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Malwida von Meysenbug

DER lEBENSÄBEND

EINER

IDEÄLISTIN

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Der Lebensabend einer Idealistin

Im gleichen Verlage erschien von derselben Verfasserin :

MEMOIREN EINER IDEALISTIN

VI. Auflage.

Drei Bände, broschiert Mk. lo. , gebunden Mk. 14.

INDIVIDUALITÄTEN

II. Auflage

Broschiert Mk. 6. , gebnnden Mk. 7.50

STIMMUNGSBILDER

ni. Auflage.

Broschiert Mk. 4. , gebunden Mk. 5.50

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DER LEBENSABEND EINER IDEALISTIN

NACHTRAG ZU DEN

„MSMOIRSJt SIHEE IDEÄLISTIH"

VON

Malwida von Meyspnbug fünfte auflage.

SCHUSTER & LOEFFLER

BERLIN UND LEIPZIG

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Meinen teuersten Freunden

OLGA und GABRIEL MONOD

zum 6. März 1898 in unvergänglicher Liebe zugeeignet

Alle Rechte vorbehalten

Vorwort

Wie gütig ist das Schicksal doch zuweilen ! So erlaubte es mir, der Hochbetagten, mit Euch noch den Tag zu feiern, der Euch das Siegel auf fünfundzwanzig Jahre eines edlen Glücks drückte und mir die trostreiche Hoffnung gab, dass auch ferner gute Sterne über Euch leuchten werden, wenn meine Augen sich schon für alles Irdische geschlossen haben.

Warum ich Euch an dem Tag diese Blätter zur Erinnerung weihte, das war, weil sie Er- lebtes und Gedachtes aus den Jahren enthalten, in denen ich nur teilweise mit Euch vereint war und wo das hier Erzählte Euch fremd blieb.

Warum ich nun noch einmal in die Öffent- lichkeit damit trete, das ist, weil ich so über alles Erwarten liebevolle Teilnahme in der un- bekannten Menge fand und daher voraussetzen

darf, dass alle diese guten Freunde gern noch einmal einen Gruss von mir empfangen.

Möge es denn so sein! Von Euch bin ich dessen getrost, aber möge mir auch wieder ein zustimmendes Exho von nah und fern die Gewissheit geben, dass es eine weitverzweigte Gemeinde gibt von Solchen, die sich nie gekannt, nie gesehen, und die doch fest verbunden sind durch das gleiche Streben nach dem Guten, nach dem Ideal, nach der äusseren und inneren Vollendung des Lebens.

Sie allein werden zuletzt recht behalten I

Die Zeit des Kampfes war vorüber, die grössere Hälfte des Lebens war verflossen, nach innen und nach aussen war die Freiheit ge- wonnen, welche der Preis jedes edeln Strebens ist; die selbstgewählte Aufgabe der Erziehung einer Tochter der freien Wahl, war erfüllt, sie hatte ihr eigenes Leben begonnen, in einer jedes wahre Glück verheissenden Ehe; das Alter nahte mit raschen Schritten und nun galt es, doch noch einmal einen Entschluss zu fassen, sich für einen Wohnort zu entscheiden und dem Leben eine würdige, dem Alter angemes- sene Gestalt und einen ausfüllenden Inhalt zu geben. Nach der Trennung von jenem Wesen, dem, in jahrelanger Vereinigung, die Fülle der Liebe, welche mein Herz umschloss, gegolten hatte, war mein festes, schon lange ins Auge gefasstes Ziel gewesen, in das Vaterland zurück- zukehren und zwar an den Ort, wo mir

MeysenbugjlV. x

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damals die Blüte des wahrhaft deutschen Geistes, eine neue Heimat gefunden zu haben schien nach Bayreuth, und so, nicht nur der mir so innig befreundet gewordenen Familie des grossen Meisters nahe zu sein, sondern fortan auch ganz in der idealen Kunstsphäre zu leben, die sich durch ihn und um ihn dort ent- wickeln sollte.

Ich war schon einmal dort gewesen, als im Jahre 1872 der Grundstein zu dem Theaterbau gelegt wurde, und, als herrlichste Einweihung, in dem hübschen Rokoko Theater von Bayreutli, die neunte Symphonie, von Wagner selbst dirigiert, zur Aufführung kam. Wer jene Tage miterlebt hatte, musste eine ewige Erinnerung daran be- wahren, als an einen jener idealen Momente, wie sie das Leben zuweilen den Sterblichen schenkt, um zu zeigen, was möglich wäre, wenn die Menschheit; anstatt sich nur um das ^ allzu Flüchtige« zu bemühen, die ewigen Schätze, die der Genius ihr bietet, pflegen und mit liebendem Verständnis zu erfassen tätig sein wollte. In dem Lichtglanz, den jene Tage über das kleine Städtchen im Bayernland ver- breitet hatten, erschien mir kein Ort so geeig- net, meinem Alter eine Heimat zu werden, als diese, der hohen Kunst geweihte Stätte, und ich nahm Abschied von der Sonne des Südens, um unter einer idealen Sonne im kalten Norden zu leben.

Dort den Freunden verbunden, im engsten Familienkreis mit ihnen verkehrend, schien mir

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die glücklichste Wahl getroffen. Die Abende, wo gemeinschaftliche Lektüre uns vereinte, waren Stunden seltensten Genusses, weil jedes Werk, das vorgenommen wurde, durch Wagners Kom- mentare und Bemerkungen erhöhten Wert er- hielt. Eine Zeit lang waren es die spanischen Dichter, die Wagner vorlas und deren zauberische Anmut mich entzückte, so wie die tiefe Glut der Empfindung mich an die Bilder Zurbarans erinnerte, die ich einst in der berühmten Aus- stellung in Manchester gesehen hatte, zu welcher alle englischen Grossen die reichen Schätze ihrer Schlösser, auf fremdem Boden gesammelt, ein- gesandt hatten. Diese Glut der Innerlichkeit, die in dem spanischen Maler sich zum düsteren Fanatismus steigert, fand ich in Calderon poetisch verklärt wieder, während mich in Lope de Vega und anderen mehr das feine, vornehme, blumen- reiche Spiel anzog,' wenn es auch gleich manches unserer Kultur Fremdes enthält, wie z. B. den spanischen Begriff der Ehre.

Unvergleichlich schön aber war es, wenn W^agner Shakespeare vorlas; es schien, als ver- stände man den grossen Dramatiker nun erst ganz, und ich sagte einmal im Scherz zu Wagner, er habe seinen Beruf verfehlt, er hätte Schauspieler werden müssen, um Shakiespeare zu spielen, um die gewaltige Grösse des Ge- nius den Menschen voll zum Verständnis zu bringen.

Zuweilen wurde das häusliche Leben durch Besuche auswärtiger Freunde unterbrochen, so

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wiederholt durch den Besuch Friedrich Nietzsches, damals noch durch die hingehendste Freundschaft mit Wagner verbunden. Ich hatte ihn bei der Grrundsteinlegung im Jahr 72 kennen gelernt, nachdem ich vorher schon mit Begeisterung seine Schrift »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« gelesen hatte. Dann hatte ich ihn in München wieder gesehen, wo ich mit Olga weilte, um den AufRihrungen von »Tristan und Isolde« beizuwohnen, die uns alle ganz glücklich machten. Jetzt erfreute er uns oft durch sein wahrhaft wundervolles Klavier- spiel, meist freie Improvisationen, so dass Wagner ihm einmal im Scherz sagte: »Nein, Nietzsche, Sie spielen zu gut für einen Professor.« Auch Brockhaus aus Leipzig, Wagner verschwägert, kam und erzählte u. a., wie die Werke Schopen- hauers lange Jahre als unverkaufbar bei ihm auf dem Boden unter dem Dach gelegen hätten, und dass er nahe daran gewesen sei, sie als Makulatur zu gebrauchen, bis plötzlich Schopen- hauers Stern aufging. Welchem -Schicksal sind oft die grossen Schätze der Menschheit aus- gesetzt! Aber Schopenhauer wusste es wohl, dass sein Tag kommen würde; sein Glaube hat ihn nicht betrogen.

Das schöne, wahrhaft ideale Zusammenleben in der kleinen, neu erworbenen Heimat wurde aber leider auf eine Weise gestört, die keinen Widerspruch zuliess. Meine Gesundheit, seit so vielen Jahren an südliche Winter gewöhnt, konnte den nordischen, noch dazu in dem kalten Klima

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von Bayreuth besonders rauhen Winter nicht mehr vertragen. Ein heftiges Kopfleiden stellte sich ein und als ich nach München ging, um einen dortigen mir bekannten Arzt zu befragen, verordnete er mir, auf der Stelle nach Italien zurückzukehren, wenn ich die ernstesten Folgen vermeiden wollte. Er drängte so, dass mir nicht einmal 2^it blieb, noch einmal nach Bayreuth zu gehen und von den Freunden Abschied zu nehmen, was mir aber auch zu schmerzlich gewesen wäre, wie ich auch wohl wusste, dass dieser gewalt- same Aufbruch ebenfalls in ihrem Leben ein trüber Augenblick sein würde. So zog ich Anfang Januar wieder über die Alpen zurück, traf die Ebene der Lombardei tief mit Schnee bedeckt, und ging nach San Remo an die Riviera, wo die Menschen wieder unter Orangenbäumen und zwischen blühenden Rosen im Freien sassen. Ich musste aber erfahren, wie recht der Arzt in München gehabt hatte; denn es war eine lange leideuvoUe Zeit, die ich durchzumachen hatte, und dRne den trefflichen Arzt, den ich in San Remo fand, hätte ich wohl der Walküre, deren Wink ich schon gesehen zu haben glaubte, folgen müssen. Endlich so weit hergestellt, dass ich reisen konnte, ging ich nach Ischia, wo ich schon den Sommer vorher, nach Olgas Heirat, vor meiner Ansiedlung in Bayreuth ge- wesen war und die Wohltat der dortigen Bäder erfahren hatte. Dort in der Einsamkeit der zauberischen Insel, mit dem Blick auf den Golf von Neapel und den Vesuv, erholte sich mein

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Gemüt von der schmerzlichen Resignation, in welche es nach der gezwungenen Trennung von der idealen Heimat, die ich in Bayreuth gefunden hatte, versunken war. Ich fühlte, dass ich noch Kraft zum Leben hatte, dass ich noch denken, arbeiten, noch das Schöne empfinden und das Gute tun könnte, und damit war mein Ent- schluss gefasst. Konnte ich des Klimas wegen nicht in jenem irdischen Walhall leben, so wollte ich wenigstens einen Ort wählen, wo etwas erlebt war, wo grosse Erinnerungen in bleir benden Zeugen hehrer Monumente einen Kranz der Unsterblichkeit um das Vergangene schlin^ gen, und wo die ewig gütige Natur auch die Trümmer stets von neuem mit holdem Jugend- schmuck umgibt. So wählte ich Rom zum letzten Asyl.

Schon 10 Jahre früher (in den Jahren 1863, 64 und 65) hatte ich drei Winter in Rom zu- gebracht mit den zwei mir anvertrauten Töchtern Alexander Herzens. Es war noch die Zeit der päpstlichen Herrschaft, unter Pio IX., und während das übrige Italien sich bereits zu einem einigen geschlossenen Staat zusammenfugte, herrschte hier noch das Mittelalter in den Zuständen, aber daneben auch noch der Zauber der lebendigen Überlieferung grosser Vergangenheiten, welcher die Seele mit Stimmungen erfüllte, . so voll von Poesie, von Glorie der Vorzeit, von schönheits- seligen Entzückungen wie keine andere moderne Stadt sie hervorrufen konnte. Auch, das gesellige Leben hatte noch nicht das.

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Touristenhafte, welches es jetzt hat. Noch war kein Eisenbahnnetz um die ewige Stadt ge^ schlungen; nodi hatte man nach alter Art mit dem Vetturino, in bequemer Kutsche, von munteren, mit Glöckchen behängten Pferden gezogen, den Weg auf guter Fahrstrasse, von Florenz über Viterbo zu machen. Wenn man dann, auf der Höhe der alten Flaminia an- gelangt, den Ruf erschallen hörte: >Ecco Roma!«, Halt machen Hess, ausstieg und nun die Kup- pel von St. Peter vom Abendgold umstrahlt, und die Campagna in tausend wunderbare Farbentöne getaucht vor sich sah, dann hatte man die Empfindung, welche einst die Pilger gehabt haben mögen, die ihres Seelen- heiles willen hierherzogen, niederzuknien, und das Wehen jener Weltmacht zu fühlen, die unsichtbar in den irdischen Geschicken waltet und die ewigen Ideen durch Jahrtausende hindurch, allem nienschlichen Missvierständnis und Widerstand zum Trotz, zu ihrer Erfüllung leitet. ' ^

Wie schon gesagt,, damals war Rom noch nicht die Stadt > der blossen Touristen, die auf wenige Wochen oder wohl gar Tage kommen und nun meinen, sie kennen Rom. Früher kam maa hin, um sich auf ganze Winter und Früh- linge häuslich einzurichten, wirklich da zu leben in einer vielfach fremdartigen Welt, die aber in den Erscheinungen vergangener Geschichtsepochen eine Fülle anregender Eindrücke bot. Auch ich richtete unser Leben damals ganz häuslich ein,

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sorgte für genügenden Unterricht der jungen Mädchen, den die künstlerischen Anschauungen in edelster Weise vervollkommnen halfen, und genoss mit ihnen die liebenswürdigen Beziehungen, welche sich in der damaligen Gesellschaft so leicht und angenehm bildeten. Man war lange genug beisammen, um engere Freundschaftsbande an- zuknüpfen, und so fanden auch wir uns bald in einem Kreise heimisch, zu dem u. a. auch Fer- dinand Gregorovius gehörte, der damals schon eine hochgeachtete Stellung in der römischen Gesellschaft einnahm, und mit dem uns bald herzliche Freundschaft verband. Wie fröhlich und echt römisch waren die Sonntage, wo wir mit ihm, mit einigen Künstlerfamilien und mun- teren Kindern, Gefährten der noch im Kindesalter stehenden Olga, hinauszogen in die Campagna, uns in irgend einer der vielen Osterien, die sich da fmden, niederliessen, und bei trefflichem Land- wein und ländlicher Kost bis spät am Abend die Poesie des von allem modernen Leben so verschiedenen Daseins genossen. Oder wenn wir uns auf der alten Fähre dem damals ausser dem Ponte S. Angelo einzigen Ver- bindungsmittel der beiden Ufer über den Tiber fahren Hessen, und nach dem Monte Mario hinauf wanderten, wo dann bei dem nächtlichen Rückweg die Gebüsche von Leuchtkäfern fun- kelten, welche die Kinder sich in die Haare setzten, und mit dem glänzenden Brillantschmuck entzückt heimwärts zogen. Oh Poesie des Lebens, wie wenig bedarfst du des Reichtums und Luxus,

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' um deine holden Blüten zu treiben! In den . reinen Herzen und den edeln Intelligenzen, in I Liebe, Güte, Greist und Natur sind deine Ele- j mente, und wie wenig wissen die Menschen aus diesen reichen Quellen zu schöpfen! Sie suchen in äusseren Dingen, was doch nur von innen kommen kann.

Nach diesen drei glücklichen Wintern in Rom, die mit Sommerfrischen am Meer bei Neapel oder auf den Inseln wechselten, nahm ich mit Olga bleibenden Aufenthalt in Florenz, woselbst ihr Bruder eine Anstellung auf dem naturwissen- schaftlichen Institut, das unter der Leitung des berühmten Physiologen Moritz Schiff stand, ge- funden hatte. Mein Leben war damals einzig der Aufgabe geweiht, der zur Jungfrau heran- reifenden Olga die fehlende Mutter, und nach dem Tode Herzens, der im Januar 1870 in Paris starb, auch den Vater zu ersetzen, und so schön und inhaltsvoll das intime Leben, welches sich um uns gebildet hatte, auch war, so hatte es doch keinen Anspruch auf öffentliches Interesse und fand seinen Abschluss mit Olgas Heirat, welche sie in ein anderes Land führte, fem von mir, und mich allein zurück Hess.

Ich kam dann also nach Rom zurück, welches ich mir zur letzten Heimat erkoren. Es wurde aber vorläufig nur ein provisorisches Heim, da meine Schwestern mir die Absicht kund gaben, den Winter nach Rom zu kommen, welches sie noch nicht kannten, und ich daher nur eine möblierte Wohnung mietete, wo ich mit ihnen

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zusammen wohnen konnte. Ich hatte schon seit vielen Jahren die Freude erlebt, dass alle Mit- glieder meiner Familie sich mit mir wieder ver- söhnt und sich mir liebend zugewendet hatten, nachdem ihnen die Überzeugung geworden war, dass ich nie bloss phantastischen Impulsen ge- folgt wäre, sondern einer Idee gedient hätte, die, wenn sie auch nicht die ihre war, vor keinem Richterstuhl der Erde verurteilt werden konnte. Es war ein schöner Sieg der Liebe und Ge- rechtigkeit, wie er zwischen guten Menschen immer stattfinden sollte, wenn nicht Laune oder Willkür, sondern ernste Überzeugungen das Trennende zwischen ihnen gewesen sind. Meine Mutter war gestorben, als ich noch in England weilte, aber meine Schwestern hatte ich in Deutschland wiedergesehen, als ich von Florenz aus mit Olga nach langen Jahren zum ersten Mal wieder deutschen Boden betrat, Dieser Winter wurde nun zu einem freundlichen Zu- sammenleben; durch das zufällige Eintreffen vieler interessanter Persönlichkeiten in Rom noch belebt und verschönert. Es waren da Levin Schücking, Carl Hillebrandt, Liszt, Gre- gorovius u. a., und von Italienern Raffaele Mariano, der neapolitanische Hegelianer, Pasquale Villari, der Autor des Lebens von Savonarola, Machiavelli etc. und noch viele andere, die auch bei uns aus und ein gingen und dem Leben einen geistig bewegten Inhalt gaben.

In dem darauffolgenden Sommer ging ich zum ersten Male nach zweijähriger Trennung,

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um Olga in ihrer neuen Heimat in Paris zu besuchen. Ich hatte mich mit Absicht so lange fern von ihr gehalten, teils um ihr Zeit zu geben, sich ganz frei in die neuen Verhältnisse einzuleben, teils um erst in meinem eigenen Herzen die Wunde der Trennung so weit heilen zu lassen, dass auch ich, frei von jedem egoisti- schen Gefühl, rein teilnehmend ihr gegenüber- treten konnte. Ich fand sie bereits als glückliche Mutter von zwei holden Kindern und verbrachte mehrere Monate mit ihr in einer Sommer- wohnung bei Paris, in liebevollster Eintracht, die in nichts den alten Ton der Liebe vermissen liess, trotz der neuen Elemente, die so mächtig herrschend in ihr Leben getreten waren. In so vielen Fällen trennt die Ehe und besonders das neue Verhältnis zu den Kindern das frühere zwischen der Tochter und der Mutter oder der- jenigen, welche ihre Stelle vertrat, und es ist vielleicht daher, und nicht immer mit Unrecht, die hässliche Sage von den bösen Schwieger- müttern entstanden. Wenn es aber der Zweck der Erziehung gewesen war, der Persönlichkeit die grösstmögliche Freiheit der Entwicklung zu gewähren, und wenn daneben die eigne Natur genug Fülle und Tatkraft besitzt, um sich ein würdiges Leben zu schaffen, auch wenn die Aufgabe an einer Anderen erfüllt ist, wenn endlich die Liebe, welche hier verbindend ge- wirkt hatte, die wahre, reine gewesen war, frei von Egoismus in Geben und Nehmen, dann kann das neue Verhältnis sogar eine Bereiche-

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rung des alten werden, gleich der Pflanze, die man mit Sorgfalt grossgezogen hat, und die sich nun herrlich in Blüten vervielfältigt.

Im Spätherbst kehrte ich nach Rom zurück. Da aber mein Leben zu der Zeit fast nur ein rein innerliches war und äusserlich keinerlei An- spruch auf öffentliches Interesse hatte, so möge hier nur ein Bruchstück aus diesem Innenleben folgen.

Gedachtes.

Einem Freunde, der mir schrieb, es sei eigent- lich unnütz, zu schaffen, da doch alles dem Nichts verfalle, antwortete ich heute: »Teilen Sie die geschaffenen Werke in zwei Hälften; die eine Hälfte, die nur von der Welt der Erscheinung handelt, verfällt dem Nichts, wie alles was nur Erscheinung bleibt, so auch die Menschen.

Die andere Hälfte, in welcher der göttliche Funke glüht, verfällt nicht dem Nichts; sie hat sich eingereiht in den Akkord der grossen Sym- phonie, die im Grunde der Dinge tönt, welche die wahren Künstlerseelen von fem in ihren Träumen ahnen, und welche sie hören werden, wenn die Form zerbrochen ist, und sie es er- reicht haben, nicht wieder erscheinen zu müssen. Die 'Inder haben das alles schon gewusst.

Ich sprach mit einer Bekannten jjber den Glauben. Sie meinte, er müsse bewusste, ge-

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wollte Überzeugung sein. Dann ist es aber nicht Glaube, sondern Wissen. Glaube ist gerade die Macht des Gemüts, die etwas, allem Wissen, allem Wollen zum Trotz, festhält. So gibt es den Glauben an einen Menschen, selbst wenn wir ihn augenblicklich auf falschen Wegen wandeln sehen, so gibt es den Glauben an eine metaphysische Welt, trotzdem jede dogmatische Vorstellung zerstört ist; so gibt es den Glauben an ein Ideal, ungeachtet der Ideallosigkeit der uns umgebenden Welt. Der Glaube ist das Spontanste, Unzerstörbarste in dem Gemüt, welches gläubig angelegt ist. Er wirft nur die Formen ab, welche vor der Kritik der Vernunft nicht Stich halten, während gerade diejenigen, welche sich an diese Formen anklammem und meinen, dadurch den Glauben festzuhalten, keinen mehr haben, wohingegen das gläubige Gemüt hinter jedem verlassenen Horizont einen neuen, weiteren, mit neuen lichteren Sonnen aufleuchten sieht.

Man kann vernünftig denken, dass das Dies- seits alles sei. Freilich kommt es nur auf uns an, dass es viel sei, indem wir das kurze Leben mit reichem Inhalt füllen. Wir haben dann immer noch vor jenen, mit denen wir das Schicksal der Vernichtung zu teilen hätten, das voraus, dass wir Götterfreuden im Streben und Werden genossen haben, wo jene stumpf vorübergingen, oder den ungelöschten Durst am Vergänglichen stillen wollten.

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Wir sind ja nicht am Ende des Wissens an- gelangt; und das ist unser Trost und sicheres Bewusstsein, dass die Entwicklung des Lebens unendlich ist, dass der Tod nichts ist, als der Übergang in neue Formen des Daseins, dass die Atome, welche einst eine Dichterstirn, ein begeistertes Herz bildeten, vielleicht in einer duftenden Blüte wieder erscheinen, und ihre Wanderung von da wieder in neue Menschen- formen fortsetzen, und dass die herrlichen Ge- danken, welche jener Stirn entsprangen, die Liebe, die jenes Herz zu tröstenden Taten des Mitleids trieb, eingeflochten sind in die Unsterb- lichkeit des Lebensquells, der, von Mensch zu Mensch und von Geschlecht zu Geschlecht fort- zeugend, das Gute, Grosse, Schöne weckt. Da- neben freilich tragen wir den Schmerz der End- lichkeit, der Notwendigkeit, der unerbittlichen Göttin, die wir schweigend verehren, und gegen die es nur Gehorsam gibt, während auf der anderen Seite Freiheit ist, das heisst: Freiheit, das Vollendete zu wollen und das Mögliche zu erreichen.

Ein Bibelausspruch, der gegen die Lehre vom Fegefeuer und die katholischen Zwischenstationen spricht, ist doch der, dass Christus am Kreuz zu dem Schacher sagt: heute noch wirst du mit mir im Paradiese seinl Der war aber doch ein Sünder und konnte demnach noch nicht vorbereitet sein, sich Gott zu nahen.

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Da es Spiegelungen der Existenz gibt, in welchen der Wille zum Leben nicht mehr störend eintritt, in welchen das objektiv Schöne beinah in völliger Idealität vor uns steht, dürfen wir uns da nicht mit Recht der Hoffnung hingeben, dass einst, wenn der Kampf mit dem wilden Tiger ausgekämpft ist, uns das Glück des leiden- losen, objektiven Anschauens und Begreifens zu teil werden wird? Vielleicht liegt der Zweifel nur in dem Verwechseln von Subjektivität, d. h. Egoismus, und Individualität. Je höher, je reiner diese ist, je mehr ist sie fähig, sich dem Objektiven hinzugeben. Je subjektiver, d. h. je gebundener im Willen, je getrübter ist die Fähigkeit zur Selbsterlösung, und mithin zum idealen Glück. Ein Werk des Genius spricht dies deutlichst aus. Wer fühlte es nicht vor der Himmelfahrt der Maria von Tizian, in der Pinakothek zu Venedig, dass hier die Seligkeit der Erlösung vom Willen wirklich dargestellt ist? Da ist keine Lein- wand mehr, da sind keine Farben. Da ist eine reine, grosse Individualität, welche überwunden hat, und nun Freiheit atmend aufsteigt in das universelle Dasein, in das Glück der idealen Existenz. Ihr nach sehnt sich in stürmischem Drang, was noch unten weilt im elementaren,, unruhvollen Kampf.

Jedes tiefe innerliche Leben klingt mit einem Mollakkord aus, wie die ahnungsvolle Poesie der Völker es im Volksliede ausspricht.

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Die einzige Aufforderung, zu welcher der Gredanke an den Tod uns führen sollte, wäre die, das Leben mit dem höchsten Inhalt zu füllen, jedem Augenblick den edelsten Wert zu verleihen.

Es ist das Schicksal aller tiefen Naturen, zuletzt mit sich selbst allein zu bleiben, d. h. mit dem, was das Universelle in uns ist, und deshalb ist es keine traurige Einsamkeit, sondern die Rückkehr in die ewige Einheit des Daseins, und damit in den wahren endlichen Frieden, dasselbe, was die christliche Anschauung »Frieden in Gott haben« nennt.

Wenn* wir es auch wissen, bei dem Tode geliebter Menschen, dass die eigentliche Realität dieser Erscheinung zurückgekehrt ist in die ewige Einheit ihres Ursprungs, so bleibt der Schmerz der Trennung für das Herz doch der- selbe unheilbare, denn das Wesen der Liebe ist es, die unendliche Gegenwart, die unendliche Betätigung ihrer selbst zu bedürfen.

Wenn das Christentum die früheren Re- ligionen mit umfasst, diese gleichsam sein Jo- hannes der Täufer sind, so ist damit schon der allmähliche Entwicklungsgang des religiösen Be- wusstseins angedeutet und der Nimbus einer ein für allemal gegebenen Religion zerstört. Wenn Plato schon die idealen Keime des Christentums in sich trug, wie ich eben las, so beweist dies

Meyienbug, IV . 2

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nur, dass tiefe Denker schon vor der Erschei- nung Christi die idealen Menschheitsgedanken hatten, und dass Christus eigentlich nur mit der Tat bewies, was theoretische Denker schon vor ihm ausgesprochen hatten. Da also die Religionen sich entwickeln, so ist das Absolute nicht in ihnen.

»Als Kinder in das Paradies eingehen«, sagt der Talmud. Wie unsäglich schön.

Ich fuhr mit einer Bekannten, von Frankreich nach Italien zurückkehrend, über den Gotthardt und wir sprachen über die Bedeutung der Stelle aus Faust : »Wenn hohe Geisterkraft die Elemente an sich heran gerafft« usw. Je höher wir aber kamen, je mehr verstummte das Gespräch, denn die elementare, die Zauberwelt Faustens, umfing uns in Wirklichkeit und lockte die Phantasie in eine Tätigkeit hinein, die keine Worte hatte. Das irdische Leben mit seinem bunten Schein war wie verschwunden; ringsum starrten eisbedeckte Riesen ; eine einst vielleicht gewesene Schöpfung schien zurückgesunken in den traumlosen Schlaf des Chaos. Wolken und Nebel kämpften. Form und Fels verhüllend, mit unsichtbaren Gewalten; Schneeflocken wirbelten durch die Luft. Man wusste nicht mehr, in welcher Region man dahinsauste, vom Dampf, wie von einer gestaltlosen, unterirdischen Macht getragen. Es war so phantastisch, wie ich selten etwas gesehen hatte, und plötzlich fuhr man nun

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ein in die alte ewige Nacht des Urschosses der Dinge, aus dem auf den geheimnisvollen Wink eines Erzeugers einst blühendes Leben hervor- stieg. Ich dachte, was wohl ein Geschlecht geworden wäre, welches sein Dasein in solcher Nacht hätte vollbringen müssen, ein Nibelungen- geschlecht, welches das freudige Licht nie ge- schaut hätte? Was hätten solche Gehirne her- vorgebracht? — ^ Da plötzlich, nach kaum fünfundzwanzig Minuten, brausen wir hervor aus dem Höllenschlund, und sonnenbeglänzte Gipfel lachen uns an, rötlich glühen die Berge, braungoldig schimmert das Laub, das noch herbstlich die Bäume bedeckt kurz: es ist Italien und in nrir ruft es: »Am farb'gen Abglanz haben wir das Leben !<;

Das Leben erreicht zuweilen einen Punkt, wo in der Seele nur noch Schweigen ist, wo wir darauf verzichten, noch gegen das Schicksal zu kämpfen, und das Haupt beugen.

Es gibt Tage wo wir besonders unter dem Bann der grossen Lebenstragödie stehen und uns nicht freimachen können von dem Druck, den das uns unbekannte Fatum, welches die Erdenlose regiert, auf : uns ausübt.

Die Natur ist mitleidslos; umsomehr ist das Mitieid das wahrhaft Ethische, das Bewusste im Gegensatz zu dem Unbewussten.

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An einem schwülen Sciroccotag in Villa Mattei :

Schwer liegt wie Blei auf der Welt Der schwüle südliche Luftstrom, Hüllet in Nebel die Fern' Die sanfte Form des Gebirges; Scheint's doch als seufze Natur Ob schmählicher sündlicher Taten, Und als riefs durch das AU: Erlöse uns endlich vom Bösen 1

Zuweilen breitet sich von allen Seiten, wie ein schwarzer Schleier über das ganze Leben: dann geht es wie in der Natur: eine Blütezeit ist vorüber und kehrt nicht mehr zurück. Doch der Frühling kommt wieder, und die Bäume und die Pflanzen grünen und blühen wieder; die- selben Arten erscheinen aufs neue, nur die in- dividuelle Form hat sich geändert.

Schön leiden zu sehen, welch ein erhebender^ rührender, trostreicher Anblick I Hässlich leiden zu sehen, wie unendlich betrübend I Es gibt dem Mitleid einen Zusatz von Greringschätzung für die unausgebildete Seele.

Ja, so ist esl Die besten Wesen werden immer trauriger, je weiter das Leben vorrückt, weil sie mehr und mehr die unendliche Eitel- keit des Ganzen »l'infinita vanitä del tutto«, wie Leopardi sagt, begreifen. Dafür gibt es keine Hülfe. Das Leben der Grossen zeigt uns, mit

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wenigen Ausnahmen, immer dasselbe Schauspiel : die Ueberzeugung, welche sich langsam aus der Erfahrung entwickelt, dass auch die schönsten Werke, die Schöpfungen der erhabensten Be- geisterung, nur selige Träume grosser Seelen sind und von der Menge unverstanden bleiben, und dass die ideale Reform, welche der Gre- nius vollziehen will, wenn sie stattfindet, den Stempel der Vulgarität erhält, den ihr die Be- rührung mit der Wirklichkeit der Welt aufdrückt. Der idealste Ausdruck, welchen die Kunst jemals für diese unausbleibliche Traurigkeit gefunden hat, ist der in dem Christuskopf auf dem Abend- mahl des Leonardo da Vinci, jene sanfte Bitter- keit auf dem edeln Antlitz, welche sagt: »Keiner hat mich verstanden und Einer hat mich ver- raten!«

Wer grosse Schicksale und Schmerzen wahr- haft durchlebt hat und dadurch geläutert und vertieft ist, bei dem wird die edle Scham immer mehr hervortreten, seinen Schmerz vor profanen Augen zu verhüllen, denn der Schmerz hat seine Schamhaftigkeit wie die Liebe. Die weltlichen Menschen, denen es Bedürfnis ist, auch selbst ihre Leiden und Schmerzen an die grosse Glocke zu hängen, fühlen sich dadurch getroffen und nennen das Kälte, während es doch nur der edle Stolz ist, der sein Allerheiligstes vor Ent- weihung bewahrt. Denn ist es nicht Entweihung, wenn das innerste Leben der Seele auf offenem Markte blossgestellt wird?

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Das ganze Leben wird nach und nach Er- innerung, und es ist seltsam, diese innere Welt zu sehen, welche mit so vielen geliebten Bildern bevölkert ist, die da ihre Unsterblichkeit ge- funden haben, während ihre irdische Erscheinung verschwunden ist, gerade wie das Licht der Sterne, welches uns noch zukommt, wenn die Himmelskörper selbst längst zerstört sind.

Könnte ich wünschen, hoch einmal in das Leben zurückzukehren, so wäre es um noch mehr zu lernen, zu erkennen. In dem Geheim- nis dieser Sehnsucht liegt eigentlich der Schwer- punkt des ganzen Lebens und wie eine tröstende Verheissung, dass diese unsichtbaren Flügel der Seele, welche Sehnsucht nach Erkenntnis heissen, uns irgendwo an schöne Gestade tragen.

Das Leben selbst ist des Lebens Zweck. Grelebt zu haben ist Unsere Aufgabe. Wie hoch oder wie niedrig man die versteht, ist eines jeden Sache.

In der Art, die Dinge zu verstehen und auf- zufassen, verraten die Menschen am meisten ihre Individualität.

Die Grewissheit, dass wir das eigentliche Wesen der Dinge erst erleben werden, wenn wir dieses Traumkleid abgestreift haben, wird immer grösser in mir und damit die Freudigkeit. Dieses Leben ist zu erbärmlich bedingt, um dem

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Geistgebornen alles zu sein. Das Leiden kann allerdings bis zu einem gewissen Grrad aufgehoben werden durch die Erkenntnis, aber doch nur deshalb, weil wir fühlen, dass etwas in uns ist, was über die Erscheinung hinausgeht. Die Welt wird auch dazu zurückkommen. Das wird das neue Ideal sein, schöner, grossartiger, verklärter als das christliche ; es wird dem Greiste neue Flügel geben, um schon hier, in diesem Purgatorio, neue Himmel zu entdecken.

»Bedenken Sie, dass vom Baume der Er- kenntnis essen, nichts weiter sagt, als sich zum Kampf iiir dieses Leben geschickt machen«, schrieb mir heute mein 91 Jahre alter Freund. Wie schön in wenigen Worten die ganze Alle- gorie der Grenesis erklärt!

Es ist ja wahr, dass das Leben traurig genug ist, und dass die Mehrzahl der Menschen nicht viel taugt! Aber wenn ich einen jungen be- gabten Mann sagen höre: »Für Neuerungen unter den Menschen, den sogenannten Fortschritt, habe ich nie Begeisterung empfunden, weil das Pack immer gleich erbärmlich bleibt, wie hohe Stelzen man ihm auch verleihen mag« dann möchte ich immer sagen: sieh doch einmal von der Mehrzahl weg auf die Guten und Bedeuten- den, die es doch auch gibt und die beweisen, was möglich ist. In jedem Fall aber, selbst wenn alle Dämonen wären, und man fühlte in sich die Macht des Guten und das Streben nach

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dem Ideal, so müsste man den Mut haben, der einzige Engel unter Teufeln zu sein.

Gestern abend hatte ich eine heftige Dis- kussion mit A . . . Das ist das Unglück der Menschen, die sich einseitig mit den Natur- wissenschaften beschäftigen, dass sie den philo- sophischen Gedanken gar nicht verstehen. Sie sehen immer nur das Greifbare, das Experiment, also das Einzelne, nie aber, wie der Philosoph, den Zusammenhang der Dinge, die ewige Cau- salität. Der Streit entspann sich, indem A. be- hauptete, das Objekt habe seine vollständige Reaüiität auch ohne das erkennende Subjekt, und die Ansicht Berkeleys, dass ohne dieses das Objekt gar nicht existiere, sei vollkommener Un- sinn. Er führte mir als Beweis das Mammut an, welches man kürzlich in Sibirien, im Eise fast frisch erhalten, ausgegraben hatte, und welches da also existiert habe, ohne dass das erkennende Subjekt etwas davon gewusst hätte. Vergebens wandte ich ihm ein, dass das Mammut jetzt erst anfange, Objekt zu sein, nachdem das erkennende Subjekt es wahrgenommen habe, und dass es vorher im Eise so gut wie nicht da war. Er ging so weit, die Wirklichkeit der Welt zu behaupten, wenn auch in alle Ewigkeit nichts als Stein und Pflanze, und kein erkennen- des Subjekt da wären.

Doch verstummte er endlich, als ich ihn daran erinnerte, dass er selbst zugestanden habe, in einer früheren Diskussion, dass der Materialismus

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ä la Carl Vogt, Büchner usw. ein völlig über- wundener Standpunkt sei, und dass die Natur- forschung jetzt die untrennbare Einheit von Kraft und Stoff anerkenne. Dann gab ich ihm meine Ansicht in der herrlichen Fassung Goethes: i) Was war der Schein, wenn er nicht Wesen hätte? Das Wesen war es, wenn es nicht erschien? welche eigentlich schon die ganze Lösung der Frage enthält. Sie ist der tiefsinnige Untergrund des wundervollen, philosophischen Mythus von der Mensch- werdung Gottes, denn wenn das erkennende Subjekt Gott nicht Objekt wurde, sich selbst gegenständlich, so existierte es nicht für das Bewusstsein, wäre also tot, gleich nichts. Das Wesen muss erscheinen, um zu sein, sonst wäre es nicht. Beide sind identisch.

2) Was war der Stoff, wenn ihm nicht die schaffende Kraft innewohnte, in ewig neuen Kombinationen und Gebilden sich selbst zum Objekt zu machen, und was war die Kraft, wenn sie im Leeren wohnte und den Stoff nicht hätte, um darin wirksam zu sein? Alles Werdende wäre ja dann die alte Schöpfung aus dem Nichts. Also auch Kraft und Stoff sind identisch. Die Kraft entspringt dem Subjekt, welches sich den Stoff gegenständlich macht. Eins ohne das andere wäre nichts.

3) Endlich: Das Subjekt selbst wäre nicht, wenn es sich nicht zugleich Objekt würde, indem es sich erkennt als den Leib, als

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die Glieder, als den denkenden, fühlenden Menschen. Ebenso wäre das Objekt nicht, und wenn es Ewigkeiten dauerte, käme das Subjekt nicht, welches es erkennt. Das wäre die Welt, über die das erlösende »Es werde Licht« nicht ausgesprochen wäre, das Chaos, das Nichtsein, der Tod.

Wie tiefsinnig ist auch hier der Mythos! Wie begriffen jene wunderbaren dichtenden Denker der Vorzeit das Geheimnis des Daseins ! Wie ganz wussten sie, dass Gott selbst sich gegenständlich werden musste, um Gott zu sein.

Schon als ganz junges Mädchen dachte ich dasselbe, noch ehe ich irgend einen Philosophen gelesen hatte. Immer mit Fragen über das Wesen der Welt beschäftigt, sagte ich mir: Ja, Gott musste schaffen, sich selbst gegenständlich werden, sonst blieb er sich selbst unbewusst. Somit ist das Subjekt das wahre a priori, ohne es wäre keine objektive Welt, aber es muss auch das Anschauen, das Vorstellen haben, sonst wäre es selbst gleich Null.

Die Basis aller Toleranz sollte die Betrach- tung sein, dass die verschiedenen Anschauungen desselben Objekts für die verschiedenen Sub- jekte, denen sie angehören, jedesmal wahr sind, wie dies z. B: bei allen Religionen der Fall ist.

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Ohne den idealen Grenuss, der uns weit vom Tier, vom blinden Zufall und vom blossen Nützlichkeitsprinzip scheidet, ist das Leben gemein.

Jedes rechte Leben findet auch seine Er- füllimg, trotz dem Unersetzlichen, was ver- loren geht.

Wie kann die wunderschöne Legende der Weihnacht entstanden sein? Nicht durch die Apostel, die erst im Mannesalter zu Jesus kamen, nicht durch Maria oder die Hirten, die noch zu naiv und dem natürlichen Vorgang der Geburt zu nahe waren, um darüber zu dichten. Wahr- scheinlich fühlte, im Anwachsen des Mythos, der sich nach und nach um die Person des Messias bildete, ein von Jesus begeisterter Gläubiger sich hingerissen, schon den Eintritt des Gottessohnes in die Welt mit allen Wundern himmlischer Teilnahme zu schmücken, wie es schon frühere Religionen mit ihren Stiftern getan. Denn der Mensch liebt es, das Unbegreifliche des Grenius mit Wundern zu umgeben, während doch der Genius selbst das Wunder ist.

Es gibt Dinge in der Natur, deren Anblick beinah auf uns wirkt, wie ein grosses Ereignis, die uns befreien von der Last der persönlichen Existenz, indem sie uns dem Unendlichen, dem universellen Dasein vereinen. So ist das Meer.

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Die Flamme des Geistes ist ein wohltätiges^ stärkendes Licht, wenn sie im freien Äther der Erkenntnis, ungetrübt von irdischer Sorge, brennen kann. Aber sie wird zum verzehrenden Brand, wenn die Angst um das materielle Dasein sie schürt und nährt. Die Monumente setzt der schöpferische Grenius sich selbst; dass er frei sei, sie sich zu setzen, müsste die Sorge seiner Zeitgenossen sein;

Eine Bekannte frug mich heute: »Glauben Sie, dass die Leidenschaft wirklich nötig ist, grosse Dinge zu schaffen?« Ich sagte ihr: »Ja, die Leidenschaft für die grossen Dinge ist nötig, um sie zu schaffen, aber nicht die persönliche Leidenschaft, die immer egoistisch und exklusiv ist, ausser wenn sie zur Leidenschaft für die grossen Dinge führt.«

Die unegoistische Liebe ist ein arger Tyrann; sie zwingt uns mit unwiderstehlicher Gewalt zu immer neuen Opfern; dem Glück kann man entsagen, dem Mit leiden nicht.

Die meisten Menschen lieben uns mehr um das, was wir tun, als um das, was wir sind.

Etwas zu sein ist das beste Mittel gegen das Etwas scheinen zu wollen.

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Das Herz schliesst endlich seine Pforten zu. Es ist ein Pantheon, in welchem schon alle Nischen mit geliebten und verehrten Bildern besetzt sind; fiir neue ist kein Raum mehr da.

Der reifende Geist kann einsam sein, und in der Einsamkeit die Fülle des Daseins geniessen. Das Herz kann nur selig sein, wenn es das Leben einzelner geliebter und verehrter Menschen oder das von Tausenden schmücken kann. Das wäre auch die wahrhaft schöne und berechtigte Seite des Herrschertums : die Macht zu be- glücken, und gerade an dieser Möglichkeit scheitert der Wille. Welch arger Widerspruch! Man müsste an der menschlichen Natur ver- zweifeln, wenn es nicht gerade ein Beweis wäre, dass keiner ein allmächtiger Grott sein soll unter Menschen, und dass nur Gleichberechtigte eine vernünftige menschliche Einheit bilden können.

Freundschaft ist persönliche Sympathie ohne Beimischung von Leidenschaft, und daher un- egoistisch. Die Definition des Aristoteles: »Freundschaft ist, wenn man alles tut, was der andere will, ohne an sich selbst zu denken«, scheint mir nicht vollständig. In der Freund- schaft ist die Erkenntnis tätiger als der Wille; in der Liebe ist es umgekehrt; daher ist in der Freundschaft Ruhe, in der Liebe Unruhe.

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Oh Stille, Gesegnete ! Du, die du allein würdige Stimmungen erzeugst.

Grewisse Kranke wollen mit grosser Rück- sicht behandelt sein, man muss Schwächen in ihnen schonen und nicht glauben, sie könnten sie überwinden. Dass sie es nicht können, ist eben ein Teil ihrer Krankheit. Besonders können manche Kranke es nicht ertragen, dass man an ihrer Krankheit zweifelt, da sie sich selbst fiir kränker halten als alle anderen. Aber auch zartfühlenden Naturen ist dies, wenn gleich aus anderen Gründen, empfindlich, da sie andere nicht gern mit der Erzählung ihrer Leiden plagen und doch den Anforderungen, die man an Gre- sunde macht, nicht genügen können.

Dem Freigeist kann man keine Gebote vor- schreiben, sonst ist er ja nicht mehr Freigeist. Er erkennt auch Gresetze an, aber im Geiste des Solon, die sich mit steigender Erkenntnis ändern und verbessern lassen.

Man vergleiche die Gresichter von Savonarola und Luther. In ihnen spricht sich schon der ganze Unterschied der deutschen und italienischen Reformation aus. Der südliche Reformator bleibt Fanatiker, quand meme; Luther bleibt derb, schlicht, energisch, aber nicht fanatisch.

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Das Verbot des Vaters der Schwanenjung- frauen an seine Frau, nicht zu fragen, wer er sei, ebenso das Verbot Lohengrins, sind sie nicht verwandt mit dem Verbot im Paradies, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen? Nur nicht erkennen, besonders die Frau nicht, von alten Zeiten her. Wer ist der Neidische, der es verwehrt? Ein Mann.

Der Idealist allein hat den Glauben, welcher Berge versetzen kann, weil in ihm der Wille schon auf seine Verneinung gerichtet, sich mit aller Kraft auf die Verwirklichung des Ideals wendet, und ihm den Mut gibt auszuharren, bis er sein Ziel erreicht. Er hat daher vielleicht weniger innere Kämpfe, als andere, weil ihm sein Weg unabänderlich vorgezeichnet ist. Er leidet aber tiefere Schmerzen durch den Wider- stand der ideallosen Welt.

Gregorovius sagt einmal, die grossartigste aller Legenden sei die von Moses, welcher von der Höhe aus unten das gelobte Land erblickt, und dann stirbt. Alle Idealisten erleben diese Legende; der Geist führt sie auf die Höhe, wo sie ihr Land der Verheissung erblicken, aber erreichen tun sie es nicht.

Im Jahre 382 nach Christi schrieb der heilige Augustin: »Nihilisti apellantur quia nihil credunt

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et nihil docent.« (Nihilisten genannt, weil sie nichts glaubten und nichts lehrten.) Er sprach von einer Gesellschaft, deren Zweck Verneinung und Vernichtung alles Bestehenden war. Also ist auch das nichts Neues, nur das Dynamit ist ein modemer Zusatz.

Die Greuel der Reaktion in Neapel nach 1799 sind so abscheulich, dass sie allein schon ein jüngstes Gericht verdienten, und keine Flam- men der Hölle heiss genug wären für solche Unmenschen, wie König Ferdinand, Maria Caro- lina, Acton und Genossen. Die Vernichtung wäre ein zu grosses Glück für solche Wesen. Die müssen braten in ewiger Qual!

Episoden a\is den Jahren 1876 und 1877.

Es waren bedeutungsvolle Jahre für mich. Schon im Juni des Jahres 76 bereitete sich in Genua ein Fest vor, welches das demokratische Italien, das zu der Zeit noch einen Teil der idealen Begeisterung besass, die seine Einheit hauptsächlich zu stände gebracht hatte, in grosse Erregung versetzte, und auch meine innigste Teilnahme in Anspruch nahm. Es sollte in Grenua das Monument enthüllt werden, welches die Stadt ihrem edelsten Sohne, Joseph Mazzini, setzte, der vier Jahre vorher, zwar auf heimischer Erde, aber immer noch ein Exilierter und zwar der einzigeExilierte, gestorben war. DasFest- comite hatte durch ein Manifest die italienische Nation zur Teilnahme aufgefordert und es war zu erwarten, dass besonders von den demo- kratischen Arbeitervereinen aus allen Gegenden Italiens ein grosser Zuzug stattfinden würde. Denn Mazzini war den Arbeitern immer ein

Meytenbug IV. 3

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wahrer Freund und Lehrer gewesen. Er zeigte ihnen ihre Rechte, aber er forderte von ihnen auch die Erfüllung ihrer Pflichten, und hätte er die Geschicke Italiens lenken können, von der Zeit seines Triumvirats in Rom an bis zu seinem Tod, er hätte sicher den Sinn für Pflichterfüllung und Gesetzlichkeit in seinem Volk geweckt, und dasselbe würde heute auf einer höheren Stufe der Moralität stehen, als es jetzt der Fall ist.

In Genua ist Mazzinis Andenken lebendig* unter den arbeitenden Klassen, die es wissen, wie sehr er sie im Herzen trug und für die Verbesserung ihres Schicksals bemüht war. Noch bei meinem letzten Aufenthalt dort zeigte mir ein Arbeiter die Reihe guter reinlicher Wohnhäuser für Arbeiter, welche auf Mazzinis Anregung gebaut wurden und versicherte mir, dass sie treu an seinen Lehren hingen. Dasselbe bekräftigte mir der Kutscher, der mich auf den schönen Kirchhof von Staglieno fuhr, wo die irdische Hülle Mazzinis ruht. Der Ort liegt weit hinaus vor der Stadt und zieht sich einen Berg hinan, von dem man eine herrliche Aus- sicht geniesst. Hier befindet sich auf der Höhe, in den Fels eingehauen, die geräumige Gruft, in welcher der Sarg steht. Auf einem freien Platz davor ist das Grab seiner Mutter, mit der ihn die innigste Liebe verband. Sie liegt da, wie um ihn, welchen ihre aufopfernde Mutter- liebe im Leben nicht vor der tiefsten Tragik des Schicksals schützen konnte, wenigstens im Tode vor der Tücke des Hasses und Neides

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sicher zu stellen. Seine Ruhestätte könnte nicht schöner sein, aber seine Vaterstadt will das Verbrechen, welches Italien an ihm beging, wenigstens durch ein Monument sühnen, das wie das des Columbus davon zeugen soll, dass Genua auf seine grossen Söhne stolz ist. Das Fest wird glänzend sein, prachtvolle Ausschmück- ung der Stadt und des Weges bis zum Kirchhof, Vergnügungen fiir das Volk, Musik, Illumination nichts wird fehlen. Nur eins wird fehlen: die ErfuUung dessen, was Mazzini für sein Volk gewollt und gehofft hat, und wofür er das lange Märtyrertum des Exils und die unzähligen bitteren Enttäuschungen mit unerschütterlicher Stand- haftigkeit getragen hat. Wie es ihm nur um dies hohe Ziel zu tun war und wie er dabei allen Ehrgeiz, allen persönlichen Erfolg hintenan setzte, davon gibt Alexander Herzen eine schöne Schilderung, nachdem er Mazzini, nach dem Krieg von 1859, wiedergesehen hatte. Herzen spricht von den politischen Ereignissen der Jahre 59 und 60, und wie im Schlachten- lärm und Pulverdampf die befreundeten Gre- stalten der Freiheitskämpfer eine Zeit lang ver- schwanden, bis sie dem besorgt forschenden Blick der Freunde endlich unversehrt wieder er- scheinen. Dann sagt er: »Aber eine Persönlich- keit stand fern von diesem Rauch, diesem Ge- töse des Krieges, vom Jubel der Sieges-Festlich- keiten und von den Lorbeerkronen, und erreichte im Schatten der Einsamkeit eine ausserordent- liche Grösse. Unter den Verwünschungen aller

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Parteien, des betrogenen Pöbels, der wilden Priester, der feigen Bourgeoisie, des piemon- tesischen Gesindels, wie bei den Verleumdungen aller Organe der Reaktion, vom päpstlich-kaiser- lichen Moniteur an bis zu dem Eunuchen der Londoner Geldmäkler, der Times (welche den Namen Mazzini nie ohne Hinzusetzung eines ge- meinen Schimpfwortes aussprach), blieb Mazzini nicht nur unerschütterlich, sondern er segnete freundlich sowohl Freund wie Feind, wenn sie nur seinen Gedanken, sein hohes Ziel ausfuhren wollten. Man konnte von ihm sagen, was Pusch- kin von seinem Abbadonna sagt :

Das Volk, das im Geheimen du gerettet. Verhöhnt nun deine heil'gen weissen Haare. Nur, dass bei ihm nicht Kutuzoff, sondern Gari- baldi stand. Durch die Gestalt seines Helden und Befreiers sagte sich Italien doch nicht von Mazzini los. Warum aber gab ihm nicht Garibaldi die Hälfte seines Kranzes? Warum berief sich der römische Triumvir nicht auf seine Rechte? Warum bat er selbst nicht, an ihn zu denken, und warum schwieg der Volksführer, der doch rein war wie ein Kind, und erlog eine Entzweiung ? Darum, weil Beide etwas hatten, was ihnen teurer war als die eigene Persönlichkeit, als Name und Ruhm Italien!

Aber die gemeine (Gegenwart verstand sie nicht. Sie war nicht tief genug, um solche Grösse zu fassen. Garibaldi wurde immer mehr eine Gestalt des Cornelius Nepos. Auf seiner kleinen Insel erschien er so antike Grösse, so

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einfach und rein wie ein Held Homers, ohne Rhetorik, ohne Dekoration und Diplomatie, im Epos ist das alles nicht nötig. Als die Sache beendet war, entliess ihn der König, wie man den Postillon entlässt, der uns an Ort und Stelle gebracht hat, und war nur verlegen darüber, was er ihm als Trinkgeld geben sollte, und als er erriet, dass seine Undankbarkeit Garibaldi be- trübe, schickte er ihm Fasanen, die er geschossen, Blumen aus seinen Gärten und unterschrieb seine Briefe: »Immer Dein Freund Vittorio.«

Für Mazzini existierten die Menschen nicht, für ihn gab es nur eine Sache. Wieviel Fasanen und Blumen ihm auch der König schicken möchte, es würde ihn nicht rühren, er würde sich aber gleich mit ihm, den er für einen gutmütigen aber leeren Menschen hält, verbinden, wenn dieser für die Sache arbeiten wollte. Mazzini ist der Asket, der Calvin, der Procida der Befreiung Italiens; er ist ewig nur mit einer Idee be- schäftigt, stets bereit zu handeln und hält, mit derselben Geduld und Hartnäckigkeit, mit welcher er aus unklaren Menschen und ihren Bestrebungen eine Verschwörungspartei schuf, auch Garibaldi, seine Genossen und das halb befreite Italien wach, indem seine magere, traurige Hand fort- während nach Rom zeigt. Als ich früher über Mazzini schrieb, verweilte ich besonders auf seinem Zerwürfnis mit Garibaldi im Jahr 54 und auf der Verschiedenheit unserer Ansichten. Ich tat dies aus' Zartgefühl, aber ich hatte unrecht, dieses Zartgefühl ist zu klein für Mazzini. Über

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solche Menschen muss man nicht schweigen, die braucht man nicht zu schonen. Nach seiner Rückkehr aus dem eroberten Neapel schrieb er mir ein paar Zeilen. Ich eilte beklommenen Herzens zu ihm und erwartete ihn traurig und in seiner höchsten Liebe beleidigt zu finden, denn seine Lage war tief tragisch. Ich fand ihn körperlich gealtert, aber geistig geradezu verjüngt. Er kam mir entgegen, fasste nach seiner Ge- wohnheit meine beiden Hände und sagte: »So ist es denn endlich vollbracht!« Dabei glänzten seine Augen voll Begeisterung und seine Stimme bebte vor Erregung. Er erzählte mir von den Ereignissen der letzten Zeit, vor und nach der Expedition nach Sicilien. Aus der Wärme und Liebe, mit denen er von den Waffentaten und Siegen Garibaldis sprach, leuchtete seine Freund- schaft für diesen auf das innigste hervor, aber er ereiferte sich auch über dessen blindes Ver- trauen in die Menschen, und seine Unfähigkeit» sie zu beurteilen und zu unterscheiden. Ich dachte, ob ich wohl einen Hauch, einen Ton der beleidigten Eigenliebe entdecken würde aber nein! Er war nur traurig, traurig so, wie die Mutter, welche der verliebte Sohn auf eine Zeit lang verlassen hat. Sie weiss, dass der Sohn zurückkehren wird und dass er glücklich ist, das ist ihr Ersatz für alles. Mazzini ist voller Hoffnung fiir Italien, er und Garibaldi stehen sich näher als je. Er erzählte lächelnd, wie die neapolitanischen Volkshaufen sein Haus umgeben, und, von den Agenten 'Cavours aufgewiegelt.

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geschrieen hätten: »Tod dem Mazzinil« Man hatte sie nämlich, unter anderen Dingen, glauben gemacht, dass er ein »bourbonischer Repu- blikaner« sei. »Es waren gerade,« sagte er, »mehrere unserer Leute bei mir, und unter ihnen ein junger Russe, der war ganz erstaunt, dass wir, als das Greschrei vorüber war, unser unter- brochenes Gespräch ruhig fortsetzten. Fürchten Sie nichts, sagte ich ihm, sie werden mich nicht töten, sie schreien nur.«

»Nein, solche Menschen braucht man nicht zu schonen wiederholt Herzen, und er hat recht Gretötet haben sie Mazzini freilich nicht, aber den bittem Kelch des niedrigsten Undanks haben sie ihn trinken machen; er musste, der einzige Exilierte, endlich unter fremdem Namen kommen, um auf der geliebten heimatlichen Erde zu sterben am lo. März 1872, und als der Arzt, welcher den schon Todkranken behandelte, ihn einen Engländer glaubend, sich wunderte, wie gut er italienisch spreche, sagte der Sterbende :

»Es hat auch niemand Italien so geliebt wie ich.« Dass sein Volk ihm jetzt das Denkmal dankbarer Erinnerung setzt, ist gut, aber es kann die Schuld nicht sühnen, die man an dem Lebenden beging.

Im Monat Juli desselben Jahres begab ich mich auf die Reise nach Deutschland, zu den ersten Auffuhrungen im Theater von Bayreuth. So war es nun wirklich geschehen ! Der Theater- bau, bei dessen Grundsteinlegung wir, die wir Wagners Idee verstanden und mit Begeisterung

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erfasst hatten, voll freudiger Hoffnung zugegen ge- wesen waren, denkend, dass das deutsche Volk seinem grossen Meister mit bereitwilligster Hülfe entgegenkommen werde wir, die wir dann jahrelang mit tiefem Unmut die dumpfe Gleich- gültigkeit von der einen, die gehässige Bosheit und den kleinlichen Neid von der anderen Seite angesehen hatten, sodass wir beinahe am Ge- lingen des Werks in bitterem Schmerz ver- zweifelt wären, wir sahen uns nun am Ziel. Die hohe Gesinnung eines grossherzigen Fürsten hatte auch hier wieder helfend eingegriffen, da die Anzahl der gezeichneten Patronatsscheine die nötige Summe nicht eingebracht hatte, und die erste Aufführung im Theater von Bayreuth, die Tetralogie der Nibelungen, war gesichert Mit wahrem Glücksgefühl zog ich der kleinen deutschen Stadt wieder zu, welche ich mir zur letzten Heimat hatte wählen wollen, woran mich die Ungunst des Klimas gehindert hatte. Sie prangte nun im festlichen Schmuck und in der Hoffnung einer leuchtenden, ganz einzig da- stehenden Zukunft, welche ihr der Genius mit seiner Wahl zu verheissen schien. Wie durch einen Zauber war dies vergessene Heim der geistvollen Schwester Friedrich des Grossen, der Markgräfin Wilhelmine, wieder zum Leben ge- rufen, und zu welchem Leben! Hier sollte ein Kulturwerk entstehen, wie die moderne Ge- schichte nichts Ähnliches aufzuweisen hatte, ein Kulturwerk im griechischen Geist, wo nur einmal im Jahr, losgelöst von den Fesseln der

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Alltäglichkeit, das deutsche Volk sich versam- meln und im Spiegelbild höchster Kunstschöpf- ungen, sein eigenes edelstes Selbst verklärt er- kennen sollte. So wenigstens hatte ich Bayreuth verstanden, so wenigstens, glaube ich, verstand es Friedrich Nietzsche damals, und verstand es die kleine Anzahl derer, die sich mit Begeisterung von Anfang an um den Meister geschart hatten. Mein Aufenthalt, der für die ganze Zeit der Auffuhrungen geplant war, verhiess mir in jeder Beziehung ungemein freundlich zu werden, denn meine töchterliche Freundin Olga, ihr Mann, ihre Schwester und ihr kleiner Sohn kamen ebenfalls, die ganze Zeit mit mir zu verbringen; dazu ge- sellten sich manche liebe Freunde beinahe täg- lich in dem zu unserer Wohnung gehörigen schönen Garten, Nietzsche, Eduard Schure aus Paris u. a., so dass Wagner, als er eines Tages zu uns kam, scherzend sagte: »Nun, bei Euch kommt hinter jedem Busch ein Professor hervor«, denn auch Olgas Mann, Gabriel Monod, war ja Professor. Viele der mitwirkenden Künstler kamen und musizierten bei uns, kurz, es war ein fröhliches, genussreiches geselliges Leben, welches die Pausen zwischen den Auffuhrungen ausfüllte. Nun aber diese selbst! Wer vermöchte den Eindruck, die freudige Rührung und Ergriff*enheit zu beschreiben, die man empfand, als sich zum ersten Male die Räume dieses künstlerisch er- dachten, so einfach und so edel vornehm aus- geführten Baues öffneten; als man sogleich be- griff, wie nur so ein grosses Kunstwerk würdig

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anzuhören sei, indem ein jeder Sitz im Haus nur die Bühne als Augenziel hatte, und nicht eine hell beleuchtete Logenreihe mit geputzten Zuschauern darin; als dann die Lampen er- loschen, das unsichtbare Orchester seine wunder- baren Töne wie aus einer Geisterwelt hervor- sandte, und als endlich der Vorhang auseinander- ging und über den »mystischen Abgrund«, wie Liszt den tiefen Raum zwischen der Bühne und den Zuschauern genannt hatte, hinüber die Scene wie ein Traumbild sichtbar wurde, und Hand- lung und Musik die Sinne so gefangen nahmen, dass man, der AUtagswelt entrückt, eine ideale Wirklichkeit erlebte! Nur wer ihn mit erlebt hat, diesen ersten, entzückenden Eindruck der kaum für möglich gehaltenen Verwirklichung eines idealen Schöpfungsgedankens, kann es be- greifen, mit welcher Inbrunst sich das Herz an die Hoffnung hingab, dass eine neue Kultur- epoche, so wie unsere grössten Geister sie ge- träumt, für Deutschland emporkeimen werde, dass die materielle, durch die Waffen ge- wonnene Macht, sich verklären könne in dem, was des deutschen Geistes bestes Erbteil ist. Kein späterer Erfolg des Bayreuther Unter- nehmens kam jemals wieder dem Glück dieser Hoffnung gleich, denn wie Hohes auch erreicht wurde und noch wird, diese Hoffnung schlug doch fehl, das deutsche Volk blieb hinter seiner Aufgabe zurück.

Damals aber störte nichts den holden Traum; jede kleine Kritik verstummte, der Neid und die

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Bosheit bemühten sich umsonst Gift in den Freuden- becher zn mischen, und was etwa noch mangel- haft blieb bei der Ausfuhrung, wurde kaum ge- fühlt in der Glorie des Ganzen. Und wie be- festigte sich da mein lang gehegter Gedanke, dass das Theater zu einem der edelsten Kultur- mittel fiir das Volk werden müsste, statt dass es heutzutage beinah ein Mittel der Korruption geworden ist. Theaterbauten, dem zu Bayreuth ähnlich, sollten sich an verschiedenen Orten Deutschlands erheben, das Geld fände sich schon, wenn man ernstlich wollte, warum findet es sich z. B. für die vielen neuen unnützen Kirchen, die man baut, oder für die ungeheuren Militäraus- gaben in Friedenszeit? Ebenso wie fiir das Musikdrama müsste für das rezitierende Drama gesorgt werden; höchstens zweimal im Jahr vollendete AufRihrungen der edelsten Meister- werke, und zwar mit so billigen Preisen, dass auch die Unbegüterten daran teilnehmen und durch den Einfluss hoher Kunst zur Gesittung geführt werden könnten. Das wären Kultur- aufgaben für die Regierungen, die besser wirken würden gegen Roheit und Verbrechen, als Ge- fängnisse und Zuchthäuser.

Damals glaubte ich noch an die Möglichkeit, solche Dinge ins Leben zu rufen, jetzt ist die Hoffnung wieder entflohen, weit in eine nebel- hafte Zukunft ach wie weit!

Die schönen Tage aber gingen froh zu Ende ; wir hatten Herrliches erlebt und gingen mit Schätzen der Erinnerung im Herzen fort. Am

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Schluss der Aufführungen vereinte noch einmal ein grosses Bankett das ganze zuletzt gebliebene Publikum, wobei Wagner eine herrliche Rede hielt, die mit den viel zitierten, oft missverstan- denen Worten schloss: »dann haben wir eine deutsche Kunst«. Nach ihm sprach Liszt, den er gerührt als einen der edelsten Förderer seines Werks gepriesen, mit der ihm eigenen Grazie und Feinheit der Bildung wenige aber schöne Worte und sagte, wie er sich vor Dante Alig- hieri und vor Michel Angelo beuge, so beuge er sich nun vor dem Genius, dessen Tat wir erlebt hätten. Die Umarmung der zwei Männer, jetzt sich auch verwandtschaftlich so nahe, war ein schön bewegter Schluss eines Kulturfestes von der allerhöchsten Bedeutung. Leider war die Welt noch nicht reif genug dafür.

Nach einem Aufenthalt im Verein mit Olga in einem deutschen Badeort ging ich im Herbst nach Italien zurück, und zwar noch nicht zu bleibendem Aufenthalt nach Rom, sondern zu- nächst nach Neapel zur Ausfuhrung eines Planes, der von mir erdacht, sich dort verwirklichen sollte. Die Gesundheit Friedrich Nietzsches, mit dem mich nun schon seit dem Jahre 72 warme Freundschaft verband, hatte sich nämlich in solchem Masse verschlechtert, dass er für nötig fand, einen längeren Urlaub von der Universität in Basel zu erbitten, um sich einmal ganz auszuruhen, und zwar zog es ihn nach dem Süden, da es ihm schien, als müsste die wonne- volle Natur dort ihn, den schönheitsdurstigen

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Griechen, ganz herstellen können. Er hatte aber vorsorgliche Umgebung und Pflege nötig, und da weder Mutter noch Schwester ihn damals begleiten konnten und ich mir noch kein festes Asyl in Rom gegründet hatte, so bot ich ihm schriftlich an, mit ihm zusammen nach Sorrent zu gehen, um den Winter da zu verbringen und im glücklichen dolce far niente des Südens Er- holung, ja Genesung zu suchen. Er antwortete: »Verehrteste Freundin, ich weiss wirklich nicht, wie ich Ihnen für das in Ihrem Briefe Ausge- sprochene und Angebotene danken soll; später will ich Ihnen sagen, wie zur rechten Zeit dies Wort von Ihnen gesprochen wurde und wie gefährlich mein Zustand ohne dieses Wort ge- worden sein würde ; heute melde ich Ihnen nur, dass ich kommen werde« etc. In einem späteren Brief schrieb er dann noch: »Ungefähr alle acht Tage habe ich meinen Leiden (Kopf- und Augenschmerzen) ein dreissigstündiges Opfer zu bringen, deshalb vertröste ich mich ganz und gar auf das Zusammensein mit Ihnen am Golf von Neapel. Wir wollen dort schon die Gesundheit erzwingen. An dieser Hoffnung hat mich bisher nichts irre gemacht.«

Ich Jiatte bereits vorbereitend eine Fahrt nach Sorrent gemacht und eine Wohnung ge- funden, wie sie flir die kleine Kolonie passte, zu welcher unser Duo angewachsen war. Nietzsche hatte nämlich einen von ihm sehr geschätzten Freund, Dr. Paul Ree, und einen seiner Schüler, einen jungen Basler, Brenner mit Namen, zum

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Mitgehen nach Sorrent vorgeschlagen, und da ich nichts dagegen hatte (ich kannte nur den letzteren, da er seiner Gesundheit wegen in Rom gewesen war), so wurde auch auf Wohnen in demselben Hause Rücksicht genommen* Es fand sich eine unbesetzte, von einer Deutschen eingerichtete Pension, mitten in einem Wein- garten, wo im ersten Stock sich Zimmer für die drei Herren, mit Terrassen, im zweiten Stock Zimmer für mich und meine Jungfer, und ein grosser Saal zum gemeinschaftlichen Gebrauch vorfanden; von den Terrassen hatte man die herrlichste Aussicht über den grünen Vorgrund des Gartens hinweg auf den Golf und den eben damals sehr aufgeregten, abends Feuersäulen emporsendenden Vesuv. Nachdem ich so für Unterkommen gesorgt hatte, ging ich nach Ne- apel zurück, meine Gefährten zu erwarten. Sie kamen zu Schiff von Genua her, und Nietzsche war etwas enttäuscht, weil ihm die Seefahrt und die Ankunft in Neapel mit dem schreienden, lärmenden, zudringlichen Volk sehr unangenehm gewesen waren. Gegen Abend jedoch lud ich die Herren zu einer Fahrt auf den Posilip ein. Es war einer jener Abende, wie man sie nur dort erlebt, Himmel, Erde und Meer schwammen in einer Glorie von Farbentönen, die man nicht beschreiben kann, die aber die Seele durch- dringen mit dem Zauber einer wonnevollen Musik, einer Harmonie, in der sich jeder Misston auflöst und verschwindet. Ich sah, wie Nietz- sches Gesicht sich in freudigem, beinahe kind-

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lichem Staunen aufhellte, wie ihn innige Rührung überkam, und endlich brach er in einen Jubel- ausruf über den Süden aus, den ich als eine gute Vorbedeutung für seinen Aufenthalt be- grüsste.

In Sorrent nun richtete sich das Leben ganz behaglich ein. Am Morgen fanden wir uns nie zusammen, ein jeder blieb in völliger Freiheit bei seiner eigenen Beschäftigung. Erst das Mittagessen vereinigte uns, und zuweilen am Nachmittag ein gemeinschaftlicher Spaziergang in der zauberischen Umgebung, zwischen Orangen- und Citronengärten hin, deren Bäume, hoch wie unsere Äpfel- und Birnbäume, ihre von goldenen Früchten beladenen Äste über die Gartenum- zäunung herüber, den Weg beschattend, hängen liessen, oder hinauf auf die sanften Höhen, oft an Bauernhöfen vorüber, wo anmutige Mädchen in heiterem Zusammensein die Tarantella tanzten, nicht die gekünstelte, wie sie jetzt von geputzten Banden für die Fremden in den Gasthöfen ge- tanzt wird, sondern in ursprünglicher, von natür- licher Grazie und Sittsamkeit begleiteter Art. Oft zogen wir auch zu weiteren Ausflügen auf Eseln aus, die dort für die unwegsameren Berg- touren bereit gehalten werden, und da gab es meist viel Lachen und Spass, besonders mit dem jungen Brenner, dessen lange Beine beinahe mit denen des Esels zugleich auf der Erde fort- liefen, und dessen noch etwas ungeschickte schülerhafte Art die Zielscheibe gutmütiger Scherze wurde. Am Abend vereinte uns aufs

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neue das Abendessen und nach demselben im gemeinschaftlichen Salon angeregtes Gespräch und gemeinsame Lektüre.

Der erste Monat wurde noch durch die An- wesenheit von Wagner und seiner Familie ver- schönt, die nach den Anstrengungen des Som- mers während der Aufifiihrungen durch eine Reise in Italien Erholung suchten. Sie wohnten im Hotel, wenige Schritte von uns, und ich ver- brachte natürlich den grössten Teil meiner Zeit mit ihnen, besonders mit der von mir so innig geliebten und hochgeschätzten Cosima, mit der das Zusammensein mir stets geistig und gemüt- lich den höchsten Genuss gewährte. Wagner las dort mit grossem Interesse die Geschichte der italienischen Republiken von Sismondi und rief Cosima und mich oft herbei, um uns eine oder die andere Episode, die ihm besonders gefiel, vorzulesen, so u. a. eine, die er nachher in Rom dem damals noch lebenden, sehr be- gabten italienischen Dichter Costa zu dramatischer Bearbeitung empfahl, die aber nicht zu stände kam. Öfters wurde auch unser Quatuor abends zu Wagners geladen; es befremdete mich aller- dings dabei, in Nietzsches Reden und Benehmen eine gewisse gezwungene Art von Natürlichkeit und Heiterkeit zu bemerken," die ihm sonst ganz fremd war; da er sich aber nie missfällig über oder widerstrebend gegen den Verkehr äusserte, so kam mir der Verdacht nicht, dass eine Änderung in seinen Gesinnungen vorgegangen sein könnte, und ich gab mich mit ganzem

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Herzen diesem Nachgenuss von Bayreuth im Verein mit so ausgezeichneten Menschen hin. Das Glücks- gefiihl, in solcher geistigen Intimität zu leben, gab mir eines Abends, als wir alle dort zu Tisch waren, Grelegenheit, einen von mir sehr geliebten Spruch von Goethe zu zitieren: »Selig wer sich vor der Welt ohne Hass verschliesst, einen Freund am Busen hält und mit dem ge- niesst, wass von Menschen nicht gewusst oder nicht bedacht, durch das Labyrinth der Brust wandelt bei der Nacht.«

Wagners kannten den Spruch nicht, waren aber entzückt davon und ich musste ihn wieder- holen. Ach wie wenig ahnte ich da, dass die Dämonen, die auch im Labyrinth der Brust bei der Nacht wandeln und das göttliche Geheimnis der Sympathie zwischen edlen Geistern feind- lich betrachten, bereits am Werk waren, um zu entzweien und zu trennen.

Wagners schieden Ende November und nun begannen erst recht unsere Lese- Abende. Wir hatten eine reiche und vorzügliche Auswahl von Büchern mit, aber das Schönste unter dem Mannigfaltigen war ein Manuskript, nach den Vor- lesungen von Jakob Burckhardt über griechische Kultur, in Basel an der Universität gehalten, von einem Schüler Nietzsches geschrieben und diesem auf die Reise mitgegeben. Nietzsche gab dazu mündliche Kommentare, und gewiss hat kaum je eine herrlichere und vollkommenere Darlegung dieser schönsten Kulturepoche der Menschheit stattgefunden, als hier schriftlich und mündlich,

Meysenbu^g, IV . 4

so

durch diese beiden grössten Kenner des griechi- schen Altertums. Meine Vorliebe für jene herrliche Blütezeit des menschlichen Geistes steigerte sich dadurch zu höchster Begeisterung. So entzückte mich die Definition Burckhardts über das Wesen des griechischen Volks : »Pessi- mismus der Weltanschauung und Optimismus des Temperaments«. Grewiss eine treffliche Mischung, um ein vollendetes Volk zu schaffen. Der Pessimismus der Erkenntnis verhindert die falschen Anschauungen und Schlüsse im Leben, und das optimistische Temperament treibt dessen ungeachtet zu Taten und zur Idealisierung der als schlecht erkannten Welt. »Die allgemeine Weltanschauung, die sich im Mythos der Heroen offenbart,« sagt Burckhardt femer, »ist wieder die, das die Welt schlecht ist, aber es ist gar nicht die Reflexion, sondern das innerste Träumen und Sinnen der Griechen, welches den Mythos schafft. Und zwar wird die Welt immer schlechter; Mord, Hass, Neid herrschen im Heroentum ; dazu kommt die schreckliche Denk- weise der mythischen Frauen, Medea, Klytäm- nestra und andere. Die letzte Ermahnung des Amphiaäus an seine Söhne st : ,Ermordet eure Mutter*. Die seltenen, herrlichen, reinen Ge- stalten, wie AchiD, Antigone etc., müssen früh sterben.«

Der Mythos ist also das ewige Bild der Na- tion, in welcher der Grieche seine Vorzeit und sich selbst mit all seinen Gedanken, seiner Phi- losophie, seinen Eigenschaften, seiner Lebens-

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auffassung anschauen wollte. So hat auch Wagner seine Nibelungen zum Mythos des deutschen Volkes geschaffen, nicht bloss, indem er die Vergangenheit im alten Mythos wieder- holte, sondern indem er das ewige Wesen des deutschen Volks darin bespiegelt.

Wie tief und herrlich erschien mir dann wieder folgende Betrachtung, als Burckhardt von der Religion sprach und sagte, es sei ein ewig denkwürdiges Schauspiel, diese uralte Tradition zu sehen, welche, von der prachtvollsten Phantasie getragen, niemals durch eine Theologie korrigiert worden sei. Als die Philosophen es endlich hätten versuchen wollen, sei es zu spät gewesen. Die griechischen Götter, obgleich herrliche Wesen, seien wenig geachtet worden, der Kultus, obgleich riesengross, habe es doch nicht ver- mocht, die trübsten Gedanken über das Erden- leben zu beschwören. Diese Widersprüche, meint er, würden wir wohl nie bis zur völligen Klarheit entwirren können, und doch würden wir dies schöne Rätsel nicht los werden bis ans Ende der Tage. Dem ähnlich sei es auch mit dem Heroenkultus; das heroische Zeitalter wäre durchaus nicht das goldene gewesen, sondern habe in vollem Masse das Böse gekannt. Die Perser, die Ägypter, selbst die Inder hätten ein Heroentum gehabt, doch bei allen habe sich darüber eine Theologie entwickelt, nur die Griechen seien davon frei geblieben. Ihre Heroen stammten von den Göttern, waren aber zugleich gewaltige Menschen, die wieder nach oben

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sp- rangen. Die Griechen waren überzeugt, dass das Grosse und Herrliche nicht langsam ansetzt, wie der Krystall in der Felshöhle, und dass die Vögel es nicht auf ihren Fittichen zusammen- tragen, sondern dass es dazu grosser Individuen bedarf, ohne die nichts geschehen kann.

Nietzsche sagte, dass die eigentliche Blüte- zeit des griechischen Volkes die drei Jahrhunderte nach dem heroischen Zeitalter bis zu der Schlacht bei Marathon gewesen seien, die Zeit des Agon, des Wettkampfes, wo ein jeder der erste sein konnte, weil die Eifersucht des grossen Strebens es nicht litt, dass einer zu hoch empor rage. Er hatte dies Thema schon früher einmal in einem Aufsatz, »Homers Wettkampf« betitelt, berührt und erwähnt, dass die vorhomerische Zeit eine Zeit äusserster Grausamkeit gewesen sei, welche den Mord und die Kinder der Nacht, der grausamen Eris entsprungen, erzeugt habe; dass aber auch die hellenische Blütezeit Neid und Hass angenommen habe, doch als Kinder einer anderen milderen Eris, welche alle ruhm- reichen schönen Taten veranlasste, indem sie den Wettkampf hervorrief. Dieser entsprang dem glühenden Streben, kein einzelnes hervor- ragendes Genie aufkommen zu lassen, sondern ein ganzes Volk gleichbegabter, in Vorzüglichkeit miteinander wetteifernder Menschen zu bilden, wo das Beispiel des einen den anderen zu gleich herrlichen Taten anfeuern sollte. Das erklärt auch in mildernder Weise den Ostracismus, der gerade die bedeutendsten Menschen traf, weil

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ihre hervorragende Grösse bedenklich wurde: Diesen Neid gegen die Grösse einzelner Sterb- lichen fühlten selbst die Götter; so verblendeten sie z. B. die Sinne des Miltiades, weil er nach Marathon von zu hohem Ruhm umstrahlt war, damit er in der Liebe für eine Priesterin ent- brenne, bei Nacht die heiligen Tempelmauern übersteige, um ihr zu nahen, dann aber von Grrauen ergriffen zu Boden stürze; verwundet wurde er gefangen genommen und verurteilt.

Welch ein Feuer der Grrösse musste in diesen griechischen Seelen brennen, dass sie auch selbst die Tyrannei des Genius nicht ertragen konnten 1 Denn es war ja nicht das Niveau der Mittel- mässigkeit, welches sie erstrebten, sondern Neid und Hass waren ihnen Tugenden, welche dem Streben nach dem Höchsten Nahrung gaben. Vielleicht kann man es aber auch so erklären, dass sie es nicht ertragen konnten, einen Flecken an ihren Heroen zu sehen, und wenn eine heller strahlende Persönlichkeit plötzlich eine Schwäche zeigte, eine Nachtseite der Natur, so verbannten sie dieselbe rasch, um sich das göttergleiche Lichtbild nicht verdunkeln zu lassen.

Wie viele Seiten geistvoller Auffassung der Lebensvorgänge bei den Griechen kamen da zur Sprache. Ich erzählte, dass es mir kürzlich bei einem Besuch im Museum in Neapel aufgefallen sei, wie anmutig und fein die Griechen die aufsteigende Stufenleiter lebender Organismen darzustellen gewusst hätten, ohne der Affen- theorie zu bedürfen. Ihre Satyren, Kentauren

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Faune sind doch nur Halbmenschen, Ubergangs- geschöpfe, denen der schöne Mensch und zuletzt der Halbgott folgt. Aber wie reizend ist diese Übergangswelt gezeichnet. Wer würde nicht fröhlich, wenn er die tanzenden Faune ansieht, jene unschuldig sinnlichen Naturkinder, die im heiteren Licht des Tages noch nicht viel über der Genussfähigkeit des Schmetterlings, der von Blume zu Blume fliegt, stehen. Der Neapolitaner aus dem Volk ist noch ganz der antike Faun; es sind dieselben Bewegungen beim Tanz, das- selbe tierische glückliche Lächeln, das Wesen, welches, wie das Kind und das Tier, nur Gegenwart kennt, keine Vergangenheit und keine Zukunft. Wie feinfühlig aber mussten sie auch sein, um die leisesten Übergänge im seelischen Leben zu charakterisieren. So stellte der Künstler Scopas den Himeros, die Sehnsucht, und Pothos, das Verlangen, in einer Grruppe mit Eros dar. Wie fein musste er empfinden, um diese nahen Verwandten zu unterscheiden. Und wieder ein anderes Beispiel: Mars hiess der Leuchtende, und war ursprünglich eins mit Apoll bei Grriechen und Italikern; wurde erst später Gott des Kriegs. Dionysos hingegen war der Dunkle, und war eins mit Orpheus. Wie geistvoll ist das: Der Krieg entzündet sich am Tag, an der leuchtenden Helle, am Schein, der die Menschen in die Leidenschaften des Wahns verstrickt. Die Musik steigt aus den dunklen Tiefen der Seele auf, deshalb muss Orpheus in das Reich der Nacht hinab, um die verlorene Liebe durch

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Töne wieder zu erringen. Die Nacht gebiert die Musik, den Ausdruck des tiefsten wahren Lebens, ausserhalb alles Scheins. In der Nacht, der fiir uns scheinbaren Nacht, ruht also das eigentliche harmonische Dasein, das, von dem uns die Musik in Ahnungen redet.

Nachdem wir die Vorlesungen Burckhardts beendet hatten, lasen wir Herodot und Thuky- dides. Der letztere riss mich zu höchster Be- wunderung hin. Seine Schilderung vom Unter- gange Athens durch die Niederlage bei Syrakus, wo zum ersten Mal dessen bis dahin unbesiegte Seemacht unterlag, die Flotte zerstört, das glänzendste Heer vernichtet wurde, ergriff mich tief durch ihre furchtbare Tragik. Thukydides nennt es das grösste Ereignis der grichischen Geschichte. Mir schien es der tragischeste Untergang einer Weltgrösse in der ganzen Welt- geschichte, denn alle die, welche da untergingen, wussten es, dass mit ihnen das Vaterland unter- ging, und ich empfand den Schmerz des alten, edlen Nikias mit ihm ; hatte er es doch voraus- gesagt und gegen den kühnen Alkibiades vom Kriege abgeraten. Was mich aber besonders am Thukydides rührte und ergriff, das war die unendliche Einfachheit, mit welcher die Menschen das Höchste sagen, als war' es nur das Gewöhn- liche, das dem Menschen Angemessene. In der modernen Welt sagt^man das Höchste mit Pathos als etwas Aussergewöhnliches, weil man gewöhnlich trivial spricht.

Am Morgen des ersten Januars 1877 machte

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ich allein mit Nietzsche einen schönen Spazier- gang längs des Meeres und wir setzten uns auf einen Felsvorsprung, der weit in die tiefblaue Flut hinein ragte. Es war schön wie ein Frühlingsmorgen ; laue Luft wehte und von den Ufern grüssten die goldenen Früchte der grünen Orangenbäume. Wir waren beide in der friedlich- harmonischsten Stimmung ; liebliche, bedeutende Gespräche standen im Einklang mit dem glück- verheissenden Anfang des Jahres, und wir kamen schliesslich überein, dass das wahre Ziel des Lebens sein müsse, nach Weisheit zu streben. Nietzsche sagte, dass dem rechten Menschen alles dazu dienen müsse, auch das Leiden, und dass er insofern auch das letzte leidenvolle Jahr seines Lebens segne. Ja, sagte ich, für alle diese höchsten Wahrheiten hat doch auch die Bibel immer ein schönes Wort, das im Grunde dasselbe meint, was wir meinen; sie drückt es nur so aus : Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen.

Wie milde, wie versöhnlich war Nietzsche damals noch, wie sehr hielt seine gütige, liebens- würdige Natur noch dem zersetzenden Intellekt das Gleichgewicht, Wie heiter konnte er auch noch sein, wie herzlich lachen, denn bei, allem Ernst fehlten doch auch Scherz und Heiterkeit nicht in unserem kleinen Kreise. Wenn wir so abends beisammen sassen. Nietzsche gemütlich im Lehnstuhl hinter seinem Augenschirm, Dr. Ree, unser gütiger Vorleser, beim Tisch, wo die Lampe brannte, der junge Brenner am Kamin

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mir gegenüber und mir helfend Orangen schälen für das Abendbrot, da sagte ich oft scherzend: »Wir repräsentieren doch wirklich eine ideale Familie; vier Menschen, die sich früher kaum ge- kannt, kein verwandtschaftliches Band haben, keine gemeinsamen Erinnerungen, und nun in vollkommener Eintracht, in ungestörter persön- licher Freiheit, ein geistig und gemütlich be- friedigtes Zusammenleben führen.« Auch fehlte es bald nicht an Plänen für eine Erweiterung des so glücklich gelungenen Experiments. Ich erhielt damals gerade besonders viele Briefe von Frauen und Mädchen aus der unbekannten Menge, die mir infolge meiner »Memoiren einer Idealistin« ihre Sympathie kund gaben, wie dies übrigens auch in der langen Reihe folgender Jahre zu meiner innigsten Freude und Befriedigung fort- während der Fall gewesen ist. Diese Tatsache gab einer Idee Nahrung, die bei mir entsprungen war, und die ich meinen Gefährten mitgeteilt hatte, nämlich eine Art Missionshaus zu gründen, um erwachsende Menschen beiderlei Geschlechts zu einer freien Entwicklung edelsten Geisteslebens zu führen, damit sie dann hinausgingen in die Welt, den Samen einer neuen, vergeistigten Kultur auszustreuen. Die Idee fand den feurig- sten Anklang bei den Herren; Nietzsche und Ree waren gleich bereit, sich als Lehrer zu be- teiligen. Ich war überzeugt, viele Schülerinnen herbeiziehen zu können, denen ich meine be- sondere Sorge widmen wollte, um sie zu edelsten Vertreterinnen der Emanzipation der Frau heran-

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zubilden, damit sie hülfen, dieses so wichtige und bedeutungsvolle Kulturwerk vor Missver- ständnis und Entstellung zu bewahren, und in reiner, würdevoller Entwicklung zu segensvoller Entfaltung zu führen. Wir suchten schon nach einem passenden Lokal, denn in dem herrlichen Sorrent, in der wonnevollen Natur, und nicht in städtischer Enge sollte die Sache zu stände kommen. Wir hatten unten am Strand mehrere geräumige Grotten, wie Säle innerhalb der Felsen, offenbar durch Arbeit erweitert, gefunden, in denen sogar eine Art Tribüne, wie express für einen Vortragenden bestimmt zu sein schien. Die dachten wir in heissen Sommertagen als sehr geeignet, um unsere Lehrstunden da zu halten, wie denn überhaupt das ganze Lehren mehr ein gegenseitiges Lernen nach Art der Peripathetiker, und im allgemeinen mehr nach griechischem als modernem Muster sein sollte. Dieser Plan beschäftigte uns oft, und wir hielten die Aus- führung nicht für unmöglich, hatte ich doch einst in Hamburg in der Hochschule schon Ähnliches mit dem schönsten Erfolg gekrönt, erlebt. Und dennoch scheiterte auch dieses wieder, wie so vieles Ideale, an den Verhältnissen, die störend dazwischen traten, besonders von Seiten der Herren.

Unsere gemeinschaftlichen Lektüren nahmen jetzt einen anderen Charakter an. Wir verliessen das schöne griechische Altertum und es kam ein Gemisch von neueren, doch stets bedeutenden Sachen an die Reihe. Ree hatte eine besondere

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Vorliebe für die französischen Moralisten und teilte diese auch Nietzsche mit, der sie vielleicht schon früher gelesen hatte, deren nähere Be- kanntschaft aber sicher nicht ohne Einfluss auf seine spätere Entwicklung geblieben ist, und ihn namentlich zu dem Ausdruck seiner Gedanken in Aphorismen geführt hat, wie ich später Gre- legenheit hatte zu bemerken. Auch beeinflusste ihn offenbar die streng wissenschaftliche, realisti- sche Anschauungsweise Dr. Rees, die seinem bisherigen, immer von dem ihm innewohnenden poetischen und musikalischen Element durch- drungenen Schaffen beinah etwas Neues war und ihm ein fast kindlich staunendes Vergnügen machte. Ich bemerkte das öfter und sagte es ihm auch scherzend als Warnung, da ich Rees Anschauungen nicht teilte, trotz meiner hohen Achtung für seine Persönlichkeit und meiner Anerkennung seiner gütigen Natur, welche sich besonders in seiner aufopfernden Freundschaft für Nietzsche zeigte. Sein Buch »Über den Ursprung der moralischen Empfindungen« erregte mir nur den entschiedensten Widerspruch, und ich nannte ihn im Scherz »chemische Kombina- tion von Atomen«, welches er sehr freundlich hinnahm, während uns im übrigen herzliche Freundschaft verband.

Wie sehr seine Art, die philosophischen Probleme zu erklären, auf Nietzsche Eindruck machte, ersah ich aus manchen Gesprächen. So kam es einmal auf einem Spaziergang zwischen Nietzche und mir zu einem philosophischen

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Streit, indem er das Gesetz der Kausalität leugnete und sagte, es gäbe nur ein Nachein- ander von Dingen und Zuständen, aber nicht als Wirkung der einen aus den anderen; was wir als Ursache und Wirkung empfänden, seien un- erklärte Tatsachen. Die griechischen Philo- sophen, die Eleaten hätten zwar das Seiende, das Unveränderliche für die alleinige Ursache und die wahre Realität erklärt, dem widerspräche aber in jedem Augenblick die Welt als ein ewig Werdendes und Wandelbares. Ich entgegnete ihm, dass sicher das Seiende, das Unveränder- liche die wahre Realität sei, das Ding an sich, das sogenannte Metaphysische. Wir müssten uns nur nicht fürchten das anzuerkennen. Die scheinbar ewig werdende Welt sei nur die Er- scheinung des Seins, nur für uns sei sie Wechsel, für unsere beschränkten Sinne. Aber in all dem Wandel, in Leben und Tod, in Werden und Vergehen offenbare sich das All-Eine, das;Sein. Die Inder wussten es schon : »tat wam asi«, das bist du. . Ein anderes Mal in einem Gespräch über Schopenhauer äusserte er, es sei der Irr- tum aller Religionen, eine transcendentale Ein- heit hinter der Erscheinung zu suchen, und das sei auch der Irrtum der Philosophie und des Schopenhauerischen Gedankens von der Einheit des Willens zum Leben. Die Philosophie sei ein ebenso ungeheurer Irrtum, wie die Reli- gion. Das allein Wertvolle und Gültige sei die Wissenschaft, welche allmählich Stein an Stein füge, um ein sicheres Gebäude aufzuführen.

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Die beiden Ersten hielten die Menschen auf in ihrem Gang zur Wahrheit, sie drückten nur die Tendenz unseres Geistes aus, die Lösung des Lebensrätsels ein für allemal finden zu wollen.

Ich wendete ihm ein, dass mir das gerade ein Irrtum schien, diese Einheit als etwas Transcendentales anzusehen, während sie doch gerade das alles Ausfüllende, in der Erscheinung sich Kundgebende sei. Weil die Beschränktheit unseres Erkenntnisvermögens der Hülfsmittel von Raum und Zeit bedürfe, so hätten wir doch nicht das Recht, das ausserhalb Liegende trans- cendental zu nennen, nur unsere Wahrnehmungs- fähigkeit reiche nicht daran. Dennoch sei es ein logischer, vemunflgemässer Schluss, dass das ausser unserer Wahrnehmung Liegende dieselben Bedingungen in sich trüge, und sich nach den- selben Gesetzen bewege, wie das uns Erkenn- bare, dass also da nicht von transcendental die Rede sein könne. Und um wie viel weniger noch sollten wir die herrliche Macht des Ge- dankens in ein unhaltbares transcendentales Grebiet verweisen, der, eine enge Form nach der anderen abwerfend, siegreich durch die Nacht der Zeiten vorwärtsschreite zu immer grösserer Klarheit. Es scheine mir das nur der alte Hoch- mut der Menschen zu sein, der, nachdem die Theorie der Abstammung vom Affen die der Einblasung göttlichen Odems zerstört habe, sich nun in die vornehme Abweisung des Metaphy- sischen, Transcendentale flüchte, und sich nur an

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das Experiment halte an die oft so armselige Tatsache I

Und was doch gerade die frühere Schrift Nietzsches »Schopenhauer als Erzieher« so hoch stellte, war, dass er es darin aussprach, die Kultur habe einen metaphysischen Zweck I

Mit dem beginnenden Frühjahr schieden R6e und Brenner, um ein jeder in seine Heimat zurückzukehren. Nietzsche und ich blieben allein, etwas in Not wegen unserer Abende, da wir beide, augenleidend, nun unseres trefflichen Vorlesers beraubt waren. Aber Nietzsche sagte fröhlich: >Nun, da wollen wir desto mehr zu- sammen reden.« Und so geschah es auch, denn es fehlte nie an reichem Stoff zu Gesprächen. So sprachen wir u. a. einmal über die »Braut von Korinth« und Nietzsche bemerkte, Groethe habe dabei an die alte Sage vom Vampyr ge- dacht, die antik, und schon von den Griechen gekannt gewesen sei, und habe es damit ver- sinnlichen wollen, wie die Sitten und Sagen des Altertums sich in der christlichen Welt zu spukhaften Dingen verdunkelten, und wie die finstere Wendung, welche das Christentum sehr bald nach seiner Entstehung nahm, die schöne freie Sinnenwelt der Griechen verunstaltete, und das blühende natürliche Leben in Moderduft und Gerippenkultus verkehrte. >Ja,« sagte ich, >man muss nur auch immer daran denken, dass das historische Christentum in den Katakomben geboren ist.«

Ein anderes Mal sprachen wir über >die

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natürliche Tochter« von Goethe und ich sagte, ich fände es darin so wunderschön, dass in den Dialogen ein jeder immer den höchsten Inhalt von seinem Gesichtspunkt aus erfasse und ver- teidige, weshalb eigentlich ein jeder recht habe, wie z. B. im Gespräch des Herzogs und des Weltgeistlichen, in dem der Eugenie und des Mönchs etc. Nietzsche sagte, dass Goethe dasselbe bei Sophokles gefunden hätte, dessen Personen sprächen alle so schön und würdevoll, dass sie uns alle überzeugten.

Bei Gelegenheit einer Unterhaltung über Groethe und Schiller meinte Nietzsche, Goethe habe in Schiller die gewaltige ihm höhere Natur geehrt, und Schiller in Goethe den gewaltigen ihm höheren Künstler. Ich gab nicht zu, dass Goethe die minder hohe Natur gewesen sei, nur war er die glücklichere, zur Harmonie gelangte, während wir in Schiller die hohe sittliche Kraft verehren, die mit dem Leiden ringt, und sich siegend aus ihm erhebt.

Noch an einem anderen Abend kam das Gespräch auf Don Quichote. Nietzsche tadelte es, dass Cervantes die eigentlich ideale Figur, den Menschen mit idealem Streben, zum Spott der Alltagswelt werden lässt, anstatt dem Gegen- teil, und meinte, das Buch habe wohl nur einen literarischen Zweck gehabt, dem Lesen schlechter Ritterromane Einhalt zu tun. Ich dagegen ver- stand das Buch dahin, dass der Mensch mit idealen Bestrebungen, wenn er sie in einer ana- chronistischen Form vorbringt ganz natürlich in

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der Alltagswelt, welche die idealen Absichten überhaupt nicht versteht, zum Narren und zur Karikatur wird. Und andererseits schien es mir auch, dass das Buch aus der ungeheuersten Menschenverachtung hervorgegangen ist, aus der hohnlächelnden Ironie, mit welcher der, der die Welt versteht, auf den armen Idealisten sieht, der glaubt in einer solchen Welt Ideale ver- wirklichen zu können.

Zuweilen gelang es uns doch, auch ein wenig zusammen zu lesen, so eines Tages die Sakun- tala, die Nietzsche noch nicht kannte. Er hatte bei den ersten vier Akten viel einzuwenden, fand zunächst die tragische Motivierung zu leicht, und das Verdienst des Dichters zu gering, da der ganze Hintergrund von Blumen, Tierleben und Büsserhainen etc. Indien an- gehöre, und nicht ihm. Aber wäre es nicht eher ein Fehler, wenn ein dramatisches Werk des lokalen Hintergrunds entbehrte, keine lokale Färbung hätte? Ist es besser, wenn der Dich- ter das alles mit der Phantasie schaffen muss, was Kalidäsa aus eigener Anschauung kannte, und es ganz natürlich darstellte, so duftig, zart und farbenprächtig wie Indien selbst? Ferner fand Nietzsche das Schuldmotiv zu leicht. Aber spricht sich darin nicht gerade das tiefe, zarte seelische Empfinden der Inder aus? Sa- kuntala liebt zu sehr, vergisst in ihrer Liebes- ekstase die heiligste der Pflichten, die der Gast- freundschaft, und dafür trifft sie der Fluch der Gekränkten; der Sinn des Königs wird mit

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Blindheit geschlagen, sodass er sie nicht mehr kennt und sie muss nun im Leiden ihre Liebe von aller Selbstsucht reinigen und ihre Heiligung vollbringen. Dann ist der Fluch gelöst und sie darf das Glück vollendeter Seelen gemessen. Hat die griechische Tragödie das Schuldmotiv tiefer gefasst? Antigone verletzt auch wie Sakuntala das Gesetz aus Liebe und muss dafür sterben. Ethisch ist hier vielleicht die indische Auffassung noch die höhere, denn sie gewährt die Vollendung durch die Busse.

Wir sprachen über den Spruch Schillers: »Gemeine Naturen zahlen mit dem was sie tun, edle mit dem was sie sind«, und kamen auf Dichter im allgemeinen und auf Mazzini. Aber Mazzini zahlte, und Dichter zahlen auch mit dem was sie tun, nur mit dem Unterschied, das der Dichter sein Tun auf seine tragischen Personen überträgt, in ihnen fühlt, handelt, leidet, während Mazzini die tragische Persönlichkeit selbst war, die nur der idealen Tat willen das herbste Leiden auf sich genommen hatte. Nietzsche sagte, dass er unter allen Leben am meisten das Mazzinis beneide, diese absolute Konzen- tration auf eine einzige Idee, die gleichsam eine gewaltige Flamme werde, an der das Indi- viduelle verbrenne. Der Dichter befreit sich von der Tatgewalt, die in ihm ist, indem er sie in Gestalten inkarniert, und Tun und Leiden ausser sich setzt. Er ist wie der Wille selbst, er muss sich objektivieren, den Drang zur Tat in Erscheinungen ausströmen; jedes Gefühl,

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jede Leidenschaft ist in ihm als Fähigkeit da, daher kann er alle Verschiedenheit der Wesen darstellen, nachdem er ihre Not, ihre Schuld, ihren Schmerz mit durchgemacht hat. Er erlöst sich wie der Wille, indem er sich objektiviert. Mazzini objektivierte sich durch sein Leben, welches eine unausgesetzte Tat der edelsten Individualität war.

Eines Tags kam Nietzsche mit einem grossen Paket beschriebener Blätter in der Hand und sagte mir, ich möge sie doch einmal lesen, es seien Gedanken, welche ihm auf seinen einsamen Spaziergängen gekommen wären, besonders be- zeichnete er mir einen Baum, wenn er unter dem stände, fiele ihm immer ein Gedanke her- unter. Ich las die Blätter mit grossem Interesse, es waren herrliche Gedanken darunter, besonders solche, die sich auf seine griechischen Studien bezogen, es waren aber auch andere, die mich befremdeten, die gar nicht zu Nietzsche, wie er bisher gewesen, passten und mir bewiesen, dass jene positivistische Richtung, deren leise Anfänge ich sehon im Laufe des Winters beobachtet hatte, anfing Wurzel zu fassen, und seinen An- schauungen eine neue Gestalt zu geben. Ich konnte nicht umhin, ihm etwas darüber zu sagen, und bat ihn herzlich, diese Sachen noch ruhen zu lassen, um sie nach längerer Zeit wieder durchzusehen, ehe er sie in den Druck gäbe. Ich sagte ihm, dass er, besonders was die Frauen beträfe, noch keine endgültigen Aussprüche fällen dürfe, weil er noch viel zu wenig Frauen

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wirklich kenne. Die französischen Moralisten hätten das Recht gehabt, positive, durchaus gültige Urteile auszusprechen, weil sie die Gesellschaft, in der sie lebten, bis auf den Grund kannten, und ihre Bemerkungen wohl auch nur auf diese anwendeten; aber ohne eine solche langjährige, genaue und vielseitige Beobachtung sei es nicht ratsam fiir höhere InteUigenzen sich über psycho- logische Vorgänge so bestimmt und ein für alle- mal auszusprechen. Ich zitierte ihm einen Aus- spruch R^es aus dessen früher erwähntem Buch, welcher mir sehr zuwider und sicher falsch sei, dass Frauen immer die Männer vorzögen, welche ihr Leben schon mannigfach genossen hätten. Nietzsche lächelte über meine Entrüstung und sagte: »Aber glauben Sie denn, dass es einen einz^en jungen Mann gibt, der anders denkt?« Ich war recht böse und betrübt, das von ihm zu hören, und sagte ihm auch, dass mir das ein neuer Beweis sei, wie er die Frauen doch nur oberflächlich kenne, und dass ihm daher noch kein allgemeines Urteil zustehe. Doch kamen wir nachher wieder in unser griechisches Fahr- wasser, und waren gute Freunde wie zuvor. Leider fand ich jene Sätze nur zu bald veröffentlicht, in einer Schrift »Menschliches, Allzumenschliches« betitelt; aber mein Glaube an Nietzsches hohe Begabung war zu fest, um dies alles anders als wie als vorüber- gehende Phasen seiner Entwicklung anzusehen, aus denen seine Idealität siegend hervorgehen werde.

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Unendlich traurig aber war es, dass seine Gesundheit sich in nichts gebessert hatte, ja, dass die Anfälle seines Leidens, die schreck- lichen Kopf- und Augenschmerzen mit der zu- nehmenden Wärme noch häufiger wurden u^d ihn oft nötigten, Tage und Nächte hindurch in endlosen Qualen zu Bett zu liegen. Sein Ver- trauen auf den Süden erlosch, und mit derselben Inbrunst der Zuversicht, wie er dieser Reise entgegengesehen hatte, sah er nun der Rück- kehr in die Eisregionen der Alpenwelt entgegen und beschleunigte seine Abreise. Ich war schmerzlich bewegt um dieser fehlgeschlagenen Hoffnung willen, konnte ihn aber doch nicht zurückhalten, da sich auch die liebevollste Sorge als ohnmächtig gegen die Gewalt des Übels er- wiesen hatte und man also mit ihm hoffen musste, dass Veränderung doch vielleicht Besserung bringen könne.^ . 5

So schied er, und ich blieb allein zurück, verlebte noch einige herrliche Wochen in der zauberischen Einsamkeit des paradiesischen Ortes, und entschloss mich schwer zu gehen. Ich blieb noch ein paar Tage in Neapel, um einen lang gehegten Wunsch auszuführen, nämlich den Vesuv zu besteigen, freilich nur bis zum Observatorium, da ich mich allein doch nicht bis zum Krater wagen wollte. Aber auch dies war schon hoher Eindruck und Genuss. In dieser schwarzen Lavawelt regte die Phantasie mächtig ihre Flügel ; man schien sich in einem Bereich versteinerter

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Höllenungetüme zu befinden, Riesenschlangen, Molche und Skorpione lagen da in chaotischem Durcheinander, wie von einem plötzlichen Macht- gebot erstarrt ; die Vegetation hatte dies grausige Gebiet geflohen, nur der Ginster wuchs zwischen den Schlacken empor und erhob seine gold- farbigen Blüten tröstend über dem Leichenfeld. Oben aber auf dem Observatorium breitete sich die Herrlichkeit der Welt zu meinen Füssen aus. Vor mir lag der wundervolle Golf, von den Gluten des Abendhimmels übergössen, seitwärts sah man in die Gebirgswelt hinein, in welcher die herrlichsten Farbentöne im Wechsel der Lichter und Schatten erschienen ; alles war Leben, Licht, Farbe, Freude, und der Mensch, überwältigt von der siegenden Schönheit, schmiegt sich immer von neuem an das Herz des won- nigen Verräters, den goldigen Erdentraum, aller Gefahr vergessend, immer aufs neue zu träumen.

In freudiger Rührung, der Schönheit des Daseins huldigend, stieg ich hinab, verliess Neapel, eilte durch Italien, um mich in die Schweiz zu begeben, wohin Olga mit ihrer Familie zum sommerlichen Rendez-vous zu kom- men versprochen hatte. Ich wählte diesmal den Weg über den Splügen, da ich die meisten Alpenübergänge schon kannte, hielt mich einen Tag in Chiavenna*) auf, nahm mir einen Wagen,

*) Siehe > Stimmungsbilder c der Verfasserin (Schuster & Loeffler, Berlin).

ro- und begab mich mit meiner treuen Dienerin auf die Fahrt über die eisigen Höhen. Es war nicht schön da oben, eine freudlose Oede, an den weiten Schneefeldern vorüber, kein sonniger Tag. und keine grossartige Aussicht. Es war Ende Juni, aber so kalt, dass ich, um mich zu wärmen, eine Zeit lang zu Fuss ging. Da fand ich am Rand des Eises eine weisse Alpenrose, die seltener sind als die roten ; ich pflückte mir das arme Kind der Eisregion zum Andenken, und, ergriffen von dem ungeheuren Kontrast, den ich in kaum acht Tagen durchlebte, schrieb ich in mein Tagebuch:

»An dem Saume ew'ger Eisgefilde

Lag ich stille träumend

In der Knospe Schoss.

Doch den Kelch erschloss mir

Langsam, Sonne dein Strahl,

Oh warum mich wecken

Zu dem kurzen Dasein?

Nicht mit holder Röte

Färbst du mein bleiches Antlitz,

Nicht zu seliger Liebe

Gibst du heilige Glut mir,

Nahe bei der Vernichtung

Starrendem Eise wohn ich.

Trage seine Farbe

Und vergebens küssest

Du mir matt die Stirn.

Ach aus schönem Traume

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Hast du mich gestört,

Fern auf sonniger Höhe,

Sah ich glänzend leuchten

Goldenen Ginsters Pracht,

Der an Feuersbrüsten

Flammennahrung sich trank

Und mit strahlenden Sonnen

Liebende Schwüre getauscht.

Ihm zu Füssen die Welt

Lag in göttlicher Schöne;

Lächelnde Fülle des Seins

Nahm dem Tod selbst den Stachel,

Denn ihm droht auch ein Grab;

Schwarze Todesgeburten

Starren mahnend ihn an.

Aber sie deckten mit Nacht

Eine Welt, die gelebt,

Die geliebt und genossen

Höchsten Daseins Entfaltung.

Ja im holden Wahnsinn

Seliger Täuschung vergehen

Oh beneidenswert Los!

Aber des Nichts graunvollem Abbild

Ewig ins Antlitz zu schauen

Matter sonniger Strahl

Warum wecktest du mich?

Ist dies hier die Wahrheit?

Oh so gib mir die Lüge,

Gib mir nur einen Tag,

Wo im Geist und der Liebe

Sich mir Vollendung genaht

Und dann lösch eilig die Fackel.

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Ein römisches UylL

Wenn man sich in Rom da sein Nest gebaut hat, wo die Fülle des Malerischen und charakte- ristich Römischen noch nicht durch die moderne Bau-Invasion verdorben ist, so kann man noch römische Idyllen erleben, die an jene unvergess- lich schöne Zeit erinnern, wo Rom, wie ein Märchen aus alten Tagen, wie eine von der rollenden Zeit vergessene, zaubervolle Sage, inmitten der modernen Welt dalag, ein Ort zur Beschaulichkeit und zum Träumen geeignet, wie kein anderer in der Welt. So ist wirklich mein Nest.*)

Rings um mich bauen sich jene grossartigen Trümmerfelder auf, über denen die Weltgeschichte wie mit ausgebreiteten Flügeln zu schweben scheint, ein melancholisches memento mori für

'*') Leider nun auch durch Neubaaten verdorben. Anm. d. Verf.

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I^nunter kam ich an die via mala, an den jugendlichen rauschenden Rhein und das erhaben Düstere und doch Belebte dieser grandiosen Strasse erfrischte mich wieder, und heiter eilte ich dem Thuner See zu, um mich mit den geliebten Freunden zu vereinen.

Ein römisches Idyll.

Wenn man sich in Rom da sein Nest gebaut hat, wo die Fülle des Malerischen und charakte- ristich Römischen noch nicht durch die moderne Bau-Invasion verdorben ist, so kann man noch römische Idyllen erleben, die an jene unvergess- lich schöne Zeit erinnern, wo Rom, wie ein Märchen aus alten Tagen, wie eine von der rollenden Zeit vergessene, zaubervolle Sage, inmitten der modernen Welt dalag, ein Ort zur Beschaulichkeit und zum Träumen geeignet, wie kein anderer in der Welt. So ist wirklich mein Nest.*)

Rings um mich bauen sich jene grossartigen Trümmerfelder auf, über denen die Weltgeschichte wie mit ausgebreiteten Flügeln zu schweben scheint, ein melancholisches memento mori für

*) Leider nun auch durch Neubaaten verdorben. Anm. d. Verf.

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die Gegenwart, während die sich ewig erneuernde Natur mit ihrem tröstenden Grrün reizvoll die zerfallenen Mauerwerke überzieht. Da ist das Forum, der Palatin, das Kolosseum und in der Ferne blaut die sanfte Linie des Albanergebirges. Will man nun an diesen herrlichen Frühlings- tagen einen Spaziergang in der Morgenfrühe machen, so hat man zu wählen zwischen so vielem Schönen. Ich fange mit dem Platz S. Pietro in Vincoli an, der auch neben meiner Wohnung liegt. Es ist ein vornehmer Platz in seiner Abgeschlossenheit und Ruhe, auf der einen Seite die gleichnamige Kirche mit dem Haus der dazu gehörigen geistlichen Herren, gegenüber das Kloster der Maroniten, der Mönche vom Libanon, in deren Garten eine der grössten Palmeji Roms steht, hinter welcher man im bläulichen Duft in der Ferne die Acqua Paola auf dem Janiculum und davor das Kapitol mit seinem Turm sieht. Die dritte Seite des Platzes ist von einem alten Palast begrenzt, der einst den Borgia gehörte. Die Mutter der Lucrezia wohnte dort und er hat etwas Un- heimliches durch eine dunkle Bogenwölbung, unter welcher eine steinerne Treppe in die tief unten liegende Strasse führt. Unwillkürlich malt sich die Phantasie allerlei Schreckbilder aus von den dunklen Taten, die zur Zeit der Borgia unter diesem Bogen, zwischen den schwarzen feuchten Mauern, geschehen sein mögen; die Neuzeit aber hat sie entsühnt, indem das Ge- bäude dem polytechnischen Institut eingeräumt

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wurde. Die vierte Seite des Platzes ist von dem Garten der Maroniten voll herrlicher Bäume eingefasst; es ist wenig Verkehr dort, immer gute reine Luft und jetzt erfüllt ihn Duft der Orangenblüten aus dem Garten hinter der Kirche herwehend.

Es lohnt sich der Mühe, auf diesem schönen, stillen Platz wandelnd, den Tag zu beginnen. Hier stört den Morgenfrieden kein lautes Gewühl des Marktes, noch das dumpfe Gerolle schwer- beladener Karren, oder die ohrenzerreissenden Stimmen der Ausrufer von Zeitungen, Gemüsen, Obst und dergl. Es sind nur gute, stille Be- schäftigungen, welche hier den Tag anfangen. Da schleicht ein altes Mütterchen herbei, tritt in die Kirche zum Gebet, um dann die Last des Alters am Tag leichter zu tragen. Ein junges Mädchen geht auch dahin, vielleicht um von der Madonna Stärkung zur Arbeit oder Kraft, der Versuchung zu widerstehen, zu er- bitten. Eben kommt ein alter Mann herbei, an jeder Hand ein kleines Enkelkind, und tritt in den heiligen Raum ein. Er kniet nieder, die Kleinen knien neben ihm, falten ihre Händchen und schauen mit grossen, ernsten Augen hinauf zu dem Gewölbe der Kirche, als möchten sie den lieben Gott doch auch sehen, zu dem der Grossvater sie beten lehrt, und dessen Schutz er sie empfiehlt, denn sie sind Waisen und wer kann sagen, wie lange der greise N o n n o noch für sie wird sorgen können. Mir scheint es, als ob über die Züge des gewaltigen Moses von

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Michel Angelo der in dieser Kirche seit drei Jahrhunderten sitzt und mit erhabenen! Zorn auf die Menschheit schaut, welche immer noch um das goldene Kalb tanzt, als ob über die strengen, marmornen Züge ein menschliches Rühren flöge und der Zorn für Augenblicke dem unendUchen Erbarmen mit diesen stillen Betern Platz mache, die in der Not des Lebens keine andere Zuflucht wissen als zu der unsichtbaren Macht, die sie in Tempelhallen gegenwärtig glauben.

Vor der Kirche beginnt nun aber anderes Leben sich zu regen. Jünglinge der bürgerlichen Stände ziehen ernst und sittsam dem Poly- technikum zu, um ihren Studien obzuliegen. Von verschiedenen Seiten wandern Mütter odqr Dienstmädchen herbei, um die kleinen Kinder zu den Kommunalschulen, deren sich einige in der Nähe befinden, zu führen ; niemals gehen die Kinder, auch die ärmsten nicht, allein, immer ist ihnen die Begleiterin zur Seite, neben der sie verständig und artig einher gehen, ihre Schul- bücher tragend, oft auch ein Sträusschen Blumen für die Lehrerin, da die freigebige Natur hier auch dem Armen so liebliche Aufmerksamkeiten möglich macht. Nun zieht aber etwas anderes, den Kindern freilich nicht zu Fernes, den Blick des still Wandelnden auf sich. In der dunklen Wölbung des Borgiabogens erscheinen plötzlich zwei Hörner, und nach ihnen der mächtig grosse Kopf eines Ziegenbocks, der gravitätisch, im stolzen Gefühl seiner Feldmarschallswürde, die

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steile Treppe erklommen hat; ihm folgt ein langer Zug von schwarzen, weissen, grauen Ziegen, welche das finstere Gemäuer furchtlos passieren, um den gewohnten Weg gerade über den Platz in die gegenüber mündende Strasse fortzusetzen. Hinter ihnen her kommt der Hirte, das zottige Fell an den Hosen, in der einen Hand den langen Stab, mit dem er die säumen- den Tiere zum Marsche antreibt, in der andern das Blechgeschirr, in das er vor den Häusern seiner Klienten die Milch melkt. Dies war alte römische Sitte und erinnert an patriarchalische Zustände vergangener Zeiten. Noch ist aber der feierliche Zug nicht ganz vorüber, da zieht von der tieferen Strasse neben dem Maroniten- kloster herauf ein neuer ebenso feierlicher Zug von lauter schwarzen, schönen Ziegen. Die ehrwürdigen Häupter des Zugs schreiten wacker voran und sind schon beinah, den ersten Zug kreuzend, über den Platz hinüber, als sie plötz- lich gewahr werden, dass die jungen Zicklein stehen geblieben sind, und sich neugierig nach dem Hirten umsehen, welcher unten an der aufwärts steigenden Strasse angehalten hat und mit einer Frau spricht. Ob nun die Alten es nicht leiden mögen, dass die jungen Geschöpfe so vorwitzig sind, und gleich wissen wollen, was sich für ihr Alter vielleicht noch gar nicht passt genug sie machen Halt und es beginnt ein gewaltiges Meckern, das crescendo heranwächst bis zu einem ganz gebieterischen Ruf. »Chiamano i figli« (sie rufen die Kinder) sagt neben mir

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ein alter Strassenkehrer, den ich jeden Morgen wegen seiner Sorge für die Reinlichkeit des Platzes lobe, mit solcher Innigkeit im Ton der Stimme, dass man sah, er wisse, was Vatersorge um das Wohl der Kinder ist. Nun kommen sie auch angetrabt, die jungen Schelme, und die Ehrwürdigen wenden sich zum Weitergehen, da jetzt auch der Hirte langsam schreitend naht. Auch er trägt die zottigen Hosen, die lange dunkle Jacke und hat den breitkrämpigen Hut tief auf die Stirn gedrückt und den langen Stab immer horizontal unter dem Arm, ein Zeichen, dass er gut und geduldig ist und ein hinkendes Tier, wenn es nicht recht fort kann, nicht gleich schlägt, wie es der andere Hirte tut. Wenn er an mir vorüber kommt, wirft er mir einen Seitenblick zu, und ein leises Nicken des Kopfes bedeutet einen dankenden Gruss, da er sieht, wie ich seine schwarzen Ziegen bewundere.

Nachdem ich noch einem jungen Mädchen, das auf den Kirchenstufen sitzt und eifrig an einem Strumpf strickt, guten Morgen gewünscht habe, wandere ich dem Wäldchen zu, welches hinter dem Kolosseum seine grünen Schatten zum Schutz gegen die steigende Sonne bietet. Es wird so oft behauptet, der südliche Frühling komme dem im Norden nicht an Reiz gleich. Das können aber nur die sagen, welche ihn nie ganz im Süden erlebt haben. Allerdings ist er nicht das Erwachen aus gänzlichem Tod, das langsame Sichbesinnen der Natur, dass sie den Menschen doch eine Entschädigung schuldig ist

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für die Entbehrungen des Winters; es ist viel- mehr hier das freudige Symbol der unaus- gesetzten Schaffenskraft im Weltall, welche neben dem dunkeln ernsten Laub der Bäume, das nie abstirbt, das frische jugendliche Grün oft in einer Nacht, wie mit einem Zauberschlag, hervorlockt, und den Strom des reichen Lebens ver- schwenderisch ausgiesst in rasch entfalteten Blüten, gleich als wollte sie eifern gegen den menschlichen Wahn, dass es überhaupt Ver- nichtung und Tod gäbe, und es zur tröstenden Gewissheit machen, dass alles ewig ist.

Aber leider war das liebe Wäldchen, das mir so oft ein freundliches Asyl ist, heute gerade von den Rekruten besetzt, welche in der Morgenfrische da eingeübt wurden, um das von niemand angegriffene Vaterland zu ver- teidigen, und den immer von neuem proklamierten Weltfrieden, bis an die Zähne bewaffnet, glänzend zu beweisen. Zugleich machten die Trompeter des Regiments ihre Studien mit einem so ohren- zerreissenden Eifer, dass das grüne Paradies zur Hölle wurde, die ich mich beeilte zu verlassen. Da kam ich an der Kirche von San Giovanni und Paolo vorüber, welche am Ausgang des Wäldchens neben einem Kloster der Passionisten liegt. Ich trat in die leere Kirche ein und in eine nie zuvor betretene Kapelle, wo gerade einer der Mönche kehrte und reinigte. Wieder wie in so vielen Kirchen Roms, war auch hier eine verschwenderische Pracht kostbarer Marmor- arten angebracht, aber ehe ich mich noch recht

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umsehen konnte, bemerkte ich, dass der Mönch die Gittertür, durch die ich eingetreten war, verschluss. Ich fragte verwundert, warum er mich einschliesse, da deutete er stumm auf eine kleine Seitentür, die ich nicht bemerkt hatte, und die durch die Sakristei in die Kirche zurück führte, ging aus derselben und liess sie offen. Ich sah mich nun in dem reich gezierten Raum um und gewahrte unter dem Altar einen gläsernen Sarg, in welchem die Leiche des Stifters des Ordens im Ordenskleid liegt. Ihm ist also die Kapelle geweiht. Ist dies Aufbe- wahren der Erscheinung nicht etwas dem ägyp- tischen Todeskultus Verwandtes, gleichsam als ob die entflohene Seele das verlassene Kleid wieder aufsuchen und anziehen würde, wie es ja freilich die katholische Kirche auch meint? Wer hat es aber nicht schon am Totenbett geliebter Menschen erfahren, wie seltsam fremd uns alsbald das Bild ansieht, wenn der Hauch des geistigen Lebens es nicht mehr belebt? Wenn es uns aber dennoch das Herz zerreisst, auch dies Vergängliche von uns zu lassen und der Verwesung zu übergeben, so ist es, weil damit der ewigen Trennung das Siegel aufgedrückt wird, weil das Wesen, um dessentwillen wir auch das Bild geliebt, uns nie mehr erscheinen wird. Goethe hat in den »Wahlverwandt- schaften« in der Kapelle Ottiliens die Erhaltung des Bildes poetisch verklärt, aber schöner ist doch der Gebrauch der Alten, das Irdische durch die läuternde Flamme verzehren zu lassen

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und die Atome dem Kreislauf des Lebens un- mittelbar zurückzugeben. Doch den Passionisten, denen das Kloster gehört, hat es anders ge- schienen, wie das Altarbild beweist, auf welchem der Stifter des Ordens nicht als immaterielle Seele, sondern im schwarzen Ordenskleid, wie er da unter dem Altar liegt, gen Himmel fliegt, wo ihn Christus, inmitten der himmlischen Heerscharen, mit offenen Armen empfängt. Das Bild ist modern, ebenso sind es die Fresken, welche die Seitenwände der Kapelle bedecken. Hier ging es mir aber seltsam. Als ich den Blick zu einer dieser Fresken erhob, fühlte ich mich plötzlich von Rührung ergriffen. Da kniete die Mutter allein vor dem dunklen Felsengrab, den Leichnam des Sohnes auf den Knien haltend, und schaute in bitterem vorwurfsvollen Schmerz gen Himmel. In der Ferne sah man Golgatha; die drei Kreuze zeichneten sich scharf ab auf dem feurig rot beleuchteten Abendhimmel, während die Gruppe vorn im Schatten war. Jener flammende Himmel schien wie ein ewiges Verdammungsurteil über die Menschen, die immer von neuem das »Kreuziget, kreuziget ihn« rufen, wenn der Genius, der ihnen die Er- lösung durch Freiheit und Liebe verkündet, unter ihnen erscheint. Und daneben der ein- same Todesschmerz der Mutter, die ihn allein durch die Intuition der Liebe verstanden hat, und der Leichnam, auf dessen Lippen noch das »es ist vollbracht« zu schweben scheint ; ja, vollbracht das ungeheure Opfer und dabei die

Meysenbug,IV. 6

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schwermutsvolle Frage: »waren sie es wert, werden sie es würdigen, wird es ihnen nützen?« Alles das ergriff mich tief in der Weltent- rücktkeit dieser Kapelle; ich wandte mich dem gegenüber befindlichen Fresko zu und blieb nicht weniger bewegt davor stehen. Da kniete er am Öelberg, der vor dem letzten Opfer noch einmal zurückbebende Mensch und rang mit seinem Dämon, der ihn zur Entscheidung drängte, und in dem milden, märchenhaften Licht, welches durch das feine Laub der Oliven zitterte, schwebte der Engel heran, der ihm den Kelch der Entsagung und des Todes brachte, aber auch der Verheissung, dass denen, die getreu sind bis an den Tod, die Krone des Lebens werden wird.

Ich beugte mein Haupt vor diesem erhaben- sten Gedicht der Menschheit, und still und be- wegt trat ich durch die kleine Tür in die Sakristei, um fortzugehen. Da standen zwei Passionistenmönche in schwarzer Tunika und schwarzem Skapulier, auf der linken Brust den Namen Jesu und ein kleines silbernes Herz mit einem Kreuz, und sprachen miteinander. Sie sahen erstaunt auf die unerwartete Erscheinung, die da so plötzlich aus dem verschlossenen Innern des Heiligtums hervortrat. Ich aber dachte: Verständet Ihr nur alle den wahren Sinn des Mysteriums, dessen Behüter Ihr Euch wähnt, da würde das Erdenleben zu einem Idyll, wie es mir dieser Morgen war, und die Opfer der erlösenden Liebe vollbrächten sich

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nicht mehr am Kreuz, sondern in schöner Frei- heit von Mensch zu Mensch.

Sehr lebhaft hatten sich mir gerade in den Tagen Betrachtungen darüber aufgedrängt, wie wenig das Ideal christlicher Liebe und Eintracht in jenem Stand, der am ersten dessen Vertreter sein sollte, verwirklicht sei. Gewiss wenn irgend eine Institution der Geschichte den Eindruck einer kompakten Einheit macht, die wie ein organisches Ganze erwachsen zu sein und sich in organischer Ordnung und Harmonie zu be- wegen scheint, so ist es die Hierarchie der katholischen Kirche, und doch ist dies ein voll- kommener Irrtum. Kaum haben sich von jeher irgendwo schroffere Gegensätze, tieferer Hass, schlimmere Verleumdungen kundgegeben, als wie unter den Trägem jener Religion der Liebe, deren Verkündigerin die Kirche ist. Und nicht allein den Lebenden gilt der Streit und der Hass, auch den Toten. Jetzt eben toben beide wieder um eine der edelsten Gestalten, welche der katholische Klerus in der Neuzeit aufzuweisen gehabt hat, um Antonio Rosmini, den philosophischen Denker, in welchem die Würde des wahrhaft apostolischen Priesters ein- mal wieder lebendig geworden war. Er lebte am Lago Maggiore, und in seinem Kollegium empfingen viele der ausgezeichnetsten Männer des damaligen Italiens ihre Bildung und blieben seine Anhänger und Freunde. Die Jesuiten aber machten ihm von Anfang an einen wütenden

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samkeit auf dem Gebiete der Erziehung und der hülfreichen Barmherzigkeit. Sie verschmähen es nicht dem Fortschritt der modernen Wissenschaft eifrig zu folgen, es gibt dort mehrere ausge- zeichnete Gelehrte und das ganze Streben ist auf reine Frömmigkeit im wahren Sinn einer christlichen Kirche gerichtet. Man wird dadurch an die reformatorische Bewegung erinnert, welche in Italien am Ende des XV. und Anfang des XVI. Jahrhunderts stattfand. Möchte es ihnen besser geUngen als den edlen Vorkämpfern jener Zeit, und möchte sich ein Papst finden, welcher ihren Feinden, den Sturmgeistern der Kirche, das Wort zuriefe, das Clemens VEI., müde der ewigen Wühlereien mit denen, deren Vorgänger den Frieden der Welt und die Ruhe der Gewissen störten, diesen zurief: »Aufrührer, Ihr seid die Störenfriede in der Kirche Gottes.«

Ich lebte damals in sehr häufigen und herz- lichen, besonders aber geistig anregenden Be- ziehungen zu einer eifrigen Katholikin, der Fürstin Caroline Wittgenstein. Schon bei meinem ersten Aufenthalt in Rom, in den Wintern der Jahre 64 und 65 (mit den beiden Töchtern Herzens) hatte ich ihre Bekanntschaft gemacht ; wir waren uns aber nicht näher gekommen, obwohl zu der Zeit die damalige römische Gesellschaft sehr mit ihr beschäftigt war, und eine förmliche Partei- nahme für und gegen sie stattfand. Es war der Augenblick, wo nun endlich durch den Tod des Fürsten, ihres Gemahls, alle Hindernisse ge-

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hoben schienen, welche ihrer Verbindung mit Liszt, der grossen Liebe ihres Lebens, entgegen- gestanden hatten. Nur in der Absicht, dieses Eheband, in welchem sie nie Glück gefunden hatte, durch die Kirche lösen zu lassen, war sie nach Rom gekommen und hatte ausdauernd, trotz aller widerwärtigen Erschwerungen, die ihr in den Weg gelegt wurden, und sogar mit mate- riellen, bedeutenden Opfern, ihr Ziel verfolgt. Nun stand sie vor dem errungenen Erfolg. Liszt war auch in Rom, ich sah ihn öfter, so wie einige seiner Schüler, die ihn stets umgaben, und unter denen besonders einer, ein Engländer, mit fanatischer Liebe an ihm hing. Eines Abends fand ein Konzert statt, von römischen Fürstinnen für einen wohltätigen Zweck veranstaltet, in welchem Liszt, grossmütig wie immer, spielte. Am Morgen darauf erschien eben jener Eng- länder bei mir, in grösster Bestürzung und sagte, Liszt sei verschwunden, niemand wisse von ihm, und man furchte, es sei ein Unglück geschehen. Natürlich erregte die Sache das grösste Aufsehen, und in den damals noch so kleinen, geselligen Verhältnissen war von nichts anderem die Rede. Der Schüler war trostlos; nach einigen Tagen jedoch erschien er wieder freudestrahlend ; Liszt war wieder da, nur in der Kleidung eines Abh6 ; er hatte sich aber dem treuen Schüler in die Arme geworfen und gesagt : »Ich bin immer der- selbe.« Im Vatikan, in der Privatkapelle des Kar- dinal Hohenlohe, war die Aufnahme in den geist- lichen Stand vollzogen worden, und unmittelbar

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nachher hatte Pio IX. den neuen Priester em- pfangen, welcher sich ihm mit den Worten vorstellte: »Saint p^re, la moisson est grande, voici un moissoneur de plus.«

Was da vorgegangen war, welche innere Motive diese plötzliche Wandlung am Vorabend der anderen, endlich möglich gewordenen Ent- scheidung, herbeigeführt hatten, blieb der Welt ein Geheimnis, und müssige Neugier bemühte sich vergebens, den Schleier zu lüften, der von den Beteiligten mit grösster Diskretion über den Grund der vollzogenen Tatsache gedeckt war. Man erfuhr nur, dass es der grösste Wunsch der Fürstin sei, dass die Leitung der geistlichen Musik in der Kirche Roms, die mehr und mehr moderner Mittelmässigkeit verfiel und die erhabenen Werke alter Meister vernach- lässigte, Liszt in die Hände gegeben werde. Warum es auch hierzu nicht kam, warum Liszts Stellung zum Vatikan keine sehr günstige wurde, blieb ebenfalls ein Geheimnis für die Welt, .so viele Vermutungen und Gerüchte auch in Um- lauf gesetzt wurden.

Ich stand der Fürstin damals zu fern, um an dieser grossen Krisis ihres Lebens teil- zunehmen, und dann verliess ich Rom für viele Jahre und hörte kaum etwas von ihr. Erst als ich mir Rom zum bleibenden Wohnsitz erwählt hatte, kam ich wieder in Berührung mit ihr, und sie zeigte mir alsbald ein so herzliches Wohl- wollen, und ihre grosse Intelligenz versprach mir so viele genussreiche Stunden, dass ich gern

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der Aufforderung Folge leistete, sie öfter zu besuchen. Sie kam auch häufig zu mir und holte mich im Wagen zu weiten Spazierfahrten in die römische Campagna ab, wobei sie mir interessante und anmutige Erzählungen über ihre polnische Heimat und das dortige Land- volk machte. So sagte sie einmal, als wir selt- same Wolkenbildungen in der Campagna be- wunderten, eine EigentümHchkeit ihres heimi- schen Klimas, namentlich im Süden Polens sei die grosse Elektricität der Luft, und infolge- dessen die auffallend schönen und phantastischen Wolkenbildungen. Da sei es Gewohnheit der Land- leute, in den weiten Grrasebenen auf dem Rücken zu liegen, dem Spiel und Zug dieser Wolken zuzusehen und zu träumen; vielleicht Träume voll Poesie und Glück, als Entschädigung für die nackte, armselige Wirklichkeit,

Sie wohnte in einer sehr bescheidenen möbliert gemieteten Wohnung im dritten Stock, die ziemlich geschmacklos, ohne alle wahre Ele- ganz, wie es damals in den römischen Miet- wohnungen meist der Fall war, ausgestattet war, besonders hingen abscheuliche Bilder aller Art an den Wänden, deren Duldung von Seiten der Fürstin mir unbegreiflich war, da sie einen leidenschaftlichen Kultus für die Kunst hatte, freilich vor allem fiir die Musik. Auch nahm der Flügel einen grossen Platz in dem kleinen Salon ein, in dem sich um das Kamin herum der Versammlungsplatz befand, d. h. der Lehn- stuhl der Fürstin, auf dem sie ihre Besuche

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empfing, daneben ein Tisch stets mit Vasen voll Blumen, oft mit sehr stark duftenden, beladen, welches den Kopf der Fürstin, trotzdem sie mit demselben fortwährend arbeitete, nicht anzugreifen schien; Bücher, Noten, Schriften lagen überall, selbst im Vorzimmer umher, nach occidentalen Begriffen in ziemlicher Unordnung, doch ihr, die jeden Augenblick etwas nachzuschlagen, etwas auszuführen hatte, bequem. Charakteristisch war eine grosse kristallne Bonbonniere, immer mit Chokolade und anderen Bonbons gefüllt, welche dem Besucher sogleich angeboten wurden, nach slavischer Sitte, wie man mir sagte. Das Ganze dieses Raumes sowie auch der übrigen Räume der Wohnung war wirklich weder standes- gemäss noch einfach schön, und als ich später auch mit Liszt nahe genug befreundet war, um mit ihm über dergleichen Dinge zu sprechen, sagte er mir einmal ganz in Verzweiflung, er habe nun endlich in einem bekannten fürstlichen Palast Roms das, was man eine Wohnung nennen könne, für die Fürstin gefunden, und nun sei durch ein Zusammentreffen von Umständen Veranlassung gewesen, für die gegenwärtigen Hausleute der Prinzess Caroline sich sehr dienst- willig und aufopfernd zu erweisen, und da wolle sie nun aus Dankbarkeit das Logis nicht ver- lassen.

Übrigens vergass man auch hald genug die wirklich nicht sympathische Einrichtung, sass man einmal auf einem der Stühle, welche um den der Fürstin herum für die Besucher bereit

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standen, denn wenn sich nicht bald ein bedeu- tendes Grespräch über irgend einen inhaltvollen Cregenstand entspann, so war es sicher die Schuld des Besuchers, und nicht die der Fürstin. Sie war nicht schön, war es nie gewesen und erzählte mir einmal lachend, dass ihre Mutter, eine elegante schöne, den Weltfreuden zugetane Frau, sich betrübt habe, dass sie so hässlich sei, und dass sie ihr zum Trost gesagt hätte, sie solle nur ruhig warten, nach der Auferstehung werde sie wunderschön sein. Übrigens hatte sie eines jener Gesichter, die keine eigentliche Jugend haben und daher oft mit dem Alter eher ge- winnen, und wenn man mit ihr sprach, und der Gegenstand des Gesprächs sie interessierte oder begeisterte, so belebten sich die Züge so aus- drucksvoll und die Augen glänzten so feurig, dass man vergass zu prüfen, ob sie schön sei oder nicht, denn man fühlte sich unter dem Bann einer ausserordentlichen Persönlichkeit, eines ungewöhnlichen Intellekts, welche der äusseren Reize nicht bedurften, um zu fesseln. Doch war sie nicht ganz gleichgültig gegen das, was der äusseren Erscheinung Anmut verleiht, sie kleidete sich meist in helle Farben, und sagte mir einmal, da ich viel schwarz trug, sie habe das früher auch getan, aber dann sei es ihr klar geworden, dass der liebe Gott es nicht wollen könne, da er die Erde so schön mit den Blumen in allen Farben geschmückt habe, und seit der Zeit hatte sie auch alle Farben des Frühlings und Sommers in ihrer Kleidung, be-

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sonders an den flatternden Bändern der übrigens hässlichen Hauben, die sie trug; und ebenso wählte sie ganz besondere Anzüge, wenn sie, was häufig geschah, sich photographieren Hess, z. B. den vier Jahreszeiten gemäss, oder im Wagen, den Blick nach oben gerichtet, um »den letzten Stern zu suchen.«

Aber diese kleinen Koketterien verzieh man ihr gern, um der vielen Vorzüge wegen, welche ihren Umgang von dem gewöhnlichen Alltags- verkehr unterschieden; denn man konnte sehr verschiedener Meinung mit ihr sein, aber das Gespräch wurde nie banal und die Kontroverse blieb, auch wenn sie von beiden Seiten eifrig, ja hitzig wurde, stets in den Grenzen des freund- lichsten, wohlwollendsten Verkehrs. Ihre Bildung war eine universelle, und sie fühlte sich auf keinem Gebiete des Wissens fremd. Sie hatte sich viel mit Schopenhauerscher Philosophie be- schäftigt und unsere Gespräche führten uns oft darauf. Sie war nicht ungerecht gegen ihn, aber sie bestritt seine Ansicht über den Willen, und sagte, der Mensch träte ins Leben mit absoluter Freiheit, zu werden, was er wolle; sie führte mir dabei, da wir meist französisch sprachen, ein Wort der französischen Bibelübersetzung an : »Dieu traita l'homme avec reverence« und mit einem Ausdruck von fast übermütigem Trotz setzte sie hinzu: »Je n'aurai pas voulü son ca- deau de la vie, s'il ne m'avait pas donne la liberte.« Sehr sympathisch war ihr Schopen- hauers Zurückgehen auf indische Weisheit und

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indische Ansichten; auf diesem Gebiet hielt sie ihr Wissen für unfehlbar, und sie wurde fast böse, als ich sagte, ich glaube gar nicht, dass das Nirvana das absolute Nicht-mehr-Sein be- deute, sondern dass es vielmehr den seligen Zu- stand der Erlösung von der Welt der Sansara und die Wiedervereinigung mit Brahm, mit der Gottheit ausdrücke. Das bestritt sie mir absolut und sagte, es sei entschieden das Nichtsein, da das Sein den Indern ja als eine Schuld, als etwas zu Verneinendes erschienen sei. Ebenso- wenig wie hierüber aber bekehrte sie mich zu Ansichten auf andern Gebieten, besonders dem religiösen, so gern ich mich von ihr über theo- logische Dinge belehren liess, die mir bisher gänzlich fern gelegen hatten und unbekannt ge- blieben waren, in denen sie aber gründlich unter- richtet war und die sie mit einer eignen Innig- keit und Wärme vortrug, so dass man fühlte, sie wollte dafür gewinnen. Ob sie, wie man es von ihr sagte, überhaupt gern Proselyten machte, weiss ich nicht, aber gewiss ist, dass sie es bei mir versuchte und zwar mit einer Ausdauer und einem Eifer, die mir nur bewiesen, dass sie mich aufrichtig liebte, wodurch ihr Wunsch gerechtfertigt erschien, meine Seele hin- über zu retten in den Schoss der allein selig- machenden Kirche. Einmal in der Fastenzeit, wo gewöhnlich Prediger aus anderen Orten in den römischen Kirchen predigen, forderte sie mich auf, mit ihr in die Kirche S. Luigi de' Francesi zu gehen, wo eben der Bischof Mer-

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millod, welcher aus der Schweiz fort gemusst hatte, die Fastenpredigten hielt. Ich ging mit ihr und fand die Predigt durch einige fein aus- geführte Gedanken anziehend. Das freute die Fürstin, und nach einigen Tagen erhielt ich eine Einladung zu ihr zu kommen, um den Bischof Mermillod, welcher da sein werde, kennen zu lernen. Da ich wusste, dass derselbe mit meinen katholischen Verwandten in Wien viel verkehrt hatte, war es mir angenehm, seine Be- kanntschaft zu machen, und ich ging hin. Sein Äusseres und seine etwas hochmütige Art zu sprechen und zu fragen, nahmen mich nicht für ihn ein, aber der Fürstin zuliebe ging ich freimütig darauf ein, seine Fragen zu beant- worten, die sehr inquisitorisch forschten, warum ich mich den Überzeugungen meines katholisch gewordenen Bruders in Wien nicht angeschlossen habe. Nach einiger Zeit entfernte sich die Fürstin und liess uns allein, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass er nun direkter auf das Ziel losgehen sollte. Er sagte denn auch gleich, es komme eigentlich nur auf drei Fragen an, welche schon Bossüet einem Engländer, der ihn um Rat fragte, als das Wesentliche vorgelegt habe, zuerst die Frage, ob man an Gott glaube, zweitens ob man an Christus glaube, und drittens, und das sei das Wesentlichste ob man an die Kirche glaube. Darauf sagte er, er werde mir Bücher schicken, und ich solle ihm freimütig Rechenschaft geben von dem Ein- druck, den sie mir gemacht hätten. Als die

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Fürstin wieder eintrat und nach dem Resultat unserer Unterredung fragte, sagte er mit zuver- sichtlichem Lächeln: »Das wird schneller gehen als Sie denken« und ging. Die Fürstin, in einem Sturm des Entzückens, ergrifl, ehe ich es mich versah, den Saum meines Kleides und küsste ihn, und als ich ganz erschrocken rief: »Aber Fürstin, was tun Sie?« sagte sie mit wirklich freudestrahlendem Angesicht: »Der Gedanke, mit Ihnen an den Altar zu treten, ist zu schön und riss mich fort.« Ich dankte ihr gerührt für ihre Liebe, ging aber bekümmert fort, da ich wusste, dass ihr auch jetzt, wie schon bei allen früheren Versuchen, die bittere Enttäuschung bevorstand.

Am folgenden Tag war Mermillod bei mir gewesen, hatte mich nicht getroffen, aber ein Paket Bücher gelassen: die Predigten Lacor- daires und das Leben der Mme. Seton, einer konvertierten Amerikanerin, welche ihr Leben nach ihrer Bekehrung ganz der Arbeit für ihre leidenden Mitmenschen gewidmet hatte. Nach- dem ich die Bücher gelesen hatte, sandte ich sie zurück und schrieb dabei an Mermillod:

»Ich habe die Reden des p^re Lacordaire sowie das Leben von Madame Seton mit dem grössten Interesse gelesen. Ich neige mich immer vor den Worten und vor einem Leben, welche den Opfern der erbarmenden Liebe, die der Tod des Egoismus ist, geweiht sind. Ich bewundere alles, was den Menschen über seine engere Sphäre erhebt, sei es der Schwung des

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Gedankens zu den höchsten Anschauungen, sei es die Tat des Herzens und des reinen Mitleids. Ich bestätige voll Glück meinen Glauben daran, dass wir in uns einen Funken jenes ewigen Lichts tragen, welches im Grunde des Seins leuchten muss, und welches unsere schwachen Sinne nur von ferne ahnen können. Ich erkenne es als unsere höchste Pflicht, diesen Funken in uns zur Flamme werden zu lassen und das Göttliche in uns zu verwirklichen, das sich auch in einem Jeden von uns inkarniert hat. Aber wovon ich nicht überzeugt worden bin und es nie sein werde, das ist die Annahme, dass die Wahrheit ein für allemal gegeben sei, und dass eine dogmatische Kirche sie fiir immer um- schliesse. Ich glaube im Gegenteil, dass die Wahrheit in ewigem Wachsen sei und eine Hülle nach der anderen abwerfe, um immer vollkommenere Blüten und Früchte zu tragen.« Natürlich hörte ich darauf nichts mehr von Mermillod und auch die Fürstin schwieg voll- kommen über das Vorgefallene, von dem sie ohne Zweifel unterrichtet war. Aber sie ihrer- seits liess nicht ab, ihr Ziel zu verfolgen. Ein- mal, wo wir wieder eine längere Unterredung über die Vorzüge der katholischen Kirche ge- habt hatten, und ich gern gestand, dass ich sie als Organisation bewunderungswert finde, und dass ich mit Verehrung anerkenne, wie sie der erste Versuch gewesen sei, die Menschheit durch ein geistiges ideales Band zu einer Gemeinschaft zu vereinen, forderte sie mich geradezu auf.

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mich derselben anzuschliessen. Ich sagte, halb scherzend, um der Dringlichkeit des Versuchs, die unserem guten Verhältnis leicht hätte schädlich werden können, zu entgehen: »Aber ich brauche doch die Kirche, von Menschenhänden gemacht, nicht, um meinen Gott zu verehren; ich tue es draussen in seiner grossen herrlichen Kirche, wo er offenbar wird in der Schönheit jeder Blume, im Vogelsang, in Goldwolken, wo ihn seine Schöpfung preist mit Worten, wie sie kein menschlicher Mund je gesprochen.«

»Nein, meine Liebe,« sagte sie, »es ist ge- rade in der Kirche, wo er sich besonders offen- bart. Kommen Sie ihr nur näher, so werden Sie es selbst erfahren.«

Es kamen dann lange Pausen, in welchen dieser Gegenstand der Unterhaltung vollständig ruhte, denn sie war zu geistvoll, um nicht zu verstehen, dass ein lebhafteres Drängen nach dem ersehnten Ziel mich ermüden und schliess- lich von ihr entfernen werde; ich war ihr dankbar dafür, denn ich hatte eine aufrichtige Anerkennung für ihre grossen Eigenschaften, und der geistige Verkehr mit ihr war mir ge- nussreich und wert. Oft begegnete ich auch interessanten und gelehrten Leuten bei ihr, so u. a. mehrere Male dem Grafen Schack, der uns Gedichte von sich vorlas, und obwohl er mir nicht den bedeutenden Eindruck machte, den ich erwartet hatte, doch manches sagte, was mich interessierte. Einmal sah er auf dem Tisch der Fürstin die »Memoiren einer Idealistin«

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liegen, nahm das Buch und schlug es auf, wo gerade ein Kapitel anfing, über welchem geschrieben stand: »Mazzini.« Er steckte es darauf ohne weiteres in die Tasche und sagte: »Oh, das will ich lesen, dem Manne bin ich begegnet und habe mich lebhaft für ihn interessiert.« Später erzählte mir die Fürstin, er habe das Buch für seine Bibliothek gekauft, obgleich er im allge- meinen ein Gegner der Schriftstellerei von Frauen war. Eine andere Persönlichkeit, die ich dort kennen lernte, und welche mir die tiefste Sym- pathie einflösste, war der gelehrte Benediktiner- mönch Padre Tosti von Monte Cassino, von dem ich schon durch Gregorovius, der sich lange seiner Studien wegen in dem Kloster aufhielt und den Tosti sehr ehrte, gehört hatte. Die milde, liebenswürdige Persönlichkeit des greisen Priesters zog mich auf das innigste an, ganz eingenommen aber wurde ich für ihn durch ein von ihm selbst verfasstes episches Gedicht, welches er der Fürstin mitzuteilen versprochen hatte und bei dessen Lesung er auch mir freundlich er- laubte, gegenwärtig zu sein. Das Gedicht war von so hoher Schönheit, dass die Fürstin und ich gleich hingerissen davon waren; danteskische Grösse der Naturbeschreibung, ergreifende Schil- derung der Leidenschaft und himmlische Ver- klärung idealer Liebe, alles tönte aus dem Munde dieses Greises, doppelt rührend und er- haben. Als er geendet hatte zu lesen, fragte ich ihn, ob das Gedicht gedruckt würde und sprach die Hoffnung aus, dass dem so sein möge.

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Der alte Priester lächelte und sagte, dass es nie gedruckt werden dürfe, da es ihn in den Bann der Kirche tun würde.

Den grössten- Freund der Fürstin aber, den sie über alles liebte, und dem sie einen tiefen, ewigen Kultus in ihrem Herzen geweiht hatte, den grossen Künstler Franz Liszt, sah ich nur selten dort, freilich durch Zufall, denn er kam jedes Jahr nach Rom und war dann täglich bei ihr. Zuweilen aber traf ich ihn doch da, so u. a. einmal am Tage San Carlo, wo ich hin- gegangen war, der Fürstin Caroline, als an ihrem Namenstag, den man nach katholischem Gebrauch feierte, einige Blumen zu bringen. Liszt kam bald nach mir, fragte, ob sie seine Blumen er- halten, und erzählte uns, dass, als er früh am Morgen über den spanischen Platz gegangen sei, mehrere der Knaben, die dort mit grossen, blumengefüllten Körben auf dem Kopf einher gehen, ihm zugerufen hätten : »Signor Francesco, h la San Carlo, bisogna portar fiori lä<, indem sie nach der Strasse gedeutet hätten, wo die Fürstin wohnte. Liszt lachte herzlich über seine offenbare Popularität unter diesen halb naiven, halb schlauen Verkäufern des Schönsten, was die Erde gibt, und ich lachte mit ihm, da auch ich diese so anständige Vertraulichkeit des italienischen Volks, die mehr das Gefühl der Gleichberechtigung als wie Zudringlichkeit ist, kenne und liebe. Die Fürstin hingegen war bestürzt und sagte fast beschämt, man habe ihr nur gesagt, es seien die Blumenverkäufer der

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Piazza draussen, und da sie ihren Gärtner habe, der an bestimmten Tagen Blumen bringe, so habe sie gesagt, man solle sie wegschicken. Es war ihr augenscheinlich sehr leid, ja höchst peinlich, so die Absicht des Freundes vereitelt zu haben und es rührte mich die fast demütige, schüchterne Art ihres Benehmens dem verehrten Manne gegenüber zu sehen, sie, die sonst so selbstbewusst, so sicher anderen gegenübertrat. Nur einmal hörte ich ihn bei ihr spielen, wobei sie in Andacht versunken zuhörte. Ich hörte ihn aber oft in jenen Jahren in einigen anderen Häusern, besonders bei einer liebenswürdigen jungen Russin, wo sich ein kleiner, auserwählter Kreis zu musikalischen Aufführungen regelmässig zusammenfand, und sein Spiel erschien mir in seinen vorgerückten Jahren noch unendlich viel bedeutender, als in den Zeiten seiner grossen Konzerterfolge, wo ich ihn auch gehört hatte. Es war eine Ruhe, eine Seelentiefe, gleichsam eine Verklärung über dieses Spiel gekommen, das auch dem Instrument seine Beschränktheit nahm und ihm einen Zauber verlieh, wie ich es bei keinem der vielen grossen Pianisten, welche ich hörte, in dem Grad wiedergefunden habe.

Die Fürstin sprach mir oft von dem einzig geliebten Freund, immer mit der gleichen be- geisterten Verehrung, nie kam ein Wort der Klage über ihn von ihren Lippen, welches den Gerüchten hätte Recht geben können, die ohne Aufhören von müssigen, nach Effektgeschichten haschenden Köpfen über die Vergangenheit und

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die tragischen Episoden dieses Verhältnisses in Umlauf gesetzt wurden. Nur einmal, in einer besonders gerührten und intimen Gesprächen geweihten Stunde, kam sie dazu, mit Offenheit über die herbste Epoche ihres Lebens zu sprechen und den Schleier zu lüften, der ein tief ver- wundetes Herz bedeckte; nie kam ein solcher Augenblick wieder und das absolute Schweigen und die völlige Resignation einer stolzen Seele bildeten allein den Hintergrund der Beziehung zu dem Freund, welche dem Publikum kund wurde. Ebenso war es aber auch von selten Liszts ein nie endendes Beweisen seiner An- hänglichkeit und verehrenden Freundschaft, welches er bis an das Ende aufrecht erhielt. Als er das letzte Mal nach Rom kam und mich zu besuchen bei mir eintrat, rief ich ihm ent- gegen: »Es ist doch schön, dass Sie Rom treu bleiben.« Da sagte er mit der fast bitteren Be- stimmtheit, die er zuweilen bei seiner sonst so sanften Art zu reden hatte: »Es ist für eine Person, dass ich komme, sonst setzte ich den Fuss nicht mehr hierher.«

Was die Fürstin trotz der herben Erfahrungen ihres Lebens aufrecht hielt, das war ausser der Religion die Arbeit. Sie schrieb unausgesetzt und häufte Band auf Band meist theologischen Inhalts, aber auch anderen Gegenständen, poli- tischen und künstlerischen, gewidmet. Es war das auch einer der Gründe, welcher sie in ihrer bescheidenen Wohnung festhielt, denn sie hatte da die Druckerei und den Raum, in welchem

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ihre Bücher niedergelegt wurden, ganz in der Nähe. Zuweilen gab sie mir kleinere Aufsätze über diesen oder jenen Gegenstand zu lesen, aber während ihre Unterhaltung stets anregend voller Leben und Geist war, fehlte ihren schriftlichen Äusserungen Klarheit des Gedankens und Anmut der Form; die Schwerfälligkeit des Styls er- müdete und schreckte ab vom Lesen. Ihr grösstes Werk jedoch, »Über die inneren Gründe der äusseren Schwäche der Kirche«, sollte erst viele Jahre nach ihrem Tode veröffentlicht werden, und sie sagte mir einmal, als sie davon sprach: »Oh, in 50 Jahren etwa werden die Herren da oben sagen, die Frau hatte doch recht.« Denn sie wusste sehr wohl, dass man ihr in den höchsten Regionen der Kirche Opposition machte. Früher noch, unter dem Pontifikat von Pio IX. war sie, besonders mit Antonelli sehr befreundet, im Vatikan gewesen, ja dieser Papst hatte sogar ein Wunder an ihr vollzogen. Sie litt zu der Zeit sehr an den Augen, und eines Tages, als sie sich in einer Privataudienz beim Papst be- fand, liess sie sich auf die Kniee vor ihm nieder, ergriff seine Hände, legte sie auf ihre Augen und bat ihn, sie zu heilen. Sie blieb so einige Mi- nuten. »Ich weiss nicht, was der Papst machte«, sagte sie, »aber ich glaube, er betete; dann seg- nete er mich und als ich nach Haus zurück kam und zu arbeiten versuchte, fand ich meine Augen gesund, und sie sind es bis auf diesen Tag ge- blieben.« Das musste nun ob durch Wunder oder nicht wohl so sein, denn sie arbeitete

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meist bis spät in die Nacht hinein, und am Tag, wenn man zu ihr kam, glänzten ihre Augen so feurig im Lauf der Rede, dass man sah, sie litt nicht daran.

Seit vielen Jahren schon verliess die Fürstin Rom nicht mehr, auch nicht im Sommer und wenn ich im Herbst von meinen nun zur Regel gewordenen Reisen durch Deutschland nach Frankreich zu Olga zurück kam, sagte sie mir immer, ich täte unrecht, so viel Kraft wegzu- geben, im Alter müsse man nicht mehr reisen und sich konzentrieren auf das Innenleben und die Arbeit, so sei das Alter die glücklichste Zeit des Lebens. Und bei ihr war das anscheinend wenigstens zur Wahrheit geworden; es umgab sie wie eine Aureole von Freudigkeit und Frieden, welche sie nicht hinderte, lebhaft teilzunehmen an allem, was die Aussenwelt bewegte, und be- sonders an den Schicksalen und Erlebnissen ihrer Freunde. Die letzten Jahre jedoch nahm ihre Gesundheit sichtlich ab und sie verliess ihre Wohnung nicht mehr, weder im Sommer noch im Winter. Im Herbste 1886 kehrte ich mit einem bangen Gefühl zu dem Wiedersehen mit ihr nach Rom zurück, denn im Juli des Jahres war Liszt in Bayreuth während der dort statt- findenden Aufführungen gestorben. Ich fand sie stiller als sonst, äusserlich gealtert und mehr wie je an ihr dumpfes, jedem frischen Luftzug verschlossenes Zimmer und an ihren Lehnstuhl gebannt. Ich sah es gleich, dass auch ihre Lebensflamme dem Erlöschen zueilte ; das Leben

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hatte seinen Wert für sie verloren, Liszt hatte prophetisch gesprochen, denn er hatte einmal geäussert, dass er überzeugt sei, sie werde ihn nicht überleben. Nach einigen Wochen wurde sie völlig bettlägerig und sah nur noch wenige Menschen. Ich gehörte zu diesen und verbrachte noch manche Stunde vor ihrem Bett. Jetzt sprach sie mir viel von dem geschiedenen Freund, und ich sah, dass sie glücklich war in der Hoffnung baldiger Wiedervereinigung. Sie hatte immer die Gewohnheit gehabt, mir, auch in derselben Stadt lebend, viele und lange Briefe zu schreiben und auch jetzt noch vom Krankenlager aus erhielt ich deren häufig, so einen, wo sie nur von ihm und der Hoffnung sprach, ihn wiederzufinden und mit den Worten schloss : »Er lebt ja er lebt, denn er liebte Jesus Christus.« Als ich dann wieder noch einmal länger bei ihr gesessen hatte, fragte sie plötzlich: »Ach, Liebe, warum wollen sie nicht an die Gottheit Christi glauben?« Ich sah, es war ihr noch ein Herzenswunsch, dies letzte Werk der Bekehrung zu vollenden, und es schmerzte mich wahrhaft, ihr in diesen Abschieds- stunden noch die bittere Enttäuschung bereiten zu müssen. Ich schrieb ihr daher am folgenden Tag und bat sie liebevoll, dies Thema nicht mehr zu berühren, da ich doch nicht gegen meine Überzeugung handeln, sie nicht mit einer falschen Hoffnung hinhalten könne und es mir schmerzlich sei, ihr immer nein sagen zu müssen. Ich erhielt eine Antwort, in der ich wohl her- aus fühlte, wie sie enttäuscht sei, aber ich ver-

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stand es ja, dass es ihr bitter sein musste, diesen Wunsch nicht erfüllt zu sehen, in welchem ich doch nur einen Beweis ihres innigen Anteils an meinem Heil erkennen konnte. Einige Tage wurde ich verhindert, zu ihr zu gehen, hörte auch, dass ihre Tochter gekommen und sie also nicht allein sei. Doch hatte ich nun bestimmt vor, am lo. März 1887 zu ihr zu gehen, als ich am 9. abends ein Billet von einer Bekannten erhielt, welche mir schrieb, dass die Fürstin ge- storben sei. Ich eilte am folgenden Morgen hin, konnte sie aber nicht mehr sehen.

In der sympathischen Kirche Santa Maria del Popolo war die Totenfeier. Der Kardinal Hohenlohe vollzog die Messe, und es wurde ein Requiem von Liszt aufgeführt. Ich war dort mit Frau Minghetti, und als der Kardinal den Sarg einsegnete, der die sterbliche Hülle umschloss, sagte ich ihr in meinem Herzen ein gerührtes Lebewohl. Als wir aus der Kirche traten, kam Monsieur Herbert, damals noch Direktor der französischen Akademie in der Villa Medici, der mit der Fürstin befreundet gewesen war, uns zu begrüssen, und sagte: >Oui c'etait quelqu'un!« Das war das rechte Wort; ja Fürstin Caroline Wittgenstein war jemand, und von wie wenig Menschen kann man das sagen.

Gedachtes.

Eben schrieb mir mein alter zweiundneunzig- jähriger Freund über das schmerzliche Ach am Ende des rätselvollen Lebens. Mein schmerz- liches Ach wird nur der einen gelten, in deren Leben mein Scheiden die tiefe Lücke reisst. Sonst freue ich mich des Endes. War es der Zufall, welcher das bunte Wechselspiel des Da- seins veranlasste, so habe ich ihm getrotzt, indem ich mir ein Ziel vorsetzte und mutig nach einer vernünftigen Ordnung der Lebensaufgabe strebte ; und ist im Grrund der Schöpfung ein erhabenes Geheimnis, so habe ich mich vorbereitet, es zu verstehen.

Der Dichter lebt zwei Leben, eines für sich, eines für die Welt. Wehe der Frau, die ihn liebt, das nicht versteht und eifersüchtig ist auf diese Teilung. Sie wird den Genius brechen, oder ihr eigenes Herz.

Der Geist vom Ende dieses Jahrhunderts, der industrielle Geist, bemächtigt sich sogar des

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Schönen in der Natur für seine Zwecke, und verhässlicht jene. So hörte ich kürzlich, man habe ein reizendes Wäldchen am Meeresstrand bei Antibes abgehauen, um Felder mit Blumen, zum Verkauf in Nizza und Toulon, zu bepflanzen.

Hochnäsige Duldung, Philistertugendstolz, die kann ich nicht ertragen. Güte, Aufrichtigkeit, Gleichheit der Gesinnung oder stolze Ebenbürtig- keit, das verlange ich in Beziehung zu andern.

Eine sehr schlimme Art der Koketterie be- ruht auf dem Reiz, bis an die äusserste Grenze des Versuchbaren zu gehen, und sich dann kalt vor dem letzten Schritt zurückzuziehen. Es ist die Koketterie der Neugierde, der Vivisektion der Gefühle, Man gibt Gift, um zu sehen, wie der andere zappelt und sich vor Schmerzen krümmt. Diese Sucht der Gefühlsanatomie findet sich häufig bei den Frauen der sogenannten »guten Gesellschaft«, welche ihre Stellung nicht verderben, sich nicht kompromittieren wollen, es aber sehr lieben, in andern zu experimentieren und leicht bewegliche Naturen vorwärts zu trei- ben, um, mit der Lorgnette vor den Augen, zu- zusehen, wie gewisse Gifte wirken. Diese raffinierte Verderbtheit der Seele ist eine der hässlichsten Erscheinungen unter den Gebrechen der modernen Gesellschaft. Sie schon in einem jungen Mädchen zu finden, ist über alles Mass schmerzlich und empörend.

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Dir Frauen der »grossen Welt«, eure Liebe gleicht Irrlichtem, die über Sümpfen tanzen. Wehe dem, der diesen lockenden Lichtern folgt I Dir kennt die wahre Liebe nicht, denn ihr denkt nie an den Mann und seine Qual; ihr denkt nur an euch selbst.

Es ist erschreckend, mit welcher Leichtigkeit die Frauen in Italien sich preisgeben und die Forderung, dass der Körper der Tempel einer keuschen Seele und daher selbst unentweiht sein soll, gar nicht verstehen. Auch ist es unbegreif- lich, warum sie sich so schwer entschliessen, den Geschlechtsfreuden zu entsagen, da diese im Alter doch geradezu widerwärtig sein müssen, weil ihr Zweck, die Fortsetzung der Gattung, nicht mehr erreicht werden kann. Der Ersatz für das Alter ist ja die Geschlechtslosigkeit, die Ruhe vom Verlangen, die Annäherung zum reinen Geistsein, die zweite Jungfräulichkeit der Seele. »Und jene himmlischen Gestalten, sie fragen nicht nach Mann und Weib.«

Duclos, ein französischer Moralist des XVIIL Jahrhunderts, sagte von den frivolen Frauen seiner Zeit: »Ces femmes qui donnent ä Dieu ce que le diable ne veut plus«. Welche ent- setzliche Kritik, und wie wahr auch noch heut- zutage.

Die italienischen Frauen haben etwas, das zugleich ein Vorzug und ein Mangel ist : die

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grosse Natürlichkeit in betreff natürlicher Dinge, die sie einerseits von der Prüderie der Frauen des Nordens freihält, ihnen andererseits aber auch sehr oft die edle Scham nimmt, welche die dem tierischen Leben angehörigen Vorgänge mit einem Schleier bedeckt, den man auch den Schleier des vornehmen sittlichen Gefühls nennen könnte.

Es gibt zwei Arten des Daseins für eine illegitime, aber grosse, wahre Liebe: frei und offen am Licht des Tages, oder, wenn die um- stände es nötig machen, tiefes, keusches Ge- heimnis. Aber das Hineinziehen von Unbetei- ligten, das Besprechen und Verhandeln eines solchen Gefühls mit andern, ausser dem einen, der es am ersten wissen müsste, dem legitimen Gatten ist verächtlich.

Der heilige Augustin hat gesagt: »Si vous epousez une femme perdue, vous faites une bonne actione Das klingt beinah wie eine Vorrede zu Alexandre Dumas.

In der alten Welt glaubten die Frauen wirk- lich, Umgang mit Göttern gehabt zu haben. Es war ihnen nicht etwa ein Märchen, eine Lüge, es war ihnen Wirklicheit. Welcher herrlichen Art mussten die »Wanderer« sein, die ihnen so erschienen ! Und welchen Einfluss musste es auf die Kinder haben, die gleich als Halbgötter ge- boren wurden I Wie prosaisch die armen Frauen

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der Jetztzeit, die in keines Gotte^ Umarmung mehr erwarmen!

Gastfreundschaft war eine der schönsten grie- chischen Eigenschaften. Bettler und Fremde waren ihnen von den Göttern gesendet. Homer sagt, man müsse die Bettler ehren, weil sie viel- leicht einen Gott verhüllten. Welche grosse Zeit, wo man das Gröttliche auch in der elendesten Grestalt sich nahe glauben konnte.

In der Antigone sehe ich das unleugbare Zeugnis, dass, wenn die Griechen im täglichen Leben der Frau eine untergeordnete Stellung anwiesen, die Dichter wenigstens das höchste Ideal von ihr hatten. Wie kann man sich ein edleres Wesen vorstellen als Antigone, die allen Grefahren Trotz bietet, um die ideale Pflicht zu erfüllen, die Pflicht, welche die innere Stimme den auserwählten Naturen gebietet, und welche nur zu oft mit dem absoluten, äusseren Gesetz im Widerspruch steht. Der Unterschied zwischen dem idealen Menschen, der gegen das Gesetz handelt, um recht zu tun, und dem Pflicht- menschen, der das Gesetz buchstäblich befolgt, und dabei im höheren Sinn unsittlich handelt, ist nirgends erhabener dargestellt, als in Anti- gone und Kreon. Das ist eine der ewigen Schöpfungen, welche einen Konflikt malen, der sich so lange wiederholen wird, wie die Gre- schichte der Menschheit dauert. Die Antworten

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Antigenes an Kreon enthalten alles, was den Menschen adelt und ihn unter die Sterne ver- setzt. Was könnte der heutige Mensch, der für die Freiheit kämpft, der Tyrannei, die sich hinter das Gesetz versteckt. Besseres erwidern? Dass der Dichter eine Frauengestalt wählte, um den Kontrast darzustellen, ist gewiss ein Beweis^ dass in den kunstgeweihten Seelen der Griechen das schönste Ideal der Frau lebte. Ausserdem braucht man auch nur an die Minerva zu denken^ in deren Antlitz sich die höchste Majestät des Gedankens mit der vollendeten Schönheit der Form verbindet, um zu begreifen, dass nicht nur die Dichter, sondern auch die Künstler Griechen- lands die Frau darstellten, wenn sie der höchsten Vereinigung menschlicher Eigenschaften Ausdruck geben wollten.

Alle grossen Dichter, auch späterer Zeiten, haben in der ethischen Welt das Weibliche am höchsten gestellt, so Dante, Goethe u. a. Die dichtenden Völker taten es auch: Athene, Jungfrau Maria etc. In den meisten Sprachen ist Weisheit weiblich, also die höchste Potenz des Geistig-Ethischen, das Erlösende; ebenso die Erlösung.

Vor vielen Jahren noch in England, als die Bewegung zur Emanzipation der Frau einen immer stärkeren Ausdruck fand, erschien dort ein neues Journal, diesem Zweck geweiht, und die Redaktion wendete sich an mich um Bei-

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träge. Ich schrieb damals in Antwort: »Niemals vielleicht hat eine Idee des Fortschritts solch ein plötzliches Ins-Leben-Treten, solch ein Er- wachen an den verschiedensten Orten zu gleicher Zeit gehabt, wie diejenige, für welche ihr Jour- nal sich zum Organ macht. Früher pflegte es nur eine Inkarnation des neuen, reformatorischen Gedankens zu geben, einen Propheten, einen Reformator, welcher das Wort sagte, das dann hinausging in die Welt, sich seine Existenz zu erkämpfen. So ist es heute nicht mehr; der heilige Geist ist auf viele herunter gekommen, und die menschliche Gesellschaft strebt danach, das grösste aller Prinzipien zu verwirklichen, welches vom Anbruch der Zeiten an der Traum aller einsamen Denker gewesen ist, der Stern des Orients, der sie führte, die Glorie der Welt in einer einsamen Hütte zu suchen. Dieses Prinzip, welches einst das geheime Losungswort für die Freunde der Menschheit geworden war, die das Gute vor den Augen des Bösen, welches die Welt noch regierte, verstecken mussten, und welches jetzt in das Tageslicjit hervortritt und seine Ver- wirklichung in allen Richtungen fordert: das Prinzip der Gleichheit, gleichbedeutend mit Gerechtigkeit.«

Für Gedanken gibt es kein Herrscherwort: sie schlüpfen vom Geist in den Geist hinüber, wecken da die Schlummernden, werden zu Stahl und Eisen im Blut, drängen hinaus zum Schwert in der Hand, und ruhen nicht eher, bis sie eine

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Macht geworden sind, die zur Tat fortschreitet, und erst wenn sich Despotismus und Demokratie im offenen Felde gegenüberstehen, wenn es keine Wahl mehr gibt, als zwischen diesen Zweien, dann erst wird die Stunde der Entscheidung gekommen sein. Dann erst ist es ein ehrlicher Kampf, denn dann erst weiss man, wofür und gegen was man kämpft, und dann erst werden die Waffen, auf deren Seite die neue Welt- entwicklung liegt, den Sieg erringen.

In einem der schönsten Kapitel der »Kultur der Renaissance« bespricht Jacob Burckhardt die Zunahme wahrhaft ausgebildeter Menschen im fünfzehnten Jahrhundert, das harmonische Aus- runden ihres geistigen und äusseren Daseins, die Vollendung der Persönlichkeit. Er führt die Worte eines der Grössten jener Zeit, eines Ur- bildes des uomo universale an, welcher sagt: »Die Menschen können von sich aus alles, wenn sie nur wollen. Mitten in die Welt habe ich dich gestellt, spricht der Schöpfer zu Adam, damit du um so leichter um dich schauest und sähest alles, was darinnen ist. Ich schuf dich als ein Wesen, weder irdisch noch himmlisch, weder sterblich noch unsterblich, allein, damit du dein eigner freier Bildner und Überwinder seiest; du kannst zum Tier entarten und zum gottähnlichen Wesen dich wiedergebären. Die Tiere bringen aus dem Mutterleibe mit, was sie haben sollen; die höheren Geister sind von

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Anfang an oder bald hernach, was sie in Ewig- keit bleiben werden. Du allein hast eine Ent- wicklung, ein Wachsen nach freiem Willen, du hast Keime eines allartigen Lebens in dir.«

Wenn man solche Worte der Leo Battista, der Alberti, Pico und anderer ihrer edelsten Zeitgenossen erwägt, dann fragt man sich, wie viele unter den Nachgebornen, Lebenden dieses Bildungsideal verwirklicht haben? Unsere moderne Bildung ist mehr in die Breite gegangen, umfasst mehr Gregenstände des Wissens, aber sie hat sicher, im Vergleich mit jenen, an Tiefe ver- loren, an dem inneren Grund, dem die Blüte der wahren Schönheit entwächst.

Auch Burckhardt sagt: »Laut genug pflegt auch unser laufendes Jahrhundert den Wert der Bildung überhaupt und den des Altertums insbesondere zu proklamieren. Aber eine voll- kommen enthusiastische Hingebung, eine An- erkennung, dass dieses Bedürfnis das Erste von allen sei, findet sich doch nirgends, wie bei jenen Florentinern des fünfzehnten und An- fang des sechzehnten Jahrhunderts.«

Es muss wohl den Menschen ein tief inne- wohnendes Bedürfnis sein. Feste zu feiern, denn von den ältesten Zeiten an haben sie besondere Tage ausgezeichnet und ihnen eine andere Bedeutung gegeben als den übrigen. Diei^f nächste Veranlassung hierzu mag das Be- dürfnis der Ruhe gewesen sein. Das Leben verpflichtet den Menschen zur Arbeit, seine

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Neigung ladet ihn zum Genuss ein. Tiefsinnige Gesetzgeber, wie Moses z. B., begriffen dies ; und das: »Sechs Tage sollst du arbeiten und den siebenten sollst du ruhen« war ein auf die Be- dürfnisse der menschlichen Natur gegründetes Gesetz. Bei dem lebensfrohsten Volk der alten Welt, den Griechen, führte dies Bedürfnis eine Menge festlicher Tage herbei, an welchen das künstlerische Volk sich seiner Kraft und Ge- schicklichkeit, seiner Dichter und Sänger, ja seiner Götter freute. Ihm musste selbst noch der tragische Schluss des Lebens, der Tod auf dem Schlachtfeld, ein festliches Gepräge haben, sie kämmten und bekränzten sich dazu wie zu einem Fest. Der Kultus aller Religionen baute auf dies Bedürfnis, indem er eine Menge Fest- tage einsetzte zu Ehren der Götter oder Gottes, an welchen die Menschen sich inniger in die Nähe der Unsichtbaren versetzen und eine ver- trautere Gemeinschaft mit ihnen pflegen sollten. Ganz besonders tat dies die katholische Kirche, und es ist das ohne Zweifel ein grosses Mittel ihrer Macht gewesen und ist es noch. Dies Be- dürfnis, in Gemeinschaft mit andern Stunden und Tage festlich zu begehen, wird auch bleiben, wenn viele der gewesenen Feste ihre Bedeutung verloren oder gewechselt haben. So wie das Weihnachtsfest ursprünglich der Feier des wieder- kehrenden Lichts geweiht war, und wie das Osterfest sogar von den alten Frühlingsgöttem den Namen beibehielt, und nichts war als Früh- lingsfest, bis sie dann beide in den christlichen

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Kultus übergingen, so wird vielleicht eine neue Zeit ihnen ihre ursprüngliche Bedeutung zurück- geben. Wenn die Sonne uns hinauslockt auf neu ergrünte Wiesen, wo die ersten Veilchen uns entgegenduften, warum sollten wir nicht ein heilig schönes Fest in Verehrung der all- gewaltigen Schöpfungskraft der Natur feiern, die uns an ein ewiges Dasein glauben lehrt, indem sie immer von neuem den Tod in Leben ver- wandelt und aus der scheinbaren Verwesung strahlende Schönheitsformen hervorgehen lässt? Wenn die Menschheit einmal wieder die jetzige Phase ihres Entwicklungskampfes bestanden hat, so kann man mit Recht hoffen, dass eine Zeit neuer Blüten kommen wird, wo das ästhetische, künstlerische Bedürfnis neue Feste schafft, reicher und schöner als alles Dagewesene, weil sie einem neuen, reicheren und schöneren Zustand der Ge- sellschaft entsprechen.

Wenn nur erst die Einsicht, dass dieses Leben nichts ist als Erscheinung des Seins, mehr verbreitet sein wird, wie viel falscher Wahn, wie viel törichte Sucht und Begierde werden alsdann aufhören ! Durch das Schöne und Ehrwürdige das religiöse Gefühl wecken, welches in seinem tiefsten Grund nichts anderes ist als die Ahnung des Idealen, Vollendeten, das ist Aufgabe der Erziehung, aber ohne Kirche, ohne Hierarchie, ohne bindende Dogmen.

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Die wahren Schmerzen sind die, welche uns von denen kommen, die wir am meisten lieben, und die uns am meisten lieben. Alles übrige ist roba da nulla, graue Wolken, welche vor- überziehen. Verwundeter Stolz, verletzte Eitel- keit, getäuschte Hoffnung etc., alles das ist bitter, aber es trifft nicht dort unten an der Quelle des Lebens.

Fühlte mich heute wie eine Sibylle, schaute die Wahrheit in den Tiefen der Erscheinung; auch Christus ein Kunstwerk; bewusster Wahn einzige Religion; alles nur Symbol I

Man kann das Schicksal nicht zwingen und ebensowenig die Charaktere, die unveränderlich sind.

Auch der Schmerz vergangen I ein Tropfen im Ocean des Gewesenen.

Landleben in Italien*

An einem Abend auf einem Landsitze Ming- hettis in den Apenninen hatten wir eine Dis- kussion über das Weltsystem ; wir, die Bewohner der Villa, der katholische Pfarrer des Orts und ein Franziskanermönch, der bei ihm zu Besuch war. Beide waren Anhänger Rosminis. Der Franziskaner, ein geistig angeregter, feuriger Mann, stellte die Behauptung auf, dass die in der Materie wirkenden Kräfte der Anziehung und Abstossung immer latent dagewesen seien, bis ein allmäch- tiges Schöpfungswort sie in das Leben gerufen habe. Ich entgegnete ihm, dass es doch wohl vernunftgemässer sei, zu denken, dass die eine Weltkraft in ihrer doppelten Äusserung nicht passiv, sondern von Ewigkeit her, in der Materie wirkend gewesen sei, deren Qiaos sie geschieden und gestaltet habe. Ebenso widersprach ich ihm, als er die Realität von Zeit und Raum behaup- tete, und erklärte sie für ein blosses Bedürfnis des Subjekts, das, beim Erkennen des Neben-

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einander den Begriff des Raums, und beim Er- kennen des Aufeinander den der Zeit nötig habe. Der Mönch war erstaunt, aber nicht be- leidigt; man sah, dass religiöse Vorurteile ihn nicht hinderten, freieren Gedanken gerecht zu werden und sie zu weiterer Betrachtung aufzu- nehmen. Er hatte entschieden ein hohes sittliches Bewusstsein seines Standes, und zu anderen Zei- ten hätte vielleicht ein Savonarola aus ihm wer- den können.

Ich sprach nachher infolgedessen mit Ming- hetti über Rosmini, und Hess mich über dessen Philosophie helehren. Minghetti nannte ihn den Nachfolger Kants, nur habe er dessen Kategorien auf eine einzige beschränkt, auf das Sein (l'essere). Nur dem Menschen habe er das Verständnis durch die Intelligenz zugeschrieben, während die Tiere allerdings auch Eindrücke hätten, aber nur ein Verständnis der Sensibilität. Der Mensch aber verstehe das: es ist, und von dem Augenblick an, wo er das verstehe, mache sich das Licht des Geistes geltend, und könne er reden. Die Tiere könnten nicht reden, weil ihnen der Begriff des Seins fehle. Aber dies Sein sei noch nicht Gott, nur gleichsam die Lein- wand, auf welcher sich alle übrigen Wahr- nehmungen • zeichnen, wie auch die Kategorien Kants Beobachtungen der Sinne seien. Das wirkliche Sein Rosminis aber ist Gott; das gewordene Sein ist das Wort, der Sohn; und das ideale Sein: der heilige Geist. Rosmini stand jedoch nicht ausserhalb der Kirche.

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Ausser dem Landsitz, auf welchem diese Gespräche stattfanden, besass Marco Minghetti dicht vor den Toren von Bologna, seiner Vater- stadt, eine anmutige Villa, deren Geschichte interessant ist, wie die so vieler kleiner, jetzt in den Privatbesitz übergegangener Orte in Italien. Der Hügel, auf dem die Villa liegt, wurde früher in den Reisehandbüchern als eine der Sehens- würdigkeiten von Bologna angeführt, da sich auf demselben die Kirche von St. ApoUonia di Mezza- ratte befand, deren Fresken aus der Schule Giottos und ein Teil derselben von ihm selbst herrühren. Jetzt gehört diese Kirche schon seit vielen Jahren zu dem Besitztum Minghettis; sie ist dem Gottes- dienst entzogen und mit dem Landhaus ver- bunden.

Schon seit mehreren Jahren hatte mich das Schicksal mit Donna Laura Minghetti, der Frau Marco Minghettis, zusammengeführt. Nicht in Rom, da ich mich der vornehmen römischen Gesellschaft nicht mehr angeschlossen hatte, weil mir sowohl die Gesundheit wie die Lust fehlten, ein müssiges Gesellschaftsleben aufs neue zu beginnen, sondern in Bayreuth, wohin sie mit ihrer kunstliebenden Tochter, einer der eifrigsten Befbrderinnen des Bayreuther Unternehmens und der glühendsten Verehrerinnen Wagnerischer Musik, zu den Festspielen im Jahre 76 gekommen war. Die Bekanntschaft setzte sich in Rom fort und wurde bald zu aufrichtiger Freundschaft, die ich ihr um so höher anrechnete, als sie, die geistreiche schöne, liebenswürdige Frau, eine der

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gefeiertsten Erscheinungen der italienischen Ge- sellschaft war, ich hingegen ein so stilles, weit- abgewandtes Leben führte, dass ich einem glän- zenden Weltkind wenig zu bieten hatte. Dank- bar aber nahm ich es an, dass sie mich in den engeren Kreis ihres Hauses zog, wo sich eine Anzahl der in Politik wie in Wissenschaft bedeu- tendsten Männer versammelten, und wo unaus- gesetzt ein geistig angeregter Verkehr herrschte.

Hier lernte ich so zu sagen die zweite Schicht der hervorragenden Männer der italienischen Ge- sellschaft dieses Jahrhunderts kennen. Die erste Schicht war die jener Emigrierten, jener Idealisten, die im Exil unter schweren Prüfungen festhielten an ihrem Ideal eines vom Fremdjoch befreiten, zu neuer Blüte auferstandenen, einigen Vater- lands. Sie hatten in hoher Idealität alles geopfert, weil sie die Verwirklichung ihrer Hoffnung für möglich hielten, und waren zum grossen Teil bitter enttäuscht gestorben. Diese zweite Schicht waren die Männer der klugen, berechneten Tat, der Praxis und des Erfolges; gebildete, recht- schaffene Leute, angenehm imUmgang, konservativ insofern, als sie das Erreichte festzuhalten suchten, ohne nach Höherem zu streben, und ohne die Idealität, welche jene ersten umgab. Hier sah ich, ausser Minghetti selbst, als die Bedeutendsten : Ruggiero Bonghi, Giovanni Morelli, Francesco Brioschi.

Bonghi war einer jener glänzend geistreichen, kritisch und satirisch veranlagten Geister, wie sie in den romanischen Völkern häufiger vor-

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kommen, als in den germanischen. Wenn der kleine, hässliche Mann zugegen war, konnte man sicher sein, dass es in der Unterhaltung sprühte und blitzte von geistreichen Apergus, witzigen Einfallen, scharfen Bemerkungen, die alle oft mehr im Augenblick blendeten, als sie bei ruhiger Prüfting Wert behielten, besonders, wenn das schallende Lachen, das sie meist begleitete und Ansteckendes hatte, weil es so spontan und herzlich kam, verstummt war. So sagte er ein- mal, als von Napoleon I. die Rede war: »C'etait un grand homme vulgaire.« Ich erlaubte mir zu bemerken, dass es mir zweifelhaft schiene, ob ein grosser Mensch vulgär sein könne, oder ein •vulgärer Mensch gross, aber die Phrase hatte gezündet, und der Einwand ging ohne Lösung vorüber. Ein anderes Mal, als er bei Tisch neben mir sass, kam er auf den Faust zu sprechen und sagte, das Gretchen sei ein sehr ordinäres Geschöpf, da es sich durch eine Kette verführen Hesse. Dies war mir nun allerdings ein so seichtes Urteil, dass von der Zeit an seine Kritik allen Wert bei mir verlor, und dass sich eine Art Entfremdung zwischen uns bildete, die sich bis zu seinem Tod nicht ausglich. Auch als Politiker war er keiner von jenen unerschütterlich festen Charakteren, wie ich sie in jener ersten Schicht gekannt hatte. Selbst seine näheren Freunde waren oft ärgerlich über die Inkonsequenzen, die er sich als Politiker zu schulden kommen Hess. Dagegen aber war er von einer Schaßensfähig- keit, die an das UnglaubHche streifte. In dem

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grossen, schönen Arbeitszimmer seiner Villa standen drei Schreibtische und auf ihnen lagen Arbeiten, durchaus verschieden untereinander, an denen er zu gleicher Zeit, bald an diesem, bald an jenem Tisch, arbeitete. Was sein An- denken aber mehr ehrt, als der vergängliche Glanz seiner geistigen Begabung, das sind die zwei, von ihm in echter Humanität geschaffenen Anstalten in Assisi und Anagni, erstere für die männlichen, letztere für die weiblichen Waisen der armen Schullehrer. Die Anstalt in Anagni besonders soll eine wahre Musteranstalt sein und ist das schönste Monument, das er sich selbst gesetzt hat.ls

Giovanni Morelli war eine durchaus andere Natur als Bonghi, ebenfalls sehr charakteristisch italienisch, aber die andere Seite dieses reichen Nationalcharakters vertretend. Aristokratisch im besten Sinn, fein, vornehm in (Besinnung und Form, äusserst liebenswürdig und gütig, waren seine geistigen Interessen ganz der Kunst zuge- wandt. Ein genauer und geistvoller Kenner aller Schulen und jedes einzelnen Künstlers, be- sonders der seiner Heimat, ging er den Werken derselben auch im Ausland nach, und veröffent- lichte in deutscher*^ Sprache, die er vollkommen sprach und schrieb, ein hochinteressantes Buch unter dem Pseudonym : Ivan Lermolieff. Er gab darin zum Studium der Werke der bildenden Kunst Anfängern die bedeutendsten Ratschläge und wies besonders auf eigne Anschauung und genaue Prüfung der Werke selbst hin, anstatt

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der unselbständigen Annahme der von anderen aufgestellten Theorien, kurz, empfahl die Experi- mentalmethode ebenso in der Kunst, wie in der Wissenschaft. Unter dem Ministerium Minghettis waren ihm die Restaurationen der alten Kunst- schätze anvertraut, und er hatte in Bologna, wo er damit anfing, Vorzügliches bewirkt, so z. B. in der Kapelle der hl. Cäcilia die Fresken von Costa, Francia u. a., ganz von den entstellenden Übermalungen befreit und in ihrer ursprüng- lichen Gestalt hergestellt. Leider dauerte das Ministerium und damit seine Beauftragung nicht lange, sonst wäre wohl manches schöne Werk von der Verunglimpfung durch unkundige Hand erlöst worden. So sagte er mir einmal, als ich meinen Zorn über das abscheuliche Blau auf dem jüngsten Gericht des Michel Angelo in der Capeila Sixtina aussprach, es könne das ganz leicht weggenommen und das Gemälde dadurch seinem ursprünglichen Zustand zurückgegeben werden. Aber, wie es ja leider allzu häufig geschieht, auf den weisen Rat hört man nicht und die Pfuscher lässt man ihr Handwerk treiben, bis das Unersetzliche verloren ist. In seiner Wohnung in Mailand hatte er selbst eine schätzensr werte Sammlung edler Kunstwerke um sich gebildet, in der sein Künstlersinn Erquickung und Befriedigung fand, und manchem Freunde hatte er geholfen bei dem Ankauf von Kunst- sachen das Echte zu unterscheiden und nur das Würdige zu nehmen. So verdankte der pracht- volle, künstlerische Besitz des Sir Henry Lagard,

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des ehemaligen englischen Gesandten in Konstan- tinopel, seine grössten Schätze dem Rate Mo- rellis. So fern sein ünabhängigkeitssinn und sein Widerwillen gegen alle leere Form ihn auch von Hofkreisen hielt, so hatte er doch wahre Freundschaften unter fürstlichen Personen, wenn diese seine künstlerischen und geistigen Sym- pathien teilten, und es verging z. B. in früheren Zeiten fast kein Sommer, wo er nicht irgendwo im nördlichen Italien mit der nachherigen Kai- serin Friedrich, damals noch Kronprinzess, zu- sammentraf, und mit ihr und meist Minghettis eine Zeit in kunstgeweihtem Verkehr zubrachte. Ich war gerade an einem Sonntag Morgen, zu- sammen mit meinem jungen Freunde Rolland, bei Frau Minghetti zum Frühstück und RoUand hatte uns eben ganz herrlich Bach gespielt, als ein Telegramm aus Mailand eintraf, welches den Tod Morellis anzeigte. Dass er krank war, wussten wir, aber ein so rasches Ende des noch anscheinend kräftigen, noch in den besten Jahren stehenden Mannes hatten wir nicht erwartet. Frau Minghetti, ihm näher befreundet als ich, war schmerzlich getroffen, bat aber Rolland um mehr Musik. Dieser schlug die ersten Töne des Trauermarsches von Beethoven an, da rief sie aber: »Nein, das nicht, das ist nicht zu ertragen,« und so kamen wir zu Bach zurück, und in den hehren Tönen hielten unsere Herzen dem edlen Geschiedenen die würdige Totenfeier.

Der dritte der oben Genannten, Francesco Brioschi, war wieder ein anderer, von den beiden

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ersten sehr verschiedener Typus. Man hätte ihn fiir einen Römer der antiken Zeit halten können, so eisern fest war sein Charakter, sein Unab- hängigkeitssinn, sein vollständiger Mangel an eitlem Ehrgeiz und Streben nach Auszeichnung und irdischen Ehren. Gewiss gingen wenige Männer der italienischen Generation von der ich jetzt spreche, so unbeugsam fest ihren Weg wie er. Ein Mann der Wissenschaft, der berühmteste Mathematiker Italiens, und als solcher auch im Auslande gekannt und geehrt; einte sich doch bei ihm das theoretische Wissen mit dem un- ausgesetzten Trieb der Tat, und man kann sich kein arbeitserfiillteres, tätig eingreifenderes Le- ben denken als das seine. Er war Direktor des ausgezeichneten polytechnischen Instituts in Mai- land, und wie er dort wirkte, bezeugen die Worte eines seiner Schüler, der an seinem Grabe sagte : »Er war streng gegen uns, indem er uns zu Arbeit und Pflichterfüllung anhielt, aber er war uns auch ein liebevoller Vater, bei dem wir stets Rat und Trost fanden.« Als Präsident der Lincei, der Akademie der Wissenschaften in Rom, wurde er immer von neuem gewählt, wenn sein Mandat zu Ende ging, weil man keinen Würdigeren zu finden wusste, und ausserdem leitete er unzählige Kommissionen und technische Unternehmungen. Was ihn mir aber besonders wert machte, das war sein tiefes Verständnis für die subtilsten Regungen der Seele, fiir die feinsten Unterschiede von Schein und Wesen; das war sein Hass gegen alles Unechte und

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Halbe, das war sein Idealismus, der ihm die ab- strakteste aller Wissenschaften verklärte und nach den nüchternst-realistischen Geschäften des Tages am Abend ideale Befriedigung brachte. So sagte er mir einmal: »Wenn ich mehrere Stunden der Nacht mit tiefster Konzentration gearbeitet habe, um ein schwieriges Problem zu lösen, und Kopf, Augen und Hand müde sind, dann lehne ich mich im Stuhl zurück und fühle mit Wonne et- was Erhabenes, eine himmlische Harmonie in mir.«

Das sind die Momente, wo sich die Seele als Teil der universellen Einheit fühlt, indem sie mithilft an dem ewigen Werk des Schaffens. Wie versteht man dann die Worte aus Faust:

»So schaff ich am sausenden Webstuhl der

Zeit, Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.«

Denn alles wahre Schaffen, und sei es auch nur die Pflege heiliger Gefühle im Innern des Herzens, heisst die Gottheit zur Erscheinung bringen, ihr lebendiges Kleid wirken.

Dieser Mann des eisernen Willens, der un- verwüstlichen Tatkraft schien auch von einer so eisernen Gesundheit, dass auch seine nächsten Freunde keine Sorge um ihn hatten und man kaum an die Möglichkeit von Krankheit glaubte. Doch war es geschehen, dass er im vorigen Jahr, in heissester Sommerglut in den Bergen in Sicilien mit einer hydraulischen Arbeit be- schäftigt, den Todeskeim empfing, der ihn an-

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fangs dieses Jahres ins Grab brachte. Er war eine von jenen stark ausgeprägten Individuali- täten, die man nie mehr vergisst, und die so fest im Leben zu stehen scheinen, dass man kaum an ihr Scheiden glauben kann, immer meint, sie müssten wieder da sein, und die ganz besonders jetzt in Italien immer seltener werden. Mit ihm schied der letzte aus dem engen Kreise des Hauses Minghetti, und auch dieser einst so lebenerfiillte Mittelpunkt der römischen Gresell- schaft gehört nun der Vergangenheit an.

Aber nicht nur hervorragende Italiener, auch bedeutende Fremde aus allen Weltgegenden fanden sich in dem gastlichen Hause ein. Eine Persönlich- keit, die mich sehr interessierte, hatte ich schon bei der Fürstin Caroline Wittgenstein kennen gelernt. Es war der Bischof Strossmayer aus Kroatien, bekannt durch seinen mutigen Wider- stand gegen die Infallibilität des Papstes. Die Fürstin, mir damals ausserodentlich geneigt, hatte ihm von den »Memoiren einer Idealistin« ge- sprochen, und er sagte mir, er wolle sie lesen, denn auch er sei ein Idealist. Er besuchte mich darauf, und ich erkannte seine echt slavische Natur, die ihn sich viel unmittelbarer, stürmi- scher, und allerdings ideeller äussern liess, als ich es bei römischen Priestern gefunden hatte. Einmal war ich mit ihm zusammen bei Minghettis zum Frühstück, wo auch Bonghi und einige an- dere Italiener anwesend waren. Er sprach mit tiefem Ernst über die Schuld der Curie, die darin bestehe, dass sie den Völkern keine Freiheit

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gäbe, während ihre Aufgabe sein müsste, sie Tugend und freies Denken zu lehren. Dann er- zählte er uns von dem Bau einer Kathedrale, die er in Agram auffuhren liess, und die grösser werden solle, als die Peterskirche, auch davon, wie er gleich einem Fürsten ausreite zur Jagd mit einem Gefolge von hohen Prälaten und vornehmen Herren ; dabei begeisterte er sich im Lobe des Slaventums, und rief endlich in heiterem Übermut den italienischen Herren zu: »Ihr seid die Alten, wir sind die Jungen, die Zukunft gehört uns!«

Wird die Zukunft diese heitere Zuversicht rechtfertigen? Bis jetzt hat sie es noch nicht getan, und es ist schon manches Jahr seitdem verflossen.

Noch lieber aber, als diese Vereinigungen in der Stadt, waren mir die Wochen, die ich viele Jahre hindurch, von Donna Laura liebevoll ein- geladen, bei ihnen auf ihrem Landsitze verbringen durfte, ehe ich meine alljährliche Reise nach Norden zu Olga antrat. So war ich ein ein- heimischer Gast auf dem oben genannten Mezza- ratte geworden, und Minghetti gab mir Doku- mente und Urkunden, aus denen ich die Ge- schichte des Orts kennen lernte. An der Fagade der Kirche ist ein antiker Kopf mit einer phrygischen Mütze eingemauert, und dieses christliche Ornament erklärt sich, wenn man er- fährt, dass hier, zur Zeit des römischen Reichs, ein Tempel des Mithras stand, dessen sieben, vom Kultus vorgeschriebenen Eingangsstufen noch an der einen Seite des Hügels sichtbar

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sind. Auf der Stelle dieses Sonnentempels er» baute um das Jahr 1106 eine der frühesten christlichen Brüderschaften ein Hospital und eine Einsiedelei, woselbst die armen Pilger, die zu den heiligen Orten wallfahrteten, Aufnahme und Pflege fanden. Nahe bei dieser Einsiedelei war die Richtstätte, und die Brüderschaft erhielt das Recht, die zum Tode Verurteilten auf den- selben vorzubereiten und zu trösten, welches Recht sie mehrere Jahrhunderte hindurch ausübte, bis nach und nach der reUgiöse Eifer erkaltete und ihr das Jus des Tröstens entzogen wurde. Um das Jahr 1290 wurde das »Haus der Mitte« von den Brüdern der Konfraternität der »Laade della Ma- donna« (Lob der Madonna) in Besitz genommen, welche an den Abenden vor einem Festtag heraufkamen, jeder mit einem Körbchen, das Brot und Wein enthielt, bewaffnet, um hier zu beten. Sie sammelten Geld, um die Kirche zu bauen, zu der sie auch die Einsiedelei ge- brauchten, und beschlossen dieselbe nach und nach würdig ausmalen zu lassen. In der Zeit zwischen 13CK) und 1400 blühte in Bologna gleichzeitig mit der Entwicklung der Malerei in Toscana die Malerschule des Manno und des Franc o, welchen sogar Dante der Erwähnung wert hielt. Einer der Schüler Francos war Vitale von Bologna, welcher den Meister an Freiheit und Anmut der Bewegung übertraf. Ihm schreibt man das Fresko im Innern der Kirche von Mezzaratte über dem Haupteingang zu. Es stellt die Greburt Christi dar, und einige

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Engel sind noch gut erhalten und sehr lieblich. An der rechten Seite der Kirche befinden sich Scenen aus dem alten Testament, von Abraham an bis Joseph, und darunter steht: Jacobus f. Auch dieser Jacobus war ein Schüler des Franco. Ein anderer Schüler desselben Meisters war Si- mone da Crocefissi, der diesen Beinamen erhalten hatte, weil er im Anfang nichts anderes malte, als immer Christus am Kreuz, »der aus Liebe zu uns diesen Tod erlitt«. Vitale hingegen wollte diesen Gegenstand nie malen, denn er sagte, es sei mehr als zu viel, dass die Juden Christus einmal an das Kreuz geschlagen hätten, und dass ihn die schlechten Christen täglich mit ihren Sünden durchbohrten. Jacobus malte im An- fang nur Madonnen mit dem Kinde, später aber vereinigte er sich mit Simone, und sie malten zusammen verschiedene Gegenstände mit so lebendiger Komposition und so viel Ausdruck, als es die Entwicklungsstufe jener Zeit zuliess. Beider Namen finden sich vereint an der linken Seite der Kirche, unter Scenen aus dem neuen Testament, an denen sich auch andere Maler der Schule von Bologna beteiligten. Den Haupt- wert aber enthielten diese Fresken durch die vier Felder aus der Geschichte Moses, welche Giotto gemalt hat; als er sich einige Zeit bei den Freunden in Bologna aufhielt, liess er ihnen dies Andenken zurück. Was noch davon erhalten ist, zeigt allerdings die Hand des grösseren Meisters, und als Michel Angelo in Bologna bei Julius 11. war, soll er diese Fresken sehr bewundert haben.

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Am Ende des vorigen Jahrhunderts kam die Kirche mit dem dazu gehörigen Bodenbesitz in die Hände eines Spekulanten, welcher die Hälfte derselben in Wohnräume umgestaltete und die Fresken mit Kalk überzog. Als Canova nach Bologna kam, besuchte er die Kirche und sagte, es müssten dort Fresken gewesen sein, nahm ein Geldstück und fing an, den Kalk wegzu- kratzen und siehe dal es erschien ein Kopf. Im Jahre 1820 erstand Minghettis Vater die ganze Besitzung, aber erst nach des Vaters Tod liess der Sohn den Kalk wegwaschen und was noch von den Fresken übrig war der Beschauung zu- rückgeben. Jetzt ist dieses Mezzaratte durch die schöpferische Hand der Besitzer zu einem blühenden Idyll geworden, welches die Höhe, auf der das künstlerisch angelegte Wohnhaus mit der Kirche steht, umgibt. Rechts und links von dieser Höhe ziehen sich ähnliche grüne Ausläufer der Apenninen, mit stolzen Gebäuden gekrönt, hin, und zu ihren Füssen liegt die Stadt Bologna und die weite, fruchtbare, mit Villen, Städten, Dörfern besäete Ebene der Romagna, an deren Horizont man bei hellem Wetter den Silberstreifen der Adria und gegen Norden die Schneefelder [der Ortler-Alpengruppe erblicken kann.

In diesem Tuskulum ruhte der italienische Staatsmann von den heissen, leider oft so un- fruchtbaren Kämpfen in der Aula von Monteci- torio in Rom aus. Es war eine klassische Ruhe, könnte man sagen, denn aus der reichhaltigen,

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hier befindlichen Bibliothek suchte er vorzugs- weise die lateinischen Schriftsteller hervor, und in erster Morgenfrühe konnte man ihn im Garten wandeln sehen, ein Buch in der Hand haltend und eifrig lesend. In dem einen Sommer waren es besonders die Metamorphosen des Ovid ; »Es ist gut,« sagte er, »den Tag mit etwas Poesie zu beginnen.« Beim Frühstück, das im Garten eingenommen wurde, las er dann das eine oder andere Schöne den Anwesenden vor und zwar so geläufig italienisch, als stände es so ge- schrieben, denn ihm war die lateinisehe Sprache so geläufig wie seine Muttersprache. Die edle Gastfreundschaft, die auf Mezzaratte geübt wurde, lockte im Sommer viele der nächsten Freunde herbei, welche einer nach dem anderen kamen, um sich einige Tage auch von den Kämpfen auf politischem und den Arbeiten auf wissen- schaftlichem Gebiet auszuruhen. Am Abend, wenn die erquickende Frische eintritt, welche das Nachtleben der Italiener so natürlich und köstlich macht, kamen Besuche aus der Stadt herauf aus allen Schichten der gebildeten Ge- sellschaft; die Aristokratie von Bologna, die so viele geschichtlich berühmte Namen aufzu- weisen hat, wie Bentivoglio, Pepoli, Gozzadini etc., mischte sich hier vorurteilslos mit den anderen Ständen und besonders fehlt es nicht an Künstlern, welche die kunstsinnige Gemahlin Minghettis mit Vorliebe herbeizieht. Beim Licht der Sterne sitzt man im Garten bei ein- ander und in der ungezwungenen Weise, welche

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die italienische Geselligkeit zur angenehmsten der Welt macht, berührt die Unterhaltung bald Heiteres, ohne jedoch banal zu werden, bald Ernstes, das mit Eifer und Gründlichkeit be- sprochen wird,

Bologna ist ja noch immer eine der geistig angeregtesten Städte Italiens, wenn es auch nicht mehr den Ruhm besitzt, die erste Hochschule Europas zu sein. Der bedeutendste unter den jetzt lebenden Dichtem Italiens, Carducci, lebt in Bologna. An der medizinischen Fakultät der Universität befand sich einer der ersten Chirur- gen der Jetztzeit, Professor Loreto. Er kam öfter nach Mezzaratte und seine anziehende Per- sönlichkeit, sein Wissen und seine reichen Er- fahrungen sicherten ihm stets einen ICreis wiss- begieriger Zuhörer. Besonders wussten ihm die Frauen Dank, dass er ihrem Geschlecht die edelste Anerkennung zollte und sie nicht nur an geistiger Begabung dem Manne gleichstellte, sondern infolge unzähliger Beobachtungen ihnen auch den grösseren Heroismus zusprach.

Öfter kam das Grespräch freilich auch auf traurige Zustände der Öffentlichkeit, besonders auf die Vernachlässigung von selten der Re- gierung für die, welche dem Vaterlande uneigen- nützig und um eines Ideals willen gedient hatten. Der Nepotismus, der einst in der päpstlichen Romagna herrschte, hat sich in den eben so schlimmen Protektionismus verwandelt und ruft an den Universitäten, Schulen und anderen Staatsanstalten ein System der Beförderung von

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Günstlingen hervor, welche die Besoldung nehmen und nichts leisten, während Fähige, die nicht um Gunst buhlen, sondern nur redlich ihre Pflicht tun, zurückgesetzt werden. Traurige Erfahrungen dieser Art hatten mehrere der Besucher von Mezzaratte gemacht, und manche waren so ent- mutigt, dass sie dem Vaterlande den Rücken wenden und ins Ausland gehen wollten. Ja, un- dankbar war Italien von jeher; Dante musste ins Exil wandern und Mazzini starb unter fremdem Namen, unerkannt auf der heimischen Erde.

Oben in dem blütenreichen Mezzaratte wurde aber alles mit tiefem Schmerz empfunden, was dem Vaterlande nicht zur Ehre gereicht, doch der Trost wurde auch da gesucht, wo er allein zu finden ist, in dem Gefühl, die eigne Pflicht treu erfüllt zu haben, in Ausübung unbestechlicher Gerechtigkeit, und in dem geistigen Zusammen- hang mit allen Grossen, die vor uns dagewesen sind, und deren Bestes, befreit von den Mängeln der Sterblichkeit, in der herrlichen Bibliothek von Mezzaratte zu finden ist.

Noch einfacher, intimer, und von dem Welt- getriebe noch mehr losgelöst war das Leben auf der zweiten, eine Stunde von Bologna hoch in den Apennin^n gelegenen grossartigen Besitzung Minghettis »Sette Fonti« genannt. Da war er wirklich Gutsherr; denn auf seinem Grund und Boden lebte eine Menge ansässiger Bauern, deren Wohnungen hier und da auf den in malerischen Formen auf- und absteigenden Bergflächen zer-

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streut liegen. Hier oben war er stets der erste, den erwachenden Tag zu begrüssen. Wenn ich (auch dort ein liebevoll empfangner Gast) in früher Morgenstunde in den Park hinunter eilte, um die balsamische Luft einzuatmen und unter den uralten Eichen dem Morgengesang der Nach- tigallen zu lauschen, so sah ich ihn in seinem schlichten leinenen Hausrock und mit dem breit- krämpigen Stohhut schon von einem Gang in die schöne Gebirgswelt, welche ihn umgab, zu- rückkehren und dann lag jene heitere Ruhe auf seinem Antlitz, welche nur die reinen Seelen kennen, die »von dem Wust der Welt entladen, am ewig frischen Quell der Natur gesund sich baden«. Darauf stieg er zur Arbeit in sein mit klösterlicher Einfachheit eingerichtetes Schreib- zimmer, um in der Stille die Konzentration und Stimmung zu finden, welche ihm für seine dortige Beschäftigung nötig waren. Er schrieb seine Memoiren.

Am Nachmittag, wenn die glühenden Strahlen der Sonne milder wurden und man aus den kühlen Zimmern wieder hinauseilte in die won- nige Luft, dann erschien auch Minghetti auf einer der grossen, von hundertjährigen Eichen beschatteten Wiesen des Parks, wo der kleine Kreis der Hausgenossen sich bereits gelagert hatte und von wo man eine entzückende Fern- sicht genoss : die Ebene der Romagna von Flüssen durchschlängelt, mit ihrem Reichtum an be- wohnten Orten, am Horizont die funkelnde Adria und seitwärts die auf- und abwogenden

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Linien der in alle Farbenpracht getauchten Apenninen. Dann brachte er wieder ein Buch mit und las vor, immer aus seinen Klassikern; welcher moderne Ton hätte auch wohl in diese klassisch schöne Welt gepasst?

Bei diesen Versammlungen war meist der junge Geistliche zugegen, dessen Pfarrhäuschen nebst der kleinen Kirche dieser weit umher in den Bergen zerstreut wohnenden Gemeinde dicht neben dem Herrenhaus steht. Der junge Geist- liche, ein Bauernsohn aus den Apenninen, geistig sehr begabt, verehrte in Minghetti den Retter seiner Seele, wie er sagte. Mit quälenden Zweifeln im Herzen, in dieser Bergeinsamkeit von allem geistigen Verkehr abgeschnitten, war er der Verzweiflung nahe gewesen. Da kam Minghetti nach Sette-Fonti und lernte den Seelenzustand des Armen kennen. Er wurde der Arzt seiner Seele, gab ihm die Schriften Giobertis und Ros- minis zu lesen, in denen der junge Mann ein reineres religiöses Ideal fand, als das was ihm bisher als Religion vorgeführt war, und leitete den übersprudelnden Gärungsstoff dieser Intelligenz in die ruhigeren Bahnen religiös-philo- sophischen Denkens und zu der treuen Ausübung seines Amtes, als Freund und Tröster der ihm anvertrauten Armen, welche hier in der kümmer- lichen Existenz der Berge, in dem Pfarrer den Arzt für alle Leiden suchen.

Aber auch den Mitgliedern der ländlichen Gemeinde wurde die väterliche Fürsorge Ming- hettis zu teil. Kein Spaziergang wurde in

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der Abendkühle in den schönen Umgebungen unternommen, ohne zugleich an einem der Bauernhöfe vorzusprechen, Erkundigungen über den Zustand der Familie einzuziehen und eine Gabe zurückzulassen, alles in einfachster freund- licher Weise; wie etwas, was sich von selbst versteht. Und diese primitiven, noch von der Civilisation nicht verdorbenen Menschen, die von dem berühmten Staatsmann kaum etwas wussten, ehrten in ihm den Menschen, der das Wort des Evangeliums zur Wahrheit machte, dass wenn die eine Hand gibt, die andere nichts davon wissen soll. Eines Nachmittags, als wir wie gewöhnlich auf der Wiese oben gelagert waren, kam eine über achtzig Jahre alte Frau, von einer Ueblichen jungen Enkelin geführt, hin- auf und trat vor Minghetti hin. Mit der demon- strativen Lebendigkeit ihres Volkes, die auch dem Alter noch etwas JugendHches gibt, er- zählte sie, wie schon Minghettis Eltern so viel Gutes an ihr und den Ihrigen getan hätten, wie sie ihn schon als Knaben gekannt und es einzig ihm verdanke, dass sie jetzt im Kreise von Kindern und Kindeskindem ein ruhiges Alter erlebe. Nur eine Sorge habe sie noch, nämlich, dass nach ihrem Tode die Ihrigen vielleicht nicht mehr so brav bleiben würden. »Jetzt versammle ich sie alle Abende um mich und bete mit ihnen für die Unseren, die schon vor uns heimgegangen sind, damit sie die nicht vergessen und gut bleiben um ihres Andenkens willen. Versprecht mir nun«, sagte sie zu Minghetti, »dass Ihr über

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ihnen wachen wollt, damit sie brav bleiben, wenn ich gestorben sein werde.« Minghetti versprach es ihr ernst und feierlich. >Ach, nun bin ich ruhig!« rief sie begeistert aus, »hier kann ich es nicht vergelten, aber wenn ich an einen guten Ort komme« (dabei sah sie gen Himmel) »da werde ich's vergelten und für Euch beten.« Dieser kleine Vorgang trat vor meine Seele, als ich am Morgen des ii. Dezember 1886 an dem Ruhebette stand, auf welchem Marco Ming- hetti, von Blumenkränzen umgeben, lag. Ein schmerzvolles Leiden hatte den sonst noch rüstigen Mann binnen Jahresfrist an das Ende eines Lebens geführt, welches dem Vaterlande noch so nützlich hätte sein können. Er wusste, dass er sterben würde, und sah dem Tod mit der Ruhe des Weisen entgegen. Ein paar Tage vor dem Ende war er noch in der Kammer ge- wesen und hatte dem Präsidenten, seinem Freund, gesagt, er wünsche, dass keine Kommemoration, wie sonst üblich, in der Kammer stattfinde. Rasch nahte das Ende und er konnte sein Lager nicht mehr verlassen. Am Morgen vor dem Todestag war ich mit Ruggiero Bonghi, dem intimen Freund des Hauses, bei Frau Minghetti zum Frühstück, da sie natürlich nur vertraute Freunde sah, die kamen, die schweren Stunden mit ihr zu teilen. Wir mussten sie aber schnell verlassen, da der König und die Königin ihren Besuch ansagen Hessen, um den treuen Diener und Freund noch einmal zu sehen. Als beide an sein Lager traten, hatte er mit letzter Kraft

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noch das kleine Mützchen, welches sein Haupt bedeckte, abgenommen und gesagt: »Ich hätte noch gern meinem Lande und meinem König gedient.«

Als ich am folgenden Morgen wieder hin- ging, um mir Nachricht zu holen, fand ich alle Türen geöffnet, und an den bewegten Mienen der alten treuen Diener, die nur leisen Schrittes einher gingen und kaum vernehmbar flüsterten, sah ich schon, dass die letzte grosse Stunde bevorstand.

In dem Saal befanden sich schweigend ein paar der nächsten Freunde, am Kamin standen Depretis, damals Ministerpräsident, und Giovanni Morelli, der feine Kunstkritiker aus Mailand, der intimste Freund des Hauses. Als Frau Minghetti aus dem anstossenden Zimmer, wo der Sterbende lag, heraustrat mich zu begrüssen, äusserte ich ihr den Wunsch, ihn noch einmal zu sehen, dem sie alsbald willfahrte, indem sie mich an das Sterbelager führte, an welchem ihr Sohn stand und dem schon in Agonie Begriffenen den Schweiss von der Stirne trocknete. Er erkannte mich nicht mehr, und ich nahm schweigend und innigst bewegt von ihm Abschied.

Am folgenden Morgen kam ich hin und fand die Leiche bereits in würdig einfacher Aus- stattung der Umgebung, den Besuchern zugäng- lich. Der Tod hatte den Ausdruck schmerz- vollen Leidens verwischt und den Zügen den Stempel eines erhabenen Friedens aufgedrückt. Er lag da in seiner schwarzen Kleidung, das

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Bild des vollkommenen Gentleman, in der edel* sten Bedeutung des Worts. An seinem Toten- bette trauerte eine ganze Nation, ihr Herrscher an der Spitze; prachtvolle Blumenkronen, von nah und fern gesendet, waren ein Ausdruck der allgemeinen, aufrichtigsten Teilnahme. Ich aber sah im Geist jenes alte Mütterchen und all die Armen aus den Bergen von Sette-Fonti vor mir, und es war mir, als sähe ich sie eine Krone winden aus Tränen der Dankbarkeit, des Segens und der Gebete gläubiger Herzen und sie nieder- legen auf das bleiche ehrwürdige Haupt. Diese Krone schimmerte hell wie eine Aureole um den Toten, und vor dieser Vision sagte ich dem edlen Manne das letzte Lebewohl.

Schöne Tage.

Im Frühling 1881 lud mich Frau Minghetti, mir immer freundschaftlichst gesinnt, ein, mit ihr einen Ausflug nach Sorrent zu machen. Da ich ohnehin schon für etwas später eine Ein- ladung für den herrlichen Süden hatte, nahm ich es mit Freude an. Der Frühling war im vollen Erwachen und goss alle seine Zauber über die Erde dort aus. Bis Neapel und Castellamare führte uns die Eisenbahn, dann aber fuhren wir im offenen Wagen den Weg längs des Meeres dahin, umgeben von Wogen der Orangenblüten- düfte, da diese Strecke ja nur wie ein Orangen- garten ist. In Sorrent umfingen mich liebe Er- innerungen an den Winter, den ich mit Nietzsche dort verlebte, und in Gesellschaft der liebens- würdigen Freundin erneuten sich schöne Tage in heiterem Genuss der strahlend schönen Welt. Wir trafen im Hotel ausser anderen Bekannten auch den Grafen Harry Arnim, der, ein tod-

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kranker Mann, mit seiner Familie hier weilte. Frau Minghetti kannte ihn von der Zeit seiner Gesandtschaft in Italien her, und er gesellte sich uns oft zu, wenn wir am Abend auf der grossen Terrasse des Hotels, von welcher man auf das Meer hinab sieht, auf und nieder gingen und die göttlichen Frühlingsabende genossen. Da entlud sich das Herz des schwer Gekränkten in bitteren Äusserungen über das Unrecht, das ihm nach seiner Ansicht geschehen war, und in Ausdrücken des tiefsten, unversöhnlichen Hasses gegen den, welchen er für den Urheber der erlittenen Ver- folgungen hielt. Er war ein gebrochener, schwer leidender Mann, konnte nichts tun, sich zu rächen, und das Gefühl seiner Ohnmacht lastete schwer auf ihm. Zuweilen kamen aber auch mildere, fast mystische Stimmungen über ihn; so sagte er eines Abends, es sei sicher, dass wir von einer unsichtbaren, besseren, ätherischen Welt umgeben seien, dass aber unsere Sinne nicht fähig wären, sie zu erkennen. Wie wun- derte es mich, diesen Gedanken bei dem verbit- terten Aristokraten zu finden, und wie leid tat es mir, dass er in solchen Gedanken nicht den versöhnenden Trost fand für die tiefe Kränkung, welche ihm in dieser unvollkommenen, von Eitel- keit und Herrschsucht erfüllten Welt zu teil geworden war.

Nach vierzehn frohen Tagen trennte ich mich von Frau Minghetti, welche noch in Sorrent zu- rückblieb, und fuhr nach Neapel zu Wagners, die den Winter daselbst verbracht und mich ein-

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geladen hatten, sie zu besuchen. Sie wohnten in einer herrlichen Villa am Anfang des Posilippo, auf hohem Felsen gelegen, zu der die Gärten terrassenförmig aufsteigen und sich noch über dieselbe höher hinaufziehen. Von der Terrasse, unter dem von Säulen getragenen Vordach des Hauses, beherrscht der Blick den Golf, die Stadt und den schönen zweigegipfelten Verräter, wel- cher gerade in dem Frühjahre in grosser Tätig- keit war, und jeden Abend eine Feuersäule gen Himmel sandte. In diesem wundervollen Aufent- halt traf ich ausser den teuren Freunden, die mich eingeladen, zwei junge, mir auch schon be- kannte Männer, deren Gegenwart den häuslichen Kreis noch bereicherte. Der eine war der rus- sische Maler Joukoffski, Sohn des ausgezeichneten Dichters und Übersetzers deutscher Meister- werke, welcher Erzieher Alexander II. gewesen war. Joukoffski wohnte jedoch nicht in der Villa, sondern hatte sein Atelier unten am Posilip, war aber oben der tägliche Gast. Der andere, Heinrich von Stein, war ein Bewohner des Hauses, und zwar infolge einer seltsamen Fügung durch meine Vermittlung. Er war wenige Jahre früher einen Winter in Rom und durch die Empfehlung eines Freundes bei mir eingeführt. Noch ganz jung, nach eben beendeter Universitätszeit, hoch und schlank gewachsen, hellblond, ver- riet sein Äusseres ganz den Nordländer, so- wie auch sein etwas steifes, zurückhaltendes, schwer zum Ausdruck kommendes Wesen. Er wurde aber mitteilsam, als ich ihn bat, mir etwas

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von der sogenannten Wirklichkeitsphilosophie des Philosophen Dühring mitzuteilen, als dessen Schüler er sich mir vorgestellt hatte. Nun hielt er mir kleine Vorträge über die auf- und ab- steigende Welle, unter welchem Bild Dühring das Leben auffasse, und versuchte mir den Idealismus des Realismus zu beweisen, welchem Axiom er sein erstes Buch geweiht habe, das jetzt im Druck begriffen sei. Alle Ideen oder Annahmen des Transcendentalen waren streng aus den Anschau- ungen des jungen Realisten ausgeschlossen, aber ich musste oft im stillen lächeln, wenn ich den reinen Idealismus sah, der aus der ganzen Natur dieses Jünglings sprach, während er seinen Positi- vismus verteidigte. In demselben Winter war Paul Heyse mit seiner Frau in Rom, lebte aber, von einem schweren Schicksalsschlag getroffen, sehr still und zurückgezogen. Ich gehörte zu den wenigen Begünstigten, welche er zuweilen be- suchte. Stein erfuhr das und vertraute mir an, dass es sein lebhafter Wunsch sei, Heyse kennen zu lernen. Ich erzählte das demselben und er ging freundlich darauf ein und bestimmte einen Abend, wo er Stein bei mir treffen wolle. Wir sprachen dann über die jungen Schriftsteller der Zeit, wie die so schnell zu Werke gingen und die Sache so leicht nähmen. »Sie meinen nur,« sagte Heyse, »so ins Volle greifen, hier einen Stern und da einen Stein herunter holen zu können und denken nicht daran, welche Mühe, welche Arbeit es unseren Grossen gekostet hat, ihre Werke zu schaffen. « Als dann der bestimmte

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Abend kam und Heyse Stein begrüsst hatte, sagte er zu mir, ob ich mich unseres letzten Gesprächs erinnere über die jungen Schriftsteller und ihre rasche Art, mit dem Schreiben fertig zu werden? Es sei ihm gerade wieder ein Bei- spiel davon vorgekommen ; ein Verleger aus Bonn habe ihm die Probebogen einer Erstlings- schrift eines jungen Autors in dessen Auftrag zugeschickt, die ihm viel Unreifes zu enthalten scheine, sie sei halb Lyrik halb Prosa. Ich er- schrak etwas bei diesen Worten, da Stein mir gesagt hatte, sein Buch werde in Bonn gedruckt, und da sah ich, wie er heftig errötete, auch unterbrach er Heyse und sagte rasch, das würde wohl sein Buch sein, denn er habe dem Verleger den Auftrag gegeben. Es war ein peinlicher Moment, aber Heyse half uns allen Dreien in liebenswürdigster Art über die Verlegenheit hin- weg, sagte, er könne freilich nicht zurücknehmen, was er einmal ausgesprochen habe, aber sein Urteil sei noch nicht endgültig, denn er habe noch nicht fertig gelesen, und habe schon in dem lyrischen Teil viel Hübsches bemerkt. Dann lud er Stein freundlichst ein, ihn zu be- suchen, und war so gütig und teilnehmend für ihn, dass Stein ganz entzückt von ihm war.

Nach dieser kleinen Begebenheit lernte ich Stein immer mehr kennen und schätzen. Er war noch sehr unfertig in seinen Anschauungen und Urteilen, aber sein edler, reiner Charakter wurde mir schon völlig erkennbar und erfüllte mich mit wahrer Sympathie. Unter seinen

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kleinen Erlebnissen in Rom, die er mir mit- teilte, war auch ein Besuch bei der mir wohl- wollend zugetanen Fürstin Caroline Wittgen- stein, welche ihn nach seinem politischen Glaubens- bekenntnis gefragt hatte. Er hatte sehr auf- richtig seine Hinneigung zum Sozialismus bekannt, worauf sie ihm versicherte, dass es das höchste Interesse des Sozialismus sei, sich mit der Kirche zu verbinden, zusammen würden sie der um sich greifenden Immoralität steuern und das Leben der modernen Gesellschaft reinigen und erneuern. Nichts lag Stein ferner als solch ein Bündnis, als ich ihn aber dann nach seinen Zukunftsplänen fragte, sagte er, sein höchster Wunsch sei, in einer Familie, wo er als Freund aufgenommen und behandelt würde, die Erziehung eines Knaben zu übernehmen und nach seinem Sinne zu leiten. Ich sprach ihm mein Bedenken aus, dass dies wohl schwer zu finden sein würde, und er ver- liess Rom in völliger Ungewissheit über seine Zukunft.

In demselben Jahr war ich in Bayreuth zu Besuch bei Wagners, und einmal im Laufe des Gesprächs fragte mich Wagner, ob ich nicht einen gebildeten, in jeder Beziehung empfehlens- werten jungen Mann kenne, der wie ein Freund zu der Familie gestellt sein sollte und die Er- ziehung des kleinen Siegfried übernehmen würde, den er nicht gern in die öffentlichen Schulen schicken wolle. Ich musste lachen über dies merkwürdige Zusammentreffen und erzählte nun von dem Wunsche Steins, worauf Wagner mir

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alsbald den Auftrag gab, diesem zu schreiben. Die Antwort war ein freudiges Eingehen auf den Vorschlag, nur stand ihm gerade sein Jahr Militärdienst bevor. Er fugte aber hinzu, wenn Wagners ein Jahr warten wollten, so könne er sich kein schöneres, alle seine Wünsche krönen- des Geschick denken. Nach einem Jahre kam diese Vereinigung wirklich zu stände, zu gegen- seitiger höchster Zufriedenheit. Stein war eine so edle, vom höchsten Adel der Gresinnung durchdrungene Natur, dass er zunächst schon das erste Erfordernis eines Erziehers besass, durch sein Beispiel alles Gute zu lehren, und unter dem Einfluss des ausgezeichneten Kreises, in den er eintrat, wurde er das, was er von Natur war: ein voUkommner Idealist und dann ein so verständnisvoller, begeisterter Anhänger Wagners wie wenige.

Ihn also traf ich hier in Neapel, bei seiner übernommenen Tätigkeit im häuslichen Kreise wieder. Neben ihm, wie schon gesagt, den Russen Joukoffski, einen Maler von grossem Talent, der neben allen schönen Eigenschaften der Russen aber auch ihre Indolenz besass, so dass er aus seinem Talent nicht das machte, was es hätte werden können, wogegen aber seine liebenswürdige Persönlichkeit nicht wenig zur schönen Geselligkeit des Hauses beitrug. Am Morgen ging ein jeder seinen eignen Be- schäftigungen nach. Das Mittagessen vereinigte uns alle, und danach nahm man den Kaffee auf einer Terrasse, wobei sich meist bedeutende

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Gespräche entspannen, die natürlich gewöhnlich von Wagner ausgingen. Dann kam für alle eine Stunde der Ruhe, und darauf begegnete man sich in den terrassenartigen Gärten, wo Wagner mit den jugendlichen, ihm zugehörigen Wesen allerlei Scherz und Neckerei trieb. So war es u. a. ein Lieblingsspiel, die Frucht eines Strau- ches, welche eine die Kerne enthaltende mit Luft gefüllte Kapsel ist, aufzudrücken, wobei ein kleiner Knall erfolgt, und er war noch so ausserordentlich beweglich und behende, dass er meist den Kindern bei Erreichung dieser Kapseln zuvor kam. Eines Nachmittags aber traf ich ihn ganz bestürzt vor einem solchen Strauch stehend, weil bei dem Haschen nach den hoch- hängenden Kapseln es ihm begegnet war, einen der schönsten Zweige des Strauchs zu knicken, der nun traurig, dem Sterben geweiht, herunter- hing. Er, der gleich den Indern das göttliche Urprinzip auch so gut im Tier und in der Pflanze wie im Menschen erkannte, war tief be- trübt, hier einen empfindenden Organismus zer- stört zu haben, und schickte eine der Töchter, die bei ihm waren, ins Haus hinab, um Leinen zum Verband zu holen. Als sie damit zurück- kehrte, verband er den geschädigten Zweig mit der Sorgfalt, wie er es bei einem Tier oder Menschen getan haben würde, in der Hoffnung, dass die Wunde sich schliessen und der Ast wieder anwachsen würde.

Nur wer solche kleine Züge mit stillem Ver- ständnis beobachtete, konnte die Natur dieses

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ausserordentlichen Menschen ganz begreifen, in welcher sich kindliche Heiterkeit, überströmendes Mitleid, gewaltige Leidenschaft, Forscherblick des allsehenden Intellekts, weltverachtende Ironie und tiefe Schmerzfähigkeit vereint fanden, und welche deshalb auch einen alles umfassenden Kosmos aus sich erschaffen konnte. Ich erinnere mich noch eines andern jener kleinen so bedeu- tungsvollen Züge aus jener Zeit. Wir gingen eines Abends auf der grossen Terrasse unter dem Portikus des Hauses auf und ab. Eine ungeheure Prozession von Millionen Ameisen zog quer über die Terrasse hin, wie ich sie in Italien öfter, z. B. in Sette-Fonti, auf dem Landsitze Ming- hettis, gesehen hatte, wo sie ihre Wanderstrasse von einem Berggipfel zum andern und mitten durch eine Kirche geführt hatte. Wir sprachen über ernste Lebensfragen, ich bemerkte aber im stillen mit Rührung, wie Wagner jedesmal, wenn wir an die wandernden Scharen kamen, einen grossen Schritt machte, um nur nicht eines der kleinen klugen Wesen zu zertreten.

Auf jener grossen Terrasse mit der Aussicht auf den Golf und den Vesuv, aus dem an jedem Abend wie von einem Opferaltar eine Feuersäule gen Himmel stieg, wurden meistenteils die Abende verbracht, wozu sich auch öfter Besucher aus der Stadt einfanden. Unter den vielfachen mehr oder minder bedeutenden Gegenständen, die besprochen wurden, kam an mehreren Abenden das Gespräch auf Schiller, und Wagner las uns das Gedicht »die Götter Griechenlands«

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vor, so schön wie nur er lesen konnte. Es war einem dabei, als höre man die Sachen zum ersten Male, und man fühlte es neu, wie herr- lich Schiller jene Welt nachempfunden hat, wo alles zum personifizierten Ausdruck der Schön- heit wurde, alles eine Bedeutung erhielt, als stamme es von geisterfiillten Wesen und nicht von blinden Naturgewalten ab, und wo alles daher zum freudigen Grenuss des blühenden gött- lichen Lebens einlud, ohne Zweifel, ohne Reue, ohne Schmerz. An einem anderen Abend kam das Grespräch auf den »Don Carlos« und einer der Anwesenden behauptete, die Beziehung des Marquis Posa zum König Philipp sei ein grosser Fehler und nicht zu rechtfertigen. Wagner aber sagte, sie sei vollständig zu rechtfertigen, da der Dichter im übrigen den historischen Charakter festgehalten und nur die Möglichkeit angenommen habe, dass solch ein Moment auch einmal an einen Menschen wie Philipp herantreten könne. Ausserdem zeichne es ja auch den Charakter des Königs nur desto schärfer. Wieder ein anderes Mal sprach Wagner darüber, wie wenig man eigentlich die Menschen lieben könne, wenn man die Geschichte studiere und die Anhäufung von Greueln sähe, mit denen der sogenannte Fortschritt meist begleitet sei, wie z. B. die Einführung des Christentums. Er meinte, man könne dann höchstens noch zur Liebe kommen, wenn man sich als Angehöriger eines Volks- stammes fühle, dessen Interessen, Freuden und Leiden man teile, was dann schliesslich zur

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Familie zurückführe. Ich ging weiter und meinte, dass man im Grunde nur durch das Mitleid mit der Menschheit zusammenhänge; sie lieben als etwas Vortreffliches könne man wahrlich nicht; da in ihr der rohe Naturtrieb der Gewalt des Stärkeren über den Schwächeren, und der Rache dieses durch List ebenso verkomme, wie bei den Tieren; wo es aber weniger roh sei, da wäre es doch meist nur infolge egoistischer Interessen. Das Mitleid bände uns an jene Menge, die leidet, ringt, stirbt wie wir, sowie der Wunsch, sie zu erlösen vom Elend, und zwar gewiss ohne Unterschied der Nationalität. Das Stammgefiihl trete nur in den Vordergrund, wenn es sich um Dinge des Intellekts, um Lebensanschauungen usw. handle, oder in Augenblicken der Tat. Und wieder später sagte Wagner einmal, man würde vielleicht weniger geringschätzig von der Welt denken, wenn keiner hienieden sich glück- lich wähnte. Es erinnerte mich dies an einen Abend in Paris im Winter 1859, wo Wagner an einem seiner Empfangsabende mit Blandine Ollivier, der Tochter Liszts, mit mir über das- selbe Thema sprach und uns an die Worte der Prinzessin in Goethes Tasso erinnerte: »Wer ist denn glücklich?«

Und doch durften wir uns hier in der ent- zückend schönen Welt, die uns umgab, und der noch schöneren Greisteswelt, in der wir lebten, wenigstens für eine Zeit lang glücklich wähnen. Wagners Geburtsts^ nahte heran und es wurden Vorbereitungen gemacht, ihn festlich zu begehen.

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Am Morgen begrüsste den Gefeierten ein hoch- poetisches kleines Festspiel von Frau Wagner gedichtet, welches das Sternbild des Wagens redend vorführte, das mit seinen sieben Sternen der Zahl der Familienmitglieder entsprach, und von den Kindern rezitiert wurde. Beim Mittags- tisch, an dem auch Herren aus München, Mit- glieder des Wagner- Vereins, teilnahmen, wurde ein von Stein gedichteter Toast ausgebracht. Wagner antwortete darauf in der eigentümlich ergreifenden Weise, in der nur er zu sprechen verstand, und gedachte des langen, qualvoll be- wegten Lebens, welches nun in schönem, har- monischen Frieden seinen Abschluss gefunden habe, so dass alle, die ihm fortan nahen wollten, ihn nur noch indem er auf das Bild des Siebengestirns zurückkam im Kreise der Sieben finden könnten.

Als der Abend kam, stiegen wir alle von unserer Höhe hinab an den Golf; zwei Barken nahmen uns auf, und wir fuhren hinaus in die herrliche Mondnacht, in welche der Vesuv seinen Feuergruss hinaufsandte. Die neapolitanischen Fischer liessen es sich nicht nehmen, bengali- sche Feuer auf unseren Barken anzuzünden, so dass wir wie kleine Feuerinseln dahinschwammen, und ein Volkssänger, den Joukoffski seiner schönen Stimme wegen in Dienst genommen hatte, sang neapolitanische Volkslieder mit Be- gleitung der Mandoline, woran Wagner Freude hatte. Endlich kamen wir heim und fanden den Saal feenhaft geschmückt. Frau Wagner hatte

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so viele Rosenstöcke, als Wagner damals Jahre zählte, bringen lassen, und mit diesen war das Zimmer bei hellster Beleuchtung in einen Rosen- hain verwandelt. Um aber den schönen Tag mit dem Schönsten zu beschliessen, wurde dann das Musikzimmer geöffnet und da begann eine Aufführung, die aus der Schönheit irdischen Seins zu einer Ahnung der Schönheit überirdi- schen Seins führte und die Seele mit dem reinsten Glücksempfinden erfüllte, welches Erdgeborenen zu fühlen vergönnt ist. Joseph Rubinstein, der treue Wagnerianer, der leider zu früh freiwillig aus dem Leben schied, begab sich an den Flügel, Wagner, die Münchener Herren und Kinder standen bei ihm und führten die ganze erste Scene im Gralstempel aus dem Parsifal auf, die ich zum ersten Mal hörte. Die Kinder hatten die Knabenstimmen des Chors herrlich einstudiert, und gewiss hat nie eine Aufluhrung des hehren Werks in erhobenerer Stimmung, in innigerer Rührung und Ergriffenheit stattgefunden. Solche Stunden wiegen Jahre des Leidens auf und bleiben wie Fixsterne am Lebenshimmel stehen, wenn manches andere freundliche Licht längst erloschen ist. Sie leuchten noch in meiner Erinnerung fort, in unvergänglicher Wirklichkeit, während bereits drei aus jenem Kreis, und unter ihnen der Grösste, der Meister selbst, in das Nichtwahnland hinüber gegangen sind.

Gedachtes und brieflich Geschriebenes.

Wieder zog ich aus dem wonnevollen Süden über die Alpen, die lieben Menschen zu suchen, die ich wie meine irdische Zukunft ansehe, Olga und die ihrigen. Es war kurz nachdem ich mit den Freunden in Sorrent den schönen Winter verlebt und auch nach ihrem Weggange noch einmal tief all' die Zauber der südlichen Natur auf mich wirkend empfunden hatte. Nun um- fing mich der graue Norden und als ich am frühen Morgen in der Eisenbahn fahrend die Sonne aufgehen sah, tönte es mir in der Seele:

Hell steigt die Sonne

Auch hier ja empor,

Aber sie färbt nicht purpurn

Das selige Meer,

Belebt nicht edele Höh'n

Mit freudig vergoldendem Strahl;

Es raucht ihr nicht

Des alten Opferaltars

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Düster flammende Wolke; Nicht reicht die Liebe uns hier Mit verjüngendem Blick Den heiligen Trank Der uralten göttlichen Welt Herrlicher Wesen Ohne Leid, Alter und Tod! Still, ohne Klage Zieh ich des Wegs, Denkend dessen, was war. Aber es steigt leuchtend Die Sonne hier auch empor, Scheint vielleicht Glücklichen, Die sie jauchzend verehren.

In den nächsten Zeiten nach dem Aufenthalt in Sorrent war ich in eifriger Korrespondenz mit Doktor Ree, dem einen unseres Quatuors von dort unten, der mir ein sehr lieber Freund ge- worden war, trotzdem wir in unseren intellektuellen Anschauungen Antipoden waren. Er verliess, wie erzählt, Sorrent mehrere Wochen früher als Nietzsche, und ich schrieb ihm noch von Sorrent aus; zunächst Dank fiir die »Briefe Bismarcks an seine Familie«, die er mir schickte, und dann über Nietzsches Scheiden: »Vielen Dank fiir das Buch, welches ich mich sehr freue zu lesen. Ich habe nun einmal ein grosses Interesse fiir Bismarck, trotzdem ich deshalb als eine Rene- gatin von meinen Glaubensgenossen angesehen

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werde. Das ist aber doktrinäre Beschränktheit, denn einen bedeutenden eigentümlichen Menschen muss man von seinem Standpunkt aus beurteilen und anerkennen können, auch wenn man seine Ansichten nicht teilt.

> Nietzsche geht wirklich morgen. Sie wissen, wenn er einmal so etwas vor hat, dann tut er es, mag auch der Himmel mit allen Wamungs- zeichen dagegen sprechen. Darin ist er nicht mehr griechisch, dass er auf die Stimme der Orakel nicht mehr hört. Ebenso wie er seine Landpartien macht, auch wenn es das schlechteste Wetter ist, so geht er jetzt, trotzdem er tod- matt ist und ein wütender Wind weht, der das Meer aufwühlt und ihn jedenfalls seekrank macht, da er durchaus von Neapel nach Genua zu Schiff gehen will.«

Am folgenden Tag, 8. Mai 1877: »Ja, er ist wirklich fort. Da Sorrent mit seinen Blüten, seinen Zaubern ihn nicht zu halten vermochte, so musste er eben gehen. Aber es ist mir schrecklich, ihn so allein reisen zu lassen, denn er ist so unpraktisch und unbehülflich. Zum Glück ist das Meer heute ruhiger. Wenn Wünsche etwas tun könnten, so müsste es ihm gut gehen, denn meine heissesten Wünsche und mein un-

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sagbares Mitleid folgen ihm. Ach, er ist so zu bedauern! Noch vor acht Tagen hatten wir Pläne für ihn gemacht, für nahe und ferne Zu- kunft. War es nun nur die Angst, die ihn trieb, dem Leiden zu entfliehen, das ihm plötzlich an das hiesige, allerdings etwas abnorme Frühlings- wetter gebunden erschien ? Aber wie wäre es wohl anderswo mit ihm in diesem schlechten Frühjahr gewesen? Ich glaube auch, im letzten Augenblick kam ihm der Gedanke, als ob es doch übereilt sei, zu gehen, doch es war zu spät.

Mich hat dies alles, dieses viele und traurige Trennen sehr angegriffen, und ich rufe mit aller Inbrunst den heiteren Intellekt zu Hülfe, denn in diesen Tagen empfand ich es noch recht leb- haft, wie nur der Intellekt heiter ist; er ist das solarische Gebiet; das andere, das tellurische, der Wille, ist das Dunkle, das Schmerzbrütende, Qualenspendende. Ich will sehen, ob es mir ge- lingt, mich mit Hülfe des Intellekts oben zu er- halten, über allem, was in der letzten Zeit mich wieder betrübt und angegriffen hat. Die alte Kämpferin muss sich doch bis zuletzt bewähren.«

Zunächst hielt ich in Seelisberg am Vierwald- stätter See an, wo ich meine Freunde erwarten sollte. Ich schrieb von da an Ree: »Meine Einsamkeit ist beinah vollständig, wenn schon unter hundert Menschen, denn die ganze deutsche Gesellschaft, welche das Hauptkontingent bildet,

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erregt mir keinen Wunsch nach Bekanntschaft; sie ist greulich, diese albernen Frauen, diese philisterhaften Männer, diese Nichtigkeit der Ge- spräche! Es ist erschreckend! das nennt man das Volk der Intelligenz! Einzig ein paar eng- lische Tischnachbarinnen sind angenehm. Die eine, schon mit grauen Haaren und lahm, kommt eben von Neu-Seeland, über Califomien, Nord- Amerika und die Sandwich-Inseln, zurück! Sie spricht davon, als ob sie eine Spazierfahrt ge- macht hätte, und sagt, das schönste Paradies der Erde sei Honolulu, es sei märchenhaft schön. Ja, die Engländer sind darin wie in vielem anderem die klügsten Menschen. Sie sehen die Paradiese der Erde und freuen sich ihrer, ohne sich um die Adams und Evas zu bekümmern.

Eben Briefe erhalten von Brenner und Nietzsche. Hier ein kleines Gedicht von ersterem, das mich sehr rührt; der arme Junge, er ist schwer krank und wird sterben. Das einzige Glück, welches er gekannt hat, war der Auf- enthalt in Italien:

>0h Lichtland, Fern flutet dein Glück. Am weiten Ende Schimmert ahnende Helle Deines heiligen Abends, Träumendes Lichtland!«

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Von Nietzsche hatte ich einen merkwürdigen Brief; sein neuster Entschluss ist gerade das Gegenteil von seinem letzten Sorrenter Beschluss, der ihn ganz begeisterte und ihm mit völliger Gewissheit der rechte schien. Auch mir schien er der rechte, wir besprachen ihn genau und kamen zu der Überzeugung, dass es so sein müsse. Er wollte also Basel ganz aufgeben, noch ein Jahr nur der Gesundheit und geliebter Arbeit leben, und dann nach gewonnener Stär- kung, ein neues Leben beginnen. Wir stimmten überein, dass sicher der Zwang, zu arbeiten, was ihn nicht befriedigte, und unterlassen zu müssen, was seinem tiefsten Wesen homogen war, das eigentlich Schöpferische, dazu beigetragen habe, ihn krank zu machen. Er atmete förmlich auf bei dem Gedanken der Freiheit. Jetzt hat die »Vernunft« der Schwester gesiegt. Er bleibt in Basel! Nur als »Gelehrter« ist er gesund ge- wesen und er will als solcher entweder wieder gesund werden oder im »Handwerk« untergehen. Sehen Sie, das ist wieder das seltsame Schwanken zwischen den beiden Naturen, die »in seiner Brust kämpfen«; die eine, die recht behalten müsste, lässt er unterliegen und wird ewig daran kranken, dass sie die Unterdrückte ist. Ach armer Nietzsche, mir ist es furchtbar leid um ihn, gerade weil seine Begabung so glänzend ist, wie Sie es sagen, und weil er nie glücklich sein kann in einer philisterhaften Existenz.

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Im Sommer 78 war ich zunächst in Mont- morency bei Paris, wo Olga einen Sommer- aufenthalt machte. Ihre Gesundheit war stark angegriffen und niichte mir grosse Sorge. Ich schrieb an Ree, sprach ihm auch davon und sagte: >Ach, die Pein ein geliebtes Wesen leiden zu sehen, ist doch die grösste von allen. <e Hat die Analyse dafiir auch den Schlüssel gefunden ? (Der streitige Punkt zwischen Ree und mir; er machte alles von Analyse und Experiment ab- hängig.)

>Dazu welch ein Sommer! Welch ein ab- scheuliches Klima hier oben jenseits der Alpen I Und welche Politik, wie sie sich eben in Berlin abspinnt 1 Dieses Verhandeln der Völker, dieser Kommunismus von oben, während man die armen Teufel verfolgt, die nach der massigen Gütergemeinschaft des täglichen Brots verlangen ! Der alte Zorn wird in mir wach ; es ist ja wahr, dass schliesslich alles Zielen der Vernunft dienen muss, denn der Gedanke geht über den Egoismus der Mächtigen hinweg, und Asien wird der Kultur geöffnet, von wo sie kam. Freilich wird eine Menge Poesie damit verloren gehen, eine Menge Schönheit, Originalität, Tradition, ja Weisheit und das Nivellieren, welches Stuart Mill so sehr fürchtete, wird sich immer mehr verwirklichen. Aber es ist nicht zu ändern, und aus dem Gleich- gewicht in der gesellschaftlichen Entwicklung

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wird entweder ein neues gewaltiges Ringen nach einem fernen, unbekannten Ideal hervorgehen, oder ein Stillstand, der Stumpfheit und Indifferentismus hervorbringt, oder endlich ein Kataclysmus, welcher den ganzen irdischen Prozess verschlingt, der sich dann auf anderen Körpern des Weltalls wiederholt.

Nach dem Aufenthalt in Montmorency ging ich, eingeladen von Wagners, nach Bayreuth zu Besuch. Ich schrieb von da an Ree: »Meine Reise ging glücklich von statten. An der Bahn empfingen mich Frau Wagner und die Kinder, im Hause Wagner und Liszt, welcher zu meiner grossen Freude noch hier ist. Ja, es lässt sich kaum etwas Schöneres denken, als das Leben hier im Hause: diese beiden hochbedeutenden Männer, zwischen ihnen Friede, Harmonie. Geist und Grazie bringend die herrliche Frau, und um diese drei der Kranz junger, blühender Geschöpfe, die schöne Häuslichkeit, geordnete Verhältnisse, keine Sorgen mehr. Im Augenblick haben wir auch schönes Wetter; hier in Wagners Garten ist es wunderschön, es ist alles so herrlich auf- gewachsen und schön gepflegt. Überhaupt das ganze Wahnfried ist ein Heim, wie wohl wenig Menschen selbst in ihren Träumen es sich haben erschaffen können. Es ist ein einziges Beispiel einer spät erfüllten aber vollständigen Gerechtig-

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keit des Schicksals. Liszt hat mir gestern den Anfang des Parsifal gespielt ja, lieber Freund, ich kann Ihnen nicht helfen, das ist doch Religion I Ob sie nun ein angeborenes Empfinden oder ein historisch entwickeltes Produkt des menschlichen Organismus ist, es ist ein Etwas, was uns erst wahrhaft zu Menschen macht und seine Erklärung nicht im chemischen Laboratorium findet. Ist es absolut ein Produkt des historischen, ent- wickelten Menschengeistes, so wird unsere Aus- sicht grenzenlos, denn dann sind wir fähig, also verpflichtet, uns zu vergöttlichen. Doch tut es mir manchmal leid, dass sich Wagners durch dies schöne Heim hier gebunden haben, denn der lange Winter ist doch schwer zu ertragen; ja, wenn es zwei Monate wären, aber acht!

Es tut mir furchtbar leid von hier zu gehen, aber das arge Klima, die frühe Kälte treiben mich fort. Aber es gibt doch auch ein langes Glück, denn die besten Stunden schliessen ewigen Inhalt ein, der wie ein Komet einen langen Lichtstreif hinter sich zurück lässt.

Nach einem schweren Verlust, welcher Ree betroffen: »Ja, dass sind die Fälle, wo keine Philo- sophie hilft, sondern einzig die stumme, klaglose Resignation, die den furchtbaren Schmerz, die

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unermessliche Entbehrung hinnimmt, wie einen Teil unseres Erdenloses, und sie stolz in das Herz verschliesst, es verschmähend, mit den rohen Gewalten zu rechten, welche die Geistgeborenen zu solcher Qual verdammen. Nein, es ist gut, dass es keinen Gott im gewöhnlichen Sinne gibt. Wir würden in ewiger prometheischer Empörung gegen den grausamen Despoten sein.

Wenn Montaignes Definition richtig ist, so war es allein schon der Mühe wert, sich mit Philosophie zu beschäftigen, um dem Ende dieses Lebens mit Ruhe, ja, beinahe Freude entgegen zu sehen. Aber ich habe schon mehrere Mal bemerkt, dass weder die Beschäftigung mit Philosophie, noch mit Religion, die Menschen von der Furcht vor dem Tode und von der über- triebenen Anhänglichkeit an das Leben befreit. Nur die philosophisch geborenen Geister und die innerlich religiösen Gemüter fürchten den Tod nicht, sondern erwarten ihn in erhabener Ruhe. Wobei es dann wieder bestätigt wird, dass alles nichts hilft, was man nicht innerlich ist.

Ich bekam von meinen Schwestern Schillers und Goethes Briefwechsel geschenkt, den ich

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noch nicht besass, und habe gleich heute morgen meinen Gottesdienst darin lesend gehalten. Ja mit dem Genius verkehren, das ist auch, was leben und sterben lehrt. Welche Heroen diese beiden I wie erlösend klar strahlt ihr Geist einen an. Es ist das darin, was befreit.

Die Tage der Aufregung durch den Tod des Königs sind vorüber, und Rom ist in seine alte Gestalt zurückgekehrt; die 120000 Fremden sind fort; le roi est mort, vive le roi, ist eine Wahr- heit geworden; das erste Auftreten und Reden des jungen Königs ist würdig gewesen, und wenn der Parteihass auch schon wieder anfängt zu züngeln und verdächtigende Vermutungen, düstere Prophezeiungen usw. auszustreuen, so hat sich die nationale Einheit als eine Tatsache erwiesen, welche man vergebens wegzuleugnen versucht. Das sich dies monumental schöne, imposante Leichenbegängnis, ohne den Klerus (es waren nur wenige einfache Priester der Quirinal - Parochial - Kirche dabei) im Angesicht des Vatikans und hin zum Tempel des Agrippa, in das heidnische Pantheon, vollzogen hat, bleibt ein historisches Moment von grosser Bedeutung. Ja, es war etwas Unvergessliches, diese Tage hier erlebt zu haben. Ich glaube nicht, dass Gambettas Mission gelungen wäre, hätte auch

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Victor Emanuel gelebt, denn die öffentliche Meinung ist jetzt ganz für die Allianz mit Deutschland und dieser Meinung hatte sich der verstorbene König immer gebeugt, und jetzt ist die Hinneigung wohl noch grösser geworden durch das Kommen des deutschen Kronprinzen zum Leichenbegängnis und durch die entschiedene Vorliebe des Königs Humbert für Deutschland. Die armen Türken werden ihrem Schicksal überlassen; ich kann nicht sagen, wie es mir leid tut und wie sehr ich furchte, dass Europa sein laisser aller den Russen gegenüber zu be- reuen haben wird.

Nun ist auch der Papst drüben im Vatikan gestorben, so kurz nach dem Tode im Quirinal, gerade als wenn sie sich das Wort gegeben hätten I Das Konklave, dem die Fremden ins- besondere mit grösster Neugier entgegen sahen, ist sehr rasch und fast unbemerkt, nicht mehr im Quirinal, sondern im Vatikan vorüber ge- gangen. Es war ein merkwürdiges Zusammen- treffen, alte und neue Zeit standen sich gegen- über, feindliche, unversöhnliche Gegensätze 1 Wer wird recht behalten von den beiden? Das alte Rom ist noch sehr stark, denn es ist eine Welt- macht ; es kommt darauf an, ob das neue Rom so hohe Kulturgedanken zu verwirklichen fähig

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ist, dass sie den alten, halb verbrauchten Stoff besiegen, sonst wird der Gregensatz noch lange dauern, vielleicht noch Jahrhunderte. Ich war in diesen Tagen in einer Abendgesellschaft beim deutschen Gesandten, Herrn von Keudell. Gre- gorovius war auch da und ich sprach mit ihm über die letzten Begebenheiten und sagte, wie schade es sei, dass dies tragische Zusammen- treffen nicht ein paar Jahrhunderte zurück läge. Wie schön würde er es sonst dargestellt haben, ein wirklich historisches Drama: der noch jugend- kräfdge König und der müde Greis, in den beiden Palästen, aus denen man sich in die Fenster sehen kann, sterbend, der eine not- gezwungen der Sieger; der andere der tief Be- leidigte, nicht Vergebende, obwohl das Haupt der Kirche der allgemeinen Liebe und Versöhnung. Es wäre ein Seitenstück geworden, nur im ent- gegengesetzten Sinn, zu dem schönen Bild, welches er, Gregorovius, in der Geschichte Roms ent- worfen, von dem Zusammensein Otto in. mit seinem Vetter Gregor V., den er zum Papst gemacht (der erste deutsche Papst). Beide Jüng- linge, von hoher Bildung und edler Gresinnung, zusammen im Lateran, einen Traum beglückender Weltherrschaft träumend. Aber diese Idealisten gingen unter mit ihrem jugendlich holden Traum, und jene modernen Alten blieben, ein jeder das Scepter fest an sich drückend, ein jeder sterbend rufend: >non possumusU

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Ich schrieb von der Art, wie man intimere Korrespondenzen führen solle, in Tagebuchweise, und fügte hinzu : so gibt's ein Stück Seelenleben Verzeihung 1 ich habe mir vorgenommen, nicht mehr von Seele zu sprechen; wieder ein Wort, das man aus der Sprache streichen muss, also auch nicht mehr von Psychologie, sondern: graue Gehirnstoffsfunktionologie. Werd ich nicht rea- listisch? (Es waren dies Neckereien wegen Rees wissenschaftlichem Realismus und meinem an- gefeindeten Idealismus.)

Ich sprach von einem gemeinschaftlichen Freunde, an dem ich eine seltsame Erfahrung gemacht hatte. Ach Männer, Männer, welch ein Geschlecht! Ewig werden euch die Philinen besser gefallen, als die edlen, gebildeten Frauen. Deshalb protestiert ihr auch so gegen alle Be- strebungen, die Frauen zu einer höheren Bildungs- stufe zu erheben. Nun gut, wenn es nicht mit euch sein kann, so wird es ohne euch und trotz euch geschehen. Ja, ich möchte jetzt Kreuzzüge predigen, nicht gegen die armen Türken, die sind doch ehrlich mit ihren Harems, aber zum energischen Vorgehen möchte ich Frauen und Mädchen anfeuern, zum edlen Kampf mit den Waffen der höchsten Bildung, der höchsten Sitte. Die Zahl meiner unbekannten Freundinnen mehrt

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sich auch zusehends. Aus Winterthur erhielt ich einen Brief von einer Schweizerin, die mir die Zustimmung und Sympathie eines ganzen Kreises versichert. Zwei Damen aus Danzig sind hier, die mir mit Liebes Versicherungen entgegen kamen, kurz, ich sehe einen tiefen Wunsch erfüllt: auf die Frauen einen ermutigenden Einfluss auszu- üben. Nicht, dass ich mir einbildete, es wäre etwas Grosses! Aber es ist die Korallenarbeit, die mit ihrem kleinen Anteil hilft am Bau der Zeiten, durch die Arbeit an der Veredlung meines Geschlechts, der ich die wichtigsten Folgen für das Kulturleben der Menschheit zuerkenne.

Ich glaube nicht, dass Sie die Richtigkeit einer Beobachtung daran messen können, wenn Sie die objektiv gemachte nun in sich bestätigt finden. Keines Menschen Inneres ist ein Makro- kosmos, in welchem sich alle, und jede Möglich- keit von Regungen findet, um danach zu ur- teilen; ich glaube sogar, dass es ein gefähr- liches Experiment ist, zu viel in sich zu blicken, um eine objektiv gültige Wahrheit hinzustellen. Selbst der Genius, der doch am meisten die Fülle der Welt in sich trägt, muss dennoch viel sehen und beobachten, um wahr zu gestalten. Mir scheint, man muss dabei verfahren wie der Physiolog, dem erst eine ungeheure Anzahl von

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Beobachtungen mit dem gleichen Resultat den Ausspruch eines allgemein gültigen Gesetzes ge- statten. Auch selbst Larochefaucoult finde ich gar nicht immer allgemein gültig; er bleibt zu oft nur von seinem Kreise, der Gesellschaft seiner Zeit, seiner Nationalität bestimmt.

Am Weihnachtsabend war ich ganz allein und gedachte des Jahres, wo wir in Sorrent so fröhlich beisammen waren. Schöne Bilder aus der langen Lebenszeit umgaben mich fast wie lebende Gegenwart, und ich befand mich in einem fortwährenden, inneren Gebet für alle, die ich liebe. Kennen Sie diese Art des Gebets auch? Es ist vielleicht die einzig wahre, denn sie richtet sich nicht an ein Güter spendendes Wesen und verlangt nichts Irdisches. Es ist nur eine so in- tensive Stimmung der Liebe, der Reinheit, des Friedens, dass im Gegenteil alles Irdische darin verschwindet, und nur ein segnendes Umfassen der liebsten Menschen, eine grosse Versöhnung mit allem Schicksal übrig bleibt, und der Christ- gesang zur Wahrheit wird : Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. In solchen Stim- mungen versteht man alles und verzeiht deshalb alles.

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Meine Gesellschafterin liest mir jetzt abends den Tacitus vor, welcher mich ganz glücklich macht. Ja, diese klassische Ruhe und Klarheit der Darstellung ist wie ein wohltätiger Balsam, welcher erquickt und stärkt. Warum haben wir modernen Menschen diese höchste Bildung nicht, einfach zu sein ? Ich glaube, weil wir zu subjektiv sind, zu sehr alles im Spiegel unseres Ichs betrachten, anstatt uns ganz der Anschauung des Objekts hinzugeben und uns dabei zu vergessen. So sagte mir Stein neulich viel Schönes über Michel Angelo und die Capella Sistina, worüber ich mich sehr freute, dann aber setzte er hinzu : >aber lehren tut mich Michel Angelo nichts, ich habe das alles schon in meiner einsamen Studierstube erlebt und gewusst.« Das ist's, was dem modernen Menschen anhängt, er glaubt sich zu früh reif und meint, er habe nichts mehr von den Grossen zu lernen, ohne zu bedenken, wie viel er bereits von ihnen gelernt hat, und wie anders sein subjektives Erkennen sein würde, hätten sie ihm nicht den Weg gezeigt.

Ach, die Einsamkeit, wie viel Schmerzliches sie auch hat, verwöhnt den Menschen doch, und es bleibt ein ewiges Schwanken in der Seele zwischen der Sehnsucht nach denen, die man liebt, und nach der einzig unerschütterlich treuen

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Gefährtin der Einsamkeit. Die Säulenheiligen hatten eigentlich recht. Sie wussten, dass man ein Ende machen muss mit diesem Schwanken, und dass nur in unerreichbaren Wolkenfernen das Herz endlich verstummt vor dem denkenden Geist, der seine letzten Aufgaben zu lösen hat.

Gestern sprach ich mit dem hiesigen Arzt (in einem Kurort in der Schweiz), einem sehr intelligenten jungen Mann, und sagte ihm, mein einziger letzter Anspruch sei, noch arbeitsfähig zu bleiben, da die Arbeit doch das einzige sei, was sich nicht als Illusion erweise, und uns die letzte wirkliche Befriedigung gebe. Er meinte, ja, aber auch das sei schliesslich Illusion, denn wie gering sei die Wirkung, die von ihr aus- gehe, die Werke des Genius vielleicht allein aus- genommen. Ich gab ihm das zu, sagte aber, die Bedeutung der Arbeit läge nicht sowohl in ihrer Wirkung, als in der Betätigung der Individu- alität, so scheint es mir, es ist derselbe Vor- gang im Mikrokosmos, der sich im Makrokosmos in grossen Verhältnissen begibt. Das Schaffende was es auch sei, ob Wille, ob Anziehungskraft in den Atomen (Rees Theorie), ob ein geistiges Prinzip, immer muss es sich individualisieren, sich betätigen, sich gegenständlich werden, so auch in uns.

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Dass Sie ein solcher Revolutionär werden, et ä tout prix das Weltganze neu organisieren wollen, amüsiert mich sehr. Ja, es ist das eben der Traum, den wir alle geträumt haben, dass eine solche Reorganisation möglich sei. Sie ist es aber nicht; die Welt träte sonst aus dem Gesetz der Kausalität heraus. Freilich, der zur höchsten Einsicht gereifte Intellekt wäre auch die Wirkung aller vorhergegangenen Ursachen, und insofern wäre seine Reform in der Kausa- litätskette mit inbegriffen; aber nicht bloss das Prinzip selbst, sondern auch die Mittel und Wege, mit denen es sich verwirklicht, entwickeln sich nur langsam, denn der Faden der Gewohnheit ist nicht plötzlich abzureissen; er ist nur all- mählich in ein neues Gewebe zu verwandeln. Das ist dann die Aufgabe der helfenden Mächte, welche dem die höhere Organisation anstrebenden Intellekt zur Seite stehen.

Mir scheint jetzt der einzig mögliche und wirkungsvolle Schwerpunkt der Neu-Organisation der Gesellschaft, welcher wir zustreben, der zu sein: die möglichst grosse Entwicklung des In- tellekts und die materielle Verbesserung der bedürfenden Klassen; infolgedessen die Vermin- derung sinnlicher Bedürfnisse und die Abnahme der Herdenproduktion der Menschheit. Denn

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wo werden die meisten Kinder geboren? In den armen, materiell entbehrenden, unwissenden Klassen, und das ist ganz natürlich unter den jetzigen Verhältnissen. Der unwissende Prole- tarierteil der Gesellschaft wird also vermehrt. Sollte das auch selbst vom rein national-ökono- mischen Standpunkte aus ein Gewinn sein? Gewiss nicht. Noch weniger vom philosophisch-huma- nistischen. Liegen unsere höchsten Kulturzwecke darin, dass ein dicht bevölkertes Land viele Arme habe für Industrie, Handel usw. und schliesslich für Kanonenfutter? Dreimal nein! Sie liegen darin, dass ein intelligentes Volk die Erde zu einem Wohnsitz denkender, fühlender, künst- lerischer Wesen mache, welche den Vorteil der Anzahl durch die Vorzüge höherer Intelligenz und Bildung bei weitem übertreffen und die geistigen Ziele höher stellen als das blosse Wohlleben.

Ich bin mit Ihrem Satz über das Mitleid nicht einverstanden. Schopenhauer sagt nicht,, dass jeder Mensch von Natur dasselbe als lobenswert empfindet, sondern er sagt, es ist das einzig Ethische, weil wir in ihm uns nicht als egoistische Einzelwesen fühlen, sondern das fremde Leiden wie unser eignes empfinden, und die gemeinsame Last des Daseins im Mitgefühl

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gleichsam dem anderen tragen helfen. So ist es, deshalb ist es gut, gar nicht aus christ- lichem Aberglauben, sondern aus dem einzigen, was den Menschen adelt und ihn über das Tier in ihm erhebt. Und allerdings ist das Mitleid, wie alle anderen Grundtriebe unseres Wesens, eingeboren, denn sonst könnten sie sich nie ent- wickeln. Wozu kein Keim da ist, kann sich nichts entwickeln. Aber diese Keime liegen in uns gebunden, und unsere Aufgabe ist es, sie zur Blüte zu bringen.

Am 4. Juni 1882 war in Italien einer jener Augenblicke, wo dasselbe Gefühl in Millionen Herzen zittert und die Tränen derselben Trauer in Millionen Augen perlen. In solchen Augen- blicken verschwinden die kleinen Hänke, die bösen Triebe des Neides und Hasses, die selbst- süchtigen Anfeindungen der Parteiwut, die Leidenschaften, welche in blindem Eifer die ruhige Klarheit trüben, die allein die Menschen zu edler Entwicklung und zum Frieden führen kann. Die Massen begreifen dann instinktiv ein höheres Prinzip, das sich ihnen in einer konkreten Gestalt dargestellt hat und man fühlt mit tiefer Genugtuung, dass die Tugend dennoch eine Macht ist, vor der in den Weihestunden des Lebens die Menschheit das Knie beugt, nnd das Laster, trotz seiner unermesslichen Gewalt, ver- stummt.

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Schon hat der Telegraph es der Welt ver- kündet, was diesen Augenblick hervorgerufen hat: Joseph Garibaldi ist totl Kein Land der modernen Geschichte hat eine solche Menge wahrhaft epischer Gestalten in einer verhältnis- mässig kurzen Epoche hervorgebracht, wie Italien in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, und wenn es mit tiefem Weh jetzt eine nach der anderen von denselben verschwinden sieht, so bleibt ihm der Trost, dass ihr Ruhm weit hinaus in die Zukunft leben, ja vielleicht noch heller strahlen wird, wenn die Hand des Histori- kers einst in unparteiischer Betrachtung die einzelnen Züge der Persönlichkeiten und die Ereignisse zu einem grossen Bilde vereinigt. Unter den vielen aber ragen zweie besonders hervor: Mazzini und Garibaldi. Dieser hat den ersten um lo Jahre überlebt, und wiewohl seine Kraft längst gebrochen war, und er, ein siecher Held, auf seinem Schmerzenslager ruhte, so trifft die Nachricht seines Todes doch alle unvorbereitet; wie ein elektrischer Schlag bebt es durch ganz Italien, von -Nord nach Süd, dass ein nationales Unglück es betroffen. Beim Tode des Königs Victor Emanuel war die allgemeine Erregung nicht grösser und sicher nicht so innig, als sie jetzt ist. War Garibaldi doch ebenso, wenn nicht mehr, der Befreier gewesen, wie jener. Man muss Italien kennen, um sich vorstellen zu können, mit welcher Spontanität sich hier ein so tiefergreifendes Gefühl kundgibt. Kaum war die Trauernachricht in das Publikum

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gedrungen, so hatten sich alle Läden geschlossen, an den Fenstern und Baikonen wurden die Fahnen, mit Trauerflor bezogen, ausgesteckt; schwarzberänderte Anzeigen erschienen an den Mauern und wurden in den Strassen aus- geboten. Die Kammer, der Senat, das Mu- nizipium hielten Sitzungen, um Beschlüsse zu fassen, der König Umberto schickte alsbald ein Telegramm an die Familie nach Caprera und Hess die grosse Revue abbestellen, die zur Feier des Festes der Konstitution stattfinden sollte. Ebenso wurde das berühmte Feuer- werk, die Girandola genannt, aufgesagt, das in päpstlicher Zeit um Ostern, jetzt an diesem Festtag jährlich abgebrannt wird. Die Theater blieben geschlossen. Der Korso zeigte am Abend das Bild einer Aufregung, wie sie nur ein grosses, erschütterndes Ereignis hervor- rufen kann. Dicht gedrängt standen die Vplks- massen zusammen, die schwarzberänderten Blätter lesend oder in stummer Ergriffenheit miteinander fühlend.

Rom hatte seinen Helden der Jahre 48 und 49 nicht wieder gesehen, bis zum Winter des Jahres 74. Wer damals in Rom war, wird sich des Jubels erinnern, mit welchem der Volks- held gleich einem Triumphator der antiken Welt empfangen wurde, der Tausende, welche am Bahnhof seiner Ankunft harrten, des An- blicks, wie er, des Gebrauchs der Glieder da- mals noch nicht beraubt, stehend im Wagen, dem man die Pferde ausgespannt hatte und den

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begeisterte Männer zogen, nach allen Seiten dankend grüsste. Man wird sich erinnern, wie er in der Aula des Parlaments mit Ehren- bezeugungen empfangen wurde, als er kam, seinen Sitz als Deputierter einzunehmen, und wie der König Victor Emanuel ihn empfing und auszeichnete. Vor allem aber wird man sich erinnern, wie er die Furcht Lügen strafte, welche sein Erscheinen in Rom als den Anfang revolutionärer Unruhen bezeichnet hatte. Der edle Kriegsheld kam nur mit Missionen des Friedens; die Urbarmachung der römischen Campagna und die Regulierung des Tiberbettes das war die Revolution von eingreifenden Folgen für die Gesundheitszustände und die Wohlfahrt Roms, welche er zu bewerkstelligen wünschte.

Leider wurden seine grossen, praktischen Pläne nicht ausgeführt, wie denn überhaupt sein Alter schmerzvoll genug war, nicht bloss durch physische Leiden, sondern durch herbe Enttäuschungen für seinen edlen uneigennützigen Patriotismus. Ich sah ihn nur einmal, als ich am Morgen, wo seine Empfangszeit war, in die Villa vor der Porta Via, wo er wohnte, ging, ihn zu begrüssen. Er sass in seinem nun typisch gewordenen roten Hemd, sein kleines Mützchen auf dem Kopf, hinter einem grossen Tisch, der mit Karten und Drucksachen be- deckt war, um ihn im Halbkreis sassen die Besuchenden, deren Zahl jeden Tag unendlich gross war, und unter denen an jenem Morgen

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sich Depretis, damals noch nicht Minister, be- fand, (wie denn auch Minghetti seinen morgend- lichen Spazierritt täglich nach der Villa lenkte). Viel mit ihm zu reden war unter diesen Be- dingungen unmöglich, aber es war eine Freude ihn wiederzusehen, wenn er freundlich nach italienischer Weise mit der Hand grüssend, von seinem Sitz aus mit dem bezaubernden Wohl- laut sener Stimme rief: »addio, addio!« welches von ihm, wie übrigens häufig in Italien, als Willkommensgruss gesagt wurde.

Rom hat ihn nicht wiedergesehen, denn er ging, entmutigt und enttäuscht über die Ge- staltung der Dinge, früher als er gewollt hatte auf sein Eiland zurück. Aber Palermo hat die wehmutvolle Freude gehabt, dass Garibaldis letzter Besuch ihm gegolten, und der unsagbar herrliche Empfang, den Sicilien bei Gelegenheit der sechshundertjährigen Feier der sicilianischen Vesper dem greisen Helden bereitet, und die Beweise begeisterter Liebe, mit denen es ihn umgeben hat, werden nun wie der letzte, schöne Kranz von eines ganzen Volkes liebender Ver- ehrung sich um das Bild des edlen Toten schlingen.

Viele Städte wünschen sich schon die Ehre, die sterblichen Überreste Garibaldis zu besitzen, vor allen Rom, ja es wurde der Vorschlag laut, dieselben im Pantheon, wohin man auch Victor Emanuel gebracht, beizusetzen. Der letzte Wille Garibaldis, der soeben bekannt wird, entscheidet die Frage fest und für immer.

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Er lautet: »Da ich testamentlich die Ver- brennung meines Leichnams verordnet . habe, so beauftrage ich meine Frau mit der Voll- streckung dieses meines Willens, ehe irgend jemand von meinem Tod benachrichtigt wird. Wenn sie vor mir sterben sollte, werde ich dasselbe für sie tun. Es soll eine granitne Urne verfertigt werden, um ihre und meine Asche einzuschliessen. Die Urne soll auf der Mauer hinter dem Sarkophag unserer Kinder unter der Akazie, die ihn beschattet, aufgestellt werden«. Man wartet auf die Kinder Gari- baldis aus erster Ehe, die bei seinem Tode nicht anwesend waren, um diesen seinen letzten Willen zu vollziehen. Es lässt sich nichts der ganzen Gestalt und dem Charakter des ein- fachen Mannes würdig Passenderes denken, als diese Auflösung der zu verschwindenden Form. Die läuternde Flamme wird, wie bei den antiken Helden, das Irdische verzehren, und das kleine Felseneiland, wohin er zurück- kehrte, nachdem er Victor Emanuel ein König- reich geschenkt hatte, wo er in bescheidener Zurückgezogenheit mit den Seinen lebte, und wo sein edles Herz zu schlagen aufhörte ist das rechte Piedestal für die Urne, welche die Asche eines jener Menschen enthalten wird, wie sie in unserer Zeit immer seltener werden, welche die erkennende Nachwelt aber den edelsten Helden der alten Zeit zur Seite stellen wird.

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Auch von ihm, wie von Mazzini, entwarf Alexander Herzen ein schönes, nie übertroffenes Bild, ich erinnerte mich daran in diesen Tagen : »Mit Garibaldi wurde ich erst im Jahre 1854 in London näher bekannt, als er von Südamerika zurückkam als Kapitän eines Schiffes, das in den Westindien-Docks auf der Themse lag. Ich ging mit einem seiner früheren Gefährten im römischen Krieg, ihn zu besuchen. In seinem dicken, hellfarbigen Paletot, seinem bunten Tuch um den Hals und dem kleinen Mützchen auf dem Kopf erschien er mir mehr gleich einem voUkommnen Seemann, denn als der Führer des römischen Heers, dessen Bild mit phantastischer Kleidung damals in der ganzen Welt verkauft wurde. Die gutmütige Einfachheit seines Be- nehmens, die Abwesenheit aller Prätension, die unverkennbare Herzensgüte, mit der er uns empfing, gewannen ihm gleich meine Neigung. Seine Schiffsmannschaft bestand hauptsächlich aus Italienern, er war der Befehlshaber und sicher ein strenger ; aber er wurde dennoch von allen geliebt und verehrt, alle waren stolz auf ihren Kapitän. Er gab uns ein Frühstück in seiner Kajüte und bewirtete uns mit besonders zubereiteten Austern aus Südamerika, mit ge- trockneten Früchten und Portwein. Plötzlich sprang er auf und rief: »Halt, mit Ihnen muss ich einen anderen Wein trinken.« Er lief aufs Verdeck und darauf erschien ein Matrose mit einer Flasche. Garibaldi lächelte und füllte unsere Gläser. Was konnte man da nicht er-

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warten von einem Mann, der von jenseits des Ozeans kam? Es war aber nichts anderes als Belett, Landwein von Nizza, seiner Heimat, den er nach Montevideo und von da wieder nach London immer mit sich führte. In unserer ge- mütlichen Unterhaltung aber fühlte ich, dass ich mich in der Gegenwart einer ausserordentlichen, grossen Natur befand. Ohne dass er Phrasen und Gemeinplätze brauchte, erkannte man in ihm doch den mächtigen Volksführer, der selbst alte, erfahrene Soldaten durch seine Taktik in Erstaunen gesetzt hatte, und es war nicht schwer, in diesem schlichten Schififskapitän den verwundeten Löwen zu erkennen, der nach dem Fall von Rom nur Schritt vor Schritt der Über- macht wich, und nachdem er seine ersten Ge- fährten verloren hatte, Soldaten, Bauern, Räuber, wen er nur finden konnte, zusammenrief, um einen neuen Schlag auf den Feind auszuführen. Und das geschah nach dem Tode seiner heiss- geliebten Frau, welche den Mühsalen und der Angst eines solchen Feldzuges erlegen war. Schon in diesem Jahr 1854 wichen seine An- sichten wesentlich von denen Mazzinis ab, ob- gleich sie persönlich sehr gut zusammen standen. Er sagte in meiner Gegenwart zu Mazzini, dass es nicht ratsam sein würde, das piemontesische Gouvernement zu reizen, dass zunächst das Nötigste sei, sich vom österreichischen Joch zu befreien, und dass er sehr zweifle, ob Italien schon für eine Republik reif sei, wie Mazzini sie wünsche. Er war entschieden gegen jeden

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Versuch einer Revolution. Als er London ver- liess, sagte ich ihm, dass mir sein Seeleben ausserordentlich gefalle, und dass er unter allen politischen Flüchtlingen das beste Teil erwählt habe. »Wer hält die anderen ab, ein Gleiches zu tun?« sagte er mit Wärme. »Es war dies immer mein Lieblingstraum und ist es noch, Sie mögen nun darüber lachen oder nicht. Die Menschen in Amerika kennen mich; ich hätte dort drei bis vier Schiffe haben können, um die ganze Emigration aufzunehmen. Alle Mannschaft würde aus den politischen Flüchtlingen genommen sein. Was ist denn jetzt in Europa zu tun? Entweder Sklave sein, oder sich ruinieren lassen, oder still in England leben. In Amerika sich niederzulassen ist noch schlimmer, dann ist alles vorbei, denn das ist ein Land, in welchem man das Vaterland vergisst, und welches einem zur zweiten Heimat wird, wo es andere Interessen gibt und alles anders ist als hier. Menschen, die sich in Amerika niederlassen, scheiden aus der alten Welt aus. Was könnte aber besser sein als mein Plan?« setzte er mit vor Be- geisterung strahlenden Augen hinzu: »die ganze Emigration um ein paar Mäste versammelt, auf dem Ozean lebend, gehärtet durch ein rauhes Matrosenleben, im Kampf mit Elementen und Gefahren das wäre eine schwimmende Armee, unnahbar, unabhängig und immer bereit, wenn es der Freiheit gilt, an irgend welchem Ufer zu landen.«

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In diesem Augenblick erschien er mir wie »einer jener klassischen Helden, eine Gestalt der Aeneide, welcher in einem anderen Zeitalter lebend, seine Legende, seine arma virumque cano gehabt haben würde«. Soweit Herzen. Er hat es nicht mehr erfahren, dass Garibaldi wirk- lich schon seine Legende hat bei dem Volke in Neapel, das fest überzeugt ist, dass es immer einen Garibaldi geben wird, und jetzt schon den Tag des heiligen Joseph mehr zur Erinnerung an diese neue legendäre Gestalt, als um des alten Heiligen willen feiert. Doch fehlen auch jetzt die Stimmen nicht, die stets die grossen Gestalten, welche aus der Geschichte in die Legende übergehen, verunglimpfen, da die Menschheit es ja nicht lassen kann, das Strahlende zu schwärzen und das Erhabene in den Staub zu ziehen. So wagt man es von deutscher Seite, diesem einfachen, ehrlichen Volksmann Bestech- lichkeit und Gewinnsucht vorzuwerfen. Weiss ich doch gewiss, dass man ihm in England, wo- hin er nach der vollbrachten Einigung Italiens eingeladen als Gast des Herzogs von Sutherland ging und wo er die Huldigungen der ganzen englischen Aristokratie empfing eine grosse Besitzung und ein ansehnliches Vermögen dazu anbot, als Beweis der unbegrenzten Verehrung, welche ihm die Engländer zollten, dass er aber entschieden alles ablehnte und rasch in seine bescheidene Häuslichkeit auf Caprera zurück- kehrte. Da lebte er in patriarchalischer Ein- fachheit, liebevoll sorgend für alles, was ihn

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umgab. Ein Freund erzählte davon u. a. das folgende rührende Beispiel: »Eines Tages ver- misste man ein junges Lämmchen, durch die Wehklagen der Mutter aufmerksam gemacht. Garibaldi und der bei ihm befindliche Freund machten sich alsbald auf, das Tierchen zwischen den Klippen und Felsenspalten der Insel zu suchen. Man fand es aber nicht, und endlich begaben sich abends alle ermüdet zur Ruhe. Der besagte Freund konnte nicht schlafen, und als tiefe Stille im Hause herrschte, hörte er, wie die Tür von Garibaldis Zimmer sich leise öffnete und dieser vorsichtig, um kein Geräusch zu machen, das Haus verliess. Nach längerer Zeit, schon mitten in der Nacht, hörte er ihn. zurückkommen, und erfuhr am folgenden Tag, dass Garibaldi das Tierchen nach langem Suchen noch gefunden und, da es vor Kälte zitterte, zu sich ins Bett genommen habe, um es zu erwärmen und am Morgen der Mutter zurück- zugeben. Solche Züge sagen mehr als Worte !

Als nun im März 1882 nach 600 Jahren der Jahrestag der sicilianischen Vesper wiederkehrte, die in der Geschichte jener schönen Insel ein Denkmal von dem edlen Unabhängigkeitssinn der Bevölkerung bleibt, bereitete Palermo ein grosses Fest, und lud vor allen anderen den ehrwürdigen Volkshelden dazu ein, der selbst wie eine Erscheinung aus dem heroischen Zeit- alter der Menschheit war. Hatte er doch für das herrliche Inselland beinali Ähnliches vollbracht,

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wie einst Johann von Procida, nämlich ihm Frei- heit und Unabhängigkeit gegeben durch seinen Zug der Tausend, der eher einem Gesang des Homer glich, als einem modernen Feldzug. Gari- baldi, obwohl schon alt und sehr krank, machte sich zu dieser letzten Feier seines Heldenlebens auf. Seine Reise war wie ein Triumphzug; an jeder Station musste der Zug anhalten, damit die Bevölkerung den geliebten, greisen Führer noch einmal sehen könne, und nur die Rücksicht auf seine Gesundheit mässigte etwas den Jubel, mit dem man ihn in Palermo empfing. Garibaldi dankte der enthusiastischen Stadt mit einem Brief, worin er sie aufforderte, stets die Erste zu s>ein, um das kaum entstandene Italien vor äusseren und inneren Gefahren zu schützen. Insbesondere warnte er sie vor dem Papsttum, und erinnerte sie daran, dass 1282 es der Papst gewesen sei, der die Räuber geschickt habe, welche sie so heldenmütig in die Flucht getrieben hätte, Er schloss den Brief folgendermassen: »Bilde in Deiner Mitte, in der so viele grossmütige Herzen schlagen, eine Verbrüderung unter dem Namen »Befreierin der menschlichen Intelligenz«, deren Aufgabe es sei, die Unwissenheit zu be- kämpfen, den freien Gedanken zu wecken, und dem Volke, anstatt der Lüge, die Religion des Wahren und Guten zu lehren.« Wie würde das Herz des edlen Volksmanns geblutet haben, hätte er es erlebt, das Elend dieser Tage zu sehen, welches sein geliebtes Inselvolk wieder dazu trieb, in Waffen aufzustehen, leider aber

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gegen die eigenen Brüder, die von der selbst gewählten Regierung gesendet wurden zu dem sogenannten »Ordnungstiften« im traurigen sozi- alen Krieg. (Vor einigen Jahren, als das über- handnehmende Elend die Sicilianer zu revolu- tionären Aufständen trieb, welche unter dem Ministerium Crispi, der selbst ein Sicilianer ist, und einer der Tausend unter Garibaldi gewesen war, mit Waffengewalt unterdrückt wurden!)

Gedachtes.

Viele Gedichte Goethes kann man gar nicht bloss rezitieren, man muss sie singen. Die Töne ergeben sich von selbst dazu, die Worte kommen so aus dem innersten Leben, dass sie Musik in sich enthalten, z. B. das »Über allen Gipfeln ist Ruh«. Gresteru Abend nach dem glorreichsten Sonnenuntergang, vor der leuchtenden Klarheit eines römischen Sternenhimmels, musste ich es singen, mit einer wunderbaren Melodie, die ganz von selbst den Worten entstieg. Es wurde mir himmlisch wohl dabei.

»Arbeit ist der göttlichste Orden, so er je auf Erden gestiftet ist worden«. So sagt Hans Rosenblüt am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts. Wie sagen wohl unsere Arbeiter am Ende des neunzehnten Jahrhunderts?

Wir sind selbst das Metaphysische, das Ding an sich in der Erscheinung, der umgekehrte

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Spiegel Schopenhauers. Dühring nimmt die Er- scheinung für bare Münze, und insofern als sie unsere einzige Kursbezahlung ist, hat er recht. Aber sie ist nur corso forzoso, das Silbergeld ist jenseits der Erscheinung. Doch ist das eine vom anderen nicht zu trennen, und nur wer das Papiergeld in sich ins edle Metall umsetzt, hat die volle Summe.

Das Karmän der Buddhisten ist die unend- liche Folge von Ursache und Wirkung, deren Produkt wir sind. Das Nirväna ist die Auf- hebung des Karmän. Welch ein Licht!

Auf einsamem Bergpfad, hoch in den Alpen wandelnd, grauer drohender Himmel, freudlose Alpennatur, starr und kalt ringsum. Gewiss hat der Mensch von jeher Zwiesprache mit der Natur gehalten, gewiss haben Sonnenstrahlen ihn erheitert und hat solch düsterer Ernst wie hier ihm Ehrfurcht oder Furcht eingeflösst. Aller Götterglaube hat da seinen Ursprung. Sobald der Mensch da war, waren Frage und Antwort da.

Die Sprache kann nur durch die Gemein- samkeit entstanden sein. Man kann sich denken, dass ein einzelner Mensch Begriffe gehabt, und die Gegenstände ausser sich unterschieden hat, ohne einen Ausdruck dafür zu suchen. Mit

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anderen musste nach und nach ein Ausdruck gefunden werden, durch welchen man sich den Begriff mitteilte.

Je weiter man im Leben kommt, je einfacher werden die Grundlinien des Charakters sichtbar. Die Dinge, die uns die Welt angehängt hat, fallen ab; es bleiben der heilige Zorn und die Charitas, wie in der Kapelle Sixtina auf dem jüngsten Gericht: Christus und Maria.

Eben las ich in dem lieblichen Buch über die Jugend Michelets (von seiner Witwe her- ausgegeben), wie sein Freund Poinsaut die Offen- barung der wahren Liebe durch den Tod der Virginie (im Roman »Paul et Virginie«) erhält, indem Virginie lieber stirbt, als dass sie die holde Scham verletzte, die sie in der Nähe des Ge- liebten empfindet. Ist es nicht ebenso mit Tugend und Sittlichkeit? Die haben auch das Hindernis in sich selbst, welches zu oft den irdischen Erfolg vereitelt. Der zur Tugend, zur wahren Sittlichkeit angelegte Mensch kann nicht gegen dieselbe handeln, ohne sich selbst die tödliche Wunde beizubringen, die tiefer schmerzt als das, was man auf der anderen Seite verliert

Sehr rührend und schön ist die Erzählung des psychologischen Vorganges in Poinsaut, der

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reinen Herzens war und dessen Verstand nur durch die frühen Mitteilungen unsittlicher Kameraden verwirrt wurde. Wenn man bedenkt, welche Wirkung jenes paradiesisch unschuldige Buch (:&Paul et Virginie«) auf die damalige, durch so viele Korruption durchgangene Welt hatte, so fragt man sich, würde ein solches Buch heute nach Zola und seiner ganzen Schule noch so wirken? Ein schlimmes Fragezeichen für unsere Zeit, die sich rühmt, so viel moralischer zu sein als jene.

Wir armen Sterblichen machen uns wahr- haftig zu viel Sorge um die schweren Stunden, die wie ein Traum vergehen, während wir nie genug daran denken, das Ewige in die flüchtige Zeit zu bannen und diese dadurch aufzulösen in einen blossen Begriff, gleichsam in ein Hülfszeit- wort, mit dem sich unsere Vernunft das Ewige in verschiedene Phasen zurechtlegt.

Offenbar ist die Furcht vor dem Tode ein Hauptmotiv in der ganzen katholischen Dogmatik. Das Paradies muss auf alle Weise gewonnen werden. Die guten Werke sind das Mittel, der Hölle zu entfliehen.

Wie schrecklich ist solch ein Vorlesen, wie das der M. . . .1 Sie liest laut für sich, nicht

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für die andern. Es ist ein seelenloses, ober- flächliches Lesen. Auch in solchen Dingen ver- rät sich die Persönlichkeit. Wie anders liest ein wirklich innerlicher Mensch!

Im Alter wird die Natur einem noch ver- trauter und wichtiger als in der heissblütigen Jugend, die Teilnahme von ihr verlangt und sich über ihren kalten Metallglanz ärgert. Das Alter hingegen ruht aus in der Objektivität der um individuelle Leiden und Freuden unbeküm- merten, nach ewigen Gesetzen wirkenden Natur, in deren Schoss alles Lebendige nach über- standenem Erdentraum zurückkehrt.

Der Intellekt ist ja auch nur ein Teil der Erscheinung, und hängt von ihren Existenz- bedingungen mit ab, während das Unveräusser- liche, der Charakter, das eigentlich Metaphysische, welches als Wille mit uns geboren wird, bleibt. Ein rührendes Beispiel hierzu erlebte ich kürzlich. Ein alter Künstler, der in Rom seit seiner Jugend lebte, und sowohl wegen seiner Leistungen wie als Mensch hoch geachtet war, wurde nun durch Krankheit und Alter in einen Zustand völliger Hülf- losigkeit versetzt und hing von den Dienstleistungen seiner Frau und der Magd ab. Eines Tages kam das Bewusstsein seiner Lage, seines geistigen und physischen Absterbens, noch einmal mit Klarheit über ihn und er fing an bitterlich zu weinen.

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Umsonst versuchten seine Frau und seine kleine Tochter, ihn durch Liebkosungen zu beruhigen. Ein Freund, der zugegen war, sagte ihm end- lich, er sei doch noch gut daran, habe liebende Wesen um sich, ihn zu pflegen, und brauche wenigstens nicht zu darben; aber er solle des armen A . . . . gedenken, eines einst auch be- rühmten Künstlers, der, älter und hülfloser noch als er, niemand auf Erden habe, der für ihn sorge, ausser einem gemeinen Aufwärter, welcher ihm etwas zu essen bringe und ein paar Mal am Tag nach ihm sehe. Des alten Mannes Tränen versiegten und er schwieg. Am folgenden Tag rief er die Köchin herbei und fragte sie leise: »Könnten wir nicht dem alten A . . . ein Süpp- chen schicken?«

Wem würde bei so etwas nicht zu Mute, wie wenn ein Sonnenstrahl durch finsteres Ge- wölk bricht? So bricht hier durch den sich um- nachtenden Intellekt, der an die Erscheinung gebunden ist, das Leuchten des Metaphysischen, Unzerstörbaren, welches, jenseits unserer Erkennt- nis, aus geheimnisvollen Ursachen uns den Charakter zubereitet hat ; hier zeigt es sich als die Güte, die, auch entkleidet von dem schmücken- den Gewand des Intellekts und des Talents, in ursprünglicher rührender Schönheit zu Tage tritt

Deshalb ist auch der Tod guter Menschen meist so schön und rührend, weil, selbst wenn der Geist schon umflort ist und erlischt, die letzten Bilder und Worte, die das ersterbende Bewusstsein noch hervorbringt, der liebenswerten

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Natur entsprechen. So hatte z. B. mein Vater, dessen liebevolles edles Gemüt für ganz anderes gemacht war, als für die heissen Kämpfe der Politik und der Revolution, in denen sein Leben verfliessen musste, schon einschlummernd zum ewigen Schlaf, nur noch Vorstellungen von Blumenwiesen und Vergissmeinnichtsträussen, von denen er lächelnd und leise flüsternd sprach. Ich sah nie einen Bösen sterben, aber der Tod eines solchen muss schrecklich sein, denn nun kommt das wahre jüngste Gericht zum Vorschein, und kein Blitzen des Verstandes, kein Funkeln des im Leben erworbenen gleissnerischen Schimmers, kann den Abgrund des Wesens mehr verbergen. Bezeichnend ist hiefür das Wort des Kaisers Augustus, der, als er die letzte Stunde nahen fühlte, sich freute, dass er nun endlich aufhören könne, Komödie zu spielen

Im geistreichen Buch des Grafen Gobineau: »Sur la diversite des races humaines« steht, dass die Makedonier über Athen siegten, weil sie unvermischtes arisches Blut hatten, und dass Athen an der Mischung mit semitischem Blut zu Grunde ging. Da aber die Makedonier gar keine Kultur hervorbrachten und sogleich in der Vermischung mit dem Orient untergingen, so ist das doch kein Beweis ihrer Superiorität über die Rassenmischung in Athen, die unleugbar den höchsten Glanzpunkt menschlicher Kultur hervor- gebracht hat. Warum hätte das nicht fortdauern

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sollen, wenn nicht andere Ursachen des Ver- falles dagewesen wären?

Malthus hat meiner Meinung nach darin recht, dass er die überhandnehmende Bevöl- kerung der Erde nicht als ein Glück ansieht. Nur darin hat er unrecht, dass er Krieg und Vernichtung als notwendige Mittel bezeichnet, um sich der überflüssigen Mehrzahl zu entledigen und der egoistischen Minorität den Genuss des Lebens zu sichern. Der Wirklichkeitsphilosoph meint, man solle die Natur nur zunächst quan- titativ verfahren und produzieren lassen, sie werde einmal an die Grenze kommen, wo sie einhalten und qualitativ verfahren müsse, um dann viel- leicht eine höher organisierte Menschheit hervor- zubringen. Ich denke, der Kulturmensch solle es nicht der Natur überlassen, sondern mit Bewusst- ' sein darauf hinarbeiten; die Statistik beweist, dass die Vermehrung der Menschenherde am zahlreichsten in den untersten Gesellschafts- klassen vor sich geht, als Ersatz für höhere Lebensfreuden aus vorherrschenden animalischen Trieben. Je mehr daher geistiges Leben und wahre Bildung zur Herrschaft gelangen werden, je gebändigter wird der bloss animalische Trieb sein und je edler werden die Exemplare werden, denn darauf allein kommt es an.

Neulich sagte eine verheiratete Frau, halb im Scherz und halb im Vorwurf, zu ihrem Mann, dass sie gar nichts mehr für ihn sei neben

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ihren zwei jungen Töchtern, die er zärtlich liebt. Eine ähnliche Erfahrung habe ich schon bei anderen Ehen gemacht. Ist das vielleicht so, weil die Leidenschaft, deren Gegenstand die Frau war, befriedigt ist, und weil der Egoismus des Mannes in den Kindern einen Teil seiner selbst wiederfindet, während die Frau ihm doch immer ein fremdes Wesen ist? Das würde an Schopenhauers Idee der Ehe erinnern. Oder ist's weil das Hülflose des Kindes ihm noch mehr das Gefühl des Beschützers gibt als bei der Frau? Oder endlich und das wäre die schönste Erklärung weil er im Kinde die Mutter doppelt liebt und im Kinde das Siegel ihres Bundes, ihr gemeinsames Vermächtnis an die Menschheit sieht?

Vor vielen Jahren, noch in England, schrieb ich einmal in mein Tagebuch: Am heutigen Abend spät ging ich auf der Insel Wight am Meeresstrand entlang, von einem Besuch kommend, einen weiten Weg allein zurück. Es war heller Mondschein; auf der einen Seite war der Weg von hohen Felsen begrenzt, auf der andern vom mondbeglänzten Meer. Dieses Alleinsein in der Natur rührte mich, wie immer, tief; das elemen- tare Leben umfing mich so heimatlich, so liebevoll. Deutlicher als je stieg das Bewusst- sein meiner eigentlichen Bestimmung in mir auf. Gibt es denn doch eine »Idee preexistante« im Menschen, zu der ihn sein ganzes Leben gewalt-

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sam hindrängt? Schaffen das ist's! Auf andere veredelnd wirken, Kinder, leibliche oder geistige, zeugen, das Leben fortsetzen, also immer der Zukunft entgegen, nie zurück! Das stösst die christliche Theorie des ein für alle Mal ge- gebenen Ideals um. Aber das Wesentliche in jener Theorie bleibt, dass die Liebe, welche nicht Schwäche, sondern unangreifbare, unbesiegbare Stärke ist, schliesslich das allein Siegende bleibt. Ja, Nazarener, am Kreuz besiegtest du dennoch die Welt! Es ist nur viel tiefer, als die Dog- matiker denken.

Wenn man nach langen Jahren an einen Ort zurück kommt, wo man früher einmal gelebt hat, so überfällt einen, fast mit Grauen, die Über- zeugung, dass es immer dasselbe ist, was lebt. Alles, was wir einst gekannt haben, ist längst im Grabe, eine neue Generation ist an die Stelle getreten, aber es sind dieselben Typen; was wir einst jung gesehen haben, ist wieder jung da; wir meinen Bekannte zu erkennen; es ist dasselbe ruhe- und ziellose Treiben, dasselbe Lachen, dasselbe Weinen, dieselbe Verliebtheit und Torheit, derselbe alte, ewige Schmerz. Ist das auch nur Gattungsbegriff wie beim Tiere .^ Entwächst das Individuum, welches den Gott in sich enthüllte, dem allgemeinen Schicksal der Erscheinung nicht? Ist das nicht das einzige, was über die Erscheinung hinausgeht, wieder Ding an sich wird?

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Ich fühlte von früh auf tief, wie notwendig es ist, dass unser Leben Tat werde, aber nicht bloss praktische Tat des Handelns, son- dern ideale Tat der künstlerischen Vollendung. Wir können uns nicht damit begnügen, dass wir den Marmor brechen, der einst der Zukunft Göttertempel herstellen soll, wir müssen ihm auch gleichzeitig, schon wenigstens in einer Form, die Ahnung eines idealen Lebens ein- hauchen, und war' es auch nur in dem ver- schwiegenen Umgang mit unserer eigenen Seele.

Die Propheten gehen den neuen Epochen voran, die Philosophen beschliessen die alten, ihre Aeren nähern sich demnach einander; des- halb verwechselt man sie so oft.

Heute haben zwei militärische Exekutionen stattgefunden, eine in Palermo und die des Sol- daten Misdea in Neapel. Dieser hatte ein ent- setzliches Verbrechen begangen: sieben Soldaten, zum Teil seine Vorgesetzten, in einem Anfall von Wut erschossen. Er war wie eine wilde Bestie und dennoch kein schlechter Mensch. Im Gefängnis hat er gedichtet und der Geistliche, der ihn besuchte und ein guter Mann war, hat ihn beweint. Er war ein Sohn der wilden Berge, ein Calabrese, ein heissblütiges unerzogenes Wesen, seine Kameraden hatten ihn verspottet und schlecht behandelt und er hatte sich ge- rächt. Hätte die Gesellschaft sich seiner ange-

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nommen, ihm die Mittel der Bildung gegeben, er wäre vielleicht ein ganz ausgezeichneter Mensch geworden. Da sie es aber nicht tat, sondern ihn seinen wilden Instinkten überliess, so kam sie nun gesetzlich dazu, dasselbe zu tun, wofür sie ihn strafte: sie mordete 1

Welche Logik und welche Zustände I Und dadurch soll die militärische Disziplin gebessert werden? Denn das ist ja der Vor- wand, unter dem man hier in Italien diese Exe- kutionen vollzieht, wo doch die Todesstrafe ab- geschafft ist. Es wird den Soldatenstand verhasst machen und auch die Regierung, welche einen Menschen zwei und einen halben Monat im Ge- fängnis hielt und ihn dann, ungeachtet des Pro- testes aller fühlenden Herzen, erschiessen Hess; diesen wild aufgewachsenen, ungebildeten Men- schen, der, durch unverdienten Spott zur Wut gereizt, in einem Augenblick alles überwiegender Aufregung tat, was er bei kaltem Blute nicht getan hätte und was er tief und herzlich bereute. Der Beweggrund des Urteils war, wie schon erwähnt, die militärische Disziplin, womit dem- nach gesagt wurde, dass es für das Militär eine andere Moral gibt als für die anderen Staats- bürger, da man Mörder, die nicht in der Uniform stecken, in diesem milden Lande nicht hinrichtet. Also nur weil der Soldat die Autorität im Vorgesetzten respektieren muss, wird er, falls er es nicht tut, mit dem Tode bestraft, während er als gehorsame Maschine, auf Befehl, Hunderte im Kriege morden kann.

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In Misdeas Fall waren die Priester die hu- mane Partei und die freisinnige Regierung war die inhumane. Der Erzbischof von Neapel, Sanfelice und Monsignore de Luce, welche den Verurteilten liebe- und erbarmungsvoU behan- delten und trösteten, werden im Herzen des Volkes einen Altar haben; die Richter Misdeas nicht.

»Gott ist nicht gerecht, nur einer ist gerecht der Tod«, sagte mir eine alte Frau aus dem Volk, die neben mir stand auf der Strasse, als eben ein glänzender Leichenzug vorüber ging.

Joseph de Maistre erkennt in seinem Buch »vom Papst«, freilich in mystischen Ausdrücken, die ungeheure intellektuelle Revolution an, welche sich infolge der politischen Revolution vollzogen hat. Er sagt, die Sprache der Priester sei ab- genützt und überzeuge nicht mehr, die Sprache der Laien müsse dafür eintreten. In dem anderen Buche, »Sur le principe generateur des con- stitutions«, erklärt er die religiösen Analogien der Völker, vernichtet also die direkte Offen- barung. Er schlägt vor, in einer grossen Stadt, auf antiken Überresten, eine Statue von Christus zu errichten mit der Inschrift: »A l'Osiris chretien dont les envoyes ont parcouru le monde. « Er erkennt damit eine christliche Mythologie an. Oh Joseph de Maistre, liebenswürdiger feiner

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Geist sympathisch trotz Deiner Irrtümer, wie konntest Du Dir so widersprechen!

I

»

Wenn ich dem heiligen . Augustin darin bei- stimmte, dass der Mensch des Besitzes der ab- soluten Wahrheit bedürfe, um glücklich zu sein und dass das blosse Suchen nach derselben ihn nicht befriedige, so würde ich mich alsbald in den Schoss der katholischen Kirche begeben, denn da ist positive Wahrheit für alle Lebens- probleme. Wenn man es kann, muss es sich sehr bequem darin ruhen lassen. Ich halte es aber mit Lessing und glaube, dass in der Ein- sicht unserer Beschränkung, die es uns unmöglich macht, das Absolute zu erkennen, die einzige Ruhe liegt, zu der wir gelangen können, indem wir dann erst mit vollem Bewusstsein uns »immer strebend bemühen«, und so der Erlösung vom Schmerz des Unbefriedigtseins teilhaftig werden.

Das Prinzip des Guten und Bösen ist da, soweit das Bewusstsein zurückreicht ; aber es geht nicht von einem Herrscherwort aus, welches den Menschen fesselt, denn damit bliebe immer ein Widerspruch zwischen Freiheit und Gewalt. Das Gute ist Freiheit der Entwicklung: alles was eine ausgelebte Form verewigen will, ist böse. Darin ist der Geist auch dem unabwendbaren Gesetz der Natur unterworfen, dass er Hülle um Hülle zerbrechen, sich ewig neue Formen, gleich

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den neuen Frühlingen, schaffen muss. Wer dem Einhalt tut, beschränkt das Gebiet der Freiheit, tut Böses, bereitet moralischen Tod.

Den Kampf des Lebens schon vor dem leib- lichen Tod ausgekämpft haben, ist das vielleicht eine neue Form der Religion? Nicht mehr der Schmerz und der Kampf, sondern der Frieden und das Glück. Ist alles Drängen und Treiben nur das Sehnen danach und wird damit die Erde schon zur vergöttlichten Heimat? Es wären die Griechen, nur in höherer Potenz.

Erst wenn die Hälfte des Lebens vorüber ist fangen wir an, unsere eigene Natur und ihre wahren Bedürfnisse ganz zu verstehen, und fühlen dann den bitteren Schmerz, das an uns Ver- säumte nicht nachholen, uns nicht selbst zum voUkommnen Kunstwerk machen zu können. Die Erziehung in den Händen einsichtsvoller Menschen könnte uns vieles zu Bedauernde er- sparen. Welche herrliche Aufgabe, und wie mangelhaft wird sie meist noch erfüllt!

In der Neujahrsnacht von 1878 auf 79 lag ich schlaflos und hörte in Gedanken den letzten Akt aus Wagners Götterdämmerung und bei der Stelle »Deine Raben hör ich rauschen« fiel mir ein, wie doch fast alle Götter Vögel zu Attri-

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buten hatten, wohl als die im Luftmeer Heimischen, dem Himmel Nahen, so Wotan die Raben, Zeus denAdler, Minerva die Eule, Venus die Tauben etc. Wieder der geistreiche Symbolismus der Alten.

Ostermorgen in Neapel. Himmlischer Morgen ! Der Vesuv raucht wie ein Opferaltar, Christ ist erstanden! Die alte Sage umklingt mich heute in aller Schönheit.

Der Sommer 1882 rief mich nun wieder nach Bayreuth und zwar schon früh, um allen Proben zum Parsifal beizuwohnen, der zum ersten Mal aufgeführt werden sollte. Als ich einige Jahre früher, im Sommer 78, zu Besuch bei Wagners war, kam der Meister eines Tags aus seinem Arbeitszimmer oben im Haus zu uns herunter und sagte: »So, nun habe ich meinen zweiten Akt fertig gemacht. Das ist mir schwer geworden, so etwas schreib ich nicht wieder.« Dann hörte ich von Liszt aus dem ersten Akt spielen und drei Jahr später in Neapel, wie er- wähnt, die erste Gralsscene singen. Nun war das Werk vollendet und zur Aufführung bereitet und um nichts in der Welt hätte ich versäumen mögen, dieser ersten Aufführung beizuwohnen. Schon im Jahr vorher in Neapel hatte mich Joukoffski, der ein Haus in der Nähe von dem Hause Wagners gemietet hatte, aufgefordert, mich in dem Parterre, welches er nicht be-

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nutzte, einzumieten, und ich war gern darauf eingegangen, da ausser mir nur noch Stein im Hause wohnte, und dies mir also ein sehr sym- pathisches Trio wurde, welches die Stimmung zuliess, wie sie zur Anhörung des erhabenen Kunstwerks einzig sein musste. Wie sich nun in den Proben nach und nach diese Wunderwelt der Töne vor mir auftat, steigerte sich von Tag zu Tag meine Ergriffenheit. In der General- probe, wo nur wenige Eingeweihte zugelassen waren, sass ich neben Liszt, welcher die Partitur vor sich hatte; plötzlich in Ekstase ergriff er meinen Arm und sagte ganz ausser sich: >Ce n'est pas ä croire ä ses oreillies!« Seine älteste Enkelin, die feurige Daniela von Bülow, die auf der anderen Seite neben mir sass, sagte, als das Liebesmahl im Gralstempel zu Ende war und die Ritter sich den Bruderkuss gaben: »Ich wollte, ich hätte einen Todfeind, um ihm in diesem Augenblick zu vergeben.« Das waren alles Zeugnisse der Wirkung, die von diesem Werke ausging und die sich durch das Anhören sämtlicher Aufführungen nicht abschwächte, sondern eher noch wuchs. Es ist so viel seitdem über Parsifal geschrieben worden, so viele haben ihn gehört, dass es unnütz wäre, noch auf eine Analyse einzugehen. Er ist eben wie das voll- endete Kunstwerk sein soll, jeder Analyse ent- hoben; er ist da wie ein herrlicher Wunderbau, wie eine Göttergestalt des Phidias, wie alles Vollendete, vor dem die Kritik verstummt, welches man in sich aufnimmt wie man reinen

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Äther einsaugt, mit einem unausprechlichen Wohlgefiihl und nach welchem man sich edler, allem Hohen verwandter, über alles Erdenleid versöhnter fühlt.

Der törichte Irrtum, dieses Werk als eine Rückkehr Wagners zu der orthodoxen dogma- tischen Kirche anzusehen, der sich bald in Er- manglung anderer Kritik hervortat, konnte der erhabenen Schöpfung keinen Abbruch tun für den Verstehenden. Der Gedanke der höchsten Idealität, wie er im Grunde der Legende des Neuen Testaments sich in der Gestalt des Jesus von Nazareth ausdrückt, hat auch den Parsifal geschaffen, hier noch verklärt durch die Macht der Töne, die wie eine Offenbarung des ewig Schönen die Erscheinung umschweben. Es war dies Werk das letzte Siegel, welches ein grosser Mensch auf sein Leben drückt. Danach braucht man nichts mehr zu s^igen noch zu tun; der Bund mit der Ewigkeit ist geschlossen; das Tagewerk ist vollbracht; das Zeitliche fällt ab und der ewige Gedanke steigt auf, um unsterbHch fortzuleben in den kommenden Geschlechtern und im Verein mit allem dagewesenen wahrhaft Grossen den Tempelbau des Geistes über der gemeinen Wirklichkeit zu erheben, in welchem die reinen Seelen ihren Götterdienst feiern und dem Ideal huldigen, welches sich ihnen durch den Mund des Genius verkündet.

Und es kam so, wie es kommen musste, unsagbar schmerzlich nach der irdischen, erhaben bedeutungsvoll nach der ewigen Seite. In dem

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Winter, der diesen herrlichen Wochen folgte, war ich wieder in meinem kleinen Heim in Rom, und Wagners waren in Venedig, einem Lieblings- orte Wagners. Ich hatte oft Nachricht von ihnen, auch durch JoukofTski, der gleichfalls dort war, und freute mich, dass es ihnen gut ging und dass sie sich in der herrlichen Lagunenstadt aus- ruhten von der Ermüdung, die notwendig mit den AufRihrungen in Bayreuth verbunden ist. Wer vermöchte daher meine tiefe Bestürzung zu beschreiben, als ich am 14. Februar 83, früh am Morgen, ein Telegramm von Joukoffski erhielt mit den Worten: »Wagner ist gestern plötzlich entschlafen. Ich traute meinen Augen nicht, ich suchte zu hoffen, der italienische Telegraphist habe falsch gelesen und falsch geschrieben, aber die traurige Wahrheit drängte sich mir doch auf, und ich fuhr eilig zu der mir innig be- freundeten Tochter von Donna Laura Minghetti, welche kürzlich in Rom angekommen war, und noch im Hotel wohnte. Ich fand sie in Tränen, sie hatte es auch erfahren; sie, selbst aus- gezeichnete Musikerin, war Wagner und seinem Werke eben so ergeben wie ich. Wir teilten den gemeinsamen Schmerz, der nur darin Trost fand, dass es gerade nach der vollendeten Auf- führung jenes Werks der erhabensten Versöhnung und des reinsten Friedens hatte sein müssen, ein Abschluss der irdischen Erscheinung, wie er nicht verklärter und ich gebrauche das ver- pönte Wort mit vollster Überzeugung meta- physischer gedacht werden konnte.

Meysenbug, IV. 14

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Lange Zeit bangte mir um das Werk von Bayreuth. Jahre vergingen, ehe ich wieder dort- hin zu gehen mich entschliessen konnte, wo nun der Schöpfer fehlte, in welchem ich nicht nur den Genius verehrt, sondern auch einen Freund gefunden hatte; aber das Schicksal war diesmal, was es nicht immer ist, gross dem Grossen gegenüber und liess der Einzigen, die, nach dem Meister selbst, die Werke wieder erschaffen konnte, die Kraft wiederkehren, alles in die Hand zu nehmen und herrlich zu gestalten. Als ich dann nach Jahren in tiefster Rührung im Garten zu Bayreuth an dem Grabe stand in dem das Vergängliche ruht, da sagte ich leise vor mich hin: Dein Werk wird leben, Jahrhunderte überdauern, und dein Genius wird strahlen in der Konstellation derer, welche die Menschheit mit Recht unter die Sterne versetzt.

Die Helden sterben auf der Bresche, aber als Sieger, so auch die grossen Künstler. Was liegt daran, ob die Welt ein Kunstwerk mehr oder weniger hat, wenn nur der Mensch das Ideal in sich selbst realisiert hat und dann stirbt.

Die Art, wie man aus den grossen Kämpfen und Prüfungen des Lebens hervorgeht, entscheidet über den Wert eines Menschen.

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Wie es am Allerseelentag bei den Katholiken Sitte ist, die Gräber der Verstorbenen zu be- kränzen, so ist es auch dem Herzen ein Be- dürfnis, einen Kranz der Erinnerung zu winden für die, welche vor uns den Kampfplatz des Lebens verlassen haben und in die Hallen des unbekannten Friedensreiches eingegangen sind.

Oh schöne Rätsel reiner Seelen, lösbar nur in einer höheren Existenz.

Ich hatte schon im Frühjahr viele Wochen mit Olga in Cannes im südlichen Frankreich zu- sammen verlebt, wohin man sie ihrer Gesundheit wegen geschickt hatte, und es unterblieb daher diesmal meine jährliche Pilgerfahrt nach Ver- sailles in ihr Heim, wo die Sommer zuzubringen nun schon eine stehende Gewohnheit geworden war. So nahm ich die freundschaftliche Ein- ladung von Donna Laura Minghetti an und ver- brachte wieder einige Wochen auf dem herr- lichen Settefonti, in gemütlichem Behagen und geistiger Angeregtheit. Dann für den übrigen Teil des Sommers folgte ich einer Empfehlung Minghettis und ging nach Crespano, einem Orte am Fuss der venezianischen Alpen, doch schon in allmähhchem Ansteigen, 900 Fuss über der Meeresfläche gelegen. Von da überschaut man die prächtige venezianische Ebene mit ihren Flüssen, ihren Orten und Städten, die sonder-

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bare, an Versteinerungen reiche Hügelkette der Euganeen und der paduanischen Berge, und hat den Eindruck, als könne es kein fruchtbareres reicheres Land geben als dieses. Einst war es auch so unter der Herrschaft der grossen Republik, aber jetzt ist viel Not und Armut da und die Haupt- nahrung der Landbevölkerung ist die Polenta, daher denn auch die Maisernte die grosse Sorge des ganzen Jahres ist. Crespano selbst ist ein kleines Örtchen, das mir nichts Interessantes bot, aber in der Nähe sind eine Menge Orte, wo eine bedeutende Vergangenheit und eine ewig reizvolle Gegenwart einen Bund geschlossen haben, wie man es eben nur in diesem wunder- baren Land Italien findet. So fuhr ich eines Tags zwischen grünen Hügeln und anmutigen Hecken nach Possagno, einem kleinen, reizend gelegenen Dorf, welches die Heimat eines be- rühmten Künstlers ist. Canova wurde hier ge- boren, ward von hier als armer Knabe nach Venedig geschickt, um sich in der Kunst aus- zubilden, wurde berühmt und reich und hinterliess ein Vermögen von sechzehn Millionen, welches er zum grossen Teil dem kleinen Geburtsort und einiges auch dem nahen Crespano und anderen kleinen Orten der Umgegend hinterliess. Eine grosse Summe bestimmte er für die Er- richtung eines Tempels, dessen Plan er selbst zeichnete, den Anfang von dessen Bau noch leitete, und der nach seinem Tode vollendet wurde, und zwei Millionen kostete. Er ist nach dem Vorbild des Pantheon gebaut, zum Teil

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aus weissem Marmor und macht auf dem Hinter- grund der grünen Hügel, vor denen er sich frei, den Ort überragend erhebt, einen prächtigen Eindruck. Eine grossartige Treppe führt hinauf und sechzehn granitne Säulen tragen die Vor- halle. Das letzte Werk Canovas, zugleich eins seiner schönsten, eine Pietä, vor deren Vollendung er im Jahre 1822 starb, befindet sich im Innern; ein Engländer hat sich die in Marmor begonnene Gruppe vollenden lassen, die hier aufgestellte ist von Ferraris in Bronze gegossen. Ein Marmor- sarkophag ihr gegenüber umschliesst die Gebeine des Künstlers, und ausserdem schmücken den Tempel wertvolle Gemälde, von ihm selbst hier- her vermacht. Die Priester, welche den Tempel bedienen, sind für immer durch ihn versorgt, ebenso ist es eine grosse Erziehungsanstalt, welche sie leiten. Canovas Geburtshaus ist zu einem Museum eingerichtet, wo alle seine Werke, teils in Ton, teils in Gyps kopiert, aufgestellt sind mit einigen wenigen Originalen in Marmor. Die ausserordentliche Produktivität, die sich hier in ihrer Fülle zeigt, setzt in Erstaunen, aber es fällt auf, wie einförmig und konventionell er in seinen Typen gewesen ist. Es fehlt die spontane Eingebung durch die göttliche Mannigfaltigkeit des Lebens, wie bei den Griechen. Eine Jugend- arbeit, Dädalus und Jcarus darstellend, macht hiervon eine Ausnahme und zeigt eine weit grössere Natürlichkeit, als die übrigen Sachen. Es brachte mich dies auf den Gedanken, dass Rom auch viel- leicht für diesen Hochbegabten die Gefahr gehabt

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hätte, die es noch heutzutage für viele Künstler hat, nämlich, sich durch das Vorbild der Antike zu sehr beeinflussen und sich die spontane Natür- Hchkeit des Bildens rauben zu lassen, da doch die Antike in ihrer Eigentümlichkeit nie mehr von modernen Menschen erreicht werden kann, so wie niemand mehr eine Iliade, einen Prome- theus oder eine Antigone wird schreiben können. Dessenungeachtet muss man ihn unter die grössten Künstler moderner Zeiten stellen und muss ihn als Menschen dafür ehren, dass er sein grosses, selbsterworbenes Vermögen dem kleinen Heimatsorte liess, dessen Abgelegenheit kaum seinem irdischen Ruhme mehr dienen konnte, weshalb es also reinaus ein Akt der Liebe gegen den heimischen Fleck Erde war,

Ein anderer Ausflug führte mich von Crespano nach dem am Abhang eines Hügels gelegenen Städtchen Asolo, jetzt ein kleiner verarmter Provinzialort, einst der Sitz eines geistvollen literarischen Lebens, als Katharina Cornaro, nachdem sie Königin von Cypern gewesen, hier Hof hielt. Von dem Söller ihres Schlosses sah sie über die reiche venezianische Ebene hinweg, nach der stolzen Vaterstadt hinüber, der Königin der Meere, die damals noch in voller Machtfülle prangte. Der Blick überschaut von hier fünf Provinzen mit ihren Hauptstädten, Vicenza, Padua, Venedig, Treviso, Belluno. Flüsse, wie die Brenta, die Piave und andere, eilen mit ihren Nebenflüssen, gleich blitzenden Silberstreifen, durch die Ebene der schönen Adria zu. Von Norden

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schauen die venezianischen Alpen mit ihren grünen Vorbergen herüber und sdles das prangt im Glanz der Sonne und der wunderbaren Farben- töne, die hier so manches Künstlerauge be- geisterten. Aber neben diesem Glanz der Natur, der ewig bleibt, welch ein Bild des Verfalls irdischer Grösse bietet dieser Ort! Die stolze Lagunenstadt ist machtlos und verarmt, die prachtvollen Paläste sind zum Teil verfallen ; Katharina Cornaros Schloss in Asolo ist fast verschwunden; in dem kleinen noch erhaltenen Teil befindet sich die sogenannte Sala del consiglio, in welchem jetzt ein erbärmliches Provinzialtheater aufgeschlagen ist. Der Impre- sario, die komische Figur, stand gerade davor, als ich in den Saal trat und erwartete mit angst- vollem Blick den Verkauf der Billette, um im voraus die Einnahme des Abends zu berechnen. Ich fragte meinen Führer, ob sich nicht ein be- glaubigtes Bild der Königin vorfände. Er be- jahte es und führte mich in ein Privathaus, wo eine junge blonde Witwe, eine wahre Bella di Tiziano, mich sehr artig empfing und mir ein Zimmer aufschloss, in welchem ein Bild die Katharina, etwas korpulent und nicht gerade schön, darstellt. Die blonde Bella versicherte, es sei nach dem Leben gemalt, von wem wusste sie nicht. Jedenfalls war sie aber schöner als die Königin, doch als ich sagte, wie schön ihr Städtchen sei, sagte sie mit dem Ausdruck tiefer Bitterkeit: »Die Lage ja, aber hier leben zu müssen ist schrecklich.« Und wen sollte es auch

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nicht betrüben, solche Stätten zu sehen, wo einst die Kultur ihre schönsten Blüten trieb, und wo nun ein armseliges Leben sich kümmerlich fristet und nicht einmal mehr die Gaben der reichen Natur durch sorgfaltige Pflege auszubeuten weiss. Crespano wurde mir doch zu heiss zu längerem Aufenthalt und ich beschloss in die Tyroler Alpen hinaufzugehen, in die Dolomiten weit, von deren Wundern ich schon so viel gehört hatte. Im leichten kleinen Wagen, wie es dort noch üblich war, begab ich mich mit meiner treuen Jungfer auf die etwas ermüdende Reise, die aber reichlich durch das mannigfaltig Schöne, was sie zu sehen bot, für die Ermüdung entschädigte. Zunächst erfreute mich das alte Feltre, eine reizende kleine Stadt im Piavetal. Freilich ist sie jetzt verödet, die schönen Häuser im vene- zianischen Styl haben meist die Fenster mit Brettern vernagelt, die Fresken, mit denen sie bemalt waren, sind halb verwischt und der ärm- liche Betrieb des modernen Lebens passt nicht zu der künstlerischen Vornehmheit der alten Stadt, welche einst, durch grossen Handel blühend, als der Sitz alter Geschlechter, berühmter Ge- lehrten und hoher Bildung ausgezeichnet war. Der Hauptplatz ist von monumentaler Schönheit. Es befinden sich da : das Theater, dessen Unterbau von Palladio, andere Gebäude, die alte, hoch gelegene Kirche S. Rocco, darunter ein präch- tiger Brunnen, darüber die Felsen und Berge, welche überall malerisch in die Bilder der Stadt hinein ragen, eine Säule mit dem Löwen

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von S. Marco, der an die Zeit der venezianischen Herrschaft mahnt, und endlich zwei moderne Statuen, 1868 der Erinnerung an zwei ausge- zeichnete Feitresen gewidmet und zwar nicht etwa tapfern Heerführern, deren es auch viele gehabt, sondern Männern des Friedens, welche auf geistigem Gebiet, weit über ihre Zeit hinaus, ein mildes Licht verbreitet haben. Es waren dies Vittorino di Rambaldoni und Pamphilo Castaldi. In der malerischen Tracht ihrer Zeit stehen sich die beiden hier gegenüber und das Postament des ersteren trägt die Inschrift:

Feltre hat in seinem Vittorino

Aus der Familie der Rambaldoni

Italien das Vorbild eines, der weise lehrt.

Und der Wiedergeburt der Kultur in der Welt

Einen Fürsten der Erzieher gegeben.

Auf dem Postament des zweiten steht:

An Pamphilo Castaldi, Den grossmütigen Entdecker der beweglichen Buchstaben, den Tribut der Ehrfurcht, den verspäteten, bringt Italien dar.

Diese beiden waren es in der Tat wert, dass ihr Andenken aus den Nebeln der Ver- gangenheit hervorgezogen wurde. Vittorino war 1378 in Feltre geboren. Er stammte aus dem alten berühmten Geschlecht der Rambaldoni und zeigte von Kindheit an eine solche Liebe zu den Studien, dass man ihn nach Padua zur Uni-

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versität schickte. Er studierte Griechisch, Latein,. Philosophie, Theologie unter den berühmten Lehrern dort, aber seine grösste Sehnsucht war, die Mathematik zu lernen, doch der Lehrer der- selben, Velakano, gab seinen Unterricht nur um vieles Geld, und die geringen Mittel Vittorinos reichten dafür nicht hin. Seine wissbegierige Seele Hess sich aber dadurch nicht abschrecken, er verdingte sich als Diener bei dem auf sein Wissen eifersüchtigen Gelehrten, und be- mächtigte sich so vollkommen der Wissenschaft, dass sich sein Ruf trotz seiner Jugend bald ver- breitete und einer seiner Lehrer ihm den eigenen Sohn zu unterrichten gab. Es gab kein Opfer, keine Mühe, die er scheute, um sein Wissen zu vermehren, das er nachher grossmütig ohne Bezahlung seinen Schülern mitteilte. Sein Ziel war Religion, Tugend und Wissen harmonisch zu verschmelzen, weil nur so wahre Bildung zu erreichen sei. Sein Ruhm als Erzieher verbrei- tete sich bald so, dass Gianfransco Gonzaga, Herr von Mantua, sich an ihn wendete und ihn mit dem Anerbieten reichen Lohns bitten Hess, die Erziehung seiner Söhne zu übernehmen. Vittorino zweifelte, ob so viel Reichtum mit der Tugend verträglich sei, und ging selbst zu Gonzaga nach Mantua, um dessen Gesinnungen zu prüfen. Er sagte ihm, dass er bisher ent- schlossen gewesen sei, den Reichtum und fürst- liche Wohnungen, welche er für Stätten des Ehrgeizes und verderblicher Gewohnheiten halte, zu fliehen. »Doch«, fuhr er fort, »da man mir

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von dir ein schönes Lob gesagt hat, und dass du denkst wie ich, so komme ich auf deine Einladung und werde gerne bleiben, wenn du von mir nur Dinge verlangst, die deiner und meiner würdig sind, und wenn deine Tugend sich bewährt und deine Sitten lobenswert bleiben.« Der Fürst versprach freundlich alles, was Vittorino wünschte und erwähnte dann des reichen Lohnes, den er ihm zugedacht. Darauf sagte Vittorino: »Es scheint mir seltsam, über das noch zu verhandeln, was ich immer verachtet habe. Hätte ich solche Wünsche, so würde deine Freigebigkeit sie gewiss befriedigen. Aber du kannst mir doch nichts Kostbareres geben, als deine Söhne, nochi kann ich etwas Wünschens- werteres erlangen, da ich gekommen bin, um die Tugend zu lehren, und nicht um Geld zu er- halten«.

Und dieser Bedürfnislosigkeit des Lebens und der edeln Einfachheit der Sitten blieb er treu, war aber dabei immer bereit, die Not anderer zu lindern und liebevoll Hülfe zu bringen mit Rat und Tat. Die Erziehungsanstalt, »Giocosa« benannt, die er bei Mantua gründete, erlangte bald solchen Ruf, dass nicht nur die Jugend aus ganz Italien, sondern auch aus Frank- reich, Deutschland, ja Griechenland, herbeieilte, um hier in jeder edlen Wissenschaft, in ritter- licher Tugend und körperlicher Geschicklichkeit unterrichtet zu werden, vor allem aber durch das Beispiel des geliebten Lehrers sich zur Festigkeit des Charakters in Tugend und Sitte

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auszubilden. Aber nicht nur den Söhnen vor- nehmer Geschlechter wandte Vittorino die Wohl- tat solcher Erziehung zu ; wo er bei armen jungen Leuten schöne Anlagen fand, nahm er sie auf, gab ihnen Unterricht, Kost und Kleidung um- sonst, und sorgte oft auch noch für die Familien, damit die Armut die jungen Leute nicht hindere, die Schule zu besuchen. Vittorino hätte Bände über Philosophie, über griechische und lateini- sche Literatur schreiben können, aber er zog es vor, persönlich auf seine Schüler zu wirken und anstatt sich Reichtümer zu sammeln mit den freigebigen Spenden seiner reichen Schüler, gab er alles hin, um den Armen zu helfen und starb selbst völlig arm. Seine Ideen * über Er- ziehung waren seiner Zeit weit voraus geeilt und bleiben in nichts hinter den Ideen berühmter moderner Pädagogen, wie Pestalozzi u. a., zurück. Grenzenlos war aber auch die verehrende Liebe seiner Schüler für ihn. Einer der edelsten unter ihnen, Federigo di Montefeltro, hatte das Bildnis Vittorinos in seinem Zimmer an hervorragender Stelle angebracht, mit der Unterschrift: »Seinem heiligen Lehrer Vittorino von Feltre, welcher ihm durch Unterricht und Beispiel menschliche Würde lehrte, widmete dies Federigo.«

Erinnert die Gestalt dieses herrlichen Mannes nicht an eine andere, auch herrliche des damals an hervorragenden Menschen so reichen Italiens, an Francesco d'Assisi? Nur dass Vittorino noch höher steht, indem er seine Schüler befähigte, Tugend und höchste Bildung zu vereinen, mitten

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im Gewühl des Lebens, menschliche Würde zu behaupten und kommende Generationen daran zu mahnen, dass die Grösse eines Volkes nicht in seiner äusseren Macht und politischen Be- deutung, sondern in der Tugend und Bildung seiner Bürger bestehe.

Der ihm jetzt auf dem Hauptplatz Feltres in Marmor gegenüberstehende andere Feltrese, Pamphilo Castaldi, wurde gleichfalls aus einem alten edeln Geschlecht am Ende des 14. Jahr- hunderts geboren. Seine Jugend fiel in die Zeit, wo die Vaterstadt reich war an ausgezeichneten Menschen und wo Vittorino die Liebe zur Tugend und Erkenntnis durch Wort und Bei- spiel lehrte. Es war eine Zeit, wo das Wissen Hand in Hand ging mit dem sittlichen Leben, und wo diese Vereinigung das hervorbrachte, was allein Bildung zu heissen verdient. Pam- philo gab sich besonders dem Studium der schönen Wissenschaften hin und eröffnete in der damals so blühenden Heimat eine ruhmvolle Schule der Literatur und Wissenschaft, wo er unentgeltlich Weisheit lehrte und, neben dem Studium der alten Sprachen, besonders auch zu dem der italienischen Muttersprache Anleitung gab, die, wie Minerva aus dem Haupte Jupiters, so beinahe plötzlich aus dem Genius Dantes ent- sprungen war. Er gehörte zu den Ersten in Italien, welche sich dieses Studium angelegen sein Hessen und gerade dies zog auch aus der Fremde eine Menge Schüler herbei, welche die Sprache erlernen wollten. Unter den Deutschen,

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die deshalb kamen, soll Johannes Fust oder Faust gewesen sein, der in Handelsgeschäften nach Venedig gekommen und, vom Rufe des Castaldi gelockt, nach Feltre gegangen sei, wo er sich einige Zeit in dem Hause desselben aufgehalten und daselbst den Gebrauch beweglicher Buch- staben kennen gelernt habe, welche Erfindung Castaldis er nachher sich zugeschrieben habe.

Das interessante Feltre hat, wie alle Städte und Orte des Friuli, Veneto und Cadore, eine vielbewegte, kriegerische, zum Teil sehr blutige Geschichte. Sie alle mussten dafür büssen, dass sie sich dem Geschick der herrlichen Königin der Meere verbunden hatten. Nachdem sie alle, aus früheren Stürmen, unter das Banner der mächtigen Republik geflüchtet waren, die ihnen treu Versprechen hielt, Schutz gewährte und die lokale Unabhängigkeit nicht antastete, kam die unselige Liga von Cambray und die deutschen Heere eroberten, verwüsteten und brandschatzten die blühenden Städte, um ihrer Treue gegen Venedig willen. Feltre aber verdankte seinen schliesslichen völligen Ruin, ein zweites Troja, auch einer Helena. Wolfgang Hibemer war als Befehlshaber der deutschen Truppen dort zurück- geblieben und überliess sich im Gefühl seiner Macht jeder Zügellosigkeit und Tyrannei, Helena, die Gattin eines vornehmen Feitresen, Del Lusa. eine durch edle Sitte und weibliche Reize aus- gezeichnete Frau, erweckte seine Leidenschaft, «r liess sie entführen und in seinen Palast bringen.

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Die Feitresen dürsteten nach Rache, öffneten dem venezianischen Heerführer Mocenigo eins der Tore, die deutsche Besatzung wurde über- fallen, Del Lusa Hess dem Wolfgang die Augen ausstechen und den Soldaten, welche bei der Entführung geholfen hatten, die rechte Hand abhauen. Der Kaiser Maximilian, sobald er dies hörte, schickte wutentbrannt den General Georg Lichtenstein mit einem Heer von 12000 Mann, um Feltre von Grund aus zu zerstören, welchen Befehl Lichtenstein mit unerhörter Grausamkeit vollführte, so dass die seit 600 Jahren blühende, reich geschmückte Stadt nur noch ein rauchen- der, blutiger Trümmerhaufen war. Aufs neue entbrannten verzweifelte Kämpfe und von Seiten der Feitresen geschahen so denkwürdige Taten des Heldenmuts, der Vaterlandsliebe, der Opfer- freudigkeit, dass sie wohl verdienten, einen Sänger zu finden, der ihnen, wie den Taten vor Troja, unsterblichen Ruhm verliehe.

Der Zug der cadorischen Alpen, die man auf dem Wege von Feltre nach Belluno be- ständig vor Augen hat, entzückte mich. Es ist gewiss einer der schönsten Gebirgszüge, die man :sehen kann. Wild zerklüftete, kühn erhabene Formen, mit allem Farbenreiz des Südens ge- schmückt, so dass sie nicht finster drohend und vernichtend auf uns niederschauen wie die Alpen der Schweiz, Als die Abendsonne auf den Zacken und Spitzen der Dolomitenriesen spielte, ^sahen sie aus wie lauter goldene und silberne •Götterburgen, wie eine hunderttorige Walhall,

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und in den Wolken, die phantastisch gefärbt um ihre Gipfel flogen, erschaute ich siegesfrohe Wal- küren, die auf schnellen Rossen daher gestürmt kamen, die Leichen erschlagener Helden hin- führend zu frohem Aufleben, bei Wotans Götter- mahl.

Als ich endlich in das engere Piavetal ein- fuhr, wo die Strasse aufwärts zu steigen beginnt, strömte mir der Duft der Tannenwälder ent- gegen, welche diese Gegend beinah zu einem Kurort machen, so wohltuend ist derselbe. Auch war wohl vorzüglich deshalb die damals noch sehr junge Königin von Italien gerade zwei Tage vor mir hier eingezogen, um einige Wochen in einem der unteren Orte des Tales, wo der Geruch am stärksten ist, zuzubringen. Ich fuhr noch unter all den Triumphbogen, mit Tannen- zweigen und aus weissem Papier verfertigten Margheritenblumen geschmückt, dahin, und wurde Zeuge der herzlichen Freude, welche das brave Bergvolk über diesen ersten Besuch der allgemein geliebten Fürstin empfand. Als ich höher hinauf kam, wo beim Dorfe Tai die grosse strada alemanna, die nach Tyrol führt, sich abzweigt, während rechts die Strasse zu den Orten des Cadore führt, konnte ich mir sogar die Ehre der Triumphbogen zurechnen, denn die Königin sollte erst am Nachmittag des Tages hinauf kommen. Es rührte mich tief, den Schmuck an den hölzernen Häuschen der Bauern zu sehen, der meistenteils aus weissen Betttüchern, Bändern von buntem und Margheritenblumen von weissem

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Papier, welches alles aus den Fenstern hing, be- stand. Jedes arme Häuschen hatte sich heraus- geputzt für das noch nie dagewesene Fest. Pieve endlich, wo die Königin heute empfangen werden sollte, prangte, ebenfalls geschmückt, im Glänze der Sonne, welche die es umgebenden Dolomiten- häupter vergoldete; aus den Tannen- und Lärchen- wäldern ringsum strömte stärkender Wohlgeruch durch die Lüfte. Der kleine GasthoP) war voll- gestopft von Menschen, welche das grosse Er- eignis mit erleben wollten; auf dem Platz vor dem Stadthaus drängte sich die ländliche Be- völkerung der umliegenden Orte; die Musik- bande Pieves hatte es zu stände gebracht, unter der Leitung eines Musikers, den man eigens von Belluno hatte kommen lassen, die Nationalhymne ziemlich richtig zu blasen, und nun stand sie den grossen Augenblick erwartend; die Schul- kinder marschierten auf unter Führung des Lehrers und der Lehrerin; die Glocken fingen an zu läuten und Böllerschüsse ertönten um anzuzeigen, dass der königliche Wagen in Sicht sei. Die Musiker fingen an zu blasen, zwei Gendarmen zu Pferd kamen angesprengt, hinter ihnen der Vorreiter der Königin in feuerroter Livree, dann der vierspännige offene Wagen, und in ihm die anmutige blonde Frau mit ihrem noch jungen Sohn, mit Hofdame und Kavalier. Freudenrufe mischten sich mit Musik und Glockenläuten, der Syndikus und die Notabelen des Ortes in

^) Damals noch der einzige, heutzutage nicht mehr, leider 1 Meyienbug IV. 15

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schwarzem Frack und weisser Krawatte begrüssten den hohen Gast, ein kleines Kind überreichte Blumen und wurde von der Landesmutter ge- küsst. Darauf eilte sie die Freitreppe vor dem Stadthaus hinauf, lächelte von oben dem jubeln- den Landvolk zu und verschwand dann mit dem Gefolge im Innern des Hauses. Während sie dort verweilte bliesen die Musiker und schrieen die Bauern fortwährend Eviva. Aber alles das war nur Herzlichkeit und Naivetät, kein konventionelles Empfangsfest, wie es sonst den Grossen der Erde bereitet wird, Wobei sie nie die wahre Gesinnung des Volks erfahren. Die guten Cadoriner sahen zum ersten mal ein gekröntes Haupt in ihrer Mitte, und sie begrüssten die holde freundliche Frau wie ein liebes Fa- milienmitglied. Während der fünf Wochen, in denen sie in Cadore verweilte, sprach das Landvolk von nichts anderem und man hörte die komischesten Äusserungen in dem naiven Dialekt der Berge, der sie noch anmutiger machte. So sagte mir eine Bäuerin mit ernster Überzeugung: La e molto ben educä (sie ist sehr gut erzogen) e molto puUit (heisst in dem Dialekt: gut). Eine andere sagte: La mi par una sorela (sie scheint mir eine Schwester) und eine dritte erzählte: La ga raccomandä al puteto de studior, de deverita un uomo di sesto e la ga da un bacio. (Sie empfahl dem Knaben zu studieren, ein tüchtiger Mann zu werden, und gab ihm einen Kuss.) Man nannte sie auch la bela siora und versprach den Kindern, sie sollten sie

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sehen wenn sie artig sein wollten. Von Berg zu Berg riefen die Knaben, welche die Herden hüteten, sich den Namen Margherita zu; die Plätze, wo sie geweilt hatte, wurden nach ihr benannt, so hiess ein Kirschbaum, unter dem sie gefrühstückt hatte: el cereser dela nostra Margherita,

Aber nicht bloss beim Landvolk, auch in den andern Ständen war die Begeisterung für dies all- gemein und es war sicher, dass, so wie die Cadoriner einst für die Republik Venedig in treuer Bundesgenossenschaft zu jedem Opfer und jeder Heldentat bereit gewesen waren gälte es heute für Margarethe von Savoyen, Blut und Leben einzusetzen, keiner zurückbleiben würde. Der sehr kleine Ort Pieve, welcher nicht der grösste, wohl aber der Hauptort des Cadore ist, hat sein Zentrum auf der Piazza, wo alles Bedeutende des dortigen Lebens sich abspielt. Auf derselben steht neben dem Stadthaus ein alter fester Turm, dessen Glocke einst die Bürger zu patriotischen Beratungen zusammenrief. An seiner Basis ist ein Marmorrelief, welches Calvi, den Cadoriner darstellt, der an der Spitze der mutigen Bergbewohner im Jahre 1848 den Aufstand gegen die Östreicher befehligte, und als die Tapfern überwältigt waren, gefangen genommen und inMantua, wie so viele andere edle italienische Patrioten, erschossen wurde. Inmitten des Platzes steht das moderne bronzene Standbild Tizians, der in Pieve geboren wurde. So bezeichnen diese zwei Monumente, des Patrioten und des

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Künstlers, die ckarakteristischen Züge des Ca- doriner Volkscharakters; grosse Intelligenz und künstlerische Begabung, Patriotismus und Opfer- mut. Diese Eigenschaften machten von jeher die Bezeichnung »ein Mann von Cadore« zu einem Ehrentitel, und in einer langen sturmbe- wegten Geschichte haben die Cadoriner ihn bewährt.

Man streitet noch über die Abstammung der Urbevölkerung, unnützerweise, wie mir scheint, denn es ist offenbar, dass hier Klima und Boden sich ihre Bewohner gebildet haben, mögen sie hergekommen sein, woher sie wollen. Zwischen den herrlichen Dolomitriesen, die nicht beengen und erdrücken, deren sanfte Vorberge mit herr- lichem Grün bekleidet sind, in den schönen Bergtälem, welche friedliche Feldarbeit zulassen, unter einem Himmel, der immer noch südlichen Farbenreiz hat, da wurden diese Menschen frei, gut, genügsam, intelligent und stolz auf ihre Unabhängigkeit. Sie hatten von jeher schwer darum zu kämpfen. Schon die Römer zogen dieses Wegs, die Ausgrabungen einer Menge Gräber, offenbar von Soldaten der Legionen, lässt darüber keinen Zweifel. Dann kam der Strom der Völkerwanderung hier herunter. Im elften Jahrhundert waren Grafen von Camino Herren in Cadore. Einer von ihnen, Gherardo, der ebenso gross als gut war, kommt bei Dante vor, welcher in seinem Exil auch in diese Gegenden kam. Ihre Herrschaft endete 1335, als die Cadoriner ihre erste Schlacht gegen die

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andringenden Deutschen fochten und ihre Berg- pässe siegreich verteidigten. Dann kamen sie eine Zeit lang unter die Patriarchen von Aquileja, und zu der Zeit begegnet man schon dem Namen der Familie Vecellio, der bereits einen guten Klang in Cadore hatte. Im 15. Jahr- hundert erlosch die Macht der Patriarchen und es kam nun darauf an, wem man sich anschliessen wolle, dem deutschen Kaiser, den Visconti von Mailand oder der Republik von Venedig. In Pieve, als dem Hauptort, versammelten sich die Gemeinden zur Beratung, kamen aber lange zu keinem Entschluss. Da rief endlich einer: »Wir sind Christen, lasst uns den um Rat an- flehen, der die Quelle des Lichts ist, er wird uns zeigen, was wir tun sollen, c Das wurde angenommen und man zog alsbald in Prozession nach dem Dorfe Valle, wo sich eine Kapelle zum heiligen Geist befindet. Da knieten alle im Gebete nieder, hörten die Messe und kehrten in die Beratungshalle nach Pieve zurück. Hier erhob sich ein Ruf: »Gehen wir zu den guten Venezianern.« Das auf der Piazza versammelte Volk rief mit Begeisterung: »Ja, ja, gehen wir zu den guten Venezianern.« Es wurden Abgesandte nach Venedig geschickt und Cadore schwur der Republik Treue, welche dagegen Schutz, allerlei Privilegien und eine Mannschaft zur Verteidigung in das feste Schloss von Pieve gab. Dies geschah im Jahre 1420 und so wurde Tizian also schon als Venezianer ge- boren.

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Zur Zeit seiner Geburt war Cadore in grosser Blüte, Kunst und Wissenschaft hatten ihren Sitz dort aufgeschlagen. Von 13CX) an gab es in Pieve hohe Schulen für klassische Studien und Philosophie. Venedig brachte grosse Opfer, um dieselben auszustatten, und berief die besten Lehrer aus allen Teilen Italiens dahin, damit die Cadoriner Jugend nicht so früh die Heimat zu verlassen brauche, sondern die Elemente der Bildung dort zwischen ihren Bergen fände. Schon zu jener Zeit finden sich die Namen be- deutender Familien, welche dem Vaterland aus- gezeichnete Männer in Wissenschaft und Kunst und heldenmütige Verteidiger gaben. Aber leider wurde das herrliche Land fortwährend durch Invasionen von Norden her beunruhigt und Tizians Kindheit muss Eindrücke wilder aufregender Art gehabt haben. Der Anfang des 16. Jahrhunderts muss besonders traurig für Cadore gewesen sein. Im Jahre 1508 verlangte Kaiser Maximilian von der Republik Venedig den Durchzug nach Rom, wo er sich krönen lassen wollte. Venedig verweigerte denselben für eine bewaffnete Armee. Der Kaiser, wütend darüber, schickte ein Heer von Tyrol hinunter mit dem Auftrag, Tod und Verwüstung zu bringen. Es kam zur Schlacht, und die tapferen Cadoriner erfochten einen vollständigen Sieg.

Dies war die Schlacht von Cadore, welche Tizian das Motiv zu einem Schlachtenbild gab, das sich im Dogenpalast zu Venedig befand, ein Jahr nach Tizians Tod aber durch Feuer zer-

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stört wurde, welches seltsam traurige Sehicksal so viele von des grossen Künstlers Werken ge- habt haben. Leider erfreute sich Cadore nicht lange seines Sieges, denn nach der Liga von Cambray gegen Venedig schnitt Maximilian Cadore von der Republik ab. Die Männer der Berge erhoben sich wieder heldenmütig und ein wackerer Bürger, Costantini, gab sein ganzes Vermögen, um den Widerstand möglich zu machen. Aber der Kaiser schickte immer neue Truppen und 15 ii wurde ganz Cadore durch Feuer und Mord zerstört, die kleinen Orte wurden verwüstet, alles Wertvolle teils vernichtet, teils weggeschleppt, auch Pieve wurde schwer heim- gesucht und sein festes Schloss wurde nieder- gerissen. Als sie ihr Zerstörungswerk vollendet hatten, zogen sich die Deutschen zurück und die armen Familien der Bergbewohner kamen aus ihren unzugänglichen Zufluchtsstätten in den Wäldern, zwischen den höchsten Felsen, zurück zu ihren in Schutt und Asche liegenden Wohn- stätten. Die mutigen Bürger von Pieve machten sich alsbald an den Wiederaufbau des Schlosses, und als endlich 15 16 Friede geschlossen wurde, erstand Pieve rasch wieder und 15 18 wurde das Stadthaus mit dem mächtigen Glockenturm vollendet.

Während dieser ganzen Zeit wird der Familie Vecellio immer ehrenvoll gedacht. Der ältere Bruder Tizians, Francesco, soll ebenfalls grosses Talent besessen haben, machte aber zunächst tapfer die Kriege Venedigs gegen die Liga mit,

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malte dann eine Zeit lang, kam aber nach Pieve zurück, übernahm die Geschäfte der Familie, war der Erste im Rat von Cadore, ging oft in Regierungsgeschäften nach Venedig und starb, 85 Jahre alt, in Pieve. Der Bruder hat seinen edlen alten Kopf auf einem Familienbild in der Kirche zu Pieve verewigt. Eine ganze Reihe von Künstlern ging aus der Familie hervor, der bedeutendste Mann derselben aber war, ausser Tizian selbst, ein Vetter, welcher nicht Künstler, sondern Rechtsgelehrter und ein hoch angesehener Mann in Cadore war, sich auch im Kriege aus- zeichnete, wonach ihn der Doge adeln wollte, was er aber als demokratischer Cadoriner ablehnte, und sich viel lieber »den Redner c nennen liess, wie man ihn seiner glänzenden Rednergabe wegen nannte. Dazu war er auch Dichter und es existieren unter andern Sachen 3 Epigramme von ihm auf den Tod der schönen Irene Spielem- berg, welche Tizian gemalt hat. Cadores grösster Sohn, Tizian selbst, 1477 geboren, wurde schon in seinem elften Jahr nach Venedig gebracht, um seine früh hervorgetretene Begabung zur Kunst auszubilden. Als er gross, berühmt und ein Fürst der Kunst geworden war, lebte er in Venedig in der sogenannten casa grande, einem Hause der Insel Murano gegenüber, mit der Aussicht :auf die Lagunen und in der Feme auf seine cadorischen Berge und in der Mitte eines Gartens gelegen, den er mit Liebe schmückte und unterhielt. Hier gebar ihm sein Weib Cäcilia zwei Söhne, Pomponio und Orazio, und

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eine Tochter Lavinia. Im Jahre 1530 starb seine Frau und er ging in grossem Schmerz mit seinen Waisen hinauf in die Heimat zu den Seinen. Noch lebten sein Vater, sein Bruder Francesco und die Schwester Orsola.

Diese, als sie des Bruders Schmerz sah, er- bot sich, mit ihm zu gehen und die Sorge für das Haus und die Kinder zu übernehmen. Sie war ein vorzügliches Wesen und es gereichte dem Bruder zu grossem Trost. Es war keine kleine Aufgabe, seinem Haushalt vorzustehen, denn ausser den häuslichen Angelegenheiten der Familie, war es auch das gesellige Leben der casa grande, welches die grössten Anforderungen machte. Freunde, Gäste und Besucher aus allen Ständen kamen von nah und fern, den grossen Meister zu sehen und wurden mit edelster Gast- freundschaft bewirtet. Der Brief eines römischen Literaten gibt einen Begriff von den Vereinigungen, wie sie dort üblich waren:

»Ich wurde am i. August eingeladen, die Art von bacchantischem Fest, das, ich weiss nicht warum, ferare Agosto genannt wird, in einem herrlichen Garten des Meisters Tizian Vecellio mitzufeiern, eines vortrefflichen Malers, wie jeder- mann weiss, und eines Mannes, dessen freund- liche Höflichkeit wohl dazu dient, jedes Ver- gnügen zu erhöhen. Nun fanden sich bei dem besagten Meister Tizian, weil Gleiches mit Gleichem sich anzieht, einige der seltensten Geister vereint, welche sich in dieser Stadt, gleichwie in unserem Rom, befinden. Da war Herr

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Pietro Aretino, der schreibt wie ein neues Wunder der Natur, ferner Meister Jacopo Tatti, genannt Sansovino, ein beinah eben so grosser Nachahmer der Natur mit dem Meissel, wie der Festgeber mit dem Pinsel. Auch Herr Jacopo Nardi war da, und ich als der Vierte zwischen so viel Weisheit. «

»Ehe man die Tische hinaus setzte, womit man etwas zögerte, da man im Garten, obwohl es schon schattig war, doch die Sonnenwärme noch fühlte, verging die Zeit mit Besichtigung der lebensähnlichen Gestalten auf den herrlichen Bildern, von denen das Haus voll ist, und in Bewunderung der grossen Schönheit des Gartens, welcher eine Freude und ein Wunder für jeder- mann ist. Er liegt am äussersten Ende der Stadt Venedig, am Meer und man sieht von da die hübsche Insel Murano und andere schöne Orte. Sobald die Sonne untergegangen war, füllte sich das Wasser in der Nähe des Gartens mit Tau- senden von Gondeln, in denen schöne Frauen sassen ; Harmonien ertönten, Musik durch Stimmen und Instrumente, welche bis Mitternacht unser köst- liches Abendessen begleiteten. Der Garten ist so schön, so gut unterhalten, so berühmt, dass er mir die lieblichen Gärten von St. Agatha in Er- innerung brachte, und mir solche Sehnsucht danach und nach den teuren Freunden erregte, dass ich die längste Zeit des Abends nicht wusste, ob ich in Rom oder Venedig sei. Das Abendessen war ebenso gut und schön ange- ordnet, wie reichlich. Neben den trefflichen

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Speisen und kostbaren Weinen genossen wir noch alle die Freuden und Erheiterungen, welche zu der Jahreszeit, zu den Gästen und dem Feste passten. Als wir bei Tisch bis zu den Früchten gekommen waren, kam gerade dein Brief, in dem man die lateinische Sprache lobte und die toskanische tadelte. Darüber wurde Aretino so ärgerlich, dass, hätte man ihn nicht zurück- gehalten, er eine der schlimmsten Schmähschriften verfasst haben würde, denn er schrie wütend nach Papier und Tinte, und unterliess nicht, einen Teil seiner Entrüstung in Worten zu äussern. Doch endete schliesslich das Abendessen sehr gut.«

Die ausserordentlichen Erfolge dieses Maler- fürsten, der Glanz, der die Casa grande umgab, in welcher Könige, Fürsten, Kardinäle u. a. hul- digend einkehrten und fürstlich bewirtet wurden, die Ehren aller Art, die man dem Genius und der edlen Persönlichkeit zuteil werden Hess, riefen natürlich Neid und Verleumdung hervor, welche die Rache niedriger Seelen an dem Hohen sind. Auf alle Weise bemühte man sich, die Grestalt des grossen Cadoriners zu verunglimpfen. Vor allem wollte man aus seiner Beziehung zu Aretino den Beweis seiner Immoralität herleiten, aber auch dies spricht nicht gegen ihn, denn es lag in den Sitten der Zeit, geistreichen Menschen viel nachzusehen ; dem Aretino wurde von allen Seiten gehuldigt und die höchsten Personen der Zeit suchten seinen Umgang. Dagegen hatte aber auch Tizian andere ausgezeichnete und ihm innig

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ergebene Männer zu Freunden, wie Sansovino, Ariosto, Bernardo Tasso, Bembo u. a. Ariosto las ihm seinen Orlando furioso vor, um sein Ur- teil zu hören. Lorenzo Lotto, Paolo Veronese, Giulio Romano waren ihm teuer. Mit Michel Angelo, den er in Rom kennen lernte, stand er in Briefwechsel. Dem Kaiser Karl V. war er nicht nur als Künstler, sondern auch als Mensch so wert, dass er ihn zweimal zu sich nach Deutschland rief und ihm die grössten Ehren erwies. In Bologna liess er ihn an seiner Seite reiten, und als ihm die spöttischen Bemerkungen der vornehmen Höflinge darüber zu lästig wurden, erhob er ihn in den Grafenstand des heiligen römischen Reichs.

Nein, sicher war Tizian frei von den hässlichen Lastern, die man ihm andichten wollte. Eine hohe Intelligenz, eine sanfte grossmütige Seele, eine liebenswürdige Natur mit feinen Sitten, ein Begnadeter im Reiche der Kunst, so war der Cadoriner, der noch jetzt in seiner herrlichen Heimat vergöttert wird, wo es kein kleines Bauernkind gibt, das nicht von Tizian zu er- zählen wüsste. Und er liebte sie auch, diese Heimat. Fast jedes Jahr zog er mit vielem Gefolge hinauf in seine Berge, um sich an der geheimnisvollen Quelle künstlerischer Ein- gebungen zu erquicken, an welcher seine kind- liche Seele schon getrunken hatte. In Zeiten der Not kam er Cadore oft zu Hülfe und gab Geld, um Korn zu kaufen. Zwei eigenhändige Briefe von ihm, die als kostbares Besitztum

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dort aufbewahrt werden und mir vom Syndicus gütig mitgeteilt wurden, geben davon Zeugnis.

In seinen Familienverhältnissen war er nicht so glücklich, wie als Künstler. Seine Frau, die er unendlich geliebt zu haben scheint, starb früh, die treffliche Schwester Orsola starb lange vor ihm, ebenso der Bruder Francesco. Der grösste Schmerz für ihn aber war der frühe Tod seiner schönen Tochter Lavinia, die er über alles liebte. Auch sein Lieblingssohn Orazio starb lange vor dem Vater; nur der älteste Sohn, Pomponius, überlebte ihn, aber er war des Vaters unwürdig, führte ein zügelloses Leben und Tizian lehnte die Bischofswürde, welche der Papst dem Pom- ponius, der Geistlicher war, erteüen wollte, für ihn als deren unwert, ab. Auch die nächsten Freunde Tizians starben vor ihm, er überlebte sie alle und war mit dreiundneunzig Jahren noch an der Arbeit. Aber die Pest von 1 5 76, die in Venedig wütete, verlangte auch dieses grosse Opfer. Er hatte sich nicht früh genug nach Cadore geflüchtet und starb allein, sogar von den Dienern, die sich vor der Ansteckung fürchteten, verlassen. Ein solches Ende nach einem so glorreichen Leben war allerdings traurig, aber vielleicht haben den Sterbenden doch Visio- nen seiner Unsterblichkeit getröstet. Denn ab- gesehen von seinen Idealbildern und seinen un- übertreff"lichen Portraits, durch welche er geradezu die Geschichte eines Jahrhunderts auf der Lein- wand erzählt, ist er auch als Landschaftsmaler unsterblich. Man hat ihn den Homer der Land-

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Schaft genannt, und er hat wirklich in seinen Landschaften das Naturepos seines Cadore ge- schrieben. Sein Anteiao, sein Marmarolo, sein Pelmo und wie die Dolomitriesen alle heissen, sie sind seine epischen Helden, die mit phan- tastischen Wolkengebilden gigantische Kämpfe bestehen, oder in heiterer olympischer Ruhe, die goldfunkelnden Häupter in den reinen blauen Äther erheben. Nur wenn man die wunder- baren Farben-Luftspiele in jenen Bergen gesehen hat, kann man Tizians Landschaften recht wür- digen, wie man ihn überhaupt erst recht liebt, wenn man seine Heimat kennt!

Die Cadoriner sind arm, ihre Hauptnahrung besteht in Polenta, ihr Getränk ist Wasser. Sie haben nur drei Monate, um neun zu versorgen; ihr einziger Reichtum besteht im Holzhandel. Aber sie sind genügsam, gut und intelligent, eifrige Patrioten des engeren und weiteren Vater- lands und voll Eifer für die materielle und geistige Wiedergeburt ihrer Heimat. Noch ist bis jetzt der grosse Strom der modernen Völkerwanderung nicht nach Pieve gekommen. Möge er ihm noch lange fern bleiben! Er führt so viele Übel mit sich, wie man es in der Schweiz z. B. sieht, dass man förmlich aufatmet in der heiligen Frische der Cadorer Wälder und Höhen, wo man sich den Eindrücken der poesieerfüllten Natur noch hingeben kann, ohne von Haufen von Touristen umschwärmt zu sein; wo keine durch die »Inglesi« frech gemachten Bettlerscharen das Mitleid im Herzen verstummen machen; wo, wenn einmal

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ein Kindchen schüchtern die Hand nach einer Gabe ausstreckt, es sie sogleich fast erschrocken zurückzieht, als habe es eine Sünde begangen; wo jeder bereit ist, eine Freundlichkeit zu er- weisen und es beinah als eine Beleidigung an- sieht, wenn man ein Trinkgeld dafür geben will. Nein, mein Cadore, lass diesen Strom des modernen Lebens an dir vorüber rauschen! Er ist ein zersetzendes Element, vor dem du dich hüten musst. Bleibe bei deiner Einfachheit, deiner Reinheit der Sitten und entwickle nur so weit die materiellen Bedingungen des Lebens, um deinen begabten Kindern die Wohltat edler und besonders künstlerischer Bildung zu gewähren. Wer weiss, ob dann nicht wieder manche deiner Hütten Geburtsstätten solcher Grossen werden, wie das kleine Haus, in welchem Tizian geboren wurde, und ob die Poesie nicht wieder ihre Flügel regt wie einst, wo von Berg zu Berg die Holz fallenden Bauern oder die Hirten sich mit Strophen aus Tassos »befreitem Jerusalem« grüssten, fiir welche sie eigentümlich schöne Melodien erfunden hatten.^)

Oft auf meinen einsamen Spaziergängen überfiel mich die alte Neigung zur gebundenen Rede und es schrieb sich dann ins Tagebuch, das ich immer mit mir führte, so manches Lied, wie einmal, da mich ein Gewitter überfiel, als ich auf hochgelegener Strasse daher kam.

^) Leider ist jetzt, nach sechzehn Jahren, der Touristen- schwarm dort auch schon eingekehrt.

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neben mir den Abgrund, in dem die Piave rauschte:

Berggeister grollen, finstre Wolken hangen Tief in den Abgrund, wo der Bergstrom braust, Und weisse Nebel züngeln sich gleich Schlangen Hinauf zum Aar, der über Wolken haust.

Der Donner grollt und tausendfältig hallen Die Echo ihn aus dunklen Klüften nach; Durch das Grewog des luft'gen Chaos fallen Blutrote Blitze, schaurig, Schlag auf Schlag.

Ich kenne euch, ihr starken Urgewalten, Nicht schreckt ihr mehr die stille Seele hier, Ihr braucht es mir nicht fürder vorzuhalten: » Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir. «

Ihr seid ja nicht des Zufalls blinde Söhne, Euch bindet auch ein ewig strenges Muss, Und das Gesetz beherrscht euch, wie das Schöne Und wie die Liebe und wie den Genuss.

Seid Ihr es doch, durch die am heit'ren Morgen Auf grüner Flur die Alpenblume blüht. Und in der Bäume Schattendach geborgen. Die Herde still zum Kräutermahle zieht.

Ihr seid's, durch die, in reichgeschmückten Auen, Gewalt'ge Ströme hin zum Meere gehn. Durch die sich königliche Städte bauen Und Wunderwerke hoher Kunst entstehn.

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Und wieder ihr, durch die in Liebes wonnen Der Jüngling sich zu seinem Mädchen neigt; Ihr, immer ihr, wenn an der Weisheit Bronnen Der Labetrank dem durst'gen Geist sich reicht.

Ich sollt euch furchten, sollte euch nicht kennen? Ich glich euch nicht, war nicht mit euch verwandt? Ich sollte euch nicht liebend Brüder nennen Erscheint Ihr auch in drohendem Gewand?

Durch euch hab ich gelebt, geliebt, gerungen, Ihr führtet mich durch dunkler Nächte Pein, Zum Seelenfrieden und von euch umschlungen Schlaf ich dereinst zur grossen Ruhe ein.

Und noch eines von diesen Cadoriner Alpen- kindern möge hier stehen. Es kam mir, als ich an einem ganz toll sprudelnden und springenden Alpenbächlein, welches von steiler Höhe sich den Weg in die grünen Talgründe bahnte, vorüber kam. Ich grüsste es so:

»Du eilst zu Tal, du munt'res Alpensöhnlein, Leichtfüssig springst du über Stock und Stein In sorglos heiterm Übermute scherzend. Denn dir erneuert sich die Jugend ewig Aus frischen Quellen schneebedeckter Höhn. Mir schwand sie längst, die holdeste der Gaben, Die uns Natur verleiht und wieder nimmt. Und einsam wandle ich die steilen Pfade Des Alters fort bis zu der letzten Höh.

M e y s e n b u g , IV. 16

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Und doch beglückt vor dir ! denn in dem Herzen Da fliessen ewig jung der Liebe Quellen, Des heil'gen Mitleids reine Harmonien, Und durch die Seele ziehen Geisterscharen Erhabener Gedanken; sel'ge Chöre

In Hymnen kündend einen neuen Tag

Nicht neid ich dir der ew'gen Jugend Fülle, Du froher Alpbach eile scherzend fort.

Bei dem Blick aus meinem Fenster in Rom auf die kunstvollen erhabenen Gegenstände draussen fühle ich es immer, welch eine Wohl- tat es ist, nicht in banaler Umgebung zu sein, sondern das Schöne, Würdige immer vor sich zu haben. Es ergibt sich daraus eine immer- währende edle Stimmung, in der sich die Er- eignisse des täglichen Lebens wie in einem verklärenden Spiegel ausnehmen, in welchem das Rauhe, Hässliche, Beleidigende derselben sich mildert. Das hatten die Alten vor uns voraus, dass sie ihr öffentliches Leben so reich mit schönen und würdigen Dingen schmückten, wo- durch ein grosser Teil der Brutalität, die unser modernes Leben durchzieht, ihnen fern bleiben musste.

Heute in der Farnesina vor Raphaels Gala- thea fiel mir ein, dass Goethe sicher bei seiner Galathea im 2. Teil des Faust an Raphaels Fresko gedacht hat. Raphael war ein Dichter in Farben wie Goethe in Worten. Denn was

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heisst Dichter sein? Die der Erscheinung inne- wohnende Idee, das Ewige im Vergänglichen durch Form oder Wort aussprechen, und wie herrlich hat das Raphael getan !

Unbewusst enthält der Mythos immer den philosophischen Gedanken. Uranus und Gäa sind recht eigentlich das Ding an sich, die Urkraft, welche in sich das Doppelprinzip des Seins (Uranus) und Werdens (Gäa) enthält. Uranus wir zerstört durch den aus dem Schosse des Werdens geborenen Sohn, Saturn (Zeit), der Be- griff der Zeit zerstört die Einheit des Urdaseins. Rhea (die Erde, also der Raum) bildet mit ihm das Paar, welches aus der Zerstücklung des Ur- daseins hervorgeht Saturn verschlingt die eigenen Kinder, die entfliehenden Bruchstücke der Zeit. Rhea schafft das nebeneinander Platz Nehmende, das Gestaltete: Jupiter der Mensch, der Zeit und Raum auflöst, indem er sie beherrscht und unter seiner Einsicht vereinigt.

Minghetti, in seinem Buch über Raphael, sagt vom heiligen Hieronymus, »dass er sich verzehrt in Hingebung, und Trost und Leben nur aus dem gnadenreichen Blick ihrer (der Madonna) Schöne nimmt. ^ Wie tief seelisch ist dies sich auflösen in andächtiger inbrünstiger Liebe zur fleckenlosen Schönheit des Weiblichen, der Poesie! Und dann wieder der hl. Franziskus,

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welch ein Held des Lebens! Ja diese Heiligen waren etwas vor dem sich die Seele in Demut beugt. Wie wenig dem Ähnliches hat unsere moderne Welt aufzuweisen.

Herzliches Wohlwollen hilft auch über Mei- nungsverschiedenheiten hinweg.

Da das Entsagen zuletzt zu einer wahren Gymnastik der Seele wird, so vollziehen sich die Momente desselben zuletzt wie innere Vorgänge, denen man fast als Zuschauer beiwohnt und bei denen man nur noch leise das Zucken des Willens fühlt, der gebändigt durch Vernunft und Liebe sich diesen als zahmer Leu zu Füssen legt, etwa wie in der Goetheschen Novelle der Löwe, besänftigt durch zarten Sinn und Melodie.

Einfälle kommen meist durch Anschauungen; zuerst sind sie nur mehr plötzliche Empfindungen, noch nicht Denken, nur Nebelflecken, die sich zu Sonnen ballen.

Der Dichter ist verpflichtet, seine Gestalten künstlerisch abzurunden, sie als ein Grewordnes hinzustellen. Unsere Zeit aber ist so vorzugs- weise eine Werdende, alles Leben eilt so unge- duldig neuen Entwicklungen entgegen, dass man

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die Gestalten unserer Tage kaum für ein Kunst werk brauchen kann.

Man las abends in einem kleinen Kreis bei mir die erst kürzlich erschienene Nora von Ibsen, welche in der damals sehr zahlreichen skandinavischen Gesellschaft in Rom eine grosse Aufregung hervorgebracht hatte und der Gegen- stand lebhafter Diskussionen war. Eine der Damen bei mir machte heftige Opposition und meinte, Nora hätte ihrem Mann alles früher sagen müssen. Ja, dann war sie aber gerade nicht die Natur, die Idealistin, die ungewöhnlich handelt und sowohl aus Liebe das Gesetzwidrige tut, als auch sich dann losreisst von Glück, Stellung, Mann und Kind, sobald sie begreift, dass es eine höhere Sittlichkeit gibt als zu bleiben. Bliebe sie, nachdem sie ihren Mann verstanden, so wäre sie der Prostituierten eine, die in legaler Ehe leben.

Die feine Psychologie in Nora ist: zum Ver- schweigen des begangnen Unrechts und dadurch zur Täuschung kommen aus Liebe und Zartgefühl.

Ibsen, den ich den Vorzug hatte kennen zu lernen, erzählte mir von einem dänischen Schrift- steller, der gesagt habe, »durch die Sünde sei die Kunst in die Welt gekommen«. Gewiss, wenn das Leben ohne Sünde war, so wäre die Kunst

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nicht gekommen, denn das Leben wäre selbst das Kunstwerk und bedürfte der Erlösung durch die Kunst nicht.

Es war im Anfang der achtziger Jahre, dass sich hier ein Kunstzentrum bildete, welches an die Zeiten der Kunstblüte der Renaissance er- innerte. Franz von Lenbach, der echte Schüler der grossen Meister, der Tizian, Velasquez u. a., kam sich in Rom niederzulassen und zwar in den herrlichen Räumen des Palazzo Borghese, die er künstlerisch schmückte mit hohen Kunstwerken alter Zeit, sein Besitztum, und den eignen herr- lichen Schöpfungen, welche in Fülle durch seine Meisterhand entstanden. Es dauerte nicht lange, so wurde es Mode, wie es zu gehen pflegt, nachmittags in den von ihm angesetzten Stun- den diese einzige Kunststätte zu besuchen und man sah bald die ganze vornehme römische Welt sich hier bewegen und die schönen Frauen nach der Ehre geizen, von diesem verklärenden Pinsel auf die Leinwand gezaubert zu werden. Mich verband schon seit längerer Zeit herzliche Freund- schaft mit dem grossen Künstler und dem treff- lichen Mann und ich zog es bei weitem vor, in den Stunden hinzugehen, wo er bei der Arbeit war und man zusehen durfte, wie unter seinen Händen plötzlich sprechendes Leben auf dem toten Material entstand, und wo so manches bedeutende Wort die reiche Ursprünglichkeit seines Geistes bekundete, denn er verschmähte es nicht, beim Schaffen auch ein Gespräch zu

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fuhren: So sagte er mir einmal: »Die alten Meister sahen das Unendliche die modernen sehen das Endliche.« Ein anderes Mal, als er mir einiges Technische erklärt hatte, bemerkte er: »Der echte Künstler muss beim Schaffen im siebenten Himmel sein, er muss aber auch die Kunstsprache lernen, so wie die Alten malten mit Farben, die gleichsam das Materielle ver- klären.« — Und wieder ein drittes Mal, als er von den grossen Meistern der Vergangenheit redete, fügte er hinzu: »Die grossen Meister sahen alles wie aus einer gewissen Ferne, sie sahen die ideale Einheit des Gregenstands; die modernen Maler sehen alles nahe im realistische Detail.«

Da es mir vergönnt war, seinem Schaffen öfter zuzusehen, so erkannte ich, wie sehr er sich von diesem Geist des Schaffens der alten Meister durchdrungen hat; er malt so wie Tizian die Typen seiner Zeit malte, in so grossem Styl, dass er sie zu historischer Bedeutung erhebt, und man könnte Lenbach den Historiker des 19. Jahr- hunderts in Farben nennen.

Leider war es mehr die Teilname der Neu- gierde und der Mode, welche er hier fand, als die künstlerischen Verständnisses und so gab er die Idee sich hier bleibend niederzulassen auf und kehrte nach wenigen Jahren in das Vater- land zurück. Ich verlor dadurch nicht nur einen geschätzten Freund, sondern auch ein Kunstheim, wie es sympathischer nicht gedacht werden konnte und wie kein ähnlich bedeutendes in Rom existiert. Aber alles wahrhaft Grosse und Be-

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deutende hinterlässt geistige Spuren, die nicht verloren gehen, und so war auch mein Sinn und mein Denken von neuem innigst der bildenden Kunst zugewandt, die hier in Rom allerdings bei weitem den Vorrang vor der Musik hat, denn was die alte italienische Musik Hohes und Herr- liches bot, besonders in der alten Kirchenmusik, hat man fast ganz verlassen und moderne Bana- lität an die Stelle gesetzt; die herrlichen Werke der alten Meister aber leben glücklicherweise noch und wenn die Gemälde Raphaels und Michel Angelos auch schon durch die Zeit ge- litten haben, so sind sie doch immer noch so, dass sie reinen Grenuss bereiten. So waren denn auch meine Gedanken lange Zeit mehr in dieser Richtung tätig.

Es war nicht die Religion, welche die grossen Künstler der Vergangenheit inspirierte, sondern die Kunst war ihnen Religion, sie war ihnen das zu realisierende Ideal, welches in Form, Linie, Farbe den höchsten Ausdruck zugleich des Materiellen und Ideellen geben musste. Das unterscheidet sie von den modernen Künstlern, dass sie das Reale aus seiner Vereinzelung zum Ausdruck eines Universellen, Ewigen erhoben, daher Typen und einen Styl schufen. Es fiel mir gerade ein auf der Profilfigur auf der Ver- lobung der hl. Cäcilie von Francia in der Kapelle dieser Heiligen in Bologna. Sie ist durchaus individuell und dennoch ein Typus dessen, was eine edle Gestalt in edler Gewandung sein soll.

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Ich antwortete einem Freund, welcher meinte, dass die hohe Kunst voll zartester Empfindungen und erhabenster Gredanken nur für auserwählte Seelen sei : Ja, so ist es, aber in der Menge gibt es vielleicht viel mehr auserwählte Seelen, als wir denken. Ist der Christus mit den Jüngern in Emmaus von Rembrandt (von dem Bild war die Rede gewesen) nicht auch nur von den aus- erwählten Seelen verstanden? Sieht der Auf- wärter, der ihn bedient, nicht auch bloss das irdische Geschäft und nicht die Gottheit, die von ihm ausstrahlt? Alle Kunst in ihrer höchsten Auffassung ist nur für die auserwählten Seelen. Christus hat es gewust; er hat zum Volk, welches noch in seiner Jungfräulichkeit unberührt von der Fäulnis der Zivilisation war, wie ein grosser Künstler geredet und die auserwählten Seelen in demselben haben ihn verstanden. Der Rest, die Schattenwesen, verstehen ihn nie.

Die meisten Menschen verlangen von einem Kunstwerk nur, dass es angenehm auf die Sinne wirke. Mir scheint es aber, dass das wahre grosse Kunstwerk vor allem ethisch wirken, uns über uns selbst hinaus heben und idealisireen muss, wie wir es einst von der Religion ver- langten. Das Wesen des Genius ist es, in die ästhetische Form den ethischen Inhalt zu giessen, natürlich unbewusst, er kann nicht anders, er muss es.

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Die Zeichnung ist wie der Grundton, das Kolorit wie das Musikalische, die Melodie im Bild. Man muss auch in der Malerei lesen lernen^ die Gedanken des Künstlers.

Von Venedig kommend, verbrachte ich meh- rere Stunden in Castelfranco vor dem herrlichen Bild des Giorgione. Es war nicht kindliche An- dacht, was ich empfand, wie vor dem rührenden Bild des Previtali in Serravalle, es war das hohe Glück, Vollendung zu sehen. Alles ist da Har- monie, die Landschaft, die göttliche Frau mit dem Kind, sogar die Falten ihres Gewands, die ruhig fliessen wie Tonwellen, der herrliche ge- wafifnete Jüngling, selbst die Teppiche auf dem Boden alles atmet Vollendung und in ihr erhabene Ruhe, wie bei den Göttergestalten des Phidias. Giorgione, frei von aller Tradition, lebt im reinen Äther der Schönheit. Wohl hatte Tizian Grund, den Rivalen zu fürchten.

Eine Definition des Kunstwerks ist wohl: soll es vollkommen sein, muss es uns über- zeugen, muss die Kritik verstummen machen, sich uns als notwendig so wie es ist auf- drängen.

Michel Angelo machte der religiösen Tradition in der Kunst ein Ende, wie Sokrates dem Götter-

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glauben, der erste durch die erhabene Realistik seiner Gestalten, der zweite durch die Philosophie.

Der Eintritt der Landschaft in die Malerei findet schon am Anfang des 15. Jahrhunderts statt. Bei Giotto ist noch keine Spur davon, bei Benozzo Gozzola, bei Botticelli ist sie bereits da. Costa von Ferrara, der in Bologna malte, hat schon die schönsten Landschaften, die Gegenden am Flusse Reno bei Bologna gemalt Bei den Caraccie wird die Landschaft ein selbst- ständiger Zweig der Kunst und die Figur eine Zutat, statt dass es früher umgekehrt war. Man könnte sagen, die Landschaft trat ein, wie um die Stimmung anzugeben, auf welcher sich das Leben und die Aktion der Figuren abhebt. Es tritt mit ihr die Bewegung des Seelenlebens, die Handlung ein, während früher der Goldgrund nur das einseitige Versenktsein in das religiöse Nirwana andeutete'.

Der Typus ist das erste in der Kunst, nach- her kommt die Grazie, erst Mantegna, Bellini etc., dann Pinturicchio, Botticelli und die anderen. Der Vorteil der schönen südlichen Rassen ist, dass schon ihr Typus etwas sagt, oft freilich mehr als dahinter ist. Die nordischen Typen müssen das Ideale durch den Seelenausdruck hervorbringen, während jene es schon durch die

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Form haben. Man sehe die altdeutschen Madonnen, die Holbein, die Dürer etc.

Die Aufgabe der bildenden Kunst ist die Poesie der Situation. Daher kann auch blosses Kolorit ohne eine prägnante Idee schon poetisch sein. Das Leben eines Volks in Situationen malen, das wäre das Seitenstück zum Epos, welches es in Taten erzählt. Unsere moderne Gesellschaft hat zu beiden zu viel Reflektion, sie malt Philosophie.

Da ich nun zehn Jahre lang jeden Sommer meist über Deutschland, wo ich meine Schwestern auf einige Wochen besuchte, nach Versailles ging, um in Olgas Familie die schöne Jahreszeit zuzubringen, so besuchte ich auch natürlich wieder oft den Louvre und erfreute mich an den wundervollen Schätzen dieser herrlichen Sammlung, deren edelste Blüten freilich auf fremdem Boden gewachsen sind. So stand ich neulich entzückt vor dem Konzert des Giorgione in dem Salon carre. Welche unaussprechliche Jugendlichkeit und Anmut in diesen Gestalten, welche Freude am Dasein in unschuldiger Natür- lichkeit, in reiner Lust an der Schönheit und Harmonie, welche die Männer erfüllt, die dem Instrument süsse Weisen entlocken und die un- schuldvolle Grazie der weiblichen Gestalten wie mit einem Schleier von Reinheit überzieht. Und

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dabei: wie gemalt! Welche edle Modellierung und welche Harmonie der Farben auch in der Landschaft, die nicht wenig zu dem Eindruck der Reinheit beiträgt, den das Bild macht. Es schwebt über dem Ganzen wie ein Hauch der Antike, die beglückende Empfindung der seligen Schönheit der Natur. Es ist nicht mehr so bei dem Corregio, der dem Bild des Giorgione gegenüber hängt. Hier haben die Zeichnung in der Verkürzung, die Modellierung und die Farbe das höchste erreicht, was darin zu er- reichen ist. Der Kopf der schlafenden Nymphe ist so meisterhaft gemalt, dass man das ruhige Atmen, welches aus den schwellenden Lippen hervorschwebt, zu hören meint. Alles ist schön an ihr und doch hat man trotz dieser Vollendung nicht die reine Freude daran, wie an dem Giorgione, denn man fühlt, dass hinter dieser Höhe der Technik schon der Verfall steht. Der vor Wollust grinsende Faun, welcher den blauen Mantel von der Schlafenden hebt, gibt einen Beigeschmack, der den reinen Genuss der Schön- heit stört und weit entfernt ist von der keuschen Natürlichkeit des Georgione. »Man fühlt die Absicht und man ist verstimmt.« Schön hat Corregio auf dem Danaebild in der Galerie Borghese in Rom diese Seite der Komposition zu mildem gewusst durch die ideale Schönheit des Eros und der beiden Putten. Das ist echt griechisch.

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Wieder mehr als je fiel es mir auch auf in diesem Reichtum des Louvre, welche wunder- bare Landschaftsmaler diese Alten waren, die Costa, Pinturicchio und andere, und für sie waren die Landschaften doch nur Nebensache, doch nur die Stimmung andeutend, die die Handlung begleitet, etwa wie die Musik den dramatischen Vorgang. Sie sind dabei nicht minder realistisch wie die modernen Landschafts- maler; wer erkennt nicht bei den Genannten die Gegenden am Reno und bei den Umbriern die umbrische Landschaft wieder? Aber wie poetisch sind diese dabei; sie scheinen wie ein friedliches Traumbild der reinen Existenzen, die den Vordergrund einnehmen. Ja, alle diese Maler waren lyrische Dichter, sie trugen in ihrer Seele wie eine innere Melodie, während die meisten der modernen Landschaftsmaler doch nur Kopisten der Natur sind.

Lange stand ich auch wieder vor der »Grio- conda«, dieser ewigen Sphinx. Sie scheint zu sagen, was kümmert mich der Tod? Jener Grosse machte mich unsterblich; mein Lächeln wird Jahrhunderte überdauern und Herzen er- obern und verwunden.

Ein junger Bekannter fragte mich: Wie schafft der Künstler ideale Typen? Ich sagte: Der rechte Künstler hält die Menschen in den einzelnen

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Momenten ihrer Idealität fest. Das vollendet Schöne findet sich nur bruchstückweise in der Erscheinung ; der Künstler fasst die Bruchstücke zusammen und bringt die vollendete, ideale Menschheit hervor. Daher schafft nur er ewige Typen, in der Menschheit sind sie nicht.

Eine glückliche Stunde im Louvre vor der Venus von Milo verbracht, vor dieser erhabenen Ruhe der Individualität, im Bewusstsein der universellen Idealität.

Dann aber auch wieder Italien ! Zauberisches Venedig! So ausgestreckt, ohne Mühe, ohne Gerassel, ohne Pferdegepeitsche und Pflaster- stösse, über die Lagune zu schweben und sinnend auf die vom Abendrot glühende Fata Morgana der Inselstadt zu schauen, ist ein so sublimer Genuss wie wenig anderes auf der Welt.

Und Sienal Ein Ort so reich an Kunst- schöpfungen wie wenige andere. Wieder das- selbe feste Selbstbewusstsein, wie auch in Perugia u. a., nur noch liebenswürdiger und freier; überall das edle Leben eines sich selbst regieren- den Gemeinwesens. Sollte das nur in so kleinen Verhältnissen möglich sein? Was hindert in unseren grossen Staatskörpern eine solche hohe

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allgemeine Blüte der Kultur, so dass sie nur eine allgemeine politische Bedeutung haben und jedes eigentümliche Leben der Gremeinwesen darin untergeht? In all jenen kleinen Zentren bewegten sich doch auch Weltgedanken, das intellektuelle Leben war durchaus kein be- schränktes, sondern vielleicht grösser, freier, strebender als jetzt. Wenn man solch eine Galerie besucht wie die »belle arti« in Siena,^ wie kann man da das Streben der Geister, aus der versteinerten Form loszukommen, verfolgen und wie sieht man, dass sie sich gewaltig regten^ um mitzuwirken »am sausenden Webstuhl der Zeit«. Und neben dem ernsten Sinn, welche reizende Naivetät, z. B. das Fresco am Palazzo publico, wo Barbarossa vor dem Papst auf der Erde liegt und die Kardinäle mit Geberden des Abscheus, des Mitleids und des heimlichen Hohns auf ihn sehen. Solch ein Bild, an einem öffentlichen Ort den Blicken und Bemerkungen des Volks ausgesetzt, könnte es heutzutage noch gemalt werden? Es wäre ja ein crime de l^se majeste. Freilich, wir wollten doch auch nicht mehr nach Canossa gehen!

Welcher Unterschied aber auch in anderer Be-^ Ziehung mit unserer Zeit! Wie könnte heut- zutage der Geist einer einzigen armen Frau ein ganzes mächtiges Gemeinwesen so beherrschen, wie es z. B. durch Katharina von Siena geschah, die als Vorbild jeder Tugend hochgeehrt, als grosser Charakter und Intellekt mit politischen Missionen betraut und in den öffentUchen An-

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gelegenheiten mit Vertrauen gehört wurde und die zugleich die Phantasie der grosseh Künstler ihrer Zeit so begeisterte, dass man sie zur Heldin der religiösen Legende und zu einem Ideal der Kunst »erhob. Gleiche Tugend, gleiche Selbst- verleugnung findet sich auch noch heutzutage, aber würde z. B. eine Florence Nightingale, trotz ihrer schönen Taten noch einen Maler so inspirieren? Oder würde noch nach Jahr- hunderten die Stätte gezeigt werden, wo sie in harter Entsagung, nach mühevollem Tagewerk, die Ruhe gesucht hatte? Worin lag nun der Zauber, welcher Katharina verklärte? Sicher zunächst in der grossen Individualität, dann aber auch im Zusammenhang derselben mit einer grossen Idee, welche die Zeit, in der sie lebte, beherrschte.

Ein anderes Denkmal auf meiner via Appia.

Im Jahre 1883 erhielt ich die Nachricht, dass wieder einer der Freiheitskämpfer von 1848 und der Freunde aus dem Exil gestorben sei, Gott- fried Kinkel, der, nachdem er England verlassen hatte, in Zürich am Polytechnikum als Professor angestellt gewesen war. Ich habe schon in früheren Aufzeichnungen aus meinem Leben erzählt, welch herzliches Freundschaftsband mich in England mit ihm und noch mehr mit seiner hochbegabten Gattin Johanna verband. Einige

Meysenbug, IV. 17

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Zeit nach seinem Tod erhielt ich von seiner zweiten Frau den in seinen nachgelassenen Pa- pieren gefundenen Brief Johannas, welchen Sie ihm in das Zellengefängnis nach Spandau schrieb, nachdem ich ihr, von tiefster Teilnahme ge- trieben, ohne sie zu kennen, zum ersten Mal geschrieben hatte.

Es war ein Geschenk, das mich auf das innigste rührte, denn gewiss nach beinah vierzig Jahren solch ein liebevolles Urteil über sich selbst zu hören, war keine geringe Freude. Johanna, die bis dahin nichts von mir gewusst hatte, schrieb: »Die Geister der Gleichgesinnten senden mir ihren Liebesgruss. Vor allem ent- zückte mich der Brief eines hohen Weibes, die mir ihre Freundschaft antrug und die auf einer Bildungsstufe steht, dass ich keine von den geist- reichen Frauen, mit denen ich verkehre, neben sie stellen möchte und das will etwas sagen, wenn Du an den Kreis unserer Korrespondentinnen denkst. Meine neue Freundin scheint einem nordischen adligen Geschlecht anzugehören; sie hat jahrelang nur dem Kultus der Ästhetik gelebt, hat aber dann begriffen, dass es edler sei, helfend und tröstend zu den Leiden der gequälten untersten Menschenschicht herab- zusteigen, als auf einsamen, nur von Göttern bewohnten Höhen zu weilen. Ihr Geist ist von kry Stalin er Klarheit und dabei besitzt sie eine Anmut der Ausdrucksweise, welche verrät, dass sie nur in den allerfeinsten Kreisen geselliger Bildung muss erwachsen sein. Sie muss noch

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jung sein oder doch den ewigen Jugendzauber eines poetischen Geistes besitzen, über den das dreissigste Jahr keine Macht hat. Wer nach diesem jung war, bleibt es sein lebelang.«

Wie viele Erinnerungen weckten diese Worte in mir, schöne und traurige. Kinkel hatte ge- wiss zu den hervorragendsten Kämpfern der Jahre 48 und 49 gehört, denn er vereinigte die von hohen Idealen erfüllte Poesie der damaligen Zeit mit dem absoluten Mut der Tat. Diesen Mut, stets die Überzeugung durch die Tat zu bewähren, hatte er schon als Jüngling be- wiesen, da er von der theologischen Laufbahn, die er betreten hatte, zurücktrat, sobald die Erkenntnis seines eigentlichen Berufs zu Kunst, Geschichte und Poesie ihn in die Sphären geistiger Freiheit führte. Er verlor dadurch alle Aussichten auf eine glänzende Laufbahn, welche ihm die theologischen Gönner, die von seiner Rednergabe und seinem künstlerischen Sinn viel für die kirchlichen Aufgaben hofften, bereiten wollten. Als er dann gar in der ersten Zeit seiner Tätigkeit an der Universität Bonn, durch seine Liebe zu der herrlichen Johanna die zwar von ihrem ersten Mann, mit dem sie namenlos unglücklich gewesen war, getrennt wurde, aber als Katholikin sich nicht wieder hätte verheiraten dürfen alle Erdenschranken durchbrach und mit ihr den edelsten Bund schlossj da empörte sich die orthodoxe-Clique der Bonner Universität, und als Kinkel sich nicht beugte, sondern mit edlem Stolz sein individuelles Recht wahrte, da

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verfiel er dem Bann, den die Borniertheit stets über die ausspricht, welche das Mass ihres Handelns in ihrem eignen sittlichen Bewusstsein finden, indem sie sich an dem Adel fi-eier Seelen, die um eines höchsten Gutes willen irdische Vorteile dahin werfen, dadurch zu rächen glaubt. Aus einem Bevorzugten wurde er ein Geächteter. Dass es ihn schmerzte war natürlich, aber es konnte sein stählernes Herz nicht brechen, auch nicht, dass man ihn materiell in jeder Weise bedrückte und einengte, so dass er mit Recht in einer seiner späteren öffentlichen Reden sagen konnte: »Wir haben das Darben gründlich ge- lernt.«

Wichtiger aber als alle Not und aller Schmerz war seine eigne Entwicklung, die in diesem Kampf sich völlig losrang von der alten ver- moderten Tradition und der vollen Freiheit zu- strebte, für die er später noch grössere Opfer bringen sollte, Doch gönnte ihm das Schicksal endlich die volle Vereinigung mit der geliebten Frau, als deren erster Mann starb ; dann wurde ihm eine ausserordentliche Professur der Kunstge- schichte zu teil, und sein Stern fing wieder an zu leuchten. Die Jugend strömte zu seinen Vorlesungen, seine literarischen Arbeiten hatten Erfolg, neue Freunde scharten sich um ihn und wie es mit dem Erfolg zu gehen pflegt, so wurde das ausgezeichnete Paar jetzt aufgesucht und gefeiert. Es erschloss sich ihm die ganze Fülle des Lebens und ganz naturgemäss in ruhiger Entfaltung gelangte er zu dem politisch-

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sozialen Radikalismus, den er bald mit der Tat verfechten sollte. Der Frühling 1848 kam. In den Völkern erwachte neues Leben. Die Keime, die still getrieben hatten in Hoffnung und Furcht, blühten rasch empor ans Licht und die Herzen flogen jubelnd dem Ideal eines freien, von Gre- rechtigkeit und Schönheit verklärten Lebens entgegen. Wie musste dieser Frühlingstraum den Dichter ergreifen, den feurigen Mann, der immer ganz und voll im Leben stand, mit Dichterglut alles erfasste und mit Mannesmut alles tat. Mit voller Seele warf er sich in den Strom der Revolution, trat dem Volke am schönen Rhein, in dessen Mitte er lebte und welches er liebte und kannte, innig nahe, und verwendete seine Gaben, welche das Entzücken aristokratischer Kreise gemacht hatten, nun im Dienste der Bauern, Handwerker und Proletarier, die in ihm das Herz des echten Volksmanns fühlten und ihn zu ihrem Führer wählten. Das geistige Reich der Freiheit und Brüderlichkeit, als dessen Bürger sich der Dichter längst gefiihlt hatte, in Wirklichkeit erstehen zu lassen, das wurde sein Ziel ; dazu warf er sich rückhaltlos in den heissen Kampf und als er, vom Volk zum Deputierten gewählt, nach Berlin kam, donnerte er von der Tribüne in der Kammer die stolzen Worte herab, die nachher als Waffe gegen ihn gebraucht wurden: »Siegen wir, dann wehe euch, keine Gnade.« ^-^ ;

Sein Freund und Schüler, Theodor Althaus, hat Kinkel charakterisiert wie folgt: »Kinkel ge-

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hört zu den bis jetzt noch selten öffentlich her- vorgetretenen Charakteren, welche revolutionär werden, weil sie im tiefsten und allein edeln Sinn konservativ sind. Der vulgäre, abstrakte Konservatismus ist eine blosse Verneinung und stösst nach rechts und links alles von sich, was das Individuum in seinem geistigen^ ge- mütlichen, materiellen Behagen zu stören droht. Der wahre Konservatismus ist eine tief ge wurzelte Treue gegen Vernunft und Freiheit in den philosophischen, eine unwandelbare Liebe zur freien gesunden Natur in den poetischen Cha- rakteren. In der letzteren Reihe steht Kinkel. Sein Sozialismus ist im edeln Sinne konservativ. Seine ganze Natur protestiert gegen die öden Systeme des uniformierten, bureaukratischen Kommunismus und der destruktiven Gleich- macherei, unter der das ewige Naturrecht der Individualität verschwindet. Den einzelnen und die durch freie Neigung verbundenen Genossen- schaften ruft er zu eigener Tätigkeit auf: »Hand- werk errette dich selbst!« Sein sozialistisches Ideal ist ein freier Organismus, dessen Gesetze die Selbständigkeit des Individuums, die höchste Ausbildung aller Arbeitskräfte und jedes Hand- werks in seiner Eigentümlichkeit zum Zwecke haben. Der Handwerker soll auf eigenen Füssen stehen, statt von den fabrikmässigen Spekulatio- nen des Kapitals ausgebeutet und erdrückt zu werden. Die soziale Gesetzgebung soll es ihm möglich machen ein Haus und eine Familie zu gründen und ein Meister und Lehrer seines

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Handwerks, statt ein entreprenierender Kapitalist zu werden. Von dieser Gesetzgebung hofft der Dichter dann eine Wiedergeburt der einzig edeln Erscheinung des mittelalterlichen Zustandes, dass das Handwerk, so weit es ihm vergönnt ist, hinüberreiche in die höhere künstlerische Tätig- keit und dass damit auch diese Lebenssphäre hinaufgehoben werde in die Lichtregion des Geistes und der Schönheit. Aber eben weil nicht alle Arbeit in ihrer Eigentümlichkeit dieses Adels fähig ist, muss allen der Stolz der republikanischen Freiheit, geistige Bildung und der Genuss des Schönen erreichbar gemacht werden, damit auch der Geringste seines mensch- lichen Daseins so froh werde, wie ihm jetzt sein Pariatum die Seele zum Staube nieder- drückt. Die Romantiker schaudern vor der Republik, weil ihre beschränkte Phantasie eine Nivellierung der Kontraste und Individualitäten und damit das Ausgehen des poetischen Stoffes fürchtet. Die gesunde Phantasie des modernen Dichters schaut den Reichtum der neuen Welt und er fordert die soziale Revolution, damit endlich die vollbefriedigte Lust am Dasein die Seele der Poesie neu belebe. Er weiss es, dass nur eine grossartige neue Weltgestalt eine ihr ebenbürtige Poesie aus sich zeugen kann, die dann wahrhaft konservativ sein wird.«

So dachten und hofften wir damals, 1848!

Dass Kinkel wirklich zur Tat schritt und als Blusenmann die Aufstände in der Pfalz und in Baden mitmachte, dass er gefangen und zum

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Tode verurteilt wurde, ist bekannt. Die all- gemeine tiefste Teilnahme unterstützte die ver- zweifelten Anstrengungen Johannas, die ihn heldenmütig nicht zurückgehalten hatte, als er zum blutigen Kampf auszog, ihn zu retten. Eine Tochter Bettinas von Arnim warf sich dem damaligen König von Preussen zu Füssen, um Kinkels Leben zu erbitten und eine kleine Schrift, welche Johanna veröffentlichte, Hess wohl kein fühlendes Herz ungerührt. Auf dem Richtplatz vor den mit den Todeswaffen bereit- stehenden Soldaten wurde dem Gefangenen die Begnadigung zu lebenslänglichem Zellenge- fangnis und Wollespulen verkündet. In ohn- mächtigem Schmerz erbebten alle edleren Menschen, selbst unter seinen Feinden, und heisse Tränen flössen bei der Beschreibung seines letzten Erscheinens vor dem Gerichtshof in Köln, bei dem Lesen der tragisch-edlen Rede, die er gehalten, nach welcher sein Weib, die Schranken durchbrechend, ihm in die Arme gestürzt war, so dass selbst die feigen Schergen der Gewalt es nicht gewagt hatten, so erhaben Unglückliche zu trennen.

Nicht ohne tiefe Rührung konnte ich während vieler Jahre das Gedicht lesen, welches Kinkel im Gefängnis zu Rastatt niederschrieb, als ihm sein Todesurteil verkündet war und dessen Schlussverse also lauten:

»So warf ich in den Opferbrand Ein reichbekränztes Leben,

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Oh Glück und Stolz, mein Vaterland,

Für dich es hinzugeben I

Der müden, schwielenharten Hand

Ein sanftes Los zu werben,

Du vierter Stand, du treuer Stand,

Für dich geh ich zu sterben.

Euch Armen treu bis in den Tod,

Für euch zur Tat entschlossen,

Fall ich ums nächste Morgenrot

Vom kalten Blei durchschossen.

So haltet mich in treuem Sinn

Oh Meister und Geselle;

Gedenke mein, du Näherin,

In deiner trüben Zelle;

Du Winzer, der am Fels der Ahr

Umsonst die Gluten leidet,

Du arme Tagewerkerschar,

Die fremde Garben schneidet

Ich werde nicht vergessen sein.

Du Jugend wirst mich kennen

Und wirst an meines Geistes Schein

Zum Freiheitsdurst entbrennen;

Manch Frauenauge weint um mich

Den Sänger süsser Lieder,

Als Gruss der Erde neigen sich

Viel Blumen zu mir nieder.

Den letzten Gruss dir überm Rhein,

Du edles Volk der Franken;

Die Völker sollen einig sein

In Herzen und Gedanken.

Stehn soll, so weit auf diesem Rund

Sich Aug' in Auge spiegelt.

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Der ewige Bund, der Bruderbund, Den euch mein Blut besiegelt.«

So waren die Männer von 48! Deutsche Jugend kennst du sie nochl Bist du an ihrer Erinnerung zum Freiheitsdurst entbrannt? Bist du bereit, wenn der Tag des grossen Kampfes wiederkommt, fiir die Erringung heiliger Ideale den Reichtum des Lebens in den Opferbrand zu werfen? Schlag an deine Brust, frag dich, und wenn dir ein trauriges Nein antwortet, so ermanne dich, denke, dass das Leben keinen Wert hat, wenn es nur nach vergänglichen Gütern strebt und schreibe auf deine Fahne: »Durch edelste Kultur zur wahren Freiheit.«

Leider ist auch in Italien jener edlen Gene- ration der Kämpfer für ein hohes Ideal der Freiheit eine Jugend gefolgt, die mehr nach irdischen als nach ideellen Gütern strebt und die ganze Form des öffentlichen Zustandes ist weit entfernt von dem, was z. B. Mazzini für ein neu erstandenes einiges Italien geträumt hatte. Es ist wirklich immer, als ob die Natur sich erschöpfte, wenn sie den ideellen Trieb in einer Generation so stark und vorherrschend hervor- gebracht hat und als ob dies Gebiet dann eine Zeit lang brach liegen müsste, gerade wie der Acker, der auch ruhen muss, um aufs neue hervorbringen zu können. Traurig stimmen aber

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musste es den, der an Italiens Geschicken warmen Anteil nahm und jene edlen Idealisten gekannt hatte, zu sehen, wie falsche Wege seine Politik und Neuorganisation ging. Wie die eitle Sucht, plötzlich eine Grossmacht zu sein, es zu Ausgaben und Unternehmungen verleitete, die weit über seine Mittel und seine Kräfte gingen, während die innere Wohlfahrt und die Ordnung erwerbtätiger, strebender Gemeinwesen vernachlässigt wurden. Wie das so hoch begabte liebenswürdige Volk in manchen Gegenden in beinah barbarischen Zuständen, im äussersten Elend, in Schmutz und Unwissenheit blieb und durch die hoffnungslose Armut zur Massen- Auswanderung getrieben wurde, oder durch den Schreck vor dem ungewohnten Militärdienst und den ebenso ungewohnten schwer lastenden Steuern in die Berge floh und sich dort durch freie Benutzung der Güter anderer, d. h. durchs Räuberhandwerk, zu helfen suchte.

Sagte mir doch in einem politischen Ge- spräch sogar einer der bedeutendsten, aber durchaus konservativen Staatsmänner Italiens (der jetzt auch schon längst geschieden ist): »Ja, wenn die Menschen die Geschichte recht verständen, so müssten sie immer zunächst an die Wohlfahrt der Völker im Innern des Landes denken. Würde von den ungeheuren Budgets des Kriegs, der Marine, der Steuereinnahmen usw. nur die Hälfte für die innere Verwaltung ver- braucht so würde der allgemeine Wohlstand in solchem Masse wachsen, dass ein Land dadurch

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allein schon mächtiger werden würde, als durch Furcht einflössende Heere.« Dies aber sagte mir ein Staatsmann, der lange an der Spitze der Verwaltung stand I Wie schwer muss es daher sein, das einfach Vernünftige und Nah- liegende im Staatsleben durchzusetzen.

Wie hoch standen daher die alten Inder, die ihre Könige nur priesen, wenn sie Woltäter ihres Volks waren und nicht um der Gewalt- mittel willen, die sie in Händen hatten. Hierauf bezüglich fand ich eine treffliche Stelle aus dem Gätahamälä des Arga Süra, von J. S. Speyer übersetzt, welche lautet wie folgt: »Unser Monarch hat seine Macht durch seine Seelengrösse erhalten. Seine Stärke beruht auf seiner Güte, nicht auf seinem bunt geflaggten Heer, welches er nur hält, um der gewohnten Sitte nachzukommen. Redlichkeit ist der Hebel seines Handelns, nicht die politische Weisheit, diese niedrige Wissen- schaft. Sein Reichtum dient ihm dazu, die Tugendhaften zu ehren.«

Welch schöneres Programm des wahren Herrschertums könnte man aufstellen als dieses, und wie weit steht unsere Zeit darin zurück, wo sich die Stärke der Regierungen nur auf die kolossalen, auch im Frieden stets zum Krieg bewaffneten Heere stützt, anstatt sich über die nationalen Grenzen hinaus die Hand zu reichen und den Völkerfrieden auf Gerechtigkeit und wahre Bildung zu gründen. Jawohl, der alte Inder hat recht, politische Weisheit, welche niedrige Wissenschaft I In ihr Gebiet gehört

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der moderne Schwindel der Kolonialpolitik. Auch Italien wurde ja leider davon ergriffen und unter dem Ministerium des schon alten, etwas hin- falligen Depretis siegte die Beredsamkeit Mancinis, eines trefflichen Rechtsgelehrten, aber unfähigen Ministers des Äusseren, und brachte Italien dazu, nach Afrika zu ziehen und noch dazu nach Massaua, das zwar ein Hafen am roten Meer, aber einer der heissesten und unfruchtbarsten Orte der Erde ist. Dass englische schlaue Politik dabei im Spiele war, merkte man hier nicht, man jubelte über diese erste grosse Tat der jungen Grossmacht; eine Freundin schrieb mir, sie habe Tränen der Rührung vergossen, als sie die Soldaten habe einschiffen sehen, um von dem Land, welches Italien durch keinen Rechtsspruch zugehörte, Besitz zu nehmen, wie es nun seitdem, allem Menschen- und Völkerrecht zuwider, immer häufiger von den grossen europäischen Staaten geschieht. Ich erlaubte mir damals schon, nicht in den allgemeinen Jubel mit einzustimmen. Ich sah um mich her in dem Land, das ich liebe, kaum erst die Anfange einer vernunftgemässen Organisation, einer Ordnung der Dinge, die zu Wohlfahrt im Innern fuhren und die Grundlage einer neuen edlen Kultur werden könnte und ich befürchtete gleich, dass diese Anmassung, Kultur in die Ferne bringen zu wollen, während man selbst noch so kulturbedürftig war, schlimme Frucht bringen würde, was sich denn leider auch unter dem zweiten Ministerium Crispis, durch dessen noch viel grössere Anmassung, auf die

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allertraurigste Art für Italien bewährt hat. Seltsamere Kontraste aber, als sie in jener Zeit besonders in den achtziger Jahren, Italien darbot, hat kaum je ein modernes Land in der Geschichte gezeigt. Während der als Einheit noch so junge Staat im Innern noch völlig un- geordnet, seine kaum gebildete Militärmacht aussandte, um auf einem andern Kontinent Länder in Besitz zu nehmen, auf die er keinen Anspruch hatte, begab sich inmitten dieses jungen Staats, so recht in seinem Zentrum, in der kaum errungenen Hauptstadt selbst, ein Er- eignis, welches durch seinen Glanz das Recht ehrwürdiger Traditionen gegenüber der An- massung junger Eitelkeit ins hellste Licht zu stellen befähigt schien. Es war der 30. De- zember 1887, der Vorabend der Messa d'oro, mit welcher der Papst am i. Januar in der Peterskirche die Feste seines Jubiläums ein- weihen wollte. Rom wimmelte von Fremden^ freilich zumeist geistlichen Standes, die sich zu der hehren Feier eingefunden hatten; die Gast- höfe waren überfüllt, die ärmeren Pilger wurden in Klöstern und Hospizen einlogiert. Der Zu- drang, um Billette zu erhalten, war ungeheuer, denn nur mittels solcher konnte man in das Gotteshaus gelangen. Zu Tausenden kamen die Gesuche darum täglich in den Vatikan. Um denselben und um die Peterskirche war ein Leben und ein Treiben, wie seit siebzehn Jahren nichts Ähnliches vorgekommen war. Ich hatte gerade eine Veranlassung, jemand aus der hohen

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Geistlichkeit im Vatikan aufzusuchen und konnte mich mit eignen Augen davon überzeugen. Es kam mir vor wie ein Märchen, wo in einem verzauberten Schloss plötzlich der Entzauberer eintritt und alles zu frischem regem Leben er- wacht. Scharen von Geistlichen aller Länder, in den verschiedensten Trachten, eilten geschäftig Trepp auf, Trepp ab. Die »Uscieri« in ihren malerischen Kostümen schienen wie in ferner Vergangenheit eingeschlafen, mit einem Ruck die Traumbefangenheit abzuschütteln und ihre Rolle mit Vehemenz wieder aufzunehmen, um den andrängenden Scharen zu wehren, die sich an den Türen einfanden, um zu den Audienzen zugelassen zu werden. Damen aller Art, Pilger- innen, mehr alte als junge und mehr hässliche als hübsche, eilten dazwischen umher; hohe Prälaten mit ihrem Gefolge belebten noch das bunte Bild. In den Strassen, die nach St. Peter führen, war es kaum durchzukommen, die Wagen in ununterbrochener Reihe sich folgend, mussten Schritt fahren. Die ganze Basilika war schon seit Tagen dem Publikum verschlossen, um die Vorkehrungen im Innern zu treffen. Doch fehlte es bei all dem erwartungsvollen Leben auch schon nicht an Verstimmungen und Klagen aller Art, und das römische Volk fing an zu murren, dass man ihm den Eingang zu seinem Gotteshause wehren wolle, in das es sonst so gut frei ein- gehen konnte, wie die Reichen und Begünstigten. Es waren daher von Seiten des Kriegsministeriums mehrere Kompagnien Soldaten beordert, welche

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auf dem Petersplatz Cordon bilden sollten, um bei etwaigen Unordnungen einzuschreiten. Schon dieses ein seltsames Schauspiel: das Fest des entthronten Herrschers beschützt von den Soldaten des Usurpators!

Vor 1870 würde eine solche Festlichkeit, ein solches Zusammenströmen der Gläubigen aus allen Weltteilen, mit Geschenken beladen, um sie dem Oberhaupt der Kirche huldigend darzubringen, nichts Ausserordentliches gehabt haben. Aber nun war es anders geworden und der Beobachter konnte nicht umhin, seltsamen Gedankengängen Raum zu geben. Hätte diese Feier einzig der ehrfurchtgebietenden Persönlich- keit eines Greises gegolten, den das Geschick an die Spitze einer universellen geistigen Gemeinschaft erhoben hatte, so wäre die Sache immerhin noch ungewöhnlich, aber doch bei weitem einfacher und ohne die seltsamen Kontraste gewesen, welche jetzt dabei zu Tage traten. Während drüben im Quirinal der König des noch so jungen König- reichs Italien die Neujahrswünsche von selten seiner Staatsbeamten und der bei ihm beglaubig- ten Gesandten entgegennahm, feierte der, welchen er seiner irdischen Macht entsetzte, ein Fest, dessen universelle Bedeutung nicht zu verkennen war. Diese aus allen Ländern her- beigeeilten Verehrer und Bekenner einer Kirche, deren Oberhaupt alles galt, diese kostbaren Gaben, deren Menge die kolossalen Räume, welche dafür bereitet waren, kaum fassten, diese Extragesandten aller gekrönten Häupter, ob

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katholisch oder nicht, die auch mit vollen Händen kamen, waren das nicht alles Zeichen, dass wir es hier noch immer mit einer Welt- macht zu tun hatten, gegen welche das ver- lorene »potere temporale« nur ein verschwindend kleines Gewicht behält?

Vielleicht war dieser Gedanke Papst Leo XIII. auch aufgestiegen, als er von seinem Königsitz im Vatikan auf das Gedränge niederschaute, welches den so lange verödeten Petersplatz be- lebte. Und wohl ihm, wenn er vesucht hätte diesem Gedanken volle Wirklichkeit zu geben, wenn er freudig der irdischen Krone entsagt hätte, um sich allein die geistige Krone aufzu- setzen, deren Glanz heller strahlen würde als die Diamanten der Tiara. Dann würde die Ver- söhnung mit dem König drüben im Quirinal, welcher jetzt der einzige ist, der ihm nicht huldigen kann, eine Möglichkeit und der pein- liche Konflikt, in dem die italienischen Patrioten, die noch an der Kirche hängen, sich befinden, wäre gelöst. Würde das die Folge dieses Festes sein, wer würde es nicht als den Anfang einer neuen vernunftgemässeren Zeit begrüssen, wer würde Leo XIII. nicht als einen der grössten Päpste ehren, die je gelebt?

Aber leider sah das Ganze mehr aus wie ein Fehdehandschuh, den man dem abtrünnigen Italien hingeworfen hatte. Es war zu viel Ostentation dabei, um es als ein blosses Familien- fest der katholischen Christenheit zu betrachten. Und gerade in dem Augenblick, welch schmerz-

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lieber Kontrast für die Italiener! Während hier in der Hauptstadt dies glänzende Fest des vertriebe- nen Herrschers gefeiert wurde, mussten drüben im heissen Afrika die jungen Söhne des neu gewonnenen Vaterlands für einen grossen poli- tischen Fehler, im Kampfe mit wilden Horden, ihr Leben einsetzen und während sich im Vatikan Millionen aufhäuften, musste das finanziell so schlecht bestellte Land Millionen hergeben, um einen mörderischen Krieg, der wenig Ehre, und noch weniger Nutzen verspricht, und nur von der beschränkten Eitelkeit und masslos ehrgeizigen Herrschsucht einiger einzelnen in Scene gesetzt worden ist. durchzuführen. Diese Betrachtungen drängten sich dem Beobachter auf, wenn er auf das bewegte Leben dieser Tage niedersah und wer Italien liebt, konnte sich der Wehmut nicht erwehren, die seine zweifelhaften, so schlecht geleiteten Geschicke hervorrufen.

Gedachtes.

Es gibt Naturen, welche am Fortschritt der Gesellschaft arbeiten können, indem sie alle Vor- urteile schonen, die Sachen nur halb beim Namen nennen und ein wenig nachgeben, um ein weniges zu erlangen. Diese übrigens ganz ehrlichen Naturen tun ihre Arbeit und sie hat ihren Nutzen. Aber es gibt andere, welche von der unwiderstehlichen Logik der Über- zeugung vorwärts getrieben, sich bestimmt aus- sprechen müssen; gelingt es ihnen auch nicht ihr Ideal zu verwirklichen, so erringen sie doch für dasselbe die Sympathie energischer Charaktere und zum wenigsten sind sie^selbst ein lebender Protest gegen die versteinerten Formen, welche den lebendigen Geist nicht mehr enthalten.

Jedes reine tiefe Gefühl hat in sich eine solche Unschuld, dass der Gedanke nicht kommt,

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man könne es verkennen. In der wahren Liebe der Frau vereinigt sich alle Zärtlichkeit der Mutter, Schwester, Freundin, und wenn die Frau ihren heiligen Schmerz um die nun erloschene Neigung, die ihr einst gewidmet war, stolz in die Tiefe ihres Herzens verschliesst, so bleiben die Mutter, Schwester, Freundin, um dem, dessen Andenken noch immer teuer ist, helfend und tröstend beizustehen, wenn das Schicksal Schweres über ihn verhängt.

Dem charaktervollen Menschen ist es ein Bedürfnis, ein Ziel fest ins Auge zu fassen und es mit Konzentration aller seiner Kräfte zu ver- folgen. Dann erst entfaltet sich ihm der ganze Reichtum seiner Befähigung, auch alles andere zu verstehen und in alle Gebiete des Lebens denkend hinüber zu blicken. Er hat dann, wie Archimedes, den einen Punkt gefunden, von dem aus er die Welt aus ihren Angeln hebt. Dem Genius zeichnet die eigene Natur das Ziel in Flammenzügen vor; ihm ist die Mühe des Suchens erspart und nur die Hindernisse, welche Welt und Verhältnisse ihm in den Weg legen, machen ihm das Verfolgen seines Ziels oft zur Qual; zwingen sie ihn diesem Ziel zu entsagen, drängen sie ihn gewaltsam aus seiner Bahn, so ist es Tod und Vernichtung für ihn. Die von der Natur minder reich Begnadeten müssen suchen, bis sie den wahren Punkt finden, von

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dem aus ihr Wesen sich in Einheit und Mannig- faltigkeit zugleich entfalten und die Blüte seiner selbst erreichen kann, Von diesem Punkt ver- drängt zu werden, ist ein unaussprechliches Leiden, ja ein verzehrender Schmerz. Manche gehen daran unter und die Starken, die ihn überleben, tragen doch den Schmerz der Wunde mit sich durch das Leben.

Ein geistvoller Freund meinte, die Weisheit der Könige sei Warten. Ich denke sie müsste vielmehr Voraussehen und Voraussorgen sein. Immer Präventivmassregeln in der Erziehung wie in der Politik. Sind die Repressivmassregeln erst nötig, dann ist es schon zu spät, der rechte Augenblick ist versäumt.

Wenn der Wille im Sinne Schopenhauers, als ungestümer Drang zum Dasein und nimmer zu befriedigendes Streben nach Genuss, durch das Läuterungsfeuer, der Erkenntnis durchge- gangen und nun, sich selbst beherrschend, er- löster Wille geworden ist, welcher, aus Mitleid entsagend, die höchsten Seelenfreuden opfern und über dem Schmerz, mit vollem Bewusstsein von dessen Bedeutung und dem Unersetzlichen was verloren geht, stehen kann dann ist der Widerspruch zwischen der christlichen und

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der naturalistischen Anschauung von der Freiheit oder der Gebundenheit des Willens gelöst, denn dann hat sich der gebundene Wille zur Freiheit der Selbstbestimmung erhoben, dann ist der Mensch wirklich frei.

Eine sehr katholische Dame schrieb einem uns gemeinsamen Freund, es habe sie gefreut, mich kennen zu lernen, obgleich uns Welten trennten. Immer die Beschränktheit des ortho- doxen Standpunkts, einerlei ob religiös oder politisch. Welten trennen nur zwei Gegensätze: das Gute und das Böse und nicht einmal die ganz, denn auch im Guten ist zuweilen noch ein Teilchen Böses und fast in allem Bösen noch ein Teilchen Gutes.

Es wurde heute abend darüber gestritten, ob man sich vor der Güte beugen solle. Die meisten der Anwesenden sagten nein, sie ver- wechselten offenbar Güte mit Gutmütigkeit. Vor der Güte aber, die nicht bloss eine Natur- gabe und mit Schwäche verwandt, sondern das Ergebnis höchster Bildung, das letzte Wort des individuellen Kulturkampfes ist vor der Güte muss man sich beugen. Sie ist das selbst er- rungene Adelsdiplom der Seele, ihr allein steht das Recht zu, im sittlichen Leben zu richten,

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denn ihre Milde wird nie Schwäche, ihre Strenge nie Ungerechtigkeit sein.

Ich liebe die Einsamkeit über alles, auch die zu zweien, ja selbst noch zu dreien, wenn es die Rechten sind; aber die zu hunderten ist schrecklich melancholisch; dann fühlt man sich trostlos allein, ausgenommen in den Momenten, wo die Hunderte von einem gemeinsamen, grossen, begeisternden Gefühl entflammt werden. Doch wie selten sind die!

Ich glaube, dass eine liebevolle Anhänglich- keit der Dienstboten durch Wohlwollen von Seiten des Herrn erzeugt, nicht nur möglich, auch sehr wünschenswert ist. Daraus entspringt das humanste Betragen von beiden Seiten und der willigste Gehorsam der Dienenden. In dem Verhältnis zu den Dienstboten hat sich in neuerer Zeit so viel verändert; die patriarchalischen so- wie die sklavischen Zustände sind vorbei. Der Diener will jetzt als Persönlichkeit respektiert sein. Es versteht sich, dass er es durch sein Betragen verdienen muss, wird er es aber nicht, so ist meist die Korruption des Charakters die Folge, die niedrigere Natur rächt sich für er- littene Demütigungen durch Betrug, geheimen Hass gegen den Herrn oder Spott über ihn.

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Wenn die völlige reine Resignation, die Ver- neinung des Willens zum Leben (im wahren Sinne Schopenhauers) erreicht schien und es er- wacht dann doch noch einmal eine neue Liebe mit aller Sehnsucht, allem innigen Verlangen, dann wird der Schmerz der notwendigen Ent- sagung wie ein Zucken der bereits frei ge- wesenen Seele, die noch einmal in die Unruhe des Willens zurück muss. Aber es ist schon ein beinah verklärter Schmerz, denn hinter ihm leuchtet bereits die Gewissheit des Sieges und die Krone des Überwinders.

Welch ein wunderbares Erleben I Gequält war ich vom Schmerz der Trennung, vom Ge- danken, die Stunden des Zusammenlebens nicht voll genossen, nicht genügend ausgefüllt zu haben, der Gegenseitigkeit der reinen Zuneigung nicht völlig sicher zu sein endlich setzte ich mich zur Arbeit und siehe da! schöpferische Gedanken strömten mir in Fülle zu, und ich war erlöst, der Schmerz war verschwunden, alles Fehlen und Versäumen war ausgelöscht; es blieb nur ein innigstes Gedenken, ohne Reue, ohne Sehnsucht und das trostvolle Bewusstsein, dass auch dies edle Gefühl ein ewiger Besitz sei. Über dem allen aber schwebte beseligend das Wiederfinden mit mir selbst, das höchste wahre Glück Schöpfer zu sein, welches schon die Ein- kehr in das Universelle ist.

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Die alltäglichen Menschen fragen immer »wo- zu fuhrt das?« Als wenn eine vornehme Seele sich immer mit dem Krämergedanken der end- lichen Zahlung abgeben könnte! Im edelsten Sinne glücklich gewesen zu sein, wenn auch nur wenige Stunden, ist besser als ein ordinäres Rechenexempel mit dem Leben abschliessen, um gut versorgt zu sein, und der Schmerz, den man nachher leiden muss, ist erhabener und fordernder als alle zum äusseren Ziel gelangte Philisterhaftigkeit.

Freundschaft kritisiert nicht in der Stunde des Leidens, sagt nicht nüchtern verständig »wenn du es so oder so gemacht hättest«, sondern öffnet einfach die Arme und spricht: »Ich frage nicht, ich urteile nicht, hier ist ein Herz, daran ruh aus«. Ja, wenn man immer im voraus wüsste, wie man handeln müsste, dann gab es keinen Irrtum. Die Freundschaft rät und warnt vorher; nachher liebt sie, das nur ist die echte; die falsche macht es umgekehrt.

Das sittliche Leben des Staats hat aufgehört, wenn sich das Individuum nicht mehr frei ent- wickeln und seine Meinung zur Geltung bringen darf. Ein Staat, dessen sittliches Leben unter- gegangen ist, muss notwendig selbst untergehn. Dieselbe sittliche Forderung gilt, wie im Staat,

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SO auch in der Familie. Das Individuum muss in ihr seine volle sittliche Freiheit haben dürfen, sonst ist auch die Familie nur ein zufälliger, äusserer Verband, nicht vom Bewusstsein aner- kannt und in seiner Autorität bestätigt. Man kann sich einem solchen Staat, einer solchen Familie unterwerfen, gut ! dann hat man gewählt, oder man fühlt und erkennt, dass das Recht der individuellen Freiheit erkämpft werden muss und dann wird man Revolutionär. Zwischen beiden steht der Indifferentismus, der das eine und das andere Extrem von sich abweist, und indem er das Vorhandene ohne weiteres gehen lässt, sich einbildet, er allein habe das Stetige, Unver- änderliche. Stetiges, Unveränderliches aber gibt es nicht. Das einzig Ewige ist die unausgesetzte Entwicklung und Veränderung des einfachen Atoms zu immer neu zusammengesetzten, reicheren Kombinationen in der Natur bis zur Ausbildung ihres höchsten Organismus, der zum Geist befähigt ist und sich zu ihm entwickelt. Aber auch hier beginnt dieses ewige Vorwärts von neuem. Vorwärts drängt der schaffende Gedanke und beginnt den Kampf, wo immer man ihm Ketten anlegen und ihn aufhalten will. So zieht sich ein roter Faden der Ent- wicklung durch die Zeiten. In den Massen be- wegt sich der schaffende Geist nur erst als un- klares Gefühl, aber die Individuen, welche den Prozess des Denkens für die Masse durchmachen müssen, geben ihr das Resultat und in ihm er- kennt sie ihr unklares Gefühl und wird sich

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dessen bewusst. So werden zuletzt auch die

Massen Träger des Gedankens und erlangen

dann erst ihr menschliches Vorrecht und ihre Würde.

Freiheit und Notwendigkeit lassen sich in Beziehung auf die Individuen ungefähr so be- stimmen: als Individuum ist dasselbe der Notwendigkeit unterworfen, als Erscheinung dem Satz vom Grunde, als Ding an sich ist es im Reich der Freiheit.

Auf der Insel Capri schrieb ich einst (im Jahr 1864, wo ich daselbst mit den zwei Töch- tern Herzens weilte): hier hat man ein Vor- gefühl davon, was das Leben sein könnte, wenn der Mensch entweder ewig unschuldig und un- bewusst, wie die Natur, geblieben wäre, oder wenn sein Bewusstsein nicht die schreienden Widersprüche des Lebens und die dunkle Sphinx der Zukunft begegnen müsste, vor derem unge- löstem Rätsel er peinvoll still steht. Glücklich diejenigen zum wenigsten, durch deren Herz jenes Vorgefühl zuweilen zieht, in den Illusionen der Jugend gleich einem wonnigen Morgentraum, im späteren Leben, gleich einer wehmütigen Melodie aus einer fernen metaphysischen Welt. Lasst uns unser Leben betrachten! versöhntes Leid ist ein Schatzgräber, welcher verborgene

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Tiefen öffnet, in denen edle Metalle ruhen. Die Leichtlebigen; oberflächlich Glücklichen, finden diese Tiefen nicht und deshalb erfahren sie nie die blitzartigen, plötzlichen Erleuchtungen, welche uns auf Augenblicke ein fernes gesegnetes Ufer zeigen, nach welchem wir uns ewig als Pilgrime fühlen. Für uns haben Formen und Farben, Töne und Melodien noch einen anderen Sinn als blosse Augen- und Ohren weide; uns sind sie die Befriedigung der Sehnsucht nach dem Ideal, die uns in einer verkrüppelten, schönheitslosen Welt zur Qual wird, die aber in schönen Bildern, wie die Natur sie hier bietet, ihren Widerschein findet. Was eine Rose dem Sterbenden sein würde, die ihm die entschwundenen Frühlinge seines Lebens zurückrief, das ist diese Natur der Seele, wenn die irdische Jugend entflohen ist. Wenn unsere Seele ein Ton wäre in dieser herrlichen Harmonie von Licht, Lufl, Farbe und Form, dann würde das Rätsel gelöst sein; wir wären dann nur der Mittelsatz in einer einzigen grossen Symphonie des Daseins, welches in den drei grossen Abteilungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sein endloses Gedicht, seine Divina Commedia durch alle Ewigkeit feiern würde. Aber da liegt die Frage. Es ist der Natur nicht gelungen, den Menschen dieser schönen Erde wert zu bilden; daher kommt die Qual der Bessern, die dunklen Fragen, »die brechenden Wellen und die komischen Geberden«. Ja das ist es, die Menschen sind nicht gut genug. Wenn ihre hässlichen Leidenschaften

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nicht wieder jeden idealen Aufschwung einer Epoche entstellten, so müsste die Vergangenheit nicht gleich einem Gespenst, wie so oft, vor uns stehen, sondern wie ein teures Grab, von dem wir Weisheit und Tugend lernen würden, bis wir uns selbst der Vergangenheit zugesellten mit der tröstenden Gewissheit, einen reichen Vorrat von Edelmut und Grösse der Nachwelt gelassen zu haben. Aber unsere ganze Zivili- sation begünstigt noch zu sehr die Bestie in der Menschheit, die Entwicklung der wilden Instinkte, anstatt den Menschen schon früh zu Mass, Re- signation und Verständnis der wahren Schönheit anzuleiten.

Doch die Natur brauchte auch unermessliche Epochen, um die Erde zu einem Paradiese, teil- weise wenigstens, zu gestalten ; vielleicht gelingt es ihr in femer Zeit, die Bedingungen hervor- zubringen für die Möglichkeit einer idealen Exi- stenz künftiger (Jeschlechter, wenn wir längst mit den Ruinen unserer Zeit ruhen. Unser Trost wird es sein, dass wir nicht als ein blosses Fossil in dem grossen Laboratorium der Natur gebraucht wurden, sondern dass jene Kraft in uns tätig war, die nach den Höhen strebt, die Schönheit begreift und liebt.

Beim Tod des Kaisers Friedrich war wieder einmal das Walten des Weltdämons offenbar; erst die Möglichkeit einer menschlichen Voll-

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kommenheit auf dem Thron, wie ein verlockendes Spiegelbild, welches die schönsten Hoffnungen weckt und dann im Hohn des tragischesten Endes versinkt, damit man inne werde, dass Ideale nur gleich Meteoren vorüberziehen, um uns die Tan- talusqual der fruchtlosen Arbeit der Weltver- besserung desto besser fühlen zu lassen.

Einer der angenehmsten Zustände im Leben, voll Stimmung, Grazie und Poesie, ist der einer wechselseitigen, zarten, unausgesprochenen aber erratenen Neigung, ohne heftiges Verlangen, ohne allen Anspruch, nur ein freundliches Wogen von Herz zu Herz, Blicke von Wohlwollen leuchtend, zarte Aufmerksamkeiten, inniges Mitempfinden und Freude an dem Wesen des andern. Selbst das Leid der Trennung hat dann etwas weh- mütig Schönes, ein sanftes Ausklingen, ein reue- loses Vermissen, wie die Stimmung, die uns nach einem schönen Sonnenuntergang bleibt.

Eine Dame meinte, man müsse doch nicht bloss mythische Typen ewiger Gestalten zum Gegenstand der Kunst machen, sondern auch wirkliche Menschen. Mir fällt bei derartigen Behauptungen immer die Disputa von Raphael ein, unten die Disputierenden, um den Wortlaut Streitenden, wissenschaftlich Wirklichen, die

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nicht sehen, wie oben das grosse Mysterium Wirk- lichkeit geworden ist, wie erst die vom Schein Erlösten die Wirklichen geworden sind. »Das Unzulängliche hier wird's Ereignis«.

Wie seltsam ist es, dass das Auseinander- kommen mit Menschen, die uns im Umgang ganz angenehm waren, weiter kein tiefes Bedauern zurück lässt. Die Welle trägt sie fort, als wären sie nie dagewesen, während dagegen ein Bruch mit solchen, mit denen der ewige Kern unseres Wesens, das was wir ei gentl i ch sind und hoffent- lich bleiben werden, berührt wurde, den Schauder des Vergänglichen über uns bringt und den Schmerz, für den es keine Versöhnung gibt. Im Alter, wo diese Tiefe der Seelengemeinschaft fast abgeschlossen ist wie ein Tempelheiligtum, in dessen inneren Kultus kein profanes Auge mehr dringt, wo wir nach aussen nur das ruhige Wohl- wollen haben, welches gerne gibt und dankbar empfangt, ohne dass es den Frieden jenes Heilig- tums stört, erschliesst sich da noch einmal die Tempelpforte, so erklingen solche ewige, erhabene Harmonien, dass jeder weltliche Misston zur tiefsten Pein wird. In der geheimen Gewissheit jenes ewigen Zusammenhanges scheint das ganze äussere Leben leicht und dem ähnlich, welches wir mit anderen fuhren. Drängt sich aber ein Misston hinein, so bildet sich eine schmerzliche Schranke, die mit den Gleichgültigen nicht vor- kommt.

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Bei Gelegenheit der Unterhaltung mit einer Spiritistin fragte ich, ob das Unsterblichkeit sein könne für einen denkenden Geist, in einer ge- spenstischen Form, als ein Schatten ohne Inhalt, ohne Wesen, ein zielloses Dasein zu führen ? Die Vorstellung von übermenschlichen Existenzen, die in untätiger Seligkeit feiern, wäre es eine wünschenswerte Fortsetzung des strebenden, kämpfenden Menschendaseins, welches, wenn gleich dem Gesetz alles Zeitlichen in seiner ein- zelnen Erscheinung verfallen, dennoch rufen kann: »Tod wo ist dein Stachel?« Denn wir wissen es ja, dass es keinen Tod gibt, dass jedes Atom des zerfallenden Körpers der Stoffwelt wieder ein Keim neuer Gestalten, neuer Schöpfungen wird und dass ebenso jedes bedeutende Wort hoher Geister, jeder Gedanke, der eine neue Saite im Menschenleben tönen macht, jede reine fruchtbringende Tat, unverloren sind in der Ewigkeit des Daseins ; dass in einer unendlichen Kette neue Gedanken, neue heilige Empfindungen, neue Taten sich daran reihen und, während das einzelne der Erscheinung stirbt, das unsterb- liche Ganze bilden, den Geist der Welt, welcher über denen steht, denen er als Blüte entstieg. So steht der Mensch der neuen Zeit dem Tod gegenüber. Der Notwendigkeit, dem Schicksal der Erscheinung unterwerfen wir uns, indem wir die schweren Bedingungen, die uns diese Er- gebung auferlegt, anerkennen. Das ist der Schmerz, den wir als die wirklich Entsagenden auf uns nehmen mit der Gewissheit, dennoch

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nicht umsonst gelebt zu haben. Zu wissen, dass der Geist über uns hinwegschreitet zu vollen- deteren Schöpfungen, zu reineren Siegen, haben wir einen anderen Anspruch an Seligkeit als diese Gewissheit?

Ist es denn so schwer zu begreifen, dass die Freiheit das stärkste Gesetz ist? Die Kinder dazu erziehen, die Völker gewöhnen dies zu be- greifen, damit wäre eigentlich die ganze Aufgabe der Kultur erfüllt. Die Familie und der Staat würden dadurch ihre wahre beglückende Form finden, während die gewalttätige Autorität ewig die Empörung an ilirer Tür findet.

Die Natur, ehe sie in den Dualismus von Begierde und Erkennen eintritt, ist unschuldig und objektiv schön. Die Pflanzen- und Steinwelt kennt keine Begierde, hat auch keine Erkenntnis, ist deshalb ohne Schuld und ohne Erlösung, deren sie nicht bedarf; sie ist im Zustand des Paradieses, braucht das erkennende Subjekt nicht, ruht in ihrer eigenen Vollkommenheit, gehorcht einfach den Naturgesetzen, unbekümmert, ob sie von einem Subjekt erkannt und genossen wird. Sie ist daher an sich schön wie das Ding an sich, das sich in ihr, ungeteilt in Wille und Vorstellung, ausspricht. Mit dem Tier tritt der Dualismus zwischen Begierde und Erkennen ein.

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Mit ihm entsteht das Subjekt, das Individuum, welches für sich empfindet, leidet und erkennt. Nur ist im Tier die Begierde, also der Wille auf seiner niedrigsten Stufe, als blosser Trieb zum Leben, das Überwiegende. Das Erkennen ist noch gebunden, daher kann weder von Schuld noch von Erlösung die Rede sein; das Subjekt geht noch ganz in der Gattung auf und trennt sich erst in den höheren Tieren merklich von ihr. E^ ist dann ein unseliger, grausamer Zustand und die wehmütigen Augen kluger Hunde sagen es deutlich genug. Erst im Menschen ge- langt das Subjekt zu seinem vollkommenen Aus- druck. Er hat die Fähigkeit, das Erkennen über die Begierde siegen zu machen, sein ist die Schuld und sein die Erlösung. Daher scheint er sich selbst Mittelpunkt des Daseins. Weil sich- in ihm, wie in einem Brennpunkt, alle Strahlenbrechungen des Dings an sich, die gebundenen und entbundenen Formen der Er- scheinung, vereinigen, kann er glauben, dass er als erkennendes Subjekt erst die Welt zu dem mache, was sie ist, für ihn wird sie erst Welt, indem er sie erkennt. Der Wille erkennt sich überhaupt erst, indem er sich selbst Vor- stellung wird, sich in Subjekt und Objekt scheidet, dann erst tritt auch der Begriff von Schuld und Erlösung im höheren ethischen Sinne ein.

Gemein wird die Welt mit dem Eintritt des Dualismus von Begierde und Verlangen auf der einen, und Erkenntnis und Kraft der Ent-

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sagung auf der anderen Seite. Daher ist das Tier noch nicht gemein, es kann nur wollen, nicht erkennen, sich beherrschen und entsagen, sein Wollen ist daher unschuldig, Die Lust ist das Höchste, wozu der blosse Wille zum Leben sich aufschwingt. Weil er aber ein höheres ethisches Vermögen, wenn auch unbewusst, in sich hat, befriedigt sie ihn nicht; der Grund liegt darin, dass sie sich nur in vergänglicher Erscheinung befriedigt, daher kommt aus ihr nur Reiz zu neuer Lust, bis sie endlich über- sättigt an ihrer eignen;, Vergänglichkeit scheitert und im Ekel endet. Ihr gegenüber tritt auf der höheren Stufe der Entwicklung die schöpferische Lust ein und zeigt sich als höchste, immer steigende Lust am Unvergänglichen, als Genuss der in Wonne endet, anstatt im Ekel. Das Ganze ist klar: dort ist es der Wille als sinn- liche Erscheinung, welcher sinnliche Befriedigung sucht, vergängliche Zeugung. Hier ist es der sich erlösende Wille mit der Erkenntnis ver- mählt, welcher Unvergängliches erzeugt, daher befreiend, befriedigt.

Dass die Welt einer neuen Religion bedarf, ist kein Zweifel. Die alten Religionen haben sich ausgelebt; das weltliche Machtbedürfnis, das potere temporale auf allen Gebieten, hat das Übergewicht erhalten über den Geist, der zu »höheren Sphären erhebt« und anstatt die

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Menschheit in Frieden und Liebe zu einen, führt die Verschiedenheit der Bekenntnisse sie zu Hass und Streit und zum Rassenkrieg. Die neue Religion sollte die Religion der menschlichen Würde sein. Der Mensch müsste Freude daran haben, sich zu einem sittlichen Wesen auszubilden, aus sich selbst ein schönes, harmonisch ent- wickeltes Kunstwerk zu machen. Je höher seine sittlichen Bestrebungen sich steigern, je schwerer werden freilich die Kämpfe sein, welche die unüberwundenen Leidenschaften und die Mächte des Bösen heraufbeschwören, aber je standhafter wird auch die Seele um Lösung der sittlichen Probleme ringen, um die Herstellung der inneren Einheit, die aus den Tiefen des Kampfes aufer- steht zu neuem Streben, die in den tödlichen Schmerzen neue Kraft zum Leben gewinnt. Diese Siegesmomente sind es dann, wo sich der niedere irdische Raum zum Tempel wölbt, wo das Götterbild, welches jedes sittliche Wesen im Herzen trägt, auf sein Piedestal steigt, in der tiefen Verschwiegenheit der eigenen Seele und mit Götterruhe auf das besänftigte Meer der Gefühle sieht. Das sind die Augenblicke des wahren Gebets, d. h. der Erkenntnis jener Kraft, die in uns ruht und die allein uns zum Menschen macht. Es ist dies wie die Trauer und das schmerzliche Ringen des Künstlers so lange er noch dunkel nach seinem Ideale sucht, der aber, wenn er es gefunden hat, wenn er es strahlen sieht in reiner, von allem Zweifel befreiter Schönheit, die heilige Seligkeit der Erfüllung

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empfindet. Es ist der Gottmensch, der geboren wird in der Stunde, wo das irdische Greschöpf sich durch seine Wahl zum sittlichen Adel seines Daseins erlöst hat.

Fürchtet euch nicht vor dieser Religion! Sie erst wird die Erde zu einem Wohnplatz wahrer Menschen machen; sie ist die einzige dauernde Lösung aller Konflikte, denn der Kampf der Leidenschaften wird nicht ausbleiben, aber seine Lösung wird die richtige werden in den Naturen, denen sittliche Vollendung Religion geworden ist. In der heissen Schlacht der Schmerzen erlösen sie sich selbst, unter bitteren Qualen gekreuzigt, auferstehen sie in neuer Jugend und Unverletztheit der Seele und der Schmerz wird zur Kraft und zeugt edlere Taten, reinere Liebe, hellere Gedanken als zuvor. Willst du diese Religion der ewigen Selbster- lösung nicht verstehen, Welt?

Eine schöne Überraschung.

Ich bedurfte bei Abfassung meines Romans »Phädra« einer Schilderung Corfus, das ich leider nicht selbst gesehen habe und erinnerte mich dabei, vor mehreren Jahren Beschreibungen der Jonischen Inseln in der Augsburger Allge- meinen Zeitung gelesen zu haben, die mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatten, so dass ich danach zu suchen anfing, bis ich sie endlich, zu einem Band vereinigt mit dem Titel »Odysse- ische Landschaften« vom Freiherrn Alexander von Warsberg, wiederfand. Es erschien mir dies Buch als ein wahres Muster der Reiselite- ratur und erfüllte mich mit Sympathie für den Autor, dessen Seele mir aus diesen Blättern sprach und dessen hohe klassische Bildung neben dem Reiz poetischer Naturanschauung zugleich ernste Belehrung gewährte. Doch lag mir der Gedanke fem, dass ich jemals zu dieser Persön- lichkeit eine Beziehung haben könne, da ich nach eingezogener Erkundigung erfuhr, dass er

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weit ab in einer Mitte lebe, die fern von allen mir befreundeten oder erreichbaren Kreisen war. Um so grösser war mein Erstaunen, als ich einige Zeit nach dem Erscheinen dieses Romans einen Brief mit dem Poststempel »Corfu« und der Unterschrift »Alexander v. Warsberg« er- hielt, der also lautete:

»Ich bin ein schlechter Romanleser und nun gar deutsche Romane nehme ich kaum je zur Hand. Da ich vor drei Wochen in Wien war, forderte mich aber mein Buchhändler auf, doch einen Blick in die drei Bände der Phädra zu werfen, weil er meinte, so wie ich ihm seit langen Zeiten bekannt geworden bin, ich würde darin eine Menge Ideen finden, die er seit Jahren von mir gepredigt höre. Auf der See, zwischen Triest und Corfu schwimmend«, (Herr v. Wars- berg war zu der Zeit österreichischer Konsul in Corfu) »habe ich denn das Buch auch wirklich in einem Zuge verschlungen. Sie haben für alle Lebensfragen den edelsten Idealismus zur Grund- lage, um darauf Ihre Antwort -aufzubauen und der wahrer ist als der heute so vorlaute Realis- mus, weil doch nur die Oberfläche der Dinge körperlich erscheint, in ihnen, in einem jeden aber andere uns ungreifbare Kräfte wirksam sind. Ich sende ihre drei Bände eben einem gleichgesinnten auch menschenfreundlichen Freund, Graf Rudolf Hoyos, damit er sie mit meinen Anstrichen und Randglossen lese und dann einer Freundin weiter gebe. Ihr Buch ist ein wirklich merkwürdiges und erstaunlich ist mir die Persönlichkeit, die dahinter steht.«

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Es folgten dann noch Erkundigungen, ob ich mit einem Herrn meines Namens verwandt sei, der im österreichischen Staatsdienst Staatssekre- tär im Ministerium gewesen sei und in dessen Hände er seinen Amtseid bei seinem Eintritt in das Ministerium abgelegt habe und anderes. In meiner Antwort konnte ich ihm nun sagen, dass dies mein Bruder gewesen sei und konnte ihm einige Anknüpfungspunkte an mein persönliches Leben geben, nachdem er durch das Buch einen ihm sympathischen Eindruck von meiner Geistes- richtung erhalten hatte. Dieser Antwort folgte bald ein zweiter Brief von ihm und es entspann sich eine eifrige Korrespondenz, die sich durch zwei Jahre fortsetzte und uns ohne persönliche Bekanntschaft einander sehr nahe brachte. Seine amtliche Stellung in Corfu sagte ihm zum Teil seiner angegriffenen Gesundheit wegen zu, aber ich konnte mir nach dem Eindruck der Odysse- ischen Landschaften wohl denken, dass diese klassische Stätte ihm auch eine wahre Seelen- heimat sein musste. Doch schrieb er mir in einem der nächsten Briefe: »So schön und sonnig ich in der Stadt wohne, das Meer nur fünfzig Schritt vor und unter mir, mit den jen- seitigen, schneebedeckten Steilgebirgen von Epirus in weitester Ausdehnung sichtbar, so kann und mag ich doch hier nichts Poetisches, Duftiges anrühren. Eine Unterbrechung jagt die andere und indem ich schreibe, muss ich fortwährend in amtlichen Dingen Bescheid geben. So bin ich ein Wollüstling der Einsamkeit geworden.

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Gute Gesellschaft finde ich beinah nur noch in Büchern. Bei jeder anderen Berührung stört mich die Mangelhaftigkeit der Form, des Aus- drucks. Beim Bauer noch am wenigsten, denn für das, was er zu sagen hat, stimmt das Kleid seiner Rede. Die sogenannten Gebildeten aber heutzutage kommen mir gerade so vor wie die Sänger, denen der Wortschwall der modernen Schule die Stimme ruiniert hat. Man muss zu Goethes Zeit besser gesprochen haben, sowie man schöner schrieb.« Er erzählte dann, dass er sich die »Memoiren einer Idealistin« gleich nach der Lesung der Phädra habe kommen lassen, sie aber der ewigen amtlichen Störungen wegen noch nicht gelesen habe und sie für seinen nächsten Landaufenthalt aufbewahre, »denn«, fuhr er fort, »soviel habe ich daraus schon ge- nippt, um zu merken, dass es ein unter Oliven und Cypressen mit dem Fembhck auf das Meer und dem Klange der Brandung im Ohr zu lesendes Buch ist und da ich das mindeste, was der Leser dem Autor schuldet, darin erkenne, dass er ihm ähnliche Stimmungen entgegen- bringe, wie sie ihm der Verfasser geben will und sie bei seiner Arbeit empfand, so übe ich auch immer die Gerechtigkeit, meine Lektüre den Situationen und Örtlichkeiten möglichst anzu- passen, ebenso meine eigenen Arbeiten, welche ich auch danach einrichte, gleichstimmig zu inspirieren. Sie werden mir dienen, wie ich ihnen. Die Jahreszeit ist schon so entwickelt, dass ich an- nehmen darf, es wird bald geschehen können.

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dass ich mein Landhaus bei Gasturi beziehe, wo ich zufälligerweise bis auf den Luxus den Sie hineingedichtet haben wohne, als sei ich Ihr Originalheld der Phädra. Ein Freund dem ich Ihren Roman mitgeteilt hatte, war als ich ihn in die Villa führte, auch von dem Zufall betroffen, wie Sie, gleich wahren Dichtern, was Sie mit visionärem Auge zu schauen be- gehrten, auch wirklich gesehen haben.«

Nach kurzer Zeit kam wieder ein Brief, aus seinem Landhaus datiert, wo er schrieb: »Ich stehe schon mitten in dem Roman einer Idealistin, oder eigentlich ich bin schon ein gut Stück über die Hälfte hinaus, denn ich beendigte heute Nacht den zweiten Band. Ich habe mich nicht ver- schrieben, indem ich eben ,Roman' statt Me- moiren sagte. So in diesem Eindruck lese ich das Buch in einer Spannung, die mich oft stunden- lang, obgleich ich zu anderen Dingen übergehen müsste, nicht -davon kommen lässt. Liegt das am Erlebten oder an der Art wie dieses erzählt wird? Vielleicht an beiden und noch mehr aber an der Art wie das Erlebte erlebt ward und weil alle Gedanken des Buchs den Eindruck machen von Gelegenheitsgedanken im Goetheschen Sinn. Nie hat man den Eindruck, dass etwas aus einem anderen Grund gesagt worden ist, als weil es die eigene augenblickliche Erfahrung und zwar ohne viel Nachdenken, ohne Reflexion, so aufspriessen Hess, nicht anders als die Feld- blumen spriessen, niemals so wie in Gewächs- häusern gezüchtet wird. Das ist überhaupt ein

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Vorteil der Frau, wenn sie gescheit ist und schriftstellert, dass alles an ihr origineller, un- mittelbarer, eigentümlicher erscheint. Sie hat auch vielmehr le courage de son opinion, der in Wahrheit den Männern beinah gänzlich fehlt. So war die George Sand, so ist die Quida in ihren besten Sachen, so finde ich nun Sie. Philo- sophisch freilich erscheinen Sie darum nicht. Auch mit Ihrer Politik wären keine Staaten zu regieren. Besser begegnen wir uns auf dem so- zialen Gebiet. Was Sie dort bemerken, sah, be- dauere und tadele auch ich. Die Differenz be- steht dort nur zwischen uns betreffs der Heil- mittel: Ich sehe diese, bezüglich der Menschheit, vielleicht cynischer an als irgend einer. Alle Irrtümer in der Behandlung dieser Fragen be- ruhen darauf, dass sich der Mensch im einzelnen und noch mehr die Menschheit als solche im ganzen einen sehr überschätzten Wert beilegen. Wir sind nur knapp etwas höher im Organismus des Ganzen zu achten, als das Tier und die Pflanze. Man sehe nur, wie viel in der Welt ganz ohne unser Zutun und selbst ganz ohne unser Verständnis, nicht weniger als über dem Tier und der Pflanze hinaus, geschieht, ja, wie wir ganz wie diese Elemente des kosmischen Werdens nicht einmal uns selbst beherrschen können, nichts, recht eigentlich gar nichts von uns abwenden können. Es ist nicht möglich, den Menschen als den Abschluss des Daseienden zu fassen. Es müssen Kräfte über uns sein, deren Einfluss wir empfinden ohne deren Wirken

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zu sehen, wie wir in jedem Augenblick Tausende von Wesen vernichten, die von uns keine andere Vorstellung haben können, als wir vom soge- nannten Fatum. Ich kann darum für alle sozialen und politischen Fragen keine andere Heilmethode anerkennen als diejenige, welche im stände ist für den Augenblick rein praktisch zu wirken und konnte daher, trotz meinen dichterischen Anschauungen, noch jedesmal mit jeder Tages- frage des öffentlichen Lebens fertig werden. Mit sehr starkem Willen begabt, würde ich mich nie furchten als ausübender Staatsmann den Stier bei den Hörnern zu fassen. Daher haben für mich in der Geschichte auch sehr viele ener- gische Staatsmänner recht gehabt, z. B. alle die Tyrannen der italienischen Renaissance. Ich respektiere sie, denn sie haben etwas geleistet. Und nur darauf kommt es an. Deswegen sind wir hier. Das ist unsere eigne und der Mensch- heit Veredlung im allgemeinen. Mehr ist der Mensch nicht wert. Tier und Pflanze fallen demselben Zweckbegriff zum Opfer. Freiheit freilich gibt es dab^i keine, gab es auch nie, nur im Zustand der ersten Wildheit. Bildung, Erziehung, Civilisation und wie die vergoldenden Worte alle heissen, sind Bindung, Einschränkung. Sehen Sie die ganze Weltgeschichte an ; das mag traurig sein, aber es ist so, soNvie es auch immer schon so war.

Zu all dem haben sie mich angeregt. Ich denke nun viele Tage so fort auf meinen Spazier- gängen, nachdem ich, unter Olivenbäumen liegend.

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Sie gelesen. Man könnte aus Ihrem Buch einen Auszug der herrlichsten Gedanken > Sinnsprüche« machen. Ein Liebling von ~ mir ist im i8. Ka- pitel des I. Bandes, die Bemerkung über die moralische Heilkraft des Meers. Herrlich, was Sie im nächsten Kapitel sagen, dass in jeder weiblichen Liebe ein Zug Mutterliebe mit ent- halten sei. Das habe ich geahnt, sie haben es erfunden. Die ganze Seite des 2. Bandes, da Sie bei Broadstairs am Meer sassen, der Mond auf- ging und Sie divinatorisch die erste Form der Liebe in der Materie gewahrten und errieten, habe ich an- und unterstrichen. Das sind Dithy- ramben eines Dichters, wie nur Dante einer ge- wesen. Dann ihre Erziehungstheorie, dass es gelte die Originalität der Naturen zu erhalten, habe ich ebenso angestrichen. Ich gehe noch weiter : als moralischen Mörder möchte ich den Lehrer verantwortlich erklären und unter einen Strafkodex stellen, welcher diese Originalität umzubringen wusste. Denn damit schädigt man die Produktionsfähigkeit für das allgemeine Beste. Das ist ein grösseres Übel für die Menschheit als manchmal einen umzubringen, der ihr im ganzen nichts Gutes getan hat. Ferner S. 143, wo Sie wiederum in der Meereseinsamkeit das Mysterium des Lebens fanden, habe ich auch so hundertmal zu meinem Glück und Wohlergehen erfahren.

Ihr Stil ist ganz absonderlich. Sie scheinen sich gehen zu lassen und doch liest man sich dabei in einen fortwährenden Claude Lorrain

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hinein. Das mag der Idealismus sein, den sie selbst bekennen als die Grundlage Ihres Wesens, und welcher den Gemälden jenes Meisters auch als allgewaltig innewohnt. So sehr habe ich immer den Eindruck Claude zu sehen, wenn ich Sie lese, dass ich, ein Gläubiger der Seelen- wanderung, ganz ernstlich frage: ist da nicht jener Keim wieder aufgegangen?«

Wenn mir schon diese Briefe, sowohl was Lob als Tadel betraf, höchst wertvoll und er- freulich waren, so wurden sie es noch mehr durch die darin ausgesprochenen allgemeinen Ansichten , mit denen ich nicht immer übereinstimmte, die mir aber nach und nach das Bild der Persön- lichkeit des unbekannten Freundes vervollstän- digten und zu einer grossen anziehenden Be- deutung erhoben. Am Ende des ersten Jahres unserer Korrespondenz erhielt ich wieder einen Brief aus Corfu, nachdem er im Sommer auf dem Festland in Osterreich gewesen war und von da einen Besuch in Weimar gemacht hatte, das er noch nicht kannte »natürlich um Goethes willen« schrieb er, »ich lese jetzt seine Werke mit ganz anderem Verständnis, seitdem ich deren Hintergrund, die Umgebung, habe kennen lernen. Für die Wahlverwandtschaften z. B. ist diese Kenntnis des Schauplatzes, der Gärten, welche darin offenbar Muster gewesen sind, ganz unentbehrlich. Es fallt mir dabei auf, wie man einen Schriftsteller, je vollendeter er schrieb, mit den zugenommenen Jahren noch ganz anders er- kennt, wie man ihn doch im frischen regen

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Jünglingsalter erfasst zu haben glaubte. Ich meinte stets den ganzen Goethe umfasst zu haben und sehe jetzt, da ich z. B. seinen Winkelmann wieder lese, dass ich noch nichts davon erfasst habe, dass er ein Übermensch ist im Vergleich zu der Vorstellung, die ich von damals her hatte. Das Durchgeistigte des Stils, wie jedes Wort nicht bloss ein gedachtes, vielmehr ein durchaus gefühltes ist und er sich wohl auch nur dadurch leiten liess, sowohl im künstlerischen, wie im ver- ständigen Sinn, das bemerke ich erst jetzt ganz in meinen alten Tagen. Ich glaube, dass es nichts Stilbildenderes gibt als Goethesche Prosa zu buchstabieren.« Dann fuhr er fort: »ich lebe jetzt ganz einsam, die Abende meist allein zu Haus, bis 2, 3 Uhr nachts lesend, mit Vorliebe alte Bücher. Ich begreife so viele meiner Freunde nicht, die sich die Zimmer voll mit reizendem alten Gerumpel stellen, dazu aber französische Schandromane lesen, die nur schlecht wieder- holen, was die schmutzige Gegenwart uns schon unausweichlich gegenüberstellt. Das eine oder andere ist unwahr und affektiert: diese antike Sammelwut oder das Lesen dieser Modernen. Ich will durch meine Bücher, wie durch meine Zimmer, in eine andere poetische, märchenhafte Welt versetzt werden. So schwelgte ich z. B. diese Nacht in Washington Irvings tales of a traveller, besonders in den goldenen Träumen des Wolferl Webber. Sie haben auch Dir ganzes Leben so goldig geträumt und ich preise Sie darum glücklich. Sie hätten uns allen nicht

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den Wert, wenn Sie statt dessen nach heutigem Pariser Muster, recht wohl berechnet praktisch das Leben und Ihre Werke mit der Elle zu- gemessen, mit der Schere beschnitten hätten.«

So erschien mir immer der gleiche Idealismus in ihm, immer die Höhe der ästhetischen An- forderungen an die Kunst und an das Leben und die Überzeugung, dass in beiden das Schöne, Gute, Natürliche der wahre Realismus ist, wie er dies in einem seiner Bücher sehr schön aus- drückt. Indem er von der entzückenden Schön- heit der jonischen Ufer von Kleinasien und der Herrlichkeit des Meeres bei Knidos redet, sagt er: »Die Venus könnte jeden Augenblick daraus wieder auferstehen ohne unnatürlicher zu er- scheinen als die Delphine, die aufspringend und sich überschlagend ihr Leben geniessen. So durchaus aus der Natur geboren, wie jedes Denken und Empfinden der Alten, war auch der antike Götterglaube, daher Homer sagen durfte: denn leicht zu erkennen sind Götter". Die Welt ist nie natürlicher gewesen als damals, echt realistisch, im guten edlen ich möchte sagen um nicht missverstanden zu werden, weil heute dieses Wort so korrumpiert wird im idealen Sinn«.

Von seinen äusseren Verhältnissen erfuhr ich nun nach und nach so viel, dass er aus einem sehr alten lothringischen Geschlecht stamme. Einer seiner Ahnen hatte sogar den kurfürstlichen Stuhl von Trier inne gehabt und durch mehrere Jahrhunderte werden die Wars-

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berg in Urkunden als freie Reichsritter des rhein- fränkischen Gaues oder als Mitglieder des Deutsch- herrn- und Johanniter-Ordens genannt. Ihr Stamm- baum war untadelig und sie waren in den stolzesten Kapiteln stiftsfähig, trugen auch Lehen von Trier und empfingen dort am Hofe Ämter und Würden aus der Hand des Kurfürsten. Auch ein Alexander von Warsberg, der von 1767 bis 18 14 lebte, war der letzte Kämmerer des Erz- stifts, sah den Untergang des Reichs und das Ende der Selbstherrlichkeit des eigenen, sowie vieler anderer deutscher Geschlechter. Hätte man dem Atavismus nachspüren wollen, so hätten sich in meines Freundes Charakter wohl nicht undeutliche Spuren mit jenen Vorfahren finden lassen, zunächst das stolze Unabhängig- keitsgefühl reichstreuer kleiner Dynasten (daher seine Anhänglichkeit an Oesterreich, als der geschichtlich berufenen ersten Macht Deutsch- lands und seine Abneigung gegen Preussen), sein Widerwillen gegen den Protestantismus und seine Vorliebe für antike Kunst, deren Überreste in Trier so bedeutend sind.

Der Vater Alexanders hatte von seinen Vor- fahren ein ansehnliches Vermögen ererbt und seine drei Söhne konnten sich in der ersten Jugend als Erben eines reichen Besitzes ansehen. Unglückliche Spekulationen machten demselben ein Ende, und als die Familie nach Graz über- siedelte, wo Alexander sein erstes Universitäts- jahr verbrachte, wurde ihm die herbe Ent- täuschung zuteil, . sich in einer völlig ver-

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änderten Lebenslage zu finden. Er ertrug dies Missgeschick mit dem heiteren Sinn der Jugend und ging dann zur Fortsetzung seiner Studien nach München, wo ihm in Kunst, Wissenschaft und Literatur die Quellen reicher Bildung und durch den Umgang mit hervorragenden Menschen, die förderndsten Einflüsse zuteil wurden. So hatte er unter anderem viel im Hause des Grafen Pocci, des geistreichen Romantikers, verkehrt, wo bedeutende Menschen aus- und eingingen und ihn mit Auszeichnung behandelten. Hier hatte er öfter die königlichen Prinzen, da- mals noch Knaben, gesehen, welche mit den Söhnen des Hauses zu spielen kamen. Er wider- sprach auf das entschiedenste dem Gerücht, dass die Erziehung sehr viele Schuld gehabt habe an den nachherigen traurigen Geisteszuständen des edlen, hoch- und ideal-begabten Königs Ludwig II. und seines Bruders und berief sich dabei auf die vorzüglichen Männer, welche daran beteiligt gewesen waren und welche er in jener Zeit kennen gelernt hatte.

Wie träumerisch innerlich sein Gemütsleben damals gewesen sein muss, erhellt aus einem kleinen Vorfall, den er mir später, nach persön- licher Bekanntschaft, einmal erzählte. Seine Mutter war mit ihm nach München gezogen, als er sich dorthin zur Universität begab, kehrte aber nach einiger Zeit in den Wohnort der Familie Graz zurück. Alexander war danach eines Abends im Theater und ganz verloren in die poesieerfüllte Gedankenwelt, die dort in ihm

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angeregt war, schritt er, ohne sich dessen be- wusst zu sein, der Strasse zu, wo die Mutter gewohnt hatte, um, wie gewöhnlich den Tee- abend bei ihr zuzubringen, trat in das Haus ein, erstieg die Treppe, zog die Klingel und wurde seines Irrtums erst inne, als eine ihm fremde Magd die Tür öffnete und fragte, was er wünsche.

Das Verhältnis zu seiner Mutter muss ein besonders inniges gewesen sein. Sie liebte diesen Sohn über alles und sein feines sinniges Wesen, sowie seine ungewöhnlichen Geistesgaben und sein Eifer bei ernsten Studien, waren die Freude seiner Eltern. Nur wegen seiner von klein auf zarten Gesundheit hatte die Mutter schwere Sorgen, wozu beitrug, dass das wissens- durstige Gemüt des Knaben ihn nur zu oft fort- trieb von den Spielen und dem leeren Zeitver- treib anderer Kinder, in einen stillen Winkel, wo er Stunden hindurch, mit Lesen und ernsten Arbeiten beschäftigt, allein blieb.

In jener Studienzeit in München ging ihm dann in ungewöhnlicher Weise sein Lebenspro- gramm auf Eines Tages sah er in der neuen Pinakothek ein Gemälde von Peter Hess, das einen Trupp griechischer Landleute darstellt, die am Strand des Meeres dahinziehen. »Da, wie es zuweilen zu gehen pflegt,« sagte er, »dass dem Menschen durch irgend ein zufälliges Er- eignis seine eigentliche Bestimmung und sein Schicksal in einer Art von Hellsehen, wie in einer plötzlichen Beleuchtung, klar werden, so

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fühlte ich, indem ich dies Bild betrachtete, dass ich das auch einmal erleben müsse und all mein Wünschen und Wollen richtete sich darauf, Griechenland und den Orient zu sehen.« Und als er es erreicht hatte und in seinem ersten Buch: »Ein Sommer im Orient« jenes prophetisch erleuchteten Moments gedachte, schrieb er: »Es ist nicht das erste Mal, dass mir scheinbar Un- mögliches, welches ich übermütig begehrt hatte, gewährt worden ist; dem Wunsche, wenn er nur fest und unablässig bleibt, wird selten die Erfüllung fehlen. Eine eigentümliche Kraft, etwas wie ein elektrisches Fluidum ist in ihm wirksam, das instinktiv unsere ganze Tätigkeit nach dem einen Ziele richtet. Wird dieses dann, so wie heute« (als er nun wirklich im Orient war) »erreicht, dann scheint es mir Pflicht eines schuldigen Danks der glücklichen Stunde und der Veranlassung zu gedenken, die zuerst die Sehnsucht und das Verlangen geboren hat.«

Nach beendigter Universitätszeit und glänzend bestandenem Examen trat er in den Staatsdienst, als Praktikant bei der Grazer Statthalterei. Aber die engen, wenig anregenden Verhältnisse der Provinzialstadt übten einen niederdrückenden Einfluss auf das Gemüt des jungen Mannes und vergebens suchte die liebende Mutter einen Ausweg für ihn aus dieser Lage und einen Schauplatz, wo seine reiche Begabung sich frei nach allen Seiten hin entwickeln könnte. Das Geschick kam ihm endlich zu Hülfe durch die Bekanntschaft mit der Familie des Freiherrn von

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Pro kesch -Osten, der als österreichischer Bot- schafter in Konstantinopel weilte, dessen Familie aber in Graz zurückgeblieben war. Frau von Prokesch, eine in jeder Beziehung aus- gezeichnete Frau, empfing den jungen Warsberg in ihrem gastlichen Hause, erkannte seine edle, reiche Natur, betrachtete ihn bald wie einen Sohn und führte ihn mit sich nach Konstanti- nopel, als sie ging, ihren Mann zu besuchen. Hier entspann sich nun das innige Freundschafts- band zwischen Prokesch und dem jüngeren Mann, das von Seiten des letzteren zu einem wahren, das Grab überdauernden Kultus der Verehrung und Liebe wurde. Die Spuren des gewaltigen Einflusses, welchen der ältere auf den jüngeren Freund ausübte, finden sich überall in dessen Schriften, in den Äusserungen über Politik, Ge- schichte, Gesellschaft und Kunst. Was er von Prokesch sagte, lässt sich auch auf ihn an- wenden: »Es ist merkwürdig, wie realistisch er, der Poet, den man so oft auch einen Phantasten nannte, in den politischen Dingen sich stets in der Gegenwart hielt. Er mahnt auch dadurch an die Menschen der antiken Zeit. Entfernte und nebelhafte Möglichkeiten hatten keinen Reiz für ihn. Namentlich sein Charakterbild als Staatsmann ist dadurch markiert. Das kam da- her, weil er, durchaus moralisch, als Politiker stets nur an die Interessen dachte, die er zu vertreten hatte, an die des Volkswohls und nicht an das Mehr oder Weniger von Belohnung für seine Eitelkeit.«

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Ebenso Poet wie Prokesch, Idealist in Poesie und Kunst, lagen Warsberg auch alle politischen Träume fern, oder vielleicht entfernte er sie prinzipiell aus seinem Denken, weil er weder demokratisch noch konstitutionell gesinnt war, sondern autokratisch-monarchisch. So sagte er mir einmal, indem er von seiner politischen Tätigkeit in Griechenland sprach und von einer Periode des vorherrschend demokratischen Ele- ments daselbst, er habe dem Könige von Griechenland gesagt: >^die Politik der Könige ist warten.^ Das habe sich in dem Fall auch bewahrheitet, da kurze Zeit darauf das demo- kratische Ministerium gestürzt worden sei. Ich war nicht seiner Meinung und meinte vielmehr, die Politik der Könige sei, voraussehen und vor- beugen. Auf dem politischen Gebiet waren wir aber überhaupt selten derselben Ansicht. So hatte ihn z. B. das Jahr 1866 in »leidenschaft- liche Verzweiflung« gebracht und es konnte ihn selbst nicht trösten, als Prokesch ihm aus Kon- stantinopel, nach dem Ende des preussisch- österreichischen Kriegs, schrieb: »Dass wir aus dem deutschen Bunde sind, ist die einzige Licht- seite in unserem Unglück ; denken Sie recht nach, und Sie werden es auch finden. Ausser- halb können wir in Deutschland gelten, inner- halb desselben, Preussen oder Minoritäten mit engen Gesichtspunkten gegen uns, nichts. Möge der Kultus der goldenen Kälber, der blossen Formen und des Scheins aufhören und dafür Intelligenz walten, dann kann Osterreich, gerade.

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weil es nicht im Bund ist, etwas werden. Ge- schieht dieser Umschwung nicht, dann freilich wird es in keiner Lage etwas sein.«

Wie aber nicht allein durch persönliche Ein- flüsse, sondern durch die ersten grösseren Reisen ostwärts in die Länder seiner Träume, die er nun wirklich besuchen konnte, sich ihm der Blick weitete und die Weltbildung sich vor- bereitete, welche seine späteren Reisen vervoll- ständigen halfen, und wie sich alle Schätze von Poesie und Naturgefühl, deren Keime in seiner Seele lagen, zu voller Blüte entwickelten, zeigt uns schon seine erste grössere literarische Arbeit, die seine erste Reise nach Konstantinopel im Jahr 1864 beschreibt. Wenn uns in den »Odysseischen und Homerischen Landschaften« der gereifte Mann entgegentritt, in dessen Ge- müt das Leben schon manchen tiefen Schatten geworfen und dessen Begeisterung selbst eine Beimischung wehmütiger Resignation hat, so weht uns aus diesem reizenden Buch eine Jugendlichkeit der Auffassung und des Empfindens an, die wahrhaft bezaubert, da sie schon mit jener künstlerischen Lebhaftigkeit der Darstellung verbunden ist, die uns glauben macht, dass wir mit ihm sehen. Er war damals 28 Jahr alt, aber es sprüht aus diesem Buch noch die volle Frische einer Jünglingsseele, neben einerstaunens- werten Belesenheit in den alten Schriftstellern, aus denen ihm an Ort und Stelle die geist- vollste Begründung historischer Tatsachen gegen- über der hochmütigen Verweisung solcher ins

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Fabelreich von selten deutscher Katheder- Professoren hervorging. So sagt er u. a. in diesem Buch:

»Kein Blick auf eine andere Stätte der Welt hat mich mehr bewegt, als der auf dieses Feld von Troja. Es ist nicht Gefallen an der Land- schaft, denn die Luft ist kalt und farblos; es ist auch nicht jenes unbedachte Entzücken, das sich in Selbstvergessenheit verliert, denn mir bleiben hundert betrachtungs volle Gedanken, es ist vielmehr etwas wie Staunen und Grauen, dass die Fabeln wahr gewesen und dass Meer und Land die Schicksale der Helden überdauert haben. Welche Taten spielten auf diesem Boden! So ungeheuer und herrlich, dass die spätere Anwesenheit eines Xerxes, Alexander und Cäsar, die hier alle der älteren Erinnerung gehuldigt, hier gebetet und geopfert haben, ver- gessen werden kann. Es war schon die orien- talische Frage, die auf diesem Flecke Erde Europa und Asien zum ersten Male einander gegenüber stellte, und welche dann jene späteren Eroberer fortgesetzt haben.«

Schon bei dieser ersten Reise entwickelte sich die begeisterte Liebe zum Orient, die Wars- berg wie auch Prokesch nie mehr losliess und beide dem Occident und der westlichen Civili- sation etwas entfremdete. Mehr als einmal drückte Warsberg den geheimen Grimm gegen den Occident in scharfenWorten aus, wenn ihm die Zauber des Orients mit ihrer Magie umgaben und ihm den Kontrast zwischen dem Mutterland

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alter Kultur und der modernen Civilisation be- sonders anschaulich machten. So sagt er z. B. einmal auf seiner lykischen Reise im Theater von Kanthos: »Das Grossartigste unserer Ge- birge ist hier dem Schönsten des Südens ver- mählt. Leicht begreift man auf so alten ansehn- lichen Ruinen stehend und aus denselben solche Prachtbilder schauend, dass der Mensch hier ein- mal sich Wohlbefinden, sich festsetzen, reich und übermächtig werden konnte. Aber was man nicht begreift, ist dass die Menschheit solche Glücksgüter heute verschwendet, unbebaut und unbewohnt lässt, lieber in Hungerländern modert, ein Tier auf dürrer Haide, das immer spekuliert.« Durch die Anschauung der Realität in Natur und Kunst, durch das Betreten der geschicht- lichen Stätten früherer Kultur fielen dem wohl- vorbereiteten Geist des jungen Mannes helle Streif- lichter auf sein eingesammeltes, theoretisches Wissen und am lebendigen Born der Erkenntnis trinkend, mochte er es wohl bedauern, drei Jugendjahre hindurch das leere Stroh der Ka- theder-Philosophen zu Häckerling verarbeitet zu haben, wie er sich einmal ausdrückte. Seine ganze Entwicklung führte ihn zu antiken An- schauungen in Philosophie und Kunst, so dass ich ihm schrieb, er komme mir vor wie ein an- tiker Grieche und er sei gewiss in einem früheren Leben schon einmal dort gewesen. Darauf ant- wortete er mir: »Es hat mich gefreut, dass Sie mich nach Griechenland gehörig befinden. Ich habe dasselbe Gefühl, dass da eigentlich meine

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Heimat ist. Und oft erscheint mir die Gregen- wart nur wie ein Erinnern, ein Wiedererkennen des schon Gekannten.« Dann schrieb er ein andermal, sich entschuldigend, dass er lange nicht geschrieben: »Ich bin vor allem ein Pflicht- mensch und auch darin ein antiker Grieche, dass ich zuerst die vom Staate übernommenen Pflichten zu erfüllen, für nötig finde.« Seine oft wieder- holten Besuche bei dem ausgezeichneten Freunde in Konstantinopel trugen viel dazu bei, die geistige Reife Warsbergs zu zeitigen. Die Liebe, die er dem älteren Mann entgegenbrachte, wurde von diesem auf das herzlichste erwidert, so dass er sogar nach dem Tod seines zweiten Sohns, der im deutsch-dänischen Krieg fiel, nur von Wars- berg begleitet, von Pera aus auf die einsame Insel Prinkipo im Golf von Nikomedien ging, um dort in dem gemeinsamen Lesen Schopenhauers Trost zu suchen. »Und morgens,« sagt Wars- berg, »Hessen wir uns nach dem benachbarten, noch stilleren Eilande Chalki überschiflen und dort in einer ganz abgelegenen stillen Bucht, wo man sich Tausende von Meilen Europa und seiner Civilisation entfernt glauben kann, unter einer Pinie auf dem reinsten Seesande gelagert, den Blick auf den asiatischen Olymp gerichtet, las er mir Seite um Seite des halb indisch- asiatischen Philosophenwerkes vor. So in solcher Weise und vor ähnlichen Landschaften haben Pythagoras und Plato ihre Schüler gelehrt. Gewiss wäre es für Schopenhauer eine seiner grössten Freuden gewesen, wenn er gewusst hätte, dass

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einstmalen, durch solche Hörsäle des herrlichsten Erden winkeis, auch sein Wort weiter klinge.«

Wer wollte Warsberg nicht um solcher Stunden Genuss glücklich preisen? Wer würde nicht sagen, dass trotz bitterer Erfahrungen und langer körperlicher Leiden sein Leben dennoch das eines Auserwählten gewesen ist, dem das seltenste Glück der Erde, das einer so edlen Freundschaft mit einem gereiften, hoch begabten Mann, schon in der Jugend zuteil ward, der in dieser Genossenschaft die schönsten, durch Natur und Geschichte ausgezeichneten Stätten besuchen durfte, dem es vergönnt war den Orient^ die heilige Wiege unseres Geschlechts, mit seinen Dichteraugen anzuschauen und unter dem Zauber jener Eindrücke mit dem Weltgeist zu verkehren. Was ihm dieser Orient war, wie er im edelsten Sinn religiös auf seine Seele wirkte, bezeugt folgender Ausspruch: »So oft sich die Mensch- heit dort schon erfrischt, neue Religionen und Ideen geholt hat, leichter noch wird es dem ein- zelnen auf jenem geschichts- und gottesgeheiligten Boden seine Seele wieder zu gebären im Geist der Wahrheit und des Glaubens.«

Zwei Jahre ungefähr hatte die Korrespondenz gedauert, die uns ohne persönliche Bekanntschaft einander schon so nahe gebracht hatte, als ich plötzlich die freudigüberraschende Nachricht bekam, dass Warsberg auf einige Zeit nach Rom komme um sich einer Kur zu unterziehen, welche ein italienischer Arzt gegen chronisch gewordenen argen Husten und gegen Atemnot als unfehlbar

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gefunden zu haben glaubte. Dieses Leiden war Warsberg nach einer Lungenentzündung, die ihn in Paris befallen gehabt hatte, nachgeblieben und war ein Hauptgrund, weshalb er die Stel- lung als österreichischer Konsul nachgesucht hatte, weil er von dem milden Klima des herrlichen Phäakenlands Heilung hoffte. Da ihm diese aber auch dort nicht geworden, wollte er nun diese ihm auf das wärmste empfohlene Kur gebrauchen. Mit welcher Freude ich dieser Begegnung ent- gegensah, kann man sich denken, aber doch auch mit einer Art von Spannung, die nicht ganz ohne Besorgnis war, denn wie gross auch die Sympathie sein mag, welche zwei Geister zu einander zieht, so liegt doch auch ein ge- wisser Zauber in der Erscheinung, der dazu ge- hört, um sich persönlich ganz zu genügen. Ich wäre sehr enttäuscht gewesen, hätte sich mir dieser geistig so bedeutende Mann in einer äusser- lich vulgären Gestalt gezeigt, denn leider ist es ja nicht immer möglich, dass die Seele sich auch ihren Körper schafft. Sehr froh war ich daher, als sich am bestimmten Tag und zur bestimmten Stunde die Tür öffnete und, so wie ich es mir gedacht hatte, ein hoher, schlanker, blonder Mann mit dem Ausruf: »endlich!« bei mir eintrat, dessen ganze Erscheinung das Gepräge wahrhaft adeligen Wesens und edler Kultur trug. Schnell verschwand daher die erste Befangenheit dieses schon so vertraut gewesenen Fremdseins und nach einer Stunde heiteren Gesprächs waren wir alte Freunde, die sich längst gekannt.

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Es kamen nun Stunden freundlichen Zu- sammenseins, entweder am Tag bei mir, wenn es ihm erlaubt war auszugehen oder, da er am Abend nicht ausgehen durfte, bei ihm im Hotel, wo er mit zwei ausgezeichneten Freunden wohnte. Bei diesen kleinen geselligen Abenden verhielt sich Warsberg meist schweigend, da ihm viel Sprechen bei seiner Atemnot peinlich war, aber er folgte teilnehmend den Gesprächen und gab ihnen hier und da, durch ein geistreiches Wort, neuen Impuls und Schwung. Nie habe ich so gefühlt, wie bei ihm, was die blosse Gegenwart eines geistvollen und gütigen Menschen für eine anregende, magnetisch geistzeugende Kraft hat. Es ist dieselbe Wirkung wie die, welche eine schöne, harmonische Naturumgebung auf uns ausübt, alles Verstimmende, Beleidigende, womit die Welt uns anfällt, verschwindet, wir fühlen uns unter dem Einfluss jener ewigen Sonne, die nur Blüten höchsten Wertes zeitigt und mit ihrem verklärenden Licht die Wider- sprüche des Lebens versöhnt.

Leider blieb die von dieser Kur gehoffte Wirkung völlig aus; nach zwei Monaten zuweilen sogar vermehrter Leiden schloss er mit der- selben ab und bereitete sich, in Venedig seine Stellung als General-Konsul anzutreten. Er war dazu ernannt worden, nachdem er eine Reise der Kaiserin von Osterreich im Orient geleitet hatte, wozu freilich niemand besser als er ge- eignet war, der den Orient so genau kannte und während seines Konsulats in Corfu fast kein

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Jahr hatte vergehen lassen, ohne das Mittelmeer in ein oder anderer Richtung zu durchstreifen, immer mit dem Homer als Begleiter, wobei er die Überzeugung erhielt, dass derselbe die Orte, die er beschreibt, auch selber gesehen habe; eine Überzeugung, die er mit schlagenden Gründen den Behauptungen pedantischer Profes- soren entgegenhielt.

Es gibt so viele angenehme Begegnungen im Leben, die uns auf das freundlichste berühren und uns manche Stunde angeregt verbringen lassen. Aber wenn sie scheiden, schliesst sich die Welle wieder über ihnen, das Leben nimmt seinen gewohnten Fortgang, als wären sie nie da gewesen und es bleibt nur zuweilen eine vorübergehende Erinnerung, die nichts in den Tiefen unseres Daseins verändert. Dagegen gibt es Erscheinungen, die, wenn sie in unser Leben treten, uns das Gefühl geben, als sei uns etwas lang Entbehrtes endlich zuteil geworden, eine Ergänzung unserer selbst, mit welcher für den, der »ewig strebend sich bemüht«, sich neue Sphären der Vervollkommnung öffnen und sich das Geheimnis wahrhaft edler, menschlicher Beziehungen erfüllt: miteinander und durchein- ander zu wachsen an ethischem Wert und den Inhalt des Lebens immer bedeutungsvoller zu gestalten. Solch eine Erscheinung war Wars- berg und das Scheiden einer solchen lässt eine tiefe Lücke, die nichts auszufüllen vermag. Die nun noch häufiger werdende Korrespondenz war ein halber Ersatz, sie wurde nun persönlicher

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als vorher und bezog sich vielfach auf seine neue Einrichtung in Venedig, wo er schon immer eine Wohnung gehabt hatte, weil er diese Stadt über alles liebte und sagte, dass sie ihm nie ein Leid getan ; für seine neuen Verhältnisse als General- Konsul, welche ein Geschäftslokal erforderten, war jene frühere zu klein und er mietete den ganzen Palazzo Modena, der den in Venedig seltenen Vorzug eines grossen, schönen Gartens hatte, wo im Schatten alter Bäume Marmorbilder standen, und dessen grosse Säle mit trefflichen Deckenmalereien geschmückt waren.

Da ich in dem folgenden Sommer meine ge- wöhnliche Sommerreise nach Versailles zu Olga durch Deutschland nehmen wollte, um in Mün- chen die Ausstellung zu sehen und dann meine letzte überlebende Schwester in Ems zu besuchen und geschrieben hatte, dass ich deshalb über den Brenner reise, so erhielt ich eine dringende Einladung von Warsberg, nicht so nahe an Venedig vorüber zu fahren, ohne ihm einen Be- such zu machen und ein paar Wochen bei ihm zu verweilen. Nach einigem Bedenken nahm ich an, da ich mich innig freute, ihn wiederzusehen, und fuhr Ende Mai über die lange Eisenbahn- brücke der Lagunen, der herrlichen Stadt ent- gegen, die ich seit vielen Jahren nicht gesehen hatte. Am Bahnhof empfing mich der gute Freund und führte mich in seiner Gondel zu dem herrlichen Palazzo Pisani am Canal grande, wo seine bisherige venetianische Wohnung im .dritten Stock war, vor welchem sich eine breite

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Terrasse hinzieht, von der man die herrlichste Aussicht auf die stolzen, architektonisch so zaube- rischen Paläste hat, die sich in der weiten Wasserfläche spiegeln. Er führte mich gleich in den schönen mit edlem Kunstsinn geschmückten Räumen umher und ich empfand alsbald die Gewissheit, dass sich hier Stunden reinsten Ge- nusses verbringen lassen müssten. Ich fand auch Warsberg etwas wohler und heiterer als in Rom, und es Hess sich alles so freundlich und glück- lich an, dass ich dem Schicksal im Herzen dankte, welches mir am Lebensabend noch eine so seltene Freundschaft unter so schönen Be- dingungen geschenkt hatte.

Am Abend geleitete er mich in ein ihm be- freundetes Haus, wo er öfter seine Abende zu- zubringen pflegte und hier, wo ich ihn zuerst in einem grösseren Kreis sah, fiel es mir auf, wie sehr er unter all den anderen Männern das Inter- esse auf sich zog, obgleich er, nach gewöhnlichen Begriffen, weniger schön und äusserlich bevor- zugt war, als manche der Anwesenden. Es war bei ihm, wie es bei sehr bedeutenden Menschen zu sein pflegt : es geht eine Wirkung von ihnen aus, ein magnetisches, geistiges Fluidum, welches, ohne dass sie es wollen und suchen, die ver- wandten Seelen anzieht. Aus all dem gewöhn- lichen Geplauder der Salon-Konversation heraus sehnte man sich nach einem Wort des bleichen, kranken Mannes, und wenn er sprach hörte man nur auf ihn und hätte immer weiter hören mögen, besonders wenn er vom Orient erzählte. Nach

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einem solcher Abende in seine Wohnung zurück- gekehrt, verweilten wir noch lange in lauer Mai- nacht auf der herrlichen Terrasse im angeregten Gespräch. Unten auf den ruhigen Wassern des Kanal grande glitten noch einzelne Gondeln da- hin, nur durch ihr kleines Laternchen verraten, das wie ein feuriges Auge heraufblickte, gleich- sam lauernd, ob kein Verräter das zu geheim- nisvoller Tat eilende Fahrzeug erspähe. Oben am Himmel glänzten Myriaden Sterne ; die phan- tasievollen Paläste, welche den Kanal einfassen, lagen in nächtliches Dunkel gehüllt. Plötzlich erhob sich vom jenseitigen Ufer eine herrliche Tenorstimme und sang eine reizende italienische Cantilene voll süsser, wehmütiger Lieblichkeit in die Zaubernacht hinaus. Warsberg schilderte mir in bewegten Worten seine Vorliebe für Venedig und ich stimmte voll Begeisterung ein und sagte endlich, wie ich der allgemeinen An- nahme nicht beipflichten könne, dass der Süden den Menschen mit zu starken Fesseln an das Leben bände, und wie es mir gerade eine seiner schönsten Wirkungen schiene, dass er die Seele so zur Harmonie stimme, Natur und G^ist so in Einklang setze, dass der Tod wieder zum idealen Genius mit der umgekehrten Fackel werde und man ohne Widerstreben bereit sei, sich in die unsägliche Harmonie des Daseins aufzulösen, während der Norden mit seinem dunkeln Drang nach dem unerreichbaren Ideal, in der ewigen Zerrissenheit zwischen Wunsch und Erfüllung den Tod als den bittern Trank empfinde, der

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die Unbefriedigtheit des Lebens endet. Warsberg schwieg eine Weile, dann sagte er: »Sie haben recht«. Kam ihm in dem Augenblick die Ahnung, dass gerade in Jahresfrist der milde Genius auch ihm, dem Griechen, die Fackel löschen werde? Ich weiss es nicht, aber wäre sie mir gekommen, die unsägliche Schönheit dieser Zaubernacht hätte sich mir in bitteren Schmerz verkehrt, denn was ich gesagt hatte, galt nur den Sterbenden, nicht den Überlebenden. Doch sollte diese schöne, ernste Stunde noch heiter enden. Eben als wir die Terrasse ver- lassen wollten und uns gute Nacht wünschten, um ein jeder in seine Zimmer zurückzugehen, erschien ein mir bisher noch unbekannter Be- wohner des Hauses, nämlich eine grosse Katze, die, wie ich nun erfuhr, mit von Corfu herüber- gekommen war. Sie sprang auch mit der vollen Keckheit eines sich zu Hause fühlenden, ver- wöhnten und kapriziösen Kindes umher, und ehe wir es uns versahen, hatte sie eine kleine Vase von ihrem Postament herunter geworfen, deren Scherben nun den Boden bedeckten. Warsberg wurde nicht nur nicht böse, wie ich ihn später, ungeschickten Dienstboten gegenüber, habe wer- den sehen, sondern er nahm die Katze auf den Arm, liebkoste sie und gab ihr hundert Namen mit so zärtlich liebevollem Ton, wie ich ihn noch nie hatte sprechen hören. Ich beobachtete ihn still und freute mich ihn einmal so ganz un- mittelbar als Gefühlsmenschen zu sehen, in einem Augenblick, wo kein Überwiegen des Intellekts

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und keine konventionelle Form den reinen Aus- druck des Gemüts störte.

Mehrere Monate nachher schrieb er mir ein- mal bei einer besonderen Veranlassung, dass er es gern habe, nicht ganz gekannt zu sein, dass er in der Welt eine Maske trage und dass selbst in seinen intimeren Beziehungen niemand den Grund seines Wesens kenne. Es komme ihm vor wie eine Demütigung, sogleich erkannt zu sein, selbst seiner Mutter habe er dieses Vorrecht nie gewährt. Er schloss mit den Worten: »Ich will gefürchtet, nicht geliebt sein und so über Euch allen schweben, wie ein antiker Tyrann. Frei steht es Euch dann, mich hinterrücks um- zubringen.«

Ich musste herzlich über dies doch halb im Scherz gesagte Paradoxon lachen und schrieb ihm in meiner Antwort von dem Eindruck, den mir jene Nachtscene mit der Katze gemacht und wie ich dabei einen tiefen Einblick in die grosse Liebesfähigkeit seines Herzens ge- tan hätte. Er schrieb mir darauf wieder: »Die Katzen liebe ich wirklich sehr, aber wissen Sie warum? Weil sie griechisch-klassisch anmutig, d. h. graziös sind. So sind es die Bildwerke des Phidias, die Grabsteine von Athen, die antiken kleinen Terrakotten und die Vasengemälde. Von lebenden Wesen sah ich so nur die Fanny Eisler und hörte die Louise Neumann. Die rührte mich auch im Lustspiel bis zu Tränen.

Er konnte nicht so bald von dieser komischen Grille des UnerkanntseinwoUens abkommen, und

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schrieb mir noch mehrere Male Erklärungen darüber. Ich antwortete ihm endlich: »Ihrer Tyrannei unterwirft man sich gern, nur hüten Sie sich, die Katzen zu liebkosen, wenn sie un- erkannt bleiben wollen. Es gibt solche Augen- blicke, die Verräter sind, und warum wollten Sie diese Augenblicke verdammen, in denen die Augen der Sterblichen plötzlich hellsehend werden und den in die Menschengestalt exilierten Gott erkennen? Solche Augenblicke wie der unter der Pinie auf Ithaka, wo Sie wahrnahmen, dasis Sie Zeus die Hand gereicht.«*)

Ich wohnte noch dem Umzug in den Palazzo Modena bei, dessen Einrichtung Warsberg selbst leitete. Es war keine kleine Aufgabe, den drei- stöckigen Palast mit den grossen Sälen, den vielen Zimmern, die noch dazu in vernachlässigtem Zu- stand waren, so künstlerisch und edel vornehm einzurichten, wie es sein ästhetischer Sinn ver- langte. Diese Beschäftigung nahm, neben seinen amtlichen Arbeiten, denen er mit seinem strengen Pflichtgefühl vor allem oblag, seinen Tag in Anspruch und erst gegen Abend gönnte er sich Ruhe und Erholung in einer Gondelfabrt, wobei ich ihn begleitete. Oft war er so müde und abgespannt, dass ich schweigend neben ihm sass und ihn dem Halbschlaf überliess, der ihn be- fiel. Aber wenn er sich wohler fühlte und in der Stimmung für heitere oder ernste Gespräche

*) Reizende kleine von Warsberg erfandene Erzählung, seinem »Ithaka« eingeflochten.

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war, dann gehörten diese Gondelfahrten zu den schönsten Stunden meines Aufenthalts dort. Denn es gibt wohl kaum etwas Poesievolleres als mit geist- und gefühlvollen Menschen in einer Gondel über die Lagunen hinzugleiten, den ewig neuen Reiz der Lichteffekte auf den Wassern, den herrlichen Palästen, den oft so malerischen engeren Kanälen mit ihren Brücken, und die träumerische Anmut der Inseln, welche sich wie eine fata morgana aus den Wassern erheben, kurz das ganze originelle Leben dieser einzigen Stadt zu geniessen.

Ich musste endlich scheiden und meine Reise nach Norden fortsetzen, musste dem guten Freund aber versprechen, auf der Rückreise wieder bei ihm einzukehren. Ich schrieb ihm dann ganz entrüstet über den Norden, wo mich trüber, grauer Himmel und feuchte, kalte Luft empfangen hatten, so dass ich wieder auf das lebhafteste den Sehnsuchtsdrang begriff, der von jeher die Völker und die einzelnen aus den nordischen Nebeln nach der sonnenverklärten Schönheit des Südens gelockt hat. Warsberg erwiderte: »Ich freue mich, dass Sie wie ich nordensmüde sind. Ich möchte nicht einmal mehr nach Wien reisen müssen.« Leider wurde ihm aber die für ihn so notwendige Ruhe in seinem neuen, schönen Heim nicht zuteil, Er musste nach Osterreich und schrieb mir von da ganz bekümmert, dass er im Oktober aber- mals eine Orientreise der Kaiserin geleiten müsse und er habe sich so gefreut, nun gerade diesen,

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in Ober-Italien so schönen Monat, in seinem mit der grössten Mühe eingerichteten Hau^e in Venedig zubringen zu können. Mich bekümmerte diese Nachricht auch sehr, denn ich wusste, wie diese neue Anstrengung ihm schaden würde und wie nur ein geregeltes Leben in der schönen Ruhe seines Heims sein gefährdetes Dasein noch auf viele Jahre hinaus erhalten könnte. Leider konnte er sich nicht entschliessen, seine so wohl begründeten Besorgnisse der Kaiserin mitzu- teilen, sie würde sonst gewiss eingesehen haben, dass sie mit dieser Reise das Verhängnis herauf beschwor, welches ihr einen wahrhaftergebenen Anhänger und so vielen einen teuren Freund raubte. Aber die Menschen achten zu wenig auf die warnenden Stimmen, die sich in ent- scheidenden Augenblicken in der eigenen Brust erheben, und keine zu missachtende Orakel sind. Man ist immer nur zu sehr geneigt zu denken, diesmal werde das Schicksal noch so vorüber gehen, werde uns noch verschonen, oder der günstige Augenblick werde wiederkommen und das Glück werde uns sich neigen, damit wir es erfassen könnten. Erst wenn das Unwiderruf- liche eingetreten ist, beseufzen wir zu spät unser Versäumnis.

Während der Reise erhielt ich nur einmal eine kurze Mitteilung aus Corfu, aber von anderer Seite aus Venedig die eines Briefes an den ihm treu ergebenen ersten Sekretär des General-Konsulats, worin er seine baldige An- kunft verkündete und schrieb : »Ich bin mit

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meiner Kraft zu Ende. Sie haben keine Vor- stellung von den Anstrengungen dieser Reise. Alles lag auf mir, niemand sonst ordnete etwas an. Ich will sehr langsam durch Italien zurück reisen um im Alleinsein mich auszuruhen.«

Die Rasttage, die er sich gönnte, schienen ihm auch gut getan zu haben, denn er schrieb mir von Rom aus, wohin ich noch nicht zurück- gekehrt war, nur ganz kurz: »Ich fühle mich doch so weit ganz gut, dass ich hoffe, noch etwas erleben zu können. Denken Sie, wenn es eine Episode aus dem 3ten Teil Ihrer Phädra wäre? Diese Hieroglyphen sind aber nur für Sie.« Natürlich erregten diese Worte meine Neugier auf das höchste und ich konnte bei dem Bemühen, dem Rätsel auf die Spur zu kommen, nur auf eine Heirat schliessen. In meiner Antwort fragte ich daher scherzend, ob es eine schöne Phäakentochter, oder wer sonst sei. Darauf erhielt ich einen in komischester Entrüstung geschriebenen Brief über diefürchter- liche Vermutung und dann die Versicherung, dass es etwas ganz anderes sei. Zugleich aber hat er dringend, da meine Rückreise nach Rom bevorstand, den Weg wieder über Venedig zu nehmen und eine Zeit lang sein Gast zu sein. Andere Freunde sollten auch kommen und er fügte hinzu : »Wenn solch ein Kreis beisammen ist, mein ich, müsste es doch Symposien geben, an die alle Teilnehmer noch lange mit Freuden zurückdenken würden.«

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Diese schöne Aussicht lockte mich denn auch wirklich Ende November von Mailand aus nach Venedig abzuzweigen und ich wurde wieder da- selbst auf das herzlichste empfangen. Es hatten sich schon einige andere Gäste eingefunden. Wars- bergs Bruder, der geistvolle Pole, Herr von Klaczko, den ich schon aus seinen früheren ausgezeich- neten Artikeln in der »Revue des Deux Mondes«, die ich noch mit A. Herzen zusammen gelesen hatte, kannte und Graf Lanckoroncki, der viel jüngere Freund Warsbergs, den ich schon in dem Winter in Rom in des letzteren Gesellschaft hatte kennen und schätzen lernen, der aber leider nur wenige Tage blieb, da er im Begriff war, eine grosse Reise nach Indien anzutreten. Auch Warsberg musste seine Gäste auf einige Tage verlassen, da ihm die ehrenvolle Einladung zuge- kommen war, in Miramar mit dem österreichischen Kaiserpaar das Fest der 44jährigen Regierung des Kaisers zu begehen, das dort in aller Stille nur im engsten Hofzirkel gefeiert wurde. Er kam sehr heiter von dort zurück, erging sich im Lobe des kaiserlichen Paares und erklärte mir nun auch die Bedeutung jener Hieroglyphen, deren Deutung meinerseits ihn so entrüstet hatte, die aber nun kein Geheimnis mehr zu sein brauchten. Es war ihm nämlich der Auftrag geworden, der Kaiserin auf Corfu eine Villa zu bauen auf einem der schönsten Punkte der Insel. »So haben Sie mir doch wirklich mein Prog- nostiken in dem 3. Teil der Phädra gestellt«, sagte er und erwähnte dann noch einmal die

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»schauderhafte« Vermutung, zu welcher mich seine rätselhafte Andeutung geführt hatte. So herzlich ich immer über diese seine Entrüstung lachen musste, so konnte ich mich doch nicht über den Auftrag freuen, denn ich sah voraus^ dass bei dem Eifer, mit dem er ihn erfasste und der Anziehungskraft, die er auf seine künstlerische Phantasie übte, er seine schwachen Kräfte über- bieten würde. Ich sagte ihm, ich wollte ich hätte ihm ein anderes Prognostikon gestellt und ganz war auch er nicht frei von dem Gefühl^ dass es verhängnisvoll für ihn werden könne^ aber es reizte ihn zu mächtig, seinem künst- lerischen Verstehen und seinem Schönheitssinn in einer grossartigen Schöpfung ein Denkmal zu setzen. In seiner Natur lag es, sich nach grossen Aufgaben zu sehnen, denn es wohnten zwei Seelen auch in seiner Brust und neben dem in einsamen Gedankenreichen sich glücklich fühlen- den Weisen war auch der ehrgeizige Mann, der gern in das grosse Getriebe des Staatenlebens mit eingegriffen und seinen starken Willen wie seine Einsicht geltend gemacht hätte. Auch jetzt in Venedig war er gesonnen, das Konsulat aus der untergeordneten Stellung, in der sein Vorgänger es gelassen, zu politischer Bedeutung zu erheben und die noch immer etwas gereizte Stimmung dort durch liebenswürdiges Entgegenkommen zu versöhnen. Was ihn aber dazu trieb, sein Haus gleich in glänzender Weise der Geselligkeit zu öffnen, war nicht bloss der Wunsch als Staats- diener hier nützlich zu sein, sondern auch das

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Vergnügen, welches er selbst daran hatte, seine schönen Gemächer im Lichterglanz strahlen zu lassen, an seiner reich besetzten Tafel ausge- zeichnete Gäste (so u. a. Sir Henry Layard, den ehemahligen Gesandten in Konstantinopel, jetzt in Venedig lebend, den Dichter Mr. Browning und viele andere) zu speisen und eine elegante Menge durch die prächtigen Säle wandeln zu sehen. An einem der ersten dieser geselligen Abende, wo die ganze vornehme venetianische Gesellschaft versammelt war, sah ich da auch Don Carlos, den spanischen Thronprätendenten, der in Venedig lebt und den Warsberg, trotz- dem er ihm nicht sympathisch war, seiner Be- ziehung zu Österreich wegen, bitten musste. Er stellte mir denselben vor, zum Glück gleich- zeitig einer sehr gewandten Weltdame, die bei mir stand und alsbald die Unterhaltung zu meiner Erleichterung übernahm, denn ich hätte absolut nicht gewusst, was ich mit diesem, seinem Schillerschen Namensvetter so unähnlichen, gar keine Sympathie erweckenden Manne, hätte sprechen sollen. Warsberg selbst verhielt sich bei solchen Festen meist still, weil seine körper- lichen Leiden ihm jeden Genuss erschwerten und es fiir ihn Anstrengungen waren, die er meist mit schlaflosen Nächten und völliger Erschöpfung zahlte, aber Freude machte es ihm doch; es war das Künstlerische dabei, der schöne Glanz und die Fülle des Lebens, was ihn anzog, als Maler wäre er vielleicht ein Paul Veronese geworden. Und doch war er auch wieder ein tief ver-

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ständnisvoller Bewunderer der griechischen Kunst und ihrer erhabenen, seelenvollen Ein- fachheit und es war meine grösste Freude, wenn das Gespräch sich darauf wandte, denn da hatte er so viel neue und geistvolle Dinge zu sagen, dass es ein wahrer Genuss war, ihm zuzuhören. Eines Abends zitierte er uns ein Wort Thor- waldsens, welches Herr von Prokesch ihm mit- geteilt hatte, dass die griechische Skulptur so besonders reich im Genre gewesen sei, dass sie das vor anderen auszeichne und ihren hohen Reiz bilde. Er bemerkte dabei, dass er eine Abhandlung über das Genre in der griechischen Kunst geschrieben habe, die zum Druck fertig sei und setzte hinzu: »Die Akademiker freilich werden dazu den Kopf schütteln.« Nachher führte er mich zu einer Zeichnung, die er in Athen nach einem Grabmal hatte machen lassen und sagte: »Sehen Sie, das ist griechische Kunst.« Es ergriff mich wieder wie schon früher bei ähnlichem, wahrhaft Griechischem, z. B. bei dem Relief von Orpheus und Euridiee in der Villa Albani in Rom tiefe Rührung über die voll- kommen einfache Natürlichkeit des Ausdrucks, die dem starren Marmor Geist und Gemüt ein- haucht und die Handlung, selbst der Götter und Heroen, zu einem schlicht menschlichen Vor- gang macht. Für Warsberg war es mit der antiken Kunst wie mit der Natur, von der er einmal sagt: »Es ist unwahr, die Natur nur formell, nicht auch eine Seele in ihr zu sehen. Sie atmet und spricht wie alles Irdische.« Die

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Schönheit einer orientalischen Landschaft, eines antiken Reliefs, eines Menschen jener begnadeten Rassen verrieten ihm die Seele der antiken Menschheit, erklärten ihm Homer und die alten Tragiker. Die Schönheit eines jungen Burschen, der ihm zum Führer diente, rief ihm die Verse des Euripides in den Bacchantinnen, welche den Dyonisos schildern, ins Gedächtnis und als er denselben Typus bei einer Terracottastatue und auf einer Münze wiederfand, schrieb er: »So werden diese Verse ganz natürlich, wie jene schönen Münzenbilder begreiflich. Die einen wie die anderen sind nur Nachahmungen der Natur, nicht wie unsere Schulen es glauben und die Kunstakademien es lehren, ideale Schöpfungen, gleichsam ausgebildet wie Faust seinen Homunculus erschaffen will. Darum sind sie so lebendig und berühren uns so anmutig, während die nach antiken Mustern ausgeführten Kunstwerke uns kalt lassen und steif und leblos scheinen. Daher freuen uns auch solche Be- gegnungen in den antiken Ländern mit dem klassisch gebliebenen Leben so sehr, weil sie uns die ganze ursprüngliche Realität, das echt Humane der alten Kunstwerke und Dichtungen dartun. Das ist der doppelte Vorteil der Reisen auf dem klassischen Boden, dass sie uns zugleich die Wahrheit der Kunstwerke erschliessen ; durch die Kunstwerke aber auch den ganzen schönen Inhalt der Landschaften zu erkennen und nachzufühlen geben. Klassisch schön das müssen wir uns diesen gewonnenen Über-

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Zeugungen gegenüber eingestehen werden unsere eigenen Kunstschöpfungen und Dich- tungen erst wieder sein, wenn wir wieder ein- mal in solchen schönen Landen und mit Menschen wie dieser Antoniades (so hiess jener Bursch) alltäglich leben werden. Goethe hat sein Siegel auf diese Frage gedrückt: »Natur und Kunst nicht mehr zu trennen.«

Auf seinen Wunsch verschob ich meine Ab- reise bis nach den Weihnacht- und Neujahrs- festtagen. Den Weihnachtsabend verbrachten wir bei Freunden von ihm in gemütlicher Weise. Warsberg war besonders ernst und ge- dankenvoll an dem Abend, und als wir um Mitternacht noch alle beim Tee zusammen- sassen und plötzlich die grosse Glocke von San Marco langsam und feierlich durch die Nacht schallte und die Gläubigen zu der Christmesse einlud, da sagte er leise wie für sich hin^ »So hat sie auch einst dem Marino Falieri ertönt.« Dass ihm nun gerade wieder die schwermütige Erinnerung an das tragische Ende dieses Dogen an dem heiteren Festabend kam, war sicher ein Beweis, dass Todesahnungen, mehr als seine Umgebungen es glaubten, oft durch seine Seele zogen und vielleicht dachte er in dem Augen- blick, dass diese Glocke ihm nicht wieder zum Feste läuten werde.

So ging nun das Jahr 88 zu Ende, dem ich die persönliche Bekanntschaft dieses seltenen Menschen verdankte, dessen Freundschaft mir wie eine Blume am Grabesrand erblüht war, die

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wie ich mit Recht hoffen durfte, auch über meinem Grabe noch fortblühen werde. Am 2. Januar schied ich von Venedig, um in mein römisches Heim zurückzukehren. Das Scheiden wurde mir diesmal nicht so schwer, da baldiges Wiedersehen in Aussicht stand, weil er in Kürze nach Corfu wollte, um die ersten Anordnungen zum Bau der kaiserlichen Villa zu treffen und auf dem Wege kurze Rast in Rom zu halten gedachte. Anfang Februar erschien er schon unangemeldet und verbrachte einen gemütlichen Abend bei mir. Den Tag darauf waren wir beide zu Donna Laura Minghetti, welche ihm auch eine werte Freundin war, zum Diner ein- geladen. Lange hatte ich ihn nicht so gemüt- lich, liebenswürdig, so geistvoll ergiebig ge- sehen, wie an diesem Abend in unserem har- monischen Trio. Das Gespräch wendete sich von heiter anmutigen Dingen, von künstlerischen Gegenständen zu den ernstesten Lebensfragen. Er erwähnte dabei eines mystischen Philosophen, den er über alles schätzte, und als er den Namen Du Prel nannte, erinnerte ich mich einer Stelle aus einem seiner Briefe vor unserer persönlichen Bekanntschaft, in der er sagte: »Es sollte sich heutzutage mehr um eine Philosophie des Menschen, um eine Kenntnis seiner selbst, als um Menschheit, Natur und Welt im allgemeinen handeln. Erkenne dich selbst, damit, so alt der Rat ist, geben sich nur die Wenigsten ab und mir scheint, da wäre ebensoviel als in den Gestirnen, in Wasser, Erde und Feuer zu ent-

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decken. Ein Philosoph, Baron du Prel, wandelt auf diesen Wegen. Sie streifen daran, sind sich der Aufgabe aber noch nicht ganz bewusst.« Von diesem Philosophen sprach er nun an dem Abend und sagte, dass derselbe behaupte, unser Selbstbewusstsein erschöpfe durchaus nicht den ganzen Inhalt unseres Wesens, welches noch einen transcendentalen Teil enthalte, nicht duali- stisch vom ersteren getrennt, sondern monistisch mit ihm verbunden, wie eine zweite Seele, deren Fähigkeiten weit über das Tagesbewusstsein hin- aus gingen. Du Prel stütze sich dabei auf Kant und hebe die Wichtigkeit hervor, diese zweite Seele zu erkennen und ihre durchaus individuelle, allen pantheistischen Ideen von Fortdauer entgegen- gesetzte Existenz zu beweisen, die, wenn aus ihren Schranken befreit, das Unvergängliche sein müsse. Ich stimmte dieser Ansicht insofern bei, als es mir schien, dass diese zweite Seele in uns entbinden, ungefähr dasselbe meine, wie das, was ich mir längst so ausgedrückt hatte: den Gott in uns erlösen. Dass diese Aufgabe allein dem Leben Wert verleihe, damit war ich völlig ein- verstanden, und dass das einmal Geist Gewordene in irgend einer Weise ewig sei, glaubte und glaube ich auch. Warsberg sprach lange über diese Ansichten ; nie war er mir liebenswürdiger erschienen, als an jenem Abend, es lag eine sanfte Verklärung über seinem Wesen, er war wie ein Scheidender, der weiss, dass er den Freunden nur sichtbar entschwindet, dass er aber in ihrer Liebe seiner Unsterblichkeit sicher ist.

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Die Nachrichten, die ich aus Corfu erhielt, bestätigten die Sorge, mit der ich ihn diese Aufgabe übernehmen und die Reise hatte machen sehen. Eine Erkältung hatte ihm zu dem chro- nischen Katarrh noch eine Bronchitis mit Fieber gegeben, dabei war er unausgesetzt tätig, die bezaubernde Schöpfung, die er plante, vorzu- bereiten, kehrte nur halb geheilt nach Neapel zurück, war dort auch unausgesetzt beschäftigt und erschien endlich wieder zu kurzer Rast in Rom. Sein Aussehen war aber so verändert, dass es die bangste Besorgnis einflösste und ich nur noch eine Hoffnung hatte, dass er sich jetzt in der vollständigen Ruhe seines venetianischen Heims werde pflegen und wieder erholen können. Aber auch das sollte nicht sein. Kaum war er dort angelangt, so rief ihn ein Telegramm der Kaiserin nach Wien und trotz des vom Arzt beglaubigten Protests musste er in der noch schlechten Jahreszeit in das nordische Klima reisen. Natürlich wurde er todkrank in Wien, ich bekam fortwährend durch die Freunde Nach- richten, leider immer der schlimmsten Art, aber Anfang Mai schickten ihn die Ärzte, die wohl am Ende ihrer Weisheit waren, wie sie dann zu tun pflegen, nach Venedig zurück. Ich wäre gern gleich hin geeilt, um ihn zu pflegen, aber ein Freund und eine verwandte Dame waren mitgekommen und das hielt mich zurück. Doch erhielt ich beinah täglich Nachricht durch den ihm innigst ergebenen De Rosa, ersten Sekretär des Konsulats, einen vortrefflichen Mann, in den

Mey se nbug , IV. aa

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auch Warsberg das grösste Vertrauen setzte. Auf einen Brief, den Warsberg ihm an mich diktiert hatte, worin er sagte, dass sein Leben hart gewesen sei, antwortete ich ihm : :^ Sein Sie hohen Mutes, lieber Freund 1 Ja, Ihr Leben ist hart gewesen, aber es ist auch schön gewesen, wie wenig Leben, denn Sie haben an dem Born der ewigen Schönheit getrunken und wenn ich in Ihren Büchern lese von den Stunden, wo Sie im Orient einsam in den heiligsten Entzückungen mit dem Weltgeist verkehrten, dann finde ich Sie beneidenswert. Die Stunden der irdischen Qual sind hart und ich gäbe alles darum, könnte ich Sie davon befreien, aber Sie haben sich schon die Ewigkeit erschlossen und die Spur von ihren Erdentagen kann nicht mehr unter- gehen.«

Endlich kamen dann aber Briefe und Tele- gramme, die mich dringend aufforderten zu kommen, und so machte ich so schnell ich konnte meine Vorkehrungen für den Sommer, da ich dann jedenfalls von Venedig aus wieder zu Olga wollte und fuhr nach Venedig in schmerzlicher Spannung, ob ich den Freund noch am Leben finden würde. Am Bahnhof empfingen mich sein Bruder und der treue Rosa und sagten mir, dass er noch lebe, dass ich mich aber auf das Schlimmste gefasst machen müsse. Er hatte sich gefreut, als man ihm sagte, dass ich komme und hatte befohlen, mich gleich zu ihm zu führen. Ich fand ihn im Lehn- stuhl sitzend, die geschwollenen Füsse auf Kissen

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ausgestreckt, das Antlitz noch bleicher als früher, nur die Augen leuchteten von Geistesklarheit und auf seinen Zügen lag der Frieden der Über- winder. Es waren mehrere Bekannte im Zimmer, durch die geöffneten Fenster strömte liebliche Mailuft und die Wipfel der herrlichen alten Bäume seines Gartens schauten grüssend herein. Als man mich mit ihm allein Hess, sagte er: »Erlösung, Erlösung 1 Anderes können Sie mir nicht wünschen.« Ich musste ihm recht geben, wenn auch mit tiefem Schmerz; aber es hätte mir seiner und meiner unwürdig geschienen in diesen feierlichen Stunden, angesichts des grossen Lebensabschlusses, der unaufhaltsam heran schritt, eine eitle Hoffnung auszusprechen. Den Nachmittag verbrachten wir in lauter guten, sanften Gesprächen, bis ich zum Abendbrot in die unteren Räume, wo die übrigen Haus- bewohner versammelt waren, gerufen wurde. Warsberg sollte sich zur Ruhe begeben und ich sagte ihm daher gute Nacht, immer noch leise hoffend, dass bei der völligen Geistesklarheit, in der ich ihn sah, die Katastrophe noch hinaus- geschoben sein könne. Auch war die Art, wie er mir gute Nacht sagte, so freundlich, fast heiter, aus seinen Augen leuchtete so siegend seine Seele, dass ich wenigstens sicher auf ein morgen hoffte. Wir waren aber noch nicht lange unten beim Essen versammelt, als man uns wieder hinauf rief, vor allen den Arzt, der mit da war, weil der Kranke, indem er sich in sein Schlafzimmer hatte begeben wollen.

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zusammengebrochen war. Ich eilte mit den andern hinauf, denn es wäre mir unmöglich gewesen mich zur Ruhe zu begeben, so lange er noch da und das Unwiderrufliche noch nicht eingetreten war. Wir fanden ihn aber schon ruhig und bewusst in seinem Schlafzimmer im Lehnstuhl sitzend. Die Fenster waren offen und die Mainacht strahlte mit tausend Sternen über dem von ihm so geliebten Garten, in stiller Feier das grosse Mysterium erwartend. Ich ver- riet ihm meine Gegenwart nicht, weil ich dachte, es würde ihn beunruhigen, mich da zu wissen, da er mich nach der Reise ruhebedürftig wähnte. In solchen Augenblicken aber bewährt sich die Macht des Geistes über den Körper, man lebt nur mit der Seele, das Gesetz der Schwere ist aufgehoben, und wenn uns etwas von der Fort- dauer unseres geistigen Seins, unabhängig von der irdischen Hülle, überzeugen kann, so ist es eben in diesen Momenten. Ich setzte mich zu Raupten seines Lagers, so dass er mich nicht sehen konnte, die Hausgenossen alle, der Arzt und die barmherzige Schwester, welche die letzten Nächte bei ihm gewacht hatten, waren anwesend. Er sprach Verschiedenes mit klarer fester Stimme, verordnete, wie man die Nonne, deren Sorgfalt er lobte, belohnen solle, verlangte nach Tee, seinem Lieblingsgetränk, und sagte endlich mit dem Tone innigster Überzeugung: »Ich bin doch glücklich gewesen, es haben mich doch viele lieb gehabt.« Wer konnte bei dieser Geistesklarheit, bei diesem immer noch beinah

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kräftigen Sprechen und an alles Denken, an ein ganz nahes Ende glauben? Es war so feier- lich, so versöhnt, so erhaben dieses Sterben, wie das eines antiken Weisen. So müssen Sokrates und Seneca gestorben sein und es hätte mich nicht überrascht, wenn dieser letzte Grieche auch die Opferschale erhoben und Jupiter dem Be- freier ein Dankopfer dargebracht hätte.

Als die Glocke draussen Mitternacht ver- kündete, atmete ich fast auf in der Hoffnung, es könne uns noch ein anderer Tag geschenkt werden, und dann könne mein römischer Arzt kommen, den Warsberg sehr liebte und dem ich telegraphiert hatte, und dann könne am Ende noch Rettung werden. Ein sanfter Schlummer hatte sich auf ihn niedergesenkt. Ich war indes an das offene Fenster getreten und schaute in die Sternennacht hinaus; Zeit und Raum waren mir verschwunden und die Brücke wölbte sich, welche in die Ewigkeit, in das von der Erscheinung Losgebundene hinüber leitet. Schon schwebte auch der schöne ernste Genius heran, um den holden Zwillingsbruder Schlaf, abzulösen. Um zwei Uhr öffnete der Sterbende die Augen weit, sah wie überrascht auf seine Umgebung, dann kam ohne An- strengung ein kurzer Blutsturz und der treue Bruder, der ihn im Arm hielt und eine Hand auf sein Herz gelegt hatte, sagte nur: es ist vorbei und drückte ihm die müden Augen zu.

Ich hatte an den vielen Sterbebetten, an denen ich schon gestanden, nie so stark wie

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hier das beinah zweifellose Gefühl, dass sich da wirklich das Geistige aus den engen Schranken der Erscheinung befreit habe und in seine wahre Heimat zurückgekehrt sei, die zweite Seele, an die er mit Du Prel glaubte und die siegend über den „Erdengeist« aufstieg in die Freiheit. In edler verklärter Ruhe lag die ver- lassene Hülle da, diejenige eines Helden, der ihn ausgekämpft hat, den heissen Kampf des Daseins, immer mit den Waffen des edelsten Idealismus, welcher stets durch die Schwächen, die allem Irdischen ankleben, versöhnend hindurch brach. So ruhte sein Sterbliches von Blüten aller Art umgeben noch zwei Tage in dem von ihm ge- schaffenen künstlerisch prächtigen Heim. Erst als man ihn hinaustrug auf die Gondel, die ihn zur Bahn bringen sollte, um ihn nach Graz zu fuhren, wo er in der Gruft bei seinen Eltern zu ruhen gewünscht hatte, trat das volle Gefiihl des Verlustes und der Öde, die auf diese wie ein Traum verwehte Poesie des Palastes Modena folgen würde, in voller Stärke ein.

Aller Orten erhoben sich Stimmen, seinem Andenken den Tribut ehrender Sympathie zu zollen, ganz besonders war dies der Fall aus der Heimat seines Herzens, aus Griechenland. Die Welt hat heutzutage nicht mehr Zeit, den Geschiedenen jenen schönen Kultus zu weihen, wie die antike Welt es tat und von dem Warsberg so ahnungsvoll schön schrieb: »Kann dieser Totenkultus nicht ein instinktives Ver- stehen, das Ahnen einer Wahrheit sein, die

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noch verschlossen und vielfach bezweifelt, doch die Grundlage unseres ganzen Wesens ausmacht ? Solch ein Hügel, eine Säule, ein einfacher Stein, eine Inschrift, wahren dem Menschen über Jahr- tausende hinaus das Andenken bei den Nach- kommenden, in ihrer Erinnerung lebt er wieder auf, lebt geläutert fort. Immer reiner, immer makelloser werden seine Züge, alle Schlacken fallen ab, so dass zuletzt nur noch ein ideales Bild von ihm bleibt. Warum aber soll diese Unsterblichkeit, die ihm auf Erden wird, nicht auch in einer anderen Welt möglich sein? Wa- rum für den geistigeren Teil unseres Wesens, für die Seele, nicht das gelten, was unserem irdischen Andenken zuteil wird? Warum soll nicht vielleicht gerade dieses immer sich ver- vollkommnende Bild der Erinnerung, der gleich- zeitige Abdruck des inzwischen erlösten und verklärten Geistes sein?«

So wird auch er, geläutert von allen irdischen Mängeln, als ein ideales Bild in den Herzen derer, die ihn kannten, fortleben. In ihm starb ein Mensch, der durch seine innere Idealität berufen war, die höchste Aufgabe zu erfüllen, welche die Zukunft sowohl dem Individuum, wie der Menschheit, vorbehält, nämlich das Leben selbst zum Kunstwerk im vollendeten ethischen und ästhetischen Sinn zu gestalten. Dass es ihm nicht vergönnt war, diese Aufgabe ganz zu erfüllen, das war die Missgunst des Schicksals, welches es Sterblichen nur so selten vergönnt, eine ganz vollendete Existenz zu erreichen.

Gedachtes.

Heute wurde über die Tätigkeit von Paul Desjardin gesprochen und sie wurde verkleinernd kritisiert. Freilich kann er keine neue Religion gründen und ist vielleicht etwas klerikal, aber es ist immer etwas, wenn ein Mensch gut ist, Gutes tut, und seinen Mitmenschen ein hülf- reiches Wohlwollen zeigt. Das erwärmt die Herzen und treibt vielleicht mehr als eines, auch gut zu sein. Das Beispiel ist eine grosse Macht in* der Erziehung und dem menschlichen Ver- kehr. Taten Christus und Buddah im Grunde etwas anderes als das Beispiel einer erhabenen Persönlichkeit geben? Nur die Schwachen und die Ehrgeizigen haben daraus dogmatische Kirchen gemacht. Wer von denen hat es ver- standen, warum Christus sagen konnte, dass er Gottes Sohn sei? Sie haben das materialisiert, so wie sie die einfache Grösse seiner Lehren materialisiert haben. Gut zu sein, ist so natürlich, so einfach: das ganze soziale Problem bestände darin, die Verhältnisse zu schaffen, welche den Menschen erlaubten, gut zu sein. Ja, das ganze

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Problem des irdischen Lebens wäre gelöst, wenn es einem jeden möglich würde, aus sich selbst alles zu machen, was seiner Natur nach möglich ist; damit wäre alles erreicht, was die Unvoll- kommenheiten des Daseins auf dem Erdball zu erreichen erlauben.

Was aber die grossen Offenbarungen be- trifft, welche aus den Quellen eines ewigen Lichts zu kommen scheinen, die werden stets nur das Ergebnis der grössten Seelen, der reinsten Genien sein. Ja, Beethoven offenbarte eine neue Religion; ich fühle mich immer innerlich auf den Knieen, in seiner verklärten Welt, wenn ich ihn höre. Aber das ist zu er- haben für die Masse!

Das irdische Ich ist auch das Du, die |

universelle Einheit im Göttlichen, Erhabenen, |

daher ist auch das Mitleid das wahrhaft Ethische. Das Dichter-Ich ist das auch in anderer Form, d. h. die Welt der Ichs, welche der Dichter J

in sich trägt. Das Ich Nietzsches ist die Ver- neinung aller Ethik, denn es ist das Ich in seiner impotenten Vereinzelung, der Egoist, sei er auch noch so begabt.

Herr von Wolzogen sagt bei Gelegenheit einer Besprechung vom Buche des Grafen Go-

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bineau: »Jede Gesellschaftsbildung trägt in ihrem Bildungsferment schon den Todeskeim in sich, etwa wie jede Zeugung nach tief religiöser Auf- fassung den Samen jener ewigen Schuld des Lebens in sich trägt, auf welcher nach Schopen- hauer die Todesstrafe steht.« Ja, aber die Zeugung muss da sein, damit die Erlösung sein könne. Das ist der Sinn des christlichen Mythus. Christus musste geboren werden, um Erlöser werden und als solcher sterben zu können.

Nichts ist so reizend, als das erste Er- wachen des forschenden Geistes, sein Erstaunen über die Rätsel des Lebens und der Welt und die ersten Fragen, die er sich stellt. Ich empfand es eben mit inniger Freude, als ich, allein mit Olgas zwei jüngsten Kindern, in Versailles bei meinem jährlichen Sommerauf- enthalt ein langes Gespräch mit ihnen hatte. Da müsste die Erziehung ihre höchste Aufgabe sehen und bei solchen Fragen in sokratischer Weise zu eignen Antworten anregen, anstatt mit fertigen Sentenzen den suchenden Intellekt zu ersticken.

Ich antwortete einem Positivisten, welcher leugnete, dass die Keime zu geistiger und mora- lischer Entwicklung a priori in der menschlichen

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Natur lägen, und behauptete, sie seien nur Folge der Gemeinschaft und Gewöhnung: Gut geben wir zu, dass das Sittengesetz erst aus der Ge- meinschaft enstanden sei und sich dem Kausal- gesetz folgend mit der Geschichte entwickelte; für unser Verhalten ist das genügend, denn da gilt der kategorische Imperatif; sobald das In- dividuum sich einer Gemeinschaft anschliesst, übernimmt es die Pflicht den Gesetzen derselben gemäss zu leben. Dazu braucht von keinem metaphysischen Grund die Rede zu sein: der Grund der Verpflichtung ist die Gemeinschaft, und der Begriff der Verpflichtung entwickelt sich weiter im Individuum mit der Entwicklung der Gemeinschaft. Darauf beruht das Gesetz, be- ruht alles staatliche und gesellschaftliche Leben. Aber der Keim zum Begriff" der Sitte muss a priori da sein, ebenso wie der Keim zum Denken da sein muss. Aus nichts kann nichts entstehen. Die Möglichkeit zu geistiger und moralischer Entwicklung ist mit dem Organismus Mensch gegeben. Auf den untersten Stufen ent- wickelt sich der Keim nur erst in gröbster Weise, er wächst zu dem geistigen Wesen der Mensch- heit heran und statt von Gott auszugehen, erhebt er sich zum Göttlichen, d. h. zum Idealen. Doch schon in den höheren Tieren kann man durch Gewöhnung und Erziehung eine gewisse an das Geistige streifende Entwicklung bewirken, zu welcher der Keim aber da sein muss, sonst könnte es mit aller Mühe nicht dazu kommen. So er- zählte mir eine Bekannte, welche eine Vorliebe

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für Katzen hatte, dass sie, sobald sie eine Katze allein bei sich hatte und sich mit ihrer Erziehung beschäftigte, es durchaus möglich war, einen ge- wissen Grad von Verständnis und Kultur zu entwickeln. Überliess sie sie aber der Gemein- schaft mit anderen Katzen, so blieb der Keim eben unentwickelt, und die blinden Triebe herrschten vor. Man sprach bei der Gelegenheit von Caspar Hauser; eingeschlossen und allein blieb er ein stumpfes, tierähnliches Wesen, aber herausgezogen in die Gemeinschaft entwickelte sich alsbald die ihm innewohnende Möglichkeit. Das konnte ihm doch nicht plötzlich eingeblasen sein. Und die Gewöhnung selbst, woher kommt sie? Sie ist doch nur der sich immerfort ent- wickelnde und erweiternde Begriff des Unter- schieds von Gut und Böse, zu dem der Urgrund da sein muss in den weitesten Urfemen des Da- seins, wenn man will, aber doch da sein muss, gerade wie die Wurzel da sein muss, damit die Pflanze komme und wachse. Und das Genie kann es durch Gewöhnung erzeugt werden?

Meine Antwort an einen Zweifler, der mir schrieb, es sei eigentlich unnütz zu schaffen, da doch alles dem Nichts verfalle: Nein, teilen Sie die Werke in zwei Hälften ; die eine Hälfte, die nur von der Welt der flüchtigen Erscheinung handelt, verfällt dem Nichts wie alles, was nur Erscheinung bleibt, auch die Menschen. Die

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andere Hälfte aber, in welcher der Funke ewiger Schönheit glüht, verfallt nicht dem Nichts; sie hat sich eingereiht in den Accord der grossen Symphonie, welche im Grrunde der Dinge tönt, welche die wahren Künstlerseelen von fern in ihren Träumen ahnen und welche sie hören werden, wenn die Form zerbrochen ist und sie es erreicht haben, nicht mehr wiedergeboren werden zu müssen. Die Inder haben das alles schon gewusst.

In der Ironie befreit sich das Individuum von seiner Entrüstung über die Unnatur der Welt, im Humor erhebt sich das Individuum über sich selbst. Beide sind sittliche Äusserungen; jene hat es nur mit der Lüge und den Kontrasten von Schein und Wesen, dieser mit der Ver- söhnung von Schmerz und erhabener Heiterkeit zu tun. Daher ist in jener Bitterkeit, in diesem verzeihende Güte.

Im Juni 1890, als ich im Begriff war, Italien für den Sommer zu verlassen, war ich noch ein- mal in der Villa Mattei, wo ich wonnevolle Stunden der Einsamkeit im FrühHng zu geniessen pflegte, da ich durch die Güte des Besitzers immer freien Zutritt darin hatte. Es kostete mir jedes Jahr einen grossen Entschluss, Italien zu verlassen, dessen zaubervolle Schönheit mich

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dann erst ganz in ihrer Vollendung umfing, wie ich denn auch der Ansicht bin, dass die meisten Reisenden Italien nur halb kennen, weil sie fort- gehen, wenn der Höhepunkt der Schönheit an- fängt. An jenem Morgen nun umfing mich wieder die Macht, von der Hafiz sagt:

»Denn dass der Schönheit Alkoran Allmächtig sei, das ist kein Wahn« und umflutet von dem reinen Licht und still beglückt von dem Einssein mit dieser seligen Natur, schrieb ich folgende Verse in mein Tagebuch :

»Teures Lichtland, deinen Frieden Senkst in meine Seele du; Wenn ich fern von dir geschieden. Seh ich träumend deine Helle, Trägt mich der Erinnrung Welle Deiner heil'gen Ruhe zu.

Mit der unnennbaren Milde, Wie sie Phidias erfand Für die göttlichen Gebilde, Ruhst du in der Schönheit Wonne Unbekümmert gleich der Sonne, Ob dein Segen auch erkannt.

Stille wird des Geistes Sehnen Ruhe ich an deiner Brust; Nein, Vollendung ist kein Wähnen, Was wir im Symbol hier sehen Wird einst Wirklichkeit erstehen Voll erkannt und voll gewusst.

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In eben dieser Villa Mattei schrieb ich am Charfreitag: Wie fern ist Christus! Nie habe ich es so gefühlt! Eine rührende Gestalt der Legende und der Kunst, aber als Wirklich- keit fern und sein Opfertod nur als Symbol noch nahe! Heiliger Frieden der Natur heute, wie viel bedeutsamer und schöner als das Gewühl in den Kirchen.

Ich habe auch einst am Fuss des Kreuzes das Gefühl der Gemeinschaft, die weltüber- windende Kraft der Entsagung und der auf- opfernden Liebe gesucht und das Bild des er- habenen Märtyrers am Kreuz ist mir teuer und tief bedeutungsvoll geblieben. Aber den his- torisch gewordenen Kirchen mit ihren Dogmen kann ich nicht mehr beipflichten, so wenig wie man jetzt noch den Dionysos-Kultus mit feiern könnte, trotzdem der Dionysos-Mythus gewiss einer der schönsten ist und noch immer das vollkommenste Bild für unsere Einsicht in das Wesen der Welt gibt. Zu dem Gekreuzigten der Kirchen, dem Gottessohn, gehört der dogma- tische Vater, gehört die Hierarchie in Kirche, Staat, Gesellschaft. Der einfache Sohn des Zimmermanns von Nazareth, der Schüler der Essäer, welche indische Weisheit in den semi- tischen Monotheismus hinüber brachten, wollte nichts weniger als eine bloss mystische Gleich- stellung der Menschen; er bekämpfte den jüdischen Hochmut mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter ; er demütigte die Über- hebung der Pharisäer und Schriftgelehrten bei

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unzähligen Gelegenheiten, er sagte dem reichen Jüngling der nur Geisterschaum schlürfen wollte ohne wirklich zu entsagen: »gehe hin, verkaufe was Du hast und gib es den Armen, dann folge mir nach.« Als er sah, dass der Kelch nicht an ihm vorüber gehn konnte, dass es gestorben sein musste um seiner Überzeugung willen, da starb er, indem er seinen Schülern sein Beispiel zur stärkenden Erinnerung hinter- liess. Um seine Gestalt schuf die gläubige ver- ehrende Liebe, die dichtende Phantasie und das Bedürfnis, die Idee zu incarnieren, den Mythus und das Symbol. In den ersten Liebesmahlen und dem Glaubensmut des ersten Märtyrers kamen Mythus und Symbol zum ergreifenden Ausdruck. Dann aber baute die egoistische weltliche Be- rechnung des Priestertums die Kirche mit ihren irdischen Tendenzen darauf auf und machte Mythus und Symbol zur Lüge. Anstatt die Menschen in der Annahme zu bestärken, dass Einer ein für allemal die Erlösung der Mensch- heit vollzogen habe, sollte man es immer aufs neue und immer eindringlicher lehren, dass jeder sich selbst erlösen muss von Sünde und böser Neigung, jeder aus sich selbst das Höchste machen muss, dessen seine Natur fähig ist und auch den andern, den Schwachen, mit Güte und Beispiel helfen, es zu tun. Das war die Religion, die Jesus meinte, mit der nicht bloss ein einziges Volk, mit der die Menschheit sich durchdringen und sich zu ihrem idealen Aus- druck erheben sollte. So steht seine Gestalt in

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ihrer Vollendung vor uns und fordert uns zur Nachahmung auf. Er hat es ausgesprochen, das grosse eine Wort, welches alles in sich schliesst : Nicht im Tempel, nicht auf dem Berge, im Geist und in der Wahrheit beten, leben und sterben. Christliche Welt, betest und lebst du so?

Wie wenig Menschen sind Schatzgräber!

In dem trefflichen Buche Oldenbergs über Buddha findet sich folgende Stelle über das Nirwana: »Das Denken, will Säriputta sagen, ist hier an einem unergründlich tiefen Geheim- nis angelangt. Nach einer Enthüllung des- selben soll es nicht verlangen*; der Mönch, der nach seiner Seelen Seligkeit strebt, hat anderes, dem er nachforschen mag.« Wer aber eine Zu- kunft scharf und klar verneinte, würde anders reden. Vor dem Denken, welches ein ewiges Sein als ein begreifliches, zu bejahendes, an- zunehmen zögert, flüchten sich das Verlangen und die Hoffnung eines Seins, welches höher ist als Vernunft und Begreifen, hinter den Schleier des Mysteriums.

In der Republik Venedig verurteilte man selten auf Grund von Anklagen über Vergehen

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gegen die Religion. Einmal erschien ein der Ketzerei Angeklagter vor dem Rat der Zehn ; er war beschuldigt worden, dass er ketzerische Ansichten über die Dreieinigkeit hege. Er ge- stand, dass er sehr wohl den Gott-Vater und den Gott-Sohn begreife, dass er aber den heiligen Geist nicht verstehen könne. »Geh nach Hause«, sagten ihm die Richter. »Du verstehst doch wenigstens zweie, wir verstehen keinen einzigen«. Hätten alle Richter diese edle Aufrichtig- keit, wie viel besser würden viele Urteile aus- fallen.

Eine Atheistin, die im höchsten Sinn eine ausübende barmherzige Schwester ist, und ein ohne Christentum unter furchtbaren Leiden heroisch, schön und versöhnt Sterbender was könnten selbst die Orthodoxen mehr ver- langen? Ich kenne beide.

Edle Naturen machen eine Stunde des Irr- tums wieder gut, voll, rein, ganz, wenn es sein muss, selbst mit dem Leben. Edle Naturen verzeihen aber auch ganz, voll, rein, ohne Hinter- halt.

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Die nationalen Einheiten sind jetzt der Traum und das Motto der Staatsmänner und Volks- beglücker. Aber ist diese Einheit an sich solch ein Glück? Macht sie nicht den Egoismus in der Politik noch viel schärfer als er es ausserdem schon ist?

Dagegen ist die Einheit des Charakters mit sich selbst das letzte Ziel alles Strebens.

Ich ging eben im Frühling spazieren und fühlte das Regen des Genius in mir und dass allein der Umgang mit ihm beseligt. Die Schön- heit empfinden ist das Lächeln des Genius im Traum, Denken ist sein Erwachen. Nie flieht der Genius vor der Erkenntnis; im Gegenteil, ihn dürstet nach der Wahrheit, weil er durch sie erst die Poesie der Dinge, das innere Ge- setz ihrer Bewegung, ihren Rhythmus, ver- stehen lernt, was im letzten Grunde eins ist mit ihm selbst, nämlich: universelles Leben, das in jeder Erscheinung sich auf sich selbst besinnt. So war der Dämon des Sokrates. Die Rechten haben es von jeher gewusst. Es hat ein jeder seinen Dämon, nur verstehen ihn die meisten nicht. Das Dämonische ist die zwingende Unruhe im Geist, wenn ein bisher noch Un- bewusstes ins Leben treten will. Vor diesem

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Zwang erschrecken aber die meisten, verstecken sich oder laufen davon.

In dem Liebesverhältnis zweier Weltkinder stellte sich gegenseitiges Misstrauen ein, und da sie beide leidenschaftlich waren, verwandelte sich dies Misstrauen bald in Hass.

In der sogenannten vornehmen Gesellschaft gibt es Zuschauer, Beobachter, Mitspielende oder besser: Schauspieler.

O menschliche Schwäche I Die gute Mei- nung der Welt zu erkaufen durch Geld, Namen, Rang oder Ruhm!

O Stillei Gesegnete 1 Du, die allein würdige Stimmungen erzeugst!

Die Deutschen haben es an sich, über alles und jedes in Italien, besonders in Neapel, zu schimpfen, alles schlecht zu finden, den Schmutz

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haarsträubend, den Lärm unerträglich, die Hotels grässlich, die Kaffees widerwärtig, die Menschen gemein und dumm. O dagegen bei uns zu Haus! Die herrliche Heimat! Und doch kommen sie alle Jahre wieder!

Mit der Liebe für die Reinlichkeit soll man sich ebensowenig brüsten, wie mit der Liebe für die Tugend. Beide gehören zu einem ordent- lichen Menschen, man übt sie ohne viel davon zu reden. Wer aber in Italien nur immer über den Mangel an Reinlichkeit klagt, anstatt sich über die Schönheit, welche alles überstrahlt, zu freuen, der verdient Italien nicht. Ist es denn schöner in den ewig mit Wasser übergossenen, nüchternen, deutschen Stuben als z. B. in Zimmern in Neapel, die allerdings den Staub oft etwas zu lange aufbewahren, aber daneben eine Loggia oder eine Terrasse h;aben, von wo man die Wunder der Sonnenuntergänge über einem der herrlichsten Meere der Erde sieht ? Ach mensch- liche Kleinlichkeit! Denn es gibt auch eine kleinliche Reinlichkeit und eine kleinliche Tugend.

Man erzählte abends bei mir in Rom von einer Besteigung des Vesuvs und von dem Grauen, welches man empfände, in den feurigen Schlund hinab zu schauen. Es fiel mir darüber

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ein, ob wohl die christliche Idee der Hölle nicht dadurch enstanden sei? Der Hades war doch etwas ganz anderes, etwas psychologisch Feineres ; wie viel seelischer war diese Qual des vergeb- lichen Tuns und Schaffens, als die brutale Strafe in den Flammen.

Das immerwährende Unterliegen im Ab- grund der Leidenschaft in den Romanen von Gabriele d'Annunzio ist gar nicht interessant. Nur der Sieg des höheren Wollens über die Leidenschaft ist interessant. Ich verabscheue diese ewige Vivisektion der Wollust und der ungesunden Triebe, welche den Mann zum Schwächling und die Frau nur zu einem Instru- ment der Korruption macht.

Das grösste Leiden ist die Abwesenheit des Ideals.

Ein Ausspruch von Rabelais, als von diesem herkommend, fiel mir auf: »Die Natur hat im Menschen Verlangen, Durst und Wunsch zu wissen und zu lernen hervorgebracht, und zwar nicht bloss die gegenwärtigen Dinge, sondern besonders die zukünftigen, weil deren Kenntnis

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höher und bewundernswerter ist Weil wir nun in diesem vergänglichen Leben nicht zur Vollendung des Wissens kommen können, und die Natur nichts ohne Grund gemacht, oder ein trügerisches oder verderbtes Verlangen gegeben hat, so folgt daraus, dass ein anderes Leben nach diesem sein muss, wo jener Durst gestillt wird.«

So kommen auch die skeptischen Menschen, ohne dass sie selbst wissen, wie sehr sie sich widersprechen, immer auf ein geistiges, vemunft- gemäss ordnendes Prinzip zurück, mögen sie es nun Natur oder Gott nennen.

Nachdem ich den Roman von Paul Bourget »La terre promise«, der mir missfiel, wie die meisten Werke dieses Autors, gelesen hatte: das Heiligende, Idealisierende in der Ehe ist das schöpferische Element, das bei der rohen unbewussten Natur bloss sinnlich und brutal und ohne die erlösende Seite bleibt Was für ent- wickelte geistige Naturen den tierischen Akt verklärt, ist das Bewusstsein Schöpfer zu sein, innerhalb der Materie ein Greistwerdendes zu schaffen, gerade wie es dem Genius auf der höchsten Stufe des schöpferischen Prinzips Selig- keit ist, das im Geist Empfangene zu gebären.

Der französische Kritiker Bruneti^re sagt in einem Artikel über Bourget, das Hervorragende in dessen Romanen sei, l'etude de la vie. Ja,

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die gehört freilich überhaupt zum Roman, aber sie muss sich durch die Personen desselben aus- drücken, und nicht durch psychologische Ana- lysen und Abhandlungen.

Wir sprachen am Abend in Versailles (wo ich alljährlich von 1884 an bis 94 den Sommer bei Olga zubrachte) über die Heuchelei. Ich fasste im Scherz mein Urteil in einem Syl- logismus zusammen : die Heuchelei ist ein abscheu- liches Laster, die moderne Gresellschaft bringt die Heuchelei auf allen Gebieten hervor, also ist es eine lasterhafte Gesellschaft. M. da- gegen meinte, die Heuchelei in der modernen Welt sei eher ein Beweis der Moralität der- selben, da man, aus Achtung vor der Tugend, das Laster nicht öffentlich zu bekennen wage.

Ich freute mich, als ich die letzten Worte Renans hörte, den ich einst so gut gekannt und sehr geschätzt habe, denn sie beweisen, dass seine Heiterkeit, welche man ihm so oft als Ironie und Oberflächlichkeit vorgeworfen hat, echt war und sich auf ein festes Bewusstsein gründete. Am letzten Tage seines Lebens sagte er: >Man muss den Gesetzen der Natur folgen; der Tod ist nichts, ein Übergang, die Erde und der Himmel bleiben.« Auf sein Grab

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verordnete er zu schreiben: >Ich habe die Wahr- heit gesucht.«

Papst Leo XIII. , als er hörte, dass Renan keinen Priester gerufen habe, sagte: »Ich bin darüber zufrieden, es wäre eine Heuchelei ge- wesen. Gott vergibt den Menschen, die red- lichen Willen haben, so wird er auch Renan vergeben.« Das ist auch schön, das Oberhaupt der Kirche, welches einen abtrünnigen Priester so edel-menschlich beurteilt! Sie können sich im Paradies als Freunde begegnen.

Der sichere Trost unseres Erdendaseins ist doch der, dass wir durch Wort und Tat un- sterblich sind in der Reihe der Geschlechter, denn wenn auch die Geschichte uns nicht mit Namen nennt, so wuchert der Samen des Guten, welches wir getan, doch unzerstörbar fort von Seele zu Seele und gehört mit in die grosse Kette, deren Anfang und Ende in der Ewigkeit liegen. So erklärt sich wenigstens das warum, wenn auch das woher und wohin Frage- zeichen bleiben. Eine sehr hübsche Hypothese ist die eines unlängst verstorbenen liebens- würdigen alten Franzosen, Monsieur Surell, welcher das Rätsel der Existenz folgender- massen zu lösen meinte, indem er die Möglich- keit hinstellte, dass alles geistig von uns aus- geht, an irgend einem Punkt des Weltalls wieder zusammen treffe und unsere geistige Indivi-

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dualität herstelle. Dies widerspricht weder der Vernunft noch selbst der Experimentalwissen- schaft, denn geistige Erzeugnisse unseres Wesens sind sicher grössere Realitäten als die zufälligen Kombinationen der Atome, welche unsere leib- liche Existenz ausmachen.

Am 16. Juni 1890 in der Villa Mättei, nach einem schmerzlichen Erleben:

Ziehet eilende Wolken den schwärzlichen Schleier Über die strahlende Welt! Alles ist eitel, schwindender Schein nur, Auch die Sonne ist Täuschung sowie das Glück, Die Rosen vergingen, die Träume vergingen, Freunde vergingen und endlich vergehest auch du!

Alle Religionen sind aus dem der Mensch- heit innewohnenden Bedürfnis hervorgegangen, etwas Höheres, Mächtigeres, Vollendeteres, als sich selbst zu suchen. Dieses Bedürfnis ist der Adelstitel des Menschen und unterscheidet ihn vom Tier. Ob es sich in minder oder mehr vollkommener Weise offenbare, immer ist es zu achten und gelangte es auch nur zur Anbetung eines Fetisch. Aber sobald dies Bedürfnis absolute Formen annimmt und sich für die ein

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für alle Mal gegebene Wahrheit ausgibt, zur dogmatischen Kirche wird, versteinert sich der Geist, welcher ewiges Streben ist und wird bloss äussere Form, die den lebendigmachenden Odem nicht mehr enthält. Der beste Beweis dafür ist, dass die bestehenden Kirchen sich untereinander anfeinden, weil jede allein die Wahrheit zu besitzen glaubt.

Wir, die wir die Geschichte dieses Bedürf- nisses nach Idealität vor Augen haben wie es sich in den verschiedenen dogmatisch-positiven, konstituierten Kirchen verloren hat, wir können nicht mehr zurückkehren in eine beschränkte Form, welche dem Gedanken, der nach immer reinerer Wahrheit dürstet, verwehrt seinen freien Flug zu nehmen. Die Philosophie hat uns da- zu geführt, Gott nicht mehr ausser uns zu suchen, sondern ihn in uns, in allem was da ist, zu erkennen und es als unsere Aufgabe zu be- trachten, ihn in uns und um uns lebendig zu machen.

Das Leben ist nichts anderes als ein grosses Schlachtfeld und die einzige Tugend besteht darin, trotz aller Wunden bis zuletzt zu kämpfen und als Sieger, mit den Waffen in der Hand, zu sterben.

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Wie rasch sind doch die Übergänge im Menschen von Niedergeschlagenheit, Trauer, Re- signation, zu Hofihung, Mut und Freude oder umgekelut. Was ist dies feine Uhrwerk, welches so entgegengesetzte Bew^^ungen im Gemüte hervorbringt? O ihr Physiologen und Männer der >matiere grise«, könnt ihr es erklären? Keine Spur!

Der einzige Schmerz, welcher unversöhnbar ist, ist der Schmerz des Egoismus. Die selbst- lose Tugend hat Frieden auch in der tiefsten Trauer. Sie ist das wirkliche Selbst mit der rechten Würde ohne Anmassung. Der Egoismus ist das schlechte Selbst, das ewig Verwundbare. (Ich unterscheide hier scharf Egoismus von Indi- vidualismus.)

N. hatte die wahre Natur der gefallenen Engel ; sie glaubte allem durch den hochmütigen Stolz Trotz bieten zu können, anstatt alles Wider- strebende durch die Liebe zu besiegen.

Ich las eben von der sonderbaren Hinneigung Napoleons I. zum Aberglauben, wie ihn sein Verkehr mit der Lenormant beweist. Aber

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dunkle, ehrgeizige Gemüter werden immer aber- gläubisch sein. Weil das Ideal ihre Seele nicht erleuchtet, suchen sie Hülfe in dunklen Gewalten, daher stammen wohl die Teufelslegenden, die Hexenprozesse, noch heutzutage im Süden die Zauberweiber und endlich der Spiritismus, be- sonders in der modernen höheren Gesellschaft, wo er weiter nichts ist, als die Rache des Geistes an der Frivolität.

Schaffen muss man in der Einsamkeit, da wo der laute Lärm des Tages nicht stört, aber der Charakter erprobt sich doch erst ganz im Zusammenleben, in der Art, andere zu behandeln, auf sie zu wirken und sie zu ertragen. Freilich ein grosses Leiden einsam heroisch tragen ist auch ein Prüfstein des Charakters, doch ein noch schwererer ist's, dem einsamen Umgang mit dem Gott in uns aus erbarmender Liebe zu entsagen und zwar nicht im Zorn und Ärger, sondern mit dem milden Lächeln derer, die es wissen, dass sie ein Heiligtum in sich tragen in dem sie glücklicher wären, als in dem Samariterdienst des Herzens. Ja, am Kreuz besiegte der Naza- rener die Welt!

Die Definition des Genies ist es, dass dieses In- dividuum, dieser Mikrokosmos zugleich den ganzen Kosmos in sich trägt, alle Tradition, das Unend-

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liehe, und dabei die Fähigkeit hat die ganze Welt, die in ihm ist, auszusprechen und zu ge- stalten. Es ist ein Beweis dafür, dass die uni- verselle Einheit sich nur zuweilen eine indivi- duelle Form wählt, um sich durch dieselbe kund zu geben.

Man hat so viel Arbeit um etwas zu sein, dass keine Zeit bleibt, noch etwas zu scheinen. Es ist auch verlorene Mühe, man ist eben was man ist, wem es nicht gefällt, mag's bleiben lassen.

Ich war einmal wieder einige Wochen in Deutschland und fuhr dann frühmorgens am Rhein hinunter, wie alljährlich Olga in Frank- reich zu besuchen.

Wie viel tausend Erinnerungen stiegen da herauf an Jugendtage und Jugendträume, an die frühe Liebe zu dem alten, stolzen, heiligen deut- schen Strom! Und es überkam mich ein un- endliches Mitleid mit dem armen Vaterland. Ich verstand nun, was ihm fehlt: der heitere Himmel und die Grazie!

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Das Schöpferische, das Tun, die Tat, war da vor dem Wort, wie beim Genius der Tat- moment, die Geburt im Geist, dem Wort und der Gestaltung vorangeht.

Auch beim grössten Dichter ist das Wort, welches er wählt, die Art seines Ausdrucks, sein Stil, ein Teil seines Wertes.

Äschylus rühmte von sich, dass in keinem seiner vierundachtzig Dramen die Liebe vor- komme. Käme man in der modernen Welt nur auch einmal so weit.

Die Reue ist keine Kraft, sagte ein Freund. Ja, sie ist doch eine, wenn es die wahre Reue ist, sagte ich, denn sie ist der Anfang des Wiedergutmachens.

»Getrost das Unvergängliche, das ist das ewige Gesetz, wonach die Ros' und Lilie blühte. Nun, und ist es nicht ein grosser Trost nach diesem ewigen Gesetz zur Geistesblüte berufen gewesen zu sein?

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Es gibt nur zwei Arten, das Leben nach grossen Schmerzen würdig zu fuhren: entweder mit der grossen Resignation, die sich immer höher hebt über das Erlebte und heilig wird, oder mutvoll tätig sein und das Leben besiegen durch die Tat.

Das Schicksal war insofern stets gütig gegen mich, als es mir nach all den schmerzlichen, teils durch Entfernung, teils durch den Tod herbei- geführten Trennungen, aus der Mitte der zahl- reichen, mehr oder minder gleichgültigen Be- sucher meines kleinen, einsiedlerischen Heims in Rom, immer wieder einzelne Gestalten herbei- führte, mit denen das geheimnisvolle Etwas, das Geister zusammen bindet, jener Ton aus der grossen Weltensymphonie, die immer nur we- nige hören und verstehen, sich einfand und als- bald zu einem näheren Seelenbunde den Grund legte. Es ist merkwürdig, wie auf solchem Grund allein wahrhaft ideale und dauernde Beziehungen sich entfalten und entwickeln können, gleich edlen Pflanzen, die das rechte Erdreich gefunden haben und nun, immer neue Blüten treibend, höher und höher wachsen. Nach Warsbergs Tod, dachte ich, die Lücke würde jetzt unaus- gefüUt bleiben und das Pantheon des Herzens, in dem die Nischen alle mit geliebten Bildern besetzt sind, würde geschlossen sein. Von Ve- nedig war ich, wie jeden Sommer seit zehn Jahren,

M e y t e n b n g , IV. 24

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zu Olga nach Versailles gegangen, wo ich, in dieser Familie der freien Wahl, stets Monate herz- lichsten Zusammenlebens genoss. Ich hatte mich aber, auch ausserhalb dieser Häuslichkeit, immer des freundlichsten Begegnens von^ selten der Franzosen, mit denen ich in Berührung kam, zu rühmen und kann in Wahrheit sagen, dass nie ein beleidigendes Wort gegen Deutschland in meiner Gegenwart laut wurde. Mit grosser An- erkennung aber bemerkte ich auch die vorteil- hafte Wirkung der empfangenen harten Lehre vom Jahre 70, in der französischen Jugend, die ich zu beobachten häufig Gelegenheit hatte, da Olgas Gatte, Gabriel Monod, der geliebte und verehrte Lehrer der Jünglinge an zwei der höheren In- stitute in Paris war, der ecole des hautes etudes und der ^cole normale. Die Mitteilungen Monods bestätigten mir auch meine eignen Be- merkungen über den Lerneifer und die auffallend ernste Richtung all der jungen Leute die seiner Obhut anvertraut waren, was zum Teil in der Trefflichkeit des Lehrers seinen Grund haben mochte, aber sicher auch die Folge ernster Be- trachtung der Ereignisse war. Es schien dies wieder ein Beleg zu der Lehre, welche die Geschichte schon so häufig geliefert hat, dass sehr oft, nach schweren Niederlagen im Kriege, die Besiegten moralisch die Sieger bleiben, in- dem sie in sich gehen, die Ursachen ihres Unter- liegens zu ergründen und entdeckte Mängel mit Ernst zu verbessern suchen. War es doch in Deutschland auch so nach den Kriegen mit

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Napoleon, und wohl den Völkern, denen das Un- glück eine Schule der Weisheit wird.

Unter den Schülern Monods, die ich in seinem Hause kennen lernte, war einer, den er mir be- sonders empfahl, da derselbe auf 2 Jahre nach Rom, in das dortige archäologisch-historische Institut (welches Frankreich gleich Deutschland und Österreich dort hat) nach vollendetem vor- züglichem Examen in der ecole normale kommen sollte. Er besass unter anderen bedeutenden Vorzügen auch eine seltene Begabung für Musik und ich versprach mir dadurch eine lang ent- behrte Freude, nämlich öfter bei mir in der Ruhe meines Heims Musik zu hören. Musik war von frühester Jugend auf für mich ein Lebensbedürfnis gewesen. In meinem elter- lichen Hause gehörte Musik zu den unentbehr- lichsten Freuden des Daseins. Mehrere meiner älteren Geschwister waren musikalisch und es hatte sich ein sogenanntes Kränzchen gebil- det, an dem sie teilnahmen und dessen Ver- einigungen in unserem Hause stattfanden. Die obere Leitung desselben wurde von dem damals sehr berühmten Komponisten Louis Spohr, der Kapellmeister in Kassel war, gefuhrt, und musika- lisch bedeutende Persönlichkeiten, wie u. a. der Liederkomponist Curschmann, nahmen daran teil. So hörte ich schon als Kind im Hause selbst bedeutende musikalische Auflfiihrungen ; ausserdem sah meine Mutter, eine geistvolle, mit hohem Kunstsinn begabte, durchaus frei- sinnige Frau, gern und oft die ersten Künstler

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des damals vortrefflich besetzten Theaters in Kassel bei sich, wo besonders an der Oper Sterne erster Grösse glänzten, die mit den herr- lichsten Leistungen ihrer Kunst den geselligen Verkehr belebten und schmückten. Später, als ich selbst Klavier spielte, wurde mir die Musik immer mehr Seelenbedürfnis, obgleich ich in der Ausübung weit hinter meiner jüngeren Schwester zurückblieb; mich zog dagegen der Gesang mächtig an, die MögUchkeit, da ich eine gute Stimme besass, noch viel unmittelbarer und persönlicher dem musikalischen Empfinden, welches in der Seele wogte, Ausdruck zu geben. Dazu wollte ich, wie immer, nicht an der Ober- fläche stehen bleiben, sondern auch die Gesetze kennen lernen, welche die Welt der Töne be- herrschen. Es hatte mich gleich wunderbar er- staunt, zu sehen, wie diese unkörperliche, man könnte fast sagen metaphysische Kunst den strengsten mathematischen Regeln unterworfen und wie das scheinbar Freieste von einem inneren Gesetz gebunden ist, was freilich auch das Vor- recht der Entwicklung hat, wie . alles Geistige, aber innerhalb dieser stets die organische Not- wendigkeit seiner Erscheinung verfolgen muss. In der kleinen Residenz Detmold, wo meine älteste Schwester verheiratet war und meine Mutter sich mit meiner jüngeren Schwester und mir endlich niedergelassen hatte, weil das Wanderleben, welches mein Vater mit seinem Jugendfreund, dem alten Kurfürsten von Hessen nach dessen Thronentsagung führte, uns auf die

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Länge doch unbehaglich wurde, fand sich reich- lich Gelegenheit, gerade nach dieser Seite hin zu lernen. Ein tüchtiger Musiker, Schüler Spohrs, welcher das wirklich ausgezeichnete Orchester dirigierte, gab meiner Schwester und mir Unter- richt im Generalbass, und so sehr wurde ich von diesem Studium angezogen, dass ich alsbald anfing, kleine Arbeiten für Orchester zu schreiben, welches mir die Achtung und Freundschaft der Mitglieder desselben zuzog. Dies brachte uns die herrlichsten Folgen, denn nicht nur erfreute uns das Quartett, das sich aus den besten Künstlern gebildet hatte, häufig des Abends bei uns mit Leistungen der schönsten Meisterwerke, sondern es kam auch nicht selten vor, dass wir mitten in der Nacht durch die Klänge eines Mozartischen oder Beethovenschen Quartetts aus dem Schlaf geweckt wurden, indem die wackern Musiker auf der Strasse unter unseren Fenstern sich niedergelassen hatten, um unsere Seelen in nächtlicher Stille mit dem zu erfreuen, was, wie sie wussten, uns das Höchste war.

Wenn mein späteres Leben in grossen Cen- tren mir auch öfter die Möglichkeit gab, grösseren und oft sehr vorzüglichen Aufführungen beizu- wohnen, so war der intimere Genuss, wie ich ihn in der Kindheit schon im elterlichen Hause und nachher in der Jugend in unserem Heim in Detmold gehabt hatte, nun fast ganz vorbei. Mein Leben hatte so ernste Aufgaben bekommen, dass sie alle meine Kräfte in Anspruch nahmen und ich hatte gar nicht immer ein Instrument zu

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meiner Verfugung, wie in der Hochschule zu Hamburg, wie während meiner Lehrtätigkeit in England, und dazu kam, dass meine immer schwachen Augen, durch andere Arbeit schon zu sehr angestrengt, das Notenlesen nicht mehr vertragen konnten, so dass mein einsames Musizieren sich fast nur auf Gresang beschränkte. Aber in meiner Seele wogten unablässig Har- monien und Gesänge und ich erinnere mich keiner Epoche meines Lebens, wo ich nicht innerlich immer Musik gehört hätte, auch bei den heterogensten äusseren Beschäftigungen. In Rom empfand ich es als einen der grössten Mängel, dass man so wenig gute, wahrhaft vollendete musikalische Aufifuhrungen zu hören bekam. Zuweilen ereignete es sich ausnahmsweise, dass ein glücklicher Zufall es herbei führte, in Privat- kreisen Vorzügliches zu hören, so, wie schon früher erwähnt, in den Wintern, die Liszt noch bleibend hier zubrachte und in den musi- kalischen Vereinigungen bei einer jungen russischen Fürstin, seine eigenen symphonischen Dichtungen mit jener zauberischen Vergeistigung vortrug, welche das Spiel des alten Mannes noch weit über das des gefeierten Virtuosen in seiner Glanzperiode hob.

Aber solchen Ausnahmezeiten folgten wieder Perioden äusserster Dürre in musikalischen Be- ziehungen, wo ich eben nur auf die Tonwelt, die in meiner Erinnerung lebte, angewiesen war. Um so angenehmer wurde ich überrascht, in dem oben erwähnten jungen Franzosen, der nun

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nach Rom kam, einen Musiker ersten Ranges von tief ernstem Verständnis und geläutertem Ge- schmack zu finden, der mir gleich in liebens- würdiger Weise sein herrliches Talent zur Ver- fügung stellte. Stundenlang hörte ich jetzt wieder Mozart, Bach, Beethoven und Wagner bei mir ertönen und genoss in andächtiger Stille ganz allein den Verkehr mit jenen grossen Seelen, die mir in ihrer metaphysischen Sprache gött- liche Oflfenbarungen verkündeten und mir Stunden reinster Wonne bereiteten.

Aber nicht nur in musikalischer Hinsicht er- wuchs mir aus der näheren Bekanntschaft mit diesem Jüngling hohe Freude. Es gibt gewiss gerade im vorgerückten Alter keine edlere Be- friedigung als in jungen Seelen denselben Drang der Idealität, dasselbe Streben nach den höchsten Zielen, dieselbe Verachtung alles Gemeinen und Trivialen, denselben Mut im Kampfe für die Freiheit der Individualität zu finden, wie dies alles die eigene Seele von früh auf erfüllt hat und noch am Lebensabend, wo schon so viele Illusionen zerflossen sind, so viel um uns Da- gewesenes und uns Liebes verschwunden ist, als das tiefste, ewige Element des Daseins in uns waltet. Wie ganz verschwindet dabei auch das Vorurteil der wesentlichen Unterschiede der Nationalität. Der innerste Grund der mensch- lichen Natur ist sicher nicht abhängig von Rasse, oder Erdteil, oder Abstammung, sondern da- von wie Klima, Tradition, Verhältnisse, Er- ziehung, die eine oder andere Seite der Fähig-

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keiten in der Menschenseele stärker entwickeln und nach und nach durch Vererbung zu einem anscheinend besonderen Typus heranbilden. In diesem jungen Franzosen fand ich dieselbe Idealität, dieselbe Hoheit des Strebens, dasselbe innerste Verständnis für jede Äusserung geistiger Grösse, wie ich sie bei den auserwählten Seelen anderer Nationen gefunden hatte. Er war ein inniger Bewunderer Tolstois, er liebte, wie schon gesagt Mozart, Bach, Beethoven über alles, war begeistert für Wagner, entwickelte sich hier im Studium, besonders im Anschauen der Meister- werke der Renaissance und unter den Einflüssen der herrlichen, südlichen Natur, wie eine Blüte, welche ihren rechten Boden gefunden hat. Dies gab mir wieder einen Beleg für das oben Ge- sagte, das längst meine Überzeugung gewesen war, dass nämlich die Verschiedenheiten der Nationalitäten oder der Rassen auf etwas ganz anderem beruhen, als auf einer ursprünglichen Verschiedenheit der Menschenseele.

Zwei Jahre des edelsten geistigen Verkehrs wurden mir durch die Anwesenheit dieses Jüng- lings zuteil, der mir auch das wieder be- stätigte, dass für das wahre Seelenleben es kein Alter gibt, dass demnach die Seele etwas sein muss, was am ewigen Quell der Jugend teil hat und in voller Frische fortlebt, auch wenn die irdische Hülle altert und dem Lose des Vergänglichen anheim fällt. Wie schon er- wähnt, war es nicht nur die musikalische Be- gabung des jungen Freundes, welche mir die so

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lang entbehrte Wohltat brachte aus dem fast immer verschlossen gewesenen Piano die Geister all der hohen Meister der Tonkunst herauf zu beschwören. Auch auf allen anderen Gebieten des geistigen Lebens fand ich ihn einheimisch und zu voller Entwicklung strebend, so wie ich dagegen, in der beständigen Anregung, die Jugend des Gedankens und die volle Intensität des Interesses für alles Schöne und Poesievolle in mir wiederempfand. Auf diesem letzteren Gebiet, dem der Poesie nämlich, entdeckte ich denn allmählich auch die schöpferische Begabung des Genannten, und zwar in überraschender Weise durch eine dramatische Dichtung, die mir alsbald die Hoffnung eingab, auf eine Erneuerung der besonders in Frankreich so tief gesunkenen dramatischen Kunst. Diese hatte ja leider, zu- folge des der menschlichen Natur innewohnen- den Nachahmungstriebs, auch in andern Ländern eine gar trübselige Richtung genommen. Von jeher hatte mich die Idee des historischen Dramas lebhaft beschäftigt. Ich hatte mich immer gefragt, ob man geschichtliche Personen auf die Bühne bringen dürfe, da es unmöglich ist, sie genau so hinzustellen, wie sie gewesen sind, und man also in Gefahr ist, sie tun oder sagen zu lassen, was ihnen absolut nicht homogen gewesen wäre. Indem ich nun in Gedanken die edelsten Gestalten des deutschen historischen Dramas durchging, wie Götz, Egmont, Don Carlos, Wallenstein u. a., fand ich, dass sie gewiss keine naturgetreuen Porträts wären, aber

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so wie wir wünschen könnten, dass sie gewesen seien. Vielleicht liegt darin das Entscheidende ; die Poesie hat das Wesentliche dieser Gestalten ergriffen und in ihm das ausgedrückt, was die Mitte und die Zeit, in der sie lebten, charakterisiert, so z. B. in dem herrlichen Gegensatz der Na- turen von Egmont und Oranien, welcher in dem ersten die liebenswürdige, vertrauensvolle Offenheit des Flamländers, und in dem zweiten die ruhige, kalte Besonnenheit und Vorsicht des Holländers kennzeichnet. So schafft man gleich Typen, charakteristisch für die Um- gebung und dennoch dramatisch persönlich und wirkungsvoll tätig. Jedenfalls ist es das erste Er- fordernis des historischen Dramas, dass die Zeit, in der es spielen soll, vollkommen em- pfunden und ausgedrückt ist, so dass man die Luft von damals zu atmen scheint und die Gestalten sich in der ihnen gemässen Mitte bewegen. Dies unentbehrliche Erfordernis des historischen Dramas fand ich nun im höchsten Grad vorhanden in einer Schöpfung meines jungen Freundes, welche ihm hier unter dem unmittelbaren Eindruck der Kunstepoche der Renaissance, in deren Studium er sich durch das Anschauen ihres Nachlasses versenkt hatte, entstanden war. So durchdrungen war er vom Geiste jener Zeit, den er in den Gestalten auf der Leinwand erkannt hatte, dass sie in seiner Phantasie ins Leben zurückgekehrt waren, und nun lebendig handelnd dastanden, wie sie es zu ihrer Zeit getan haben würden. Nichts kann

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interessanter sein, als der Entwicklung eines schöpferischen Geistes zu folgen, der ungehindert von aussen dem inneren Machtgebot folgt, sich zur Klarheit der Anschauung und Aus- fuhrung durchringt und, indem er die in ihm sich bildende Welt zur Erscheinung bringt, zu- gleich den höchsten und unabänderlichsten Ge- setzen künstlerischen Schaffens genugzutun be- müht ist.

Das zweite Jahr des Aufenthalts des jungen Mannes in dem französischen archäologischen Institut ging nun zu Ende und er musste in die Heimat zurück, seine bürgerlichen Pflichten zu erfüllen und sich eine Stellung zu gründen. Ich konnte nur wünschen, dass es eine solche sei, die ihm erlauben würde, seine vorwiegend künst- lerische Begabung ungehindert zu entfalten. Als Abschiedsgruss jener hohen Freuden, die mir sein musikalisches Talent bereitet, schrieb ich ihm folgende Zeilen:

»Ärmer wurde die Welt und immer ärmer und ärmer, Öde und Einsamkeit wurde es rings um mich her. Wenn die Frühlinge wieder aufs neue erschienen Frische Blüten der Flur brachten mit lächelndem

Gruss, Schied mir ein Freund, ein Bruder, die liebe

Verwandte In die dunkele Fern', aus der Keiner zurückkehrt. Immer stiller wurde das Herz in ruh' ger Entsagung, Harrend des Rufs, der mir, jenen zu folgen ertön. Da erklangen mit eins Harmonien wie Grüsse

von oben.

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Führten die Seele mir in ihre Heimat zurück.

Geister, Begnadete ihr, die einst schon ich liebend verehrte,

Wieder spracht ihr zu mir des Trostes erhabenes Wort,

Hobt den Schmerz auf Flügeln in jene seligen Fernen

Wo er versöhnt und befreit, göttlichem Glück sich vereint.

Und ich lauschte und lauschte in Andacht ver- sunken,

Auf den Knien liegend im Geist, ewiger Offen- barungen Klang.

Deine Hand war's, mein Freund, die jene Klänge entlockte

Und mit herzlichem Dank mich dir in Freund- schaft verband;

Scheid ich, folgt nun dein Bild vereint mit jenen Grossen,

Von Harmonien umtönt, in die Ferne mir nach.

r

Gedachtes aus jener Zeit.

Mein junger Freund spielte mir aus der Missa solemnis von Beethoven vor. Es durchdrang mein tiefstes Innere wie ein ätherischer Lebens- strom. Ja, das ist Religion, Gefühl des Ewigen, siegreich über dem Abgrund der Welt, Ahnung himmlischer Vollendung. Beethoven, welch eine Seele !

Wir fuhren von Tivoli heim nach Rom und ich war versunken in den Anblick des herr- lichsten Abendhimmels: eine goldene Wolke über dem höchsten Gipfel der Sabiner-Berge, als wäre dies der Olymp, auf dem sich die Götter in goldenem Duft den Blicken der Sterb- lichen verbergen. Eine wahrhaft klassische Wolke ! O, in der Natur ist auch Musik!

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Rolland sagte eines Abends, die Sphäre der Pflicht und die des Ideals seien durchaus ver- schieden und getrennt. Ich sagte, nein, das müsse nicht sein. Jemehr man leuchtende Punkte idealer Momente im Leben ansammelt, jemehr Licht fallt auch auf die oft dunkle Sphäre der Pflicht und erleuchtet sie, so wie es den Sternen geschieht, die kein eigenes Licht haben, sondern es von ihren Sonnen empfangen.

Es gehört ein tiefes und universelles Gefühl dazu, um einen Stil zu schaffen, so, wie es das religiöse Gefühl der Zeit der Renaissance in Musik und Malerei, und im Altertum in der Skulptur getan hat. Daher konnten viele be- gabte und von jenem Gefühl durchdrungene Menschen tiefsinnige und bewunderungswürdige Dinge schaffen, auch ohne Genies zu sein. Das grosse Genie schafft keinen Stil ; es ist es selbst, individuell, isoliert; es übt wohl einen Einfluss, doch einen mehr äusserlichen, es lässt nicht zur selben Zeit, an verschiedenen Orten, durch ganz getrennte Persönlichkeiten, herrliche Sachen ent- stehen, die sich gleichen, weil sie aus demselben Gefühl entstanden sind, ohne Tradition oder Nach- ahmung zu sein. So war z. B. die aus dem Ma- donnenkultus entstandene Kunst, welche die ganze Renaissancezeit beherrschte.

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Wir sprachen über das Leiden, Rolland und ich, über dessen Bedeutung in der christlichen An- schauung, und es kam mir der Gedanke, dass es vielleicht ein völliges Missverständnis sei, dass Christus das Leiden durch seinen Tod habe sanktionieren wollen. Sein Tod war die frei- willige Tat des Menschen, der seine Über- zeugung besiegelt, damit man an ihn glaubt. Sein Leben aber war freudige Tat, Lehre, Er- mahnung, Wohltun, Barmherzigkeit.

Der Egoismus des Schmerzes ist verständ- licher als der des Glücks. Schmerz ist stolz und schliesst sich ab gegen die Welt, die ihn nicht kennt und versteht. Glück macht demütig ob des inneren Reichtums im Vergleich mit anderen und freigebig aus dem Wunsch, dass auch andere glücklich sein mögen. Der Schmerz ist ein einsamer mitten im Gedränge, das nichts von ihm weiss. Glück, auch wenn es sich in Einöden flüchtete, fühlt sich in Wohlwollen ver- bunden mit der ganzen Welt.

Wir waren zusammen im Theater, um Sarah Bernhard als Kleopatra zu sehen. Da gefallt sie mir, denn da schafft sie beinah einen Stil. Das Kunstwerk soll uns die Wirklichkeit wieder- geben, aber in erhöhter Weise, wo sie typisch

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wird und uns in das Reich ästhetischer Form- und Inhaltvollendung erhebt. Als moderne Frau brauchte sie nur sich selbst zu spielen, eine ephemere individuelle Erscheinung ; als Kleopatra wurde sie ein Typus künstlerischer Schöne, etwas Ewiges.

Ich besuchte den Grafen Schack, der, schon ganz erblindet, seine letzte Lebenszeit in traurigem Zustand hier in Rom zubrachte. Wir sprachen über Schiller, und von unserer beider Ver- ehrung für ihn. Er sagte, er schätze die »Räuber« und »Kabale und Liebe« noch höher als die anderen Dramen. Sie wirkten auf der Bühne so hinreissend, dass man die ungeheuren UnWahrscheinlichkeiten, die sie enthielten, darüber vergesse. Ich sagte, ja, das sei der Triumph des Genius und der wahren Kunst, uns das Un- wahrscheinliche annehmbar zu machen durch die höhere Realität der Hauptsache.

In der Zeit war Ibsen ein Hauptgegenstand der Unterhaltung in der römischen Gesellschaft. Ich hatte ihn bei seinem Aufenthalt in Rom kennen gelernt; er kam mich zu besuchen. Es war gerade die »Nora«, das »Puppenheim«, er- schienen und es herrschte eine ungeheure Auf- regung in der damals sehr zahlreichen skandi-

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navischen Kolonie in Rom, und auch in der römischen Gesellschaft wurde für und wider ge- stritten. Ibsen lächelte über das Entsetzen, das besonders die weiblichen Gemüter bei der Ent- deckung, welche Nora über das Wesen der Ehe macht, ergriffen hatte, und meinte, die Stücke, die Nora folgen und das Messer an die Wunden der Gesellschaft legen sollten, würden noch an- ders erschreckend wirken. Inzwischen waren nun auch viele andere, noch weit kühnere und schärfere Kritik übende Drajnen gefolgt, und es war gerade die Zeit der »Gespenster«, als ich eines Abends in Gesellschaft mit einem jungen Mann über dieselben ins Gespräch geriet. Zu meinem Erstaunen versicherte mir dieser, er ziehe die »Gespenster« beim Ödipus des Sophokles vor; im modernen Drama müssten die physiologischen Gesetze an die Stelle des antiken Fatums treten. Ich erwiderte ihm, dass erstens die Unabänder- lichkeit des Gesetzes der Erblichkeit noch nicht festgestellt sei, und dass femer die Frage bleibe, ob es nicht einen moralischen Widerstand gegen dasselbe gäbe. Dann auch war bei den Griechen das Fatum eine Macht der Gottheit, war also dort einer künstlerischen Behandlung fähig, im höchsten Grad ethisch, denn Ödipus bleibt trotz seiner Schuld ein edler, des tiefsten Mitleids werter Mensch, während der Mensch in den Gespenstern sich willenlos dem bösen geerbten Blut überlässt und schmutzigen Trieben folgt wie der Vater, also nicht heroisch ist, sondern das Opfer eines blinden Verhängnisses. Und

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dann fehlt das versöhnende Element, das bei den grossen Tragikern, wie z. B. im Odipus auf Co- lones, immer wieder über den Schmerz und den Abgrund der Leidenschaften erhebt. Hier in den Gespenstern sind fast alle Personen gemein, schlecht und nur der Pastor ist gut aber borniert. Die einzige interessante und sympathische Figur, die Frau, irrt aber ihr ganzes Leben hindurch, so dass man es dumm nennen könnte; sie lügt, um die äussere Ehre eines verächtlichen Menschen zu retten und entfernt ihr Kind, anstatt über ihm zu wachen und den bösen Keim zu ersticken, was viel ethischer gewesen wäre. Darin gleicht sie dem antiken Orakel, das immer durch Miss- verstand das Übel herbeifuhrt, welches vermieden werden soll.

Ibsen ist ein Vivisektor der menschlichen Na- tur wie wenige, aber er kommt mit seinen neueren Dramen an die Grenze, wo die Poesie des Tra- gischen aufhört und das pathologische Spital be- ginnt. So hoch seine dichterischen Anfänge wie »Brand« u. a. stehen, so bewunderungswürdig seine künstlerische Mache ist und soviel einzelne Schönheiten all die sozialen Stücke, wie ich sie nennen möchte, enthalten, so ist es doch zu be- dauern, dass er diesen Weg so ausschliesslich befolgt hat, besonders auch deshalb, weil er da- durch das Haupt einer Schule geworden ist, die, ohne seine Begabung, die Theater mit den er- müdendsten Mittelmässigkeiten von Produkten überschwemmt.

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Der Fatalismus im Sinn einer blinden Kraft, welche den Menschen ohne seine Schuld in das Verderben stürzt, ist fiir uns nicht mehr annehm- bar. Der wahre Fatalismus besteht in dem Kon- flikt der äusseren Umstände mit dem Grund der menschlichen Natur, in welcher er zuweilen erst die Leidenschaften, die darin schliefen, weckt und die Handlung hervorruft, die unsere Schuld und unser Schicksal wird. Das ist das tragische Element und die dramatische Kunst hat sich dessen zu bemächtigen.

Das geistige Erzeugen, wenn es aus innerstem Bedürfnis hervorgeht, ist das Merkmal, dass die Natur es bedarf, sich zu objektivieren, wie auf der niederen Stufe es auch beim leibUchen Er- zeugen der Fall ist. In der Objektivierung des Subjekts, sei es durch geistige oder leibliche Kinder, vollzieht sich jenes Geheimnis des Da- seins, welches im Grund des Weltwillens seinen Ursprung haben muss. Auch er muss als das Ursubjekt, sich ewig objektiv werden in der Welt der Erscheinung, dadurch allein ist er, wird zur universellen Individualität, zur Einheit, die wir in der Vielheit ahnen.

Allein der Geist und der Gedanke gehören der Ewigkeit. Alles was das Herz und Gefühl trifft, verwundet, denn es mahnt an die Ver-

25*

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gänglichkeit. Die Liebe in der Erscheinung ist nicht ewig, nur die Erkenntnis; in ihr ist eine höhere Liebe, die das Vergängliche, den Sinnen- genuss, abgestreift hat. Vielleicht köünte es heissen: im Anfang war der Geist.

Halte stille nur, mein Herz,

Trag mit Fassung deinen Schmerz;

Eine kleine Weile noch

Dauert wohl das Erdenjoch,

Dann erlischt der bunte Schein;

Wird's dann stille um mich sein?

Oder werden Melodien

Auch noch durch die Seele ziehn?

Wird vom allgewalt'gen Drang,

Der nach Idealen rang,

Wenn die Erdenfessel weicht

Wohl sein ew'ges Ziel erreicht?

Wird die Treue dann bestehn?

Reine Liebe nie vergehn?

Wird der höchsten Schönheit Glück

Sich enthüU'n dem geist'gen Blick I

Ach und wär's auch so, mein Herz, Lindert's dieser Stunde Schmerz?

Ganz gut konnte Pythagoras sagen, er habe schon zweihundert Jahre gelebt. Sind wir nicht immer dagewesen und konnte ein tiefer

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Schauender, ein in das innerste Wesen der Dinge Versenkter, sich nicht wirklich erinnern? Ist es darum so schrecklich zu sterben, da wir, wenn wir ewig da waren, auch ewig sein werden ? Es ist ja nur ein Wechsel des Kleids, und soljte es nicht möglich sein, an einen Punkt zu gelangen, wo man das Kleid nicht mehr zu wechseln braucht, wo man dem Wandel der Erscheinung, mithin der Beschränkung, entrückt, ewig bp- wusst lebt?

Die alte italienische Musik hat für Liebe und Religion den gleichen Charakter. Alle Liebes- gesänge gleichen Gebeten, das macht sie so innig und seelisch.

Das ist so merkwürdig in der Musik, dass in der seelischesten aller Künste das Mathematische, qnabänderlich Gesetzmässige herrscht. Wie staunenswert ist das bei Bach, wo in der streng gebundenen Form die göttliche Freiheit der über- strömenden Schöpferkraft waltet. Die Recitative in der Johannis-Passion, die ich mit r Rolland gerade durchnahm, sind die grossartigste er- schütternde Tragik des 'Denkers, welcher dann wieder im Gesang selige Poesie entkeimt.

Kann man die Philosophie der Musik schreil^en ? Ihrer konkreten Formen : ja ; aber ihr eigentliches

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Wesen ist so metaphysisch, dass es in keine Theorie passt.

Am Abend spielte mir Rolland die grossen Variationen von Beethoven vor. Wie man da in dessen Seele liest! Er, der nur noch im Innern, in unausgesetzten Harmonien lebte, Welt und Formel gehen ihn nichts mehr an.

Bach ist der ideale Ausdruck der Reforma- tion, in ihrem reinsten Sinn. In der gebundenen Form : die Freiheit des Gedankens, die Innigkeit des Gefühls, die Erhabenheit des Schmerzes, die grösste Idealität, aber immer der tief religiöse Mensch innerhalb der Grenzen des traditionellen Glaubens. Deshalb beruhigt er so, trotzdem er alle Tiefen des Schmerzes und selbst der Leiden- schaft kennt, weil sein Ideal ein festes ist und er weiss, wo er Frieden findet. Beethoven hin- gegen ist der suchende, ringende Titan, dem das Ideal nur, wie ein fernes Lichtbild, in Ahnungen sich neigt, dann aber auch überirdisch schön, jeden Zweifel lösend und das Dunkel mit himm- lischem Licht erhellend.

Und so wieder ein Abend, wo der musika- lische Freund mir wundervoll spielte. Welch

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ein edler Zustand, wo der Wille schweigt und nur das reine Erkennen die Seele füllt.

Musik ist wirklich die Versöhnerin zwischen der mangelhaften realen Welt und der Ahnung einer voUkommneren, welche der Seele in ihren besten Augenblicken vorschwebt und sie über die gemeine Wirklichkeit erhebt. Alle grossen Erzieher der Menschheit haben Musik gebraucht ; es ist das nur bei Christus eine seltsame Lücke, in den Evangelien überhaupt Wie erhaben schön war aber die Idee des Pythagoras über den Rhythmus des Weltalls!

Die unbefriedigte irdische Leidenschaft ist das harte Gesetz, durch welches die Götter die Gabe des Genius bezahlen lassen. Wer das himmlische Feuer vom Olympos raubt, wird an den Fels des Leidens gefesselt, aber er sieht den Himmel offen inmitten der irdischen Qual. Wer hat dies mehr erfahren als Beethoven? Er hatte die wahre Religion, war auf dem Sinai gewesen, wo Gott sich offenbart in Tönen, die aus dem Urgrund des Seins kommen und die Erlösung vom Leiden bringen, indem sie uns aus dem Endlichen in das Unendliche erheben. Sein Adagio aus der Sonate in B-dur (op. io6) ist, nach dem Abgrund des Leidens, die erhabene Ver-

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gebung an das Leben für all das ihm zugefugte bittere Leid.

An einem Morgen spielte Rolland bei Frau Minghetti, auf deren Bitte, aus Parsifal. Mir ver- schwand dabei die mich umgebende Gesellschaft vollständig, ich lebte nur in den Tönen und fühlte €s mehr denn je, dass die Weltseele Musik ist. Wagner hat sie gehört, geahnt, im Parsifal war «r schon hellsehend. Ja, das kann nur aus trans- zendentalen Seelen kommen.

Wagner war das gewaltige Schlusswort einer grossen produktiven Epoche in der Musik, wie Michelangelo es in der bildenden Kunst war. Nach diesem kam Bernini, wie jetzt all die Epi- gonen, die nach Wagner kommen. Die Ähnlich- keit ist sehr gross ; es ist eine Art krampfhaftes Ringen in dem Leben dieser zwei kolossalen Künstler. Die reine Linie der Schönheit war erschöpft in Raphael, Mozart, Bach, Beethoven. Jene zwei Grossen sahen noch etwas Grösseres und versuchten es mit irdischen Mitteln auszu- sprechen und zu erreichen. Das jüngste Gericht, die Propheten und Sybillen in der Kapelle Sistina und die Götter Walhalls und Parsifal, sagen dasselbe; sie suchen den Idealmensch (nicht Übermensch im Sirine Nietzsches).

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Nach jenen zwei Jahren, in denen durch die Anwesenheit Kollands in Rom die Musik wieder so ganz die Oberhand in meinem Seelenleben gewonnen hatte, ging ich bei Beginn des Sqmmers zunächst wieder nach Mezzaratte bei Bologna, dem anmutigen Landsitz von Donna Laura Min- ghetti, auf dem sie^ auch nach dem Tode ihres Gatten, alljährlich einige Zeit zubrachte. Von der liebenswürdigen Gastfreundschaft, die dort geübt wurde, habe ich schon früher gesprochen und gewiss, wer sie einmal erfahren hat, wird mit mir übereinstimmen, dass man sich keine lieblichere Sommerfrische denken kann, in edelster Freiheit, nur gebunden durch die Grazie und den Geist der Wirtin, zu welcher die reizende Um- gebung passt wie ein schöner Rahmen zu einem schönen Bild. Von da aus ging ich für einige Tage nach Vfenedig, wo ich seit Warsbergs Tod nicht mehr gewesen war» um dort mit Rolland zusammen zu treffen, der inzwischen Umbrien durchwandert hatte, und dann mit ihm zusammen nach Bayreuth zu gehen, wo ich endlich einmal wieder hin wollte, den Parsifal noch einmal zu hören, ehe es bei dem vorrückenden Alter zu spät würde. Rolland aber, der noqh nie dort gewesen war, wollte mit diesem erhabenen Ein- druck die durch die Jahre in Italien so reiche Jünglingszeit beschliessen und denselben gleich- sam als Weihe, auf der Schwelle des Mannes- alters, mit seiner voraussichtlichen Arbeit und seinen wohl nicht ausbleibenden Kämpfen und Täuschungen, empfangen.

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Ich hatte mir eine Wohnung für die ganze Dauer der Festspiele nehmen lassen, da ich ausser dem Kunstgenuss auch mal wieder mit den teuren, so lange nicht gesehenen Freunden eine längere Zusammenkunft haben wollte. Rolland hatte für die wenigen Tage seines Aufenthalts ein Zimmer in der Nähe gefunden. Am Morgen des ersten Tages, noch ehe ich irgend jemand gesehen hatte, ging ich mit ihm durch den Schloss- garten zu der Hintertür des Wagnerischen Gar- tens, durch welche man, ohne den vorderen Teil desselben zu berühren, zu dem von hohen Bäumen beschatteten Platz gelangt, wo der Meister ruht, in dem Grabe, das er sich selbst, als er das Haus erbaute, ausmauern liess. Rolland entblösste ehrfurchtsvoll sein Haupt, als ob er in eine Kirche träte, und ich stand tiefbewegten Herzens an dem Stein, der unter diesen grünen Schatten liegt. Neun Jahre waren verflossen, seit ich den, der hier ruht, zuletzt gesehen hatte in der Glorie jener ersten Aufführungen des Parsifal, bei denen er noch so kräftig jugendlich erschien, dass auch die bängste Sorge nicht denken konnte, es werde ihn noch nicht nach Jahresfrist diese Ruhestätte aufnehmen. Schon einmal in diesen Blättern habe ich erwähnt, welche Gedanken mich dort bewegten. Diesmal galt meine Ergriffenheit fast noch mehr der Erinnerung an den geschiedenen Freund als an den grossen Meister, der langen Jahre, wo ich ihn gekannt, und der teils trau- rigen, teils glücklichen Episoden seines Lebens, welchen ich, innigst teilnehmend, beigewohnt

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hatte. Unter den ersteren war es vorzüglich jene Zeit der AufRihrung des Tannhäuser in Paris, an welche ich nun auch, durch die Auf- tührung desselben in Bayreuth, auf das lebhaf- teste gemahnt wurde. Denn es war eben in diesem Jahre nicht allein Parsifal, sondern auch Tristan und Isolde und endlich Tannhäuser, die ihre Neugeburt feierten, wie man es mit Recht nennen kann, da sie wohl nun erst in einer, ihren wahren Intentionen entsprechenden Weise, dem Publikum vorgeführt wurden. Mit der Fülle der Erinnerungen zugleich fesselte mich diesmal ganz besonders der Tannhäuser, dieses herrliche Werk, dessen tiefe poetische und musikalische Bedeutung mir, nach der langen Pause, erst recht aufging. Die Gestalt des wunderbaren Sängers ist gewiss eine der tragischsten Gestalten der Poesie, und wie konnte sie höher idealisiert werden als durch die Musik, in welcher die zwei Gestalten, die sich um diese Seele streiten, so wundervoll charakterisiert sind. Es fiel mir dabei auch auf, wie merkwürdig geistvoll hier die Legende den Gedanken ihrer Zeit aufgefasst und damit ein allezeit Gültiges ausgesprochen hat: die furcht- bare Härte und Mitleidlosigkeit der konstituierten Kirche (wofür ja auch Dante sie in ihren Ver- tretern dem Inferno übergibt) gegenüber der allein erlösenden, wahrhattigen, reinen Liebe.

Durch die Güte meiner Freunde für alle AufRihrungen in ihrer Loge eingeladen, hörte ich doch einmal Parsifal zusammen mit Rolland, der dann nach Frankreich zurückgehen musste,

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um in die grosse Gewerbtätigkeit der Maschine, welche die Geschichte der Menschheit ausarbeitet, als schaffendes Glied einzutreten. Es war mir furchtbar leid um ihn, den Hochbegabten, dass er sich nicht frei »zu höheren Sphären« heben und ganz in der Entfaltung künstlerischer Triebe, vom Jüngling zum Mann reifen konnte; aber ich wusste auch, dass er dennoch am »sausenden •Webstuhl der Zeit« mithelfen werde »der Gottheit 'lebendiges Kleid zu wirken.« Die Tränejn, die beim Schluss der Aufführung des Parsifal in seinen Augen standen, verbürgten mir aufs neue diese Annahme und so sah ich ihn scheiden mit innigem Dank für die poesieerfiillte Zeit, die mir seine Talente bereitet hatten und mit dem Segen, den das Alter der Jugend mitgibt in das Leben, wohl wissend, welche Schmerzen und Enttäuschungen den Idealisten in der nüchternen Welt erwarten, aber auch wo die Region ist, in der seine Seele ihre wahre Heimat hat und ewige Befriedigung findet.

Ich blieb die ganze Zeit der AufRihrungen in Bayreuth und wohnte allen bei. Einen ganz besonderen Zauber übte dabei auf mich was seltsam klingt eine Tänzerin; auf mich, der das Ballet, wie es gegenwärtig ist, der^ grössten Widerwillen einfiösst. Er war dies die Signora Zucchi aus Mailand, eine Italienerin, schon nicht mehr ganz jung, die aber mit dem schnellen Verständnis ihres Volkes für alles Künstlerische, alsbald begriffen hatte, wie Frau Wagner die Erscheinung der drei Grazien im Venüsberg

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dstfgestellt haben wollte. Nicht in der absurden Weise, wie man es damals in Paris getan, in kurzen rosa Florkleidern, sich ganz nach Art der gewöhnlichen Ballettänzerinnen bewegend, sondern in langen, weissen, griechischen Gewändern, nuf anmutsvoll leicht schreitend, oder in klassischen Stellungen ruhend und durch Pantomimen aus- drückend, was ihres Amtes war. Die Zucchi löste die Aufgabe in geradezu bezaubernder Weise und zeigte sich dabei als eine Mimin ersten Ranges, auch spätei: als sie im Wagnerischen Hause, uns ganz allein eine improvisierte Vor- stellung gab; in spanischem Kostüm, zunächst den BoUero reizvoll tanzte und dann ein voll- ständiges kleines Drama aufführte. Wie sehr brachte mich das wieder auf Gedanken zurück, die mich öfter beschäftigt hatten und zu denen noch kurz vorher eine geistvolle Freundin aus ihrer Erfahrung mit ihren Kindern, mir die liebenswürdigsten Belege gab, nämlich auf die Einwirkung des Tanzes bei der Erziehung. So wie der Tanz gewiss eine der ersten Äusserungen tief innerlicher, feierlicher, religiöser Gefühle ge- wesen ist, so ist er auch dem Kinde natürlich und sollte von verständigen Erziehern angewendet werden, um das Verständnis des Rhythmus, die Anmut der Bewegungen, das feierliche taktvolle Schreiten, als Ausdruck der Ehrfurcht in der Nähe von etwas Erhabenem, zu entwickeln. Es versteht sich, dass dabei nicht vom modernen Tanz die Rede sein : kann, sondern allein von sinnvollem Bewegen bei gegebenen Rhythmen, von

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heiterem, anmutigem Hüpfen und Springen, als Ausdruck der Freude, ja auch von Vorbereitung zu edler Gemeinsamkeit, im schön geordneten sich langsam und feierlich bewegenden Reigen. Was mich aber mehr als alles fesselte, das war das Bild der künstlerischen Entwicklung Wagners, wie sie sich gerade in den drei, hier zusammenge- stellten Meisterwerken so vollständig verfolgen Hess. In Tannhäuser spielen doch die alten Traditionen noch, hie und da, hinüber, aber daneben steigt schon wie eine leuchtende Morgenröte, das neu erkannte künstlerische Prinzip glorreich empor ; die Einheit des Dichters und Musikers wird als Notwendigkeit offenbar und das charakterisierende Eingreifen der Musik in die schon als selbständig dastehende drama- tische Handlung erscheint als der höchste Aus- druck des vollendeten Kunstwerks. Wie das dem Genius kühn entstiegene, vollständig Neue, zur Gewissheit geworden, nun in unbeschränkter Allgewalt herrscht, wie konnte es besser gezeigt werden als durch die Aufeinanderfolge von Tannhäuser und Tristan, welcher vielleicht mehr noch als alles andere, auch musikalisch, den zum unumstösslichen Sieg gelangten neuen Standpunkt zeigt, der dann im Parsifal, schon gleichsam sich selbst übertreffend, in einer reinen Verklärung endet.

Nach den vier Wochen dieses höchsten Kunstgenusses erfreute ich mich noch einige Tage des intimen Zusammenseins mit den so lange nicht gesehenen teuren Freunden, und setzte-

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dann meinen Wanderstab wieder weiter nach Westen, zunächst nach Ems, wo die einzig übrige der Geschwister, die alte Schwester, die letzten Lebenstage verbrachte; ein Liebes- opfer meinerseits, da ich wenig mehr für dies erlöschende Leben tun konnte und die Zeit zum Besuche herrlicher, von mir noch ungekannter Orte, hätte benutzen können, an denen mir Freude und Belehrung geworden wäre. Von Ems fuhr ich am Rhein hinunter, den ich immer mit Wehmut und Liebe wiedersah, auf dessen Wellen holde Erinnerungen aus ferner Jugendzeit und teure, längst entschwundene Gestalten zu schwimmen schienen und der mir die tief im Herzen wohnende, nie erlöschte Liebe zum Vaterland, zum wahren Deutschtum, stets lebendig zum Bewusstsein brachte. Ja das Land, welches einen Schiller und Goethe, einen Beethoven und Wagner, und eine Schar edler bedeutender Geister, die jener würdig, wenn auch ihnen nicht gleich waren, hervorgebracht hat, musste mir ewig teuer bleiben, obgleich für meine Über- zeugungen viele tiefe Schatten über seiner Gegenwart lagern und obgleich die Feme, durch Natur und Menschen, andere teure, unauflösliche Bande um mein Leben geschlungen hat. In Versailles dann, in Olgas Häuslichkeit, verbrachte ich wieder Sommer und Herbst, aber es war diesmal keine frohe Zeit wie sonst, es kam vieles zusammen um sie zu trüben, vor allem die Erkrankung vom ältesten Sohne Olgas an der Diphtheritis, welche es nötig machte, alle

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übrigen Familienmitglieder aus dem Hause zu entfernen, so dass nur Olga deren aufopfernde Mutterliebe sich nie verleugnete, und die alle Pflege selbst übernahm ^- und ich, zurückblieben. Da kam mir noch einmal, durch zu viel Schmerzliches das sich zusammen gefunden hatte, einer jener Momente, wo alles Weh des Daseins uns überfällt, wo alles sich auflöst in hoffnungs- losem Leid, wo alle Sterne ihr Licht verlieren und nur eine grosse dunkle Öde um uns übrig bleibt und ich verschloss schnell meine Türe, damit niemand mich sähe und weinte noch einmal jene Tränen, die ein sonst mutiges und gefasstes Herz nicht oft weint, die aber, wenn sie kommen, aus jenen Urtiefen der Seele quellen, welche kein Trost erreicht und kein Name nennt.

Aber auch das ging vorüber und im Spät- herbst kehrte ich wie gewöhnlich nach Rom zu- rück. Und abermals sandte mir das Schicksal eine jener Begegnungen, die eine schöne Spur im Leben zurücklassen und mit denen sich rasch in kurzen Stunden mehr Inhalt zusammendrängt als mit dem gewöhnlichen Verkehr in Jahren. Es war dies wieder ein anderer Typus als der vorhin besprochene, ein Aristokrat der edelsten Art, ein Deutsch-Russe aus Livland. Diese Provinz hatte mir schon mehr als eine Persönlich- keit zugeführt, welche mir durch ihre Be- deutendheit, durch ihren Geist und ihr Gemüt innigst wert geworden war; besonders waren dies zwei Frauen, beide in Italien verheiratet,

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von denen die eine leider zu früh dem Gatten, den Kindern und den Freunden durch den Tod entrissen wurde, während die andere, ein Wesen seltenster Art, von einer ungewöhnlichen Bildung, durch Jahre der Trennung hindurch und dann in endlich erreichter Nähe, mir in treuer, gegen- seitiger Freundschaft verbunden geblieben ist. Die erste war: Baronin Cecil von Pilar, ver- heiratete Mariano, die zweite ist Augusta von Stein, verheiratete Rebecchini. Durch das, was ich von diesen ausgezeichneten Frauen und von vielen anderen ihrer Landsleute, namentlich über die oben Genannte der Ostseeprovinzen hörte, gab mir eine äusserst günstige Idee von den Zuständen dort, so wie sie vor noch nicht zu ferner Zeit gewesen waren. Die herrliche Selbst- ständigkeit der adeligen Herren auf ihrem eigenen Grund und Boden, die Möglichkeit, durch grossen Besitz nach unten hin wohltätig und veredelnd zu wirken, sich durch feinste Bildung das Leben reich und fördernd zu gestalten, unter sich, von Besitztum zu Besitztum, in angenehmem, doch nicht beengendem Verkehr, eine Art Oligarchie in beneidenswerter Freiheit bildend, so stellte ich mir das dortige Leben vor. Leider werden jetzt, durch das autokratische Regiment, welchem diese schönen Provinzen seit lange Untertan sind, viele der genannten Vorzüge zerstört und der Despotismus arbeitet daran, das nationale und religiöse Element immer mehr zu bedrücken und zu vernichten. In jenem jungen Mann, Baron v. W. . . ., aber fand ich die Persönlichkeit

M e y^s 9 n b u g , IV. a6

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wie sie, unter den vorhin genannten Verhältnissen, sich zu edler Form und zu tiefem inneren Ge- halt entwickeln musste und eine Bestätigung des vorteilhaften Bildes, welches ich mir von der eigentümlichen Verfassung jener Provinzen ge- macht hatte. In dem Winter, den er in Rom zubrachte, hatte ich Gelegenheit ihn oft zu sehen und in langen Gesprächen die Fülle seiner Kenntnisse, die kein trockenes, pedantisches Wissen, sondern starke Stützen eines sehr eigen- tümlichen, tief seelischen Gedankenlebens waren, zu bewundern und mich an der feinen, voll- kommen edlen und ideal angelegten, im besten Sinne vornehmen Natur zu erfreuen. Hier auch wieder konnte ich nur mit froher Hoffnung in die Zukunft sehen, die von so grosser Begabung und so ernsten Studien die schönen Früchte ernten wird. Grössere Freude und sicherer Trost kann dem Alter nicht werden als die Gewissheit, dass in jungen Seelen die heilige Liebe des Ideals in reinen Flammen brennt, und das die Schöpferkraft da ist, Werke zu erzeugen, welche der Welt wieder Funken jenes himmlischen Feuers bringen, das die Prometheuse aller Zeiten den Göttern haben rauben müssen, um die starre Form der Menschengestalt mit geistigem Inhalt zu beleben. Alle diese einzelnen Trefflichen erschienen mir, wie mir gesandte Boten der Verheissung, dass die Welt nicht untergehen wird im Materialismus, im blöden Streben nach dem Vergänglichen, sondern dass die Begnadeten, die Gottgesandten, immer wieder erscheinen werden.

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um weiter zu bauen an dem kristallnen Dom der ewigen Gedanken, der sich über den ver- gänglichen irdischen Gütern wie ein reiner Bau aus Sonnenstrahlen erhebt, um Licht zu senden, wenn es hier unten Nacht werden will.

Nur noch einen Sommer machte ich die gewohnte Nordfahrt, schon bei mir bestimmt fühlend, dass es die letzte sein würde, da mich die weiten Reisen zu sehr ermüdeten, zu viel von der letzten Kraft verzehrten und ich auch geistig das Bedürfnis der Konzentration auf Oertlichkeit und Klima empfand, gleichsam wie einen Wink, dass die Gedanken sich nicht mehr in die Weite und Breite zerstreuen, sondern immer mehr nach innen und nach oben tätig sein sollten. Doch hatte ich den folgenden Winter die unsägliche Freude, die älteste Tochter Olgas bei mir zu haben, ein eben zur Jungfrau erblühtes geist- und gemütvolles, liebliches Wesen, welches die Einsamkeit meines kleinen Heiriis wieder mit dem holden Reiz der Jugend schmückte und als eine seltene Gunst des Schicksals mir in der zweiten Generation die Zeit zurückrief, wo die Mutter in ihrer Jugendschöne und Seelenanmut neben mir vom Kind dur Jungfrau reifte und damals den Hauptinhalt meines Lebens, Denkens und Tuns bildete. Im Frühjahr kam sie auch um die Tochter abzuholen und blieb mehrere Wochen, als Ersatz fiir den Sommer, den ich nun nicht mehr bei ihnen verbringen konnte.

In diesem Sommer, den ich also in Italien, wie von nun an bis an das Ende, bleiben wollte,

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folgte ich zuerst wieder der freundschaftlichen Einladung von Frau Minghetti auf ihr schönes Mezzaratte. Wie früher verstrich die Zeit da auf das angenehmste, in heiterer schöner Natur und liebenswürdigster Gastfreundschaft und wahrlich auf solchen schönen Landsitzen der reichen Italiener brauchte man gar nicht vor dem Sommer wegzulaufen, denn in den heissen Tagesstunden hat man Frische in kühlen, luftigen, vor der Sonnenglut verschlossenen Räumen, und wer könnte wohl den Zauber der Morgen- und Abendstunden im italienischen Klima be- schreiben?

Nach einiger Zeit jedoch schied ich, um einmal wieder am Meer zu sein, das von jeher für mich mehr Anziehung gehabt hat als die Berge, deren, den Horizont begrenzendes, starres Wesen, mir nach einiger Zeit immer bedrückend wird, wobei mir stets Fausts Worte einfallen: »Gebirgesmassen bleibt mir edel stumm.« Ich ging nachRimini, dem Bologna zunächst liegenden Seeort am adriatischen Meer, dessen Küste für den Sommer der Westküste, weil kühler, vorzu- ziehen ist. Es ist dies jetzt ein sehr besuchter Badeort, mit einem meilenweit ausgedehnten Strand vom feinsten Sand, herrlich zum Baden, so ungefährlich, dass man selbst Kinder ruhig allein im Wasser herumlaufen lassen kann. Der moderne Luxus hat hier bereits auch schon Fuss gefasst, für Annehmlichkeiten und Ver- gnügungen aller Art gesorgt und während sich das Meer von der alten Stadt schon beträchtlich

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weit zurückgezogen hat, an dem neuen Strand eine Stadt sehr zierlicher, zum Teil sehr hübscher Villen entstehen lassen, von denen manche zur Aufnahme von Fremden eingerichtet sind. ^Vom Meere aus gesehen, bildet diese Villenreihe einen anmutigen Vorgrund zu der im Hinter- grund in den malerischesten Formen sich hin- ziehenden Bergkette, als deren Mittelpunkt die dreigipflige Höhe, auf der die Republik von S. Marino liegt, emporragt. Ich fand passende Wohnung, dicht am Meer, in einem der Häuser, welche die Stadt daselbst zur Aufnahme von Fremden hat herstellen lassen. Dort verbrachte ich die Morgen auf einer prächtigen Terrasse, umflutet von herrlicher Meerluft, mit Lesen und Schreiben. Der banalen Vergnügungen nach- jagenden Badegesellschaft ging ich aus dem Wege, und wenn ich am Nachmittag mich hinaus begab auf die grosse Plattform, die man alijährlich weit hinaus ins Meer aufbaut, so unter- hielt ich mich, wenn überhaupt mit Menschen, am liebsten mit den Schiffer- und Fischerleuten, die da mit ihren Barken und Booten hielten, oder ich liess mich hinausfahren aufs Meer, was schon einst in England meine Lust gewesen war und liess mir von den wackeren Seeleuten ihre Lebensschicksale erzählen. Da war besonders einer, auch in den Traditionen seines Rimini erfahren, denn seine Barke hiess Francesca, der fuhr mich oft hinaus und erzählte mir von den Fahrten um die Welt, die er als Jüngling auf einem grossen Schiff gemacht und wie er dann,

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schon als gereifter Mann, an einer Krankheit, die ihn zum Seedienst auf den Staatsschiflfen untauglich machte, in die Heimat zurückgekehrt sei, um sich nach der Fremdenzeit mit Fisch- fang, so gut es gehen wollte, zu ernähren. Nun sei es ihm aber einsam und traurig gewesen, da seine Angehörigen inzwischen gestorben waren und doch habe er es nicht gewagt sich um ein Mädchen zu bewerben, da er nicht mehr jung und dazu arm gewesen sei. Bekannte von ihm hätten ihm aber gesagt, sie hätten ein armes Mädchen, eine ganz verlassene Waise, in Dienst genommen, die sei so schön und gut, so bescheiden und sittsam, dass wenn er die zum Weibe haben könnte, so würde er glücklich werden. Nun sah «r sie, fand alles wahr was zu ihrem Lobe gesagt war und fragte sie, ob sie sich entschliessen könne, ihn zu heiraten. Sie, ebenso bescheiden wie er, hatte nicht geglaubt, dass ein Mann sie in ihrer Armut und Niedrigkeit werde heiraten wollen, und dankbar und gerührt gab sie ihr Jawort. Er war auch noch ein schöner Mann mit seinem dunkel gefärbten Antlitz, aus dem zwei leuchtende Augen, feurig und doch mild und gütig unter den dichten Brauen hervorsahen und mit dem schwarzen lockigen Haar, das sich unter dem breit- krämpigen Hut nur halb barg und das kaum erst einzelne helle Fäden durchzogen. Als er draussen auf still gekräuselter See bloss das Segel zu dirigieren hatte, das seine »Francesca« weiter führte, blieb ihm Zeit, mir diese seine einfache und doch so liebliche Herzensgeschichte zu erzählen und als

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wir wieder an der Plattform ausstiegen, sagte er: »Nun muss ich Ihnen doch meine Kinder zeigen.« Er winkte zwei kleine Mädchen herbei, die auf der Plattform, wo auch Buden waren, an einem Bänkchen standen und Muscheln, die der Vater im Meer gefangen hatte, verkauften. Es waren zwei allerliebste Geschöpfe; die Älteste mit dem über ihre Jahre gehenden Verständnis dessen, was die Armut bedeutet, d. h. Arbeit und Entbehrung aller Lebensfreude, im Ausdruck, wie er sich öfter bei gutgearteten Kindern des Volkes findet und unaussprechlich rührend anzusehen ist, die zweite, erst fünf Jahr alt, ein blühendes, sorglos heiteres Wesen, welches auf des Vaters Aufforderung, gleich ohne Scheu in voller Natürlichkeit mehrere Gedichte, von passender Grestikulation begleitet, korrekt und ohne zu stocken hersagte. Sie hatte sie in dem Kindergarten zu Rimini, der von wohl- tätigen Frauen gegründet ist, gelernt. Nun musste ich aber versprechen auch die Mutter kennen lernen zu wollen, die als ordnende Hausfrau immer daheim blieb. Am folgenden Tag also ging ich in das Schifferquartier am Hafen, wo die Familie wohnte, von den Kindern geleitet und im Hause von der Mutter erwartet. In ihr fand ich nun wieder eines jener hold- seligen Wesen, wie sie das italienische Volk, da wo es noch nicht verdorben ist durch Fremden- verkehr und anderes, so häufig zeigt; diese Augen der Madonnen Raphaels, in deren uner- gründlichen Tiefen Jungfräulichkeit, Seelenreinheit

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und ernste, beinah feierliche Hoheit liegen, dieses Schlanke, Mädchenhafte, das auch die Mutter noch beibehält und die liebliche Unbewusstheit der eignen Anmut. In dem kleinen, ärmlichen, aber sauber gehaltenen Raum, in welchem diese Familie wohnte, musste ich nun alles besehen, was er von Eigentum enthielt, besonders die Schreibbücher der Kinder, die das Glück hatten, unentgeltlichen Unterricht, den die Mutter nie gehabt hatte, in Kommunalschulen und Kinder- garten zu geniessen, und den einzigen Schmuck, den man besass, eine Anzahl schöner Muscheln, welche der Vater heim gebracht hatte. Eine der schönsten wurde mir alsbald zum Geschenk dargereicht, mit dem edlen Gleichheitsgefiihl des italienischen Volkes, das auch in seiner Armut, durch die Spenden der freigebigen Natur immer noch dem Fremden eine Gabe anzubieten hat, ehe ihm noch etwas gegeben ist. Man muss eben das Volk nicht nach den Orten beurteilen, die Fremde gewöhnlich nur sehen; man muss zu ihnen gehen an die Stätten, wo noch das ursprüngliche Naturell, unverdorben von fremden Einflüssen und dem Getriebe des materiellen und kommerziellen Verkehrs, herrscht, um zu wissen, was dieses Volk ist.

Gerade hier in Rimini und besonders an der Bevölkerung des Hafens, lernte ich es aufs neue kennen und lieben. Der Charakter derselben ist im allgemeinen liebenswürdig, friedlich, eher bedächtig als übereilt im Handeln, aber beharrlich und mutig, wie sie das im Kriege und auf dem

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Meer bewiesen hat und noch beweist. Sie ist genügsam und strebt nicht nach grossem Gewinn, daher man dort weder sehr grosse Reichtümer noch sehr grosses Elend findet. Wie gesagt, ganz besonders ausgeprägt findet sich dieser Charakter bei dem J Schiflfervolk des Hafens, welches längs demselben ein eignes Quartier be- wohnt, gleichsam einen kleinen Staat fiir sich bildet und einen Verein zu gegenseitiger Unter- stützung organisiert hat, der die Mittel gewährt, um niemand verhungern zu lassen. Ich verkehrte viel dort mit diesen Leuten und einer der Schiffer sagte mir: »Wir sind Jarm, aber wir arbeiten, sind zufrieden 'und jeden, der arbeiten [will, nehmen wir auf wie einen Bruder und helfen ihm. Doch die Faulen, die Müssiggänger, die weisen wir unerbittlich streng von uns aus.« Kann man eine bessere, vollständigere Moral finden für ein Gemeinwesen als sie in diesen wenigen Worten enthalten ist?

Der Hafen ist durch das sich immer mehr zurückziehende Meer beinah wie ein langer Kanal geworden und bedürfte bedeutender Ausbesse- rungen, um wieder Beförderer der Interessen und der Wohlfahrt des Landes zu werden, wie er es unter den kulturfreundlichen Malatesta war, woran aber das jetzige italienische Grouvemement gar nicht denkt. Doch ist der Handel, der von hier ausgeht, noch immer nicht unbeträchtlich. Die grossen Barken, die da vor Anker liegen, führen Ladungen von Backsteinen, die in Massen bei Rimini verfertigt werden, Holz, Fischen u. a.

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hinüber nach Dalmatien, Fiume, Triest etc. Dabei lebt das Volk einfach und genügsam, meist nur von Polenta, welche die Ärmsten so- gar mit Seewasser kochen, um das Salz zu sparen. Aber am Hafen sind es Fische und Seetiere, welche die Hauptnahrung ausmachen. Es ist ein malerischer Anblick, die kräftigen, sonnen- gebräunten, oft sehr schönen Männer gegen Abend in den Barken um die dampfende Schüssel sitzen zu sehen, in welcher die Seetiere in der eigenen Brühe kochen und in die ein jeder mit seinem Löffel fährt, um sich seinen Anteil an Speise zu holen. So mag der vielgewanderte Odysseus mit den Gefährten beim »lecker bereiteten Mahle« gesessen haben, als er nach beendetem Kampf auf geräumigen Ruderschiff auszog, um die ge- liebte Heimat, das meer umflossene Ithaka, wieder zu sehen, im fröhlichen Vorgefühl nicht ahnend, welche schwere Prüfungen ihm noch bevorstanden. Es war aber nicht das moderne Rimini, welches mich am meisten anzog; es war das alte, jetzt zu einem kleinen Provinzialstädtchen herabgesunkene, welches für viele Wochen mein lebhaftestes Interesse in Anspruch nahm. Denn Rimini hat eine Geschichte, wie so viele der italienischen Städte, und zwar eine der bedeu- tendsten. Es hat auch noch Trümmer aus alter Zeit, einen prächtigen Triumphbogen aus der des Kaisers Augustus und eine schöne Brücke, die über einen Arm des zweigeteilten Rubikon führt, der hier aber jetzt den Namen Marechia hat, während den anderen Arm der berühmte

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Name blieb, der ja noch immer zu der Bezeich- nung einer kühn gewagten Tat, im Gedenken an Julius Cäsars Überschreiten der ihm gesteckten Grenze, dient.

Seine eigentliche Bedeutung aber hatte Ri- mini erst, als es, wie so viele andere italienische Städte, der Herrschaft eines Geschlechts unter- worfen wurde, welches es mächtig im Krieg und hervorragend im Kulturleben machte. Angezogen durch die berühmten Episoden und Namen des- selben, sowie durch die Betrachtung der pracht- vollen, leider nicht vollendeten Kirche, die Sigis- mondo Malatesta baute und die. wenn vollendet, eines der herrlichsten. Monumente Italiens sein würde, beschloss ich, mich näher mit der Ge- schichte der Malatesta zu beschäftigen. Der Direktor der vorzüglichen Bibliothek der Stadt, dessen Vater einer der besten Historiographen Riminis gewesen ist, empfing mich auf das zu- vorkommendste, und ich fuhr nun jeden Morgen mit dem Tram durch die schönen Alleen, die vom Meere nach der Stadt fuhren, in dieselbe und begab mich für mehrere Stunden in den alten Palazzo, in dessen geräumigem Erdgeschoss sich die Bibliothek befindet. Hier lernte ich eine neue Freude für den wissensdurstigen Geist kennen, die nämlich : an den Quellen der Ge- schichte selbst schöpfen zu können, zu vergleichen, zu urteilen und vielleicht etwas zu entdecken, was den andern entgangen ist, jedenfalls sich unmittelbar in den Geist der Zeit, die man stu-

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dieren will, zu versenken und sie nicht erst durch das Medium eines anderen Geistes zu sehen.

Ich verfolgte jetzt die Geschichte dieses merk- würdigen Geschlechts der Malatesta, die eine ununterbrochene Reihe hervorragender Gestalten durqh mehrere Jahrhunderte hindurch aufzuweisen haben. Schon im Jahre 1150 wurde ein Gio- vanni in Rimini Bürger. Sein Sohn war ein wilder, grausamer Mensch und erhielt daher den Beinamen: Malatesta (böser Kopf), der dann zum Familiennamen des Geschlechts wurde, wie es damals häufig geschah, dass die Beinamen, welche die Soldaten ihren Führern gaben, nacher der Familie verblieben. In der malerischen Kette der Berge von Carpegna sieht man noch auf steiler Felsspitze das alte Kastell Verrochio, das einer der ersten festen Sitze der Malatesta war. Ein Malatesta von Verrochio war das Haupt der Guelfen, die damals in den fortwährenden Kämpfen in der Romagna die Oberhand hatten, und er wurde der eigentliche Gründer der Herrschaft des Geschlechts in Rimini, welches dann unter seinen Nachkommen zu einer Kulturstätte wurde, die man mit Recht ein kleines Athen nennen könnte. Eben dieser Malatesta, heftiger Feind der Ghi- bellinen, wurde der Hundertjährige genannt, denn er lebte von 1212 bis 1313. Die Päpste beschützten ihn, aber Dante hat ihn arg behandelt, sowie auch seine Söhne. Der älteste derselben, Giovanni, von seinem körperlichen Grebrechen Sciancato (der Hüftenlahme) und schlisslich Lan- zelotto genannt, war schon als Jüngling im Kriegs-

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handwerk berühmt, aber er war eine harte Natur und reizbar durch seine körperlichen Gebrechen. Ihm war es zwar bestimmt, »unsterblich im Ge- sang zu leben«, aber in trauriger Gestalt und der Gehasste aller Generationen zu sein, während seine Opfer durch liebendes Mitleid verklärt wurden. Er hatte im Dienste eines de Polenta von Ravenna, zur Zeit Podestä von Pesaro, einen Sieg errungen und als Siegespreis war ihm die Tochter Polen tas, Franceska, versprochen. Sein Bruder, Paolo il bello, so genannt wegen seiner Schönheit und Liebenswürdigkeit, wurde nach Pesaro gesandt, die Braut für den Bruder zu freien, so erzählt Bocaccio. Als er dort ankam, zeigte eine Frau ihn der Franceska vom Fenster aus und sagte: »Das ist der, welcher dein Mann werden soll.« Bocaccio meint, dass das gute Weib es wirklich geglaubt habe. Was war na- türlicher, als dass Franceska den Schönen; Liebens- würdigen gleich mit Neigung empfing und dass er für die reizende Jungfrau in Liebe entbrannte? Aber seinem Wort getreu führte er die Braut nach Rimini, wo grosse Feste sie erwarteten, doch auch die bitterste Enttäuschung, als sie den ihr be- stimmten Gatten erblickte. Als sie dann mit Paolo das Geschick der Liebe las, welche der ihrigen so ähnlich war, da konnten sie freilich nicht weiter lesen, denn das Buch wurde ihnen, was der Liebestrank für Tristan und Isolde war, die Offenbarung ihres schmerzlich süssen Geheim- nisses. Aber der verratene Gatte war kein grossmütiger König Marke, er gab ihnen den

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Tod und meinte, damit den schuldigen Bund lösen. Doch die Poesie wollte es anders undL weihte sie in unzertrennbarem Verein der Ewig^- keit ihrer Liebe.

Wie es jetzt so vielfach geschieht mit Begebenheiten und Gestalten, die in unsere^ nüchterne Gegenwart nicht mehr passen, dass^ man sie in das Reich der^ Fabel verweist, so hat man es auch mit Paolo und Franceska machen wollen, ja, man hat sogar behauptet^ dass Dante die Episode durchaus erfunden habe. Dem widerspricht aber zunächst die Erzählung- Bocaccios und dann der Umstand, dass Dante, ein Zeitgenosse und teilweise Mithandelnder der Kämpfe und Ereignisse jener Epoche, im Hause eines Polenta, Neffen der Franceska, sein letztes Asyl fand und da bis zu seinem Tode gastlich gepflegt wurde, was doch wohl nicht geschehen wäre, hätte er von so nahen Verwandten Falsches berichtet. Wäre es aber auch blosse Phantasie des Dichters, so hat der Fall, durchaus in den Sitten der Zeit, die dichterische Wahrheit, die der Realität gleich- kommt, und Paolo und Franceska werden un- sterblich leben, so lange es Herzen gibt, die für Liebe und Poesie Empfindung haben.

Ein Enkel des Hundertjährigen, Galeotto, regierte in Rimini bis 1385. Seine älteste Tochter, Madonna Gentile, an den Herrn von Faenza verheiratet, war eine tapfere, kriegs- mutige Frau, mit den besonderen Gaben ihres Geschlechts ausgestattet. In einem Krieg

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zwischen Mailand und Florenz nahm sie, in Abwesenheit ihres Gemahls, für ersteres Partei. Ihre Brüder kämpften für Florenz und forderten sie auf, mit ihnen zu sein, aber sie sagte, es täte ihr zwar leid, gegen die Brüder zu kämpfen, aber Faenza sei für die Visconti von Mailand und sie habe »die Seelen in ersterem in Obhut.« Sie stieg bewaffnet zu Pferd und zog mit einer Schar bewaffneter Frauen ins Feld. Der Chronist der Zeit vergleicht sie mit Penthesilea und erzählt, dass sie, ihren Amazonen voran, auf die Feinde losgestürmt sei, welche ihr »mit wenig Ehre« weichen mussten.

Ihr ältester Bruder Carlo, mit dem die neue Zeit beginnt (von 1364 bis gegen Mitte des XV. Jahrhunderts), war eine der be- deutendsten Persönlichkeiten in der Reihe der Malatesta. Damals kamen eben die durch die Türken aus der Heimat vertriebenen Griechen nach Italien herüber und brachten das milde Licht ihrer Kultur den bisher nur durch Kampf und Zwietracht genährten Gemütern reich be- gabter Menschen. Carlo war ein tapferer Con- dottiere, aber auch ein gebildeter, jedem Kultur- werk geneigter Mann. Er gab Rimini eine gut geordnete Verwaltung, seine Untertanen waren stolz auf ihn, und als er zuerst in Rimini einzog, bereiteten sie ihm einen festlichen Empfang. Eine Prozession von 9000 weiss gekleideten Männern und von 8000 Frauen, an deren Spitze Elisabeth Gonzaga, Carlos Frau, folgten ihm zur Kirche. Nacher stieg er auf eine Estrade

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und ermahnte das Volk tätig zu sein in guten Werken; gewiss eine schönere Aufforderung in einer kriegerisch doch so bewegten Epoche, als Kriegsheere zu loben und als die Spitze der Kultur hinzustellen, wie es leider in unserer Zeit so häufig geschieht.

Dabei liebte er die Kunst, liess in seiner Wohnung Fresken malen, bei denen der damals noch sehr junge Ghiberti tätig war. Carlo, seine Begabung ahnend, wollte ihn behalten, aber der Konkurs für die Türen zum Bap- tisterium in Florenz zog ihn dahin zurück. Doch schreibt er in seinen Kommentaren, dass um 1400 in Rimini schon ein kleiner Hof war, wo Künstler hochgeschätzt wurden. Mit den Hu- manisten war Carlo in Verkehr; eine der ersten italienischen Akademien entstand unter seinem Einfluss und er war bei alledem ein frommer, heiliger Mann, so dass Papst Martin V. ihm seine Nichte, nach dem Tod der Gonzaga, zur Frau gab. Er und sein Bruder Pandolfo waren mit die ersten Fürsten in Italien, welche Künstler und Gelehrte sich gleichstellten, während man sie im Vatikan, bei öffentlichen Gelegenheiten, noch mit den Dienstboten zusammentat.

Carlo war kinderlos, aber Pandolfo hinter- liess drei illegitime Söhne, die Carlo, der ihn überlebte, zu sich nahm und mit väterlicher Liebe erzog, auch vom Papst Martin V. ihre Legitimation erwirkte. Nach Carlos Tod folgte ihm der älteste der drei, Galeotto, eine seltsame Ausnahme in dem sonst so kriegerischen Ge-

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schlecht, denn er war solch ein fanatischer Asket und kasteite sich so stark, dass er mit zwanzig Jahren starb. Ihm folgte sein Bruder Sigismund Pandolfo, die hervorragendste Er- scheinung in der Reihe der bedeutenden Menschen dieses Hauses, in welchem sich alle hohen, grossen, edlen, mit den wilden, grausamen, leidenschaftlichen Trieben desselben vereinigten, und eine Persönlichkeit bildeten, die zu gewaltig war für den engen Rahmen ihrer irdischen Macht. Er ging an dem Übermass des Ehrgeizes und der gigantischen Tatenlust zu Grunde, aber nicht ohne Spuren seiner grossen geistigen Be- deutung zu hinterlassen, welche der Nachwelt ein milderes Urteil über ihn gestatten, als der Hass seiner Feinde es seinen Zeitgenossen auf- zudrängen gesucht hat. Die Gestalt dieses un- gewöhnlichen Menschen interessierte mich so, dass ich mit Eifer in den Quellen forschte, um mir mein eigenes Urteil über ihn zu bilden. Ja, er erinnert an die Helden Plutarchs und während er, mit dem Schwert in der einen Hand, sich den Kühnsten aller Zeiten gleich- stellte, schuf er mit der anderen Hand Werke des Friedens und edelster Kultur. Man muss ihn aber nicht aus dem Bilde seiner Zeit heraus nehmen, ihn nicht mit dem Massstab modemer Moralität messen Swollen, sondern bedenken, dass, während die übrige Welt noch vom Dunkel des Mittelalters bedeckt war, an seinem Hof bereits das Licht der Wissenschaft und Kunst strahlte. Erst 13 Jahre alt, erfocht er fiir seinen Bruder

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Galeotto einen glänzenden Sieg und 2 Jahre später einen anderen, der seinen Ruhm, der grösste Condottiere der Zeit zu sein, begründete. Seine Hochzeit mit Ginevra d'Este wurde mit glänzenden Festen gefeiert; der Kaiser Sigismund, von Rom kommend weilte in Rimini und wurde festlich bewirtet; Rimini war ruhig und glück- lich; kurz, Malatestas Regierung fing schön und glänzend an.

Sigismunds Gemahlin, Ginevra, starb, erst 22 Jahre alt, ohne Kinder zu hinterlassen. Aber schon bei ihren Lebzeiten wurde sein Herz von einer jener grossen Leidenschaften ergriffen, die, in einer so gewaltigen Natur, jedes Einspruchs von Sitte und Gesetz zum Trotz, ihr Recht be- haupten, und die, ungeachtet mancher momen- tanen Untreue, sein Leben bis an das Ende beherrschte.

Isotta degli Atti war es, welche diese Liebe hervorrief. Sie war aus adeligem Geschlecht und vor allen Frauen Riminis ausgezeichnet durch hohe Bildung in Musik, Poesie, Kunst und Wissenschaft. Dass sie schön gewesen sei, sagen uns die von ihr erhaltenen Bildnisse nicht; aber sie muss einen Zauber besessen haben, der mehr fesselte als Schönheit und es spricht für Sigismund, dass dieser Zauber edelster, geistiger Art ihn, der, wie in allem so auch in seiner sinnlichen Natur übermächtig war, durch das ganze Leben festhielt. Auch seine Feinde konnten nichts gegen sie sagen und selbst Pius 11., Sigismunds ärgster Feind, schrieb:

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»er liebte Isotta über alles und sie war es wert.« Sigismund war ein häufiger Besucher im Palast der Atti und besang Isotta schon als er erst 20 Jahre alt war, doch bezeugen diese Gedichte, dass sie ihm damals noch nicht zu eigen war. Aber auch nachdem sie seine Ge- liebte geworden war, hielt er sie über alles hoch, nannte sie »die Ehre Italiens«, liess ihr Bild, auf einem Medaillon, von den ersten Künstlern Italiens verfertigen und von den be- rühmtesten Poeten Gedichte auf sie machen, die er in einer Sammlung mit dem Titel »Isottoei« vereinigte. Warum er sie nach Ginevras Tode (1440) nicht heiratete, ist unbekannt; wahr- scheinlich war es aus politischen Rücksichten, die ihn auch zu einer zweiten Ehe mitPolixena Sforza bewogen. Wie hoch er aber immer Isotta auch öffentlich stellte, beweist u. a., dass er ihren Bruder in seinem Schloss mit grosser Festlichkeit zum Ritter schlug und mit Geschenken überhäufte. Charakteristisch für die Ansichten der Zeit ist es, dass ein benachbarter Füröt, Guido von Urbino, in zahlreicher Versammlung und in Gregenwart der legitimen Frau des Haus- herrn, dem neuen Ritter, Bruder von des letzteren Geliebten die goldenen Sporen um- schnallte und dies, ohne Anstoss zu geben, tun durfte. Isottas Vater, welcher anfangs der Tochter harte Vorwürfe gemacht hatte, war längst versöhnt und als auch Polixena starb, wurde Isotta endlich Sigismunds legitime Frau (1456). Sie war eine vortreffliche Gattin und

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Mutter, milderte und versöhnte bei den Fehlem, zu denen ihn sein Ehrgeiz verleitete, hielt ihn aufrecht im Unglück, verkaufte ihr Geschmeide, als er in Not war, opferte alles für ihre Kinder, und, als sie später die Regentschaft führte, stand sie in bestem Einvernehmen mit den anderen Fürsten Italiens, die sie hoch schätzten und nach Sigismunds Tod beschützten. Sigismund hatte zwei Todfeinde; der eine war Papst Pius 11. (Äneas Sylvius Piccolomini), der ihn hasste, weil er sich untreu im Dienst von Siena benommen hatte, und der zweite war Federigo von Montefeltro, der in fortwährendem Zwist mit ihm war, wegen streitiger Besitztümer, die sie abwechselnd eroberten und sich wieder entrissen. Umsonst versuchten andere italienische Fürsten sie zu versöhnen, der Streit dauerte zwanzig Jahre lang und endete erst mit Mala- testas Ruin. Im Jahr 1460 berief Pius n. einen Kongress nach Mantua, um einen ICreuzzug zu organisieren, lud auch Sigismund dazu ein und verordnete deshalb einen Waffenstillstand mit den Feinden desselben, die ihn in Rimini hart bedrängten, wogegen er aber einen Vertrag an- nehmen musste, der ihn mehrerer Besitzungen beraubte. Sigismund, selten Verträge haltend, brach auch diesen alsbald und suchte die ge- nommenen Besitzungen wieder zu erobern. Darüber erzürnte sich der Papst aufs neue, exkommunizierte ihn und verlangte vom heiligen Kollegium seine Verurteilung, nachdem er alle seine angeblichen Missetaten aufgezählt hatte.

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Er beschuldigte ihn, sein zwei Frauen getötet, eine edle Deutsche, deren Schönheit ihn reizte und die ihm widerstand, umgebracht zu haben; erklärte ihn für einen Heiden, der nicht an die Unsterblichkeit der Seele glaube, wie es die von Malatesta gewählten Skulpturen in der von ihm neu gebauten Kirche S. Francesko bewiesen^ wo er »nicht einmal Gott verherrlicht habe«. Endlich erklärte er ihn für einen Verräter und Feind Gottes und der Menschen, der die Anjous und die Türken nach Italien gerufen habe und der verdiene, verbrannt zu werden. Das Urteil wurde bestätigt und der Papst liess nun von einem Künstler eine Gestalt verfertigen, dem Malatesta so ähnlich, das man ihn zu sehen glaubte und liess ihr einen Zettel umhängen mit der Inschrift: »Ich bin Sigismund, Sohn Pandolfos, Fürst der Verräter, Feind Gottes und der Menschen, durch das heilige Kollegium zu den Flammen verdammt.« Dann wurde diese Gestalt feierlich auf den Stufen von St. Peter verbrannt.

Von dieser Verurteilung gingen ohne weiteres die Gerüchte aus, nach denen die Ge- schichte Sigismund beurteilt hat. Mich aber liess das Interesse an dieser grossartigen Gestalt nicht dabei stehen bleiben und es ergaben sich mir, wie ein freudiges Licht, aus weiteren For- schungen folgende Schlüsse, die ich dem An- denken Sigismunds und Isottas zu rechtferti- gender Entgegnung gegen ihre Feinde weihe. Zunächst fand ich, dass die Beschuldigungen

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zuerst von den zwei erbittertsten Feinden Ma- latestas ausgesprochen wurden, vom Papst und von Montefeltro, welche beide das grösste Inter- esse daran hatten, ihn hassenswert hinzustellen; dann, dass die Väter der zwei Frauen, ein Este und ein Sforza, ihn nie beschuldigt haben, an dem Tode derselben schuld zu sein; ferner, dass in dem wilden Kriegsleben jener Zeit gewiss vieles geschah, welches ausser ihm auch andere Kriegsführer sich zu Schulden kommen Hessen, ohne deshalb von der Kirche verdammt zu werden, und endlich: wenn, was wohl nicht zu bezweifeln ist, seine leidenschaftliche, in jeder, auch in sinnlicher Beziehung übermächtige Natur ihn öfter zu Gewalttaten hinriss, so muss man doch auch in die andere Wagschale das werfen, was er ausser jener wilden Seite seines Wesens war: ein Mann von der höchsten geistigen und künstlerischen Begabung, welcher das Schöne an sich, frei von dogmatischer Beschränktheit, liebte, wie es die herrlichen Skulpturen seines Tempels beweisen, aus denen feindliche Bös- willigkeit ihm einen Vorwurf machte, während sie doch nur die edle künstlerische Freiheit seines Geistes zeigen, ein Mann schliesslich, welcher Künstler und Gelehrte auf das grossmütigste ehrte und belohnte und, was am meisten für ihn spricht, dem eine Frau wie Isotta in treuester Liebe verbunden blieb.

Nach der Komödie der Verbrennung des Bilds in Rom griff der Papst zu dem Mittel niedrigster Verfolgung, indem er die Untertanen

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Sigismunds durch Bedrohung mit kirchlichen Strafen gegen ihn aufhetzte und im Verein mit den anderen Feinden ihn so bedrängte, dass sich Sigismund zuletzt genötigt sah, im Jahr 1463 nach Rom zu gehen und sich zu demütigen, worauf ihm die Kirche all seinen Besitz, ausser Rimini, abnahm und so, wie fast immer bei ihren politischen Verhandlungen, ein gutes Ge- schäft machte. Aber Sigismunds stolze Seele und unglaubliche Energie waren auch durch die widrigsten Schicksale nicht zu beugen. Er begab sich in den Dienst Venedigs, welches Krieg gegen die Türken führte, und befehligte dessen Truppen in Morea, tat Wunder der Tapferkeit, wurde aber von der misstrauischen Regierung Venedigs nicht so unterstützt, wie es hätte sein sollen. Dort überfiel ihn eine schwere Krankheit, so dass man ihn in Italien schon tot sagte, aber 1466 kehrte er genesen zurück und wurde nun vom Papst Paul IL, dem Nachfolger Pius n., der inzwischen gestorben war, nach Rom, wo man ihn im Bilde verbrannt hatte, eingeladen, und dort wurde ihm, dem Kämpfer gegen die Ungläubigen, ein festlicher Empfang zuteil. So wechselten damals die Ansichten der infalliblen Männer auf dem päpstlichen Stuhl!

Aber Sigismunds Schickssil eilte dem tra- gischen Ende aller Heldennaturen zu. Papst Paul handelte treulos gegen ihn, wollte Rimini durch- aus für die Kirche in Besitz nehmen und bot ihm dafür Foligno und Spoleto. Da flammte noch einmal der wilde Zorn in Sigismunds Seele

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auf; sein Rimini, wo er sich sein Heim und künstlerisch Herrliches geschaffen, konnte er nicht hergeben. Er eilte abermals nach Rom mit dem Vorsatz, den Papst zu töten. Sein Zorn und sein Schmerz waren so heftig, dass er weder Speise zu sich nehmen, noch schlafen konnte, so dass sein treuer, vertrautester Diener ihn flehentlich bat, ihm seinen Kummer zu gestehen und all seinen treu ergebenen Dienern nicht den Schmerz zu bereiten, ihn in solchem Zustand zu sehen. Dies ist wieder einer von den Zügen, deren der Chronist so viele erzählt, die beweisen, dass Sigismund warm von seinen Untergebenen geliebt wurde, also ein gütiger Herr war.

Der Papst, vielleicht vom Bewusstsein seiner Treulosigkeit gewarnt, empfing Sigismund, um- ringt von Kardinälen und Gefolge. Sigismund hatte gehofft, ihn allein zu finden und mit dem unter dem Gewand verborgenen Dolch zu töten. Vor der unerwarteten Versammlung brach endlich sein stolzer Wille und in dem erschütternden Gefühl, dass es mit seiner Macht zu Ende sei, fiel er anstatt zu morden, dem Papst zu Füssen und bat, ihm sein Rimini, an dem sein Herz hing, zu lassen. Dafiir verordnete ihm der Papst, Führer der päpstlichen Truppen zu sein. Aber das war eine zu kleinliche Aufgabe für seine hochfliegende Seele, so ärmlich konnte er nicht enden. Er kehrte nach Rimini zurück, versorgte seine Kinder mit angekauften Gütern, bat vor allem sein begonnenes herrliches Werk, die

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Kirche von S. Francesko, zu vollenden, be- schäftigte sich noch liebevoll damit, das Schicksal Isottas und seines gehebten Sohnes Sallustio, zu sichern, und starb im Oktober 1468, erst 51 Jahre alt.

Isotta aber und Sallustio fielen dem Neid und der Grausamkeit von Isottas Stiefsohn Roberto zum Opfer; er liess sie ermorden und die Kirche strafte ihn nicht dafür. Sigismunds Schöpfung in S. Francesko blieb unvollendet; aber was da- von erhalten ist, spricht wieder für ihn in viel- facher Weise. Zuerst zeigt eine Inschrift in griechischer Sprache, wie ihm der Gedanke zu dem Bau gekommen; sie lautet: »Sigismund Pandolfo Malatesta von Pandolfo, in vielen und grossen Gefahren in den italischen Kriegen be- wahrt und siegreich, errichtete, freigebig spendend, dem unsterblichen Grott und der Stadt einen Tempel, wie er es mitten in jenen Kämpfen ge- lobt hatte, und hinterliess ein ruhmvolles und heiliges Andenken.«

Allerdings hatte darin Pius 11. recht, dass Sigismund in den Skulpturen, die den Tempel schmücken, nicht gerade Grott verherrlicht habe, vielmehr scheint es, dass er der grossen echten Liebe seines Lebens, der für Isotta, ge- weiht war. Denn nicht nur, dass er ihr und sich bei Lebzeiten prächtige Grrabmäler in demselben errichten liess, es finden sich auch überall an den Friesen, den Architraven und Balustraden die beiden Initialen S und I schön verschlungen ein- gegraben, gleichsam als hätte er die Ewigkeit

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dieserLiebe, allen vergänglichen, irdischen Ver- irrungen in eine höhere geistige Welt entrückt, bezeugen wollen.

Das tiefe, beinah leidenschaftliche Interesse^ welches mich an das Studium der Geschichte dieses an ausgezeichneten Gestalten so reichen Geschlechts fesselte, und die Freude, die ich empfand, die hervorragendste derselben, die Si- gismunds, mir in das rechte Licht zu stellen, verschönte mir die Zeit, die ich in Rimini ver- brachte, so dass ich die moderne Badewelt um mich her kaum noch sah und neben jenen nur noch am Meer, stärkender Luft und schönen Aus- flügen mich ergötzte. Die Abende, bis zu später Stunde auf der grossen Plattform, rings vom Meer umrauscht, waren besonders köstlich und reich an Eindrücken, die in eine Gedankenwelt führten. So sah ich z. B. eines Abends, was ich noch nie gesehen hatte, den Mond aus dem Meer aufsteigen. Die Sonne im Meer auf- und untergehen hatte ich schon öfter gesehen, auch schon den Mond in das Meer versinken, aber ihn aufsteigen aus demselben noch nie. Es war ein entzückend schönes Schauspiel, welches mir wieder die tiefe Poesie der griechischen Seelen verdeutlichte, die jeden Naturvorgang mit Ideen in Verbindung brachten und daraus eine belebte Welt ide- eller Wesen schufen. Wie sich die mild leuch- tende Scheibe langsam aus der dunklen Flut emporhob und, höher steigend, einen Lichtäther verbreitete, über dem sich der dunkle Nacht- himmel wie ein Tempel wölbte, da konnte man

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wohl eine zarte jungfräuliche Göttin ahnen, die, in keuscher Sitte durch die Nacht wandelnd, nur einmal, von der Schönheit des schlafenden Schä- fers Endymion allmächtig gerührt, sich hernieder neigte, um den schönen Schläfer leise mit einem Kuss zu grüssen. Jetzt haben Sprache und Wissenschaft den Mond degradiert, ihn zum männ- lichen, kalten, halb erstarrten Körper gemacht ist der Gewinn an Wissen den Verlust an Poesie wert?

Eines Ausflugs in die liebliche Umgegend Riminis muss ich noch gedenken, an einen Ort, der in die Gegenwart wie ein Stück Vergangen- heit hineinragt und doch ein sehr bemerkens- wertes Stück Leben enthält.

In der äusserst malerischen Linie der Berg- kette, welche das Panorama von Rimini, vom Meer aus gesehen, abschliesst, erhebt sich über die anderen Höhen eine dreigipfelige Felsmasse, welche der »Titan« genannt wird. Sie trägt, frei und stolz wie ein Adlernest, die kleine merk- würdige Republik San Marino. Auf den drei Fels- spitzen sieht man schon von weitem Türme und Mauern, hinter denen sich die Stadt verbirgt. Eine gute Strasse führt zwischen schönen Villen, Kirchen, Dörfern und mit Wein bepflanzten Hügeln in etwa 3 Stunden zu Wagen hinauf. Am Fuss der oberen Felsmasse, die wie auf einem Sockel auf der unter^ Bergeshöhe liegt, befindet sich der Borgo, die Vorstadt, welche einen Gasthof, ein Bankgebäude, eine Piazza mit Kaufläden und mehrere vielbesuchte Messen im Jahr hat. Von

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da geht es hinauf auf die äusserste Höhe der kalkigen Tufsteinmasse zu der alten Stadt. Sie ist von festen Mauern und Türmen umgeben, die Anfang des XVI. Jahrhunderts von einem berühmten Architekten, Belluzi aus San Marino, gebaut wurden.

Gleich beim Eintritt in dieselbe fällt es an- genehm auf, Inschriften auf einer Menge von Gebäuden zu sehen, die sie als wohltätig^en Zwecken geweiht bezeichnen. An einer Kirche findet sich die Inschrift: »Divo quirino dicatum 1549«, die sich auf eine Begebenheit in der Geschichte von S. Marino bezieht: ein Fabiano da Monte San Savino brach in der Nacht des 4. Juni 1 543 von seinem Schlosse mit 500 Mann Fussvolk und etwas Reiterei auf, um die Stadt zu überfallen und sich ihrer zu bemächtigen. Gegen Morgen gewahrten die Sanmarinesen den Verrat, rüsteten sich schnell und schlugen die Angreifer mit grosser Tapferkeit zurück. Zum Andenken an diese heldenmütige Bewahrung ihrer Freiheit feiert* man noch heutzutage am 4. Juni, dem Tage des heiligen Quirinus, ein Fest. Dann an einem kleinen unansehnlichen Haus ist eine Tafel angebracht, worauf geschrieben steht: »In diesem Haus, am 31. Juli 1849, ver- weigerte Joseph Garibaldi, umringt von den österreichischen Truppen, den Akt der Über- gabe und bewahrte sich fiir bessere Zeiten auf.«

Das Haus gehört einem schon hoch be- jahrten Mann, Simoncini mit Namen, der im Erdgeschoss ein kleines Cafe hält. Die freie

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Erde von San Marino war schon oft eine Zu- fluchtsstätte für politisch Verfolgte unter den päpstlichen und österreichischen despotischen Regierungen geworden und der arm^^»Popolano Simoncini«, wie er sich 'selbst nennt, hatte schon mehr wie einem wackeren Mann geholfen der Verfolgung zu entgehen; aber die teuerste Erinnerung seines Lebens war es, dass er Gari- baldi hatte retten und beherbergen können. Am 2S, Juli 1849, ^2ich dem Fall der römischen Republik durch die Waffen der Schwester -Re- publik in Frankreich, kam Ugo Bassi, der edle Mönch, der zum Freiheitskämpfer geworden war, auf der Flucht von Rom mit drei Be- gleitern nach S. Marino. Zum Tode erschöpft, suchte er vergebens in den beschwerlichen auf- und absteigenden Strassen der Stadt nach einem Unterkommen und trat endlich in das Cafe des Simoncini ein, mit der Bitte, ihn die Nacht da auf einem Stuhl verbringen zu lassen. Der brave Volksmann aber, sehend wie erschöpft er war, sagte: »Nein, in meinem Bett sollt Ihr schlafen 1 Ihr habt es nötig; ich will mich schon mit Euren Leuten hier einrichten.« Bassi fiel dem guten Mann um den Hals und rief voll Freude: >Du bist ein wahrer Republikaner.«

Die Wanderer wurden nun mit Abendbrot und gutem Marinowein erquickt, dann traten sie an das Fenster, von wo man einen weiten Blick auf die, an das Gebiet der Republik grenzenden Berge hat, auf deren Gipfeln in dieser Nacht überall Feuer flammten und die Gegenwart der

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österreichischen Truppen anzeigten. Als Ugo Bassi dies sah, fuhr er erschrocken zusammen und rief: »Um Grotteswillen, der Greneral ist zwischen zwei Feuern eingeschlossen er ist verloren!« Darauf wendete er sich zu Simoncini und sagte: »Wir müssen ihn retten!« und be- schwor diesen, einen zuverlässigen Boten aufzu- finden, welcher sogleich einen Brief zu Garibaldi tragen könne, der auf dem Berge Tassona mit den Seinen lagere. Der brave Popolano lief alsbald in die Nacht hinaus, während Bassi den Brief schrieb und kam mit einem mutigen Arbeiter zurück, der auf beschwerlichen Berg- pfaden, immer in Grefahr gefangen genommen zu werden, glücklich mit dem Brief zu Garibaldi gelangte. Dieser änderte alsbald seinen Rück- zugsplan und kam, von dem wackeren Boten geführt, am 31. Juli in S. Marino im Hause Simoncinis an, begleitet von seinem General- stab, einem kleinen Haufen seiner Krieger, die mit ihm von Rom entkommen waren und seiner heldenmütigen Frau, Anita, die schon in Amerika, wie auch jetzt in Italien alle Be- schwerden und Grefahren seiner Unternehmungen geteilt hatte. Aber sie war krank und zum Tod erschöpft. Simoncinis Frau und Tochter nahmen sich der Armen liebevoll an und pflegten sie so gut es ihre beschränkten Verhältnisse erlaubten.

Darauf hin entspannen sich Unterhandlungen zwischen der Regierung der Republik und den österreichischen Befehlshabern, welche die Er-

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gebung der Flüchtlinge auf Gnade und Ungnade verlangten. Garibaldi schlug dies natürlich ab und sagte in einem kurzen Brief: »Ein guter Republikaner kapituliert niemals.« Dann löste er den Rest seiner Legion auf, indem er meinte, dass es für die Einzelnen leichter sei zu ent- kommen und dass nur die bleiben sollten, welche ihm freiwillig folgen wollten. Anita warf sich der Frau Simoncinis in die Arme und rief unter Tränen: »Frau, ich habe keine Mittel dir zu lohnen, aber ich werde nie die Güte vergessen, die du mir bewiesen hast.«

Von sicherem Führer auf gefahrvollen und beschwerlichen Pfaden an das Meer geleitet, schifiten sich die Flüchtlinge ein, um nach Ravenna zu gelangen, aber noch vorher, an ödem Gestade, mussten sie aussteigen, weil die Heldenfrau ihren Leiden erlag. Der verzweifelte Gatte und der letzte bei ihm gebliebene seiner Gefährten betteten sie selbst zur Ruhe in die Erde.

Wie sehr das Andenken an den herrlichen Volkshelden, der hier Zuflucht und Rettung fand, den Sanmarinesen teuer ist, beweist ausser der Gedenktafel an Simoncinis Haus, ein kleines Monument mit der Büste Garibaldis, von einem Gärtchen umgeben, das liebend gepflegt wird. So ehrt diese letzte der italienischen Gemeinden des Xin. und XIV. Jahrhunderts das Andenken der Freien und scheint noch in die Zeit zu ge- hören, wo sie, friedlich und glücklich, unter dem glorreichen, mittelalterlichen Wahlspruch : libertas perpetua lebte, bevor sie den

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klassischen Namen Republik annahm. Ein schönes neues Regierungsgebäude, im Stil des Bargello zu Florenz, hat die Republik sich jetzt auf einem freien Platz gebaut, von wo der Blick weit hinaus schweift über die trefflich mit Wein bebaute Ebene, das Meer und die Höhen der Berge von Carpegna, wo die ersten Burgen der Montefeltro und der Malatesta waren und wo ihre Feindschaft sich entspann. Eine Menge poetischer und historischer Erinnerungen schweben um dies reiche Panorama und erhöhen den Reiz der immer jungen, blühenden Natur, welche ewig neu wird über den Gräbern der Jahr- hunderte.

Die Regierung der kleinen Republik ist so originell, einfach, praktisch und auf sittliche Motive gegründet, dass ich mir nicht versagen kann, die Hauptsachen davon hier anzuführen, denn sie scheint mir in vieler Hinsicht Vorzüge vor den Regierungen unserer modernen Staaten zu haben. An der Spitze der Regierung stehen zwei Kapitäne, zwei Oberhäupter, welche zweimal im Jahr neu, auf 6 Monate, gewählt werden; also keine Erblichkeit wie in den Dynastien und keine konventionelle, an das Herrschertum streifende Machtstellung der Präsidenten modemer Republiken. Im März und im September ver- sammelt sich der Rat, welcher aus 60 Mit- gliedern besteht, die unter den ehrlichsten und gebildetsten Bürgern aller Klassen ausgesucht und vom Volk auf Lebenszeit ernannt sind. Diesem Rat ist die Verwaltung der öffentlichen

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Angelegenheiten anvertraut. Am bestimmten Tage werden in feierlicher Vesammlung in der Hauptkirche die Namen von zweien der 6 Räte, welche die meisten Stimmen haben, aus der Urne gezogen und zu Regenten für das nächste halbe Jahr ernannt. Es ist dies eine herrliche Garantie für das öffentliche Wohl, da nur aner- kannt gute, gebildete, fähige Menschen im Rate sitzen. Den Tag darauf ist dann die ganze Stadt im Festkleid. In Prozession ziehen die alten und neuen Regenten, in schönem, alt- spanischem Kostüm von schwarzem Samt, um den Hals das Grrosskreuz des Ordens von San Marino, gefolgt von der Nobelgarde, von allen Civil- und Militärbehörden, die Musik der Bürger- garde voran, zur Kirche, und nach der Messe und dem Tedeum ziehen sie in den Ratsaal zurück; dort leisten die neuen Regenten in lateinischer Sprache den Eid ; die alten Kapitäne steigen vom Thron, grüssen die neuen mit einer Verbeugung, als Zeichen des zu beginnenden Gehorsams und ziehen sich zurück. Die neuen Regenten empfangen die Schlüssel und Siegel der Stadt und beginnen ihr Amt

Was ich über den Volkscharakter der kleinen Republik gehört habe, machte mir dies Eiland alter, ehrwürdiger Institutionen noch sympathischer und achtungswerter. Das Volk ist ehilich, auf- richtig, gastfreundlich, freut sich wenn Fremde kommen, die teure Heimat zu sehen, liebt den Frieden über alles, duldet aber nicht, dass man an seine alte Freiheit rührt und scheut

Meysenbug, IV. 28

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weder Schwierigkeiten noch Grefahren, um dies zu hindern. Zufrieden auf der Felsenhöhe, wo sie geboren sind, wünschen die Sanmarinesen gar nicht grösseren, reicheren Besitz. Napoleon L, als er Herr in Italien war, bot ihnen beträcht- liche Vergrösserung ihres Gebiets an. Die da- maligen Regenten antworteten ihm: »Klein sind wir und klein wollen wir bleiben. < Sie wussten es, dass mit dem grösseren Besitz all' die Feinde wahrer Grrösse, die in Tugend und Einfachheit besteht, dass Ehrgeiz, Neid, Habsucht ein- ziehen und sie ihrer Freiheit verlustig machen würden.

Die bürgerliche Gleichheit ist das teuerste Vorrecht der Sanmarinesen, ihre Sitten bewahren ihnen die Freiheit und ihre Armut schützt sie vor fremden bösen Einflüssen. Um den bisher unangefochtenen Charakter der Republik zu kennzeichnen, erzählt Marino Fattovi, der über sie geschrieben hat, folgendes: »Im Jahr 1868 ersuchten nordische Spekulanten die Regierung um die Erlaubnis, auf dem Gebiet der Republik ein Spielhaus errichten zu dürfen und versprachen dafür Geld, Eisenbahn, Wohltätigkeitsanstalten und anderes, kurz, Reichtum für Gegenwart und Zukunft. Das Volk, zufrieden in seiner Armut, eingedenk der verlockenden Aner- bietungen Napoleons, überzeugt, dass es einer freien Regierung, die nur wert ist zu bestehen, wenn sie sich auf Tugend stützt, sehr übel an- stände, sich zum Instrument des Verderbens, der Verirrungen und Sittenlosigkeit der Jugend

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zu machen, liess sich nicht durch die glänzenden Versprechungen verfuhren und verwarf das un- moralische Anerbieten mit Stolz und Verachtung. Sei gesegnet kleines Adlemest wahrhafter Republikaner und wenn unten die Welt in trüben, unredlichen Verwirrungen und daraus entstehendem Elend krankt, so richte du den Adlerblick zur Sonne der Freiheit und bleibe arm, aber tugendhaft und zufrieden 1

Indisches Märchen.

Diesem in jeder Beziehung höchst befriedigen- den Aufenthalt in Rimini entsprang auch eine kleine Dichtung, welche ich hier einschalte, da sie mir, einer besonderen persönlichen Beziehung wegen, wert ist. Ich hatte mich im Frühjahr in Rom viel mit indischen Studien beschäftigt und diese, mir sehr sympathische Gedankenwelt, um- gab mich auch da am Meer noch häufig. So kam es u. a. in einer Nacht, wo ich das prächtige und phantastische Schauspiel eines Gewitters, das sich über dem Meer entlud, von meinem Fenster aus hatte, dass mir die folgende kleine Erzählung so aus der Feder floss und da sie recht eigentlich zu den Erlebnissen in Rimini gehört, so möge sie hier ihren Platz finden:

Über die blaue spiegelglatte Flut des Sees Valmiriki, der sich wie ein uferloses Meer am Horizont silbern flimmernd, mit dem Himmel ver- schmolz, glitt ein kleines Boot, dessen Segel von von einem leichten Morgenwind gebläht wurde

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und das Schiffchen weiterführte. In dem Boote Sassen zwei Personen : eine ältere Frau, in weisse Schleier gehüllt, die ihr ernstes Antlitz, von tiefen Leidensfurchen durchzogen, kaum sehen Hessen, und ein Jüngling, dessen edle Züge blondes Haar umflatterte. Sie fuhren auf das Ufer zu, an dem ein Wald mächtiger Palmen winkte, die durch Schlinggewächse so eng verbunden waren, dass beinahe völliges Dunkel unter ihnen herrschte. »Dort ist unser Ziel,« sagte die Frau, »in dem Schatten jenes Palmenhains liegt der Tempel, in dem der Urweise, erfüllt von dem göttlichen Licht des Brahm, thront und den Verlangenden den Weg zeigt, den sie zu wandeln haben, um das Ziel ihres Strebens zu erreichen. Du bist ein Verlangender; o, dass er dir hülfe, die rechte Bahn zu finden, auf der du, immer höher steigend, immer mehr in Brahm versenkt, nicht wieder- geboren zu werden brauchst, um von neuem den Kreis des Irrtums, der Lieblosigkeit, des Hasses und der Enttäuschungen aller Art durch- zumachen. Glaube mir, der Erfahrenen, die kurzen Augenblicke des Erdenglücks wiegen die un- zähligen Leiden und Hässlichkeiten der Erscheinung nicht auf Du bist ein Erwählter des ewigen Lichts, dem das heilige Feuer in die Seele gelegt ward, damit es in reinen Flammen das Irdische verzehre. Wenn ich dich von deinem Gott ergriffen sehe, wenn du der Harfe Töne entlockst, die aus dem Wohnsitz der Ewigen zu stammen scheinen, dann denk' ich oft: was tut es, wenn er schon bald entrückt wird in das Reich reiner Geister? Eine

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Blüte, zu schön um auf irdischem Boden hinzu- sterben, strahlt er dort in unverwelklicher Schöne in Gemeinschaft der Erlesenen, die, vor ihm geschieden, in der Seligkeit des Nirwana ver- eint sind.«

Ein Lächeln flog über das Antlitz des Jünglings, und er sagte: »Dein Wunsch ist seltsam I Gönnst du mir das Leben im fröhlichen Glanz der Erden- sonne nicht?«

»Für mich wäre es Schmerz, dich vor mir scheiden zu sehen, wie schon so viele der Edlen ; aber noch höher achte ich das Glück, einmal den Sieg eines Genius über alles irdische Wollen, das immer mit dem Staub verwandt ist, zu sehen,« erwiderte die Frau.

Inzwischen aber war der Kahn am Ufer bei dem Palmenhain angekommen. Der Jüngling band ihn an einen Baumstamm und folgte seiner Gefährtin in das Walddunkel. Sie wandelten wie auf einem Teppich, über weichem Moos- boden, auf dem Blumen in Fülle blühten, während sich über ihnen Kränze von blütenbedeckten Schlingpflanzen, würzige Düfte spendend, hin- zogen, und oben auf den schlanken Palmen- zweigen Vögel ihr buntes, schillerndes Gefieder in stillem Selbstgenügen wiegten. Beide Wanderer schritten schweigend vorwärts, ergriffen von dem feierlichen, inneren Beben, mit dem man dem Erhabenen entgegengeht.

»Wir sind am Ziel,« sagte endlich die Frau. Der Jüngling erhob den Blick, den er bisher, ganz in sein inneres Schauen verloren, zu Boden

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gesenkt hatte, und sah nun, hell aus dem Dunkel der Bäume hervorglänzend, einen Tempel aus weissem Marmor, von hehrer Form und Grösse, gleich der Wohnung eines Gottes anzusehen. Hohe Stufen führten zu der Eingangspforte; als sie diese erstiegen hatten, klopfte die Frau drei- mal mit dem an der Tür befindlichen goldenen Hammer an. Das Tor öffnete sich und ein Mann in langem, weissem Gewand trat heraus und fragte nach ihrem Begehr.

»Führe uns zu dem Urweisen,« erwiderte die Frau. »Ich bringe ihm einen Verlangenden und bitte, dass er uns jetzt vorlässt, denn wir kommen von drüben über dem See und möchten nicht heimkehren, ohne seinen Rat empfangen zu haben.«

»Du bist erwartet. Ehrwürdige,« versetzte der Mann und verneigte sich vor ihr, »der Ur weise, dessen Blick das Zukünftige sieht, wusste dein Kommen und befahl mir, dich zu ihm zu ge- leiten.«

Sie traten ein, und hinter ihnen schloss sich die Pforte von selbst. Der Mann schritt ihnen voraus durch lange Gänge, von Marmorsäulen getragen, zwischen denen Götterbilder standen, welche auf die Vorüberwandelnden bald ernst, bald freundlich niederblickten. Zugleich ver- nahmen diese eine leise, sanfte Musik, wie von Äolsharfen. Endlich standen sie vor einer grossen Tür, von herrlicher Arbeit in Marmor umrahmt, und mit einem Vorhang von schwerem Goldstoff verschlossen. Der Führer sagte: „Tretet eini«

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Der Raum, der sich vor ihnen öffnete, war von einem blauen Duft erfüllt, so dass es schien, als schwebe man im Äther; bezaubernder Wohl- geruch durchdrang alle Nerven mit Wonne. Nach- dem das Auge sich in dem blauen Luftmeer zurechtgefunden hatte, erblickten die Ein- getretenen auf einem Thron aus Elfenbein einen Greis, von dessen Antlitz ein milder Glanz wie von einer Abendsonne ausstrahlte. Ein langer, weisser Bart hing auf sein faltiges Grewand herab, in seinen Händen hielt er eine Schriftrolle mit Aussprüchen der Upanischad. Die Frau nahte sich ihm voll Ehrfurcht und beugte sich, um seine Hand zu küssen; er aber wehrte ihr und sprach: »Nicht so, meine Schwester; du bist der Geprüften eine. Bei denen, die über- wunden haben, gibt es Rang und irdische Unter- schiede nicht mehr; sie sind gleich, Brüder und Schwestern, denn in ihnen leuchtet das Licht des Ewigen über allem Erdendunkel. Aber wen bringst du mir? Einen Verlangenden?«

»Ja, einen, den es dürstet, am Quell der Wahrheit zu trinken, dem Schaffenskraft in die Seele gelegt wurde, damit er ein verklärtes Spiegelbild der Welt in seiner Phantasie erstehen lasse. Auch ist er ein Meister der Töne, und seine Hand entlockt den Saiten Klänge, in denen man die Ursache alles höchsten Seins zu hören meint, jene tiefe Liebeshymne, welche durch das Weltall tönt und die Gestirne in ihre Bahnen zieht. Lehre ihn, frei von den Lockungen der Sansära die jugendliche Bahn zu wandeln, bis

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er aufsteigt in das Reich des reinen Geistes, c

Der Greis heftete die milden Augen auf den Jüngling, und sein Blick schien durch die irdische Hülle bis tief in den Grund der Seele zu blicken. Was er da sah, mochte ihm gefallen, denn ein sanftes Lächeln überflog sein Antlitz, und er sprach: »Was ist dein Verlangen, Freund?«

»Ich verlange danach, den Weg zu kennen, der zur Erkenntnis der Wahrheit fuhrt. Die Welt verwirrt mich, die Lehren der Männer draussen zeigen mir nur künstliche Gerüste eines grossen Weltenbaues, ich aber möchte wissen, welches der Gedanke ist, der diesen Bau schuf und in ihm wohnt; denn mich be- friedigt nicht die Form allein, ich will das kennen, was die Form im Innern bewegt.«

»Dein Verlangen ist gerecht, o Jüngling,« versetzte der Greis. »Alle Form ist nur Hülle des Wesens, vergänglicher Einschluss des Unver- gänglichen.«

»Aber das Unvergängliche, was ist es?« fragte der Jüngling.

»Das Unvergängliche ist Brahm, die grosse Weltenseele, die Ureinheit, die in allem webt, von der alles Sichtbare nur eine vorübergehende Ausstrahlung ist. Du, nach dem Reinen, nach der Wahrheit Verlangender mach' dein Herz zum Bogen, deinen Verstand zum Pfeil und Brahm zum Ziel, und richte den Bogen nach dem Ziel, so dass dein Verstand gleich dem Pfeil in das Ziel eindringt: so wirst du Form des unvergänglichen Wesens werden.«

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»Welches aber ist der Weg, den ich gehen muss, um an das Ziel zu gelangen?« frug der Jüngling abermals. »So wie wir, um hier zu dir zu gelangen, den Weg hätten gehen können, welcher durch glänzende Städte und blumen- geschmückte Auen führt, statt dessen aber durch einsame Wälder und über den blauen, schwei- genden See kamen, so führen sicher auch meh- rere Wege zu dem Ziel, welches du mir nennst, das ich aber noch nicht begreife, nur ahne und glaube, weil du es mir sagst. Genügt es, daran zu glauben, ohne es zu kennen? Werde ich Brahm durch den blossen Glauben an ihn?«

»Nein, nicht durch den Glauben, sondern durch die Erkenntnis wird der Mensch erlöst,« versetzte der Greis feierlich. »Zwei sind der Wege, zwischen denen du wählen kannst: der eine ist der Weg der reinen Erkenntnis, des inneren Schauens, auf dem die Seele schon mehr und mehr aus der sichtbaren Form heraustritt und sich in Brahm versenkt. Diejenigen, welche die Sinne mit festem Zügel an sich ziehen, sehen ihn mit dem Lichte des Geistes, sein Licht wird auch in ihnen leuchtend. Sie können ihn mit dem Auge nicht sehen, mit der Sprache nicht erklären, aber sie können sich mit dem reinen Erkennen ihm nahen.«

»Und der andere Weg, welcher ist es?« forschte der Jüngling weiter.

»Der andere ist der Weg der Sansära, der Welt der lockenden Erscheinung, der Hoffnung, das Ziel auch im reizvollen Wechsel des sieht-

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baren Lebens zu erreichen. Auch auf ihm ist Brahm zu finden, denn er ist überall und in uns selbst, aber der Weg ist länger, wechselvoller und vielen Täuschungen ausgesetzt. Es sind Abgründe neben diesem Weg; man muss sich hüten, nicht zu fallen; zuweilen wird es auch dunkel in der Seele, und das Licht, welches innen leuchtet und nichts anderes ist als Brahm, scheint erloschen; aber dem Mutigen, der sein Ziel im Herzen behält, kann die Welt schliesslich nichts anhaben. Er wahre seine äusseren und inneren Sinne und habe in jeder Sache, an jedem Ort und zu jeder Zeit Brahman vor Augen und in Gedanken, so wird er dennoch ein glückliches Leben führen und der Qual entgehen, wieder- geboren werden zu müssen, sei es als Mensch oder als Tier. Jetzt aber geh hinaus in den Hain und halte Rat mit dir selbst, und hast du entschieden, so komm und verkünde mir deine Wahl; denn jeder muss den Weg gehen, wie es ihm in die Seele geschrieben ist.«

Der Jüngling verneigte sich ehrfurchtsvoll und eilte hinaus in den Palmenhain, stürmisch bewegt von den Worten des Greises und von den wogenden Empfindungen und Wünschen, die sein Herz erfüllten. Alles in ihm war edel und rein; sah er aufwärts, so war es ihm, als schwebe ein Genius mit weissen Flügeln über ihm und winke ihm hinauf zu immer ätherischeren Höhen; sah er aber abwärts in sich, so glühte es wie im Innern eines Vulkans, und ein unruh- volles Sehnen, dem er keinen Namen zu geben

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wusste, verursachte ihm zugleich Pein und Ahnung von unbekannten Wonnen. Ohne zu innerer Klarheit kommen zu können, warf er sich endlich unter einem Magnoliabaum auf den Moosteppich nieder, wo die Zweige der Gebüsche, mit süss duftenden Blüten beladen, sich schattend über sein Haupt senkten. Ein unendliches Ge- fühl von Wollust des Daseins kam über ihn, und eine sanfte Müdigkeit schloss seine Augen- lider. So lag er eine Zeit lang im Halbschlummer, in welchem gaukelnde Traumbilder ihn um- schwebten. Aber plötzlich erwachte er von einem leichten Geräusch neben sich, und als er aufschaute, sah er ein Antlitz von wunderbarer Schönheit über sich gebeugt, und zwei dunkle Augen, feurig leuchtend, auf ihn niederblicken. Es war ein junges Mädchen, das neben ihm stand; ein Schleier von durchsichtigem Silber- gewebe, unter dem schwarze Locken sich in Fülle hervordrängten, bedeckte ihr Haupt und verhüllte zum Teil die schlanke, jugendliche Gestalt, die in weisse Seide reich gekleidet war. An einer roten, seidenen Schnur hielt sie eine junge Gazelle, deren sanfte Augen den unerwarteten Fremdling mit Erstaunen betrach- teten.

Als das Mädchen nun dem Blick des Jüng- lings begegnete, überzog ein leichtes Rot ihre Wangen und sie wollte rasch entfliehen. Aber der Jüngling hatte sich aufgerichtet und rief flehend: »O verschwinde nicht, holdes Bild 1 Sag' mir, ob du ein Traum bist, den Brahman mir

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sendet, oder die wonnigste Wirklichkeit? Nie sah ich deinesgleichen I <

»Du scheinst mir edel, Fremdling, und gern will ich dir Rede stehen,« erwiderte das Mädchen und ihre Stimme klang ihm wie Harfenton. »Mein Vater ist der Oberste der Brahminen; seine Wohnung liegt unfern von hier, und dieser Teil des Waldes, der an den Tempelhain stösst, ist sein Eigentum. Da wandle ich ohne Furcht allein umher und spiele mit meinen Tieren, oder pflege meine Blumen. Nun sage mir aber auch du, wer du bist und wie du hieher kamst, wo ich noch nie einem Fremdling begegnete. Des- halb erschrak ich, als ich dich hier so unver- mutet antraf.«

»Ja, dann aber setze dich zu mir und lass uns miteinander reden, als kennten wir uns schon lange. Mir ist es auch plötzlich, als hätte ich dich immer gekannt und als hätte dich nur ein Nebel meinen Blicken verborgen, der nun ge- wichen ist.«

Sie sah ihn lächelnd an und ihr Blick machte ihn mit einem Freudenschauer erbeben. Dann sagte sie: »Ich traue dir,« und setzte sich an seine Seite. Der Jüngling erzählte nun, wer er sei, wie er hieher gekommen und wie ihm der Urweise Zeit gegeben habe, sich zu prüfen und seine Wahl zu treffen. »Vielleicht,« so schloss er seinen Bericht, »hat mich der weise Mann nur hierher gesandt, um dir zu begegnen und so meine Wahl zu bestimmen, denn nun weiss ich, dass es nur eine Wahl gibt.«

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»Und was wird deine Wahl sein?« fnig sie, indem ihre Glutaugen ihn verlangend ansahen und ihre rosigen Lippen ihm entgegenlächelten.

»Bei dir sein, ewig mit dir vereint oder sterben rief er in leidenschaftlichem Entzücken erglühend, dann aber plötzlich erbleichend, fuhr -er fort: »Du aber bist vielleicht schon einem reichen Fürstensohn verlobt? Ich bin arm und habe bis jetzt nichts als mich selbst.«

»Und wenn mir das nun gerade lieber ist als alle Schätze Indiens,« sagte sie schmeichelnd, »sieh', mein Vater hat mich schon mehrere Male mit den ersten Fürstensöhnen des Landes ver- mählen wollen, aber ich sagte immer: Nein, der Rechte ist noch nicht gekommen; Brahm wird ihn mir zur guten Stunde senden. Als ich nun vorhin mit meinem lieben Tierchen in den Wald kam, da zog mich das sanfte Geschöpf immer nach dieser Seite, wohin ich sonst selten gehe; ich dachte, vielleicht haben die Ewigen ihm ein Zeichen gegeben, dass mir da etwas Ausserordentliches begegnen soll, und folgte ihm. Als ich dann aus dem Gebüsch trat und dich hier sah, da wusste ich, dass mir der Rechte gesandt seil . .

Stunden waren vergangen, da riss sich plötzlich voll Schreck das Mädchen aus seinen Armen, die sie umschlungen hielten, und rief: »Weh' mir I Wenn sie mich hier finden mit dem Fremd- ling, ich müsste vor Scham vergehen! Aber von dir scheiden ist bitterer als der Tod!«

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»Das kann auch nimmer seini« rief er voll Leidenschaft und drückte sie von neuem an sein Herz: >uns has die Gottheit zusammengeführt^ und nichts kann uns mehr trennen. Auch ich muss jetzt fort und dem Urweisen meine Wahl verkünden. Aber dann komme ich, dich von dem Vater zum Weib zu begehren. Zwar bin ich noch arm und nicht angesehen vor den Menschen, aber ich fühle Kräfte in mir, Grrosses,. Würdiges zu vollbringen.«

»Oh, ich bin reich genug für uns beide, und es wird mein Glück sein, mit dir zu teilen!«

Nun umschlang sie ihn wieder, nahm mit einem langen, heissen Kuss von ihm Abschied und verschwand mit ihrer Gazelle im Dickicht des Waldes, während er den Weg zurück zum Tempel suchte.

Er fand seine Führerin und den Urweisen versenkt in Gespräche über das wahre Wesen der Dinge.

»Wir waren in dem Upanischad, in der Innenwelt,« sagte der Urweise, »dort, wo die Sonne nicht scheint, noch der Mond, auch jene Blitze nicht, die dort am Gewitterhimmel zucken, wo aber alles Licht ist, das von Brahman aus- strömt, und wir waren glücklich, dass auch wir Brahman sind, denn das ist unsere Krone und unser Stolz: sobald diese Erkenntnis der Seele in uns lebendig geworden ist, sind wir frei von den Gesetzen, welche die Form der Sansära sind und leben im reinen Äther des Geistes. Du aber, o Jüngling, sprich nun, lass uns wissen^

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was sich in deiner Sede bewegt hat. Hat sich dein Verlangen dafür entsdiieden, mit uns am unverfälschten Quell der Erkenntnis zu trinken und so den Irrungen der Erscheinungswdt zu entgehen, oder wählst du den dunlderen P&d, der mit seinen von tausend Sonnen strahlenden Momenten des Glücks, doch nur ein Spi^el deines Innern ist und sich oft trübt und ver- dunkelt, wenn die Lichtgestalten, die du im Glänze deiner Seele sahst, dir plötzlich ihr wahres Wesen enthüllen und eher Dämonen gleichen als veridärten Wesen. Sprich ohne Scheu, denn du bist frei zu wählen.«

>So vernimm. Ehrwürdiger,« versetzte der Jüngling nicht ohne einiges Bangen, >ich zeige dir mein Herz in Wahrheit. Mir ist in diesen Stunden das Greheimnis offenbar worden, welches das andere, das dunkle Verlangen war, das neben jenem nach dem Lichte des Brahm, un- ruhvoll in meiner Seele wogte, ich weiss nun, wo es gestillt wird. So habe ich gewählt und beschlossen, das Leben der Menschen durch- zumachen mit air seinen Freuden und Leiden und dafiir zu kämpfen, dass Brahm lebendig werde in den Seelen der Menschen.«

>Ich wusste es, wie du entscheiden würdest,« sagte der Greis lächelnd, >es war zu früh, dich den Entsagenden zugesellen zu wollen. Noch flutet der heisse Lebensstrom des Werdens in dir und will sein Recht. Aber du bist in der Stunde der Geburt von Brahman gesegnet, denn wem er das köstlichste Geschenk, den Genius,

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Nur ungern trennte ich mich von dem herr- lichen Meeraufenthalt, der mir physisch, geistig und gemütlich wohl getan hatte. Mir die Ge- stalt Sigismund Malatestas in ein milderes, sicher gerechteres Licht gesetzt zu haben, als das ist, in welchem die meisten Historiker ihn sehen und welches Bädeker leider in seinem Fremdenführer den Reisenden als das unfehlbare zeigt, war mir eine Genugtuung, denn jene Heldengestalten der Renaissancezeit wollen von einem anderen Stand- punkt aus beurteilt sein als unsere modernen Heerführer. GremütvoU erquickend aber war mir der Umgang mit dem Volk gewesen, welches ein besseres Los verdiente, als ihm seine Re- gierungen bis jetzt bereitet haben. Das Volk dort in der Romagna sowohl wie in der Lom- bardei ist sehr klug, viel mehr republikanisch als monarchisch und urteilt oft mit einer geistreichen Ironie über die Verfugungen der oberen Behörden. Die sehr abscheulichen Vorgänge an der Banca romana die wie ein Echo auf die französischen Panama-Ereignisse folgten, nur noch gemeiner und hässlicher, da es sich rein nur um Gewinn und Wucher handelte, während dort, wenigstens im Anfang, eine grosse Idee zu Grunde lag fielen gerade in jene Zeit. Der Prozess, welcher den Vorstehern der Bank gemacht wurde, die jahrelang in der sogenannten »guten Gesell- schaft« geglänzt hatten, war im Gange und man erwartete mit Recht ein strenges Urteil. Auch mir fiel das Zeitungsblatt vor Unwillen und Er- staunen aus der Hand, indem ich das Verdikt

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am Ende des Prozesses las, welches sämtliche Angeklagte frei sprach; als ich dann später einem meiner guten Freunde aus dem Schiffervolk des Hafens begegnete und ihn fragte, was er dazu sage, erwiderte er mir mit dem feinen ironischen Lächeln, welches den dunkel ge- bräunten Gesichtern des meist schönen Menschen- schlages dort so gut steht: »Ich habe nichts anderes erwartet; wenn einer von uns ein Brot stiehlt für sein hungriges Kind, so steckt man ihn ins Gefängnis; die vornehmen Diebe spricht man immer frei.« Wie sehr der Mensch recht hatte, sollten die folgenden Jahre noch eindring- licher beweisen. Diejenigen, welche an der Spitze der Staatsverwaltungen stehen, unter- schätzen den gesunden Verstand und die Urteils- fähigkeit des Volkes viel zu sehr, und wenn endlich der Augenblick kommt, wo das lang unterdrückte Gefühl des Unrechts, welches am Volk begangen wird, hervorbricht und zu Ge- walttaten treibt, so behauptet man, es sei nur das Werk einzelner Aufwiegler und Egoisten, die für sich selbst im Trüben fischen wollen und schreitet ein mit dem Mittel der Despotie, mit Waffengewalt, anstatt liebevoll vorsorgend den Bedürfnissen menschlicher Existenzen entgegen- zukommen und vor allem, anstatt strenge Ge- rechtigkeit in gleichem Mass zu üben gegen hoch und niedrig, gegen reich und arm.

Es ist seltsam wie wenig die Menschen aus der Geschichte lernen; wie der Egoismus und die Verlockungen der Macht immer wieder zu

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dem Irrtum fuhren, als könne der nur auf das Vergängliche gestützte Erfolg dauern und die ewigen Ideen der Gerechtigkeit, Güte und Wahrheit in Schranken halten um den selbst- süchtigen Zwecken einzelner Ehrgeiziger und Despoten zu dienen. Und doch ist dem nicht so! Die Geschichte hat hundertmal das Gegen- teil bewiesen; Ideen sind mächtiger als mensch- liches Wollen ; schlagt sie in Ketten, die Ketten fallen ab wenn der Genius in den Kerker tritt und sie zur Freiheit fuhrt, wie der Engel den Petrus auf dem herrlichen Fresko Raphaels im Vatikan. Aber freilich es ist traurig wie lange die Verirrung einzelner das Schicksal von Tausenden beherrschen und dem Abgrund des Elends nahe führen kann. Italien erlebte es in jenen Jahren und leidet noch an den Folgen der unseligen Katastrophen, welche Ehrgeiz und Unfähigkeit einzelner über es verhängten. Ob die Sucht der Kolonialpolitik, welche sich Europas bemächtigt hat in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, eine segensreiche, kultur- fördernde sei, bleibe noch eine unbeantwortete Frage ; jedenfalls war es für Italien viel zu früh, sich diesem Zuge der europäischen Grossmächte anzuschliessen und es bleibt als eine Schuldt^in der Geschichte des Ministeriums Depretis-Mancini zu verzeichnen, ihr Land auf jenen Weg geführt zu haben, wenn gleich die schlimmsten Folgen dieses Schrittes einem späteren Ministerium zu- zuschreiben sind. Italien war ein junger Staat, kaum als eine Einheit geboren und ungeheure

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Aufgaben lagen vor ihm im Innern, die mit Einsicht und Beharrlichkeit ergriffen, es zu Wohlstand, Ordnung und sittlicher Entwicklung hätten führen können; dann, innerlich erstarkt, einig und frei geworden, hätte es daran denken können, in dem Kreis der Grossmächte eine achtunggebietende Stellung einzunehmen. Cavour, der einsichtsvolle Staatsmann, der ihm leider zu früh entrissen wurde, begriff die Bedeutung einer solchen Tendenz vollkommen und lehnte den Vorschlag Napoleons III. ab, welcher das nörd- liche Afrika zwischen den lateinischen Rassen zu verteilen, Spanien Marocco und Italien Tunis zuzuteilen, träumte. Cavour fürchtete den Eifer der Italiener, das Vaterland fest zu gründen, durch eine Richtung nach aussen abzu- schwächen und erwiderte: »Italien sei nicht reich genug um sich ein tunesisches Algier zu erlauben«.

Dieser weisen Zurückhaltung vergessend, kam es dann später doch dahin; dass Italien in Afrika festen Fuss fasste. Eine Bekannte, welche die ersten italienischen Truppen sich nach Afrika hatte einschiffen sehen, schrieb mir, sie habe Tränen freudiger Rührung geweint, die Söhne des neu gewonnenen Vaterlands hinausziehen zu sehen, um Kulturaufgaben unter den Barbaren zu erfüllen. Ich antwortete ihr, ich wünsche von Herzen, dass diese Aufgaben nicht kultur- feindlich für das eigene Land werden möchten und ich glaube, dass jene Armen, die waffen- tragend zu wüden Völkern zögen, segenbringen-

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der zu nützlicher Feldarbeit daheim verwendet sein würden. Leider gab mir die Folge mehr als recht.

Mit unendlicher Liebe an dies schöne Land gebunden, an die apollinischen Zauber seiner Natur, die das tiefe Bedürfnis der Seele nach Schönheit, in mir von Kindheit auf mächtig, we- nigstens nach einer Seite hin befriedigen, konnte ich nicht umhin, auch mit dem wärmsten Inter- esse die Schicksale dieses Landes beobachtend zu verfolgen, -und sah mit Trauer, wie weit sich die heutige Politik von den Idealen jener trefflichen Männer, die ich im Exil gekannt hatte, entfernte. Vorgänge wie jene schon erwähnten der Banca romana, wie die Veruntreuung von Geldern, die auch von auswärts her für die schrecklichen Un- glücksfälle der Erbbeben, Überschwemmungen etc. einliefen und den schwer Betroffenen kaum halb zuteil wurden, Veruntreuungen an öffentlichen Kassen und anderes zeigten einen Abgrund mo- ralischen Elends, der etwas Erschreckendes hatte. Dazu in den höchsten Kreisen der Verwaltung der ungebändigte Ehrgeiz einzelner, teils von unfähigen, teils von unredlichen Werkzeugen Umgebener, das waren die Zustände, in denen Italien sich befand, die wie dunkle Gewitterwolken an seinem hellen Himmel standen und sich immer drohender zusammenzogen, bis dann die schreck- liche Katastrophe in Afrika kam, welche Trauer und Verzweiflung über das Land verbreitete. Freilich fiel nach der Schlacht von Adua das Ministerium Crispi, welchem mit Recht die Haupt-

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schuld an den begangenen Irrtümern und deren Folgen zugeschrieben wurde, aber das Unglück war nicht gut zu machen. Die kräftigen jugend- lichen Leben, die auf dem Schlachtfeld von Adua vernichtet lagen, die Tränen, die in Italien um sie flössen, die Millionen, welche unnütz dort ver- geudet waren, während in der Heimat Hunger und Armut herrschten, die furchtbaren Einblicke, die man in die skandalöse Immoralität der den Häuptern der Regierung zunächst stehenden Per- sonen tat, in das Gewebe schmutziger Intriguen, Bestechungen und Lügen, welches in den Kreisen einheimisch war, die dem Volke hätten als Vor- bild dienen sollen das alles wird als ein ewiges Vedammungsurteil auf dem Ministerium Fran- cesco Crispis in der Geschichte lasten bleiben und das Urteil Mazzinis über den Mann recht- fertigen. Die einzelnen Tatsachen dieser trau- rigen Zeit sind zu bekannt, um sie zu wieder- holen ; aber wer sie miterlebte wie ich, der konnte nicht umhin, sich traurig zu fragen, was für ein dunkles Rätsel sich hinter diesen Erscheinungen der Weltgeschichte berge, wenn nach einem grossen begeisterten Aufleuchten edelster Ge- sinnung, hohen Strebens, freudigsten Opfermutes, dann plötzlich eine Zeit, nicht des Stillstands und Ausruhens das wäre erklärlich , sondern tiefer Korruption folgen kann, in der alle häss- lichen Elemente der menschlichen Natur wie auf- gewühlt erscheinen und aus ihren dunklen Höhlen heraufsteigen an das Licht, um sich der Frucht des vom Idealismus errungenen Siegs zu be-

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mächtigen und sie mit dem Grift des verderblich- sten Egoismus zu durchdringen. Das italienische Volk fühlte sehr wohl, was ihm für Unheil zu- gefügt war, aber es ist ein unglaublich gedul- diges Volk, lässt viel über sich ergehen und begnügt sich lange mit seiner Armut, ehe es zur Empörung schreitet. Die Minorität der redlichen Männer der gebildeten Klassen aber, welche tief traurig, einsichtsvoll den Ereignissen gegenüber- steht, leidet, ohne sich gegen das vorhandene Übel handelnd aufzulehnen. Es ist das eine Schwäche der italienischen Natur, die in sonder- barem Kontrast steht mit der feurigen Raschheit im Blut, welche ohne Überlegung das Messer in die Brust des Nebenmenschen stösst.

Eis würde mich weit über die Grenzen des mir in diesen Blättern vorgesteckten Ziels hinaus- führen, wollte ich suchen, die Ursachen offen dar- zulegen, welche den heutigen Zuständen zu Grunde liegen, obwohl sie mir ziemlich klar sind; ich fasse sie nur in Eins zusammen, nämlich in die vollständige Abwesenheit jedes Ideals. Es gibt wohl kaum ein Volk in Europa, welches weniger wahrhaft religiös wäre als das italienische ; es ist teils skeptisch, teils indifferent und in den untersten Ständen aus Gewohnheit kindisch und abergläubisch. In der ersten Hälfte des Jahr- hunderts war es das politische Ideal, die Befreiung vom Fremdjoch, welches die Seelen mit Be- geisterung und Tatkraft füllte; nun es verwirk- licht war, stellte sich eine Leere ein, in der alles Unkraut, dessen Keime sich unter den schlechten

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Regierungen, die so lange das Verhängnis Italiens gewesen waren, gebildet hatten, emporwuchs und die Oberhand gewann, während, wie gesagt, die redlich Wollenden sich entmutigt zurückzogen.

Der hohe Vorzug dieses wunderbaren Landes aber ist es, dass, während die menschlichen Ver- hältnisse so viel zu wünschen übrig lassen, die gütige Natur hier so verschwenderisch mit ihren Graben ist, dass die Seele sich ihr trostreich in die Arme legt und in ihrer Schönheit ausruht, in der Zuversicht, dass auch diesem liebenswür- digen, begabten Volk der Tag der Auferstehung kommen wird.

Da mein Alter mir nun nicht mehr weite Reisen erlaubte, so kam es dahin, dass Olga im Sommer mit den Ihren über die Alpen kam und dass wir uns in Nord-Italien, an einem der vielen gesegneten Orte dort zu längerem Aufenthalt zusammenfanden, mehr wie je in Liebe vereint. In Rom aber war mir inzwischen wieder eine teure, liebe Beziehung nahe gekommen, die schon in früheren Jahren während einiger Winter mein Leben freundlich erhellt hatte und zu einem festen Herzensbund geworden war. Es war dies die Beziehung zu der Tochter von Donna Laura Minghetti, welche jetzt, als die Gemahlin des deutschen Botschafters, Bernhard von Bülow, in Rom festen Wohnsitz nahm. Die Liebe, die mich an dies von der Natur mit allem edlen Liebreiz geschmückte Wesen band, gab meinem Leben in Rom wieder die Be- friedigung einer persönlichen Zuneigung, die

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auch von der anderen Seite, trotz der grosse» Altersverschiedenheit, auf das lieblichste er- widert wurde. Es öffnete sich, durch die Gegen- wart des ausgezeichneten, noch so jungen Paares,, in dem schönen Palast der deutschen Botschaft in Rom ein lang entbehrtes, deutsches Heim, so wie es vor Zeiten durch Humboldt, Niebuhr, auch noch Bunsen, da gewesen sein mag, das in Bernhard von Bülow den durch edle klassische Kultur gebildeten Repräsentanten, in seiner Gattin die holde Erscheinung der Vereinigung südlicher Natur mit deutscher Bildung fand. Wohl mag die Mitte, welche jene Vertreter deutscher Bildung in Rom gefunden hatten, die Herstellung eines bedeutenden geistigen Zentrums erleichtert haben, besonders auch dadurch, dass die römische Gesellschaft damals nicht die vielen schroffen Gegensätze enthielt, welche sich heutzutage in ihr finden. Für die aber, welche Bülows ge- mütlich näher standen, war es das Aufblühen einer schönen Hoffnung, für längere Zeit ein Asyl zu haben, wo Geist und Herz gleich be- friedrigt wurden und wo, insbesondere durch die grosse musikalische Begabung der Frau von Bülow und ihren der Musik geweihten Kultus zu erwarten stand, dass sich endlich wieder ein würdiges musikalisches Leben entwickeln lassen würde, da in dieser Beziehung ein schmerzlich fühlbarer Unterschied zwischen der Zeit, wo ich zuerst in Rom war, vor etwa dreissig Jahren, und der Jetztzeit, stattfand. Damals herrschte Liszt noch in voller Manneskraft im römischen

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Leben; ich hörte seine »Beatitudine«, von ihm selbst dirigiert, im grossen Saal des Kapitols, in vollendeter Weise auffuhren; ihn umgaben einige ausgezeichnete Schüler, die auch in das Privat- leben ein wertvolles musikalisches Streben ein- führten. Man hatte noch nicht die furchtbare Qual zu erdulden, beinahe aus jedem Haus ein geist- und sinnloses Geklimper ertönen zu hören ; überhaupt ein dunkler Fleck in unserer modernen Kultur, der geradezu einen moralisch verderb- lichen Einfluss hat, denn was können so gemeine Rhythmen, so widerwärtig ordinäre Weisen, millionenmal hintereinander wiederholt, einer Seele sagen? Jede nützliche Handarbeit wäre da vorzuziehen und ersparte dem Nachbar, dem die Musik die heiligste der Künste ist, die un- sägliche Pein, sich bei seiner geistigen Arbeit oder bei seiner stillen Erholung durch ein solches aufdringliches, gemeines Umherfahren auf dem Instrument gestört zu sehen.

Es waren im Palast Caffarelli, dem Sitz der deutschen Botschaft, gerade mehrere ausge- zeichnete musikalische Talente und so fing wenigstens im engeren Kreis dort schon ein ge- nussreiches Musizieren an. Dazu kam nun im Frühjahr die mich innig erfreuende Nachricht, dass Siegfried Wagner, der eben seine erste grosse Kunstreise gemacht hatte, auch nach Rom kommen wolle, um daselbst ein Konzert zu dirigieren. Es war eine doppelte Freude, die mir dadurch zuteil wurde; zunächst den Sohn

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des grossen Meisters und Freundes, den ich von Kindheit auf gekannt hatte, nun als erwachsenen, schon selbständig sich betätigenden Menschen wiederzusehen und dann, unter seiner Leitung einmal wieder eine wahrhaft künstlerische grössere Aufführung zu hören. Beides vollzog sich in schönster, befriedigendster Weise; nicht nur, dass ich in dem Jüngling, neben entschiedener Ähnlichkeit mit dem Vater, eine vollständig eigene Persönlichkeit fand, $ondem es erschien mir auch in dem Dirigenten ein durchaus indi- viduelles, ganz bewusstes Erfassen und Ausführen und erfüllte mich mit froher Hoffnung für die Zukunft dieses mir so werten jungen Freundes, dem die grosse, herrliche Aufgabe zuteil ge- worden, das Werk des Vaters weiterzuführen und zugleich die Befähigung als eine selbstän- dige Individualität, die eigenste Schaffenskraft in ungehinderter Weise zu entfalten.

Der Sommer führte mich dann wieder zu froher Vereinigung mit Olga und den Ihren an den süd- lichen Abhang der Alpen, an den Lago Maggiore und an den höher gelegenen, unbeschreiblich reizenden Orta-See, über dessen grüne, malerische Uferberge die eisglänzenden Spitzen der Kette des Monte Rosa herüber sehen. Den Reichtum der malerischen Schönheiten dieses von der Natur so verschwenderisch bedachten Landes auszu- kennen, würde viele Jahre erfordern und es ist nicht zu verwundern, dass hier eine Kunstblüte entstand, wie sie, ausser Griechenland, kein

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anderes Volk erlebt hat. Und ebenso wie mit der Natur wird man auch nie fertig, all' die schaffenden Kräfte kennen zu lernen, welche jener Natur wohl zum grossen Teil ihre An- regungen verdankten. So sah ich in jenen Gre- genden einen Maler zuerst und einen zweiten vollkommener als vorher, welche sich beide dort in vielen der kleinen Orte verewigt haben ; der erste war Gaudenzio Ferrari und der zweite Bemardo Luini. Gaudenzio Ferrari hat nicht die Anmut und tiefe Seelenschönheit des Luini, aber er ist ein Maler von unbestrittener Gross- artigkeit der Erfindung, voll Farbenglanz und feiner Charakterisierung und muss sehr produktiv gewesen sein. Luini erreicht zuweilen fast seinen grossen Meister an Holdseligkeit und seine Fresken in Saronno und Lugano ehren ihn als Zeichner und Kolorist.

So einen sich stets in diesem Wunderland Natur und Kunst, um Geist und Gemüt alles zu geben, dessen sie bedürfen. Aber freilich, nur die Natur ist ewig jung im Blühen, die Kunst hat ihre Epochen und dann stirbt sie ab, gleich dem Erdreich, das, erschöpft vom Geben, keine Frucht mehr bringt.

Nicht immer aber waren die Tage nur heiter; auch in diesen späten Jahren nicht, wie sie es auch in früheren Jahren häufig nicht gewesen waren. Es starben viele der Angehörigen und Bekannten um mich her, gleich wie beim Baum im Herbst, wenn der Wind ein Blatt nach dem anderen herunterweht. Die alte Schwester,

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die ich alljährlich, wenn ich nach Frankreich ging, vorher in Deutschland besucht hatte, war auch gestorben und von meiner unmittelbaren Familie war keiner mehr übrig; die Mitglieder der jüngeren Generation waren mir zum Teil ganz unbekannt und lebten, in alle Weltgegenden zerstreut, fern von mir, so dass sich kein Band der Zusammengehörigkeit hatte knüpfen können und dass Fremde mir durch Geist und Gemüt näher verbunden waren, als die Blutsverwandten. Dies betätigte mir wieder die Freundschaft des edlen Paares, welches Deutschlands Interessen in Rom vertrat, bei einer traurigen Gelegenheit auf die rührendste Weise. Ich nahm nicht mehr, schon seit Jahren, teil an grösserer Ge- selligkeit, aber zu den kleineren Vereinigungen bei Bülows ging ich gern, weil da immer, durch die ungezwungene Freundlichkeit der Hausherren, von vornherein sich eine wohltuende Atmosphäre bildete. So bereitete ich mich auch an einem Abend dorthin zu gehen, wo Joachim, welcher in Rom angekommen war, dort spielen sollte. Meine alte Dienerin, welche dreiund- zwanzig Jahre mit mir verbracht hatte und mir, trotz den bei alten Dienern unvermeidlichen Launen und Verstimmungen, durch ihre Er- gebenheit und Treue dennoch wert war, sollte mit mir gehen, da sie mit dem Dienstpersonal dort befreundet war. Ich war mit Ankleiden fertig, der Wagen stand vor der Tür; ich rief ihr, um zu gehen, erhielt keine Antwort und ging daher in ihr Zimmer, um ihr zu sagen.

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sie solle kommen. Welches war aber mein Schreck, als ich sie bewusstios auf dem Boden liegend fand. Natürlich war von Ausgehen keine Rede mehr. Der herbeigerufene Arzt liess mir keinen Zweifel über den Ernst des Falles und bestand darauf, die Kranke alsbald in das Hospital zu bringen. Am folgenden Morgen kam er, mir ihren Tod zu verkünden. Ausser der Erschütterung, die ein so brutales Auflösen eines lange bestandenen Verhältnisses notwenig mit sich brachte, entstand für mich eine wirklich augenblicklich bedrängte Lage, da meine ganze kleine Häuslichkeit auf das Dasein dieses einen Wesens gebaut gewesen war und es unmöglich war, alsbald einen genügenden Ersatz zu finden. •Gute, hülfreiche Bekannte kamen rasch herbei, zu allem erbötig, doch durchgreifende Hülfe kam erst, als eine Botin der Frau von Bülow erschien, welche mir die Aufforderung der beiden Gatten brachte, alsbald zu kommen und bei ihnen eine Zeit lang zu verweilen, bis der traurige Eindruck sich in etwas verwischt und ich Zeit gehabt hätte, mein häusliches Leben neu zu organisieren. Die Aufforderung war in so herz- Ucher Weise abgefasst, wurde alsbald durch so kräftige Hülfleistung beglaubigt, dass ich nicht zögern konnte, sie anzunehmen. Gleich dem Schauplatz des traurigen Vorfalls entrückt zu werden in eine schöne, liebenswürdige, teilnahm- volle Mitte war eine unvergleichliche Wohltat. Ihre tröstende Wirkung blieb nicht aus und da mein Gewissen mir das Zeugnis gab, die Ver-

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storbene immer nur mit der Rücksicht behandelt zu haben, wie sie meinen Anschauungen nach den zum Dienen Verurteilten gebührt, so lange dies Verhältnis nicht in eine neue edlere Phase getreten ist, so konnte ich mich nur freuen, dass der Armen die Qual langsamer Krankheit und allmählichen Sterbens erspart geblieben war. Meine liebevolle Freundin musste leider nach einigen Tagen Rom verlassen, um ihren alljährlichen Badeaufenthalt zu nehmen; ich blieb dann noch mehrere Wochen mit Herrn von Bülow allein, in schönster Freiheit in den weitläufigen Räumen des Palastes, aber in den Stunden des Zusammen- seins mit wahrer Freude den Einblick in die grosse klassische Kultur des noch so jungen Staats- manns geniessend. Unsere Anschauungen stimm- ten nicht auf allen Gebieten überein, aber ich hatte die tiefe moralische Genugtuung, mich mit hoher Achtung vor den festen, auf edelsten Grund- lagen ruhenden Überzeugungen des bedeutenden Mannes beugen zu können, dessen Wohlwollen und Güte gegen mich sich nie, trotz unserer verschiedenen Ansichten, verleugnete. Es ist eine der schönsten Empfindungen, sich in rein menschlicher Achtung und Freundschaft auch mit solchen zu begegnen, die in irdischen Dingen anders denken wie wir. Der Parteistandpunkt ist immer ein einseitiger. Warum soll ich mich feindlich von dem monarchisch Gesinnten ab- wenden, wenn er sonst gut und edel ist, weil ich vielleicht Republikaner oder Sozialist bin.? Alle diese, vom Verstand geschaffenen Unter-

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Scheidungen gehören doch auch dem Vergäng- lichen an ; über ihnen steht die reine menschliche Würde, die Treue gegen sich selbst und das für wahr Erkannte, welche auch im anderen diese Treue gegen das ihm Wahre ehrt, und endlich die Güte des Herzens, welche in heiligem Mit- leid über alle Meinungsverschiedenheiten hinweg, hilft und tröstet. Je höher der Mensch entwickelt ist, je voUkommner wird diese Toleranz werden, denn je tiefer versteht man das Wesentliche vom Unwesentlichen zu scheiden und sich am einfach menschlich Schönen, ohne Partei- Voreingenommen- heit zu freuen. Nur wenn es gilt in Waffen auf- zustehen, um unsere Wahrheit zu verteidigen gegen feindliche Angriffe oder gehässige Unter- drückung, dann gibt es kein Entweder-Oder, dann gilt es Kampf, ernsten, entschiedenen Kampf. Nach mehreren, in heiterer Harmonie ver- brachten Wochen, verliess ich Rom, um mich in Nord-Italien mit Olga und den Ihren zu vereinen und zwar in den herrlichen Cadorischen Alpen, in Pieve di Cadore, welches mir von früher her eine so liebe Erinnerung war. Leider fand ich auch da nun schon den Fluch des Touristentums verhängt, mehrere Hotels eröffnet und die naive Einfachheit des Lebens von ehedem verändert. Voll- kommen fand ich diese aber wieder an einem noch höher gelegenen Ort in der Dolomiten-Kette, an dem See AUeghe, welcher, durch einen Bergsturz gebildet, mehrere Dörfer begraben hat, deren Trümmer man zuweilen unter den Wassern der stillen Oberfläche sehen kann. Nach einigen

Mey$enbug, IV. 30

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Wochen in Pieve zogen wir da hinauf und fanden mit Entzücken bestätigt, was man uns von diesem Ort gesagt hatte. .Wie ein seliger, weltentrückter Traum liegt der ziemlich grosse, stille See zwischen Höhen, die mit herrlichen Tannenwäldern bedeckt sind, da. Nur selten kräuselt der Wind die ruhige Oberfläche, in der sich die Ufer spiegeln. An dem einen Ende liegt ein kleines Dorf, an dem anderen ein sehr primitives, aber rein und gut gehaltenes Wirtshaus; über den grünen Vorbergen aber steigen in wahrer Majestät die herrlichen Dolomitfelsen auf, die, wie eine Reihe Riesen- orgeln, den Gröttem oben auf ihren Wolkensitzen ein wunderbares Konzert zu geben scheinen. Am Abend erglühen sie dann in zauberischer Pracht der Farben und von den Strahlen der unter- gehenden Sonne versilbert und vergoldet. Wie verschwenderisch die Natur isti Da lässt sie in der Einsamkeit solcher Alpenhöben Paradiese ent- stehen, gemacht, um tiefen Denkern, um Poeten und Künstlern die höchsten Anregungen zu geben, und fragt nicht danach, ob man diese reizenden Erdenflecke entdeckt und ihrem Zauber herrliche Geistesblüten entlockt oder nicht. Es ist, als wohnte der allgewaltige Schönheitstrieb in ihr, der ihr keine Ruhe lässt, bis sie, ganz künstlerisch verfahrend, überall das Bild hervorbringt, das sich charakteristisch in den Rahmen, welchen Klima und Boden bedingen, einpasst. Nachher sagt sie ruhig und kalt: »Mensch, benutze es nun und lerne daran die Erde mit Schönheit zu schmücken.« Und der Mensch? Hat er die

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heilige Flamme der wahren Schönheit, welche der Ausdruck der Idee, die Form des Ideals ist ? Ist es ihm darum zu tun, zu veredeln, zu bessern, zu idealisieren und auch den materiellen Grenuss durch schönes Mass mit ästhetischer Weihe zu adeln? Ach, wie wenige sind es noch, wie nur ganz einzelne! Und werden es jemals viele sein?

Aus diesen zauberischen Alpenhöhen stiegen wir hinunter zu der Königin des Meeres, der reizenden Lagunenstadt, welche meine Freunde noch nicht kannten. Mir erwacht dort immer die wehmütige Erinnerung an den geschiedenen Freund, in dessen künstlerischem Heim ich einst so schöne Tage verlebt hatte. Der prächtige Palast war jetzt ein Nonnenkloster und der Ex- Herzog von Modena, der ihn verkauft hatj ist so rücksichtsvoll für die zarten Gefühle der klösterlichen Damen gewesen, die Statuen der heidnischen Götter, die hier unter den dunklen Laubgewölben standen hinwegnehmeri zu lassen. So ist wieder etwas Schönes, Da- gewesenes unwiederbringlich vernichtet. Ach und wie vieles ausserdem in dieser einst von Schönheit strahlenden Stadt! Die zauberischen Paläste, in denen vornehme Männer mit gerech- tem Stolz auf die Grösse ihrer wunderbaren Heimat und schöne, geistvolle Frauen voll An- mut und Würde wohnten, sind jetzt zum grossen Teil Gasthöfe oder Niederlassungen der Spe-^ zialitäten venetianischen Kunstgewerbes. Das Haus, in welchem Tizian einst glanzvolle Feste

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gab und die Grössen des Geistes, der Kunst und des fürstlichen Ranges empfing, ist nebst seinem herrlichen Garten spurlos verschwunden. Die Insel Murano, deren Gärten sonst der Versamm- lungsort von Gelehrten, Künstlern und ausgezeich- neten Frauen waren, ist arm und öde; die Gärten sind nicht mehr da; nur die armen Spitzen- Arbeiterinnen und die Arbeiter in den Glas- fabriken fuhren hier ihr ärmliches Leben weiter. Und doch welch ein Zauber von Poesie webt noch immer seine goldenen Schleier über diese Stadt I Das kommt von dem Unvergänglichen, allem irdischen Wechsel Entzogenen; hier wurde gelebt, für grosse Zwecke gehandelt, schönheits- trunken Idealen gehuldigt, weltliche Macht durch geist^e Grrösse geadelt. Und wenn schliesslich auch dies unterging, so bleibt die Erinnerung, die um alles wahrhaft gelebte Grosse, Ideale ihren Glorienschein bildet und es der Nachwelt aufbewahrt, indem sie die Flecken, die jede Gregenwart hat, auslöscht und nur das übrig lässt, was ewig ist: die Verwirklichung der Idee.

Nach vielen frohen Wochen der Vereinigung kam dann wieder der immer schmerzliche Augenblick der Trennung, die nun, mit jedem vorrückenden Jahr, die Frage deutlicher zurück- lässt: werden wir uns wiedersehen? Denn nach dem natürlichen Lauf der Dinge musste ich, so rüstig ich auch noch für mein Alter war, dent noch auf den Lebensabschluss in kürzerer oder längerer Frist gefasst sein.

Ich kehrte nach Rom zurück und zwar vor-

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erst noch einmal in das schöne Asyl, welches mir die Freundschaft der lieben Bülow geöffnet hatte, um dort nur noch so lange zu verweilen, bis meine eigene Häuslichkeit wieder in stand gesetzt sein würde. Meine teuren Gastfreunde waren noch nicht von ihrer Sommerreise heim- gekehrt, aber brieflich hatte die holde Freundin alles für mich aufs sorglichste bereitet. So kam mein Geburtstag heran, mein achtzigster Geburtstag! Still und bewegt begrüsste ich den Tag. Es ist keine Kleinigkeit auf achtzig Jahre des Erdenlebens zurücksehen zu können und eines so bewegten Lebens und sich sagen zu dürfen, dass trotz allem Irren, allem Unerfüllten und Unerreichten doch ein roter Faden durch das ganze Leben ging, der gleichsam den Grund- ton der Natur anzeigt und, nie verleugnet, immer bewusster, immer fester gezogen, bis an das Ende reichen wird. Ich war darauf gefasst, den Tag allein zu verbringen, war ruhig und heiter, indem ich all der Liebe und all des Guten gedachte, welche mir zuteil geworden sind und auch die Leiden und schweren Prüfungen, von denen ich nicht verschont geblieben bin, segnete, weil sie dazu gedient haben das Eine, Feste, Unveräusserliche in der Seele zu bewähren und im guten Kampf das Heroische zu entwickeln, welches in jeder Menschenbrust schläft und nur geweckt und geübt werden muss, um uns als Sieger aus der oft so heissen Schlacht des Lebens hervorgehen zu lassen.

Je mehr ich darauf gefasst war, den Tag still

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und einsam, im Überblick über das Vergangene und in ruhiger Erwartung, des etwa noch Kommenden, zu verbringen, je lieblicher wurde ich überrascht, als plötzlich von vielen Seiten gute Bekannte aus der Stadt herrliche Blumen- grüsse sandten und die Post mir Haufen von Briefen brachte, auch von solchen, von denen ich 20 30 Jahre lang nichts gehört hatte und die mir nun ein ununterbrochenes liebendes An- denken bewiesen ; ja als endlich sogar gedruckte Blätter einliefen, in denen längere Artikel» bei Veranlassung dieses Tages, meiner und meines Lebenslaufs gedachten. Gerührt sagte ich mir: So hast du also nicht umsonst gelebt, nicht nur dass du dir selbst Treue gehalten hast, sondern du bist auch andern etwas gewesen und Besseres kann der Mensch ja nicht verlangen als mit diesem Doppelzeugnis auf der Schwelle der Ewigkeit stehen und warten bis sich ihm die Pforte öffnet, aus der es keine Wiederkehr gibt.

So verging mir der Tag ohne Prunk, aber reich geschmückt durch die köstlichsten Edel- steine, durch Liebe, Dankbarkeit, Verehrung, unbegrenztes Vertrauen. Und siehe dal der Abend brachte noch eine andere Überraschung! Der mir so werte Baron von W. . ., der im Begriff war eine Reise in den Orient anzutreten, war an dem Tag angekommen und erschien gleich mich zu begrüssen. Harmonischer konnte der Tag nicht enden, denn aus der Seele dieses jungen Mannes tönten mir alle die Klänge von

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> Apollos goldnen Saiten«, wie es in einem seiner Gedichte heisst, entgegen, die in meinem Leben stets die Grundharmonie gebildet haben und noch, wie in der begeisterten Jugend, so im achtzigsten Lebensjahr, in voller Frische er- klingen, wenn der verwandte Ton sie ruft.

So, nun ist es wohl Zeit dies Büchlein zu schliessen; was nun noch kommt ist Überschuss, den das Schicksal mir verschwenderisch in den Schoss wirft, wobei es mir doch zuweilen sehr ernste Mahnungen zuruft, dass die Stunde bald kommen könne. Möge sie mir friedlich nahen, sie findet mich bereit.

Mein Lebewohl an die Welt.

Sollte der bewusste, der freie Mensch nicht auch den letzten Abschluss des Daseins mit voller Geistesklarheit, umringt von den Er- innerungen des vergangenen Lebens, vollziehen, ehe die letzte Stunde da ist, die vielleicht den klaren Blick umhüllt und das Vergangene schon halb in die Nacht des Vergessens taucht? Ist man der Welt nicht auch eine Art Rechenschaft schuldig über das auf ihr verbrachte Dasein, ob man das Pfund, das man empfing, gut verwaltet hat und treu gewesen ist bis an den Tod? Und sollte der Scheidende ihr nicht ein letztes Wort der Liebe zu sagen haben, ein herzliches Abschiedswort? Und darf endlich der, welcher nun weiss, was das Leben ist, ihr nicht auch ein Wort der Ermahnung zurufen, der ernsten Aufforderung, das Leben als eine hohe, heilige Kultur- Aufgabe zu betrachten und mit aller Kraft an derselben zu arbeiten?

Ich glaube: ja, der Mensch sollte es.

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Die Kirche hat ihn gelehrt, dass die grosse Abrechnung für das Leben erst lange, lange nachher, im fernen Jenseits, erfolgt und wie manches Gewissen tröstet sich damit und ver- säumt es, den kurzen Erdentraum zu etwas anderem als zu flüchtigem Genuss zu benutzen, und die Ewigkeit schon hier in die Zeit zu bannen. Wie viel ernster würden viele das Leben nehmen, wenn sie von früh auf wüssten, dass sie hier verantwortlich sind für das, was sie aus dem Leben machten und dass es traurig sein muss, gesenkten Hauptes und mit schwer beladenem Bewusstsein an der Schwelle des Ausgangs zu stehen, durch den man nie zurück kommt.

So empfange denn mein Lebewohl, Welt! Ich danke dir für das Dasein, welches mir die Möglickeit gab, ein erkennendes, empfindendes Wesen zu werden! Ich hätte wohl mehr tun, mehr werden sollen, aber man ist doch nicht alles aus sich allein, man ist zum Teil auch das Produkt äusserer Umstände und Einflüsse und du hast mir in der Jugend manches ver- sagt, was du von Hülfsmitteln der heutigen Jugend verschwenderisch zuerteilst. Worauf es jedoch hauptsächlich ankommt, das ist doch ein reines, hohes Wollen und das unab- lässige Bemühen, es zur Tat werden zu lassen, nicht wahr? Danach richte mich denn und erteile mir heiteren Ablass fiir alles Irren und Fehlen, denn du hast es mir auch nicht immer leicht gemacht und in schweren

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Prüfungsstunden hast du mich umsonst nach Hülfe rufen lassen, bis ich mich ermannte und mir selber half.

Ich habe dich geliebt, schöne Erde, und mit Wonne das Geheimnis ewiger Schönheit im Anschauen deiner herrlichen Gebilde geahnt. Ich danke dir für alle Stunden reiner Freude, für deine Sonnenuntergänge, für deine Sternen- himmel, für deine Frühlinge, deine lieben Blumen, deine Wälder, deine Berge, deine Meere. Genossen habe ich die Freude an dir mit vollen Zügen und wenn es noch schönere Erden gibt, so warst du mir hohe Vorbereitung auf das Höhere.

Lebt wohl, ihr Menschen, geliebte, meinem Herzen nahe Freunde und unbekannte, mir freundlich Gesinnte in der grossen Menge. Habt Dank für alle Liebe, für alle Güte und Treue, alles von meinem Herzen warm erwidert. Um uns schlingt sich ein unzerreissbares Band der Gemeinschaft, der wahren, unsichtbaren Kirche der Freien, die in stetem Wandel höher und höher steigen, bis dahin, wo sie den Schleier vom Angesicht der Wahrheit lüften und das göttliche Geheimnis der Existenz in voller Klarheit erkennen können.

Leb' wohl auch, Menschheit, und nimm ein ernstes Wort als Abschiedsgruss hin, von Einer, die bald geht und keine irdischen Rücksichten mehr kennt. Nahezu ein Jahrhundert ist vor meinem Blick vorübergegangen; es waren Augen- blicke höchster Idealität darin: sie wurden aber

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leider immer nur zu rasch von der traurigsten Realität verdunkelt und jetzt, am Ende des Jahrhunderts, kann man wohl fragen: wo ist der Fortschritt? Ringsum folgt sich Krieg auf Krieg und noch immer muss die Gewalt der Waffen entscheiden, wenn es sich um Fragen der Gerechtigkeit und Humanität handelt. Die Wissenschaft hilft fortwährend neue, unfehlbare Mordwerkzeuge zu erfinden und sie werden höher bezahlt, als die Werke hoher Kunst und Kultur. Sie erforscht die Mittel, die Gesundheit zu stärken und zu erhalten, aber statt dessen ist die heutige Jugend weichlicher und nerven- schwacher als in früheren Generationen. Der materielle Reichtum vermehrt sich aus hundert neuen Quellen, aber Armut und Elend wachsen in gleichem Masse und sehen uns aus hohlen Augen verkümmerter Gesichter vorwurfsvoll an. Und die höchsten Interessen des Daseins: Ver- edlung der Sitten, wirkliche Bildung, Erhebung des Gemüts durch die Werke hoher Kunst, Übung der ausgedehntesten Vorschriften der Humanität und Handhabung strenger Gerechtig- keit, ist das alles die erste, heiligste Aufgabe derer, die an der Spitze des Völkerlebens stehen ? O Menschheit, schlag an deine Brust und be- kenne dich schuldig. Noch immer tanzest du ums goldene Kalb; noch immer greifst du zur Gewalt, anstatt zum Recht; noch immer ziehst du die bösen Leidenschaften gross, welche zu Raub und Mord ftihren und zur Strafe durch Gefängnis und Galgen; noch immer trennst du

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die Völker durch Intriguen, Eifersucht, Egoismus und verkehrte Mittel der Staatskunst, anstatt sie durch Redlichkeit und Grösse der Gesinnung zu hohen, gemeinsamen Aufgaben wahrer Kultur zu vereinen und was es für empörende Folgen haben kann, wenn es in den civilisierten Staaten erlaubt ist, dass einer im anderen spioniere, davon gibt uns heute, am Ende des XIX. Jahrhunderts^ das sich seiner Aufklärung rühmt, Frankreich das traurige Beispiel.

Ein neues Jahrhundert bricht an. Lass es ein Jahrhundert des Friedens und der Tugend werden. Bedenke deine Verantwortung vor der Zukunft und den kommenden Geschlechtern. Richte deinen Blick von dem >allzu Flüchtigen«, auf das allein des Strebens Werte und baue an dem Tempel, in dem einst das Urbild aller Vollendung stehen und, segnend die Hände über die Welt breitend, sagen wird: >Und es ward Licht.«

Mit diesem Wunsch, mit dieser Bitte, mit diesem Segen sage ich auch dir Menschheit, mein Lebewohl.

Noch ein Lebevrohl!

Als ich einst auf meiner zauberischen Insel Ischia den vorstehenden Abschied an die Welt schrieb, glaubte ich mein Scheiden von dieser sehr nahe. Nun hat es sich doch noch ein paar Jahre verzögert, obwohl der Abschluss mehr als einmal ganz nahe stand, und ich habe noch mit Freude beobachten können, wie wenigstens die eine der wichtigsten Kulturfragen, die Erkennt- nis der Notwendigkeit des Weltfriedens, immer mehr sich ausbreitet und festen Boden gewinnt Es ist dies noch durchaus nicht vom hohen idealen Standpunkt aus, aber doch als Tatsache wichtig und das ist schon viel in einer Welt, wo die praktischen Interessen stets den Vorrang haben. Dass die Staatsklugheit um die Er- haltung der eignen Existenz, dass die Furcht vor dem Bevorstehenden, welches in seiner Verwirklichung auch Throne und gesellschaftliche Formen umstürzen könnte, viel zur Verbreitung dieser Idee des Friedens beiträgt wer wollte

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es leugnen? Wir Idealisten haben uns längst daran gewöhijt, wie traurig es auch ist, zu sehen, dass die grossen Weltgedanken so oft nur mit Hülfe kleinlicher Mittel ins Leben treten können. Aber immerhin, wenn sie nur zur Verwirklichung kommen, so ist schon ein Schritt vorwärts getan, da wir uns überzeugen müssen, dass das Ewige, wenn es in die Erscheinungswelt tritt, dem Lose des Vergänglichen anheim fällt, unvollkommen bleibt und die Mängel des Vergänglichen teilt. So sahen wir im Laufe dieser wenigen Jahre ein kleines Heldenvolk, wie seit den Perserkriegen nichts Ähnliches dagewesen war, unterliegen, nicht höherer Kultur, edleren Zielen, sondern einzig der rohen Übermacht eines durch Gewinn- sucht und Streben nach Weltmacht von seiner früheren kulturellen Stellung herabgesunkenen europäischen Staats. So sehen wir noch einen schönen Strich Europas, in unsäglicher Verwirrung, mit Blut und Mord befleckt, ein Spielball herrsch- süchtiger und fanatischer Leidenschaften und einem fruchtlosen Ringen nach Unabhängigkeit und Freiheit. Aber wer tiefer blickt, sieht im Grunde der unvollkommenen, verwirrten Er- scheinung eine grosse Zukunftsidee sich bewegen und die wirkenden Kräfte vorwärts treiben, und schon die Gewissheit, dass das ewig Eine, Schaffende, hinter der allen irdischen Mängeln unterworfenen Erscheinung steht und sie ins Leben treibt, ist ein unendlicher Trost.

Die Gedanken, den Spuren dieses ewig schaflfenden, in allem Erscheinenden wirkenden

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Prinzips nachzugehen, beschäftigten mich vor- zugsweise in dem verflossenen Sommer, den ich in grosser Einsamkeit verbrachte. Meine schwer leidende Gesundheit verhinderte mich, wie in den vorhergehenden Jahren, meinen Sommer- aufenthalt etwas femer von Rom zu nehmen. So erwählte ich den, nur anderthalb Stunden Eisenbahn von Rom entfernten kleinen Seeort Nettuno, der zwar nahe bei den anderen römischen Seebadort Anzio gelegen und mit diesem durch einen Spaziergang verbunden, doch noch nicht, wie dieser, angesteckt ist von der modernen Sucht eleganten Badelebens. Dort, in einer Villa, unmittelbar über dem Meer, auf einer grossen Loggia, die, auf drei Seiten vor Wind und Sonne geschützt, nur dem herrlichsten See- bild und der unvergleichlich wohltätigen Seeluft entgegen, offen war, verbrachte ich drei Monate in schweren körperlichen Leiden, in tiefster Ein- samkeit, des Trostes von Schreiben und Lesen beraubt, aber in einer Fülle des Gedankenlebens, die mich beinah schadlos hielt für die übrige Entbehrung.

Es ist ein besonders schöner, malerischer Punkt der italienischen Küste, den man gerade von da übersieht. In einem weit geöffneten Halbkreis zieht sich das Ufer hin und endet an der einen Spitze von den dunklen Bäumen einer Villa Borghese gekrönt, mit dem recht belebten Hafen von Anzio, der mit seinen vielen Masten nicht unpassend in diesem Seebild ist. Auf der anderen Seite bildet ein prächtiges, gut erhaltenes,

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mittelalterliches Castello, welches den kleinen Ort Nettuno beschützte, den höchst malerischen Vordergrund. Weiterhin zieht sich das grüne Ufer bis zu der letzten Spitze, welche von dem herrlichen Elap der Circe, das in Form, nur noch sphinxähnlicher, Capri gleicht, beendet wird. Bei hellem Wetter sieht man dann in bläulichem Duft die Kette der Monti Ausoni ein in den schönsten Linien geformter Nebenzweig der Apenninen, der sich zum Meere hinzieht. Vom aber, halbweg vom Kap Circe und nah dem Ufer, liegt, immer hell von der Sonne beschienen, der alte Turm von Asturi, wo einst Conradin, der letzte Sprössling eines der edelsten Geschlechter, die je Throne bestiegen, feindlicher Übermacht unterlag, zum Unheil für Sicilien und das südliche Italien. Denn unter der tyrannischen Herrschaft Carls von Anjou erstarb die Geistesblüte der Regierung Friedrich IL, des Bedeutendsten der Hohenstaufen und einer der bedeutendsten Menschen aller Zeiten, und das schöne Inselland fiel nun einer langen Reihe wechselvoller, meist trauriger Geschicke anheim. So spricht auch hier wieder, in dem kleinen weltverlornen Ort, wie überall in Italien, die Weltgeschichte in die vereinsamte Gegenwart hinein und erhöht, mit unzähligen Gedankenreihen, den Zauber der ewig jungen, wunderbaren Natur, die lächelnd auch über die Trümmer grossartiger Ereignisse ihre versöhnende Anmut breitet, zum Trost, »dass das Unvergängliche das ist das ewige Gesetz danach die Ros' und Lilie blüht.« Über

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diesen halbkreisförmigen Rahmen des Uferrandes hinaus aber öffnet sich unbegrenzt das weite Meer und die Horizontlinie von Himmel und Wasser wird nur von Zeit zu Zeit durch ein vor- überziehendes grosses Schiff unterbrochen. Vorn aber, zwischen den Häfen von Anzio und Nettuno, fahren reizende weisse Barken mit glänzend weissen Segeln, friedlich und lautlos wie weisse Schwäne, hin und her über die blaue, sanft spielende Flut. In den Nachmittagsstunden aber feiert das Meer seine Geburtsstunde; dann tauchen auf der meerüberschwemmten Sandfläche des Ufers noch zwischen den zerbröckelten Fels- überresten, die sie durchschneiden. Hunderte von menschlichen Gestalten auf, meist ohne Bade- kostüme, denn hier ist nicht, wie in Anzio, eine grosse elegante Badeanstalt, sondern das wohl- tätige, stärkende Element gehört allen frei und das arme Volk von Nettuno versäumt nicht die Wohltat zu benutzen. Man sieht Frauen mit wenig Monate alten Kindern auf dem Arm, die Kleinen in das stärkende Nass tauchen, was diese, gleich als ob sie, die dem Natürlichen noch so Nahen, instinktiv die Wohltat der Natur empfänden, ohne Widerstand und Geschrei, ge- schehen lassen. Kleine Geschöpfe von 2 bis 3 Jahren springen allein, mit Jubelgeschrei, in das vertraute Element und sind nur mit Mühe wieder davon zu trennen, als ob es ihre eigentliche Heimat wäre. Dieser, die Sommermonate hindurch täglich fortgesetzten Naturheilmethode nach sollte man denken, es müsse hier eine gesunde, kräftige

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Bevölkerung entstehen, aber achl unfern vom Meer, landeinwärts, wo hauptsächlich Wein ge- zogen^ wird, beginnt, durch die unverzeihliche Schlaffheit der vergangenen Regierungen und die noch strafbarere, egoistische Untätigkeit der Munizipien ungestört, das furchtbare Ungetüm der Malaria sein Zerstörungswerk. Die im Wasser Erstarkten schleichen nun, vom Fieber verzehrt, als verkrüppelte, gespensterartige Skelette, zu der nimmer endenden Fronarbeit für das tägliche Brot. Doch das ist ein schreckliches Kapitel, welches eine besondere Bearbeitung erheischt und ausserhalb meiner jetzigen Betrachtung liegt. Ich kehre daher auf meine Loggia zurück, wo ich, mehr und mehr dem bunten Weltgetriebe entfremdet, gleichsam eine grosse Pforte sich für immer schliessen sah, hinter welcher die lange Vergangenheit mit all ihren Erscheinungen, guten, schönen, sowie trüben und schmerzlichen, ver- söhnt und in einen grossen, verständnisvollen Akkord aufgelöst, zurückblieb. Es begann bei- nah ein neues Leben, das ich nur das kosmische nennen kann. Im steten Anblick der grossen, ruhig wirkenden Elemente, welche das kosmische Leben bedingen, schwand mir mehr und mehr das Interesse an den Tätigkeiten der Erscheinungs- welt. Auch was man im täglichen Leben gross und bedeutend nennt, erhielt mir eine andere, geringere Bedeutung gegenüber dem erhabenen Schauspiel der Urkräfte, die, nach einem ewigen, inneren Gesetz verfahrend, die Organisation des Weltalls ordnen und bestimmen. Diesem ewigen

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Gesetz, so weit wie möglich, nachzudenken in seinen Wirkungen, wurde meine ausschliessliche Beschäftigung. Wir hatten hier einen wunder- vollen Sommer, drei Monate unausgesetzten mild schönsten Wetters (während aus dem Norden die entsetzlichsten Klagen kamen) und man konnte mit Ruhe und freudigem Erstaunen die Leben zeugende und erhaltende Arbeit der Sonne, des Lichts, der Wärme, immer dem inneren, darin wirkenden ewigen Gesetz gemäss, fern von jeder scheinbaren Wilkür, beobachten und daraus Folgerungen ziehen. Ebenso kam mir, in den zauberhaft schönen Mondnächten, wo die leuch- tende Scheibe auf der sanft wallenden Flut eine breite Strasse versilberte, der Gedanke wieder, den ich schon vor langen Jahren in England an der Meeresküste gehabt hatte, als ob das Ent- gegenschwellen der Horizontlinie des Meeres dem Mond zu, welches mir ganz sichtbar schien, die erste Form der Liebe in dem elementaren Leben sein müsse, als ob demnach Empfindung schon in den scheinbar unempfindlichen Urstoffen vorhanden sei. Jetzt wurde mir das noch deut- licher, indem ich auch hier wieder das ewig eine, in allem wirkende Urprinzip erkannte, dessen Spur ich nachging und das mich mit immer höherer Ahnung erfüllte. Ich sollte auch noch ein gewaltigeres Schauspiel von den Vorgängen des kosmischen Lebens haben. Bei Annäherung des Herbstes, der sich meist hier im Süden mit einem plötzlichen, gewaltsamen Erscheinen meldet, kam das bisher so sanft bewegte Meer plötzlich

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in heftigste Aufregung. Die schöne Bläue des Himmels verschwand, Wolkenmassen bedeckten ihn mit früher Nacht; jede Spur von Festland war verloren; der Erdball war noch nicht ge- boren ; es war das Chaos in seiner erhaben furcht- barsten Gestalt. Immer finsterer wurde die Nacht; unten heulte das Wasser; in dem wogen- den Wolkenmeer darüber zuckten Blitze, weithin die kämpfenden Elemente beleuchtend; wie glänzende Sonnen standen oft elektrische Ent- ladungen sekundenlang still und schössen feurige Boten durch die ringenden Massen. Ich war auf meiner Loggia wie dahin gezaubert, um dem Werdeprozess des Daseins zuzusehen. Es war mir in jedem Augenblick, als müsse ich den Ruf hören: »Es werde!« Aber nicht mehr den willkürlichen Schöpfungsruf eines Einzelwillens, sondern die Stimme des Urprinzips, welches mit unveränderlicher Bestimmtheit in allem zugegen ist ; unserem beschränkten Fassungsvermögen nur in seinen Wirkungen erkennbar, vor dessen Grösse unsere Seele sich aber in tiefster Andacht anbetend niederwirft und selig auf- jauchzt, da sie sich sagen darf: es wirkt auch in mir!

Wer diesem Werdeprozess des kosmischen Lebens nachdenkt, der kann nicht anders als einsehen, dass die bis jetzt uns kund geworden, höchste Spitze des Ewigen in der Erscheinung der denkende Geist ist, und dass wir daher mit Recht schliessen dürfen, dass dieses eine, in allem Wirksame, auch hier nur sich selbst often-

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bart und also Geist ist, in uns freilich nur als ein vereinzelter Strahl leuchtend und daher in seiner ganzen Majestät nur unserer Ahnung erkennbar. Es war natürlich, dass dies allgewaltige Erkennen bei kindlichen Völkern nur in beschränkten Formen auftreten konnte und dass der eben erst erwachende Geist das Übersinnliche, nach seinem Bilde gestaltete, nicht umgekehrt. Aber wie es dem Geist, der sich nicht ganz befreit, geht, dass er das Vergängliche, welches die wechselnden Erscheinungen des Werdenden sind, für das UnvergängUche nimmt, so kam es, dass Vor- stellungen, die nur die jedesmalige Stufe des Erkennens bezeichneten, für ewig gültige Wahr- heiten genommen und in mehr oder minder beschränkten Dogmen festgestellt wurden. Dieser Kampf des sich befreienden Geistes mit der Trägheit und mit der Furcht des Verstandes vor den möglichen Konsequenzen ging so weit, das Übersinnliche bis zum vollständigen Materialis- mus auszubilden, um sich wenigstens der Welt des Greifbaren zu versichern, da die des Un- greifbaren immer mehr in Nebeln verschwand. Dagegen hat sich nun zum Glück der Idealismus, der aus der höchsten Quelle ausströmt, siegend wieder erhoben und wer, wie ich in diesem Sommer in Nettuno, den seltenen Vorzug gehabt hat, den Vorgängen des kosmischen Lebens in einer beinah wie systematisch geordneten Folge beizuwohnen, dem muss es deutlich werden, dass das Ewige, Ureine, dem unausgesetzten Drang des Werdens gehorchend, in tausendfältiger

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Gestalt zutage tritt*), und zwar immer in höheren Formen, bis es die Spitze erreicht welche, wie schon gesagt, der denkende Geist ist. Da dieser aber, den Gesetzen der Erscheinungswelt unter- worfen, nur individualisiert, nur als einzelner Strahl des ewigen Lichts zutage tritt, so bleibt auch das Erkennen seiner selbst ein unvoll- kommenes und entwickelt sich erst langsam in Ahnungen und der Wahrheit nahe kommenden Dichtungen und dann in der Arbeit bevorzugter Organismen, welche mit den, immer noch beschränkten Mitteln des Erkennens, ein herrliches Zeugnis dafür ablegen, wessen Ursprungs sie sind. Und all diese Errungenschaften des denkenden Geistes, was sind sie anders als die dringende Mahnung an die Welt der Erscheinung, das in ihr wirkende, ewige Urprinzip mehr und mehr zu erkennen und mehr und mehr zu einer, die Vollendung ahnen lassenden Wirklichkeit zu gestalten ? Dies also ist mein zweites Lebewohl an die Welt: lass das Göttliche, das Ewige, immer vollendeter in dir zur Erscheinung werden ; denn ausserdem ist das Dasein nichts wert. Wem es genügt, sich an das Vergängliche zu halten und es für das Unvergängliche zu nehmen, der wird auch dem Lose des Vergänglichen anheim- fallen. Aber du, Welt des forschenden Geistes, die in sich selbst den ewigen Ursprung erkennt,

*) In einer früheren Veröffentlichung hatte ich dies die »ewige Werdelnst des Seins« genannt, welches der, leider zu früh verstorbene Heinrich von Stein ein, einen ganzen Begriff erschöpfendes Wort nannte.

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wachse, wachse, von innen heraus, den idealen Zielen entgegen, dann sei mein letzter Abschieds- ruf an dich: Heil dir, o Welt!

Mit der tröstenden Gewissheit, eine unum- stössliche, ewige Wahrheit aus der Beobachtung kosmischer Vorgänge und der Intuition des forschenden Geistes gewonnen zu haben, verliess ich Nettuno und kehrte nach Rom zurück. Dass das Ewige, Ureine überall, in allen Äusserungen des erscheinenden Daseins wirksam sei, war mir zur vollständigen Gewissheit geworden, aber es in seiner Grösse und Herrlichkeit zu erkennen, ist dem einzelnen Strahl, der in uns lebt, versagt. Beschränkte Religionsformen haben immer nur versucht in irdischer Form, individualisiert, das Unfassbare, Ureine zu begreifen, deshalb sind sie auch immer wieder zerfallen, oder haben, wenn festgehalten, keinen veredelnden Einfluss mehr gehabt. Unsere Beschränkung anerkennen und uns in tiefster Ehrfurcht vor dem Unerforsch- lichen, dem göttlichen Geheimnis beugen, das ist das einzige, was uns zu tun bleibt. Und in dieser andachtsvollen, erhobenen Stimmung traf mich, wie eine Versicherung, dass ich recht geahnt, ein Artikel aus der »Review of Reviews«, einer vortrefflichen englischen Veröffentlichung, über einen jetzt in England hochgeschätzten Gelehrten, einen Indier, Dr. Jagadis Chunder Böse, welcher seine Studien in England gemacht

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hatte und nach den glänzendsten Erfolgen Professor der Naturwissenschaften an der Universität zu Calcutta geworden ist. Seine ausserordentlichen Entdeckungen führten ihn oft fiir längere Zeit nach England zurück, wo seine Schriften gedruckt wurden und wo die wissenschaftliche Welt mit dem äussersten Interesse seinen Vor- trägen folgte. Seine neueste Entdeckung nun, an deren Veröffentlichung er eben in England tätig ist, gilt der wunderbaren, ihm zur Gewiss- heit gewordenen Beobachtung, dass auch die bisher tot geglaubten Metalle Empfindung haben, dass sie dem Druck antworten, dass mithin auch in ihnen die grosse allwaltende Macht, die alles Lebendige durchdringt, wirksam ist. Die Beweis- führung für diese, nicht nur wissenschaftlich, sondern auch philosophisch so hochwichtige Entdeckung, hier zu wiederholen, liegt ausserhalb meiner Aufgabe. Ich kann nur von dem reinen Glück sprechen, welches ich empfand, als ich von der Vorlesung las, welche Dr. Böse eben in der königlichen Akademie der Wissenschaften gehalten hatte und welche er mit folgenden Worten schloss:

»Es war dann, als ich das stumme Zeugnis dieser freiwilligen Erwiderungen« (die Er- widerung des Drucks, also der Empfindung im Metall) »entdeckte und in ihnen einen Teil der alles Seiende durchdringenden Einheit erkannte

es war dann, dass ich

zum erstenmal ein wenig von der Botschaft ver- stand, welche meine Vorfahren vor dreissig

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Jahrhunderten an den Ufern des Ganges ver- kündeten:

Nur die, welche in all den wechselnden Er- scheinungen des Universums nur das ewig Eine wirksam sehen, nur die kennen die ewige Wahr- heit, ausser ihnen ist keine, ausser ihnen ist keine I <

So war mir das Ergebnis meines Denkens in dem kosmischen Leben das mich umflutete, durch dasselbe Ergebnis wissenschaftlicher Forschung bestätigt: die Einheit eines, in aller Erscheinung sich offenbarenden, schaffenden Prinzips, welches ausserhalb unserer Fassungskraft liegt, vor dessen Gewissheit aber nach und nach alle die selbst- geschaffenen Götter und Götzen der suchenden Menschheit in den Staub sinken, während wir es in Andacht fühlen, es lebt auch in uns und unsere Aufgabe ist es, es immer siegender in uns zu enthüllen.

Dies denn ist mein zweiter Abschied von dir, o Welt, möge er mir ein gutes Andenken bei dir sichern!

Rom, Januar 1903.

Druck von F. £. Haag, Melle i. Hann.

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