußland nach ferneren glück⸗ lichen Operationen unſerer gemeinſamen Heere zu einem für uns würdigen Frieden geneigt ſein, ſo hätte es nicht nur den momen⸗ tanen militäriſchen Zweck Frankreichs gegen uns, der über eine Rußland entlaſtende Fixierung unſerer weſtlichen Teilarmee kaum mehr erheblich hinausgeht, überflüffig gemacht, fondern auch Frankreich in dem ihm traditionell ſo bedeutſamen point d’honneur eine Gelegenheit gegeben, die Schließung eines mit Rußland gemeinſamen Separatfriedens mit uns und Offer: reich England gegenüber triftig zu begründen. Da der Krieg nach Treitſchkes treffenden Worten (vergleiche auch die tief⸗ ſinnigen Ausführungen von Clauſewitz über das Verhältnis von Krieg und Politik) nur erweiterte Politik iſt, ſo darf auch die Politik im Kriege keine Sekunde ausſetzen. Es wird nach abzuwartenden militäriſchen Entſcheidungen von der Ge⸗ ſchicklichkeit zunächſt der deutſch-öſterreichiſchen Verhand⸗ lungen mit Rußland, in zweiter Linie von dem Erfolg des entgegengeſetzt gerichteten Druckes, den ruffifche und eng⸗ liſche Diplomatie auf Frankreich in dieſer Sache dann üben wird, Erhebliches abhängen, ob ein fo gearteter Kontinental- friede erreicht wird oder nicht.

Allem voran aber wird es abhängen von unſerer eigenen moraliſchen Kraft, den Sinn dieſes ganzen Krieges durch ein Nachgeben an die engliſchen Anſtrengungen, an dem Konti⸗ nentalfrieden teilzunehmen, nicht preiszugeben; von unſerer fittlichen Kraft, die Erfüllung der Pflicht zu einem radikalen,

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Europa Freiheit und politifche Autonomie zurückgebenden Kriege gegen England mehr zu lieben als das Glück und die Sicherheit eines baldigen allſeitigen Friedens.

Mit jedem Tage dringender wird die Situation unſere Ent⸗ ſcheidung fordern, ob in der noch zu erwartenden Kriegsperiode Rußland oder England unſer hauptſächlichſter Gegner ſein ſoll. Gleich große Anſtrengungen in beiden Richtungen ſchließt die Okonomie unſerer Kräfte aus.

Und hier gibt es für denjenigen, der uns auch nur der Hauptſache nach bisher gefolgt iſt, nur eine ſinnvolle Ent⸗ ſcheidung: ſie heißt: gegen England und dauere der Krieg auch noch ein oder zwei Jahre!

Sehe ich um mich, ſo gewahre ich innerhalb unſeres Volkes mehr und mehr drei Stimmen ſich immer deutlicher von ein⸗ ander abſondern merkwürdigerweiſe nicht ſo, daß dieſe Stimmen auf politiſche Parteieinheiten klar verteilt werden können. Oft durchſchneiden die Stimmen die Parteien bis hinein in die Sozialdemokratie.

Die erſte Stimme iſt hell, groß und kühn. Sie tönt etwa in der Richtung: wir Deutſche ſind ſtark genug, alle unſere Feinde gleichmäßig zu Paaren zu treiben! An der Erhaltung einer Bündnisfähigkeit mit einem Teile unſerer Feinde braucht uns überhaupt nichts gelegen zu ſein. Wir wollen volle Ent⸗ ſchädigung für unſere Kriegsopfer zunächſt durch die greif- barſten Schuldner Frankreich und Belgien wir wollen Frankreichs dauernde militäriſche Entmächtigung durch Ab⸗ tretung aller militäriſch wichtigen Punkte der Maaslinie; wohl auch weitgehende Annexion Belgiens für das Reich oder für Preußen; wir wollen aber auch reſoluten Kampf gegen

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England, womöglich dauernde Reduzierung feiner Seemacht⸗ ſtellung und Weltgeltung. Kommt der ruſſiſch-deutſche Gegenſatz nicht zur vollen Auflöſung, ſo werden wir wenig⸗ ſtens allein ſtark genug ſein, Rußland in Zukunft zu be⸗ gegnen. Auch die engliſche Einfuhr, der ſo unklare Gedanke des deutſchen „Imperialismus“ miſcht ſich meiſt in dieſe Stimmen hinein. Zuweilen auch der gefährliche „alldeutſche“ Gedanke eines deutſchen Separatfriedens mit Rußland ohne Oſterreich.

Die zweite Stimme iſt jene, die eine ernſte Auseinander⸗ ſetzung mit England nicht will, die alle Laſten dieſes Krieges auf Frankreichs Schultern wälzen will, die offener oder geheimer ſchon jetzt nach einem baldigen Frieden mit Eng⸗ land ſchielt. Die dritte iſt jene, die im allgemeinen auch un⸗ ſere Ausführungen beherrſcht.

Was die erſte dieſer Stimmen betrifft, ſo mag ſie, was unſere militäriſche Stärke, unſere finanzielle und ökonomiſche Fähigkeit zur Weiterführung des Krieges und was die Be⸗ rechtigung unferer Siegeshoffnungen betrifft vielleicht durch⸗ aus im Rechte ſein. Vielleicht! Ich will dies hier nicht unterſuchen. Dennoch mangelt ihr alle jene Weisheit, Vor⸗ ſicht, Gerechtigkeit vor allem aber jene Vorſchau in die Zukunft Europas und auf unſere Aufgaben in ihr, die Bis⸗ marck 1866 fo ſehr ausgezeichnet haben. Was fie will das iſt vielleicht möglich; aber der Erfolg hätte keinerlei Gewähr der Dauer in ſich. Würden wir ſolche größeren Annexionen in Frankreich und Belgien ohne gleichwertige Rekompenſationen vornehmen, weiter eine ſolche ökonomiſche

Ausſaugung der beiden Länder bewirken, wie es in der Kon⸗

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ſequenz dieſer Stimmen läge; dazu noch nach einer eventuellen Beſiegung Englands unſere Hände nach Teilen des engliſchen Weltreiches ausſtrecken, ſo würden wir eine Reaktion in den Staaten der annektierten Landesteile erleben, die ſelbſt dann, wenn wir ſie auf die Dauer niederhalten könnten, wenn wir auch die annektierten Provinzen und Gebiete ohne zu große Reibungen (weit größer als diejenigen, die ſich im Elſaß und in Polen ergaben, würden fie natürlich fein!) verwalten könnten, jede Entfaltung unſerer inneren Kräfte, beſonders unſerer geiſtigen Kräfte vollſtändig ausſchlöſſe; die uns wahr⸗ ſcheinlich von Verfaſſungskonflikt zu Verfaſſungskonflikt treiben müßte, und die auf die Dauer die innere Anarchie Europas die größte Gefahr für feine dauernde Führerſchaft in der Welt anſtatt vermindern oder beilegen, noch ge— waltig ſteigern müßte. Nein! Dieſe Stimme ermangelt nicht nur jener deutſchen Ehrfurcht vor der Größe und Yu: kunftsweite unſerer deutſchen Miſſton, die Augenblickserfolge hinzugeben weiß fie enthält auch eine allzu ſchroffe Leug⸗ nung eben desſelben Nationalprinzips, auf das wir uns zeit unſeres hiſtoriſchen Seins und Wachstums ſelbſt berufen und geſtellt haben, um unſer, unſerem Werte und unſerer Macht entſprechendes Recht in der Welt zu ſuchen. Auch hier müſſen wir uns hüten England nachahmen zu wollen ja ſelbſt noch gegen England ſelbſt.

Damit ſoll nicht im entfernteſten geſagt fein, daß der bel- giſche Staat dieſe künſtliche Schöpfung Frankreichs, Eng⸗ lands, Preußens und Hollands erhalten bleiben ſolle. Diefer Staat hat gerade in feiner Unfähigkeit zu ehrlicher Neu— tralität und in feiner Eonftitutiven Abhängigkeit von England

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und Frankreich dokumentiert, daß ihm jedes tiefere Recht auf ſelbſtändige Exiſtenz gebricht. Aber es läßt ſich eine Ver⸗ teilung des belgiſchen Staatsgebietes gemäß der in ihm vorherrſchenden Nationalitäten an Frankreich (gegen mili⸗ färifch wichtige Kompenſationsobjekte im Südoſten und auf dem afrikaniſchen Kolonialgebiet), an Holland (gegen Ein⸗ tritt Hollands in die längſt ökonomiſch geforderte deutſche Zoll⸗ und Wirtſchaftsgemeinſchaft), an Luxemburg und nur bezüglich einiger maritim und militäriſch wichtiger Punkte an Deutſchland denken, die ſehr wohl geeignet wäre, künf⸗ tige Reibungen zu verringern. Es läßt ſich für den Fall, daß Holland aus Angſt, ſeine Selbſtändigkeit zu verlieren, diefen Eintritt in eine engere Zollberbindung mit Deutſch⸗ land ablehnt, auch an eine Annexion des öſtlichen Teiles Belgiens einſchließlich Antwerpens und der militäriſch wich⸗ tigſten Punkte Belgiens denken, mit gleichzeitiger Abtre⸗ tung der walloniſchen Provinzen an Frankreich und Luxem⸗ burg natürlich das letztere für gleichwertige Rekompenſa⸗ tionen militäriſchen Wertes und ſolcher kolonialer Gebiete, die wir für die Abrundung unſeres afrikaniſchen Befisftandes nötig haben. Erfolgte dieſe Annexion für Preußen, ſo müßten Baden und Bayern natürliche beſtimmte Uquivalente er⸗ halten.

Die zweite nach Zahl kleinere, nach Geltung der Per⸗ ſonen weit mächtigere Stimme aber iſt es, der meinerſeits der ſchärfſte, entſchiedenſte Kampf und Proteſt zu gelten hat. Und dies um ſo mehr, als merkwürdigerweiſe gerade ein heftig zum Ausdruck gelangender Haß gegen Perſonen der engliſchen Politik, auch gegen Inſtitutionen, die man für wandelbar

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hält (Zuſammenſetzung des Unterhauſes und fein ſtaatsrecht⸗ liches und faktiſches Verhältnis zum Oberhaus), als endlich gerade die für England ſcheinbar fo herabwürdigende An: ſchauung, England führe einen puren Handels⸗ und „Penny“ krieg und dies nicht einmal aus wahrer Einſicht in ſeine faktiſchen ökonomiſchen Intereſſen und die faktiſchen weltöko⸗ nomiſchen Zuſammenhänge, ſondern eigentlich nur aus un⸗ fruchtbarem „Neid“ und mangelhafter nationalökonomiſcher Bildung, als gerade dieſe ſcheinbar ſo ſchroffen Haltungen gegen England und das dabei aufgewandte Moralpathos, die wahre Richtung dieſer England im Grunde freundlichen Stimme ſo klug zu verbergen und zu verſchleiern weiß. Denn: find es nur Perſonen, man kann fie beim Frie⸗ densſchluß entlaſſen. Iſt es nur die Tatſache, daß die gegen⸗ wärtige Verfaſſung dem Unterhaus nicht die Möglichkeit gibt, den engliſchen Gemeinwillen auszudrücken man kann die Verfaſſung ändern. Führt England einen Handelskrieg wider ſein wahres ökonomiſches Intereſſe, die Erfahrungen im Kriege ſelbſt werden ſeine mangelhafte Nationalökonomie korrigieren und unſere deutſchen Leuchten der nationalökono⸗ miſchen Wiſſenſchaft können vielleicht Englands heilloſe Un⸗ wiſſenheit, Rechenfehler und ſyllogiſtiſche Fehler ausbeſſern. Hinter all dieſen, ſich meiſt ſo moralpathetiſch gebenden Reden man ſehe ſich darauf hin z. B. die „Internationale Monats⸗ ſchrift ! an ſehe ich nur eines ſtehen: die alte Englandfreund⸗ ſchaft, den geheimen Willen zu baldigem Frieden mit England ohne Austragung der wahren Gegenſätze; ich ſehe genau die: ſelben Kräfte wirkſam, die zur Entſpannungskomödie getrieben haben“; ich ſehe eine giftige Tradition, deren Vertreter zum

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Teil ſich jetzt nicht gerne felbft ,desavouieren“ wollen, d. h. in nichtamtlicher Form geredet, nichts Echtes in der lebendigen Tat der Geſchichte lernen wollen, ihr gefährliches Weſen weiter⸗ treiben. All das iſt ja nicht wahr, nicht wirklich, wie ich zeigte. Wedder iſt der engliſche Krieg gegen uns ein purer Handelskrieg, noch iſt es wahr, daß ein erfolgreicher engliſcher Krieg gegen uns nicht als Folge (d. h. alſo nicht, als Motio, wie der Ausdruck „Handelskrieg“ nahelegt) auch demengliſchen Handel noch einen ungeheuren Nutzen und noch weitere Ausbreitung brächte. Der engliſche Krieg geht vielmehr auf die Erhaltung feiner Allgel⸗ tung zur See, auf die England ein ewiges Recht zu haben glaubt, jener ſeiner Seehegemonie, die alle Ausbildung des Seerechts bisher in jeder dem Landrecht würdigen Entfaltung hemmte eines Anſpruches, der uns auf die Dauer abſolut unerträglich ſein muß, eines Anſpruchs, der nicht nur unſeren ſondern jeden Kolonialbeſitz anderer europäiſcher Völker dauernd gefährdet und jede ſinnvolle und gerechte Aufteilung der Erdkugel, ent⸗ ſprechend dem inneren Wert der durch ſie zur Vertretung kom⸗ menden Nationalkulturen dauernd hemmen muß; die aber, was den Handel betrifft zugleich jede Geltung der Ware nach ihrem inneren Werte der Brauchbarkeit und Qualität im Welt⸗ handel unmöglich macht und trotzdem die engliſche Ware nachweislich ſo bedeutend an Wert verloren hat (ſchon durch die mangelnde Anpaſſungsfähigkeit der Engländer an fremde Bedürfniſſe) ſie dauernd über ihren Wert hinaus monopoli⸗

ſieren will. Über den Unſinn, nur Perſonen anzuklagen und

den Krieg als gegen den engliſchen Gemeinwillen darzuſtellen,

wurde ſchon geſprochen. Ziel dieſes Krieges muß alſo ſein nicht „Zerſtörung des

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engliſchen Weltreiches“, nicht deutſcher,, Imperialismus“ ſtatt engliſchen aber endgültige Zerſtörung jenes Anſpruchs Eng⸗ lands auf ſeine Allgeltung zur See und des ihr entſprechenden Preſtiges in der Welt. Alles weitere überlaſſe man der Ent⸗ wicklung der Dinge ſelbſt in den Kolonien, überlaſſe man dem deutſchen Fleiße und deutſcher Tüchtigkeit im friedlichen Kon⸗ kurrenzkampf des deutſchen und engliſchen Handels!

Auch hier alſo hat unſer Krieg zwar keinen kosmopoliti⸗ ſchen Zweck, aber einen europäiſchen und hierdurch vermittelt, kosmopolitiſchen Sinn: denn nicht nur uns, alle europäiſchen Nationen drückt dieſer (man denke allein nur an Italien!), der Wirklichkeit nicht mehr angepaßte engliſche Anſpruch bis zur Beengung des nationalen Atems. Alle können von ihm durch unſere Tat mit erlöſt werden!

Könnte dieſes Ziel aber nicht erreicht werden in dieſem Kriege, nicht aus mangelndem Wollen, ſondern weil es uns nicht ge⸗ länge, England zur Stellung ſeiner Schlachtflotte zu vermögen nicht auch gelänge, ihm noch ein wenig näher zu kommen, als dies die Mehrheit der Stimmen für möglich zu halten geneigt iſt, ſo bleibe man ſich dann wenigſtens eingedenk, daß noch fernere kriegeriſche Auseinanderſetzungen mit England notwen⸗ dig folgen werden, folgen müſſen. Man vermeide alſo auf alle Fälle innerlich unwahre Bündisbeſtrebungen mit England und jene einſeitige Belaſtung Frankreichs, die unſere England— verehrer wünſchen! Denn dann brauchen wir Frankreich in Zukunft in Kürze erſt recht gegen England und ſei es nur als echt neutrale Macht, alſo nicht nur gegen Rußland.

Sehe ich auf den Ausgangspunkt der zweiten Stimme, ſo

finde ich Kreiſe, buntſcheckig verſchieden genug! Ich ſehe 349

hohe Finanz⸗ und Induſtrieleute unſeres Nordens, die mit England mehr Geſchäfte machen als mit Frankreich und deren ökonomiſcher Einfluß ſich mit der Dauer des Krieges begreiflich leicht ſteigern kann. Ich ſehe den Geiſt eines Teiles unſerer Reichsämter und anderer höherer Beamten⸗ ſchaft und Diplomatie, welche die Konſequenz einer politiſchen Tradition zwingt, ſich nicht allzu ſehr zu „desavouieren“. Ich ſehe auch ſolche, außer Amtes und im Amte, die bei einer ernſten Wendung der Dinge in der Richtung unſerer Hoffnungen, auch ſchwere politiſche Abrechnungen mit Handlungen und Unterlaſſungen nach dem Kriege gewär⸗ tigen müſſen, die unſerer Englandpartei in Zeiten mehrmals zur Laſt fallen ſollen „ſollen“ ſage ich, denn Archivali⸗ ſches iſt uns nicht bekannt zu denen uns Frankreich die Hand zum Bündnis ernſthaft entgegengeſtreckt haben foll. Auf Details in dieſer Richtung einzugehen iſt jetzt nicht der Zeitpunkt. Ich ſehe weiter das „engliſch⸗deutſche Stammes⸗ gefühl“, die „evangeliſche Solidarität“, die „engliſch⸗deutſche Kulturgemeinſchaft“, von deren innerer Unechtheit und Un⸗ fruchtbarkeit ſchon vorher die Rede war die ſich außer dem alle Süddeutſchen, Südweſtdeutſchen, Oſterreicher, desgleichen alle deutſchen Katholiken und Juden als politiſche Motive in dieſem Kriege ganz ernſtlich und energiſch verbitten dürfen.

Alle diejenigen, die meinen Ausführungen gefolgt ſind, mögen ermeſſen, ein wie großes Mißtrauen man dieſer Gruppe ſchuldet, nicht natürlich ihrem guten deutſchen Willen, der für mich nicht in Frage kommt, und den ich auf allen Seiten über allen Preis erhaben vorausſetze, wohl aber ſchärfſtes Mißtrauen ihrer mangelnden politiſchen Bildung,

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ſchärfſtes Mißtrauen der Kraft der ihr Denken unbewußt leitenden Intereſſen, ſchärfſtes Mißtrauen ihren Engen und Vorurteilen und ihrem Mangel an politiſcher Fernſicht! Aber noch weit ſtärker in dieſer Richtung wirkt das Ganze der im erſten Teile und durch dieſe ganze Schrift hindurch gekennzeichnete Tatſache, daß ein ſo unverhältnis⸗ mäßig großer Teil unſerer deutſchen Wiſſenſchaft, Bildung und zumal ethiſcher und politiſch⸗ökonomiſcher Bildung in den Kategorien, in den Strukturformen des engliſchen Den⸗ keus denkt. In den „Kategorien engliſchen Denkens denken“ das heißt nicht etwa unkritiſch das für „wahr“ halten, was Engländer behauptet haben; es heißt auch nicht engliſche In⸗ halte und Probleme als Gegenſtände des Denkens bevorzugen; am wenigſten heißt es zu „Gunſten Englands denken“. Man kann England ehrlich „haſſen“ und doch dabei ganz „eng⸗ liſch denken“. Man kann über Inhalte denken, an die noch kein einziger Engländer gedacht und geſchrieben hat und doch in engliſchen Kategorien und Denkregeln dieſe Inhalte formen und gliedern. Man könnte auch prinzipiell alle Sätze und Behauptungen aller Engländer für falſch halten und ſie nach beliebig ſcharfer Kritik durch andere erſetzen: man könnte dabei doch das tun, was ich in „engliſchen Kategorien denken“ nannte. Aber man könnte auch alle dieſe Behaup⸗ tungen für wahr halten ohne doch engliſch zu denken. Wohl aber gilt, daß jeder, der in englifchen Kategorien denkt ſei es als Darwiniſt, als Freihändler aus Prinzip (nicht als Frei⸗ händler im Sinne eines freiwilligen pofitiven Sichenthaltens des Staates, in die wirtſchaftlichen Beziehungen einer beſtimmten hiſtoriſchen Situation einzugreifen), ſei es als Vertreter ökono⸗

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miſcher Geſchichtsauffaſſung, ſei es als engliſcher Pazifiziſt oder ethiſcher Utilitarier daß jeder, der in dieſem Sinne „engliſch denkt“, ohne davon die mindeſte Ahnung haben zu müſſen, auch ohne Ahnung vielleicht von der hiſtoriſchen Herkunft ſeiner Gedankenformen, im objektiven Sinne „für“ Eng⸗ land denkt, für fein dauerndes Gefamtintereffe!° Denn die „Struktur“ eines nationalen Denkens entſpricht eben den ſpezifiziſchen Exiſtenzbedingungen dieſer Nation, dazu hier nachweisbar vieles den Exiſtenzbedingungen eines möglichen Inſelſtaates überhaupt. Wie groß allein aber die Abhängig⸗ keit unſeres politiſchen Liberalismus und gerade in ſeinen for⸗ malen politiſch⸗ökonomiſchen Kategorien von Englands Denk⸗ ſtruktur iſt, das iſt gar nicht zu ſagen und wurde noch durch keine hiſtoriſche Unterſuchung ernſthaft ausgemeſſen. Je größer ſolche Abhängigkeit, ſagt ein Geſetz der Seele, deſto geringer das Wiſſen um fie! Der Suggerierte meint ſtets im Gegenſatz zum Gehorchenden ſelbſt aus ſich heraus zu wollen, ſelbſt zu denken, was ihm faktiſch jener ſuggeriert. Wie groß aber die Abhängigkeit unſeres heutigen deutſchen Denkens, z. B. auch unferer „Imperialiſten“ das Wort iſt engliſch, ja unferer Alldeutſchen, aber auch ihres Gegenteiles, z. B. der Mehrzahl unſerer ſozialiſtiſchen Theoretiker, von den Kategorien des engliſchen Denkens iſt, das wird uns allen erſt klar wer⸗ den, wenn wir uns einmal von ihm ernſthaft losgelöſt haben werden. Meint man denn etwa, das deutſche 18. Jahr⸗ hundert hätte gewußt, auch nur geahnt, wie tief es fran⸗ zöfifiert war? Das ſah Deutſchland erſt von der Warte einer originären deutſchen Nationalliteratur, von der Warte Leſſings, Goethes und Schillers uſw. aus. Der Krieg helfe

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uns, das Analoge hinſichtlich Englands langſam ſehen zu lernen!?“

Ich kehre zurück zu meinen beiden Geſichten. Hier das erſte Geſicht das furchtbare Geſicht, das von den drei Reichen: Mongolenreich, Ruſſenreich, Amerika! Es rückt mir näher und näher, wenn ich denke, die Stimme der Englandfreumde möchte ſiegen. Aber es entfernt ſich wieder es flieht wie die Schatten eines ſchweren Traumes, es nähert ſich das zweite Geſicht, das Geſicht eines ſolidariſchen Kontinentaleuropa unter Deutſchlands militäriſcher Führung gegen den Oſten, eines Europa, das die geiſtige Führung der Welt dauernd behält und die edlen, denkwürdigen Traditionen der alten Mittelmeerkultur weiterführend, eine neue und größere Kultur des germaniſchen und romaniſchen Geiſtes ſchafft: militäriſch gegründet auf ein machtvolles Deutſchland⸗ Oſterreich und auf die ſinnvolle und fo notwendige Ergänzung des germaniſchen und romaniſchen Weſens und Geiſtes!

Es iſt wahr: es iſt paradox, ſelbſt während eines Krieges mit England noch „Los von England“ rufen zu müſſen. Aber vielleicht iſt es notwendiger, als man glaubt!

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* Diefe Vorſtellung H. Spencers und anderer feßf die Wahrheit der mechaniſtiſchen Biologie voraus. Ich wies ſie mit eingehender Begründung zurück in meiner Arbeit „Das Reſſentiment im Aufbau der Moralen“; ſ. „Geſammelte Aufſätze“, Leipzig 1914. Abſchnitt „Drgan und Werkzeug“. Werkzeug wie Waffe ſind einerſeits Folgen ſtagnierender Entfaltungsfähigkeit des organiſchen Lebens, andererſeits nachträgliche Nutzbarmachung von Werken einer frei⸗ſpontanen ge befäfigung. S. auch den Aufſatz: „Zur Idee des Menſchen“. „Geſ. Aufſätze“.

2 Daß der Begriff „Menſch“ (im Gegenſatz zum Begriff „Ter⸗) erſt als „Träger“ einer ſchon definierten „Vernunft“ ſelbſt als Einheit abgrenzbar wird, iſt eingehend gezeigt in dem Aufſatz „Zur Idee des Menſchen“. S. Geſ. Aufſätze.

3 Die Scheidung von Intereſſen⸗ und Zweckgeſellſchaften und Liebes⸗ gemeinſchaften iſt eingehend philoſophiſch begründet in meinem Buche „Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Haß“, Halle 1913. Hier iſt gezeigt, daß weder das Mit⸗ gefühl noch die Liebe genetiſch auf irgendeine Form der Intereſſen⸗ ſolidarität zurückgeführt werden kann ſo wie es Bain, Darwin, Spencer u. a. verſucht haben (S. 81 ff.). Im ſelben Buche findet ſich auch die genaue Beſtimmung des Liebesbegriffs ſelbſt und der Verſuch einer Weſens⸗ und Wertbeſtimmung der „Heimatliebe“, „Vaterlandsliebe“, „Liebe zum Staat“ im Verhältnis zur „Liebe zur Menſchheit“. Für ein letztes Verſtändnis des hier Geſagten iſt das dort Erwieſene Vorausſetzung.

Über das Fundament des Machtbegriffs im Erlebnis des Könnens (Wollen⸗Könnens, Tun⸗Könnens) und über die Unzurückführbarkeit des Könnenserlebniſſes auf die Willensdispoſition ſiehe meine eingehen⸗ den Unterſuchungen im „Jahrbuch für Philoſophie und phänomeno⸗ logiſche Forſchung“, I. Bd., Teil II, S. 528 u. II. Bd., Abſchn. „Können und Sollen“.

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s Treffend findet ſich dieſer Weſensunterſchied der tieriſchen Daſeins⸗ kämpfe und der menſchlichen bloßen Konkurrenzkämpfe hervorgehoben in dem Buche Lloyd Morgans „Inſtinkt und Gewohnheit“. Teubner 1909.

6 So erſcheint für H. Spencers Ethik, Soziologie und Geſchichts⸗ lehre der Krieg und die Schätzung kriegeriſcher Tugenden nur als ein „Atavismus“ in der Entwickelung des ſozialen Lebens in die Richtung des „ſozialen Gleichgewichts“, einer vollkommenen Solidarität der Intereſſen aller, bei deren Erſcheinen die Ideen des „Sollens“, der „Pflicht“, der „Liebe“, des „Opfers“, weil „überflüſſig“ geworden, ab⸗ ſterben werden.

7 Vgl. hierzu die von mir entwickelte Lehre vom Weſen und Ur⸗ ſprung des Willens und der Willens motivation im „Jahrbuch für Philoſophie und phänomenolog. Forſchung“, I. Bd., Teil II, S. 513 ff. ſowie meine Kritik der Lehre, die Zivilifationg- und Kulturbildung auf die ſog. „Bedürfnisbefriedigung“ zurückführt im II. Bd. des Jahrbuchs. Vielfach Zuſtimmendes und Ergänzendes auch bei P. Meſſer, „Pſycho⸗ logie“, 1914, S. 310 ff.

8 Die auf mechaniſche Reflexe oder ſog. Tropismen unzurückführ⸗ baren „Probierbewegungen“ finden wir nach Jennings („Das Ver⸗ halten der niederen Organismen“, Teubner 1910) ſchon auf den aller⸗ elementarſten Stufen des Lebens, z. B. bei Paramaecium.

9 Vgl. meine Grundlegung der Ethik im obigen Jahrbuch, Bd. II.

10 Alle dieſe Theorien ſind engliſcher Herkunft. Die Arbeitstheorie des Eigentums ſtammt von John Locke. Siehe meine Kritik und pſychologiſche Herkunftslehre derſelben im Aufſatz „Das Reſſentiment im Aufbau der Moralen“, IV. „Geſ. Aufſätze“.

rr Wie das Folgende zeigt, find wir weit entfernt, dieſem ſtarken, leidenſchaftlichen, aber in vieler Hinſicht auch engen Menſchen in allem zu folgen, was Staat und Krieg betrifft. Aber der Ruhm gebührt ihm, den Krieg wieder als das gelehrt zu haben, als was ihn ſchon Schiller bezeichnet, mit den Worten des Chores in der Braut von Meſſina: „Aber der Krieg auch hat ſeine Ehre der Beweger des Menſchengeſchicks.“ |

2 Die Idee der Rechtsordnung und auch die Idee des Vertrages fordert indes nicht wie Treitſchke annimmt die Vorausſetzung einer ſie ev. erzwingenden Autorität und Herrſchgewalt; ja dieſe Idee iſt

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felbft von der Exiſtenz des Menſchen unabhängig. ©. A. Reinachs eingehende Klarſtellung der Idee von „Verſprechen“ und „Vertrag“ in ſeiner Arbeit: „Die aprioriſchen Grundlagen des bürgerlichen Rechts“, „Jahrbuch f. Phil. u. phän. Forſchung“, I. Bd. Teil II, S. 726 ff.

1 Vgl. meine Analyſe von W. Diltheys Geſchichtstheorie im Auf: ſatz „Verſuche einer Philoſophie des Lebens“ in „Geſammelte Aufſätze“.

4 Vgl. das Kapitel über den „gerechten“ und „ungerechten“ Krieg.

5 Dieſer lautet: „Die bürgerliche Verfaſſung in jedem Staate ſoll republikaniſch fein“. Da Kant die Vertragstheorie des Staaten⸗ urſprunges (nicht hiſtoriſch genetiſch, aber dem Weſen und Sinn des „Staates“ nach) vorausſetzt, hält er fälſchlich dieſe Verfaſſung für die einzige“, die aus dem „reinen Quell des Rechtsbegriffes entſprungen iſt.“

16 Eine vorzügliche Schilderung des Weſens dieſer Kabinettskriege im Unterſchiede vom modernen abſoluten Volkskrieg wie überhaupt der hiſtoriſchen Stufen der Kriegsformen gibt Clauſewitz in ſeinem herrlichen Buche „Vom Kriege“.

7 In welchem äußerſten Gegenſatze indes Kant zu jenem Pazifizis⸗ mus ſteht, der engliſcher Herkunft den Krieg wegen der durch ihn ſtattfindenden Opfer an allgemeiner Wohlfahrt verwirft, möge die folgende Stelle bezeugen: „Der Krieg, wenn er mit Ordnung und Heiligachtung der bürgerlichen Rechte geführt wird, hat etwas Er⸗ habenes an ſich und macht zugleich die Denkungsart des Volkes, welche ihn auf dieſe Art führt, nur um deſto erhabener, je mehreren Gefahren es ausgeſetzt war und ſich mutig darunter hat behaupten können: da hingegen ein langer Friede den bloßen Handlungsgeiſt, mit ihm aber den niedrigen Eigennutz, Feigheit und Weichlichkeit herrſchend zu machen und die Denkungsart des Volkes zu erniedrigen pflegt.“

18 Die falſche philoſophiſch letzte Wurzel aller Art von „Vertrags⸗ theorien“ des Staates und analoger Konventionstheorien für Sprache, Gemütsausdruck, Moral uſw. habe ich in meinem „Anhang“ zum Buche über die Sympathiegefühle in der falſchen Lehre vom Grund des Wiſſens von der Exiſtenz fremder Perſonen, die dieſes „Wiſſen“ auf Analogieſchluß oder Nachahmung und Einfühlung zurückführt, ein⸗ gehend aufgewieſen. Faktiſch wird das fremde Icherleben im Ausdrucks⸗ phänomen in genau demſelben Sinne urſprünglich „wahrgenommen“ wie in ſeiner Erſcheinung das Körperding.

9 Mit dieſer ſtreng deduktiven Theorie des Freihandels aus letzten

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Prinzipien der menfchlichen Natur verwechſle man nicht einen Frei⸗ handelsſtandpunkt auf Grund ganz beſtimmter hiſtoriſcher Situationen eines Staates, der natürlich ganz berechtigt ſein kann. Hätte Smith geſagt, daß es für eine Inſel, die ſich nicht ernähren kann, richtig ift, das Prinzip des Freihandels zu vertreten ſolange nicht beſondere pofifive Gründe dagegen ſprechen, fo hätte er recht gehabt. Aber er verwechſelt den Bewohner Englands mit dem „Menſchen“ und eben darin beſteht der cant ſeiner Theorie.

20 Die Spencerſche Lehre vom Ideal des „ſozialen Gleichgewichts“ überhaupt iſt nur eine Univerſaliſierung dieſes engliſchen politiſchen Grundprinzips vom „politiſchen Gleichgewicht“.

22 Hier wie in allem Folgenden ſetze ich diejenige, an ſich gültige Rangordnung der Werte voraus, die ich in meiner Grundlegung der Wertlehre und Ethik ſtreng entwickelt habe. S. „Jahrbuch f. Phil. und phän. Forſchung“, Bd. I u. II. Ganz kurz und ohne ſtrenge Beweis⸗ führung f. auch meinen Artikel, Ethik“ in „Jahrbüchern der Philoſophie“, hrsg. von Friſcheiſen-Köhler, I. Jahrgang, Berlin 1913.

22 Vgl. den Anhang über das Ethos der Engländer und den cant.

23 Vgl. den Abſchluß dieſes Buches über die Angliſierung des deut⸗ ſchen Geiſtes.

4 Vgl. meine eingehende Unterſuchung des Begriffes „Umwelt“ im „Jahrbuch für Phil. u. phän. Forſchung“, S. 543 ff., desgl. den Aufſatz „Verſuche einer Philoſophie des Lebens“ in „Gef. Aufſätze“. Vgl. auch die treffenden kritiſchen Sätze bei Uxküll in feinem Buche „Bauſteine zu einer biologiſchen Weltanſchauung“ und „Innenwelt und Umwelt der Tiere“, desgl. H. Drieſch, „Die Philoſophie des Orga⸗ niſchen“.

25 Der „Inſtinkt“ iſt alſo von Gewohnheit oder etwa vererbten Mechanismen, die das Ergebnis von Erwerbung und Übung gewiſſer Handlungsarten der Ahnen wären, im Prinzip unabhängig. Wie ab⸗ ſurd es iſt, das Mitgefühl mit Darwin und Spencer aus „ſozialen In⸗ ſtinkten“ abzuleiten, habe ich in meinem Buche über „Sympathiegefühle“ eingehend gezeigt.

26 S. G. von Bunge: „Lehrbuch der Phyſiologie des Menſchen“, I. Bd. 1. Vortrag. Vgl. auch das viele Treffende bei W. Stern, „Perſon und Sache“, Leipzig.

Siehe hierzu die lehrreichen Ausführungen von Otto Ribbert in

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jeinem Buche „Das Weſen der Krankheit“ über den „Wachstums: reiz! und die diesbezügliche Lehre Virchows.

28 S. das Treffende bei Ürküll, „Innenwelt und Umwelt der Tiere“ und W. Stern, „Perſon und Sache“.

29 S. L. Hartmanns Hinweis auf die Forſchungen des Geographen E. Hanslick, der in einer Arbeit über „Kulturgeographie der deutſch— ſlawiſchen Sprachgrenze“ nachweiſen will, daß die Geſchichte Europas nur gegebene Naturgrenzen herausarbeite; desgl. auf Wettſteins Beobachtungen, der an den Pflanzenarten zu ſehen meinte, ob er ſich in einer deutſchen oder tſchechiſchen Gegend befände. S. „Die Nation als politiſcher Faktor“, „Verh. des Zweiten Deutſchen Soziologen— tages“, Tübingen 1913.

30 Vgl. hierzu meinen Artikel „Ethik“ in den „Jahrbüchern der Philo— ſophie“, hrsg. von Friſcheiſen-Köhler, Berlin 1914.

1 Vgl. hierzu meinen Aufſatz „Das Reſſentiment im Aufbau der Moralen“, „Geſ. Aufſätze“.

32 S. Galileis „Discorſi“, wo er feine Erörterungen mit einem Ge- ſpräch über die Bruchfeſtigkeit von Balken beginnt. Vgl. E. Machs „Geſchichte der Mechanik“.

33 Vgl. das vorletzte Kapitel: „Der gute Europäer und die Soli⸗ darität Europas“.

Siehe das Kapitel „Über den gerechten und ungerechten Krieg“.

35 Aus dieſem Grunde glaubt daher ſchon Darwin felbft den Krieg biologiſch verurteilen zu müſſen. S. „Abſtammung des Menſchen“.

36 Vgl. das vorletzte Kapitel

37 Die nachfolgenden Ausführungen ſetzen jene abſolute Ethik vor⸗ aus, die ihre Grundlage in einer evidenten Rangordnung und ſtreng einſichtigen Geſetzen des Vorziehens von Werten hat. Ich habe ſie im „Jahrbuche f. Philoſophie und phänomenologiſche Forſchung“, Bd. I, Teil II, S. 488—513, zu entwickeln verſucht.

38 Siehe meine Weſenscharakteriſtik der „reinen Perſontypen“, des Heiligen, des Genius, des Helden, des führenden Geiſtes, des Künſtlers des Genuſſes, deren Wertrangordnung eine abſteigende iſt, in Bd. II obigen Jahrbuchs, Schlußteil.

39 Dies ſehen zumeiſt nur die bloßen Hiſtoriker der „Helden“ nicht ein. Die echten „Helden“ ſelbſt haben es ſtets eingeſehen. „Der Name des Ariſtoteles wird öfter in den Schulen genannt als der des Alexander.

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Man lieſt den Cicero und wiederholt die Lektüre desſelben öfter als die der Kommentare Cäſars. Die guten Schriftſteller des letzten Jahr⸗ hunderts haben das Jahrhundert Ludwigs XIV. berühmter gemacht als die Siege des Eroberers. Die Namen Fra-Paolo, Kardinal Bembo, Taſſo, Arioſt haben den Vorzug vor denen Karls V. und Leos X., ſo ſehr der letztere auch behauptete Vize⸗Gott zu fein. Man ſpricht hun⸗ dertmal von Vergil, Horaz, Ovid, gegenüber einmal von Auguſtus, und noch dazu geſchieht dies ſelten zu ſeinem Ruhm. Handelt es ſich um England, ſo iſt man neugieriger auf Anekdoten, welche von Män⸗ nern wie Newton, Locke, Shaftesbury, Milton, Bolingbroke handeln, als auf ſolche von dem weichlichen und genußſüchtigen Hofe Karls II., von dem feigen Aberglauben Jakobs II. und alle den elenden Intriguen, welche die Regierung der Königin Anna beunruhigten; demnach wird, wenn Lehrer des menſchlichen Geſchlechtes wie Sie nach Ruhm trachten, Ihre Erwartung erfüllt, während wir in unſeren Hoffnungen uns oft getäuſcht ſehen, weil wir nur für unſere Zeitgenoſſen, Sie aber für alle Zeitalter arbeiten.“ (Friedrich der Große an Voltaire 3. Jan. 1773.)

40 Dies etwa iſt die Grundeinſtellung W. Oſtwalds.

+: Eine gute Schilderung dieſer Zeit gab Richard M. Meyer in feiner „Literaturgeſchichte des 19. Jahrhunderts“.

4 Vorzüglich ſchildert Rudolf Eucken in ſeiner Schrift „Die welt⸗ geſchichtliche Bedeutung des deutſchen Geiſtes“ (ſ. 8. Heft der „Poli⸗ tiſchen Flugſchriften“, hrsg. von E. Jäckh), die Tatſachengruppen, welche zeigen, daß der deutſche Geiſt durch feine politiſch⸗realiſtiſche Wendung ſeit den Zoer Jahren des 19. Jahrhunderts durchaus nicht von ſeinem Weſen abgefallen iſt; wie unſere Feinde behaupten. Wir haben nur „eine Seite des Gegenſatzes, den wir von Hauſe aus in uns trugen, wieder neu belebt.“

43 S. J. G. Fichtes Aufſatz über den „Principe des Macchivelli“.

S. R. Roethes Göttinger Rektoratsrede über das Deutſche Publi⸗ kum.

45 Wie dieſe Spannungsbildung ſchon mit dem Deutſchen Zollverein begann und die Phaſen ihrer allmählichen Steigerung ſchildert ein⸗ gehend Adolf Wagner in ſeiner Schrift: „Gegen England“, Berlin 1914.

46 Ich rede vom Kapitalismus nicht vom Induſtrialismus. Jener iſt ein beſtimmter Geiſt (f. meinen Aufſatz über den „Bourgeois“ in „Geſ. Aufſ.“), dieſer eine Betriebsform. Induſtrialismus ift eine

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Betriebsform, der gerade der deutſche Geiſt durch feinen Ordnungs— ſinn, durch ſeine Pünktlichkeit, ſeine Präziſion und ſeine einzigartige Organiſationskraft Kräfte, die ſamt und ſonders zuerſt an der deutſchen Heeresorganiſation gebildet und geübt wurden, ganz hervor: ragend angepaßt iſt.

47 S. meinen Aufſatz: „Die Zukunft des Kapitalismus“ in „Gef. Aufſätze“.

48 Eine eingehende Analyſe des Begriffes „Mord“ und des Be— griffes „Perſon“ findet ſich in meiner Grundlegung der Ethik im „Jahrbuch für Philoſophie und phän. Forſchung“, Bd. II.

49 Vgl. meine eingehende Charakteriſtik der chriſtlichen Liebesidee im Gegenſatz zur (modernen) „allgemeinen Menſchenliebe“ und meine Ausführungen über die pfychologifche und hiſtoriſche Herkunft dieſer letzteren Idee in dem Aufſatz: „Das Reſſentiment im Aufbau der Moralen“. Vgl. jetzt auch die hoch über die herkömmliche falſche Ber: miſchung beider Ideen auch bei dem Hauptteil unſerer Theologie hinausgehenden Ausführungen von E. Troeltſch, „Die Soziallehren der chriſtlichen Kirchen und Gruppen“, I. Bd., S. 134ff.

Vgl. die Stellungnahme des Thomas von Aquino, „de bello“ in „Summa Theologiae“, 2. 29. 40 a. Der thomiſtiſche Begriff eines „bellum punitionis“, den Kant mit Recht verwirft, dürfte unhaltbar fein. Vgl. übrigens: M. Reichmann: „Der hl. Thomas und der Krieg“ in Stimmen der Zeit (Maria Laach), Oktober 1914. S. Luthers Schrift: „Db Kriegsleute auch im ſeligen Stand ſein können“, 1526. Calvins Lehre vom Krieg iſt auseinandergeſetzt in „Institutiones“ IV. 20., 11 u. 12. Wie ſich im ſpäteren angelſächſiſchen Calvinismus allmählich das pazifiziſtiſche Prinzip durchringt, dazu vgl. E. Troeltſch: „Die Soziallehren der chriſtlichen Kirchen und Gruppen“, II. Hälfte, S. 728. Desgl. über die pazifiziſtiſchen Sekten S. 807, 814, 910, 914.

5: S. über dieſe falſche pſychologiſche Auffaſſung der Liebe als „ein Gefühl, das zum Wohltun disponiert“ oder als „Wohlwollen“ meine Analyſen in dem Buche „Zur Phänomenologie der Sympathie— gefühle“ uſw. und zum diesbezüglichen Gegenſatz der chriſtlichen und der poſitiviſtiſchen Liebesidee meinen Aufſatz: „Das Reſſentiment im Aufbau der Moralen“, „Geſ. Aufſätze“.

52 Vgl. meine Analyſe der Gerechtigkeitsidee in meiner Grundlegung

der Ethik „Jahrbuch f. Philoſophie u. phänom. Forſchung“, II. Bd.

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53 Über das Berhältnis von Liebe und Wert vgl. „Sympathiegefühle “.

54 Man muß natürlich die Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit eines Geſetzes ſelbſt von der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ſeiner Anwen⸗ dung unterſcheiden. Niemals aber geht es an, die Idee der „Gerechtig⸗ keit“ auf bloße Geſetzlichkeit zurückzuführen, auch nicht auf innere, moraliſche, rein formale Geſetzlichkeit des Wollens wie ſie Kant zur Grundlage der Ethik machen will. Vgl. meine eingehende Kritik der Ethik J. Kants im „Jahrbuch f. Philoſophie und phän. Forſchung“, I. Bd. 2.

5s Für die Ethik J. Kants habe ich dieſes eingehend nachgewieſen im „Jahrbuch für Philoſophie und Phänomenologie“, Halle 1913.

56 Über die Irrung, es ſei die höhere Liebe die Liebe zum größeren Kreis vgl. „Sympathiegefühle“, S. 91-95. Über die pſychologiſche Wurzel dieſer Irrung vgl. den Aufſatz über das „Reſſentiment uſw.“

57 Nicht die wahre und ſtrenge Idee der Gerechtigkeit ſelbſt, beruht wie W. Rathenau in feinen Reflexionen ſagt „auf dem Neide“. Wohl aber beruht jene Fälſchung der Gerechtigkeitsidee auf dem Reſſen⸗ timent der Schwachen, welche bei der Forderung gleicher Vorteile und Nachteile unter gleichwertigen Umſtänden die Bedingung der Gleich⸗ wertigkeit der Subjekte fortläßt. Gegen den Geſetzesgedanken, der aus dieſer gefälſchten „Gerechtigkeit“ abgeleitet iſt, gelten dann auch die tiefen Worte Schillers:

„Denn der Menſch verkümmert im Frieden, Müßige Ruh iſt das Grab des Muts.

Das Geſetz iſt der Freund des Schwachen, Alles will es nur eben machen,

Möchte gerne die Welt verflachen,

Aber der Krieg läßt die Kraft erſcheinen, Alles hebt er zum Ungemeinen,

Selbſt dem Feigen erzeugt er den Mut“.

58 Auf die abgrundtiefe Komik, ſich bei den in dieſem Kriege in Frage kommenden Gegenſätzen und der Überzahl der uns feindlichen Staaten, ein „Schiedsgericht“ auch nur vorzuſtellen, hat H. Münſter⸗ berg in einer Rede in Amerika jüngſt treffend hingewieſen.

59 Vgl. die Begründung dieſes Satzes in meiner Grundlegung der thik, „Jahrb. f. Phil. u. phän. Forſchung“, II. Teil, Abſchnitt über den Relativismus.

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2

so Der „echten“, nicht der durch Reſſentiment verdorbenen, wie fie Fr. Nietzſche aufgefaßt hat. Vgl. meine Kritik der Aufſtellungen Nietzſches über die chriſtliche Liebesethik in dem Aufſatz: „Das Reffen: timent im Aufbau der Moralen“, (Geſammelte Auffäge).

6: S. beſ. Walter Rathenau, „Zur Mechanik des Geiſtes“ und „Zur Kritik der Zeit“.

62 S. meine Kritik von Schopenhauers Mitleidslehre und aller jener pantheiſtiſchen Liebeslehren, die im Liebesgefühl eine Erkenntnis der Scheinhaftigkeit der Individualität und der metaphyſiſchen Ein— heit des Seins ſehen wollen, in dem Buche über Sympathiegefühle. Der Buddhismus, der dieſe Auffaſſung der Liebe und des Mitleides teilt, kommt konſequent und im äußerſten Gegenſatze zur chriſtlichen Moral, zum Pazifizismus.

63 Vgl. hierzu den I. Teil meiner Arbeit über „Das Reſſentiment uſw.“

64 „Ich hatte eine ganze Reihe nervenſchwacher Jünglinge im Lauf des letzten Jahres und zur Zeit des Ausbruches des Krieges in Be— handlung: ängſtliche, kleinmütige, zaudernde, willensſchwache Men— ſchenkinder, deren Bewußtſeins⸗ und Gefühlsinhalt nur durch das eigene Ich beſtimmt war und die in Klagen über körperliches und ſeeliſches Weh ſich erſchöpften. Da kam der Krieg. Das Krankhafte fiel wie mit einem Schlage von ihnen ab, ſie meldeten ſich bei der Truppe und was mir noch merkwürdiger erſcheint —, fie haben ſich alle, bis auf eine einzige Ausnahme, bis zum heutigen Tage bewährt, und dieſe einzige Ausnahme iſt nicht ſeeliſch, ſondern körperlich zuſammen— gebrochen. Alſo ſelbſt bei dieſen angekränkelten Naturen hat der große Reiniger ‚Krieg‘ fein Werk getan.“ (Prof. D. Binswanger: „Die ſeeliſchen Wirkungen des Krieges“, Der Deutſche Krieg, 12. Heft.)

6s Nur zum kleinſten Teil waren umgekehrt die „Illuſionen“ Ur: ſachen des Haſſes.

66 Siehe hierzu die in dieſer Richtung intereſſante Gedichteſamm⸗ lung: „Das Neue Pathos“, und Franz Werfels Gedichte.

7 Von größtem Intereſſe find hier die Schriften des edlen, jüngft gefallenen Franzoſen Charles Péguy.

8 Ein Beiſpiel für ſolche mangelnde moraliſche Aſſimilationskraft und höhere Verwaltungskunſt geben die ſeekühnen Phöniker und Kar⸗ thager im Vergleich zu den Römern. (S. dazu Mommſens „Römiſche Geſchichte“, Bd. I, III. Buch.)

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et

69 Zur Pſychologie der Racheemotion vergleiche den Aufſatz „Das Reſſentiment im Aufbau der Moralen“, 1. Abſchnitt in „Gef. Auffäge‘ u. „Jahrb. f. Phil. u. phän. Forſchung“, Bd. II.

70 So kam es in den Kriegen Ludwigs XIV. mit England vor, daß die Schlacht geradezu einen Turnierſtil annahm; daß die franzöſiſchen und engliſchen führenden Offiziere ſich, man möchte faſt ſagen „galant“, ſtritten, wer für den erſten Schuß den Vortritt haben ſollte.

7 Fr. Nietzſche nannte das „Prinzip des möglichſt kleinſten Kraft⸗ maßes im Denken“ (Avenarius) oder das „Prinzip der Dfonomie“ derer, die damit die Logik überflüfjig zu machen meinten, das Prinzip größtmöglicher Dummheit“. Das ethiſche Prinzip derer, die durch bloße Okonomie und Verzahnung der Intereſſen die Ethik überflüffig machen wollen (wie H. Spencer) könnte man als das Prinzip „groͤßt⸗ möglicher Gemeinheit“ bezeichnen.

Siehe das Kapitel von der Solidarität Europas.

73 Hier bitte ich das ſpäter folgende Kapitel von der Solidarität Europas ergänzend heranzuziehen.

74 Eine ſtreng wiſſenſchaftliche Begründung dieſer hierher angezo⸗ genen Grundſätze der Erkenntnislehre findet der Leſer in meinem dem⸗ nächſt bei Niemeyer⸗Halle erſcheinenden Buche: „Phänomenologie und Erkenntnistheorie“. Ihr Gegenſatz zu allem ſog. „Kritizismus“, der überall die Kriteriumsfrage der Frage nach der Selbſtgegebenheit und Evidenz eines Seins und Wiſſens fälſchlich voranſtellt, iſt bereits in dem Aufſatz „Verſuche einer Philoſophie des Lebens“ (f. „Geſ. Aufſätze“) angedeutet.

7s Ich habe die Grundarten dieſer Täuſchungen eingehend entwickelt in meinem Aufſatz „Die Idole der inneren Wahrnehmung“, f. „Gef. Aufſätze“.

Vgl. meine Theorie von der Erkenntnis des fremden Ich im An⸗ hang zu den Sympathiegefühlen.

77 S. meine eben im gleichen Verlag erſcheinende Schrift: „Vom Tode und vom Fortleben“.

78 In keiner Perſon ſtellt ſich dieſe Einheit fo tief dar, als in Platon, der die Einheit des geiſtigen Aufſchwunges des ganzen Menſchen, die der echten Metaphyſik (nicht der ſo ſich nennenden Scheinwiſſenſchaft der Gelehrtenſchulen) wie dem Heldentum zugrunde liegt, ſo ſcharf ge⸗ ſehen und überall in ſeinen Dialogen gekennzeichnet hat. Wie Helden⸗

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tum und Philoſophie in der Zeit der deutſchen Befreiungskriege ſich durchdrangen, hat neuerdings Karl Joel in feinem Buche „Antibar⸗ barus“ (f. das Kapitel „Das heroiſche Zeitalter“) plaſtiſch geſchildert. Die Auffaſſung der „Spekulation“ als „Wagnis des Gedankens“ findet ſich auch bei dem in mancher Hinſicht leſenswerten Jean Marie Guyau, „Sittlichkeit ohne Sanktion und Verpflichtung“.

79 S. „Jahrbuch f. Phil. u. phän. Forſchung“, Bd. II, Abſchnitt: „Können und Sollen“.

80 Vgl. den Schluß des Kapitels zur Solidarität Europas.

8: S. Konrad Fiedler, „Geſammelte Schriften über Kunſt“, hrsg. von Hans Marbach, Leipzig 1896. ©. bef. „Über Kunſtintereſſen und deren Förderung“.

8 Vgl. die Zuſammenfaſſung der Reſultate Hans Delbrücks in feiner Rede „Über den kriegeriſchen Charakter des deutſchen Volkes“ in „Deutſche Reden aus ſchwerer Zeit.“ S. 910 urteilt Delbrück: „Mit der Abſchaffung des Rittertums hat alſo die Erfindung der Feuerwaffe ſelber nichts zu tun, ſondern im Gegenteil das Merkwürdige iſt: Als die Ritterheere ihre großen Niederlagen erlitten, da hatten ſie ihrerſeits Feuerwaffen an ihrer Seite, während die, die ihnen Nieder— lagen beigebracht hatten, ſie nicht in dem Maße hatten.“

83 Über die moraliſchen Faktoren, die den Sieg entſcheiden, bei Führern wie Geführten vergleiche die pfychologiſch wie ethiſch meiſterhaften Ausführungen von Clauſewitz in dem Kapitel „Der Eriege- riſche Genius“ ſeines Werkes „Vom Kriege“.

84 Auch Luther verfällt in feiner Schrift „Ob Kriegsleute im ſeeligen Stand ſein können“ dieſem Fehler.

es Vgl. das Urteil Carlyles über den Angriff Friedrichs des Großen auf Schleſien und ſeine Verletzung der Pragmatiſchen Sanktion in ſeinem Werke über „Friedrich der Große“.

86 Hier iſt die Wortverbindung „Abſoluter Krieg“ natürlich anders gebraucht als da, wo es ſich um den „abſoluten Krieg“ = Idee oder Weſen des Krieges handelt.

87 Der Ausdruck „Bürgerkrieg“ iſt im Grunde ein Widerſpruch in ſich ſelbſt und nur eine ſchwächliche Analogiebildung. Revolution iſt kein Krieg, fo „gerecht“ Revolution auch moraliſch fein kann. Der Begriff gerechter Widerrechtlichkeit iſt eben ein durchaus notwendiger und ſinnvoller, ſo die ſittliche Ordnung der Rechtsordnung Fundament

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ift. Dahingegen iſt ein „Recht auf Revolution“ eine unzuläſſige Be: griffsbildung. 0

88 Die Einrichtung eines „heiligen Krieges“ zwecks gewaltſamer Verbreitung des Glaubens kennt die chriſtliche Welt im Grunde nicht, wenn ſich auch die von Rußland unternommenen Kriege im Namen des „Weißen Zaren“ zuweilen dieſer Form anzunähern ſcheinen. Die Kreuzzüge hatten einen partikularen Zweck und ſind nicht Beiſpiele für eine religiöfe Einrichtung. Die übrigen europäiſchen Glaubens⸗ kriege waren nie als heilige Kriege empfunden, da ſie erſt dadurch zu⸗ ſtande kamen, daß Staaten und ihre Regierungen ſpontan nicht aber um das Gebot einer Religion zu erfüllen, für einen beſtimmten Glauben eintreten. Näheres zu Natur und Weſen des „heiligen Krieges“ findet ſich in dem Aufſatz von Prof. J. Hell, „Der heilige Krieg“ Frankf. Ztg. Nr. 319, 17. Nov. 1914.

89 S. hierzu Heinrich Rickert, „Die Grenzen der naturwiſſenſchaft⸗ lichen Begriffsbildung“, 1. Aufl. 1902, 2. Aufl. 1914.

90 Über Strebensrichtung und Willenszweck vgl. meine Unter⸗ ſuchungen im „Jahrbuch f. Phil. u. phänomenologiſche Forſchung“, Bd. I, 2, S. 340.

or Vgl. hier das folgende Kapitel über „Die geiſtige Einheit Europas“.

92 S. den Anhang, der dieſen ſcheinbaren Widerſpruch auflöſt.

93 Vgl. hierzu A. Wagners „Gegen England“ und die anſchaulichen Schilderungen M. Hardens in ſeinem Aufſatz „An die Engländer“, „Die Zukunft“ vom 31. Oktober 1914. Wenn aber Herr Harden dieſen welthiſtoriſchen Kampf unter das Bild des Konkurrenzſtreites einer „vornehmen, uralten, in Wohlſtand verfetteten Firma, die nur ihre be⸗ haglichen Geſchäfte macht und von der Kundſchaft Anpaſſung an den Hausgebrauch verlangt mit einer jungen, aufſtrebenden Warenhaus⸗ firma vergleicht, die ſich in die Nähe des alten Geſchäfts poſtierte“, ſo iſt dies Bild weder klärend, noch wahr. Das iſt ein ſchönes Beiſpiel, wie man „engliſch denken“ kann, wenn auch gegen England und in deutſchem Intereſſe. S. Anhang.

% In den letzten zwanzig, dreißig Jahren iſt die deutſche Kohlen: gewinnung zwar von einem Drittel auf zwei Drittel der britiſchen ge⸗ ſtiegen. In der Roheiſenproduktion erreichten wir noch vor zwanzig Jahren nicht die Hälfte der britiſchen, find ihr aber ſeit 1903 beſtändig

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und wachſend überlegen, z. B. 1911 / 12 ſchon um fiebzig Prozent und analog in der Stahlgewinnung. Bis zum Jahre 1912 hat der deutſche Außenhandel drei Viertel des abſoluten Betrages des britiſchen erreicht. Aber andererſeits war die amerikaniſche Konkurrenz dem britiſchen Handel kaum weniger gefährlich und haben bis zum Jahre 1914 eng⸗ liſche Induſtrie, Handel, Reederei, Schiffahrt, Kredit⸗ und Geldmarkt unſere Konkurrenz auf dem Weltmarkt immer wieder eingeholt; ja das Gefchäft hat ſich in den letzten zwei Jahren faſt überall etwas zugunſten Englands wieder verſchoben. Genaueres über die hiſtoriſche handels politiſche Entwicklung beider Länder gibt Adolph Wagner „Gegen England“, Berlin 1914. Doch kann ich A. Wagner nicht zuſtimmen, wenn er in dieſer wachſenden Konkurrenz Deutſchlands mit England „den Hauptgrund“ der feindſeligen Stellung Englands gegen uns ſieht. (S. S. 36 o. Schrift).

95 Vgl. hierzu die klaſſiſchen Ausführungen von Möhler in feiner „Symbolik der chriſtlichen Glaubensgegenſätze“; bef. fein Urteil über Luther.

96 In feinen reichen und bedeutenden Unterſuchungen über die „So⸗ ziallehren der chriſtlichen Kirchen und Gruppen“ kommt E. Troeltſch (2. Hälfte, S. 774) bezüglich des deutſchen Luthertums im Verhältnis zum Neucalvpinismus engliſch-amerikaniſcher Prägung zu dem Reful- tat: „Heute liegt der ganze Kontinent unter dem ſtärkſten Einfluß angelſächſiſch⸗pietiſtiſch⸗methodiſtiſchen Weſens“. Was dieſer Satz be: deutet, das iſt aus den vorhergehenden Abſchnitten desſelben Bandes über die Geſchichte des Calvinismus, insbeſondere über ſein Verhältnis zum modernen engliſchen Kapitalismus, zur Demokratie, über ſeine „Vereinigung“ von chriſtlicher Ethik und Ltilitarismus (i. e. „cant“ ), Pazifizismus und kapitaliſtiſche Wirtſchaftsgeſinnung zu entnehmen. „Für unſer Thema“ ſagt Troeltſch „iſt das Bedeutende und Wich⸗ tige, daß bei dieſen chriſtlichen Gruppen und bei ihnen allein, der modern wirtſchaftliche Betrieb mit dem chriſtlichen Denken vereinbart wurde, daß er hier bis heute mit einem guten Gewiſſen möglich ift“. „Man braucht ſich nur der Umſchweife zu erinnern, mit denen der Katholizis⸗ mus dieſe moderne Wirtſchaftsform erträglich macht und im Grunde immer wieder zu hemmen verſucht, oder der Abneigung, mit der das alte Luthertum und der heutige deutſche Konſervativismus den Kapi⸗ talismus offiziell betrachtet. Dann wird die Bedeutung dieſer neuen

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calviniſtiſchen Form des Chriſtentums für die geſamte moderne Ent: wickelung und beſonders für die Stellung des Proteſtantismus in ihr verſtändlich“ (ſ. I. Bd. S. 718). Wir ſchließen hieraus: Alſo moͤglichſt raſch dieſes chriſtlich⸗-präparierte cant⸗Gift heraus aus unſerem Blute!

97 Vgl. meinen Aufſatz über das „Phänomen des Tragiſchen“ in „Geſammelte Aufſätze“.

98 Eingehendes über den Begriff der „geiftigen Individualitãt“ gibt der Abſchnitt über „Perſon“ (ſ. beſ. „Vernunft und Perfon“) im II. Teil meiner der Grundlegung der Ethik gewidmeten Unterſuchungen im „Jahrb. für Philoſophie und phänomen. Forſchung“, II. Bd.

99 Vgl. das Kapitel über „Die geiſtige Einheit Europas“.

ro Eine gute Einführung in das Problem der Einheit des euro⸗ päiſchen Typus gibt das Buch von Carl Techet, „Völker, Vaterländer und Fürſten“, München 1913. Das genannte Werk (vgl. meine An⸗ zeige in der „Neuen Rundſchau“, Oktober 1914) hat uns für das Folgende manche Anregung gegeben.

Die Folgen des neuen europäiſchen Einheitsbewußtſeins für die Geſtaltung der deutſchen Politik, ja der Politik der europäifchen Groß⸗ mächte überhaupt, ſind noch nicht gefunden, geſchweige formuliert worden. Was die deutſche Politik betrifft, ſo hat ein deutſcher Diplo⸗ mat (unter dem Pſeudonym Ruedorffer) in einem Buche „Grundzüge der Weltpolitik in der Gegenwart“ treffend zwei Phaſen unterſchieden: die Phaſe (zu der noch Bismarck gehört), in der die kontinentalen Pro⸗ bleme das Übergewicht über die fog. „weltpolitiſchen“ behaupteten und die Phaſe, (die nach Ruedorffer mit unſerer Marokkounternehmung gegen den franzöfifchen Expanſionsdrang im J. 1904 beginnt), in der die Kontinentalpolitik von den Rückſchlägen abhängig wird, die unſere „weltpolitiſchen“ Unternehmungen bewirken (3. B. Bagdadbahnprojekt, das mithalf, Rußland und England gegen uns bis zur Teilung Perſiens im Jahre 1907 zuſammenzudrängen). Von Bismarck ſagt Ruedorffer: „Um Frankreichs Blicke von der Rheingrenze abzulenken, begünſtigte er, ſo ſehr er konnte, die franzöſiſche Expanſion in Aſien und Afrika. Als er gegen Ende ſeiner Tätigkeit daran ging, einer zukünftigen ko⸗ lonialen Tätigkeit Deutſchlands einige übriggebliebene Stücke Afrikas zu ſichern, vermied er es ſorgſam, weiter zu gehen, als das engliſche Intereſſe vertragen konnte. Er vermied es, von Deutſch⸗Südweſtafrika aus auf das Hinterland der Kapkolonie, das heutige Rhodeſien, über⸗

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zugreifen. Bismarck hielt die deutſche Weltpolitik in den Grenzen, die die Rückſicht auf die Kontinentalpolitik nach ſeiner Anſicht ziehen mußte, ſtellte die Kontinentalpolitik in jeder Hinſicht über die Weltpolitik und ließ dieſer nur zukommen, was jene geſtattete.“ Analog vermied es Bismarck ängſtlich, Deutſchland zu Rußland in einen Gegenſatz zu bringen durch Unterſtützung der öſterreichiſchen Expanſionstendenzen nach der Balkanwelt. Man denke an ſein Wort von den „Knochen des pommeriſchen Musketiers“ gelegentlich der projektierten Ehe Fer⸗ dinands von Bulgarien mit einer preußiſchen Prinzeſſin. Die Umkehr der Gewichts⸗ und der gegenſeitigen Abhängigkeit von Kontinental⸗ und „Weltpolitik“ iſt für die Folgezeit offenſichtlich. Bei allen ſeinen Unternehmungen in der Türkei, in Perſien, in China begegnete das Deutſche Reich ruſſiſchen, in Meſopotamien engliſchen Intereſſen, im Bagdadprojekt ruſſiſchen und engliſchen zugleich, in Marokko⸗Kongo franzöͤſiſchen und belgiſchen, Zuſammenſtöße, die auf die kontinentale Mächtegruppierung nicht nur mehr mitbedingend, ſondern gradezu poſitiv geſtaltend zurückwirkten. Auch für die engliſche Politik kann man fragen, ob die deutſch⸗engliſche Seemachtſpannung ſtärker auf ſeine Verſtändigung mit Rußland bezüglich ſeiner Orientpolitik im Jahre 1907 hinwirkte oder ob umgekehrt dieſe Verſtändigung (nach unſerer Ablehnung eines deutſch⸗engliſchen Zuſammengehens gegen Rußland) es war, die England in eine Abhängigkeit vom frankoruſſiſchen Bündnis brachte, die ſeine Freundſeitigkeit gegen uns erſt bewirkte. Ruedorffer kommt ſchließlich zu dem Ergebnis: „In dieſem Zuſammen— hang zwiſchen Welt⸗ und Kontinentalpolitik liegt, wenn man fo will, der Circulus vitiosus der auswärtigen Politik des Deutſchen Reichs. Weltpolitiſche Unternehmungen haben Rückwirkungen auf die Konti⸗ nentalpolitik, unter deren Einfluß das Deutſche Reich ſich weltpolitiſch beſchränken muß.“

Nun aber frage ich: Muß es bei dieſem „Zirkel“, d. h. bei dieſer anarchoeuropäifchen Phaſe der deutſchen nicht nur, nein der Welt: politit aller europäifchen Nationen überhaupt, auf die Dauer bleiben? Und kann es das, ohne daß das Geſamtpreſtige Europas in einem Maße leidet und ſich gleichzeitig die europäiſchen Großmächte ſelbſt gegenſeitig fo ſehr ſchwächen, daß ſchließlich alle „Weltpolitik“ unmög⸗ lich wird? Weder der reaktionäre Gedanke einer Rückkehr zur Bis⸗ marckiſchen nationalen Kontinentalpolitik, den ſchon unſere jährlich

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um 8—900 000 Menſchen wachſende Bevölkerung ausſchließt, noch der Gedanke des pangermaniſtiſchen Imperialismus, der die Weltpoli⸗ tik aller europäiſchen Großmächte in einfache Abhängigkeit von der deutſchen Weltpolitik bringen will, noch endlich die in der vielbeſpro⸗ chenen Schrift eines deutſchen Diplomaten „Weltpolitik und kein Krieg“ nahegelegte ſchwächliche Opportunitätshaltung, kann irgendeinen dauernden Erfolg verſprechen.

Einen ſolchen Erfolg kann nur verſprechen eine neue, dritte Phaſe nicht nur der deutſchen, ſondern der europäiſchen Weltpolitik über⸗ haupt, die ich gegenüber den Phaſen der „überwiegenden Kontinental⸗ politił“ und der anarchoeuropäiſchen Weltpolitik als die Phaſe der „geordneten europäiſchen Weltpolitik“ bezeichnen möchte.

Der Eintritt in dieſe Phaſe kann durch dieſen Krieg erreicht werden. Sie wird erreicht werden, wenn nach einer baldigen Friedens verſtändi⸗ gung auf dem Kontinent, zunächſt mit Rußland (ohne Bündnis), dann mit Frankreich das fundamentalſte Hemmnis des Eintritts dieſer Phaſe, der engliſche Allſeegeltungsanſpruch und das weltpolitiſche prinzipielle Außenſeitertum Englands gegenüber den weltpolitiſchen Intereſſen der Kolonialmächte dauernd gebrochen wird, wenn England gezwungen wird, für jeden Teil ſeines jetzigen Beſitztums zu ſcheiden, was es vom moraliſchen Zuſammengehörigkeitsgefühl feiner unterworfenen Bevöl⸗ kerungen mit dem Mutterlande und was es ausſchließlich der Zwangs⸗ gewalt ſeines Allmarinismus verdankt, wenn es gleichzeitig gezwungen wird, zur bundesſtaatlichen Verfaſſung ſeines dann noch reſtierenden Weltreiches überzugehen und alle ſeine weltpolitiſchen Schritte unter gemeinſamer Verſtändigung mit einem wenigſtens weltpolitiſch ſolida⸗ riſchen Weſteuropa zu unternehmen. Hierbei nehmen wir durchaus nicht an, es ſei der moraliſche Zuſammenhalt der engliſchen Kolonien mit dem Mutterlande ſo gering, wie er gemeinhin bei uns gegenwärtig gehalten wird. Den Satz Ruedorffers zwar, daß das engliſche Reich, ſelbſt wenn die Kriegsflotte im Meere verſinken würde, ſich auf Grund ſeines Kulturzuſammenhanges über Waſſer halten könnte, halten wir für eine jener Übertreibungen, die der alles Engliſche anbetende Geiſt der deutſchen Diplomatie vor dem Kriege ſo ſehr verſchuldet, daß der Einzelne dadurch entlaſtet wird. Für Auſtralien (zumal bei der eng⸗ liſchen Japanpolitik!), für Kanada, das längſt nach den Vereinigten Staaten ſchielt, iſt dies erheblich zweifelhaft. Agyptens Verbleib in

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engliſchen Händen wird von den militäriſchen Fortſchritten der Türkei abhängen. Völlig geſichert aber halten wir vorerſt Indien für Eng⸗ land. Die jetzt vielverbreitefe Meinung, es würden die 70 Millionen Mohammedaner Indiens dem Gebot des osmaniſchen Kalifen folgen (etwa durch die Vermittlung der Gefolgſchaft der Afghanen), halten wir für ganz ungeſtützt. Daß Indien ſich ſelbſt regiere, ſchließen die inneren Gegenſätze dieſes Landes dauernd aus. So hätten die indiſchen führenden Politiker nur die Wahl zwiſchen einer Herrſchaft Rußlands und Japans, das ſicher nur darauf wartet, ſich in etwaige indiſche Händel und Revolutionen über Südchina hineinzuſtürzen. Beide Even⸗ tualitäten liegen weder im indiſchen noch geſamteuropäiſchen Intereſſe.

Nur unter Vorausſetzung einer ſolch neuen Phaſe und ſolch neuen Geiſtes der europäiſchen Weltpolitik hätten aber auch die großen Auf: gaben innerer ſozialer Reformen, die aller europäiſchen Staaten noch warten und die neuerdings in England mit ſo weiten Perſpektiven von Lloyd George unternommen wurden (Schaffung eines Kleinbauern— ſtandes, Sozialpolitiſche Geſetzgebung im Sinne des deutſchen Borbil- des, Beſchneidung der Rieſenvermögen der „Herzöge“ uſw. durch Steuerreform uſw.), Ausſicht auf einen ruhigen Fortgang. Jeder einſeitige „Imperialismus“ eines ſiegenden europäiſchen Staates mit Mißachtung der europäiſchen Solidarität müßte dieſe Linie der Ent: wickelung in allen Staaten dauernd hemmen.

101 S. L. von Ranke, „Über die Epochen der neueren Geſchichte“, hrsg. von A. Dove, Leipzig 1906, 1. Vortrag: „Allein es gibt in der Menſchheit überhaupt doch nur ein Syſtem von Bevölkerungen, welche an dieſer allgemeinen hiſtoriſchen Bewegung teilnehmen, dagegen andere Syſteme, die davon ausgeſchloſſen ſind. Wenden wir z. B. unſer Augenmerk auf Aſien, ſo ſehen wir, daß dort die Kultur entſprungen iſt, und daß dieſer Weltteil mehrere Kulturepochen gehabt hat. Allein dort iſt die Bewegung im Ganzen eher eine rückgängige geweſen; denn die älteſte Epoche der aſiatiſchen Kultur war die blühendſte; die zweite und dritte Epoche, in denen das römiſche und griechiſche Element dominierten, war ſchon nicht mehr jo bedeutend und mit dem Ein⸗ brechen der Barbaren der Mongolen fand die Kultur in Aſien vollends ein Ende. Man hat ſich dieſer Tatſache gegenüber mit der Hypotheſe geographiſchen Fortſchreitens behelfen wollen; allein ich muß es von vornherein für eine leere Behauptung erklären, wenn man

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annimmt, wie z. B. Peter der Große die Kultur machte die Runde um den Erdball, ſie ſei von Oſten gekommen und kehre wieder nach dem Oſten zurück.

02 S. Carl Stumpf, „Tonſyſtem und Muſik der Giamefen“ („Bei⸗ träge zur Akuſtik und Muſikwiſſenſchaft“, Heft III); O. Abraham u. E. von Hornboſtel, „Studien über das Tonſyſtem und die Muſik der Japaner“, f. Schriften der „Internationalen Muſikgeſellſchaft“, Jahrg. IV, Heft 2; O. Abraham u. E. von Hornboſtel, „Phonogra⸗ phierte indiſche Melodien“, Jahrg. V, Heft 3.

03 Wie weit ſich von einem einheitlichen Typus des Sprachenbaus der europäiſchen Sprachen nicht im Sinne der hiſtoriſchen Geneſis aus den ſog. Sprachſtämmen (ſiehe hierzu F. N. Finck, „Die Sprach⸗ ſtämme des Erdkreiſes“, „Aus Natur und Geiſteswelt“, Teubner 1909) ſondern im Sinne beſonderer Weiſen des Auffaſſens, Scheidens, Verbindens, Gliederns der Eindrücke reden läßt, iſt trotz der trefflichen Vorarbeiten F. N. Fincks (ſiehe „Die Haupttypen des menſchlichen Sprachenbaus“, „Aus Natur und Geiſteswelt“, Teubner) noch nicht genügend feſtgeſtellt.

ros Vgl. auch die hierfür typiſche kleine Geſchichte L. Hearns in Kokoro „Ein Konſervativer“.

05 Vgl. das bei E. Diederichs erſchienene Buch von Ku Hung⸗Ming: „Chinas Verteidigung gegen europäiſche Ideen“, Jena 1911.

106 Auch in der Perſonbenennung „Sohn des X“ drückt ſich dies aus.

07 Vgl. meine eingehende „Lehre von den Dimenſionen ethiſcher Differenzen“ im „Jahrb. f. Philoſ. u. phän. Forſchung“, II.

ros Nur als ein Zeichen äußerſter anthropologiſcher und politiſcher Unbildung können wir es anſehen, daß der deutſche Haß gegen Japan fo maßloſe Formen angenommen hat. Denn dieſer Haß, der ſich ge: legentlich zu Ausdrücken wie „Halbaffen“ in führenden deutſchen Zeitungen verſtieg, hat ſelbſtverſtändlich gar nichts zu tun mit der höchſten Bewunderung unſerer Beſatzung von Tſingtau, dieſer helden: müfigen Schar von Männern, die ohne jede Ausſicht auf den mili⸗ täriſchen Erfolg, Kiautſchou durch Waffengewalt uns zu erhalten, und ſich (bei vielen ihrer Mitglieder wenigſtens dürfte es fo geweſen fein) be⸗ wußt, das Opfer einer wenig glücklichen deutſchen Japanpolitik zu ſein, rein nur um der Ehre des deutſchen Namens und der deutſchen Waffen wegen, in der Geſinnung der Griechen von Thermopylä dem Feinde

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bis „aufs Außerſte“ ſtandgehalten hat. Doch wozu fo maßloſer Haß gegen das japaniſche Volk und Regierung? Welche ſonderbare Art „von Gleichförmigkeit der Menſchennatur“ muß man vorausſetzen, um einem mongoliſchen Volke von der feſtgeprägten kriegeriſchen Eigenart der Ja⸗ paner, das längſt den Satz „Aſien für Aſien“ (hierin der amerikaniſchen Monroedoktrin folgend) zum erklärten Axiom feiner Politik gemacht hat, zuzumuten, es werde in irgendeiner anderen Richtung als der— jenigen der nach ſeiner Anſicht beſtehenden Intereſſen handeln? Man ſprach von Pflichten der „Dankbarkeit“ Japans für feine deutſchen Lehrer in Recht, Militär, Technik, Wiſſenſchaft uſw. Abgeſehen von der darin liegenden Verwechſlung von Privatmoral und Staatsmoral, müßte doch das politiſche Verhalten des Deutſchen Reiches gegen Japan hier zuerſt herangezogen werden. Und hier liegen die Dinge ſo: Im Jahre 1895, am Schluſſe des japaniſch-chineſiſchen Krieges waren Li-Hung⸗ Tſchang und Marquis Ito in Tokio bereits vollſtändig überein⸗ gekommen, daß China die Halbinſel Liautung an Japan abtrete. Da erfolgte die, durch eine ergiebige Flottendemonſtration Rußlands, Frankreichs und Deutſchlands unterſtützte Intervention der genannten europäifchen Mächte, die Japan gegen gemeinſame Kriegsdrohung die Annahme der ſeitens China ſchon abgetretenen Halbinſel unterſagte. Japan gab „zähneknirſchend“, wie es damals hieß, nach. Zu dieſer Intervention mochte Rußland noch ein, aus ſeiner geographiſchen Lage und der Sorge, den japaniſchen Nachbar nicht zu mächtig werden zu laſſen, verſtändliches Motiv haben, Frankreich ein gleiches, um ſich dem Verbündeten (1891) gefällig zu erweiſen. Dem Deutſchen Reiche fehlte ein der Größe feiner oſtaſiatiſchen Intereſſen angemeſſenes Motiv durch- aus. Aber auch im Jahre 1905, als der ruſſiſch-japaniſche Krieg feinen Abſchluß erhielt, fand Japan England, nicht aber das damals noch ruſſen⸗ freundliche Deutſchland, gelegentlich der Grenzregulierung auf ſeiner Seite. Auch diesmal hinderte die deutſche Diplomatie Japan, die Früchte ſeines mit ungeheuren Opfern erkauften Sieges zu pflücken. Das engliſch⸗japaniſche Bündnis, das auch durch die folgenden Schieds— gerichts verträge Englands mit Amerika bezüglich chineſiſcher Angelegen— heiten nicht inhaltlich geändert wurde, (insbeſondere nicht dahin, daß nun wie zu erwarten geweſen wäre die Verpflichtung Japans, einen etwaigen Aufſtand in Indien gegen England niederzuwerfen, weggefallen wäre), das wohl aber hierdurch etwas in ſeinem Gewichte

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geſchwächt wurde, mußte freilich nicht fo ausgelegt werden, daß Japan jetzt gegen uns mit ſeinem Ultimatum vorging. Aber jeder, der die vorhergegangenen Tatſachen der Geſchichte und die inner= politiſche Entwickelung Japans kannte, die Herrn Kato, den lang⸗ jährigen japaniſchen Botſchafter in London und nahen Freund Greys, an die Spitze der Führung der auswärtigen japanifchen Angelegen— heiten brachte, unſere alten Freunde dortſelbſt aber zur Seite drängte, mußte angeſichts der weiteren Kenntnis der Art und Weiſe, wie wir durch den bekannten „Pachtvertrag“ mit China ganz unter dem methodiſchen Einfluß engliſcher Kolonialpolitik ſegelnd Kiautſchou ſeiner Zeit ziemlich unmotiviert erwarben, erwarten, daß Japan eine Auslegung bevorzugen werde, die ihm ſeine bisherigen Erfahrungen mit Deutſchland und ſein politiſches Axiom „Aſien für Aſien“ für die Wahrung ſeiner Intereſſen an die Hand gaben. Wie ich aus ſicher⸗ ſten Quellen weiß, verurteilt gleichwohl die öffentliche Meinung der Gebildeten nicht den Schritt Japans an ſich, wohl aber die Wahl des Zeitpunktes bei der gegenwärtigen Bedrängnis Deutſchlands. In⸗ ſofern entſpricht Japans Vorgehen auch in der Tat ſeinem eigenen Ethos nicht, nicht dem ritterlichen Gebot des „buſchido“. Den Deut⸗ ſchen geht es in Japan, wie wir ſicher wiſſen, ganz vortrefflich und Japans echt kriegeriſche und ritterliche Art hätte ſchon durch die Form, wie es die Ruſſen bei ſich zu Haufe im japaniſch-ruſſiſchen Kriege behandelte, den europäiſchen Nationen, die jetzt unter ſich mehr wie je ritterlichen Krieg von Staaten und Kampf gegen Bürger und von Bürgern zu unterſcheiden verlernt haben, als Vorbild dienen können. Daß Japan weiter ſchon gleich nach dem ruſſiſch-japaniſchen Feldzug eine erhebliche Annäherung an Rußland vollzog und ein, uns zu Hilfe kommender Angriff Japans auf Rußland gar nicht in Frage kam, wußte jeder politiſch Gebildete. Trotzdem trug man hier in Berlin zu Beginn des Krieges Japaner wider ihren Willen in dieſer Illuſion auf den Händen herum, um ſich dann gleichzeitig für das plötzliche Entſchwinden dieſer Illuſion durch Haß und Schimpf an Japan zu rächen und England vorzuwerfen, daß es ein gelbes Volk gegen uns aufgerufen habe. Daß Englands Ermunterung möglich war, das freilich iſt ebenſo bedauerlich wie die Tatſache, daß wir noch der Osmanen gegen England bedürfen beides ein Symptom der noch beſtehenden Anarchie Europas. Immerhin hat unſer, Japan

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betreffender Haß gegen Englands Verführung einen weit tieferen Sinn als der analoge Englands gegen uns wegen unſerer Antreibung der Dsmanen, da Europas Solidarität durch Japan weit ſtärker gefähr⸗ det iſt als durch die Osmanen. Darum ſteigere man ſich nicht fo= fern Japan nicht weiter geht, als es bisher ging und beſonders nicht japaniſche Truppen nach Europa ſendet in die verkehrte Idee eines Raſſenkrieges gegen Japan hinein, ſondern ſchreibe Kiautſchou im Falle eines Sieges gegen England auch England auf die Rechnung! Was ſonſtige „Dankbarkeit“ betrifft, ſo möge man doch auch ſelbſt Japanern nicht zumuten, daß ſie Dinge wie die Abſatzintereſſen eines felbftmörderifchen Kapitalismus zur Verbreitung ſeiner Maſchinen und techniſchen Methoden in ihrem Lande, weiter das Motiv junger oder alter Gelehrter gegen Gehälter, die diejenigen der opferfreudigen japaniſchen Lehrer ſtets unverhältnismäßig überſteigen, fremde eigen: artige Länder und Menſchen zu ſehen, und dabei ihre oft unverſtandene Weisheit anzubringen, für reine Liebe zu nehmen, für die auch wo ſie ſtattfindet, nur perſönliche Dankbarkeit Pflicht wäre. Die deutſchen Gelehrtenwanderungen nach dem außereuropäiſchen Auslande, die ſo reichen Nutzen für das wahre Verſtändnis der Völker abwerfen könnten, werden, ſofern fie nicht beſtehende Gleichförmigkeiten des Fühlens und Denkens durch „repräſentative“ Oberflächlichkeit und Rede vortäuſchen, nachgerade eher Mittel, um das Weſen der Völker vor ſich ſelbſt gegeneinander zu verſtecken.

109 Vgl. hierzu die Aufzeichnungen des Staretz in den „Brüdern Karamafom“.

20 Eine Liebe „zu Gott“ oder „in Gott“, die nicht weſensnotwendig zugleich ein Mitlieben des Menſchen mit der unendlichen Liebe Gottes zum Menſchen wäre, kennt das europäiſche Chriſtentum nicht.

n Zum Beiſpiel tanzt innerhalb Aſiens die Frau dem Mann vor. Ein Zuſammentanzen gilt als äußerſte Entwürdigung des Mannes.

12 Siehe in meinen „Geſammelten Aufſätzen“ den Aufſatz über „Die Idee des Menſchen“ und meine Ausführungen über die Idee der „humanen Ethik“ im „Jahrbuch für Phil. u. phänomen. Forſchung“, Bd. II.

13 So die Idee der „Vernunft“ an den reinen Sätzen über die Idee des Gegenſtandes; das „Gewiſſen“ an den reinen Geſetzen des Höherſeins von Werten, wie ich ſie im Jahrbuch entwickelt habe; die

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Idee der „Sprache“ am Weſen und der Idee des „Wortes“ im Gegen⸗ ſatz zum Zeichen und zur Bezeichnung.

114 Vgl. hierzu mein Buch: „Geſammelte Aufſätze“ „Idee des Menſchen“ und Jahrbuch für Phil. u. phänomen. Forſchung, II. Bd. und C. Stumpf, „Über den ethiſchen Skeptizismus“.

rs Während die Idee des „Wirkens“, des ſchaubaren „Überganges“ und Eingreifens eines Dinges in die Seinsſphäre eines anderen zweifel⸗ los eine, die Weltanſchauung des „Menſchen“ (vielleicht ſchon des Tieres) mitdefinierende Kategorie iſt, desgleichen eine ganz formale Idee der gegenſeitigen Abhängigkeit in der Variation der Erſcheinungen, eine eben ſolche Kategorie, iſt jener Gedanke der „geſetzmäßigen Zeit⸗ folge der Erſcheinungen“, den Immanuel Kant als „Bedingung aller möglichen Erfahrung der Gegenſtände“ und nach ſeinem berühmten (falſchen) Prinzip, daß ſich die Gegenſtände nach dem Verſtande rich⸗ ten, auch der „Gegenſtände der Erfahrung ſelbſt“ behauptet, ſicher nur ein a priori der europäifchen Weltanſchauung und der europäiſchen „Welt“. Ihr ſteht eine Einſtellung gegenüber, in der gerade das, was Kant „Gefetz“ nennt, als „Wunder“ gegeben iſt, nicht wie bei unſerem weſteuropäiſchen Wunderbegriff „die Ausnahme des Geſetzes“. Auch das „Wunder“ iſt als ein Gewirktes oder als Wirkung einer Urſache gegeben nur eben keiner folcyen, die nach einer feſten Regel der Zeit⸗ folge wirkte.

26 Siehe Edm. Huſſerl, „Logiſche Unterfuchungen“, 2. Aufl., Bd. I.

* Warum es „beſſer“ ſei, „Wirkliches“ zu ſehen als dem orien⸗ taliſchen Märchenerzähler zu horchen, als zu träumen, als Haſchiſch und Opium zu rauchen und dabei wunderbare Dinge zu träumen oder im Traume Opium zu rauchen und dabei ſich nur einzubilden, die Wirklichkeit zu fehen und handelnd darin zu leben, welcher euro⸗ päifche Philofoph, er fei fo tiefſinnig, wie er wolle, will es „bemeifen“? Welcher Inder aber das Gegenteil?

8 Siehe Pifchels „Buddha“ in „Natur und Geiſteswelt“.

19 Siehe W. James, „Das pluraliftifche Univerſum“, deutſch von Jul. Goldſtein, Leipzig 1914. Dem „Pragmatismus“ dieſes Philo⸗ ſophen folgen wir nicht. Aber das Richtige, was ſeine Lehre vom „Multiverſum“ in ſich einſchließt, erhält auch bei Annahme einer letzten „Einheit“ der Welt als der „Welt Gottes“ ſein Recht.

20 Siehe meinen Nachweis der pfychologifchen Herkunft der mo— dernen „Liebe zur Menſchheit“ aus Reſſentiment in meinem Aufſatz „Das Reſſentiment im Aufbau der Moralen“. „Gef. Aufſätze“, Bd. J, Leipzig 1914.

rar Richtig urteilt Emil Utitz in ſeiner „Grundlegung der allgemeinen Kunſtwiſſenſchaft“, (Stuttgart 1914) Seite 197: „Das Kind und der Mann, der Eskimo und Europäer, der paläolithiſche Jäger und der durchgebildete Renaiſſancemenſch ſtehen einer anderen ‚Wirklichkeit‘ gegenüber (d. h. haben nicht bloß andere Eindrücke derſelben Wirklich⸗ keit); es iſt dies ja eine Anſchauung, welche immer mehr in den Arbeiten junger Kunſtwiſſenſchaft Wurzel faßt; ſie iſt das Quellgebiet, dem eine richtige Stilwiſſenſchaft entſpringen kann“.

22 Vgl. W. Worringer, „Abſtraktion und Einfühlung“.

123 Wenn Kant ſagt: Um eine Linie wahrzunehmen, müſſen wir fie ziehen, ſo beſchreibt er hier nur die Art des europäiſchen Sehens, der das punktuelle Sehen und das nachträgliche Verbinden der Punkte gegenüberſteht. Dieſem Unterſchiede entſprechen gewiſſe Unterſchiede im Typus des Sprachbaus, wie ſie Finck in ſeinen „Haupttypen des menſchlichen Sprachbaus“ beſchreibt.

24 Vgl. hierzu Carl Techet, „Völker, Vaterländer und Fürſten“, S. 174 (München 1913).

ras Die erfolgte Erklärung des „heiligen Krieges“ wird die 70 Millionen indiſcher Mohammedaner ganz kalt laſſen. Wäre die Erklärung ſtreng dogmatiſch gemeint, ſo ſehe ich nicht, wie es vermieden werden könnte, daß in dieſem Falle auch Holland (in feinen Kolonien) und Italien (Tri⸗ polis uſw.) in die kriegeriſchen Verwickelungen hereingezogen würden.

26 Vgl. zu dem hier Geſagten die für die Frage nach dem Weſen der „Nation“ ſo inſtruktiven Vorträge und Verhandlungen des Deutſchen Soziologentages vom Jahre 1912, Tübingen 1913. Be⸗ ſonders die Ausführungen Max Webers in der Debatte. Vgl. auch die einleitenden Abſchnitte von Fr. Meineckes „Weltbürgertum und Nationalſtaat“, München 1908.

127 Daß der Nationalismus wie die panſlawiſtiſche Raſſenidee nur europäiſcher, dem Geiſte des echten Ruſſentums fremder Import ſind, das haben ſchon Lontjew, Solopjew, im Grunde auch Doſtojewski, der die Einheit des Ruſſentums durchaus religiös zentriert, hervor— gehoben. Zum gleichen Ergebnis kommt auch der von dieſen Denkern

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weit abweichende Maſaryk in feinen „Studien zur rufjifchen Religions⸗ und Geſchichtsphiloſophie“, Jena, 1913.

128 Eine geradezu lächerliche Überfchägung ſolcher „Konferenzen“ außerdem Englands überhaupt, bei allem Haß gegen England findet ſich in dem Artikel „Die deutſche Erweckung“ aus der Feder des Theo⸗ logen Adolf Deißmann. Deißmann hat die Geſchmackloſigkeit, dieſe Zuſammenkunft mit nichts Geringerem zu vergleichen als mit der Schlacht von Waterloo!! Er ſagt: „Die britiſche Hybris, welche die eine der beiden am dritten Schöpfungstag allen Menſchen ge: ſchenkten Provinzen Gottes für ſich allein als Herrſcherin beanſprucht, hat 1914, im fernen Oſten die Gelben auf unſere blühenden Felder hetzend und das dem Evangelium offene Afrika mit dem Kampf von Weiß gegen Weiß erfüllend, nicht bloß Waterloo annulliert, ſondern auch Edinburgh“. Auch ſonſt iſt die maßloſe Uberſchätzung der Be⸗ deutung Englands in dieſem Artikel charakteriſtiſch. „An England hing der Weltfriede; Frankreich und Rußland waren nur Puppen in ſeiner Hand“ (S. 118). „Unermeßliche Werte des geiſtigen Lebens hat Eng⸗ land, als es uns den Krieg erklärte, gefährdet“. Ich ſehe keinen ein⸗ zigen ſolcher Werte! Aber nur ſetzt der Verfaſſer, der „Freund der deutſchfreundlichen führenden britiſchen Theologen und Kirchenmän⸗ ner, an ihrer Spitze der Primas der Kirche von England“ (S. 118) vorſichtig hinzu „gefährdet“! Denn immer noch „ſträubt ſich alles in mir, an die völlige Aufhebung unſerer chriſtlichen Gemeinbürger⸗ ſchaft und unſerer kulturellen Beziehungen mit England zu glauben“. Wirklich immer noch, trotz der Dum-Dum⸗Kugeln des chriſtlichen Bruderlandes und ſeiner beiſpiellos gehäſſigen Kriegsführung? Die deuffchzenglifche evangeliſche Solidarität wo wäre der englifche Widerhall? ſcheint ja gute Nerven zu haben! Noch ein Wort über „die Internationale Monatsſchrift“. Nach Herrn Deißmann hatte ſich dieſes Organ „lebhaft und mit innerer Freudigkeit an den Bemühungen beteiligt, auf dem Wege des Kulturaustauſches und der perſönlichen Verſtändigung England und Deutſchland näher zu bringen und damit dem Weltfrieden zu dienen“. Obzwar nun neben ſehr vielem von ähnlichem Ton auch manches ganz Vortreffliche in den letzten Nummern dieſes Organs ſteht, dürfte doch die Frage geſtattet ſein, ob es nicht geſchmackvoller geweſen wäre, wenn das Organ jetzt eine Zeit lang vom Bilde der deutſchen Bffentlichkeit verſchwunden wäre,

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anſtatt immer aufs neue wenig würdige Lamentos über die „engliſch⸗ deutſche Kulturgemeinſchaft“ anzuſtimmen.

29 So ſchrieb Fürſt Bülow in einem Aufſatz über „Deutſche Poli⸗ tik“: „Es wäre töricht, die engliſche Politik mit dem zum Tode gehetzten Worte des perfiden Albion“ abtun zu wollen. In Wahrheit iſt dieſe angebliche Perfidie nur ein geſunder und berechtigter nationaler Egois⸗ mus, an dem ſich andere Volker, ebenſo wie an anderen großen Eigen⸗ ſchaften des engliſchen Volkes, ein Beiſpiel nehmen können“. So ſprachen John Morley, ſo tönte es von Lord Lonsdales nach einem Weihnachtsbeſuche in Berlin über den Deutſchen Kaiſer, ſo klang es weiter aus dem Munde des Fürſten Lichnowsky bei den bekannten Bratenreden bis zum Kieler Flottenbeſuch, fünf Monate vor Kriegs⸗ beginn, da die „Entſpannung“ ihren Höhepunkt gefunden hatte.

130 Einen beſonderen Beſtandteil des englifchen (ethiſchen) Denkens beſchreibt der Anhang dieſes Buches „Über den engliſchen cant“.

232 Uberall, wohin ich blicke, ſehe ich dieſe Angliſierung: Ich ſehe fie in der Nachahmung engliſch⸗ lauwarmen „Komforts“ in unſeren Wohn: räumen, in den neueſten Ulbertreibungen des Sports, in einer einſeitigen unechten Willens⸗ und „Charakter“ bildung, innerhalb der Mehrzahl der England nachgeahmten „Landerziehungsheimen“, welche, Kultur und Schule auseinanderreißend, einen blöden ehrfurchtsloſen engliſchen Boygeiſt und „Individualismus“ züchteten, ſehe fie in der päda— gogiſchen Richtung der pragmatiſtiſchen Münchner „Arbeitsſchule“ gegen die „Bildungsſchule“, in dem Kampf gegen das humaniſtiſche Gymnaſium, in der peinlichen Viriliſierung der Damenmode, ſehe ſie (wie ſchon Bismarck) in den ſtaatsrechtlichen Grundfägen des deutſchen Liberalismus, ſehe ſie in ſo grundverſchiedenen Dingen wie dem ſog. deutſchen „Imperialismus“, in der ökonomiſchen Geſchichtsauffaſſung der Marxiſten trotz alles Hegelſchen und hiſtoriſch⸗deutſchen Einſchlags, im undeutſchen ſog. Alldeutſchtum (dieſem undeutſchen Verſuch, engliſche Borniertheit und engliſches Jingotum bei uns anzupflanzen), im Pazi⸗ fizismus der Intereſſenſolidarität, ſehe ſie in der Calviniſierung unſeres deutſchen Luthertums und des übrigen Proteſtantismus (ſ. Troeltſch), in der doppelten Wahrheitslehre der Rietſchelſchen Theologie, ſehe ſie ganz beſonders in den Wiſſenſchaften, der Philoſophie (Neuhumeanismus, Senſualismus, Aſſoziationspſychologie, Dfonomieprinzip als Erſatz der Logik), der Nationalökonomie (Übertreibung des bourgeoifen Gewerk—

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ſchaftsgedankens, extreme Freihandelslehre, Malthuſianismus), der Phy⸗ ſik (Maxwellſche Methodik), der Biologie (Darwinismus und mechani⸗ ſtiſche Lebensauffaſſung), ſah fie (hoffentlich) in den neuen Lebens⸗ formen der deutſchen vornehmſten Gefellfchaft, ſehe fie in ſchlechten Nachahmungen der fog. engliſchen Weltpolitik ſeit der Erwerbung von Kiautſchou, ſehe ſie beim höfiſchen Hochadel, (Gott dank beim ein⸗ fachen Landadel noch am wenigſten), bei Bürgern, welche die „ſchöne engliſche Freiheit“ (d. h. äußerſte ſoziale cant⸗ Bevormundung aller gut⸗ gewachſenen Individualität und Originalität) ſuchen, bei Arbeitern, die von rein ökonomiſchen Umwälzungen eine ſolche der ganzen Kultur erwarten, ſah ſie in Stil und Manieren unſeres Auswärtigen Amtes, in der Internationalen Monatsſchrift unſerer Akademiker, in einer ungeheuren Menge höchſt komiſcher ganz angliſierter Menſchen⸗ figuren, die kaum ordentlich mehr deutſch reden können. Faſt wäre es

einfacher zu ſagen, wo man ſie noch nicht ſieht.

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Hin 3 X

. 1 Ki ö Ze u 1

Zur Pſychologie des engliſchen Ethos

und des cant.

ir Deutſche müſſen uns heute eine Frage vor⸗ Weben. Wieſo war das ungeheure Mißoerſtänd⸗

nis deſſen möglich, was ich mir die engliſche Ent: ſpannungskomödie zu nennen erlaubt habe? Wie jene Komödie, die faſt ebenſo groß war, als es heute der Haß einer enttäuſchten Liebe ſeitens unſerer Entſpannungskünſtler und ihres Anhangs gegen England iſt? Wie war es möglich, daß ſelbſt unſere oberſten Behörden bei Sir Goſchens Kriegserklärung (S. Goſchens Schilderung im engliſchen Blaubuch) nicht nur jene Überraſchung zur Schau trugen, deren Ausdruck für den Diplomaten zuweilen auch bei Ereigniſſen, die er vorherſteht, nicht unzweckmäßig ſein kann, daß ſie, wie wir fürchten müſſen, vielmehr eine wirkliche und echte Überraſchung war? Daß Berlin aufſchrie, ſo wie der heißliebende Freund, wenn der für getreu gehaltene Freund ſich als Verräter entpuppt? Ganz Deutſchland aufſchrie bis auf die ganz verſchwindende Minorität, die England kannte? Man mag, man muß dieſe ſonderbare Tatſache im einzelnen unter⸗ ſuchen, an der Hand des Weiß⸗Blau⸗Orangebuches, ſpäter an der Hand neuerſchloſſener Archive und der hiſtoriſchen Er⸗ kenntnis aller Vorgeſchichten und beteiligten Perſonen. Das

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ift hier nicht meine Sache. Das iſt auch nicht an der Zeit. Aber es iſt mir, als läge über den hiſtoriſchen Urſachen hinaus noch ein ganz allgemeiner Grund ſchon für die Möglichkeit dieſer Erſcheinung in einem tiefen deutſchen Mißverſtehen und in einer radikalen Unkenntnis des Ethos, ja der verborgeneren Seele des Inſelvolkes: in einer Unkenntnis, die deutſcher Ehr⸗ lichkeit und Biederkeit vielleicht zum Verdienſte angerechnet werden muß, ſicher aber nicht zum Verdienſte deutſcher Pſycho⸗ logie gereicht. Sollte der Leſer dieſe meine beſcheidene Meinung nicht teilen, ſo bitte ich das Folgende nur als einen ſchlichten Beitrag zur Seelenlehre der intereſſanteren Völker anzuſehen.

In dem von Oxforder Gelehrten herausgegebenen Buche:

„Why we are at war?“ weiſen die Verfaſſer in einem Kapitel

über die deutſche Staatsauffaſſung den deutſchen Vorwurf der engliſchen „Hypokriſte“ zurück. Es iſt ſehr witzig, ſehr cant, daß ſie dieſes griechiſche Wort, nicht das Wort cant gebrauchen. Nachdem fie die „Machtſtaatstheorie“ Heinrich von Treitſchkes als „die Philoſophie der deutſchen Regierung“ geſchildert und feſtgeſtellt haben, daß im engliſch⸗ deutſchen Krieg eigentlich zwei „Prinzipien“ im Kampfe lägen, deren erſtes (engliſches) als höchſtes Ziel aller Politik „die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung und der völkerrechtlichen Verträge Europas“ „Europas“, wie fie vorſichtig, an ihre Vergewaltigung des Völkerrechts in Indien und Agypten denkend ſagen —, deren zweites die Wahrung von Heil und Macht des eigenen nationalen Staates gebiete („salus publici suprema lex“), verwahren fie ſich gegen unſeren Vorwurf, es fei das engliſche Vorgeben nur „Hypokriſte“, daß England die Rechte Belgiens und Serbiens mit dieſem Kriege ſchützen

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daneben noch das arme außerpreußiſche Deutſchland von „Goethe und Schiller“ vom Joche des preußiſchen Milita⸗ rismus erlöſen wolle, mit folgenden, lapidaren und köſtlichen Worten: „It is true, that we are fighting for our own inter- est. But what is our interest? We are fighting for Right, because Right is our supreme interest.“ (Seite 116.) Gewiß hätten fie fo fahren fie weiter auch viele und reiche Vor: teile aus dieſem Kriege zu erwarten, wenn er für ſie ſiegreich ausgehe. Sollten ſie ſo fragen die Verfaſſer den Krieg etwa deswegen unterlaſſen? Aber nicht ihr Intereſſe ſei es, das ſie, wie wir Deutſche ungerecht ſagten, zum Rechte Euro⸗ pas emporheuchelten, ſondern dies ſei eben einer der älteſten engliſchen moraliſchen Gedanken, daß das Recht der Welt auch das engliſche Intereſſe ſei. Wie durchaus richtig dieſe Be⸗ merkung vom „älteſten moralich⸗politiſchen Gedanken“ Eng: lands iſt, haben wir früher geſehen. Völlig irrig wäre es auch, der Feſtigkeit des Glaubens der Herren Verfaſſer an dieſe Grundſätze zu mißtrauen, oder gar in die Ehrlichkeit ihrer Worte irgendeinen Zweifel zu ſetzen. Aber wie konnte dieſer „alte engliſche Gedanke“ („the old the very old English political theory“) wie diefer Glaube entſtehen? Wie Dauer gewinnen, wie in England herrſchen?

Die Gottheit ſelbſt mit der Annahme zu bemühen, daß ſie es ſei, die es ſeit Ewigkeit ſo gefügt habe, daß eine präſtabilierte ewige Harmonie zwiſchen den Forderungen der ewigen Rechts⸗ ordnung und den Intereſſen dieſer Inſel beſtehe, verbietet uns das gerade in England ſtets nur allzu ſehr anerkannte „Prinzip der Okonomie“ und der Erſparnis der Urſachen. Wie aber löſt ſich das Rätſel dieſes Glaubens dann?

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Es löſt ſich durch die Pſychologie einer bei uns ebenſo oft genannten als nur äußerſt ſpärlich bekannten und voll ver⸗ ſtandenen ethiſchen Grundhaltung des engliſchen Geiſtes: durch die Pſychologie des engliſchen cant.

Der cant iſt ein ſeeliſches Gewächs, das zwar Beſtandteile in ſich birgt, die auch anderweitig in der Welt zu Hauſe ſind als da ſind Lüge, Phariſäismus, Formalismus, Scheinheilig⸗ keit, Heuchelei, ſozialer Illuſionismus bezüglich öffentlicher, ſittlich verdammenswerter Zuſtände, das aber in ſeiner eigen⸗ artigen Ganzheit und in ſeinem einzigartigen Duft nur in England gedeiht. Der amerikaniſche Abkömmling davon verhält ſich dazu wie Wildling und Edelraſſe. Eine um⸗ faſſende Definition des cant läßt ſich kaum geben. Man kann nur nach und nach dieſes ſonderbare Syſtem des Denkens, Fühlens und Wollens des Inſelvolkes entwickeln.

„Cant“ das iſt zunächſt ein eigenartiger Zuſtand des Be⸗ wußtſeins, der es erlaubt, alles dasjenige, was andere, denen dieſer Zuſtand fehlt, nur in der Form der Lüge und mit „ſchlechtem“ Gewiſſen ſagen und tun können ohne dieſe Form und nicht nur mit dem Tone der Biederkeit, deſſen ſich auch der gemeine Lügner bedienen kann nein auch mit dem Erlebnis und der Überzeugung des „guten Gewiſſens“ und all ſeinen eigentümlichen Ausdruckserſcheinungen zu ſagen und zu tun. Oder auch: cant iſt die zu einem feelifchen Habitus ge⸗ wordene Kunſt, alle Vorteile einzuheimſen, die eine Verletzung ſittlicher und moraliſcher Grundſätze zuweilen mit ſich bringen kann, ohne doch dem peinigenden und die Tatkraft hemmen⸗ den Gefühle zu unterliegen, daß man dieſe Grundſätze verletzte. Cant iſt ein „Lügenäquivalent mit gutem Gewiſſen“.

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Nun mag es auf den erſten Blick freilich ſcheinen, als ob der ſo definierte „cant“ ein vollſtändiges pſychologiſches und logiſches Paradoxon darſtellte. Denn wie kann man lügen, ohne zu wiſſen, daß man lügt? Es ſcheint doch die Definition der Lüge zu ſein, daß man gleichzeitig, indem man eine Un⸗ wahrheit äußert, die Wahrheit über den betreffenden Sach⸗ verhalt kennt. Es iſt doch die Definition des unmoraliſchen Verhaltens, daß man weiß, was gut oder das Beſſere iſt, in⸗ dem man das Schlechte oder das Schlechtere tut.

Aber unſere Bewußtſeinszuſtände richten ſich niemals nach ſo rigiden Definitionen.

Um das ſcheinbar Unmögliche, den cant, hervorzubringen, verfügt die Seele über mehr als eine Methode. Was Lüge und Heuchelei betrifft, ſo muß man unterſcheiden zwiſchen der gemeinen Lüge und der Verlogenheit im Sinne einer Form und Konſtitution der Seele. Es gibt freilich auch eine „Ver⸗ logenheit“, die nur eine Gewohnheit zu lügen darſtellt. Dieſe iſt hier nicht gemeint. Jene tiefere organiſche Verlogenheit, die ein Beſtandteil des cant iſt, beſteht nicht darin, daß Tat⸗ beſtände, die wir kennen in Form von Vorſtellungen, Ur⸗ teilen, Erinnerungen uſw. in der Ausſage gefälſcht werden, oder daß ſolche Fälſchungstätigkeit in der Ausſage zu einer „Gewohnheit“ geworden wäre; ſie beſteht darin, daß ſchon der Prozeß der Wahrnehmungs-, Vorſtellungs- und Urteils⸗ bildung, in dem die Tatbeſtände erſt zum klaren Bewußtſein kommen, der eigentümlichen Richtung folgt, daß Erwünſchtes oder den eigenen Intereſſen Gemäßes unterſtrichen und in der Tendenz von Wunſch und Intereſſe fortgebildet und um⸗ geformt, Unerwünſchtes und den Intereſſen Zuwiderlaufen⸗

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des unterdrückt oder in dieſer Tendenz verändert wird. Ins⸗ beſondere wird das aus dem Gedächtnis hervorgeholt, worauf das Gewiſſen poſitiv, das aber für die Bewußtwerdung unter⸗ drückt, worauf das Gewiſſen negativ reagieren würde. „Mein Stolz ſprach zu meinem Gedächtnis: das kannſt du nicht getan haben. Da gab das Gedächtnis nach. Alſo habe ich es nicht getan.“ Dieſes Wort Nietzſches iſt für alle eng⸗ liſche Geſchichtsauffaſſung ebenſo charakteriſtiſch wie für das Verhalten jedes einzelnen Vertreters des ſtolzen Inſelbvolkes. Gerade weil hier die Fälſchung des Tatbeſtandes ſchon durch den Prozeß der Bildung der Vorſtellungen automatiſch geleiſtet iſt, nicht aber an Stelle ſchon fertig gebildeter Vor⸗ ſtellungen andere willkürlich zwecks Ausſage erdichtet werden, fehlt hier der Tatbeſtand der eigentlichen „Lüge“. Die Aus⸗ ſage oder das Verhalten decken ſich vielmehr mit Urteil oder Abſicht genau fo wie in der wahrhaftigen Außerung; der Ton iſt derſelbe Ton der „heiligen Überzeugung“; das Geſicht hat denſelben Ausdruck der Offenheit, Biederkeit und Sicherheit! Das peinliche Gefühl zu lügen fehlt, das unſer Selbſtgefühl, bei den Engländern den ſo ſtark ausgebildeten ſtarren „Stolz“, erniedrigt; ebenſo fehlt ſeine gefährliche Folge des Schwan⸗ kens, Zögerns, der Zeichen der Beſchämung, des ſchnellen und rhythmiſch veränderten Atmens, die den Lügner ſo leicht ver⸗ raten. Obzwar vom organiſch Verlogenen genau dasſelbe geleiſtet iſt (für ſeinen Vorteil oder für ſein ehrlich daſtehen⸗ des Bild im Zuſchauer) was die nicht oder weniger organiſch verlogene Seele nur in der Form der bewußten Lüge zu leiſten vermag, hat ihm die automatiſche Form des Prozeſſes jener Leiſtung das surplus des „guten Gewiſſens“ und aller ihm

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entſprechenden Zeichen der Glaubwürdigkeit zu dieſer Leiſtung dazu erkauft. So iſt das „Geſchäft“, das er gemacht hat, zwiefach beſſer als das des gemeinen Lügners. Er hat den Vorteil; dazu ein gutes Gewiſſen und man glaubt ihm! Ja, im Maße als ein Subjekt in dieſem Wortſinne „ver⸗ logen“ iſt, braucht es nicht nur, es kann auch gar nicht im gemeinen Sinne „lügen“. Die Wahrhaftigkeit wird für den Menſchen des cant von einer ſittlichen Pflicht zu dem Naturgeſetz: „Der Gentleman lügt nicht.“ Denn woher kämen hier auch nur die möglichen Motivde zur Lüge, die ja gerade die organiſche Wahrhaftigkeit, d. h. die von den Intereſſen und von der Angſt, ſich moraliſch anklagen zu müſſen, unbeeinflußte Vorſtellungs⸗ und Urteilsbildung ſchon vorausſetzen? Es iſt daher das ſcheinbare Paradox völlig be⸗ greif lich, daß das Volk des cant das Lügen von allen Völkern am ſtrengſten verwirft und am ſchärfſten ahndet; nicht etwa nur aus „Scheinheiligkeit“, ſondern völlig ernſt! „Der Gentle— man lügt wirklich nicht.! Denn er wäre kein „Gentleman“, beſäße er nicht genug cant, um der gemeinen Lüge entraten zu können. Wie die Strenge des engliſchen Moralismus und wie die ſo ſcharf ausgeprägte Empfindlichkeit des engliſchen Sittenſtolzes überhaupt, ſo ſind gerade dieſe ſtrenge ſittliche Verwerfung und Ahndung der gemeinen Lüge, iſt die ſtarke Aoerſion des engliſchen Stolzes gegen die in jeder ſolchen Lüge liegende Unterwerfung des eigenen Selbſt unter fremde Wert⸗ ſchätzung und Intereſſen, eine ſtarke Miturſache für die Aus⸗ bildung des cant. Was der Engländer daher an der Lüge ſo ſcharf tadelt das iſt eben der unerhörte Mangel ihres Urhebers an dem engliſchen Nationalethos, d. h. an cant, der

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den gewöhnlichen Lügner zum täppifchen Ausweg der bewußten Lüge zwang. Es iſt alſo geradezu die Angſt vor der gemeinen Lüge, die ſeeliſche Vorwirkung des keimenden Stolzes, der es abweiſen würde, ſich ihrer zu bedienen, was zur Miturſache jener organiſchen Verlogenheit wird, welche, indem ſie die Lüge überflüffig macht und Lügen ſpart, diefen Zuſammenſtoß des Verhaltens mit dem eigenen Stolz und mit der ſittlichen Verwerfung vermeidet. Ein Engländer braucht dies „Ge⸗ ſchäft !, das der cant macht, nicht mehr zu berechnen. Die Seele berechnet hier ſchon automatiſch, und die Mühe der Berechnung entfällt.

Derſelbe Effekt wird aber noch auf eine andere Weiſe er⸗ zielt. Dies geſchieht durch eine eigentümliche Loslöfung der ſee⸗ liſchen Reihen und Komplexe voneinander, von denen die einen das Handeln, die anderen das Urteil über das Handeln und die das Urteil fundierenden Regungen des Gewiſſens beſtimmen. Der Menſch des cant leidet an einer Art von moraliſchem

Doppelich. Er bezieht die ſittlichen Grundſätze, die er laut und

durchaus ehrlich durchaus nicht nur vorgebend bekennt, auf alles, nur nicht auf ſeine eigenen Handlungen im Momente des Handelns. Das praktiſch tätige und das ſittlich fühlende und beurteilende Ich bilden im Ganzen der Perſönlichkeit zwei ſcharf getrennte Provinzen, von denen die Aktualiſierung der einen Provinz die Regung der anderen automatiſch aus dem Bewußtſein ausſchaltet. Wie ſagt doch B. Shaws Tanner in „Menſch und Übermenſch“: „Mein lieber Taoy, deine fromme engliſche Gewohnheit, in der Welt ein moraliſches Gymnaſtum zu ſehen, das eigens zu dem Zwecke eingerichtet wurde, deinen moraliſchen Charakter zu feſtigen, führt dich

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gelegentlich dazu, über deine eigenen verdammten Grund ſate immer in dem Augenblick nachzudenken, in dem du über an⸗ derer Leute Bedürfniffe nachdenken ſollteſt (S. 121). Da das Erlebnis des ſchlechten Gewiffens‘ aber durchaus an die lebendige Syntheſe und Einheit dieſer beiden Ichs, an die be⸗ faß oder Gewiſſensregung gefnüpft if, fo sermag es hier zu einem ſchlechten Gewifjen“ überhaupt ſchwer zu kommen

Falschen alfo nicht Winſch and Antereffe den Hergang der Wahrnehmungs⸗ Urteils und Vorſtellungsbildung in entfprechenden Weiſe („ih bin gut“), fo serdrängt der regung ſtets gerade in dem Augenblick, da fie als aktives Motiv in das Wollen und Handeln einzugehen sermöchte. Hier iſt wirklich im Gimme des Goetheſchen Wortes angefihts Hamlets „der Handelnde immer gewifienlos“. Durch ſolche Abfpaltung ganzer Bewußtfeinszentren son- einander entſtehen jene ganz eigenartigen dualiſtiſchen Lebens- formen, die Leben, Dichtung und Pbilsfopbie des Jafelvolfes durchziehen. So der Gegenſatz der Haumletnatur (Hamlet if eine echt engliſche Geſtalt ), des ũbergewiſſenhaften grüble- riſchen Träumers und Idenliſten“, den gerade die als fe drängend empfundene Aufgabe der Gewiſſen wertung mõg⸗ licher Handlungen nicht zum Handeln ſelbſt kommen läßt und des rüficheslofen Draufgängers, derm umgekehrt das Handeln nicht zur WSertfchäsung und zur Prüfung der eigenen Motise zu gelangen erlaubt ein Top, der ſich im , rück ichesloſen engliſchen Keleniften fo ſcharf ausprägt. So entſpringt auch

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der ſchon von Kant hervorgehobene ſtets empfundene englifche Dualismus von Privatmoral und Staatsmoral. Während der einzelne Engländer ehrlich, verläßlich, treu, und da, wo er Freund geworden, auch rückſichtsvoll und hervorragend opfer⸗ fähig iſt iſt die engliſche Politik ſtets von dieſem allen das gerade Gegenteil geweſen. Und dieſer Dualismus herrſcht in einem Maße, das gewaltig hinausgeht über die bei allen Völkern konſtante, in der Natur der Sache gelegene Ab⸗ weichung von privater und Staatsmoral. Es iſt der ſo charakteriſtiſche engliſche Individualismus, die Wurzel der früher gekennzeichneten engliſchen Vertragslehre, der es hier mit ſich bringt, daß das Gewiſſen in England niemals zu einer öffentlichen Macht werden kann, fondern ganz auf die Einzel⸗ ſeele lokaliſiert bleibt. Und was ſich im Verhältnis zu anderen Völkern im Großen ſpiegelt, das äußert ſich innerhalb des engliſchen Lebens in dem ſchroffen Gegenſatz einer formal ſehr präzis und korrekt geordneten, aber nach innerem Motio und Zweck angeſehen, maßlos brutalen und rückſichtsloſen Geſchäftsmoral; eines ungezügelten merkantilen Geiſtes und einer tiefen, feinen, grübleriſch⸗romantiſchen Religioſität, ver⸗ bunden mit feinſter ſittlicher Empfindung gegen Freunde, Familie, kurz gegen alle Perſonen, die den gewaltigen Trennungsſtrich überſchritten haben, der das engliſche „castle house“ (das Bild der „Feſtung“ iſt von einzigartiger Plaſtik für das engliſche Haus) von aller öffentlichen Sphäre trennt. Wie mit Caloinismus und Puritanismus, für die jeder Menſch eine mit Forts und Kanonen befeſtigte Seelen⸗Inſel ein kleines England iſt, und keiner dem anderen Vertrauen ſchenken darf, da jedes Vertrauen von

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Menſch zu Menſch, jenſeits rechtlich und vertraglich fundierter Erwartungen, ſchon als irreligiöſe Verminderung und Be⸗ ſchränkung des wahren Gottvertrauens gilt, dieſen Dualismus gefördert haben, oder ob umgekehrt, dieſe engliſche Volks⸗ eigenſchaft die puritaniſch-ethiſche Färbung erſt in den Cal⸗ vinismus hineingetragen hat, ſei hier nicht unterſucht. Ein einziges großes „castle“ iſt aber auch die ganze Inſel ſelbſt für alle Ausländer. „Für ſeine Landesgenoſſen“ ſo ſagt ſchon Kant „errichtet der Engländer große und allen anderen Völkern unerhört wohltätige Stiftungen. Der Fremde aber, der durch das Schickſal auf jenes ſeinen Boden ver⸗ ſchlagen und in große Not geraten iſt, kann immer auf dem Miſthaufen umkommen, weil er kein Engländer, das iſt kein Menſch iſt“.

Und wieder entſpricht dieſem doppelten Dualismus jener, bei dem ſich Gewiſſens⸗ und Handelszentrum auf jene beiden Ichs verteilt, die W. James das „intime Ich“ und das „ſoziale Ich“ genannt hat und zwar fo, daß das Ge: wiſſenszentrum ganz in das ſoziale Ich des Individuums fällt; das heißt in England in den „Gentleman“. Der Franzoſe verſchwindet faſt völlig in feinem „ſozialen Ich“, in feiner ſozialen „Rolle“. Konverſation und Geſelligkeit iſt der Wurzelboden auch für das Werden ſeiner Literatur, Kunſt und Philoſophie. Dieſe ſind immer ein verdichteter Dialog, eine geronnene Kauſerie. Der Deutſche neigt eher zum Gegen⸗ teil. Er ſetzt an die Leerſtelle ſeines „ſozialen Ich“ Titel und Amt. Seine Literatur, Kunſt, Philoſophie iſt im weſent— lichen Werk einzelner, einſam ringender Seelen. Nur im Engländer bewahren beide Ichs die gleiche Feſtigkeit der

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Exiſtenz, geraten aber auch bis zur völligen Berührungsloſig⸗ keit auseinander. Das „ſoziale Ich“ ſind ja nicht etwa die Vorſtellungen und Wertſchätzungen, die andere von uns haben. Das ſoziale Ich iſt das von jedem erlebte ſoziale Aktionsich des „Gentleman“ ſelbſt, das für den Engländer wie eine feſte Subſtanz neben und außer ſeinem intimen Lebenszentrum ſchwebt. Gerade nach fremden Urteilen und Bewertungen frägt der „ſtolze“ Engländer äußerſt wenig und insbeſondere viel weniger als der ſo gerne herum⸗ horchende Deutſche. Verteilt ſich nun aber Handlungs⸗ und Gewiſſenszentrum auf dieſe beiden Ichs, fo entftehen fo ein- zigarfig=englifche cant⸗Figuren, wie fie uns Oskar Wilde das tragiſche Opfer des ſich ſelbſt durchſchauenden cants in feinem „Dorian Grey“ und in feinem Luſtſpiel „Ernſt“ in den Figuren Dorians und des Lord Pemburry gemalt hat: Menſchen, die ſchließlich geradezu ein Doppelleben führen, ein höchſt ehrſames, würdiges, formgebundenes Leben in der großen Geſellſchaft oder wie Lord Pemburry auf dem Lande, als Junker und Kirchenvorſtand, und ein Leben in dunk⸗ len Laſterhöhlen Londons beide Leben aber als gleich echt empfunden und jedes in ſeinem eigenen regelhaften Stil. Was aber hier in der Form der poetiſchen Satire und Karikatur als ſtatiſche Zweiheit vor uns ſteht, das zeigen auch die ganz einzig⸗ artigen zeitlichen Ubergangsrhythmen, wenn eine eben noch ganz ſteife engliſche Herren⸗ und Damengeſellſchaft „unter ſich luſtig und ausgelaſſen“ wird. Hinter dem eben noch regierenden Geſetz einer ſteifen Würde, die ſchon das Geſicht eines jeden echten Engländers zu einem ſelbſtgeprägten Werk einer langen Gewolltheit und ſchließlichen Gewohnheit macht, taucht plötz⸗

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lich ein beifpiellofer Infantilismus, eine Albernheit hervor, die uns anzeigen, wie ſehr das intime Ich hinter dem ſozialen des „Gentleman“ in der Entfaltung zurückblieb, und wie ſehr die engliſche Moral ganz einſeitig eben nur im „Gentle⸗ man“ lokaliſtert iſt. Und derſelbe Dualismus kehrt im großen wieder im Leben der engliſchen Stadt, allen voran in Lon⸗ don, ſeinem ſchroffen Wechſel von Tugend und Reichtum mit beiſpielloſem Laſter und Armut und in der faſt unglaub⸗ lichen Art, wie in der erſten dieſer Welten ſchon die bloße Ex iſtenz jener zweiten Welt und die Regeln ihrer Lebensfüh⸗ rung verleugnet und ignoriert wird. Genau ſo wenig man in einer Geſellſchaft „Hoſe“ ſagen oder erwähnen darf, daß dem King irgendwo und irgendwann Illenfchliches nicht fremd blieb (bei dem Lebemann Eduard VII. war der Gegen⸗ ſatz beſonders poſſierlich), genau fo wenig darf die Exiſtenz der rieſenhaften Londoner Proſtitution, ſtatiſtiſch die größte der Welt, und alles, was nur im entfernteſten damit zu tun hat, öffentlich in Parlament und Preſſe zugegeben und erwähnt werden. Sie iſt nicht oöx zy aber pn dv. Die dem cant fo eigen⸗ artige Haltung des „Shocking“, die im Gegenſatze zum deut⸗ ſchen „Pfui“ oder dem galliſchen „Fi donc!“ ſchon beim erſten Geruche, beim erſten Wertparfüm von etwas für die öffentliche „Moral“ Fragwürdigem es gar nicht zur Wahrnehmung und Vorſtellung, zum Bilde geſchweige gar zur urteilsmäßigen Konſtatierung ſeiner Exiſtenz gelangen läßt, durchwaltet wie den einzelnen auch Preſſe und öffentliche Meinung. Nur darum haben die ſeltenen engliſchen Geſellſchaftsſkandale eine fo ungeheuerliche Größe und Entſetzlichkeit, weil die Kraft des cant die Skandalſchwelle unlauterer Vorgänge

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fo gewaltig in die Höhe treibt, daß nur die allerſchwerſten Fälle die Hemmkraft des cant ſprengen und zur Exploſion zu bringen vermögen. Dazu unterbindet das engliſche Geſetz bei Beleidigungsprozeſſen nicht nur den Wahrheitsbeweis in einem für uns Kontinentale unerhörten Maße, ſondern es gilt überdies in Rechtſprechung und Leben der engliſche Grund⸗ ſatz: „The greater the truth, the greater the libel“. Wird dieſer dem kontinentalen Ethos widerſprechende Grundſatz nun gar noch auf diejenige Beleidigung angewandt, die im Vor⸗ wurf der Lüge ſteckt, ſo beſagt dies, man ſei um ſo mehr ver⸗ pflichtet den Schein zu vermeiden, daß man dem Anderen keinen Glauben ſchenke, je mehr man zur Annahme geneigt ſei, daß er lüge. Erſpart alſo der cant des Redenden ihm nicht ſchon die Lüge, ſo hat doch zum wenigſten der cant des Angeredeten jeden möglichen Vorwurf oder jede Feſtſtellung einer Lüge auszuſchließen. So wird der „gute Glaube“ hier ſelber zum Inhalt einer ſelbſtverſtändlichen ſozialen Konven⸗ tion. Die Annahme der Wahrhaftigkeit wird zur „konven⸗ tionellen Lüge“. Je mehr aber dieſer beiſpielloſe ſoziale Illuſionismus die öffentliche Luft Englands als „rein“, alle ſozialen Zuſtände als „wohlgeordnet“ erſcheinen läßt, ſo ſehr nimmt er Kraft und Energie wie jeder Illuſionismus die betreffenden verſteckten Übel tatkräftig zu bekämpfen. Möchte ſelbſt der allgemein menſchlichen Tatſache, daß die öffentliche Moral ſtets weit ſtrenger und enger iſt, als Hand⸗ lung und Urteil des Einzelnen, eine gewiſſe ſoziale Zweck⸗ mäßigkeit nicht abgeſprochen werden, der engliſche cant, der dieſe Differenz ins äußerſte Extrem ſteigert, wendet ſelbſt dieſen konſtitutionellen Phariſäismus allen „ſozialer“ Moral

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in Unzweckmäßigkeit um. Er bewirkt jene äußerſt fonder- baren sit venia verbo Verſtopfungserſcheinungen, an denen nicht nur die engliſche Verdauung, an dem auch die eng⸗ liſche Seele und Geſchichte fo auffällig leiden. In Indivi⸗ duum, Familie, Gemeinde, Staat freſſen die Übel, welche die Illuſtonskraft des cant verdunkelt, weiter und weiter nur weil der Angriff, fie abzuwenden eine momentane Über⸗ windung des cant, ſchon als Vorausſetzung der zu ihrer Ab⸗ wehr nötigen Anerkennung ihrer Exiſtenz fordern würde. Und es iſt wieder derſelbe cant, der in der engliſchen Ver⸗ faſſungsgeſchichte zu analogen Erſcheinungen führt: zur Un⸗ fähigkeit, Altes, Überlebtes, z. B. einzelne Geſetze und Ge⸗ wohnheitsrechte, ſo vieles die lebendige Tätigkeit des Staats⸗ oder Gruppenorganismus nur Belaſtendes auszuſcheiden; zu all jener Erhaltung und Galvaniſterung leerer Formen im Staats-, Gemeinde⸗ und privaten Rechte, z. B. im Ver: hältnis des Königs zum Volke, Formen, die längſt über⸗ flüſſig geworden ſind. Noch heute gebietet, trotzdem England eher Republik als Monarchie iſt der cant des engliſchen Volkes dem auch im König wieder ſtillſchweigend vorausgeſetzten cant, daß ſich der König in Formen verehren und etikettieren laſſe, die nur dem alten vorrevolutionären abſoluten Monarchen anſtanden. Der König muß ſich mit feinen mageren Revenüen ſcheinbar zufrieden geben und doch beiſpielloſen Reichtum und Freigebigkeit heucheln. Noch heute ſpielt der Richter in feiner uralten roten AUmts- tracht mit der Perücke auf dem Kopf die ſeiner Bedeutung längſt nicht mehr angemeſſene Rolle eines römiſchen Prä⸗ tors. Aber eben nur in der Form des cant wird dieſer eng:

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liſche Traditionalismus, dieſer Gewohnheitsglaube, der auch die geſamte engliſche Moralphiloſophie bis zu Bain, Mill und Spencer durchzieht, der einen David Hume nicht davor zurück ſcheuen ließ, felbft die Kauſalverknüpfung auf „Gewohn⸗ heit“ zurückzuführen, dem faktiſch ſo tatkräftigen und dem Rufe der Stunde folgenden Engländer erträglich. Denn dieſer Traditionalismus ſchleppt nur die entleerte Form ſo pietätvoll und verehrungsvoll im Scheine weiter, überläßt aber die faktiſche Zweckſetzung des Willens um ſo mehr einer ganz prinziploſen opportuniſtiſchen, klugen und geſchickten Anpaſſung an die momentane Realität.

Von einer beiſpielloſen Wirkung, die noch viel zu wenig beachtet wurde, war der cant in der Geſchichte der engliſchen Philoſophie. Die durch das ganze ſpätere Mittelalter gehende Lehre von einer „zwiefachen oder doppelten Wahrheit“ ihr Urſprung, wahrſcheinlich in Italien iſt noch nicht genau feſt⸗ geſtellt hat nirgend eine ſo große Bedeutung und Aus⸗ breitung gewonnen als in der Philoſophie und Denkweiſe des Inſelvolkes. Bald iſt es der Gegenſatz einer „natürlichen“ und „geoffenbarten“, bald jener einer „theoretiſchen !“ und „praktiſchen“ Wahrheit, der die engliſchen Gedankenſyſteme ſchon ſeit Roger Bacon und Franz Bacon wie ein roter Faden durchzieht. Der franziskaniſche Skotismus und Okka⸗ mismus, der das Gute auf autoritäre, grundloſe Willensakte Gottes zurückführt das Gute alſo aus dem „Weſen“ der Gott⸗ heit herausverlegt wird bald in dieſer religiöfen Form, bald in der naturaliſtiſchen des Hobbes, bei dem an Stelle Gottes für die Logik die konventionelle Setzung und Definition, für die Ethik der Wille des Staatsſouveräns tritt, geradezu ein Erb⸗

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gut in der Hauptkette der engliſchen Denker. In diefen Lehren rechtfertigt ſich der Konventionalismus, die bloße Form⸗ und Scheinhaftigkeit, die ſoziale Idolatrie der engliſchen,, Moral“ auch vor dem philoſophiſchen Bewußtſein. Hier ſchon tritt jene ganz eigenartige Hypoſtaſterung einer wie in der Luft ſchwebenden „Moral“ zu einer bösartigen alten Tante hervor, die man um keinen Preis „verletzen“ darf und die dabei doch niemand hat oder zu haben braucht. Dieſer Konventionalis⸗ mus theologiſch oder weltlich gewandt, findet ſich bei den beiden Bacons, bei John Locke, Thomas Hobbes, Berkeley und bei Daoid Hume. Er erhält auch im Denken des Volkes durch die calbiniſtiſche Religioſttät und Theologie, die in Gott ganz einſeitig den ſouberänen grundloſen Machtwillen verkörpert ſieht, eine ſtarke Stütze. Vor allem aber tritt die doppelte Moral wie der Konventionalismus in der zweidentigen Hal⸗ tung hervor, die faſt alle engliſchen Denker der Religion gegenüber, bis zu Darwin und A. James Balfour einnehmen. Senſualiſtiſche Untergrabung der geiſtigen Wurzeln aller echten Religion findet ſich verbunden mit Verbeugungen vor der Offenbarung, die in der inneren Logik der Gedankenſyſteme keine Wurzel haben. Häufig geſellt ſich dazu eine erhebliche Erwei⸗ terung der Kompetenz der Offenbarung auf Fragen, für deren Löſung man zuerſt die Vernunft und die Anſchauung als in⸗ kompetent glaubt nachgewieſen zu haben. Iſt dieſe Haltung ſchon bei Bacon und John Locke ganz und gar durch jenen cant geleitet, der ſichtbarlich die Religion nur als notwendigen Beſtandteil einer ſozialen Konvention und als Grundlage der ſozialen Inſtitutionen ſchätzt, ſo wird ſie bei David Hume geradezu widerlich. Für Hume beruht ſelbſt der Glaube an

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die Außenwelt, an das Ich, an die Subſtanz und Kauſalität nur auf einem zweckmäßigen cant unſeres Bewußtſeins; auf einem Syſtem biolog zweckmäßiger Selbſttäuſchungen. So z. B. ſoll unſer Glaube an einen von dem Inhalt der Wahrnehmung verſchiedenen dauernden Gegenſtand auf zwei Täuſchungen beruhen: die erſte Täuſchung führe uns dazu, ein zeitlich dauerndes und kontinuierliches Sein dem Inhalte zuzuſchreiben. Dieſe Annahme aber führe uns indem wir den zeitlichen Wechſel der Perzeptionen wieder bemerken, den wir vorher überſahen, zum Widerſpruch, daß ein und dasſelbe Etwas kontinuierlich exiſtiere und nicht kontinuierlich exiſtiere. Dieſen Widerſpruch löſten wir durch eine zweite Täuſchung, der Scheidung einer Vorſtellung und einer von ihr abgetrenn⸗ ten Subſtanz. (Traktat, Teil 2, 6. Abſchnitt.) Wäre auf dieſe Gedankenkette deren fachlicher Wert hier unberück⸗ ſichtigt ſei ein franzöſiſcher Forſcher gekommen, er würde uns mit aller Beredſamkeit ermahnen, daß wir uns doch von dieſen Täuſchungen frei machen ſollen. Ganz anders der cant Humes. Es fällt ihm gar nicht ein, dieſen für das „Leben zweckmäßigen Glauben“ erſchüttern zu wollen. Nein! „Sorg⸗ loſigkeit und Nichtachten auf die Zweifelsgründe, das allein kann uns heilen. Auf fie baue ich hier denn ganz und gar; ich ſetze demnach aufs beſtimmteſte voraus, daß jeder meiner Leſer, was immer ſeine Anſchauung im gegenwärtigen Augen⸗ blick ſein mag, nach einer Stunde überzeugt ſein wird, es gäbe eine äußere und innere Welt. Dies iſt auch die Vorausſetzung von der ich ausgehe“ (Seite 287 in der Überfegung von Lipps). Oder Bain will uns zeigen, daß das Mitleid auf der momentanen Gefühlsilluſton beruhe, der Zuſchauer leide

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felber den Schmerz, den er leiden ſieht; J. St. Mill, daß „Liebe zum Guten um feiner felbft willen“ ähnlich wie der Geiz auf einem Vergeſſen der egoiſtiſchen Luſtprämien be⸗ ruhe, die in einem früheren Entwickelungsſtadium dieſelben Handlungen beſaßen. Auch Männer, wie Larochefoncauld oder der Deutſche Paul Nee geraten auf ähnliche Gedanken⸗ gänge. (Siehe ihre ſachliche Widerlegung in meinem Buch über Sympathiegefühle.) Aber das iſt der Unterſchied, daß der Deutſche und der Franzoſe, wenn fie ſolches annehmen, den Kampf gegen dieſe „Illuſton“, gegen diefe „Vergeßlichkeit“ der Zwecke über die Mittel predigen, wogegen die Herren Eng⸗ länder den cant von uns fordern, dieſe illuſtonäre Selbſtverwechſ— lung und dieſe Vergeßlichkeit auch nach vollzogener beſſerer Einſicht weiterzutreiben und uns ſelbſt dabei noch „gut“ vorzu⸗ kommen. Hier iſt der Bruch in dieſem keltoromaniſch⸗germa⸗ niſchen Miſchgewiſſen des Engländers. Aber erſt in der Gegen⸗ wart hat der cant auch in dieſer Linie ſeinen vollen Sieg er⸗ rungen. Werke wie die „Soziale Evolution“ von Kidd, der den Glauben als notwendiges Mittel im Daſeinskampf der menſchlichen Gruppen feiert, oder wie A. J. Balfours „Grundlagen des Glaubens“, der auf eine ganz billige Er⸗ kenntnistheorie eines wurmſtichigen Skeptizismus die Fahne der „Autorität“ und der „Gewohnheit“ der Hochkirche auf— pflanzen will, ſind die äußerſten Ausgeburten der Zweiwahr⸗ heitslehre des cant, die ſich nur denken laſſen. Auf die deutſche proteſtantiſche Theologie hat dieſer cant ſchon merkbar genug abgefärbt, beſonders auf die Schule A. Ritſchls. Ritſchl's Lehre von den „religiöſen Werturteilen“, die dem Prediger erlaubt zur Gemeinde zu ſagen: „Chriſtus iſt wahrhaftiger

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Gott! aber mit der reservatio mentalis „dem Werte nach“, geſtattet auf wunderbare Weiſe eine nicht beſtehende Ein⸗ ſtimmigkeit zwiſchen Prediger und Gemeinde vorzutäuſchen.

Wie zum engliſchen Stolze, der das Hilfsmittel des cant erwählt, um ſich gegen peinliche hiſtoriſche Erinner⸗ ungen zu ſchützen, hat der cant auch ſehr tiefe Beziehungen zu dem, was man in England „Glauben“ (belief) und „Charakter“ nennt. Beides zuſammen bildet einen eigenar⸗ tigen ſeeliſchen Zuſammenhang mit der ſprichwörtlichen „Bor⸗ niertheit“ des Inſelvolkes. „Borniertheit“, die man ebenſo wohl von Dummheit als von dem außerintellektualen „Eigen⸗ ſinn! unterſcheiden möge, kommt den Engländern wie keinem anderen Volke zu. Wendungen wie „Glauben Sie an dieſes techniſche Verfahren“, „Glauben Sie an dieſe Medi⸗ zin“, „Glauben Sie an Scszialismus“ treten dem Deut⸗ ſchen zu feiner Verwunderung in allen Klaſſen der Gefell- ſchaft entgegen. Solche Fragen, bezogen auf ganze Gebiete von Wiſſen und Leben und in dieſer Häufung wiederholt, erſcheinen anderen Völkern darum ſo unfaßlich, weil es uns Allen ſelbſtverſtändlich iſt, daß hier doch allein Erfahrung und Wiſſen entſcheiden könne und wir uns des Urteils eben zu enthalten pflegen, wo uns dieſe Baſis fehlt. Anders der Engländer: er will weniger die Welt erkennen als ſich mit ihr abfinden. Darum heißt es gerade bei ihm fo leicht „stat pro ratione voluntas“. „Stellungnahme“, „Überzeugung“ (be- lief) in allen Dingen auch wo man nichts weiß und ver⸗ ſteht frühe feſte Abrundung ſeines Weltbildes in ſeiner Geiſtesentwickelung, wenn auch um den Preis größter Geiſtes⸗ enge, gilt ihm als Erfordernis des „Charakters“. „Der

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Charakter der Engländer urteilt ſchon Kant äußerſt fein dürfte nichts anderes bedeuten als den durch frühe Lehre und Bei⸗ fpiel erlernten Grund ſatz, er müſſe ſich einen ſolchen machen, d. i. einen zu haben affektieren; indem ein ſteifer Sinn, auf einem freiwillig angenommenen Prinzip zu beharren, einem Manne die Wichtigkeit gibt, daß man ſicher weiß, weſſen man ſich von ihm und er ſich von anderen zu gewärtigen hat“. Die engliſche „Borniertheit“ iſt im Gegenſatze zur „Dumm⸗ heit“, d. h. zu ſchlechter intellektualer Anlage, die wir dem Engländer durchaus nicht nachfagen dürfen, und im Gegen- ſatze zu mangelnder Bildung und Wiſſen eben die Folge⸗ erſcheinung jenes ſyſtematiſchen und gewollten Sichverſchließens gegen neue Erkenntnisinhalte und gegen jede reine, hingebungs⸗ volle und liebevolle Aufnahme des großen Bildes der Welt. Ein- grenzung des Geiſtes in die praktiſch⸗merkantilen Kategorien des „common sense“ iſt aber nur die andere Seite, gleich⸗ ſam das Negativ zum moraliſchen cant. Beide beruhen auf derſelben organiſchen Uberbetonung des in die Intereſſen⸗ und Wunſchſphären „paſſenden“ Weltinhalts und auf organifcher Unterdrückung des „Unpaſſenden“. Für den reiſenden Eng⸗ länder behalten auch die Alpen, der Lago Maggiore, das Gangesufer oder die Wüſte genau das Relief jener möglichen praktiſchen Verwertbarkeitseinheiten, die ihm zu Hauſe in London die Auslage eines Kauf hauſes oder der Blick auf die Themſe bieten. All dies iſt ihm mögliche Induſtrie. Fehlen aber ſpezifiſchere Intereſſen am Geſehenen, ſo über⸗ hebt ihn das Vergnügen, die Identität jener Dafe oder jenes Berggipfels mit der vollendeten Ordnung dieſer Dinge auf ſeiner Landkarte oder in ſeinem Baedeker feſtgeſtellt zu

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haben, des weiteren Vergnügens, ſich dieſe Dinge auch noch anzuſehen. Auch dieſe Züge des engliſchen Weſens ſpiegelt die engliſche Philoſophie ſehr inftruftio ab. Die philoſophiſche Theorie des Urteils hat am Urteil von jeher, bis zu J. St. Mill ganz einſeitig das Moment der „ÜUberzeu⸗ gung“ oder des „Glaubens“ (belief) hervorgehoben. Seine ob⸗ jeftive Seite, ſowie die in ihm enthaltenen gedanklichen Be⸗ ziehungen wurden vernachläſſigt. Auch theoretiſch kommt dem Engländer das Urteil in die nächſte Machbarſchaft einer Art vou Willensentſcheidung und „Stellungnahme“. Macht Adam Smith die Bemerkung, daß ſich die Weltanſchauung der Menſchen nicht nach Einſicht und Gründen, ſondern ganz und gar nach ihren vorherrſchenden Intereſſen und Arbeits⸗ richtungen (Berufen uſw.) beſtimme, fo gibt er natürlich nur eine vorwiegend engliſche Beobachtung wieder. Eine gewollt bornierte Genügſamkeit in der Erkenntnis aber iſt ſeit Bacon das Hauptkennzeichen aller engliſchen Philoſophie. Bacon hält die Aſtronomie für eine „eitle Sache“, da fie zur Herr⸗ ſchaft über die Erde nichts beitrage. Die Aſtronomie des Fix⸗ ſternhimmels will er ganz verwerfen, da die Fixſterne zu weit weg ſeien, um noch unſer Intereſſe zu verdienen. John Locke hebt in ſeinem „Verſuche über den menſchlichen Verſtand“ immer wieder hervor, daß wir die Welt nur ſoweit erkennen follen, als dadurch das „menſchliche Glück“ noch berührt werde, als fie unſere Umgebung ſei und alles darüber hinaus ſollen wir dahingeſtellt ſein laſſen oder der Offenbarung überlaſſen. Die engliſchen Denker, die über die „menſchliche Natur“ Trak⸗ tate ſchrieben, beſchreiben im Intellektuellen wie Sittlichen durchaus nur typiſche Durchſchnittsbilder des Engländers fo

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daß das Wort, das Shaw in feinem Luſtſpiel „Cäſar und Cleo patra“ Cäſar in den Mund legt, Cäſars Sekretär, Britan⸗ nicus, „verwechſle die Sitten feiner Inſel mit Naturgeſetzen“ hier buchſtäblich wahr wird. David Humes Traktat und ſeine Geſchichte Englands ſind einzigartige Beiſpiele für dieſe „Borniertheit“. Man beachte z. B. nur ſeine merkantile Ab⸗ leitung der Ehre als Steigerung der Kreditfähigkeit im zwei⸗ ten Teil des Traktats und ſeine köſtlich bornierte Schilderung der deutſchen Reformation, beſonders der Perſon Luthers, den er zu einem eitlen Schulmeiſter macht, der aus Philologen⸗ ehrgeiz die beſte Bibelüberſetzung liefern wollte, dann aber über ſeinen urſprüng lichen Zweck immer weiter hinausgetrieben wurde bis zum Bruch mit dem Papſttum. Darwin und Spencer verfallen auf höherem Stockwerk genau der⸗ ſelben Bornierheit, wenn fie das Milieu der menſchlichen Dr- ganiſation auch dem geſamten organiſchen Leben zugrunde⸗ legen und die Organiſationsmerkmale der Arten auf kumu⸗ lierte Anpaſſungsmerkmale an das Menſchenmilien zu⸗ rück führen wollen. Überall zeichnet fo der Engländer einen gewollt engen Daſeinsraum um ſich herum. Er macht das Sein zur Natur, die große Natur zur kleinen Natur der menſchlichen „Umwelt“, dieſe ſelbſt wieder zur menſchlichen Vorſtellung und Senſation von ihr, die Erde zu ſeiner Inſel und den Menſchen wie Kant fo treffend ſagt „zum Engländer“.

Eine wundervolle Verbindung von cant, Borniertheit, Ge⸗ wohnheitsglaube und Mützlichkeitsgeiſt aber iſt der ſeit einigen Jahren in Mode gekommene engliſch⸗amerikaniſche ſogenannte Pragmatismus, der gewiſſe ſchon ſtark mit cant verſetzte Metho⸗

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den der engliſchen Phyſiker des 19. Jahrhunderts zu dem erwei⸗ tern wollte, was die Engländer für eine „Weltanſchauung“ halten. Der cant jener phyſikaliſchen Methode beſtand darin, daß man die Phyſik bewußt von der Aufgabe entband, die Reali⸗ tät der Natur zu erkennen und damit das, was man früher „Hypotheſe“ nannte (eine wahrſcheinliche Annahme über die Realität) zu einer zwiſchen Sein und Nichtſein ſchwebenden opportuniſtiſchen ſogenannten Hilfsvorſtellung oder einem „mechaniſchen Bild“ (Maxwell, Lord Kelvin) machte zu einem „Bilde“, das nur „eine momentane Zuſammenfaſſung der Tatſachen“ ſein und nicht Wahrheit geben, ſondern den „Fortſchritt der Wiſſenſchaft bewirken“ ſollte (Maxwell). Nachdem dieſe Methode eine Zeitlang auch bei uns ſtark in Schwang kam (Machſche Schule), iſt gegenwärtig der ge⸗ ſunde Geiſt unſerer Forſcher beſonders Planck hat fie ſcharf bekämpft daran, ſie auszuſcheiden. Der ſogenannte „Prag⸗ matismus“ aber erhob jenen Verſuch, an Stelle echter Er⸗ kenntnis der Natur gewiſſe kluge Manöver zu ihrer momen⸗ tanen Beherrſchung und Ordnung zu ſetzen, ſogar bis zur ſyſtematiſchen Umdeutung der Idee „Wahrheit“ zu „Brauch⸗ barkeit“. Der Pragmatismus wurde damit aber freilich nur zum enfant terrible der engliſchen Erkenntnistheorie überhaupt auch eines großen Teiles der Erkenntnismethoden der älteren Forſcher, die noch für „Wahrheit“ (im alten Sinne) aus⸗ gaben, was faktiſch nur brauchbar war. Der cant dieſer Richtung beſteht nicht darin, daß ſie Fiktionen und gewiſſe „Bilder“ als für die exakte Forſchung zweckmäßig aufweiſt. Er liegt darin, daß ſie alle Wahrheit in ſolcher Zweckmäßig⸗ keit beſtehen läßt. Es iſt ein gewaltiger Unterſchied, wenn

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Friedrich Nietzſche die ſynthetiſchen Urteile a priori als „lebens⸗ fördernde Lügen a priori“ aufdecken will und Vaihinger in ſeinem Buche „Die Philoſophie des Als Ob“ eine bewußte Theorie der Fiktion begründen will, d. h. den Wert der be⸗ wußten Fiktion in den Wiſſenſchaften herauszuſtellen ſucht (obzwar wir dem Verſuche Vaihingers philoſophiſch nicht folgen können). Denn eben indem dieſe Forſcher von „Lüge“ und „Fiktion“ reden, zeigen ſie, daß ſie die Idee der Wahr⸗ heit dieſen Dingen entgegenſetzen. Der cant beſteht darin, den cant der Fiktion als bloßen cant zu leugnen und zu ſagen, es gäbe gar keine andere „Wahrheit“.

Aber viel leichter ſichtbar noch iſt der cant in der engliſchen Moralphiloſophie, deren ſeltene Fülle und Feinheit der Menſchenbeobachtung noch erheblich gewänne, wenn nicht auch ſie gar zu leicht den Engländer mit dem Menſchen verwechſelte. Niemand hat dies klarer erkannt als Friedrich Nietzſche. In ſeinem „Jenſeits von Gut und Böſe“ und ſchon in der „Genealogie der Moral“ kommt er immer wieder darauf zurück, daß ſich „in die engliſche Morallehre jenes alte engliſche Laſter eingeſchlichen hat, das cant heißt und moraliſche Tartüfferie iſt, diesmal unter die Form der Wiſſenſchaft verſteckt“. Ein Adam Smith bemerkt gar nicht, daß er nicht das Gewiſſen, ſondern nur ſein engliſches Surrogat, den cant, in ſeiner Lehre von den moraliſchen Empfindungen beſchreibt. Lob und Tadel des eigenen Ge⸗ wiſſens ſoll nach Smith dadurch entſtehen, daß ein A, der einen B ſchädigt (ſchlägt, beſtiehlt, beraubt), die ſympathetiſche Mitempfindung des „unbeteiligten Zuſchauers“ mit dem Rachegefühl des B gegen A und den darauf folgenden Tadel

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des Zuſchauers gegen A felbft wieder ſympathetiſch (durch ſogenannte „reflexive Sympathie“) mitempfindet alſo durch dieſe pſychiſche Anſteckung ſeitens des Zuſchauers ſich ſelbſt tadelt. Natürlich wird hierbei das echte „Gewiſſen“ nicht abgeleitet, ſondern vorausgeſetzt. Wohl aber wird das Streben, einem „unbeteiligten Zuſchauer ein ſittlich günſtiges Bild darzubieten und die echt engliſche Neigung, auch im einſamen Verhalten zu ſich ſelbſt ſich „vor dem Auge“ der „öffentlichen Meinung“ zu gewahren, das heißt eine ganz ſpe⸗ zifiſche Form des cant, hierdurch verſtändlich gemacht. Das Gewiſſen ſoll erklärt werden und ſein engliſches Surrogat der cant wird faktiſch erklärt.

Nicht ſo ganz richtig iſt Nietzſches Bemerkung, wenn er in dem engliſchen Moralutilitarismus (er nennt Bentham) cant findet. Zwar hat er darin recht, daß der engliſche Moralutilitarismus nur auf Grund des engliſchen cant als des engliſchen Volksethos begreifbar iſt. Und doch iſt der cant gerade der eigentliche Gegner des Utilitarismus, ein Gegner freilich, der zugleich den moraliſchen Geſichtskreis des Utilitariſten bedingt und bindet, und nur inſofern auch wieder im Utilitarier ſelber ſteckt.

Wer den jahrhundertelangen Kampf des aufkläreriſchen engliſchen Moralutilitarismus und des meiſt religiös chriſtlich⸗ puritaniſch oder quäkeriſch fundierten cant ganz durchſchaut hat, der hat eine welthiſtoriſche Moral-Poſſe kennen gelernt, die ihresgleichen ſucht. Die Poſſe beſteht auf dürre Formeln und von jener Heiterkeit entkleidet, die ihr nur die An⸗ ſchauung des Lebens ſelbſt zu geben vermag, gebracht in folgendem. Der Phariſäer des cant ſagt nicht: „Das Gute

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ift das Mützliche!“ Ach nein, beileibe nicht! Wohl trifft er mit ſeinem lebendigen Urteil in concreto, wo er „gut“ ſagt merkwürdigerweiſe immer gerade das Mützliche! Aber er „meint“ es nicht und er ſagt es auch beileibe nicht. Er „meint“ vielmehr das „Gute“ ſelbſt, das „Gute an ſich“, das gerade der Menſch des cant am bedacht: ſamſten von dem „gemeinen“ Mützlichen und von den eigenen Intereſſen unterſcheidet. Dieſes Gute iſt ihm das „oft: gewollte“ oder das durch eine ewige Sanktion des Gewiſſens unmittelbar Einleuchtende, einer ewigen Ordnung des Rechten Eutſprechende. Denn und hier iſt der Springpunkt ſeines cant es iſt ja durchaus nicht nützlich, dasjenige nur „nützlich“ für ſich ſelbſt anzuſehen und gar auch zu nennen, was faktiſch nur nützlich iſt. Im Gegenteil, gerade das zu tun, iſt äußerſt ſchädlich! Es iſt ſchädlich, da das Zugeſtändnis, dieſer Mann fei einem nützlich oder die Handlung jenes Mannes fei einem „nützlich“, ja den ſtillſchweigenden Verzicht einſchließt, daß dieſer Mann und dieſe Handlung auch von allem anderen, was Menſchengeſicht trägt, gelobt, geliebt und gefördert werde. Denn nur im „ſittlich Guten“ oder doch als ſolchem Vorgeſtelltem ſteckt dieſe Forderung nach unbedingter all: gemeiner Anerkennung und Förderung von Hauſe aus. Außerſt nützlich aber iſt es, dasjenige, was einem ſelber nützlich iſt, nicht etwa „nützlich“, ſondern gerade „ſitt⸗ lich gut“ zu nennen. Denn dieſes Verfahren ſtellt urbi et orbi, ſtellt die ganze Welt, bis hinauf zu den Engeln und zu Gott in den ſelbſtverſtändlichen Dienſt der partikularen Intereſſen des Redenden. Und auch das iſt äußerſt nützlich, ſich ſelbſt zu verbergen, daß man nur in der Richtung des

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Nützlichen und feiner Intereſſen handele. Es iſt nützlich, wenigſtens unter dem Schein des Guten zu handeln: denn dies erteilt eine ganz andere Energie und Kraft des Handelns und eine weit höhere Glaubwürdigkeit. Gerade in der Kunſt, fein Handeln nur vom Nützlichen bewegen zu laſſen aber es zugleich mit „heiliger Überzeugung“ niemals und um keinen Preis „nützlich“ ſondern gerade gut und gottgewollt zu nennen, ja es felber wohl noch fo anſehen zu können darin gerade be⸗ ſteht der eigentliche cant. Denken wir uns nun in einem Volke, in dem dieſer cant zur inneren Konſtitution ſeiner ethiſchen Verfaſſung geworden iſt, einige kluge, ehrliche dürrproſaiſche Männer herumgehen, die dieſes Treiben objektiv wie von außen beobachten. Sie machen gleichſam in einem Notiz⸗ buch Aufzeichnungen darüber, welche Handlungen denn eigentlich in dieſem Volke „gut“ und „böſe“ genannt werden. Schotten wie A. Smith, David Hume, James und John Mill, eignen ſich ſchon beſſer dazu als Engländer und noch beſſer eignen ſich dazu Iren wie Bernard Shaw. Was werden dieſe Herren finden? Sie werden finden, daß der einheitliche objektive Begriff und der Oberſatz, unter welche die hier „gut“ genannten Handlungen und Maximen zu bringen ſind, das „Nützliche“ iſt, die „böſe“ genannten das jeweilig „Schädliche“. Nun auf eben dieſe Weiſe entſtand der engliſche Moralutilitarismus. Er iſt nicht ſelbſt cant, wie Nietzſche meint. Er iſt im Gegenteil das enfant terrible des cant, das fein Geheimnis ausſchwatzt. Der Utilitarift iſt alſo der ehrliche, aber durch Generaliſierung des in England Beobachteten auf die „menſchliche Natur“, durch Generali⸗ ſierung engliſcher Sitten zu uniberſalen Geſetzen freilich ſehr

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oberflächliche und eben durch den Gegenſtand feiner Kritik ſelbſt ſehr bornierte Verräter des cant. Der engliſche Utili⸗ tariſt enthüllt das Geheimnis des engliſchen cant würdigt aber freilich, da er ſeine Idee des Menſchen zum Engländer verengte, die Moral ſelbſt zum Nützlichen herab. Aber daß er ſo den cant enthüllt, das iſt nicht cant, das iſt ſein Gegenteil. Wohl aber wird der Utilitarier durch ſein Ver⸗ fahren in einen faſt burlesken logiſchen Widerſpruch ge⸗ trieben, den der logiſch konſequentere Menſch des cant gerade vermeidet. Dieſer Widerſpruch beſteht darin, daß er ſelbſt ſeinem eigenen utiliſtiſchen Prinzip praktiſch wider⸗ ſtreitet. Und gerade darin widerſtreitet er ihm, indem er den Akt der Aufſtellung der Theſe des Utilitarismus öffentlich vollzieht. Der Theſe: „das Gute iſt das Mützliche“. Denn nicht nützlich, ſondern ſchädlich iſt es ja, das faktiſch Nütz⸗ liche nur „nützlich!“ und nicht wie der Menſch des cant, gerade es „gut“ und „gottgewollt“ zu nennen. So handelt zwar der Utilitariſt noch im echten Sinne „gut“, indem er dieſe Theſe aufſtellt aber er widerſtreitet damit zugleich ſeinem Prinzip, indem er ja eben äußerſt „Schädliches“ tut.

Alſo bilden der Menſch des cant und der Uttilitariſt, jeder des anderen wundervolles Pendant! Ein Paar, das ſich gegen⸗ ſeitig bedingt beide engliſch, beide borniert aber doch jeder das Negativ vom anderen. Der Menſch des cant hat theoretiſch recht. Das Gute iſt wirklich nicht das Mützliche. Aber er iſt praktiſch unanſtändig, da er nur das Mützliche tut und das Gute zu tun nur vorgibt. Der Uti⸗ litarier irrt theoretiſch, wenn er meint, „das Gute iſt das Mütz⸗ liche“. Aber er iſt ein praktiſch höchſt anſtändiger Menſch,

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der zu feinem Irrtum nur darum kommt, weil er im Volke des cant lebt und ſein Nachdenken auf dieſes Material be⸗ ſchränkt. Nicht der engliſche Utilitarismus iſt alſo anzu⸗ klagen, wie ſo oft unſere deutſchen idealiſtiſchen Philoſophen in ihren Schulbüchern wimmern. Die engliſchen Utilitariſten Männer wie Jeremias Bentham, die Mills uſw. waren nachweisbar die anſtändigſten, verdienſtvollſten Männer ihres Landes. Klage verdient vielmehr das düſtere Schickſal, in einem Volke zu leben, in dem der platte Utilitarismus die einzig mögliche Form iſt, um ein anſtändiger Menſch und zu⸗ gleich ein Patriot zu ſein.

Nicht vom „Utilitarismus“, ſondern vom cant war aber auch die engliſche Politik ſtets geleitet. Sie iſt das gerade (aber nicht beſſere, ſondern ſchlimmere) Gegenteil derjenigen Form der Politik, die man die kyniſche nennen könnte, d. h. des Machiavellismus, des ausgeſprochenen politiſchen Machtegoismus. Daß Machiavelli trotz ſeiner tiefen ſitt⸗ lichen Irrungen, die ſchon Friedrich der Große geißelte, einen gewaltigen Fortſchritt der politiſchen Moral in einem Punkte bedeutete dies hat man in England trotz Th. Hobbes nie begriffen. Dieſer eine Punkt iſt die Trennung von Privat⸗ und Staatsmoral. Die engliſche Politik hat zu allen Zeiten im Gegenſatz zum Bismarck ſchen Prinzip der politiſchen Ehrlichkeit, ein Prinzip, das gleichwohl der Moral des „principe“ fo unendlich ferne ſteht wie dem cant daß jeder Staat nur für ſein eigenes Heil zu ſorgen habe und nie für das „Weltbeſte“, das Prinzip des cant vertreten: das Prin⸗ zip, daß es für das „Weltbeſte“, zur „Verbreitung der Kul⸗ tur“, für „die Rechte fremder Völker“ (jetzt Serbiens und

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Belgiens) feine Kriege führe; ja jetzt gar nur deshalb, um dem armen Deutſchland den chriſtlichen Liebesdienſt zu tun, es vom preußiſchen Militarismus zu befreien. Analog lehrte es im 18. Jahrhundert die Welt das für eine Inſel, die ſich nicht ernähren kann, gemeinhin nützliche Freihandelsprinzip trieb aber ſelbſt dabei nachweislich Schutzzollpolitik. Die engliſche Kunſt, fremde Völker für Englands Intereſſen arbeiten zu laſſen, fie aber zugleich mit der feſten Überzeugung zu durch⸗ dringen, daß fie dabei nicht für England, ſondern für die eigenen Intereſſen und am göttlichen Weltplan arbeiteten, war ſowohl den kontinentalen Staaten (Gleichgewichts⸗ methode) als den von ihm unterjochten Kolonialvölkern gegenüber ſtets von bewunderungswerter Feinheit und gleich⸗ zeitig genau der oben gegebenen Formel des „cant“ folgend. Es iſt dabei ganz richtig, daß es bei ſeiner Koloniſation wie man ſagt „die Freiheit der fremden Völker zu ſchonen“ verſtand. Man denke nur an die kluge Behandlung der indi⸗ ſchen Fürſten. Es iſt ganz richtig, daß ſeine Kunſt kalmierender Verwaltung unerreicht daſteht und daß es die Idee des eng⸗ liſchen geheiligten Hauſes, in dem jeder ſicher iſt und tun kann, was ihm beliebt, bei dieſer Gelegenheit in alle Fernen trug. Aber es iſt nur wieder der alte cant, wenn der Eng⸗ länder dies Verfahren wahrhafte „Kulturverbreitung“ nennt. Umgekehrt enthält dieſe Methode den prinzipiellen Verzicht auf die Verbreitung echter Kultur, iſt ſie das ſyſtematiſche Ge⸗ nügen daran, die Völker nach ihrer eigenen roh⸗naturgegebenen Art, aber unter Verbreitung eines gewiſſen allgemeinen Wohl⸗ gefühles unter ihnen wie eine nützliche Schaf herde weiterexiſtie⸗ ren zu laſſen und ſinnig zu weiden. Dieſer ſyſtematiſche Ver⸗

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zicht auf Kulturformung der Welt war es, was die großen eng⸗ liſchen Koloniſationserfolge zeitigte. Nur dieſe Tatſache er⸗ klärt auch die Paradorie, daß der Engländer trotz feiner Starr⸗ heit, trotz ſeiner einzigartigen Unfähigkeit fremdes Volkstum ſeeliſch zu verſtehen, trotz ſeiner geiſtigen Enge und inſularer Ge⸗ bundenheit der ausgezeichnete „Verwalter“ iſt, der er iſt. Er lehrt die fremden Völker dabei genau ſo wenig als er von ihnen lernt. Da er die Borniertheit, Spezifität und Enge ſeiner eigenen hyper⸗charakteriſtiſchen! Geiſtesart fremdem Volks⸗ tum a priori nicht aufprägen kann und will, da er aber auch nicht wie der Deutſche im ſokratiſchen Sinne der mäeutiſchen „Erziehung“ die fremde Anlage nach den ihr immanenten höchſten Zielrichtungen entwickeln und ſelbſt dabei in dieſem Erziehen geiſtig gewinnen und wachſen kann, ſo begnügt er ſich im Sinne des cant, den fremden Völkern die wahre Freiheit durch Überlaffung ihrer äußerlichen Formen zu ſuggerieren, die ökonomiſche Energie der Völker aber um ſo mehr für ſeine Intereſſen auszuſchlachten. Er iſt nicht ein guter „Lehrer“; er iſt nicht ein guter „Erzieher“ der Völker! Er iſt nur ein guter Züchter und ein guter Hirt! Dies aber unter dem Schein des Lehrers und Erziehers! Des „Verbreiters der Kultur!“

Mit dem cant hängt aber auch zuſammen die ſo viel⸗ verehrte „ſchöne engliſche Freiheit“, die wir auf den Juſeln ſelber finden.

Selbſt in dieſer Zeit ſchärfſter Kritik alles Engliſchen finde ich vielfach einen Zug engliſchen Lebens der Kritik ausdrücklich entnommen: die „engliſche Freiheit“ oder wie man gerne ſagt, die „ſchöne engliſche Freiheit“. Mit dieſen

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Worten meint man nicht nur die Tatſache, daß Eng; lands Volk ſchon vor zirka 680 Jahren von König Johann die Magna Charta ertrotzte, daß ſeine parlamentariſche Verfaſſung Vorbild faſt aller europäiſchen Staaten wurde, daß ſein Nationalphiloſoph John Locke dem parlamenta⸗ riſchen Syſtem die erſten philoſophiſchen Grundlagen gab. Das iſt mehr Folge dieſer „Freiheit“ als ſie ſelbſt. Auch Frankreich hat das parlamentariſche Syſtem, fogar auf rein republikaniſcher Grundlage und doch fehlt ihm die „ſchöne engliſche Freiheit“. Die vielbeneidete engliſche Frei— heit iſt vielmehr jene beſondere Lebensluft, die es z. B. jetzt mitten im Kriege erlaubt, daß die Schritte Churchills oder Greys von jedem „Gentleman“ (feier Lord oder Ladenjüngling) einer öffentlichen Kritik unterzogen werden können; daß jeder ſeine Vorſchläge zur Kriegsführung machen darf; ja daß es nicht ausgeſchloſſen iſt, es erkläre jemand, das Recht Deutſch⸗ lands ſei ihm einſichtiger klar wie Englands Recht in dieſem Kriege. Das iſt ſicher bei uns nicht ſo. Es iſt auch in Frankreich trotz Republik und Demokratie nicht ſo. Auch der „befreiende Humor“ des neueſten engliſchen Soldaten⸗ liedchen, in dem die Soldaten ſcherzhaft bitten, man möge ein „Buben⸗ und Mädelheer“ ausrüſten, darin „meine Mutter, meine Schweſter, meine Brüder nur ich nicht“ kämpfen ſollen, fehlt dem ſchweren gebundenen deutſchen Ernſt. Unſe⸗ rem Ethos würde ſolche Kritik gleichzeitig als unerhörter Dilettantismus und als ſchuldhaftes Mißtrauen in unſere militäriſche Führung erſcheinen, ſolch Liedchen aber als Frivo— lität. Umgekehrt meinen die Engländer von ihrem Ethos aus unſere Haltung als ſervil, dienerhaft auffaſſen zu müſſen,

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als eine Folge militariſtiſcher „Unterdrückung“ aller ſelb⸗ ſtändigen Regſamkeit der Geiſteskräfte.

Aber wie tief irren die Engländer und wie einſeitig urteilen jene unter uns, die „engliſche Freiheit“ ſchrankenlos bewun⸗ dern! Wir Deutſche ſind ein ganz ſachhaft denkendes wie wollendes Volk; wir arbeiten nicht um zu verdienen und um ſchon am Freitag aufs Land zu Tennis⸗ und Golfſpiel zu fahren, ſondern aus Freude an der Sache. Demgemäß glau⸗ ben wir auch feſt, daß überall nur Sachkunde entſcheiden ſolle und daß es ein ganz verfehlter Weg ſei, die Wahrheit oder das Rechte in irgendeiner Angelegenheit nur dadurch finden zu wollen, daß A behauptet, B widerſpricht, C ergänzt uſw. Auch unſere ſchroffſten Demokraten ſind es nur politiſch, nicht aus In⸗ ſtinkt und nicht im Sinne eines volksphiloſophiſchen Axioms. Aus ſeinen tiefſten philoſophiſchen Konzeptionen über die Idee der Wahrheit und des Wiſſens heraus, nicht aus zufälliger Zugehörigkeit zur ariſtokratiſchen Partei behauptete Sokra⸗ tes auch für das geſamte Staatsleben, für die Geſtaltung ſeines Aufbaus und für ſeine Führung den Primat der Sachkunde vor dem ſophiſtiſchen Prinzip der Erwählung der Führer und Staatsleiter durch die Stimmenmehrheit, die ſich aus der poli⸗ tiſchen Dialektik der Volksverſammlung in Hin- und Wieder⸗ rede, in Ergänzung und Kritik jeweilig herausbildet. Wir Deutſche find welcher Parteirichtung wir auch angehören mit Sokrates gegen die griechiſchen Sophiſten eben hierin einer Meinung. Wir ſind es aus Inſtinkt. Sachkunde, nicht Stim⸗ menmehrheit ſolle, ſo meinen auch wir, in Fragen von Wahrheit und Recht entſcheiden. Nach dem Axiom, das unſer Denken bewegt, kann ein einziger eine Sachkunde haben, die ſonſt

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keiner hat. Und dann haben alle dieſem einen zu folgen. Da wir ſo denken, haben wir Vertrauen in ſolche, die wir für Sachkenner halten, d. h. aber gar nicht notwendig in die „Regierung“; auch in dieſe nur, wenn wir ſie eben für ſachkundig halten. Täuſchen wir uns einmal in dieſer An⸗ nahme, ſo geht es uns vielleicht übler wie den Engländern; denn wir haben dann gegen dieſe Täuſchung keinerlei Gegen- gewicht. Aber das ſchädigt nicht unſer Prinzip; es ſchädigt auch nicht ſeine durchſchnittliche Fruchtbarkeit.

Ganz anders der Engländer: er ſtellt nicht wie wir Wahr⸗ heit und Sachkunde der Freiheit des Urteils voran; er glaubt nicht, daß „nur die Wahrheit euch frei“ mache wie es im Evangelium heißt. Er hält die „Wahrheit“ für eine bloße Reſultante der freien Konkurrenz der Meinungsäuße⸗ rungen vieler; er glaubt oder verhält ſich ſo, als ob er glaube, Wahrheit ſei das unbekannte X, das ſich durch, wenn auch noch ſo „dilettantiſchen“, von Sachkenntnis weit entfernten Gedankenaustauſch, Kritik, Ergänzung ſchließlich herausſtellte. Natürlich muß er unſer freies, fittliches Vertrauen für Per⸗ ſonen, die wir für Sachkenner halten von ſeiner Denk⸗ weiſe her als „blinden Servilismus“ auswerten. In England das iſt, wie ich ſagte, ein Erfordernis deſſen, was man dort „Charakter“ nennt muß jeder in jeder Sache einen „Glauben“, eine „feſte Überzeugung‘ haben. Man denke wieder an die ſonderbare Rede: „Glauben Sie an Me⸗ dizin, an die Technik, an Luftſchiffahrt?“ Das aber iſt es, was zur engliſchen Borniertheit, d. h. zum voreiligen dilettan⸗ tiſchen Abſchluß des Weltbildes durch bloße Willensentſchei⸗ dung führt ohne eine Baſis von Sachkunde und Gründen

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stat pro ratione voluntas oder der „Charakter“. Alle eng- liſche Erziehung zielt vor allem auf ſolchen „Charakter“ ab. Ein notwendiger Schatten jener „ſchönen engliſchen Freiheit“ iſt alſo jene tiefe, trieb⸗ und intereſſengebundene geiſtige Unfrei⸗ heit, die wir im Intellektuellen „Borniertheit“, im Sittlichen „cant“ nennen, d. h. organiſche triebhafte Befangenheit des Gewiſſens und Verſtandes durch das Mützlichkeitsintereſſe ohne klares Wiſſen davon. Dieſes Geſetz bindet ſchon von Hauſe aus alle geiſtigen Prozeſſe des Engländers und gibt ihnen die Richtung auf „Sagenkönnen“. Die auch nur mögliche Korrektur des Forums, der von den Engländern entdeckten, von John Locke begrifflich formulierten „öffentlichen Mei⸗ nung“ regiert die engliſche Seele bis in ihre intimſten Vor⸗ gänge; regiert auch die ſteife Form im Kreiſe der Familie beim Eſſen uſw. (Frack uſw.). „Wahrhaftigkeit“ im deutſchen Sinne heißt: Sagen, Bekennen, was man denkt und glaubt. Ja, es iſt unſere Überzeugung, daß der echte Glaube auch die Zunge ſprengen müſſe, daß jener noch nicht echt und wahr⸗ haft glaubt, der nicht bekennt. Im engliſchen Sinne heißt „Wahrhaftigkeit“ dagegen: nichts glauben, nichts denken, was man nicht auch ſa gen kann. Bis in das einſame Liegen im Bette, fühlt ſich der Engländer wie vor einem öffentlichen Forum. Der deutſche Geiſt ſetzt Einſicht, Sachkunde, Wahr⸗ heit allüberall der Freiheit des Urteilsaktes voran. Darum hat der Deutſche auch einen ſtarken Glauben an Autoritäten und im ſozialen und politiſchen Leben an das „Fach“ in den Wiſſenſchaften. Überall beſteht dieſer Glaube, wo das genaue deutſche Pflichtgefühl und die deutſche Gewiſſen⸗ haftigkeit annehmen darf, daß die betreffenden Perſonen

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ebenſo gewiſſenhaft wie derjenige, der das Vertrauen ſchenkt, der nötigen Sachkunde erfüllt ſeien. Aber dieſes freie Ver— trauen auf die Autorität hat gar nichts zu tun mit blindem Autoritätsglauben. Denn genau ſo, wie bei uns derjenige, der einen Andern für ſachkundig hält, ſich ihm leicht unter⸗ wirft, genau ſo beanſprucht er auch, daß man ſich ihm ſelber unterwerfe, wo er ſich als ſachkundig weiß.

Eine Methode wie die deutſche bringt in den komplizierten Verhältniſſen der hiſtoriſchen Wirklichkeit freilich leicht auch jenen Geiſt hervor, den man den deutſchen „Glauben an die gottgewollten Abhängigkeiten“ genannt und dem engliſchen Syſtem entgegengeſetzt hat. Dieſer Geiſt durchdringt charak⸗ teriſtiſch genug auch die deutſchen religiöfen Lebensformen in Katholizismus wie Luthertum. Wenn auch nicht mehr wie einſt auf dem Aufbau der Stände und Klaſſen, ſo doch auf dem Aufbau des Beamtentums, der Organiſationen der Wiſſen⸗ ſchaft und der großen wirtſchaftlichen Organiſationen liegt bei uns eine Art religiöſer Weihe, welche vorſchnelle, zu— weilen auch berechtigte, Kritik zurückhält. Aber jedes Syſtem hat ſeine eigenen Fehler. Hier gilt es, Vorzüge und Fehler beider Syſteme aus dem verſchiedenen Geiſte der Na— tionen zu begreifen. Wer ſähe nicht, daß der deutſche, in ſeiner Art einzigartige Sinn für Organiſation auf dieſen beiden Grundpfeilern des deutſchen Weſens beruht: dem un⸗ bedingten Primat rationeller Sachkunde und dem gegen— ſeitigen Sich⸗Vertrauen aller in der Organiſation tätigen Perſonen? Freilich kann man bei uns Herrn Tirpitz nicht wie in England Herrn Churchill öffentlich kritiſteren. Wie aber hätte bei uns auch eine ſo abenteuerliche Geſtalt wie Herr

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Churchill das Oberſtkommando der Marine erhalten können ? Mit dem Worte Vertrauen deute ich einen weiteren Schat⸗ ten der „ſchönen enalifi chen Freiheit“ an. Die ſchöne engliſche Freiheit beruht nämlich ganz weſentlich auf jener prinzipiellen Mißtrauenseinſtellung von Menſch zu Menſch, die ge⸗ ſteigert durch die puritaniſche Form des Calvinismus, zum Teil ſchon durch den Calvinismus ſelbſt zur Grundhaltung des eng⸗ liſchen Sozialverhältniſſes geworden iſt. Nicht nur Miß⸗ trauen in Staat und Regierung als einer Sache über den Parteien iſt der Grundaffekt alles engliſchen Liberalismus (einſchließlich der Gegenmaßregeln eines ungeheuren cant, den ſeitens der Regierungen dieſes Verhalten hervorruft); Miß⸗ trauen in die Urteilsfähigkeit des Anderen iſt auch der herr⸗ ſchende ſoziale Affekt. Nur durch die reſtloſe Freiheit der Meinungsäußerung kann dieſes prinzipielle, nicht erſt auf be⸗ ſondere Gründe hin erwachſende Mißtrauen ſoweit kontre⸗ balanziert werden, daß die Geſellſchaft das nötige Maß von Sicherheitsgefühl und Friede erhält. Und eben darum ent⸗ behrt auch die puritaniſch calviniſtiſche Form der Religioſität völlig jenes deutſchen Glaubens an die „gottgewollten Ab⸗ hängigkeiten“.

Ein dritter Schatten dieſer Freiheit aber iſt die geiſtige Unfreiheit des engliſchen Weſens. Nur ſie garantiert jene Gleichförmigkeit von Meinung und Wille, ohne die es keine Geſellſchaft gibt. In Deutſchland iſt nicht nur der Pro: feſſor ein „Mann, der ſeine eigene Meinung hat“. Nur Borniertheit und cant machen alſo zuſammenwirkend dieſe ſchöne ſoziale Freiheit überhaupt möglich. Umgekehrt iſt unſere Unfähigkeit zum Parlamentarismus engliſcher Prägung, unſere

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Neigung zum „Glauben an die Autorität“, an den Beautten, in der Wiſſenſchaft an das „Fach“ Nichts als das not⸗ wendige Gegengewicht gegen die innere Freiheit unſeres geiſtigen Organismus. In England iſt nur der „Gentleman“ frei, d. h. die gleichförmige ſoziale Figur des Engländers der innere Menſch iſt ganz unfrei. Auch der König iſt es nur als „der erſte Gentleman der Nation“, nicht als eine indivi⸗ duelle lebendige Perſon, wie unſer „Deutſcher Kaiſer“. Ein weiterer Schatten der „ſchönen engliſchen Freiheit“ iſt der engliſche Todhaß auf alle Individualität, Originalität, eine Haltung, die ſchon John Stuart Mill in ſeinem ſchönen Buche „Über die Freiheit“ (Reclam) ſo tief beklagte. Man denke an Shelleys, an Byrons, an Oskar Wildes Schick⸗ ſal; man denke an alle leeren Formen und Etiketten in Recht, Staatsleben, Geſellſchaft, an die Enge der engliſchen „Prü⸗ derie“, an die Gleichförmigkeit der Geſichter, der Sitten, der Moden, an das auffällige Fehlen faſt aller individuellen Geiſtes⸗ bildung in den höheren Ständen; an die alles Leben durch⸗ dringende Gewalt der Konvention, an die beiſpielloſe engliſche Unfähigkeit, fremde Volksindividualitäten zu verſtehen und ſich bis hinein in die Warenproduktion ihren Bedürfniſſen frei an⸗ zupaſſen. Jene maßloſe Knechtung der Freiheit des Indivi⸗ duums als Individuum und der mangelnde Sinn für fremde Individualität das iſt alfo wieder ein neuer Schatten der „ſchönen engliſchen Freiheit“, d. h. der Freiheit des Men⸗ ſchen als bloßes Gentlemanexemplar. Im Lande der größten politiſchen Unfreiheit, in Rußland ſelbſt, ach wie gewaltig viel größer iſt doch da dieſe Freiheit die Freiheit des Indivi⸗ duums! Man ſehe nur auf die Literatur beider Völker, auf

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das ſo reich differenzierte Sektenweſen in Rußland, dem gegen- über die engliſchen Sekten ein weit einförmigeren Stil auf⸗ weiſen.

Nur dieſe tiefe Unfreiheit des geiſtigen Innenorganismus des Engländers, verbunden mit maßloſer Geiſtesgebundenheit durch Gewohnheit, Tradition, öffentliche Meinung verbürgt nun aber auch unter der Herrſchaft des Prinzips jener ſchönen ſozialen Freiheit dasjenige Maß von Übereinſtimmung von Meinung und Wille, ohne das alles öffentliche Leben aus⸗ einander fiele. Bei deutſcher innerer Geiſtes⸗ und Gewiſſens⸗ freiheit wäre die ſoziale Freiheit Englands ſchon darum aus⸗ geſchloſſen, weil unter ihrer Herrſchaft dieſes Mindeſtmaß von Übereinſtimmung niemals erreichbar wäre.

Die ſchöne engliſche Freiheit hat alſo viele Schatten; ſie iſt mit Dilettantismus, cant, Borniertheit, Mißtrauen, indi⸗ vidueller Unfreiheit, etwas teuer bezahlt; für uns Deutſche ſo teuer, daß wir in ihrer Bewunderung wirklich ein wenig vorſichtiger ſein ſollten.

Doch kehren wir zum cant in der ſozialen Sphäre zurück, um hier ſeinen ſeeliſchen Urſprung zu ſtudieren. Eine eigen⸗ tümliche Hilfsidee des cant iſt eine gewiſſe Art von Perſoni⸗ fizierung deſſen, was der Engländer „die Moral“ nennt jene „Moral“, die man um keinen Preis „verletzen“ darf —, wie wenig man auch ſelbſt davon beſitze und wie ſehr man dabei auch fremde Menſchen, fremde Rechte uſw. verletze. Es iſt ein alter tiefſinniger Satz, daß auch die „Heuchelei eine Art Verehrung der Tugend ausdrückt“. Eben dieſe „Verehrung“ beſitzt der Engländer im höchſten Maße. In ihr iſt er von äußerſter Subtilität und Feinheit der Bil⸗

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dung. Ja, eben die Haltung der Verehrung einer hypo— ſtaſterten „Moral“, das anbetend zu ihr als einem Syſtem geheiligter Regeln aufgeſchlagene Auge wird ihm zum proba- teſten Mittel, ſich dieſelbe Moral ferne und vom Leibe zu halten und um ſo mehr nach ſeinen Intereſſen ſeinen Weg zu gehen. Er verehrt die Moral zu ſehr, als daß er ihr erlauben möchte, in die Roheit und Gemeinheit des „Wirk— lichen“ einzugehen. Eben dieſe Haltung macht zugleich ſeinen Moralismus und ſeine unvergleichlich tiefe perſönliche Im— moralität aus. Nur das eigentümliche Zuſammentreffen der ſo ungemein feinen ſittlichen Bildung des Engländers, das heißt feines Reichtums an präziſer Unterſcheidungskraft ſitt⸗ licher Qualitäten, und die einzige Genauigkeit des Herzens in dieſer Diſtinktion faſt unendlich ſtehen ihm andere Völker in dieſer „Bildung“ nach nur das Zuſammentreffen der ausnehmend großen Verehrung für das Moraliſche als vom Menſchen abgelöſter „Regel“ mit einem ganz unbild⸗ ſamen, ſtarken, rohen und jeder Vergeiſtigung unzugäng— lichen Triebnaturell, konnte das ſublime innere Kunſtwerk der Seele hervorbringen, das cant heißt. Eben da es ſeine Triebe von allen Völkern am wenigſten zu vergeiſtigen weiß, iſt das engliſche Volk vielleicht das unchriſtlichſte Volk der Erde. Es könnte dies nach den heiligen prophetiſchen Worten der Evangelien nicht ſein, wenn es nicht mit dem Munde zu⸗ gleich das allerchriftlichfte wäre. Die engliſche Haltung iſt da: bei freilich das abſolute Gegenteil zu jener, die wir „zyniſch“ und „frivol“ nennen, das Gegenteil zu jener Haltung, die bei- ſpielsweiſe die franzöſiſche Geſellſchaft des ancien regime be- herrſchte. Die Menſchen des ancien regime neigten dazu, das

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ſittliche Prinzip zur niedrigen Wirklichkeit ihrer unſittlichen Lebensführung herabzuziehen und das Prinzip für offen aus⸗ geſprochene, ja oft lauter als es der Wirklichkeit entſprach aus⸗ geſprochene, die Moral luſtig auf den Kopf ſtürzende Maximen preiszugeben. Der Franzoſe hat ſchon ſeit den älteſten Zeiten, von dem provencaliſchen Roman an bis zu Baudelaire weit unmoraliſcher geredet, als er gelebt hat. Er war immer ein wenig Maulhure. Die Logik des cant dagegen fordert, ein Prinzip unbedingt feſt und „hoch“ zu halten, es niemals mit der Realität, wenn auch noch ſo leiſe, ſinken zu laſſen; wohl aber die Realität ſtets fo an zu ſehen und anzuſchielen, oder von ihr illuſtoniſtiſch wegzuſehen, daß fie mit ihm in Überein- ſtimmung zu ſein ſcheint. Schon ein dreijähriges engliſches Kind ſieht auf der Straße weg, wenn es einen Betrunkenen oder einen unziemlichen Vorfall fieht, deſſen „Unziemlichkeit“ es ſchon empfindet, ehe die Wahrnehmung des Vorgangs zur Reife kam. Man ſehe, wie abnegierend im großen Oskar Wilde auf Zola in ſeinem „Verfall der Lüge“ reagiert. Oder man ſehe ſich die bekannten engliſchen Bilder und Stiche an, auf denen mit einer ſo einzigartig öligen Braoheit Verlobte, Jungverheiratete, der nach Hauſe kom⸗ mende Jäger, den die Gattin empfängt, ſpielende und meiſt nur allzuſüße Kinder uſw. dargeſtellt werden; dazu 9%. des engliſchen Durchſchnittsleſeromans. Oder man höre folgenden kleinen Vorgang! Vor kurzer Zeit erſcheint eine führende Perſon der engliſchen Regierung (der Name ſei hier unterdrückt) im Unterhaus, ein paar Flaſchen franzöſiſchen Sekt im Magen. Nirgends wird bekanntlich ſo viel getrunken als in der erſten engliſchen Geſellſchaft, im

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Lande der Heilsarmee, die nicht umſonſt die Bekämpfung der Trunkſucht ſich zum Ziele ſetzen mußte. In Flacons mit kölniſchem Waſſer, in eigens dazu hergerichteten Stöcken, die man oben öffnen kann, birgt ſich, fromm verſteckt das ſüße Naß des Whisky. Ein politiſcher Gegner jenes öffentlich ebenſo allverebrten als heimlich viel bekämpften Führers der liberalen Partei bemerkt ſeinen Zuſtand an der Röte ſeines Geſichtes und ſtellt ihm ein paar peinliche Zuſatzfragen zu 24 Stunden vorher geſtellten Fragen, deren Beantwortung im Unterhaus beſonders ſchwierig und darum möglichſt kurz zu ſein pflegt, da jede Belaſtung mit „Konſequenzen“ zu vermeiden iſt. Jene Perſon erhebt ſich, fängt an zu antworten ſetzt ſich aber bald darauf wieder um das Taſchentuch an den Mund zu halten. Als der Gegner des hohen Herrn wieder beginnen will, erhebt ſich J. Balfour, der bekannte konſer⸗ vative Führer und ſagt, nachdem er ums Wort gebeten, nur das eine Wörtchen: „Honour!“ Worauf ſofort der Gegenſtand verlaffen wird und der Gegner des betrunkenen Herrn ſich noch entſchuldigt. Das iſt die Zucht des cant. Bei uns hätte man ſich über einen betrunkenen Staatsmann im Parlament laut moraliſch entrüſtet und der „Skandal“ wäre unausbleiblich geweſen. Gewiß dies wäre dümmer geweſen als man in Eng⸗ land zu ſein pflegt und ſicher iſt, daß unſere parlamenta⸗ riſchen Formen beſſere ſein könnten, auch ohne daß die deutſche Wahrhaftigkeit dabei leiden müßte. Hier genügte der bloße Fingerzeig auf das „Dekorum“, auf „die“ Moral, um ſo⸗ fort nicht nur alles ſchweigen zu laſſen, ſondern auch, um den wohl berechtigten Mahner zu vermögen, ſeinerſeits eine Schuld auf ſich zu nehmen, die ſicher nicht ſeine war.

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Eine folche „Moral“ beſitzt aber nun auch jeder befondere Geſellſchaftskreis in England und alle dieſe Moralen ſind der einen engliſchen Geſamtmoral eingeordnet. Als ein eng⸗ liſcher Herzog von ſeinem Kammerdiener gefragt wurde, ob man Zahnſtocher benützen dürfe, antwortet er nach einigem Nachdenken: Ja, aber nicht in ſchlechter Geſellſchaft. Man kann aus all dem ermeſſen, wie ein ehrliches echt deutſches Zu⸗ geſtändnis wie das unſeres Kanzlers am 4. Auguſt gelegentlich der Verletzung der belgiſchen Neutralität auf den Engländer wirken muß. In einem Lande, wo die Moral zu einer ſub⸗ tilen Jurisprudenz geworden iſt, wo die allgemeine „menſchliche Sündhaftigkeit“ in ebenſo hohen Tönen bekannt wird, als es jeder ängſtlich vermeidet, auch nur das kleinſte Stückchen der großen Erblaſt auf ſich zu nehmen, und wo man das deutſche Bewußtſein der Endlichkeit allen Rechts und ſeiner Nichtigkeit vor dem Gebote des Gewiſſens nicht begreift, mußte dies Verfahren ganz unbegreiflich fein. Wie die „Moral“ hier ein außerperſonales Etwas iſt, deſſen Nichtverletzung alle Ver⸗ letzung perſönlicher Rechte geſtattet, fo iſt auch das „Böſe“ etwas Außerperſonales, das, je größer es iſt, doch Miemand hat. Der Deutſche kann ſich das „Böſe“ und „Gute“ gar nicht anders denken, denn als ein Perſonales, in zweiter Linie als eine Eigenſchaft der Geſinnung und der Willensabſicht. Die wenn auch noch ſo ſtrenge und äſthetiſch feine Einhaltung einer beſtimmten Form in der Außerung von Geſinnung und Abſicht iſt ihm gleichgültig, wenn er die ſchlechte Abſicht da⸗ hinter gewahrt. Er brauſt auf, er zürnt er gerät in ſeinen „deutſchen Zorn!“ Warum tut er das?

Er tut es, weil er an die Möglichkeit der inneren Güte,

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der Geſinnungsgüte des Menſchen glaubt. Und warum iſt der Engländer der Menſch des cant? Er iſt es, weil er prinzipiell auf die auch nur mögliche innere Güte des Allen: ſchen Verzicht getan hat ein für allemal Verzicht getan hat. Er meint es tief in ſich zu wiſſen was ihn auch alle Spielformen feiner caloiniſtiſchen Religion gelehrt haben, die den Menſchen durch den „Fall“ als abſolut korrumpiert ſchildern er ſei eigentlich des Teufels; und alle anderen mit ihm des Teufels, je tiefer man in ihrer Seelen Wurzeln hineinſteigt. Er glaubt, was er in ſich irgendwann ſah, von allen anderen Menſchen. Er glaubt, daß der Menſch in ſeinem Inneren ein abſolut unbildſames Chaos von Trieben iſt. Aber er weiß zugleich, daß alle menſchliche ſoziale Ord⸗ nung wenigſtens den Schein eines anderen, eines Entgegen— geſetzten notwendig verlangt. Das iſt die metaphyſiſche Ver⸗ zweiflung an ſeiner Seele, das iſt das tragiſche Bewußtſein ſeiner inneren ſubſtanziellen Verlorenheit, die jene feine tiefe Ordnung der Lebensformen des cant ſelbſt aus ſich ge- biert. Genau ſo entfaltet ſeine tiefe eſſentielle Unſicherheit feinen gewollten, ſteifen, die Chriſten ſagen „teufliſchen“ Stolz. Gewiß, es mag jene „Diskretion“ des cant, die es vermeidet, hinter die Falten der Geſichter in die Seele des Menſchen vermeſſen hineinblicken zu wollen, anſtatt ſich bei einer gewiſſen Regelhaftigkeit der ſichtbaren Lebensführung zu beruhigen, etwas Anziehendes gegenüber der vorlauten deut⸗ ſchen Frageart beſitzen „wer“ denn dieſer Ankömmling ſei, der hier im Hotel ißt und „was er hier wolle“. Aber die engliſche „Diskretion“ iſt nur die Angſt vor einer ſchon a priori feſtſtehenden furchtbaren Wahrheit menſchlicher ewiger

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Verdorbenheit. Auf dieſem ſtets vorausgeſetzten dunklen Chaos in der Seele des anderen tanzt der cant ſein elegantes, ſo rationelles, ſüßliches Formenſpiel; ſein teufliſches, ſchein⸗ chriſtliches, öliges Spiel. Ich weiß nicht, wann und wo das engliſche Volk ſich die Veredlung und Vergeiſtigung des Menſchen einmal für immer und ewig abgeſchworen, und dem Teufel ſich zugeſchworen hat: Um das Volk des Mam⸗ mons, der kunſtvollſten Politik und der einlullendſten Ver⸗ waltung zu werden; um den cant als Geſchenk des Teufels für ſeine Seele einzutauſchen. Aber „einſt“ und „irgendwo“ geſchah es. Und ſeit dieſer Zeit iſt es metaphyſiſch heimatlos, der „Herr der Welt“ und das Urvolk des Kapi⸗ talismus. Seit dieſer Zeit iſt es genau wie die Evange⸗ lien es verkünden, wenn ſie den Antichriſt in Form des Chriſtus erſcheinen laſſen, des Erlöſers der Menſchheit das einzig vollſtändig widerchriſtliche Wolk.

Ein kluger angliſierter Freund eines der vielen deutſchen Opfer des heutigen Anglismus hat mir geſagt, daß ſich eben in dieſem abſoluten Unglauben an die mögliche Güte des inneren Menſchen, nicht die innere Verlorenheit dieſer merkantilen Raſſe, ſondern nur die tiefere und reichere Er⸗ fahrung und Erkenntnis über die „menſchliche Natur“, die feinere Optik in die, dem blöden deutſchen und romaniſchen Auge verſchloſſenen Faltungen des menſchlichen Herzens und in ſeinen unbeſtegbaren Egoismus bekunde. Aber wir kennen durch eine Literatur von Jahrhunderten dieſen ſelbſt cant- geborenen Einwand des engliſch⸗proteſtantiſchen Reſſentiment, der die Roheit der eigenen Triebe und die Ohnmacht des eigenen geiſtigen Willens als eine Form tieferer Erkenntnis

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und feinerer Gewiſſensſchärfe des Menſchen auszulegen weiß. Der cant gebietet natürlich, das nicht wollen zu „können“ was man nur nicht tun kann. Das Chaos, das der cant ſo klug und mit ſo großem Aufwand von gezüchteter Selbſt⸗ beherrſchung und „Charakter“ verbirgt, das iſt faktiſch nur das engliſche Chaos und iſt es allein! Die „partie hon- teuse“ der menſchlichen Natur wie Friedrich Nietzſche das, was der engliſche Pſychologe zumeiſt erforſcht, genannt hat, hat ſtets, wenn auch nur unter den matten Ausdrücken von „Gewohnheit“, „Nützlichkeit“ „Vergeſſen des Mütz⸗ lichen“ verborgen nicht umſonſt und nicht aus einer tieferen Einſicht heraus, ſondern aus der Struktur des engliſchen Seins heraus, das beſondere Intereſſe des engliſchen Mora⸗ liſten erregt.

Wie zwiſchen dem cant und der engliſchen Freiheit, ſo gibt es auch zwiſchen dem cant und dem berühmten engliſchen Humor eine unterirdiſche pſychologiſche Brücke. Ich will hier nicht unter ſuchen, ob und wie weit nicht der ſog. Humor, im Unterſchied zur allmenſchlichen Erſcheinung des Sinnes fürs Komiſche, weiter zu Scherz, Satire, Witz, Ironie, überhaupt eine fpezififch angelſächſiſche Tatſache iſt; ob es wirklich er⸗ laubt iſt, den Begriff „Humor“ auch nur ſoweit zu faſſen, daß unſere Deutſchen Lichtenberg, Jean Paul, G. Keller, W. Raabe, W. Buſch, Fritz Reuter, von Scheffel uſw., noch darunter fallen; geſchweige, wie es oft zu Unrecht geſchieht ſoweit, daß man ſinnvoll auch von „antikem Humor“ oder von „romaniſchem Humor“ reden könnte. Gibt es überhaupt einen außerengliſchen Humor, der nicht irgendwie England nach⸗ gemacht iſt, was man billig ebenſowohl bezweifeln kann, wie

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es gäbe eine Tragödie außer der griechiſchen, fo iſt jedenfalls der engliſche Humor der Sterne, Dickens, Thakeray, der humorvollſte Humor, den es auf der Welt gibt. Humor, dies Schweben des Gemütes zwiſchen einem lachenden und einem feuchten Auge, dieſe ſüß⸗bittere Stimmung, dieſes Ein⸗ gekeiltſein in das Leben, in ſeine Engen und zwiſchen ſeine Härten bei einem gleichzeitigen freiſeinſollenden Blick darüber

hinweg, einen Blick, der dieſe Situation noch als wie eine

fremde Szene mit anſehen und darüber lachen kann, hat den⸗ ſelben Dualismus der handelnden, bezw. leidenden und der urteilenden Matur zur Grundlage, der auch Vorausſetzung des cant iſt. Dieſer Humor iſt in gewiſſem Sinne geradezu der cant der Luſtigkeit und des Lachens. Jene „Befreiung“, die er ſprichwörtlich bringt, bezahlt er mit der inneren Ver⸗ zweif lung, aus der er hervorſprießt derſelben, wenn auch weniger tiefen Verzweiflung, welche die Wurzel des ge: ſteigerten engliſchen Sinnes für die moraliſche Form iſt. Hat nicht aller „Humor“ etwas in ſich, das geſteigert „Gal⸗ genhumor“ heißt?

Wie der cant alle engliſchen Lebensgebiete durchdringt, ſo beherrſcht er auch in ganz beſonderem Maße die ſexuelle und erotiſche Sphäre in Geſellſchaft und Erziehung. Hier hat er auf der einen Seite die ſo typiſche Form innerer Schamloſig⸗ keit zur Folge, die wir die „engliſche Prüderie“ nennen, auf der anderen jene Tartüfferie der ſinnlichen Empfindung, die im Flirt und auf etwas vergeiſtigterer Stufe, in der eng⸗ liſchen Sentimentalität und erotiſchen Romantik, ſich Form gegeben haben. Was iſt denn Prüderie? Sie iſt nicht etwa eine geſteigerte Schamhaftigkeit, die, iſt ſie nur echt, nie⸗

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mals tief und groß genug fein kann. Stets iſt fie gut ſtets liebenswert. Prüderie iſt vielmehr die Miſchung einer Art des geiſtigen Geſchlechtsgenuſſes in der Form und Maske einer rigiden Abwehr und eines entrüſteten „shocking“! gegen noch ſichtbare Symptome dieſer Sphäre, mit der beſonders gefärbten Luſt ſittlicher Entrüſtung, beides aber verbunden mit der automatiſchen, dem Subjekt unbewußten Tendenz, Gelegenheiten für dieſe genußreich entrüſtete Abwehrreaktion immer wieder aufzuſuchen. Aber die Prüderie wertet ſich ſelbſt dabei per cant als echtes Schamgefühl, indem fie eine ſehr feſte, leere, überlieferte Form des bloßen äußeren Ausdrucks der Schamhaftigkeit, die im Gegenſatz zu Scham die Form des „Anſtandes“ heißt ohne die lebendige echte Schamerfüllung dieſer Form aufs äußerſte übertreibt; und gerade darum übertreibt und ſo regelhaft geſtaltet, weil hier die natürliche Regulation des Betragens durch das echte leben⸗ dige Schamgefühl mangelt. Die Härte und Schärfe der Geſchlechtsmoral einer Geſellſchaft ſteht ceteris paribus mit der natürlichen Anlage zur Schamhaftigkeit und der Größe und Feinheit dieſer Anlage, ſtets in umgekehrtem Verhältnis. Was das natürliche Schamgefühl nicht leiſtet, das muß die Regel und die Feſtigkeit der Anſtandsform wieder einholen. Darum darf man von der Härte und Schärfe der engliſchen Geſchlechtsmoral allein ſchon auf die geringe natürliche Schamhaftigkeit dieſes Volkes ſchließen. Und es iſt nicht wunderlich, ſondern vielmehr nur zu er⸗ warten, daß die beiden Völker, bei denen der cant am ſtärkſten iſt und die Lebensbeziehungen der Geſchlechter das höchſte Maß von Indirektheit und Symbolik angenommen haben,

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die Engländer und die Chineſen, auch eine Literatur und Kunſt ſo obſzön hervorbrachten, wie ſie durch italieniſche Zynismen und galliſche Verdorbenheit niemals erreicht wer⸗ den konnte. Nur im Lande der Prüderie konnte das Ob⸗ ſzöne feinen Aubrey Beardsley finden. In Frankreich ge: deiht faſt nur das Frivole; in Italien und Deutſchland überwiegt in dieſer Sphäre das Zyniſche. England iſt das Land des Obſzönen. Das Obſzöne, das iſt der bewußte als reizvoll erlebte Schlag gegen die ſchon vorausgeſetzte Prü⸗ derie. Prüderie mag in irgendeinem Maße überall vorkom⸗ men. Aber während ſich die Prüderie außer England auf das Geſchlechtsreſſentiment alter Jungfern zu beſchränken pflegt, iſt eben jene Vorbildhaftigkeit der Gouvernantenmoral für die ganze engliſche Geſchlechtsmoral der ſpezifiſch engliſche Zug. Die Rache einer virilen Frauenſchicht an Lebensfülle und Schönheit, die durch Hochzüchtung durch den engliſchen Induſtrialismus und gleichzeitigen Abwurf der weiblichen Individuen mit ausgeprägteren ſeeliſchen und leiblichen ſekun⸗ dären Geſchlechtsmerkmalen in die Richtung der Proſtitution, für das engliſche Urteil exemplariſch wurde, hat erſt jüngſt durch die Zerſtörung der Venus von Tizian durch jene famoſe Suffragette die damit den „ſchönſten Charakter der Ge⸗ ſchichte! verherrlichen wollte ihr äußerſtes Symbol gefun⸗ den. Die Hieb⸗ und Stichfeſtigkeit, welche die engliſche Damenehre kraft dieſer kurioſen Moral erhält, hat niemand beſſer wie B. Shaw charakteriſiert, wenn er in feinem, dem engliſchen Geſchlechtscant gewidmetem Buche „Menſch und Übermenſch“ Tanner im Augenblick, als der weibliche Don Juan, der hier als das wohlerzogene junge Mädchen Ann er⸗

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ſcheint, den Arm um feinen, ihres Vormundes, Hals legt, ſagen läßt: „Wundervolle Frechheit“. (Sie lacht und tätſchelt ihn auf die Wange.) Wenn ich bedenke, daß mir dieſe Epiſode keine Seele glauben würde, von den Leuten abgeſehen, die mich dafür ſchnitten, daß ich ſie erzähle, während andererſeits meinem Leugnen niemand Glauben ſchenken möchte, wenn Sie mich deswegen anklagten!“ ... (Seite 128). Es gibt kein Land der Welt, in dem ſich die erotiſche Empfindung ſo ſubtil hinter andersartige, nichterotiſche Beziehungen wie Kamerad⸗ ſchaft, Freundſchaft, Verwandtſchaftsarten aller Grade, Formen des Dienſtes, Lehr: und Schülerverhältnis, ſcheinbar harmloſem Spiel von boy und girl, nicht nur für die Außenwelt, ſondern für die Beteiligten ſelbſt noch zu mas⸗ kieren und die Schutzfarben dieſer Beziehungen anzunehmen weiß; wo dieſe Maske hartnäckiger, dauernder und bis zu höheren Graden der erotiſchen Nähe von beiden Seiten feſt⸗ gehalten und wo gleichzeitig eben dieſe Maskerade noch als ein Plus zur bloßen Materie der Senſation hinzu heimlich genoſſen wird, als dieſes Land, in dem ſelbſt die beſſeren Ko⸗ kotten wie Püppchen und Porzellanengelchen ausſehen müſſen, um begehrt und bezahlt zu werden. Man wäre, wüßte man nicht, wie falſch und unſinnig die Theorien des Herrn Freud für die menſchliche Natur in genere find, hier zuweilen ernſt⸗ lich verſucht, Freudianer zu werden und an ſeine Lehre von den „Symbolhandlungen“ zu glauben. Der berühmte „Flirt“ erſt Amerika war fo cant:verlaffen, der alten engliſchen Tatſache das Skandalon eines beſonderen Namens an- zuhängen dieſe in der Form harmloſeſter Geſelligkeit fich gebende Elektrizität der Beziehungen bedeuten aber nur das—

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felbe, was auf entwickelterer Stufe und in höherem Alter die Prüderie iſt. Der Flirt iſt der feinveräſtelte Ausweg, den die Seele aus den harten Zäunen der traditionellen puritaniſchen Geſchlechtsmoral nimmt. Mit ſteigendem Alter der Be⸗ teiligten verwandelte ſich dann meiſt die Summe flüchtiger Senſationen, die der ſogenannte „Charakter“ und der merkan⸗ tile „Ernſt“ des Lebens den Seelchen noch erlaubt, in jene ein wenig blaſſe und dünne Sentimentalität und Romantik, die aus dem engliſchen Volksliebeslied hervorſeufzt, und die im Inſelvolke die Stelle deutſcher Innigkeit und romanifcher Leidenſchaft beſetzt. Aus dem Flirt der Berührung von Arm und Hand wird nun der Flirt der Seelchen. Wie dieſe Ge⸗ ſchlechtsmoral auf Drama und Schauſpielkunſt wirkt, be⸗ ſchreibt B. Shaw mit koſtbarer Ironie: „Die Heldin, welche die engliſche Schauſpielerin verkörpert, darf die elementaren Beziehungen zwiſchen Männern und Frauen nicht beſprechen; all ihr romantiſches Geſchwätz über romanhafte Liebe verfehlt vollſtändig den Weg zu unſerem Herzen und quält unſeren Geiſt. Um uns aber zu tröſten, brauchen wir uns die Darſtellerin bloß anzuſehen. Wir tun es und ihre Schön⸗ heit labt unſere verhungernden Gefühle. Zuweilen murren wir ungalant über die Dame, weil ſie nicht ebenſo gut ſpielt, wie ſie ausſieht. Aber in einem Drama, das trotz all ſeiner Beſchäftigung mit dem Geſchlecht von geſchlechtlichem Inter⸗ eſſe gänzlich unberührt bleibt, iſt hübſches Ausſehen er⸗ wünſchter als ſchauſpieleriſche Tätigkeit“. Was die engliſche Moral der Figur der in künſtleriſcher Einſtellung gegebenen äſthetiſchen Welt des Dramas ſo hart verſagt, das nimmt ſich der rohe Trieb, der im Theater ſchon mit der unkünſt⸗

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leriſchen Einſtellung auf die bloße Wirklichkeit rechnet, aus dieſer Wirklichkeit von Brettern und Kuliſſen, von Fleiſch und Bein heimlich zurück.

Aber iſt der cant Ethos und Laſter Englands zugleich, ſo iſt ſeine künſtleriſche Durchſchauung ſeitens eines Menſchen des Inſelvolkes die Tragödie der Tragödien. Nicht ganz fo ſchlimm iſt es noch, wenn man ein Ire iſt wie Shaw und den cant in der Diſtanzierung durchſchaut, die Irentum oder die geiſtige Weite des Katholizismus geſtatten. Dann muß man freilich das immerhin auch nicht verächtliche Opfer bringen und die Maske eines Poſſenreißer's annehmen, wenn auch eines „Poſſenreißer's“ in höherem Verſtande. Schon der ſchöne arme Byron war zuweilen auf dieſem Wege. Daß man dabei wenigſtens heute nicht mehr Märtyrer werden muß wie ſo viele ältere engliſche Große, das iſt ein Verdienſt des Wachstums des cant ſeit dieſer Zeit. Selbſt dem Vorwurf des cant begegnet dieſer dem heutigen England neu hinzugewachſene cant mit neuem cant: der Engländer der Gegenwart ärgert ſich nicht mehr, er lacht heute über Shaw und bewundert ihn ſogar ein wenig, analog wie die Damen und Herren am Hofe Louis XVI. Rouffeaus „Contrat sozial“, kurz bevor ihre Köpfe in den Staub rollten, ſehr witzig fanden. Der heutige Engländer lacht über dieſen witzigen phantaſtiſchen Mann B. Shaw, der Dinge ſchildert, die es doch in aller Welt nicht gibt, am wenigſten in England. Andererſeits freilich zwingt der cant jede höhere moraliſche und geiſtige Begabung etwaige ihm unerträgliche Wahrheiten in die Form der verantwortungsloſen Poſſe zu verſtecken. Und nur in der Schutzfarbe eines Narren, der die Inſel Nirgendwo

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ſchildert, wird wie ſchon bei Shakeſpeare zuweilen die Weisheit noch in Leuten wie Shaw und in dem Katho⸗ liken Cheſterton bei dieſen gewalttätigen Kaufleuten geduldet. Aber den höchſten Punkt erklimmt die Tragödie in engliſchen Menſchen, die nicht wie Shaw oder Cheſterton den cant ſo diſtanziert durchſchauen können, deren Bildung, Seele, Weſen vielmehr ſelbſt ſchon cant iſt, und die ein ſonderbarer Überfluß von Bewußtſein fremden wie eigenen cant nun dennoch durchblicken läßt. An dieſem Punkte ſtand Oskar Wilde —, das Spiegelbild aller engliſchen Spiegelbilder der Schatten der cant-Träume aller Schatten von Gentle⸗ mens! Ein ſelbſt nur cant⸗ geborener, das Bild einer höhe⸗ ren Moral nur per cant nachahmender Widerſpruch gegen den cant ſeines Landes ward O. Wildes Lebensform, ein Widerſpruch alſo gegen denſelben cant, der ſein eigenes weſenloſes Weſen war. In Wilde wurde das moraliſche Nichts ſelber noch ſichtbar. Und eine ungeheure Symbolik für Englands Schickſal wird vielleicht noch gewinnen ſein Leben, ſein Leiden, ſein Tod, ſein Tod in dem kleinen Winkel in Paris, das er einſt, wie King Edward mit ſeiner Liebens⸗ würdigkeit eroberte.

Um den ewigen Mißoerſtändniſſen ſteuern zu helfen, die zwiſchen Engländern und Deutſchen exiſtieren und ſo lange immer neu entſpringen müſſen, als man ſich von dem Katego⸗ rialgefüge, der Struktur, in der das engliſche Denken und Fühlen verläuft, keinen hinlänglichen Begriff gemacht hat, ſei es mir hier am Schluſſe noch erlaubt, eine Art Kategorien⸗ tafel des engliſchen Denkens zu entwerfen. Ich ſammle dabei gleichzeitig eine Reihe von Ergebniſſen dieſes Buches zu einer

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überfichtlichen Einheit zuſammen. Mit Hilfe diefer oder einer noch verbeſſerten ähnlichen Tafel ift es vielleicht einmal mög⸗ lich, Sinn und Sinnzuſammenhang einer engliſchen Rede in deutſchen Sinn und Sinnzuſammenhang jeweilig zu über⸗ ſetzen (was natürlich mit der rein ſprachlichen Überfegung nichts zu tun hat). Indem wir die jeweilig rechtsſtehenden Begriffe, die in einer engliſchen Rede vorkommen, durch die linksſtehenden erſetzen (freilich ſtets cum grano salis) wird es möglich ſein, den wahren Sinn der engliſchen Rede zu ent⸗ ziffern.

Außer dem Zwecke der Verſtändigung mag dieſe Tafel noch einem zweiten Zwecke dienen: einer Art Geiſtes⸗ und Ge⸗ mütskur für den deutſchen Geiſt, ſoferne er heute wie ich ſchon vorher mannigfach zeigte einer ganz gewaltigen Angli⸗ ſierung verfallen iſt. Es wäre ein ganz großer Irrtum, an⸗ zunehmen, daß dieſe geiſtige Anſteckung, ein Werk von Jahr⸗ zehnten, durch den bloßen Krieg gegen England mit Einſchluß des ungeheuren deutſchen Haſſes gegen England zerſtört werden, und dieſe Kräfte das umgekehrte Werk der Entangliſterung des deutſchen Geiſtes vollbringen könnten. Der Krieg kann höchſtens zum Beginn des Prozeſſes der Entangliſterung Anlaß geben. Dieſer Prozeß ſelbſt wird aber ſicherlich ebenſo lange Zeit dauern, als der Prozeß jener nationalen Suggeſtion im Großen gedauert hat. Was gar den Haß und die aus ihm hervorgehenden Folgen der Oppoſition gegen engliſches Weſen betrifft, ſo iſt er weit mehr Symptom der Angliſterung, als Arznei gegen ſie. Sol⸗ cher Haß bindet die Beteiligten nicht weniger ſtark wie ihre frühere Liebe fie band. Indem die Oppoſition gar meiſt ſelber in Kategorien und Strukturformen des engliſchen Denkens er-

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folgt und fich nur gegen beſtimmte bejahende und verneinende engliſche The ſen richtet, ſtärkt fie ſogar nur das engliſche Den⸗ ken unter uns, da die mit dem Widerſpruch gegen die engliſche Theſe verbundene Befriedigung, mim endlich einmal deutſch zu ſein und deutſch zu fühlen gerade verdeckt, daß man nur Deut⸗ ſches denkt und fühlt, nicht aber deut ſch denkt und fühlt, d. h. daß man eben da am meiſten Knecht iſt, wo man ſich am freieſten empfindet. Zu einem echten geiſtigen Befreiungskampf von England kann nur jene Haltung der Kühle, der Gleich⸗ gültigkeit, verbunden mit dem tiefen Beſitzbewußtſein eines eigentümlichen, jetzt noch vielfach uns ſelbſt verborgenen deutſchen Geiſtes führen, der von ſelbſt emportauchen wird, wenn man die Kruſten ſeiner zurzeit beſtehenden Ang⸗ liſterung langſam, kühl, ruhig gleich dem arbeitenden Arzte, abſchabt.

Der Kurgebrauch unſerer Tafel iſt ſo zu denken, daß man eine ernſtliche Selbſtprüfung ſowie eine Prüfung ſeiner Freunde im ſokratiſchen Sinne ſyſtematiſch vornimmt, ob man nicht da und dort in ſeinem Bewußtſein Neigungen zu ana⸗ logen Verwechslungen von Begriffen und Werten wahr⸗ nimmt, wie ſie dieſe Tafel ſyſtematiſch vorführt. Auf die Be⸗ griffe, nicht auf die Sätze kommt es hier an, oder noch beſſer auf jene urſprünglichſten Einheitsbildungen des Denkens an der Weltgegebenheit, die ebenſo wohl allen künſtlichen Begriffs⸗ bildungen durch Definition als allen bloßen Sätzen vorher⸗ gehen. Findet man ſolche Neigungen vor, ſo verwerfe man ſie nicht einfach oder kämpfe gegen ſie an; engliſches Denken kann ja da und dort mit rein vernünftigem Denken oder doch mit der beſonderen Anlage der betreffenden Perſon überein⸗

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ſtimmen. Aber man prüfe in dieſem Falle genau zuerſt die ſach⸗ lichen Anſchauungsgrundlagen der betreffenden ſuſpekten Be⸗ griffe; dann aber zumal wenn man keine ſolchen von ge⸗ nügender Klarheit vorfindet, überlege man ſich, auf welche hiſtoriſche Weiſe man wohl zur Neigung, engliſch zu denken, gekommen ſei. Dieſe Erkenntnis wird damn jeweilig befreiend und entlaſtend wirken.

Als Methode zur Herſtellung einer ſolchen Tafel, deren viele denkbar ſind —, wähle ich das Schema der Rede, mit

der Schiller einmal eine deutſche Neigung, einen Wert mit

einem Unwert zu verwechſeln, rügt: „Im Deutſchen lügt man, wenn man höflich iſt.“ Das Beiſpiel zeigt zugleich, daß wohl für alle Nationalcharaktere eine ſolche Tafel aufzuſtellen wäre, wenn ſie auch bei uns Deutſchen wegen der mangelnden Homogenität des Weſens der deutſchen Stämme erheblich ſchwieriger zu gewinnen wäre. Die linksſtehenden Begriffe auf der Tafel find jeweilig die⸗ jenigen, die Höherwertiges bedeuten und die der engliſche Geiſt mit den rechtsſtehenden gleichzuſetzen die Neigung hat. Die Tafel kann natürlich noch beliebiger Verbeſſerung unter⸗ liegen.

Kategorientafel des engliſchen Denkens

Es beſteht die Tendenz, zu verwechſeln:

Kultur mit Den Lehrer mit dem Den Krieger mit dem Denken mit Wahrheiten mit Wahres Weltbild mit Sachkunde mit Vernunft mit Axiom mit Grund und Folge mit Urteil mit Begriff mit Erklärung mit Wiſſenſchaftliche Methode mit Charakter mit

Gottes ewige Rechtsordnung mit

Gottes Vorſehung mit Das Gute mit dem Verehrung der Tugend mit

Stärke der ſozialen Konvention mit

Bildung | mit Ehrlichkeit und Biederkeit mit Verſprechen mit Treue mit

f .

f * f } ;

\ 442 |

1 5

Komfort

Hirten

Räuber

Rechnen

Tatſachen (ſo ſchon O. Wilde)

zweckmäßigem Weltbild

Unbeſtreitbarkeit durch andere

Dfonomie [Leute

Definition |

Gewohnheit

Abbruch eines verwickelten Ge⸗ dankengangs mit einem Glau⸗ bens⸗ oder Willensakt

Wahrnehmungserſparnis

Klaſſifikation

Induktiver Methode

Borniertheit

den Intereſſen Englands

Politik Englands

Nützlichen

cant

Geiſtes⸗ und Redefreiheit

geiſtiger Abgeſchloſſenheit

organiſcher Verlogenheit, welche das Lügen überflüfjig macht

gegenſeitiger Vertragsbindung

Genauigkeit in der Einhaltung von Verträgen

Sittlichkeit mit Wahrhaftigkeit mit Schamhaftigkeit mit Anſtand mit Ritterliches Spiel mit Ehrgefühl mit Macht mit Welt mit Adel mit Menſchliche Natur mit Naturgeſetz mit Perſon mit Chriſtliche Liebe mit Friedfertigkeit mit Liebe mit Sympathie mit Demokratie mit Gemeinſchaft mit Moraliſche Geſinnung mit Güte der Menſchen mit Liebe zu den Schwachen mit Gewiſſensurteil mit Stimme Gottes mit Europäifche Gemeinſchaft mit Leben mit

Das Gute um ſeiner ſelbſt willen mit

Sinn für Komik mit Gemüt mit Frömmigkeit mit Wahrhaftigkeit der gefragten Per⸗

ſon mit

Recht

nichts denken und glauben, was man nicht ſagen kann

Anſtand

Prüderie

Sport

Sinn für ee

Nützlichkeit

Umwelt

Reichtum, deſſen Provenienz ver⸗ geſſen wurde

Engländer

Sitten und Gewohnheiten in Eng⸗

Gentleman and

Humanität

Pazifizismus

Intereſſenſolidarität

ſich ſelber mit einem andern Ich verwechſeln

Mißtrauen aller mit allen, die ſich gegenſeitig hierdurch in Schach halten

Geſellſchaft

Korrektheit

Intaktheit der „Moral“

Haß auf die Starken

möglichem Urteil des Zuſchauers

öffentlicher Meinung Englands

europäiſchem Gleichgewicht

Anpaſſung innerer Beziehungen an äußere

Vergeſſen des Nutzens einer Hand⸗

Humor [lung

Sentimentalität

Bigotterie

Höflichkeitspflicht der anredenden Perſon, ihr Glauben zu ſchenken.

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Druck von W.

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Berichtigung

Seite 16 Zeile 14 lies anſtatt bei der „beider“. Seite 23 Zeile 14 lies anſtatt Bahnen „Außen“. Seite 441 Zeile 10 lies anſtatt Schiller „Goethe“.

Im Verlag der Weißen Bücher / Leipzig iſt erſchienen und durch alle Buchhandlungen zu beziehen

Max Scheler Abhandlungen und Aufſätze

Zwei Bände im Umfang von 49 Bogen Geheftet M 12.—, gebunden M 18.—

Aus dem Inhalt:

Zur Rehabilitierung der Tugend. Das Reſſentiment im Aufbau der Moralen. Zum Phänomen des Tragiſchen. Zur Idee des Menſchen. Die Idole der Selbſt⸗ erkenntnis. Verſuche einer Philoſophie des Lebens. Die Pſychologie der ſogenannten Rentenhyſterie und der rechte Kampf gegen das Übel. Zum Sinn der Frauenbewegung. Der Bourgeois. Der Bourgeois und die religiöfen Mächte. Die Zukunft des Kapitalismus.

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Friedrich Theodor Viſchers Aſthetik oder: Die Wiſſenſchaft des Schönen

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Robert Viſcher

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Herbſt 1915 beſtehen, wo dann der erhöhte Ladenpreis

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Als im vorigen Jahre der Kongreß der Aſthetiker in Berlin tagte, da wurde unter allen Vorkämpfern der jungen Kunſt⸗ wiſſenſchaft der Name Friedrich Theodor Viſcher mit am freudigſten und lauteſten genannt. Viſcher war nicht nur ein Gelehrter von umfaſſendem Wiſſen, eine für alles Schöne begeiſterte, feurige Natur, er war vor allen Dingen eine Perſönlichkeit, und feine mannigfaltigen Schriften find zu⸗ gleich leidenſchaftliche Bekenntniſſe, die ſchon darum unſterb⸗ lich ſind, weil ſie im tiefſten Grunde empfundene Erkenntnis, gefühlte Wiſſenſchaft enthalten. Der Dichter Friedrich Theo⸗ dor Viſcher iſt ja niemals dem Geſichtskreis des deutſchen Volkes ganz entſchwunden, wenn er ſich ſelber auch gern unter allerlei Masken und Namen verſteckt hat. „Auch Einer“ hat immer zu den klaſſiſchen Werken unſerer Erzählerkunſt gehört. Viſcher war aber auch ein Klaſſiker der Wiſſen⸗ ſchaft, ein Mann, von dem ein breiter, befruchtender Strom der Anregung ausging. Die Beſten unſeres Volkes, Männer wie Gottfried Keller, Heinrich von Treitſchke, Ludwig Spei⸗ del, haben ihn wiederholt in den Ausdrücken höchſter Be⸗ wunderung anerkannt.

Als der „Praeceptor Germaniae, als der große Repetent deutſcher Nation für alles Schöne und Gute, Rechte und Wahre“, iſt er von Meiſter Gottfried gefeiert worden.

Und über Viſchers Aſthetik ſchreibt Treitſchke:

„Viſcher bin ich für ſein herrliches, von Unzähligen heim⸗ lich benutztes und nie genanntes Werk unendlich dankbar.“

Dieſen Klaſſiker unſerer Wiſſenſchaft gilt es für den großen Kreis des deutſchen Leſepublikums zurückzuerobern. Bisher wurde er mehr genannt als gekannt, mehr geprieſen als geleſen. Heute, wo der Kreis des Kunſtſchaffens wie des Kunſtgenießens ſich immer mehr erweitert, wird eine Orien⸗ tierung auf dem Gebiete des Schönen auch für den Laien zu gebieteriſcher Notwendigkeit. Die Schriften von Friedrich Theodor Viſcher ſind Bauſteine am Fundament der geſamten Aſthetik und als ſolche Großtaten des deutſchen Geiſtes. Viſcher war einer der erſten, die die Führung in dieſer Wiſſenſchaft dem deutſchen Volke errangen.

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Der Genius des Krieges und der Deutsche

Scheler, Max Ferdinand

Krieg,

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