DERMODERNE KAPITALISMUS

DI. AUFLAGE

ERSTER BAND/ ERSTE HÄLFTE

NUNC COGNOSCO EX PARTE

TRENT UNIVERSITY LIBRARY

PRESENTED BY

KARL HELLEINER

Werner Sombart

Der moderne Kapitalismus

Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart

Dritte unveränderte Auflage

Mit Registern über Band 1 und II

Erster Band

Einleitung Die vorkapitalistische Wirtschaft Die historischen Grundlagen des modernen Kapitalismus

Erster Halbband

München und Leipzig Verlag von Duncker & Humblot 1919

Alle Rechte Vorbehalten

Copyright by Duncker & Humblot, München and Leipzig 1916

Altenburg

Pierersche Hofbuchdruckerei Stephan Oeibel & Co.

Inhaltsverzeichnis

Seite

Geleitwort zur zweiten Auflage . . XI

Einleitung

Erstes Kapitel: Die Grundtatsachen des Wirtschaftslebens . 3

I. Die Unterhaltsfürsorge . 3

II. Die Technik . 4

III. Die Arbeit und ihre Organisation . 7

IV. Die Wirtschaft . 13

*

Zweites Kapitel: Mannigfaltigkeit und Bedingtheit des Wirt¬ schaftslebens . 14

I. Die Mannigfaltigkeit des Wirtschaftslebens . 14

II. Die Bedingtheit des Wirtschaftslebens . 16

Drittes Kapitel: Die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaften 20

I. Die Differenzierung der Wirtschaftswissenschaft .... 20

II. Die Richtlinien der Volkswirtschaftslehre . 21

III. Die Aufgabe dieses Werkes . 22

Allgemeine Literatur . 26

Erstes Buch

Die vorkapitalistische Wirtschaft

Erster Abschnitt

Viertes Kapitel: Die vorkapitalistische Wirtschaftsgesinnung 29

Quellen und Literatur . 29

Zweiter Abschnitt

Das eigenwirtschaftliclie Zeitalter

Fünftes Kapitel: Der Zustand der materiellen Kultur Europas während des Friihinittelalters . 40

Sechstes Kapitel: Die Dorfwirtschaft . 45

Literatur . . . * . 45

Siebentes Kapitel : Die Fronhofwirtschaft . 53

Literatur . 53

I. Die Verbreitung der Grundherrschaften . 56

II. Die Grundzüge der Fronhofwirtschaft . 59

IV

Inhaltsverzeichnis

Seite

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III. Die Organisation der Arbeit in der Fronkofwirtschaft

1. Die Landwirtschaft S. 66. Die gewerbliche Pro¬ duktion S. 72. a) Die Nahrungsmittelgewerbe S. 74. b) Die Bekleidungsgewerbe S. 77. c) Die Baugewerbe S. 81. d) Gerätschaftsgewerbe S. 84. Kunstgewerbe S. 87. 3. Der Gütertransport S. 88.

Dritter Abschnitt

Das Übergangszeitalter

Achtes Kapitel: Die Wiedergeh urt der Tauschwirtschaft.

Literatur und Quellen .

I. Die Tauschwirtschaft und ihre Entstehung überhaupt

II. Die Entfaltung der Tauschwirtschaft im europäischen Mittelalter . .

III. Die Vorstufen des berufsmäßigen Handels .

IV. Die Anfänge des berufsmäßigen Handels .

V. Die «Anfänge des gewerblichen Handwerks

Neuntes Kapitel: Zur Theorie der Städtebildung

I. Der Begriff der Stadt .

II. Das Schema einer Theorie der Städtebildung

Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittel alter licheu Stadt 134

Literatur und Quellen . 134

I. Der Ursprung der Städte aus Dörfern, insbesondere die

Gründungsstädte . 135

II. Die Subjekte der Städtebildung . 142

1. Die Konsumenten S. 142. 2. Die Produzenten

S. 154.

III. Die Objekte der Städtebildung . 159

1. Die Klerisei S. 160. 2. Krieger und Beamte S. 163. 3. Die Handwerker S. 164. 4. Die Händler S. 168. 5. Die Almosenempfänger S. 175.

IV. Der „Zug nach der Stadt“ . 175

Vierter Abschnitt

Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft Elftes Kapitel: Die Wirtschaftspolitik der Stadt. . . .

Zwölftes Kapitel: Das Wirtschaftssystem des Handwerks

I. Der Begriff des Handwerks .

II. Die Gesamtorganisation der Wirtschaft .

III. Die Aufgabe der Handwerkergenossenschaft ....

IV. Die Eigenart der Handwerkerarbeit .

V. Die Berufsgliederung des Handwerks .

VI. Die Ordnung der Handwerksarbeit .

VII. Die innere Gliederung des Handwerks .

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Inhaltsverzeichnis

V

Saite

Dreizehntes Kapitel: Die Daseinsbedin gungen des Handwerks 199

I. Die Bevölkerung . 199

II. Die Technik . 200

III. Die Gestaltung der Absatzverhältnisse . 204

1. Gründe auf der Seite der Nachfrage S. 208.

2. Gründe auf der Seite des Angebots S. 209.

Vierzehntes Kapitel: Die Gestaltung des Güterbedarfs . . 213

Vorbemerkung. Quellen und Literatur (zu Kap. 14 bis 16) 213

Fünfzehntes Kapitel: Die Art der Bedarfsdeckung. . . . 221

I. Die letzten Konsumenten . . 221

Der orlsferne Güterabsatz während des Mittelalters . . . 238

II. Die Produzenten . 244

Sechzehntes Kapitel : Die Organisation der gewerblichen Arbeit 247

I. Die Verknüpfung der Produzenten mit dem Markte . . 247

II. Der Standort der Gewerbe . 247

III. Die Zahl der gewerblichen Produzenten und ihre Leistungs¬ fähigkeit . 251

IV. Die Wirtschaftsform . 257

Siebzehntes Kapitel: Die Organisation der Exportgewerbe . 272

Achtzehntes Kapitel: Der Handel «als Handwerk . 279

Vorbemerkung . 279

I. Der Geschäftsumfang . 280

II. Der Händler . 291

Über die Rechenkunst im Mittelalter . 296

III. Die Ordnung des vorkapitalistischen Handels .... 299

Nachtrag zur zweiten Auflage. . , . . . . 309

Zweites Buch

Die historischen Grundlagen des modernen

Kapitalismus

Erster Abschnitt

Wesen und Werden des Kapitalismus Neunzehntes Kapitel: Das kapitalistische Wirtschaftssystem 319

I. Begriff . 319

II. Die kapitalistische Unternehmung . 321

III. Die Punktionen des kapitalistischen Unternehmers . . 322

1. organisatorische S. 322. 2. händlerische S. 323.

3. rechnerisch-haushälterische S. 324.

IV. Das Kapital und seine Verwertung . 324

V. Die Bedingungen kapitalistischer Wirtschaft . 326

Zwanzigstes Kapitel: Das Werden des Kapitalismus . . . 327

I. Die treibenden Kräfte . .- . 327

II. Der historische Aufbau des modernen Kapitalismus . . 330

VI

Inhaltsverzeichnis

Seite

Zweiter Abschnitt

Der Staat

Einundzwanzigstes Kapitel: Wesen und Ursprung des mo¬ dernen Staates . 334

I. Der Begriff des modernen Staates . 334

II. Der Ursprung des modernen Staates . 335

III. Die Bedeutung des Staates für den Kapitalismus . . . 339

Literatur . 340

Zweiundzwanzigstes Kapitel : Das Heereswesen . 342

Vorbemerkung. Literatur . . 342

I. Die Entstehung der modernen Heere . 342

1. Die Herausbildung der neuen Organisationsformen S. 342. a) Das Landheer S. 342. b) Die Flotte S. 346.

2. Die Ausweitung des Heereskörpers S. 347. a) Die Landheere S. 347. b) Die Flotten S. 349.

II. Die Grundsätze der Heeresausrüstung . 351

1. Die Bewaffnung S. 352. 2. Die Beköstigung

S. 354. 3. Die Bekleidung S. 357. a) Die Bekleidungs¬

systeme S. 357. b) Die Uniform S. 359.

Dreiundzwanzigstes Kapitel: Der Merkantilismus als Ganzes 362

Quellen und Literatur . 362

Vierundzwanzigstes Kapitel: Die Gewerbe- und Handelspolitik 372

Quellen und LAteratur . 372

I. Übersicht . 374

II. Die Privilegierung . 375

1. Die Monopolisierung S. 376. 2. Die Handels¬ politik S. 381. 3. Prämiierungen S. 384.

III. Die Reglementierung . 386

IV. Die Unifizierung . 391

Fünfundzwanzigstes Kapitel: Die Verkehrspolitik .... 394

Literatur . 394

I. Maßnahmen zur Förderung privater Unternehmer . . . 394

1. Monopolisierung und Privilegisierung S. 394.

2. Prämiierung S. 395. 3. Unifizierung S. 395.

II. Selbsttätige Förderung der Verkehrsinteressen durch den

Staat . 396

Soelisundzwanzigstes Kapitel: Das Geldwesen . 398

Vorbemerkung . 398

Quellen und LAteratur . . 399 4

I. Verkehrsgeld und Staatsgeld . 401

II. Das Metallgeld . 404

1. Die allgemeinen Grundlagen des Geldwesens vom 13. bis zum 18. Jahrhundert S. 404. 2. Die Gestaltung

der Münz- und Geldverhältnisse, a) Der räumliche Ge]-

Inhaltsverzeichnis

VII

Seite

tungsbereich der Münzen S. 408. b) Währungs- und Münzsysteme S. 411.

III. Das Banco-Geld . 424

IV. Die Anfäuge des Papiergeldes . 427

Siebenundzwanzigstes Kapitel: Die Kolonialpolitik .... 430

Vorbemerkung . 430

Quellen und Literatur . 431

I. Die Idee der Kolonien . 432

II. Die Entstehung der Kolonialreiche . 434

III. Die Nutzung der Kolonien . 441

Achtundzwanzigstes Kapitel: Staat und Kirche . 446

Vorbemerkung. Literatur . 446

I. Die Steigerung der Intoleranz . . . 448

II. Die Entwicklung des Toleranzgedankens . 455

Anhang: Die Ordnung des Privat rechts. . , 460

IX

Geleitwort zur zweiten Auflage

Daß die zweite Auflage des Buches „Der moderne Kapitalis¬ mus“, von der ich ein halbes Menschenalter nach dem Erscheinen der ersten hiermit zwei Bände vorlege, äußerlich ein völlig neues Werk sei, lehrt ein Blick in das Inhaltsverzeichnis. Von dem früheren Text ist kaum ein Zehntel wieder verwendet, und auch dieser Bruchteil des alten Textes findet sich zumeist in ganz neue Gedankengefüge eingeordnet.

Wenn ich gleichwohl den Titel (so wenig ich ihn liebe) bei¬ behalten habe, so geschieht es, um damit auszudrücken, daß das Grundproblem, dessen Behandlung sich das Werk zur Aufgabe gestellt hat, dasselbe geblieben ist; das Grundproblem und mit ihm eine Reihe grundlegender Gedanken. Im übrigen ist die neue Auflage auch inhaltlich ein neues Werk, wie derjenige, der sich seinem Studium unterzieht, schon nach dem Lesen der ersten Kapitel wahrnehmen wird.

Was das Werk in seiner neuen Gestalt zu leisten unternimmt, will ich in diesem Geleitwort nicht darlegen ; ich habe die Auf¬ gabe, die es sich stellt, auf Seite 22 ff. dieses Bandes aufgezeichnet. Dagegen möchte ich dem Leser schon hier an der Pforte des Buches über zweierlei Aufschluß geben: über die wesentlichen Verschiedenheiten, die die neue Auflage im Vergleich mit der ersten aufweist, und über den Platz, auf den ich das Buch seiner wissenschaftlichen Eigenart nach gestellt wissen möchte oder was auf dasselbe hinausläuft: über den Standpunkt, von dem aus ich die Dinge in diesem Buche gesehen habe.

Die Abweichungen dieser zweiten Airflage von der ersten sind hauptsächlich folgende :

1. stofflich ist die neue Auflage erheblich ausgeweitet worden. Während die erste nur Bruchstücke der historischen Entwicklung enthielt, versucht diese neue Auflage, ein Bild von der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung der europäischen Völker zu geben. Deshalb beginne ich meine Darstellung jetzt mit der

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Geleitwort zur zweiten Auflage

Karolingerzeit und führe sie mit besonderer Ausführlichkeit durch die Epoche des Frühkapitalismus, also namentlich des 16., 17. und 18. Jahrhunderts, die in der ersten Auflage fast ganz unberücksichtigt geblieben waren, hindurch bis zur Gegen¬ wart.

Diejenigen Länder, aus deren Wirtschaftsleben ich vornehm¬ lich das Material für meine Darstellung genommen habe, sind Italien, Frankreich, Großbritannien, die Schweiz, die Niederlande, Deutschland und Österreich, während ich Spanien, Portugal, Skandinavien und Kußland seltener in den Kreis meiner Be¬ obachtung einbezogen habe. Selbstverständlich sind die asiatischen, afrikanischen und amerikanischen Kolonien der europäischen Länder gebührend berücksichtigt worden.

Die Verteilung des Stoffes auf die verschiedenen Bände ist ebenfalls eine andere geworden. Der erste Band enthält jetzt neben einer begrifflich grundlegenden Einleitung die Darstellung der vorkapitalistischen Wirtschaft und der historischen Grund¬ lagen des modernen Kapitalismus, während der ganze, umfang¬ reiche zweite, völlig neugeschriebene Band der Darstellung des Wirtschaftslebens im Zeitalter des Frühkapitalismus gewidmet ist. Ein dritter, später erscheinender Band soll dann die Vollendung des Kapitalismus im Zeitalter des Hochkapitalismus schildern.

2. konstruktiv unterscheidet sich die zweite Auflage von der ersten durch ihre sehr viel größere Kompliziertheit im Auf¬ bau. An die Stelle eines „extemporierten Discantus“ ist eine auf strenger kontrapunktischer Behandlung beruhende Symphonie getreten, die dem Leser eine größere Arbeit und Vertiefung zu¬ mutet. Einen Einblick in die zum Teil recht verwickelte Stimm¬ lührung versucht das 20. Kapitel des ersten Bandes zu geben. AVird mir diese neue Weise, den Stoff zu behandeln, zweifellos auch den Vorwurf größerer Schwerfälligkeit und UnübersichtlicL- keit eintragen, so wird sie das Buch doch vor der leichtfertigen und gedankenlosen Art der Kritik bewahren, die sich bei der Beurteilung an einen einzigen hervorspringenden Punkt hält und das ganze Werk etwa mit dem Bemerken ab tut: das ist das Buch mit der Grundrenten theorie“ oder so ähnlich.

Vielmehr wünsche ich sehnlichst, daß der tiefste Eindruck, der beim Leser nach dem Studium meines Werkes zurückbleibt, die lebendige Empfindung des ungeheuren Reichtums von Problemen sei, der in depAVorten; Entstehung des modernen

Geleitwort zur zweiten Auflage

XI

Kapitalismus eingeschlossen ist. Es wäre mir eine besondere Genugtuung, wenn von jetzt ab solche auf die grüne Wiese ge¬ baute „Entwicklungsgeschichten“ des Kapitalismus, wie sie noch unlängst Fritz Gerlich geschrieben hat, unmöglich sein würden und es noch unmöglicher wäre, daß ein angesehener Historiker wie v. B e 1 o w solchen leichtfertigen Unternehmungen öffentlich „das Lob einer nützlichen Arbeit“ zuspräche.

AVenn ich in meinen letzten Schriften mit bewußter Willkür eine Seite der kapitalistischen Entwicklung hervorgehoben habe, so hat man diese Methode gründlich verkannt; man hat die weisen Köpfe geschüttelt und an dem Verstände eines Autors zu zweifeln angefangen, der heute die städtische Grundrente, morgen die Edelmetallproduktion, übermorgen die Juden, dann den Luxus , dann den Krieg für die Entstehung des modernen Kapitalismus verantwortlich gemacht wissen wollte. Man hat seltsamerweise gar nicht beachtet, daß es sich dabei lun Teil¬ studien handelte ; man hat nicht eingesehen, daß ich mit dieser Scheinwerfermethode nichts anderes bezweckte, als jedesmal den Blick des Beschauers auf eine Seite des Problems einzustellen, damit er genötigt wäre, sich eine Zeitlang intensiv mit diesem Teilproblem zu beschäftigen. Nun fasse ich alle diese einzel¬ gesponnenen Fäden zu einem Gewebe zusammen und zeige, daß nicht etwa nur die von mir schon gewürdigten, sondern noch viel mehr Mächte an dem Aufbau des modernen Kapitalismus beteiligt gewesen sind.

3. methodisch sucht die zweite Auflage den vielleicht schlimmsten Fehler der ersten (den übrigens, im Vorbeigehen sei es bemerkt, kein einziger Kritiker, so scharf er auch sonst gegen mich vorgegangen ist, zu rügen für nötig befunden hat, nur Max Weber hat mich in persönlichen Gesprächen öfters darauf hingewiesen) nach Möglichkeit zu vermeiden, das ist die unzulässige Vermischung der theoretischen und der empirisch¬ realistischen Betrachtungsweise. Dieser Fehler machte sich be¬ sonders fühlbar bei der Darstellung des Handwerks, trat aber auch sonst des öfteren unliebsam zutage. Nun habe ich auf die Trennung des theoretischen und des empirischen Teils bei der Behandlung jedes einzelnen Problems ein Hauptaugenmerk ge¬ richtet und habe diese Doppelbetrachtung durch das ganze Wei’k streng durchgeführt, wie ich es auf Seite 23 f. in diesem Bande noch weiter erläutert habe. Ich lege auf diese Neuerung großes Gewicht und hoffe, damit auch in methodologischer Hinsicht

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Geleitwort zur zweiten Auflage

unsere Wissenschaft gefördert zu haben. Damit komme ich auf den zweiten Punkt zu sprechen, den ich in diesem Geleitwort erörtern wollte: die Stellung dieses Werkes (und seines Ver¬ fassers) zu den verschiedenen „Richtungen“ oder „Schulen“ oder „Methoden“ der Nationalökonomie.

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Wer noch heute die Richtungen unserer Wissenschaft nicht anders einzuteilen weiß als in die „abstrakt-theoretische“ und die „empirisch-historische“ Schule, wird diesem Werke ratlos gegenüberstehen. Denn es wird ihm beim besten Willen nicht gelingen, es einer der beiden „Schulen“ oder „Richtungen“ oder „Methoden“ zuzuweisen. Das gilt aber von jeder sozialwissen¬ schaftlichen Arbeit unserer Tage, die neue Wege gehen will. Ünd daß es gilt, ist nicht zu verwundern, da jener Gegensatz zwischen „historischer5 und „abstrakter5 Nationalökonomie für uns allen Sinn und alle Bedeutung verloren hat oder wenigstens verloren haben sollte.

W enn noch heute eine Anzahl einseitig begabter , jüngerer Nationalökonomen etwas wie eine „theoretische“ Richtung in unserer Wissenschaft in einen bewußten Gegensatz zu den von der „historischen . Schule“ vertretenen Forschungsgrundsätzen stellt, so beruht das auf einer, durch nichts als einen gewissen fraditionalismus gerechtfertigten , willkürlichen Einschränkung des Begriffes „Theorie“ auf die Pflege eines ganz bestimmten Komplexes von Problemen, nämlich derjenigen Probleme, die sich auf die Erhaltung und Weiterbildung der von den sog. „Klassikern“ unserer Wissenschaft begründeten Begriffsschematik und der mit Hilfe dieser Begriffsschematik nach der isolierenden Methode aufgestellten „Gesetzmäßigkeit“ der Erscheinungen (richtiger Denkvorgänge) beziehen.

Nun kann niemand den Wert dieser sog. „Theorie“, also insbesondere des abstrakt - isolierenden Verfahrens, höher ein¬ schätzen als der Verfasser dieses AVerkes. AVer sich der Mühe eines Studiums unterzieht, wird an unzähligen Stellen in diesem AVerke diese Methode angewandt finden: er lese beispielsweise das 33. Kapitel des ersten Bandes, das ganz nach ihr gearbeitet ist. Aber nun zu wähnen, in diesen Abstraktionen und Iso¬ lierungen erschöpfe sich das AVesen und der Inhalt derjenigen Soziahvissenschaft vom Wirtschaftsleben, die man bisher National¬ ökonomie oder Volkswirtschaftslehre genannt hat, oder auch

Geleitwort zur zweiten Auflage

XIII

nur: die Vornahme solcher Konstruktionen bilde einen irgendwie als selbständig zu betrachtenden Teil dieser Wissenschaft, er¬ scheint mir durchaus unzulässig. Wer das annimmt, müßte einen Mann, der immer nur Rechnungen über Tragfähigkeit usw. des Baumaterials anstellt, einen Baumeister nennen, während dieser Mann doch nur ein Teilarbeiter ist. So gewiß ist auch der nur abstrahierende Isolateur in der Nationalökonomie nichts weiter als ein Teilarbeiter, ebensogut wie sein Gegenstück: der Forscher, der nur Tatsachen aufhäuft. Es erscheint uns heute selbstverständlich, daß erst die Vereinigung beider Tätigkeiten die Gesamtleistung der wissenschaftlichen Nationalökonomie aus¬ macht; es ist fast eine Trivialität festzustellen, daß sich „Theorie“ und „Empirie“ wie Form und Inhalt desselben Objektes zu¬ einander verhalten. (Was ich meine, ergibt mit besonderer Deutlichkeit ein Vergleich des 33. mit dem 35. Kapitel des ersten Bandes: das 33. Kapitel stellt mittels des isolierenden Verfahrens die „Gesetzmäßigkeiten“ fest, die zwischen Geldwert und Preis „theoretisch“ obwalten, das 35. Kapitel untersucht an der Hand dieses Schemas die tatsächliche Beziehung zwischen Edelmetall¬ produktion und Preisbildung in einer bestimmten historischen Epoche.)

Diese Auffassung wurde übrigens schon von den führenden Köpfen der älteren sog. „historischen“ Schule vertreten; sie ist heute die herrschende bei allen Forschern meiner Generation, die etwas Lebendiges in unserer Wissenschaft zutage gefördert haben. Auf keinen von ihnen wird sich das alte entweder „Theoretiker“ oder „Historiker“ anwenden lassen; sie alle, ebenso übrigens wie die begabteren Vertreter der jüngeren Generation, sind selbstverständlich „Theoretiker“ und „Histo¬ riker“. Theoretisch und historisch ist auch dieses Werk.

Nun hat man es als eine Eigentümlichkeit der Forschungs¬ richtung gerade unserer Zeit bezeichnet, daß in ihr die „theo¬ retischen“ Probleme (wie in andern Wissenschaften, so auch in den Sozialwissenschaften) wieder mehr in den Vordergrund ge¬ treten seien; man hat geradezu von einer „Renaissance des theoretischen Interesses“ gesprochen. Und man tut das mit gutem Recht. Nur darf man, soweit unsere Wissenschaft in Frage kommt, das Wort „Theorie“ nicht in dem oben angeführten engen Sinne fassen. Wenn jene „theoretische Renaissance“ auch für die Nationalökonomie eine Neubelebung, einen Fortschritt bedeutet, so sind ganz gewiß nicht die Träger dieses Fortschritts

XIV

Geleitwort zur zweiten Auflage

jene Charakterstärken Männer, die die Fahne der „abstrakten“ Forschung unentwegt hochhalten. Wer in der Weiterbildung der Ricardo sehen Formeln (die ich, wie ich noch einmal aus¬ drücklich bemerken will, für sehr nützlich und ersprießlich halte, vorausgesetzt immer, daß man sich ihres beschränkten Erkenntnis¬ wertes bewußt und vor allem eingedenk bleibt, daß alle Ab¬ straktionen und Isolierungen nur einen Sinn im Rahmen eines nach historischen Merkmalen abgegrenzten Wirtschaftssystemes haben), wer, sage ich, in der Pflege und Weiterbildung dieser Begriffsschematik die Aufgabe unserer Wissenschaft erblickt, der kann wenn er auch noch begabt ist zweifellos nützliche Arbeit verrichten; aber ein Neuerer, ein Lebendiger, ein Refor¬ mator ist er nicht. Er ist vielmehr ein Epigone.

Was man die theoretische Renaissance unserer Zeit nennt, die zusammenfällt mit einer philosophischen Renaissance, hat ganz eine andere Bedeutung. Philosophischer ist unser Zeitalter geworden, sofern wieder mehr als früher nachdem „Sinn“ der Erscheinungen und nach dem „Sinn“ ihrer Erkenntnis ge¬ fragt wird. Theoretischer aber sind die Einzelwissenschaften, und auch die Sozialwissenschaften, geworden, sofern wieder mehr als früher Wert gelegt wird auf begriffliche Schärfe, auf syste¬ matische Durchdringung des Stoffs und vor allem auf die Syn¬ these des Einzelwissens. In diesem Bedürfnis nach syn¬ thetischer Zusammenfassung der zerstreuten Forschungs¬ ergebnisse möchte ich recht eigentlich das Kennzeichen unserer Zeit erblicken.

Wir empfinden die Last, die uns der sich immerfort mehrende Stoff auf die Brust legt, als einen zuletzt unerträglichen Druck und suchen uns von dieser Last, so gut es geht, zu befreien. Das ist aber nicht anders möglich, wenn wir uns nicht von aller „Wissenschaft“ abkehren und „auf hinaus ins weite Land“ fliehen wollen, als dadurch, daß wir den toten Stoff zu beleben, daß wir seiner Herr zu werden versuchen durch Beseelung mittels ordnender und systematischer Kategorien. Als einen solchen Versuch geistiger Befreiung möchte ich auch dieses Werk an¬ gesehen wissen, das deshalb die Begriffs- und Systembildung mit besonderer Liebe pflegt, um mit ihrer Hilfe einen Stoff zu meistern und zu beseelen, den mehrere Generationen mit unermüdlichem Fleiße aufgehäuft haben.

Geleitwort zur zweiten Auflage

XV

Massig, weil ein Streit um Worte, ist der Streit, ob die in diesem Werke (und äbnliclien, geistesverwandten) vorgetragene Wissenschaft denn noch „Nationalökonomie“ sei, oder viel¬ mehr Wirtschaftssoziologie oder etwas ähnliches. Richtig ist, daß sie etwas anderes ist als das, was etwa die Vertreter der Manchesterschule vor 50 Jahren Nationalökonomie nannten, näm¬ lich jene Disziplin, die, ohne von historischem oder philosophischem Ballast beschwert zu sein, die ökonomischen Fragen (das heißt meist : die merkantilen Probleme) des Tages für den Tag behandelt, jene Lehre des gesunden Menschenverstandes, jene „Wissenschaft“ vom Markte für den Markt, aus der Praxis für die Praxis, jene Business-Doktrin, das, was man auch als Handelskammersekretär- Nationalökonomie bezeichnen kann. Nun bin ich wiederum weit davon entfernt, die. hohe Nützlichkeit einer solchen Tagesmarkt¬ lehre in Zweifel zu ziehen. Aber was ich mit aller Entschieden¬ heit bestreite, ist dieses : daß das nun die Wissenschaft von der menschlichen Wirtschaft überhaupt sei. Jene Handelskammer¬ sekretär-Nationalökonomie vermehrt vielmehr nur die immer zahl¬ reicher werdenden Kunstlehren innerhalb des weiten Kreises der Wirtschaftswissenschaften um eine. Daneben bleibt diejenige Wissenschaft als die eigentliche Zentralwissenschaft der Wissen¬ schaften vom Wirtschaftsleben bestehen, die es sich zur Aufgabe macht, dieses in den großen Zusammenhang des menschlichen Gesellschaftsdaseins einzuordnen, was nun einmal nicht anders möglich ist als auf historisch-philosophischer Grundlage.

Wir können unmöglich zugeben, daß die Wissenschaft, die man bis heute Nationalökonomie nennt, auf den Stand zurück¬ geworfen werde, auf dem sie vor 50 Jahren angelangt war, als die deutschen Meister, sei es der sog. „historischen Schule“, sei es der sog. sozialistischen Richtung, ihre Reformarbeit begannen,- deren Grundergebnisse für uns einen unverlierbaren Besitz be- ' deuten sollen.

Daß mein Werk nicht einer bestimmten politischen oder wirtschafts- oder sozialpolitischen Parteirichtung dient, sollte gar nicht erst ausdrücklich hervorgehoben werden müssen. So sehr versteht es sich von selbst. Es ist ein schlimmes Zeichen unserer Zeit und erinnert bedenklich an amerikanische Zustände, daß man in den letzten Jahrzehnten auch in Deutsch¬ land angefangen hat, die Vertreter unserer Wissenschaft nicht

XVI

Geleitwort zür zweiten Auflage

nach ihren wissenschaftlichen Methoden und Leistungen, sondern nach ihren politischen Ansichten zu unterscheiden. "Wenn Ver¬ treter praktischer Interessen so verfahren, so ist ihnen das im Grunde nicht so sehr zu verübeln, denn sie brauchen als solche nicht zu wissen, was Wissenschaft sei. Daß aber auch in Ge¬ lehrtenkreisen dieser Unfug um sich greift, ist im höchsten Grade bedenklich. Ich meine, daß nur subalterne und in ihrem innersten Wesen unwissenschaftliche Geister auf den Gedanken kommen können, bei Beurteilung einer wissenschaftlichen Persönlichkeit danach zu fragen, wie sie etwa zum Reichstage wählt, ob sie „unternehmerfreundlich“ oder „arbeiterfreundlich“ denkt und ähnliches.

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Meine Kennzeichnung der Ansichten, von denen dieses Werk beherrscht wird, wäre unvollständig, wollte ich nicht mit einem Worte noch der Stellung gedenken, die ich der Geschichts¬ forschung und den Historikern gegenüber einnehme.

In den Kreisen der zünftigen Historiker gilt es als ausgemacht, daß dieses Werk in der Fassung der ersten Auflage ein schlechtes und verfehltes Buch sei. Und die Historiker haben mit ihrer ab¬ fälligen Kritik zum guten Teil recht gehabt. Die erste Auflage hat böse Schnitzer im einzelnen enthalten und mußte mit ihrer ganzen wilden und ungestümen Art die an peinliche Akribie ge¬ wöhnten und in einer strengen Schule aufgewachsenen Historiker zum Widerspruch und zur Ablehnung herausfordem. Ich hoffe, daß ein erheblicher Teil jener Fehler, die die erste Auflage ent¬ hielt, in dieser zweiten beseitigt ist.

Aber ich kann den Historikern nicht zugeben, daß ihre ab¬ fällige Kritik in allen ihren Teilen berechtigt war. Was ich vielen derjenigen Historiker, die sich öffentlich über mein Buch geäußert haben, vorzuwerfen habe, ist nicht sowohl der feind¬ selige Ton ihrer Kritik, obwohl es mehr der Sache genützt hätte, wenn er vermieden wäre. Zumal wenn die Skolaren sich für verpflichtet halten, in den Ton einzustimmen, den die Meister angeschlagen haben. Es hat mich fast erheitert, zu beobachten, wie es zur guten Sitte an manchen Universitäten gehört, daß der junge Doktorand, der ein wirtschaftsgeschichtliches Problem behandelt, oft an ganz entlegener Stelle seines Werkchens einen Kratzfuß nach hinten gegen mich macht und erklärt, daß er „selbstverständlich“ nichts mit meinen Ansichten zu tun haben

Geleitwort zur zweiten Auflage XVIt

Wolle. (Die ihm doch oft recht nützlich bei der Abfassung seiner Arbeit gewesen sind.)

Aber das ist am Ende nicht so wichtig. Wichtiger ist, daß viele Historiker auch die Art der Gescliichtsdarstellunp\ wie sie in meinem Werke enthalten ist, also das Konstruktive, Generali¬ sierende meiner Methode, als unberechtigt ablehnen. Dieser Auf¬ fassung gegenüber möchte ich folgendes geltend machen : Offen¬ bar gibt es zwei Möglichkeiten, die geschichtliche Welt zu be¬ fragen, indem man entweder fragt: was einmal sich ereignete, oder: was sich wiederholte. Man mag jene Frage nach der Einzigheit des Geschehnisses die spezifisch historische, diese nach der Wiederholung die soziologische nennen: genug, sie bestehen beide zu Recht, und alle Geschichtsschreibung bedient sich beider Fragestellungen. Je nach dem Objekte der Be¬ trachtung wird nun die eine oder die andere vorwiegen. Die äußersten Gegensätze werden die Biographie und die Zustands¬ geschichte darstellen. Auch in der Wirtschaftsgeschichte sind beide Fragestellungen am Platze. Auch hier gibt es kein Ent¬ weder-oder, sondern nur ein Sowohl - als - auch. Es muß aber betont werden , daß auch eine ersprießliche Wirtschafts- geschichte in dem besondern Verstände einer Ermittlung von Besonderheiten der historisch - soziologischen Forschung nicht nur zur Ergänzung, sondern geradezu zur Unterlage be¬ darf. Dann erst, wenn festgestellt ist, welche wirtschaftlichen Erscheinungen allgemeine, das heißt wiederkehrende sind, können wir mit Sicherheit aussagen, worin die Besonderheit des von uns betrachteten Problemkomplexes liegt.

Die Eigenart dieses Werkes besteht nun darin r daß in ihm die Frage nach der Allgemeinheit der wirtschaft¬ lichen Erscheinungen bis an die äußerste noch zu¬ lässige Grenze ausgedehnt worden ist. Diese Grenze ist der durch die süd- und westeuropäischen Völker, die seit der Völkerwanderung die Träger der Geschichte Europas sind, gebildete Kulturkreis. Soweit dieser in Betracht kommt, ist also die Frage wiederum die spezifisch geschichtliche: es gibt nur eine Geschichte des „modernen Kapitalismus“, nicht eine Geschichte des Kapitalismus schlechthin. Innerhalb aber dieses nun einmal gegebenen Kulturkreises ist dann jede Be¬ sonderheit der verschiedenen Völker außer acht gelassen und gefragt worden: welche wirtschaftlichen Erscheinungen, die zur Entstehung des modernen Kapitalismus führen , sind allen

Sombart, Der moderne Kapitalismus. I. Ii

Nytft Geleitwort zur zweiten Auflage

europäischen Völkern gemein? Ich halte diese Fragestellung nicht nur für vollauf berechtigt, sondern, wie ich schon sagte: die Ermittlung dieser allgemein - europäischen Züge der wirt¬ schaftlichen Entwicklung ist die notwendige Voraussetzung, um nun mit Aussicht auf reichen Ertrag die wirtschaftlichen Schick¬ sale der engeren Verbände zu untersuchen.

Also nicht, daß meine Arbeit die Spezialforschung ausschlösse, sie möge sich nun auf ein ganzes Land oder ein einzelnes Dorf beziehen: im Gegenteil, sie macht sie erst recht frucht¬ bar. Nun erst, nachdem man weiß, was europäische Wirtschafts¬ geschichte ist, wird man die deutsche, französische, englische und so weiter Wirtschaftsgeschichten schreiben können. Wie der Mathematiker, den in allen Werten wiederkehrenden Buch¬ staben herausnimmt und vor eine Klammer setzt, so daß er statt ab -f ac + ad . . . a (6 + c + d . . .) sagt, so bin ich verfahren, in¬ dem ich aus allen europäischen Wirtschaftsgeschichten, die jede für sich das Produkt aus europäischem und nationalem AVesen sind, die europäische Note herausgesucht und in ihrer eigen¬ tümlichen Gestaltung verfolgt habe. Jeder Historiker muß dieses Verfahren bei reiflicher Überlegung als berechtigt neben der in engerem Sinne geschichtlichen Forschung anerkennen.

Er muß sich dann freilich noch ein weiteres klar machen : daß nämlich die Lösung eines Problems, wie ich es mir gestellt habe, die Anwendung eines wissenschaftlichen Apparates nötig macht, dessen sich der Historiker bei der Lösung der ihm ge¬ läufigen Probleme nicht zu bedienen pflegt. Dieser Apparat ist die kunstvolle Schematik der systematischen Wissenschaft vom Wirtschaftsleben. Nur die gründliche theoretische Durch¬ dringung des gesamten Wissensstoffes macht es möglich, die all¬ gemeinsten Zusammenhänge der Erscheinungen aufzudecken. Die Entstehungsgeschichte des modernen Kapitalismus kann nur ein theoretisch durchgebildeter Nationalökonom schreiben, der vor allem auch das Wirtschaftsleben der Gegenwart kennt. Ge¬ wiß kann das auch ein Historiker von Fach sein. Aber daß er es sein muß, ist eine in den Kreisen namentlich der älteren Historiker leider noch nicht allgemein verbreitete Ansicht. Sonst wäre es nicht möglich , daß ein berühmter Geschichtsforscher wie Henry Pirenne den Fachgenossen der ganzen Erde (auf dem Londoner Historikerkongreß des Jahres 191*3) einen Vortrag über die Entwicklungsphasen des Kapitalismus hielt, der von einer geradezu staunenswerten Ahnungslosigkeit Zeugnis ablegt.

Geleitwort zur zweiten Auflage

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Spurlos sind an diesem Gelehrten alle die mühseligen Gedanken¬ arbeiten der letzten Jahrzehnte vorübergegangen, und er steht den Problemen, mit denen wir uns seit einem Menschenalter ab¬ quälen, mit der Unschuld eines Kindes gegenüber. Dieser Typus der "Wirtschaftshistoriker muß aussterben, sonst kommen wir nicht weiter. Und daß er in der Tat schon halb der Vergangen¬ heit angehört , dafür bürgen die Arbeiten einiger jüngerer 'Wirtschaftshistoriker in verschiedenen Ländern, die sich nicht über die Probleme, die wir aufgeworfen haben, großzügig hin¬ wegsetzen, sondern ihnen von ihrem Standpunkt aus mit Eifer und Sachkunde zuleibe gehen. Ich hege die feste Zuversicht, daß der heranwachsenden Generation auch unter den Historikern Arbeiten wie die meinige nicht als unnütze und ver¬ fehlte Unternehmungen, sondern als notwendige Ergänzung ihrer eigenen, im engeren Sinne wirtschaftsgeschichtlichen Unter¬ suchungen erscheinen werden.

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Endlich muß ich noch einen Punkt von mehr nebensächlicher Bedeutung berühren: die Art meines Zitieren s. Auch sie ist von zahlreichen Kritikern beanstandet worden (was wäre in meinem Buch nicht beanstandet !). Die Bedenken, die man gegen sie erhoben hat, geben mir die willkommene Gelegenheit, in Kürze die Methode meines Zitierens zu kennzeichnen. Zunächst, was die Menge der Zitate anbetrifft, so zitiere ich den einen zu viel, „belaste“ das Werk mit zu viel „totem Material“. Diesen Kritikern erwidere ich, daß ich mir nicht bewußt bin, „totes Material“ aufgehäuft zu haben, daß ich vielmehr glaube, jeder meiner Belege sei lebendig. Wie der Leser sieht, sind fast alle meine Zitate Quellenzitate, auch dort, wo sie literarischen Bearbeitungen des Gegenstandes entnommen sind. Nur ausnahms¬ weise führe ich Ansichten anderer Forscher an, nicht weil ich sie gering schätze, sondern weil ich aus einem Werke wie diesem nach Möglichkeit alle Polemik ausschalten möchte, die nach meinen Erfahrungen doch zu nichts dient. Jene Quellenbelege brauche ich aber, oft in gehäufter Menge und womöglich im Wortlaut, um die aufgewiesene Erscheinung dem Leser in die Seele einzuprägen und ihm den dargelegten Einzelfall zum inten¬ siven Erlebnis werden zu lassen. Nur dadurch konnte ich die extreme Generalisierung erträglich machen , daß ich dem Leser immerfort die eindringlichsten Bilder von der Wirklichkeit vor

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XX Geleitwort 2ur zweiten Auflage

Augen stelle. Mein Bemühen ist es, die letzte Allgemeinheit aus der intimsten Besonderheit abzuleiten. Darum muhte ich ganz konkrete Anschauung geben, um dann ganz allgemeine Züge festzustellen. Darum war aber ein gewisses hohes Maß von stofflicher Fülle unerläßlich. Daher die oft lästige Menge von Zitaten.

Den andern zitiere ich zuwenig; das heißt sie vermissen an dieser oder jener Stelle den Hinweis auf diese oder jene Schrift oder Quelle. Ihnen halte ich entgegen, daß ich mir durchaus be¬ wußt bin, nicht die gesamte in Betracht kommende Literatur zu beherrschen. Es ist das auch schwer möglich angesichts des ziemlich umfassenden Untersuchungsgebietes. Darum bin ich jedem dankbar, der mir nachweist, daß ich hier oder dort eine wesentliche Quelle übersehen habe (vorausgesetzt, daß sie geeignet ist, das Ergebnis meiner Untersuchungen in einem wichtigen Punkte zu berichtigen). Als kleinlich dagegen empfinde ich das Verfahren, das bei manchen, sogar namhaften Kritikern behebt ist, zu beanstanden : wenn man zwölf Schriften genannt hat, daß man eine dreizehnte, wahrscheinlich ganz belanglose Arbeit, nicht auch erwähnt habe, die der Kritiker gerade kennt. Im übrigen ist VoUständigkeit der Quellenbelege bei der Problemstellung, wie sie diesem Werk zugrunde liegt, auch nicht einmal ein not¬ wendiges Erfordernis zwingender Beweisführung.

Mancher wird es als eine Schwäche des Buches empfinden, daß ich nur gedruckte, nicht auch handschriftliche Quellen herangezogen habe. Ihnen gebe ich zu bedenken, daß dieses Werk nicht hätte geschrieben werden können, wenn ich mich in archivalische Studien verloren hätte. Gewiß ist es richtig, daß viele Punkte der europäischen Wirtschaftsgeschichte noch heute im Dunkeln liegen, und daß nur archivalische Forschungen sie aufhellen können. Aber ein klarer Gesamtüberblick läßt sich schon heute auf Grund der gedruckten Quellen geben. Und der mußte erst einmal zu geben versucht werden, gerade um die spätere Forschung um so fruchtbarer zu machen. Welche Fülle neuer Aufschlüsse aber schon die Durcharbeitung des heute gedruckten Quellenmaterials ergibt, wird, denke ich, ein Studium dieses Werkes erweisen.

Was dann die Art und Weise, wie ich zitiere, anbetrifft, so sind Zweifel laut geworden, ob ich meine Zitate selbst gefunden und nicht vielleicht aus andern Schriften entlehnt habe. Dazu bemerke ich, daß ich die in weitem Umfange (auch lind

Geleitwort zur zweiten Auflage ,XX1

gerade bei Historikern!) beliebte Gepflogenheit, Zitate aus andern Schriftstellern abzuschreiben, ohne diese Entlehnung ausdrücklich zu bemerken , stets als eine Art von Diebstahl am geistigen Eigentum empfunden habe. Eigentlich sollte man immer, wenn man den Hinweis auf eine Quellenstelle einem andern verdankt, diesen namhaft machen. Aber das ist auf die Dauer nicht durchführbar. Was aber durchaus vom wissen¬ schaftlichen Anstande verlangt werden muß, ist das, daß man jede Stelle, die man anführt, mit eigenen Augen vergleicht (oder bei nicht erreichbaren Werken durch einen Schüler oder einen guten Freund nachiesen läßt). Dieser Grundsatz ist auch für mich bei der Abfassung dieses Werkes maßgebend gewesen.

Eine ebensolche Unsitte , die immer mehr in Gelehrten¬ kreisen einreißt , ist die : Literatur Übersichten zu geben, ohne die angeführten Werke zu kennen. Beim heutigen Stande unserer bibliographischen Technik ist es dann nicht schwer, beliebig lange Listen von Büchern aufzustellen, die freilich nur dem Laien den Eindruck der Gelehrsamkeit machen, während cler Eingeweihte meistens die Eselsbrücken bemerkt, denen die Listen ihre Entstehung verdanken. Einem solchen Unfug sollte mit der stillschweigend angenommenen Regel gesteuert werden, kein Buch in einer Literaturübersicht anzuführen, von dessen Verwendbarkeit für den bestimmten Zweck man sich nicht hinreichend unterrichtet hat. Einen Nutzen haben nach meinen Erfahrungen Literaturnachweise für den Leser, namentlich den Anfänger nur, wenn sie gleichzeitig eine Art von Führung durch die einschlägige Literatur enthalten. Deshalb habe ich es mir angelegen sein lassen, möglichst jedem an¬ geführten Werke ein ganz kurzes Kennwort beizufügen, aus dem der Leser ungefähr eine Vorstellung bekommt, um was es sich handelt.

Einige sachliche Auseinandersetzungen mit Kritikern, die einzelne Teile meines Buches beanstandet haben, nehme ich besser je am besonderen Orte im Texte vor. Sehr zahlreich sind die Kritiker, die sich die Mühe genommen haben, über¬ haupt auf meine Gedankengänge einzugehen, nicht. Im Interesse der Sache wünsche ich, daß ihre Zahl dieser zweiten Auflage gegenüber sich vermehrt. Die meisten Kritiker haben im Zweifel gelassen, ob es am Mangel des guten Willens oder an ihrem.

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Geleitwort zur zweiten Auflage

geringen Verständnis gelegen war, daß sie so gar nichts von Belang über das Buch zu sagen gewußt haben. Es sei denn, daß sie es ablehnten. Ihnen möchte ich die Worte des alten Goethe ins Stammbuch schreiben: „Gegen die Kritik kann man sich weder schützen noch wehren ; man muß ihr zum Trutz handeln, und das läßt sie sich nach und nach gefallen.“ Ein tröstendes Bewußtsein ist es, daß dort, wo die Kritik in der Wissenschaft haust, nur selten die Quellen des Lebens entspringen, und daß das, was lebendig im Geiste ist, keine Kritik zerstören kann, selbst die gehässigste nicht.

Mittel-Sch reiberhau i. K., im September 1916

Werner Sombart

Einleitung

Bombart, Der moderne Kapitalismus. T.

Erstes Kapitel

Die Grundtatsachen des Wirtschaftslebens

I. Die Unterhalts für sorge

Wie alle lebendige Kreatur muß der Mensch, uni sein Leben zu erhalten , unausgesetzt sein individuelles Dasein durch Be¬ standteile der stofflichen Natur ergänzen, die er zu seinem Ver¬ zehr von außen hereinnimmt und seinen Bedarfszwecken an¬ zupassen trachtet. Daß der Mensch den Kreis seiner Bedürfnisse über die elementaren Unterhaltsmittel hinaus ausgeweitet und eine neue Bedarfswelt im „Kulturbedarf“ geschaffen hat, macht nur einen Gradunterschied aus. Auch die Tierwelt hat einen außerordentlich verschiedenen, nach Menge und Güte abgestuften Sachgüterbedarf.

Gemeinsam mit aller lebendigen Kreatur ist der Mensch aber auch vor die Notwendigkeit gestellt, einen großen Teil seiner Lebenskraft der Beschaffung jenes Sachgütervorrats, an dem sein Leben hängt, zu widmen. Er muß sich, weil die ihn umgebende Natur im Verhältnis zu seinem Bedarf spröde ist, um die „Deckung seines Bedarfs“ kümmern, er muß „Unterhaltsfürsorge“ betreiben.

Diese Unterhaltsfürsorge , die ein wie gesagt gemeinsames Kennzeichen aller Lebewesen auf dieser Erde ist, stellt sich in einem regelmäßigen Kreislauf dar, der in der natürlichen Be¬ schaffenheit der bedürfenden Wesen und der zu ihrem Verzehr notwendigen Sachdinge begründet ist : Gegenstände der äußeren Natur werden hereingenommen und dem Bedarfszweck angepaßt: der Vogel holt sich Federn und legt sie zum Nest zurecht: er „baut“ sein Nest: wir nennen diesen ersten Akt Produktion. Die Güter werden, nachdem sie produziert worden sind, ihrer Bestimmung (dem Verzehr) zugeführt: der Vogel speist die einzelnen Jungen mit den herbeigeschleppten Mücken: das ist, wie wir sagen, der Akt der Verteilung. Dann werden die Güter. ge- oder verbraucht : Akt der Konsumtion, auf den mit Notwendigkeit wieder ein Produktionsakt folgen muß. Produktion

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Einleitung

(„Erzeugung“) Verteilung Konsumtion („Verzehr“) wieder¬ holen sich so immerfort , bis das letzte Leben von dieser Erde verschwunden sein wird.

Alle Gegenstände der äußeren Natur, die für" die Unterhalts¬ fürsorge in Betracht kommen, bezeichnen wir als (Sach-) Güter oder materielle Güter (im Gegensatz zu den rein geistigen [im¬ materiellen] Gütern). Sie sind entweder schon als solche erkannt (effektive Güter) oder nicht, obschon sie eine sachliche Eignung besitzen, bei der Unterhaltsfürsorge Verwendung zu finden: der Wollfaden konnte dem Vogel von jeher als Baumaterial dienen; erst im Getriebe der Städte aber wurde er als solches „entdeckt“. Dienen die Sachdinge dem unmittelbaren Verzehr, so sprechen wir von Konsumtivgütern, dienen sie zur Herstellung anderer Güter, so sind es Produktivgüter. Jene bezeichnen wir nach dem Vorgänge Carl Mengers als Güter erster Ordnung, diese als Güter höherer (zweiter, dritter usw.) Ordnung.

Alle Produktion oder Gütererzeugung, wie wir etwas voll- mäulig sagen, beruht darauf, daß wir lebendige Wesen einen Aufwand von Energie machen, mittels dessen wir in der Umwelt (der „Natur“) vorhandene Stoffe oder Kräfte unserm Bedarfs¬ zweck entsprechend formen. In jedem Produktionsakt wirken also Arbeit und Natur notwendig zusammen, die wir deshalb als Produktionsfaktoren bezeichnen können, jene als den persönlichen, diese als den sachlichen Produktionsfaktor.

Die äußere Natur erscheint in jedem Produktions vorgange 1. als Arbeitsbedingung; 2. als Arbeitsgegenstand. In ihrer ersten Funktion schafft sie die sachlichen Bedingungen produktiver Arbeit, mögen nun diese Bedingungen von Natur gegeben sein, wie die Erde als Standort, die Luft als Atmosphäre, die Kräfte ; oder erst in der dem Produktionszwecke entsprechenden Form hergestellt werden, wie Arbeitsgebäude, Wege, Kanäle, Wachs¬ zellen der Bienen. Der Arbeitsgegenstand ist dasjenige Ding, an dem sich die Arbeit betätigt. Auch er wird entweder in der Natur fertig vorgefunden, oder er ist selbst schon Produkt. In diesem Falle nennen wir den Arbeitsgegenstand Rohmaterial.

II. Die Technik

Die bisherige Darstellung hat die Bestandteile der Unterhalts¬ fürsorge aufgewiesen, wie sie in jeder Unterhaltsfürsorge - tierischer wie menschlicher gleichmäßig wiederkehren.

Erstes Kapitel: Die Gruudtatsacheu des Wirtschaftslebens 5

Nunmehr sind die der menschlichen Unterhaltsfürsorge besonderen Erscheinungen zu betrachten, die diese zur Wirtschaft machen.

Das erste, was die menschliche Unterhaltsfürsorge auszeichnet, ist ein dem Menschen eigenes Verfahren bei der Gfütererzeugung (die immer für alle Sachbehandlung, also auch namentlich den Gütertransport steht) : die Anwendung dessen , was wir füglich die instrumentale Technik, oder wenn wir den Sinn dieses Wortes beschränken wollen: die Technik überhaupt nennen.

Unter Technik verstehen wir im weitesten Sinne alle Ver- fahrungsweisen zur Erreichung eines bestimmten Zweckes, unter materieller oder ökonomischer Technik also alle Verfahrungs- weisen zur Gütererzeugung.

Im einzelnen besteht die technische Fähigkeit:

1. in den Kenntnissen von den Eigenschaften der uns um¬ gebenden Natur. Dieses technische Wissen erstreckt sich auf die Nutzbarkeit der Stoffe, der Kräfte und der Umbildungsprozesse der Natur selbst;

2. in dem technischen Können. Dieses äußert sich entweder bloß in einer bestimmten Methode zur Ausführung von Tätig¬ keiten. Solcher Methoden sind vor allem zwei als besonders bedeutsam hervorzuheben: die Zerlegung der Gesamttätigkeit in ihre einzelnen Bestandteile, die dann als besondere Ver¬ richtungen erscheinen; und die Vereinigung des Materials, bei der ein und dieselbe Verrichtung gleichzeitig statt nacheinander an gleichartigen Gegenständen ausgeführt wird.

Oder aber das technische Können entwickelt sich zu einer instrumentalen Technik. Darunter verstehe ich ein solches Verfahren, bei dem zur Herbeiführung des technischen Erfolges irgendwelche Sachdinge, Instrumente, zur Verwendung gelangen. Bei der Gütererzeugung bezeichnen wir diese Instrumente als Arbeitsmittel, die also als dritte Form der Naturbeteiligung (neben Arbeitsgegenstand und Arbeitsbedingung, die aller Unterhaltsfürsorge eigentümlich sind) bei der menschlichen Unter¬ haltsfürsorge zu betrachten sind. Sämtliche Bestandteile des sachlichen Produktionsfaktors können wir auch Produktions¬ mittel im weiteren Sinne nennen und unter ihnen diejenigen als Produktionsmittel im engeren Sinne unterscheiden, die bereits Arbeitsprodukte sind. Ich werde im folgenden, wo nichts be¬ sonders gesagt ist, von Produktionsmitteln in jenem weiteren Verstände als dem Inbegriff sämtlicher sachlicher Produktions¬ faktoren sprechen.

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Einleitung

Genauer angesehen ist das Arbeitsmittel (nach der Marx sehen Begriffsbestimmung) ein Ding oder ein Komplex von Dingen, die der Arbeiter zwischen sich und den Arbeits¬ gegenstand schiebt, um sie als Machtmittel auf andere Dinge seinem Zwecke gemäß wirken zu lassen. Wir können aktive und passive Arbeitsmittel unterscheiden. Marx bezeichnet jene als „die mechanischen Arbeitsmittel, deren Gesamtheit man das Knochen- und Muskelsystem der Produktion nennen kann“; es sind Werkzeuge und Maschinen, die tätig unter der Leitung des Menschen in die neuzuformende Materie ein- greifen, während die andere Kategorie der Arbeitsmittel die mehr passive Bolle in der Produktion spielt, als Behälter für Stoffe und Kräfte zu dienen; es sind -dies die Kessel, Böhren, Bottiche, Fässer, Körbe, Krüge usw., jene Arbeitsmittel, „deren Gesamtheit ganz allgemein als das Gefäßsystem der Produktion bezeichnet werden kann“.

Ein Werkzeug ist ein Arbeitsmittel, das zur Unterstützung der menschlichen Arbeit dient (Nähnadel), eine Maschine ist ein Arbeitsmittel, das menschliche Arbeit ersetzen soll, das also das selbst tut, was ohne es der Mensch tun würde (Nähmaschine).

Die umfangreiche Literatur, die sich an diese meine Unter¬ scheidung von Werkzeug und Maschine knüpft, veranlaßt mich nicht zu irgendwelcher Änderung. Wenn man festhält, daß die Begriffe der beiden Arbeitsmittel im Hinblick auf ihre Verwendbarkeit für wirtschafts-wissenschafüiche Erkenntnis gebildet worden sind (und hier gebildet werden müssen), kann man nicht wohl anders unterscheiden, als ich es tue : denn nur bei dieser Gegenüberstellung wird das ökonomisch Wesentliche , die Beziehung zur Arbeitsverrichtung als Hauptmerkmal der Begriffe anerkannt.

Tn der Verwendung von Arbeitsmitteln äußert sich also die erste, ganz bedeutsame Eigenart menschlicher Unterhaltsfürsorge. Es bleibt dabei: Der Mensch ist „ein Werkzeug machendes Tier“ (a tool making animal).

Nicht nur in dem äußerlichen Sinne, daß (vielleicht rein zu¬ fällig) der Mensch sich des Arbeitsmittels bedient, das Tier nicht. Sondern in dem tieferen Sinne, daß in der Verwendung von Werkzeugen (die hier für alle Arbeitsmittel und alle Waffen stehen) das dem Menschen eigentümliche Gebaren : ein bewußtes Handeln nach Zweckvorstellungen am deutlichsten zum Ausdruck kommt, daß aber auch (was noch bedeutsamer ist) aller Ver¬ mutung nach sich dieses besondere Menschtum an dem Werk¬ zeuge in die Höhe gerankt hat. Da dieses es dem Menschen

Erstes Kapitel: Die Grundtatsachen des Wirtschaftslebens

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möglich und dann wieder notwendig machte, durch die Ent¬ faltung der rein geistigen Fähigkeiten sich zum Herren der Erde aufzus ch wingen .

in. Die Arbeit und ihre Organisation

1. Der Mensch lebt, indem er seine Kräfte betätigt. Die menschliche Tätigkeit unterscheidet sich dadurch (oder wird von uns unterschieden) von der tierischen, daß sie ein vernunftgemäßes Handeln, d. h. ein Handeln nach Zwecken ist. Diejenige mensch¬ liche Tätigkeit, die einem außer ihr liegenden Zwecke dient, können wir als Arbeit dem Spiel gegenüberstellen, das in sich selbst jenen Zweck findet.

Damit versuche ich, den Begriff der Arbeit nach rein objektiven Merkmalen zu bestimmen. Nur so gewinnt er, scheint mir, die er¬ forderliche Eindeutigkeit, während ihm jede Einfügung subjektiver Momente notwendig etwas Unbestimmtes und Schwankendes gibt. Der meist gegangene Weg, um zu dem Begriffe der Arbeit zu gelangen, führt über die Werturteile der Mühsal einerseits , der Nützlichkeit anderseits. Jeder Versuch, diese beiden Kategorien eindeutig fest¬ zustellen, muß jedoch, eben wegen ihrer Eigenschaft als Werturteile, scheitern. Nach meiner Definition ist also Arbeit ebenso die Tätig¬ keit, die der Dieb aufwendet, um einen Einbruch auszuüben, obwohl sie (sozial) schädlich ist wie diejenige Beschäftigung, die „keine Mühe“ macht, wenn sie nur auf einen außer ihr selbst liegenden Zweck gerichtet ist.

Produktivität (oder Ergiebigkeit) der Arbeit nennen wir ihre Fähigkeit, in einer gegebenen Zeit eine bestimmte Menge Güter zu erzeugen •, Intensität der Arbeit die Größe des Energie¬ aufwands in einer gegebenen Zeit.

2. Alle menschliche Arbeit ist gesellschaftliche Arbeit, das Problem der menschlichen Arbeit ist deshalb immer (auch) ein soziologisches.

Gesellschaftlich ist alle menschliche Arbeit in dem Sinne, daß die Arbeit keines Menschen ohne die Arbeit eines anderen Menschen möglich ist. Die Menschwerdung hat sich nur im Rahmen einer menschlichen Gemeinschaft vollziehen können, und auf der Arbeit aller früheren Geschlechter ruht die Arbeit heute auch des einsamsten Menschen.

Es ist oft mit Recht betont worden, daß Robinson, als er (was nicht einmal in vollem Umfange der Fall war, da er ein Kleidungsstück oder sonst eine Kleinigkeit gerettet hatte) ohne alle Habe an den Strand einer unbewohnten Insel gespült wurde,

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Einleitung

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doch die Erinnerung an viele Kenntnisse und Fertigkeiten als unerläßliche Ausrüstung für seinen Daseinskampf mit auf den Weg bekommen hatte, ohne die er nicht imstande gewesen wäre, sein Leben aufzubauen. Das heißt: nur als kunstvolles Erzeugnis einer Jahrtausende alten Kultur ist ein Kobinson denkbar. Diese Verkettung der menschlichen Arbeit in der Zeit besteht also immer; die Verkettung ist entweder eine rein ideelle (erinnerungsmäßige) oder eine materielle : durch Arbeitsprodukte vermittelte. Unsere Arbeit ruht zu jeder Zeit auch auf den Arbeitsprodukten der Vergangenheit. Ist die rein ideelle Ver¬ kettung der menschlichen Arbeit in der Zeit kein besonderes menschliches Phänomen, sondern allen Lebewesen gemeinsam, so ist die materielle Verkettung fast ausschließlich den Menschen eigen. Das gilt in noch höherem Grade von der anderen Art der Verkettung: der Verkettung im Kaum: Immer ist der Erfolg der menschlichen Arbeit an die Arbeit anderer zu seinen Leb¬ zeiten geknüpft. In primitiven Zuständen wird die Arbeit des einzelnen ermöglicht durch die Mitarbeit oder Aucharbeit seiner Genossen in der Gemeinschaft, in der er lebt. Heute ist die Arbeit des einzelnen verknüpft mit der Arbeit Tausender und Abertausender, deren Arbeitserzeugnis er sich auf dem Wege des Produktenaustausches zu eigen macht. Es ist nur ein Grad¬ unterschied in dem gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, wenn eine bestimmte Arbeit in räumlicher Gemeinsamkeit von mehreren zugleich ausgeführt wird.

3. Alle menschliche Arbeit, da sie eine gesellschaftliche Tat¬ sache ist, steht unter einer bestimmten Ordnung. Denn ord¬ nungsmäßig muß jede planvolle Tätigkeit sich vollziehen, sobald sie mehrere Menschen miteinander in Verbindung bringt. In der Ordnung wird der Plan objektiviert. Wir sprechen, wenn wir die Ordnung der menschlichen Arbeit im Auge haben, von ihrer Organisation. Der Organisation der menschlichen Arbeit liegen zwei und nur zwei Prinzipien zugrunde : die S p e - zialisation und die Kooperation. Alle anderen Möglich¬ keiten, die menschliche Arbeit in einer bestimmten Weise zu ordnen, sind nur Unterarten dieser beiden Prinzipien.

Ob man diese verschiedenen Möglichkeiten mit besonderen Aus¬ drücken bezeichnen will oder nicht, wird der einzelne nach seinen Neigungen entscheiden. Neuerdings hat eine sehr weit spezialisierende Nomenklatur wiederum Willy Hellpach vorgeschlagen in seinem Aufsatz, den er im 35. Bande des Archivs für Sozial Wissen¬ schaft (zitiert: Archiv) veröffentlicht hat. Mir sagen die einzelnen

Erstes Kapitel: Die Grundtatsachen des Wirtschaftslebens 9

Ausdrücke und die einzelnen Unterscheidungen wenig sie verwirren mich eher, als daß sie mir Klarheit geben. Ich bleibe deshalb lieber bei den zwei Kategorien der Spezialisation und Kooperation, die, wie gesagt, alle denkbaren Möglichkeiten der Arbeitsorganisation ein¬ schließen. Ganz verfehlt erscheint mir das Beginnen, die objektive Unterscheidung der verschiedenen Orgauisationsprinzipien in einen irgendwelchen Zusammenhang mit der rein subjektiven Beziehung der menschlichen Natur, oder gar des menschlichen Bewußtseins, oder des menschlichen Lust- oder Unlustgefühls zu den Arbeitsverrichtungen zu bringen. Wie eine bestimmte Arbeit auf den Menschen wirkt, ist ein (nebenbei bemerkt psychologisches und nicht soziologisches) Problem ganz für sich.

Unter Spezialisation verstehe ich diejenige Art der An¬ ordnung. welche einem und demselben Arbeiter gleiche, wieder¬ kehrende Verrichtungen dauernd zuweist. Der Grad der Speziali¬ sation kann außerordentlich verschieden sein. Es war eine Anwendung des Prinzips der Spezialisation, als zuert die Frauen Frauenarbeit, die Männer Männerarbeit verrichteten, als zuerst die Schmiedearbeit oder die Töpferei dauernd von je demselben Arbeiter ausgeübt wurde , und es ist nur eine gesteigerte An¬ wendung desselben Prinzips, wenn in der modernen Konfektion eine Arbeiterin ihr ganzes Lebenlang nur Hornknöpfe an Männer¬ westen annäht. Es bleibt sich grundsätzlich ebenso gleich, ob die Teilverrichtung, die ein Arbeiter dauernd vornimmt, durch horizontale oder vertikale Spaltung des vorher vereinigt ge¬ wesenen oder gedachten Gesamtarbeitsprozesses entsteht: ob zwischen Schlosserei und Schmiederei oder zwischen Gerberei und Schuhmacherei die Trennung sich vollzieht. Es ist aber endlich für den Begriff der Spezialisation gleichgültig, ob die Spezialisation zwischen Betrieben (worüber sogleich zu reden sein wird) oder innerhalb eines Betriebes erfolgt. In jenem Falle entsteht das , was wir Spezialbetriebe nennen , unter denen es abermals eine außerordentlich mannigfache Gradabstufung gibt, innerhalb deren aber keinerlei irgendwie feste Grenze für eine spezifische Unterscheidung zu ziehen ist.

Die Schmiederei als Ganzes ist ein Spezialbetrieb, verglichen mit der ehemals sie mitumfassenden hausgewerblichen Gesamtproduktion; die Schmiederei ist ein spezialisierter Betrieb , nachdem sich die Schlosserei von ihr geschieden hat; die Werkzeugschmiederei ist innerhalb der so spezialisierten Schmiederei wiederum ein Spezialbetrieb, die Sensenschmiederei innerhalb der Werkzeugschmiederei usw. Statt¬ haft ist es natürlich, bei historischen Betrachtungen einen bestimmten Grad der Spezialisation als fest gegeben anzunehmen, diejenigen Be¬ triebe, die ihn aufweisen, als „Vollbetriebe“ und alle nur Teile dieses

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Einleitung

Vollbetriebes umfassende Betriebe als „Spezialbetriebe“ zu bezeichnen. So verfahren wir mit vollem Recht, wo wir die Zersetzungsprozesse des alten „Handwerks“ uns klar zu machen haben.

Kooperation ist die Mitwirkung mehrerer an einem Gesamt¬ werk, das selbst nur durch die konsumtive Verwendung oder gegenständlich bestimmt sein kann. Kooperation kann statt¬ haben, wenn die Arbeit nicht spezialisiert ist, sie muß statt¬ haben. wenn diese spezialisiert ist. Denn alsdann stellt sie die notwendige Vereinigung der Teilarbeiten her.

Ersichtlich ist, daß Kooperation und Spezialisation alsdann in demselben Verhältnis zueinander stehen , wie in der organi¬ schen 'Welt oder in der mathematischen Vorstellung Integrierung und Differenzierung. Es steht natürlich nichts im Wege, diese Bezeichnungen auch auf die Organisation der menschlichen Arbeit anzuwenden, vorausgesetzt, daß man sich der rein bildmäßigen Bedeutung der andern Welten entlehnten Ausdrücke jederzeit bewußt bleibt.

4. Wenn wir das große Phänomen: menschliche Arbeit als Ausfluß vernünftigen Tuns denken, so erscheinen uns die tausend verschiedenen Einzelhandlungen zu innerlich zusammenhängenden Einheiten von Tätigkeiten verbunden durch ihre Abhängigkeit je von einem besonderen Arbeitspläne. Die Welt der Arbeit gliedert sich also in unserer Vorstellung in ebensoviele einheitlich gestaltete Arbeitsprozesse als Arbeitspläne vorhanden sind. Bei einem höheren Grade von Zusammenhang bei dauerndem Ver¬ bundensein einzelner Handlungen zu einem Ganzen sprechen wir von Betrieben. Und wir können genauer als Betriebe be¬ zeichnen: Veranstaltungen zum Zwecke fortgesetzter Werkverrichtung.

Betreibt eine Person allein eine Arbeit, bildet sie mit ihrer AVerkverrichtung allein den Betrieb, so genügt zur Regelung ihrer Tätigkeit, zur Einrichtung und Auffechterhaltung des Be¬ triebes ein rein subjektiver Plan. Dieser muß sich aber not¬ wendig in einer Ordnung objektivieren, sobald mehrere Personen ihre Arbeit zu gemeinsamem Wirken vereinigen. Denn damit aldann die Tätigkeit des einzelnen sich planmäßig einfüge in die Gesamtarbeit, muß sie von vornherein an die richtige Stelle und die richtige Zeit und zur richtigen Art disponiert sein. Es er¬ gibt sich danach stets eine Betriebsordnung; sie mag gedacht, gesprochen, geschrieben, gedruckt sein; sie mag stillschweigend

Erstes Kapitel: Die Grundtatsachen des Wirtschaftslebens H

vereinbart oder ausdrücklich erlassen, sie mag autonom oder heteronom für die einzelnen Organe des Arbeitsprozesses sein das bleibt sich gleich, genug sie ist da.

Die Gesamtaufgabe der Betriebsanordnung, können wir sagen, ist die zweckentsprechende Zusammenfügung der einzelnen Pro¬ duktionsfaktoren zu einem Ganzen durch ihre richtige Verteilung über Raum und Zeit. Im einzelnen bezieht sich die Betriebs¬ anordnung auf folgende Punkte, in denen allen die Einheit der Anordnung nachweisbar sein muß, damit wir von einem Be¬ triebe reden dürfen:

a) die Einleitung des Arbeitsprozesses; dazu gehört Ver¬ fügungsgewalt über Annahme, Anstellung, Entlassung der Arbeiter in quantitativer wie qualitativer Hinsicht sowie Verfügungsgewalt über die zur Produktion nötige Werk- stätte und die erforderlichen Arbeitsmittel;

b) die Gestaltung des Arbeitsprozesses, d. h. die Be¬ stimmung über den Ort, wo? und die Zeit, wann? ge¬ arbeitet werden soll;

c) die Ausführung des Arbeitsprozesses, d. h. die Für¬ sorge für die tatsächliche Durchführung des vorgezeich¬ neten Planes, für die vorschriftsmäßige Abwicklung des Arbeitsprozesses; mit anderen Worten: auch die Leitung muß eine einheitliche sein , was sich äußerlich in der Identität der leitenden, aufsichtsführenden Organe kundgibt b

Was ein Betrieb sei, ist oft gefragt und in sehr verschiedenem Sinne beantwortet worden. Man wird am besten tun, in der Einheit der Betriebsordnung auch die Einheit des Be¬ triebes zu erblicken. Was die Einheit herbeiführt , kann ent¬ weder in der Sache begründet sein: objektive oder Werkeinheit; oder aus der willkürlichen Zwecksetzung des Arbeitenden her¬ rühren; subjektive oder Zweckeinheit. Der Zweck kann ein verschiedener in ein und demselben Arbeitsumkreis sein.

„Bisweilen ist ein anderer der Zweck des Wirkenden und ein anderer der Zweck des Werkes an sich betrachtet; wie der Baumeister zum Zweck haben kann den Geldgewinn, der Zweck des Bauens aber ist das Haus.“ (S. Thomas.)

Das wird namentlich eine grundlegend wichtige Unterschei¬ dung in der kapitalistischen Wirtschaft, wo der Zweck des

1 Genaueres siehe in der ersten Auflage dieses Werks und in dem Aufsatze im „Archiv“ Bd. 37, S. 12 ff.

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Einleitung

Wirkenden und der Zweck des Werkes immer auseinandei- fallen. Ick hake früher die durch jenen geschaffene Einheit Wirtschaft, die durch diesen geschaffene Betrieb genannt und jene Einheit als Yerwertungsgemeinschaft, diese als Werkgemein¬ schaft bezeichnet. Besser ist es, einen Oberbegriff Betrieb zu bilden und innerhalb dieses Betriebsbegriffes : einen Wirtschafts- (oder V erwertungs-jbetrieb von den Werkbetrieben zu unterscheiden.

5. Die sehr verschiedenen Formen, die die Betriebe an¬ nehmen können, werden wir uns in ihrer Eigenart am besten verständlich machen, wenn wir als das unterscheidende Merkmal je die besondere Anordnung der Produktionsfaktoren heraus¬ greifen, und zwar in der Weise, daß wir vor allem das Ver¬ hältnis des einzelnen Arbeiters zu dem Gesamtprozeß und dem Gesamtprodukt uns zu vergegenwärtigen suchen. Denn alle Wesenheit der Betriebsgestaltung tritt letzten Endes in der Be¬ sonderheit dieses Verhältnisses in die Erscheinung. Das Ver¬ hältnis des Arbeiters zu seinem Werk kann grundsätzlich ein zweifaches sein-, entweder Wirken und Werk gehören einem Individuum eigentümlich an, sind der erkennbare Ausfluß seiner und nur seiner höchstpersönlichen Tätigkeit, sind somit selbst individuell und persönlich (wohlverstanden: soweit es sich um diejenige Arbeit handelt, die sich innerhalb des Rahmens eines Betriebes abspielt); oder Wirken und Werk sind das gemein¬ same, in seinen Einzelteilen nicht als individuelle Arbeit unter¬ scheidbare Ergebnis der Tätigkeit vieler, bestehen nur als Ge¬ samtwirken und Gesamtwerk, sind also nicht persönlich, nicht individuell, sondern kollektiv, gesellschaftlich. Danach lassen sich die Betriebe in die zwei Gruppen der individuellen und der gesellschaftlichen Betriebe einteilen, je nachdem in ihnen das Produkt als das Werk eines Arbeiters oder einer Gesamtheit von Arbeitern erscheint.

Eines Arbeiters: Das ist streng genommen nur der Fall im Alleinbetriebe. Man wird aber den Individualbetrieben auch diejenigen zurechnen dürfen, in denen entweder ein paar Arbeiter nebeneinander je ein besonderes Werk verrichten oder in denen der Hauptarbeiter von einigen wenigen Hilfspersonen unterstützt wird: das sind die Gehilfenbetriebe. Nach der Zahl der beschäftigten Personen (dem einzigen Kriterium, das die Statistik kennt) gehören die Individualbetriebe der Kategorie der „Klein“ - oder „Mittelbetriebe an, während die gesellschaftlichen Betriebe meist „Groß “betriebe sind,

Erstes Kapitel: Die Grundtatsachen des Wirtschaftslebens 13

Unter den gesellschaftlichen Großbetrieben unterscheiden wir, insbesondere in der gewerblichen Produktion, Manufaktur und Fabrik.

Manufaktur nenne ich denjenigen gesellschaftlichen Gro߬ betrieb, in dem wesentliche Teile des Produktionsprozesses durch Handarbeit ausgeführt werden. Fabrik nenne ich denjenigen gesellschaftlichen Großbetrieb , in welchem die entscheidend wichtigen Teile des Produktionsprozesses von der formenden Mit¬ wirkung des Arbeiters unabhängig gemacht, einem selbsttätig wirkenden System lebloser Körper übertragen worden sind. Ihre besondere Funktion ist die : die durch die Einführung der Maschinerie und des wissenschaftlich chemischen Verfahrens in die Produktion ermöglichte Überwindung der qualitativen wie quantitativen Beschränktheit des individuellen Arbeiters in jeweils höchst vollendeter Weise in die Wirklichkeit zu übertragen. Dafür ist in ihr für die Entfaltung individuell -persönlichen Wirkens kein Raum mehr k

Besondere Formen nimmt der Wirtschaftsbetrieb an : Wirt- schaftsformen nenne ich sie.

IV. Die Wirtschaft

Wirtschaft heißt die menschliche Unterhaltsfürsorge. Mithin werden wir in aller Wirtschaft antreffen:

1. eine bestimmte Wirtschaft sgesinnung, womit ich alles Geistige bezeichne, von dem die einzelnen wirtschaftlichen Tätigkeiten bestimmt werden : also alle Wertvor Stellungen, Zweck¬ setzungen, Maximen, die in den die Wirtschaft gestaltenden Personen, die wir Wirtschaftssubjekte nennen wollen, lebendig werden. Die Wirtschaftsgesinnung der Wirtschafts¬ subjekte objektiviert sich in den Wirtschaftsprinzipien.

2. eine bestimmte Technik, also bestimmte Verfahrungs- weisen, deren sich die Wirts chafts Subjekte zur Durchführung ihrer Zwecke bedienen;

3. eine bestimmte Organisation der Arbeit, also eine bestimmte Ordnung, der alle einzelnen wirtschaftlichen Vor¬ nahmen unterliegen.

1 Eingehender habe ich das Problem der Betriebsformen in der ersten Auflage und in dem erwähnten Archivaufsatze behandelt. Dort¬ selbst habe ich mich auch mit der im Anschluß an meine Systematik entstandenen Literatur auseinandergesetzt.

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Zweites Kapitel

Mannigfaltigkeit und Bedingtheit der Wirtschaft

I. Die Mannigfaltigkeit des Wirtschaftslebens

Ein Blick in die Wirklichkeit des wirtschaftlichen Geschehens in der Gegenwart, eine Betrachtung des Wirtschaftslebens in vergangenen Zeiten überzeugen uns davon, daß die Menschen zwar zu allen Zeiten und an allen Orten gewirtschaftet haben und daß in aller menschlichen Wirtschaft eine Reihe von Grund¬ tatsachen wiederkehrt, aber doch ebenso von der Wahrheit, daß die Formen, in denen sich das Wirtschaftsleben abspielt, von Zeit zu Zeit, von Ort zu Ort außerordentliche Verschieden¬ heiten aufweisen. Ein näheres Zusehen und eine kurze Besinnung belehren uns, daß diese Verschiedenheit aus der verschiedenen Gestaltung der drei die menschliche Wirtschaft kennzeichnenden Grundtatsachen sich ableitet. Wir vergegenwärtigen uns, welche Möglichkeiten solcher Gestaltungen bestehen1.

1. Die Wirtschaftsprinzipien. Unterschiedlichkeiten ergeben sich zunächst durch die verschiedene Zwecksetzung der Wirtschaftssubjekte. Dabei können wir zwei wesentlich ver¬ schiedene Arten der Zwecksetzung vor allem unterscheiden. Die Menschen streben nämlich entweder nach der Beschaffung eines nach Umfang und Art fest umschriebenen Vorrats von Gebrauchsgüte rn , das heißt: sie suchen ihren naturalen Bedarf zu decken; oder, sie erstreben Gewinn, das heißt: sie suchen eine möglichst große Geldmenge durch ihre wirtschaftliche Tätig¬ keit zu erwerben. Im ersten Falle, sagen wir, stehen ihre Hand- lungen-im Banne des Bedarfsdeckungsprinzips, im andern Falle im Banne des Erwerbsprinzips.

Eine Verschiedenheit der Wirtschaftsprinzipien ergibt sich ferner durch die verschiedene Möglichkeit der Wirtschaftsführung. Diese ist entweder traditionalistisch oder rationalistisch.»

1 Es wird hier nur das Schema der Möglichkeiten aufgestellt, und diese werden kurz skizziert. Je am passenden Ort werden die ver¬ schiedenen „Möglichkeiten“ ausführlich beschrieben werden.

Zweites Kapitel: Mannigfaltigkeit und Bedingtheit der Wirtschaft 15

Traditionalistisch , wenn sie auf einer gedankenlosen Befolgung überkommener .Regeln , rationalistisch , wenn sie auf dem be¬ wußten Willen zu einer grundsätzlichen Zweckmäßigkeit aller Vornahmen beruht.

2. Die Tech nik. Deren Verschiedenheit wird ebenfalls vor allem durch den Gegensatz des rationellen und empirischen Verfahrens bewirkt. Ist die Herbeiführung des technischen Enderfolges das Ergebnis einer bewußt - vernünftigen Zweck¬ mäßigkeitserwägung, so sprechen wir von einem rationellen Verfahren, und ruht dieses auf der kausalen Erklärung der Natur¬ erscheinungen, von einem wissenschaftlichen Verfahren; beruht die technische Fähigkeit dagegen auf einer bloß über¬ kommenen und gedankenlos übernommenen Kunstfertigkeit, so nennen wir das Verfahren empirisch.

3. Die Organisation. Eine bunte Mannigfaltigkeit ergibt sich gar erst, wenn wir alle möglichen Anordnungen und Ein¬ richtungen uns vergegenwärtigen, die durch die Organisation der Wirtschaft ins Leben gerufen werden. Diese bestimmt:

a) die Art und Weise, wie die für die Produktion not¬ wendigen Faktoren Produktionsmittel und Arbeits¬ kräfte zu produktiver Tätigkeit herangezogen werden: ob beispielsweise die Arbeitskräfte als Familienangehörige dem Be¬ fehle des Familienoberhauptes folgend zur Arbeit kommen; oder ob sie als Fremde zwangsweise herbeigeschleppt werden; ob sie von der staatlichen Obrigkeit in einer Gesellschaft freier Menschen zu Arbeiten bestimmt werden; ob sie als gleich¬ berechtigte Genossen sich zu gemeinsamer Arbeit verabreden ; ob sie als Ware auf dem Markte gekauft, ob als Gehilfen gegen Entgelt vielleicht nach obrigkeitlich festgestellten Taxen ange¬ worben werden usw. ;

b) die Art und Weise, wie die bei der Produktion mit¬ wirkenden Personen Einfluß aus üben auf die Gestaltung und den Gang jener. Produktionsleiter ist ja das Wirtschaftssubjekt. Aber' die Stellung der übrigen Produktionsteilnehmer zu diesem kann außerordentlich verschieden sein: vom unbeschränktesten Despotismus bis zur freiesten demokratischen Verfassung sind hier Abstufungen in den Beziehungen des Leiters zu den Ge¬ leiteten denkbar und wirklich;

c) die Art und Weise, wie das Produkt verwendet wird : ob es bestellenden Kunden gegen Entgelt geliefert, ob es auf dem Markte verkauft, ob es in der Wirtschaft des Produzenten

16

Einleitung

verzehrt, oh es auf dem Meierhofe oder in der Abtei abgeliefert, ob es in einem staatlichen Magazine deponiert wird usw. ;

d) die Art, und Weise, wie die bei der Produktion Mit- wirkenden am Produktionsertrage teilnehmen: ob gar nicht man denke an die abgabenpflichtigen Fronbauern ; ob mit einer Quote des Ertrages, ob mit einer unabhängig vom Ertrage festgesetzten Wertsumme in natura oder in Geld ; ob die Anteilnahme auf dem Wege stillschweigender Vereinbarung oder freier ausdrücklicher Abmachung oder obrigkeitlicher Nor¬ mierung oder sonstwie stattfindet;

e) die Art und Weise, wie der Arbeitsprozeß organi¬ siert ist: ob in kleinen oder großen Betrieben usw.;

f) die Art und Weise, wie die Wirtschaftsform gestaltet ist.

II. Die Bedingtheit des Wirtschaftslebens

Eine ebenfalls schlichte Besinnung führt uns zu der Einsicht, daß die eigenartige Gestaltung, die das Wirtschaftsleben erfährt, von der Erfüllung bestimmter Bedingungen abhängig ist, anders ausgedrückt, daß sich ein besonderes Wirtschaftsleben auf einer Anzahl geistiger und materieller , natürlicher und künstlicher Gegebenheiten aufbaut.

Die Bedingungen des Wirtschaftslebens sind entweder homo¬ gene oder heterogene. Homogene Erscheinungen sind solche, die der Verwirklichung der in den Wirtschaftssubjekten vor¬ herrschenden Zweckreihen günstig sind. Heterogene Erschei¬ nungen dagegen nenne ich diejenigen, die der Erreichung der von den führenden Wirtschaftssubjekten erstrebten Ziele Hinder¬ nisse bereiten.

Ihrer eigenen Art nach sind unsere Bedingungen entweder Natur- oder Kulturbedingungen, je nachdem sie dem Menschen von der Natur fertig gegeben oder von ihm selbst erst geschaffen werden.

Land und Volk sind die beiden Kreise, innerhalb deren sich die Naturbedingungen bewegen.

Das Land kann bestimmend für die Gestaltung des Wirt- Schaftslebens werden durch das, was der Boden in sich birgt: sei es an Pflanzennährstoffen, sei es an Mineralien. Kann be¬ stimmend werden durch das Klima, durch seine geographische Lage, durch seine innere Gliederung.

Das Volk ist gewiß zum guten Teil ein Gebilde von Menschen¬ hand, und seine Art, muß insoweit als Kulturbedingung des Wirtschaftslebens gewürdigt werden, Al: er es stellt doch auch

Zweites Kapitel: Mannigfaltigkeit und Bedingtheit der Wirtschaft 17

für alle Kultur ein von Natur Gegebenes dar und ist auch eine (mächtig wirksame) Naturbedingung. Die Bevölkerung gewinnt Einfluß auf die Gestaltung des Wirtschaftslebens von zwei Seiten her: durch ihre Blutsbeschalfenheit, die Weltauffassung, Leistungs¬ fähigkeit, Temperament bestimmt und durch ihre Mengenver¬ hältnisse, die sich in Dichtigkeit, Altersaufbau und Zuwachsrate äußern.

Die „Kultürbedingungen“ der Wirtschaft sind so mannig¬ faltig als es Äußerungen der Kultur gibt. In systematischer Anordnung ergibt sich folgende Übersicht: Bedingungen

A. der objektiven Kultur: das heißt aller Kultur, die außerhalb des Individuums ihre Existenz hat, deren Bestand das Einzelleben überdauert, weil sie in irgendeinem Gegenstände, mag dieser auch nur die Bedeutung eines Symbols haben: wie etwa eine Fahne oder ein Standbild des Monarchen „ob¬ jektiviert“ ist.

Die objektive Kultur stellt sich also dar in einem bestimmten Kulturbesitz, dieser ist

I. materieller Natur. Der materielle Kulturbesitz wird gebildet durch die Gesamtheit der einer Gemeinschaft von Menschen zur Verfügung stehenden Sachgüter.

II. ideeller Natur. Der ideelle Kulturbesitz knüpft zwar auch an irgendein Sachgut als an sein materielles Substrat an, stellt aber über dieses hinaus selbst einen geistigen Besitz dar.

Solcher ideeller Kulturbesitz ist zwiefacher Art. Er begründet einerseits das, was ich die institutioneile Kultur nenne, andrer¬ seits die sogenannte geistige Kultur.

1. Die institutionelle Kultur (wie wir der Einfachheit halber statt Kulturbesitz sagen können) besteht in dem Besitz von Ordnungen, Einrichtungen, Organisationsformen, deren sich ein Volk bedienen kann. Sie objektivieren sich in Verfassungsurkunden, Gesetz¬ büchern, Keligionssystemen , Fabrikordnungen, Zunftstatuteu, Zolltarifen usw. , aus denen die Menschen die Weisungen ent¬ nehmen, wie sie ihr Verhalten untereinander einzurichten haben. Wir können vier große Komplexe innerhalb der gesamten institu¬ tionellen Kultur unterscheiden, in denen die Jahrtausende ihre Erfahrungen niedergeschlagen und angehäuft haben : a) den Staat, b) die Kirche, c) die Wirtschaft und d) die Sitte.

2, Die geistige Kultur, soweit sie einen Kulturbesitz darstellt, wird gebildet durch all denjenigen ideellen Kulturbesitz, der sich nicht in Ordnungen irgendwelcher Art erschöpft. Hierher

Sombart, Der moderne Kapitalismus. I. t

18

Einleitung-

gehört also aller Besitz an Idealen , an W ertvorstellungen , an Strebungen usw. Es macht einen Bestandteil des Kulturbesitzes eines Volkes aus, wenn in ihm ein starkes Staatsgefühl oder ein tiefer religiöser Sinn oder eine humanitäre Weltauffassung oder ein mammonistischer Geist zu Hause sind.

Daneben kommt alles das in Betracht, an das man in der Regel allein denkt, wenn man von dem geistigen Kulturbesitz eines Volkes spricht: die Erzeugnisse der Wissenschaft und der Kunst, mit deren Segnungen es sich erfüllen kann.

Hierher gehört auch der für die Gestaltung des Wirtschafts¬ lebens besonders bedeutsame Besitz an technischem Wissen und technischem Können.

Dieser objektiven Kultur steht nun das gegenüber, was man

B. die persönliche Kultur, die Eigenkultur nennen kann. Sie besteht in der Nutzbarmachung der Kulturgüter- durch einen lebendigen Menschen. Sie ist die „Bildung“ dieses Menschen selbst; ist sein höchst persönliches Eigen, entsteht mit ihm, durch ihn und stirbt mit ihm. Die Eigen-Kultur ist 1. eine körper¬ liche oder 2. eine seelische. Alle Schulung des Körpers durch Sport usw., aber auch alle Sauberkeit, alle Eleganz der Kleidung u. dgl. gehört jener an, während diese, die seelische Eigenkultur, in der moralischen, intellektuellen oder künstlerischen Vervollkommnung des Individuums ihren Ausdruck findet. Es ist ersichtlich, daß zwischen der objektiven Kultur und der subjektiven weite Spalten klaffen können, daß vor allem eine und dieselbe objektive Kultur z. B. ein bestimmter Besitz von wissenschaftlichen oder künstlerischen Werken sich sehr ver¬ schieden in der Eigenkultur widerspiegeln kann: qualitativ, je nach der verschiedenen Art der Wirkung, die die Nutzbarmachung der Kulturgüter auf die Menschen ausübt; quantitativ, je nach dem Umkreis yon Individuen, die überhaupt an der Ausschöpfung des Inhalts der objektiven Kultur teilnehmen.

Sprechen wir von der Kultur eines Volkes , so denken wir sowohl an die Gesamtheit seines (objektiven) Kulturbesitzes wie an die Ausdehnung und Eigenart der persönlichen Kultur der Angehörigen dieses Volkes. Daneben gibt es dann aber noch ein Drittes, das- uns vorschwebt, insbesondere wenn wir von der Kultur einer bestimmten „Zeit“ reden, was objektive und sub¬ jektive Kultur gleichsam in einem, nur in ihnen existent und aufweisbar und doch ein anderes neben ihnen ist. Es ist

C. der Inbegriff aller Kulturerscheinungen, die wir in unserem

Zweites Kapitel: Mannigfaltigkeit und Bedingtheit der Wirtschaft IQ

Geiste zu einer Einheit zusannnenfassen und mit besonders kenn¬ zeichnenden Merkmalen ausstatten. Man könnte es etwa den Kulturstil (einer Zeit, eines Landes) nennen, den wir zweifellos als eine Einheit empfinden, wenn er auch als solcher in nichts anderm sich darstellt als in den tausendfachen, disparaten Äuße¬ rungen der objektiven und subjektiven Kultur dieser Zeit oder dieses Landes. Wenn wir von der „Kultur der Renaissance“ im Gegensatz etwa zur „modernen Kultur“ sprechen, so ist es der eigentümliche „Kulturstil“, den wir im Sinne haben.

Daß auch dieser besondere Kulturstil großen Einfluß auf das Wirtschaftsleben ausüben kann, sagt die Überlegung und lehrt die Geschichte.

2*

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Drittes Kapitel

Die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaften

I. Die Differenzierung der Wirtschaftswissenschaft

Ursprünglich, das heißt als man zuerst das Wirtschaften zum Gegenstände des Nachdenkens machte , gab es nur eine einzige „Wissenschaft“ vom Wirtschaftsleben. Das war die Hauswirt¬ schaftslehre: die Ökonomik, die aber auch Ökonomie (oixovopia) selbst genannt wurde, wie wir sie bei den Griechen zuerst sich entwickeln sehen.

„Wir hatten also gefunden, sagte Sokrates, daß Hauswirtschaft der Name einer Wissenschaft ist und daß diese den Menschen befähigt, sein Hauswesen zu fördern. Unter Hauswesen aber verstanden wir das Gesamtvermögen; als solches betrachten wir das, was einem jeden nutzbringend für seine Lebensführung ist, nutzbringend endlich erschien uns das, was einer zu gebrauchen versteht l.“

Die oixovojna umfaßte ebenso die Fürsorge eines Hausvaters für seinen und der Seinen Unterhalt: die Anordnungen, die er traf, um Schafe zu züchten, Wein zu keltern und Wolle zu spinnen , seine Maßregeln zur Kindererziehung und Sklaven¬ behandlung; seine Einkäufe und Verkäufe wie etwaigen Vertrags¬ schlüsse wie alle ausführende Tätigkeit : das Pflügen und Ernten, das Spinnen und Weben, das Aufspeichern und Zuteilen.

Die Wissenschaft von der oixovojna hatte die Aufgabe, dem guten Hausvater in allen diesen seinen Obliegenheiten ein guter Ratgeber zu sein.

Das war aber auch noch die Auffassung der Kameralisten von dem Sinne der Kameralwissenschaft , in der alles gelehrt werden sollte, was ein guter Verwaltungsbeamter wissen mußte : wie man Schweine züchtete , wie man die Länder bevölkerte, wie man den fürstlichen Haushalt in Ordnung hielt und wie man die Industrie und den Handel zur Blüte brachte.

Die Auflösung der alten Wirtschaftsverbände, die immer kunstvollere Gestaltung des wirtschaftlichen Lebens führten zur

} Oeconomicus. 6. Kapitel deutsch, von M. Ho d ermann.

Drittes Kapitel: Die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaften 21

Herausbildung zunächst einer Eeilie von Knnstlebren, denen die Aufgabe zufiel, besonders schwierige Teile der Unterhalts- fursorge eingehend zu behandeln, uni dem Praktiker eine ge¬ diegene Sachkenntnis zu übermitteln. Alle im „Recht“ nieder¬ geschlagene Ordnung wurde in der Jurisprudenz wissenschaftlich erörtert; alle Technik, sei es die des Landbaus, sei es die der Stoffverarbeitung, sei es die des Gütertransports, sei es die der kaufmännischen und industriellen Geschäftsführung, wurde be¬ sonderen „technologischen“ Wissenschaften zur gründlichen Be¬ handlung zugewiesen.

So blieb schließlich ein Rest der alten Wirtschaftswissenschaft übrig, der nicht Jurisprudenz und nicht Technologie war , und diesen Rest bezeichnen wir als Volkswirtschaftslehre oder Nationalökonomie oder politische Ökonomie. Ihr Gegenstand wird sich am besten negativ umschreiben lassen: Objekt der National¬ ökonomie (oder wie man diese Wissenschaft sonst benamsen will) ist die menschliche Unterhaltsfürsorge, soweit diese nicht von der Rechtslehre oder den verschiedenen Kunstlehren behandelt wird. Positiv können wir sagen: Nationalökonomie ist die Lehre von den Wirtschaftssystemen (s. u.). Damit sind die Richtlinien für diese Wissenschaft vorgezeichnet.

H. Die Richtlinien der Volkswirtschaftslehre

I. Da die menschliche Unterhaltsfürsorge eine gesellschaft¬ liche Erscheinung ist, so ist die Wissenschaft, die sie als ein Ganzes zum Gegenstände hat, eine Sozialwissenschaft:' alle ihre Begriffe müssen, nachdem die technischen Wissenschaften ausgesondert sind, sozialwissenschaftliches Gepräge tragen.

2. Will man Wirtschaft denken und ihre Erscheinungen wissenschaftlich erfassen, so kann man sie nur inmitten einer bereits gewordenen, historischen Umwelt sich vorstellen, also als ein bestimmt gestaltetes geschichtliches Gebilde. Daß die Nationalökonomie eine historische Sozialwissenschaft sei, ist ihr a priori. Also sind auch alle Begriffe der Nationalökonomie, „historische Kategorien“. Was man diesen als „ökonomische Kategorien“ gegenübergestellt hat, waren keine sozialwissenschaft¬ lichen, sondern technologische Begriffe (Kapital Produktions¬ mittel). Diese sind nur als Hilfsbegrifife zulässig.

3. Der tragende Begriff der Nationalökonomie ist der Be¬ griff des Wirtschaftssystems. Darunter verstehe ich eine

22

Einleitung

bestimmt geartete Wirtschaftsweise, das heißt eine bestimmte Organisation des Wirtschaftslebens , innerhalb deren eine be¬ stimmte Wirtschaftsgesimmng herrscht und eine bestimmte Technik zur Anwendung gelangt. In dem Begriffe des Wirt¬ schaftssystems wird die historisch bedingte Eigenart des Wirt¬ schaftslebens zu einer begrifflichen Einheit zusammengefaßt. Alle übrigen nationalökonomischen Begriffe sind auf diesen Ober¬ oder Grundbegriff auszurichten.

4. Die wissenschaftlichen Methoden, deren sich die Nationalökonomie bedient, werden verschieden sein, je nach der Art des Wirtschaftssystems , um dessen Erforschung es sich handelt. Immer aber werden es drei verschiedene Gesichtspunkte sein, unter denen die Betrachtung steht:

a) der theoretische: begrifflich reine Erfassung aller Er¬ scheinungen und ihrer Zusammenhänge;

b) der realistisch-empirische: Feststellung der tat¬ sächlichen Gestaltung des Wirtschaftslebens und seiner Ver¬ änderungen im Ablauf der Zeiten mit Hilfe der „theoretischen" Erkenntnisse.

Der dem Begriff des Wirtschaftssystems entsprechende Begriff bei der realistisch - empirischen Betrachtungsweise ist der der Wirtschaftsepoche. Darunter verstehe ich eine historische Zeitspanne, in der ein bestimmtes Wirtschaftssystem oder ge¬ nauer: die einem bestimmten Wirtschaftssysteme gemäße Wirt¬ schaftsweise vor geherrscht hat.

c) der politische: Ausrichtung aller Erscheinungen auf ein Ideal und Abmessung der Mittel und Wege, die zur Verwirk¬ lichung des Ideals dienen.

IH. Die Aufgabe dieses Werkes

Gemäß den soeben entwickelten Grundsätzen ist dieses Werk entworfen, das sich zur Aufgabe gemacht hat: das Wirtschafts¬ leben der europäischen Völker von seinen Anfängen an bis zur Gegenwart genetisch-systematisch zur Darstellung zu bringen.

Dazu bemerke ich folgendes:

1. „Von seinen Anfängen an“: das heißt von der Zeit an, da das Wirtschaftsleben der Völker, die Europa seit der Völkerwanderung in Besitz genommen hatten, aus eigener Wurzel neu zu wachsen beginnt: von der Zeit der Karolinger an etwa.

2. „Das Wirtschaftsleben der europäischen (insonderheit

Drittes Kapitel: Die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaften 23

süd-, west- und mitteleuropäischer) Völker“ : soweit, muß hinzu¬ gefügt werden, es sieh einheitlich gestaltet und einheitlich verläuft. Die Fragestellung ist also gerichtet auf das möglichst Allgemeine in den wirts chaftlichen Erscheinungen; nicht auf die Besonder¬ heit von Land zu Land. Beide Fragestellungen: die nach der Übereinstimmung und Allgemeinheit und die nach der Ver¬ schiedenheit und Besonderheit, die man als soziologische und historische bezeichnen kann, sind offenbar gleich berechtigt: sie schließen sich nicht aus, sondern ergänzen einander. Neben den zahllosen Bearbeitungen der Wirtschaftsgeschichte einzelner Ge¬ biete bedeutet dieses Werk den ersten Versuch einer gesamt¬ europäischen Wirtschaftsgeschichte.

3. „Genetisch- systematisch“ soll das europäische „Wirtschaftsleben“ zur Darstellung gebracht werden. Das bedeutet folgendes: jede Einzelerscheinung des Wirtschaftslebens wird ausgerichtet auf das jeweils herrschende Wirtschaftssystem. Der Begriff des Wirtschaftssystems und demnach der der Wirt¬ schaftsepoche dienen zur Ordnung des gesamten ungeheuerlich großen Stoffes , der nur unter steter Beihilfe dieser beiden tragenden Begriffe gemeistert werden konnte.

Es mußten also die verschiedenen Wirtschaftssysteme, die in den elf Jahrhunderten von 800 1900 vorgeherrseht hatten, er¬ mittelt und zunächst in begrifflicher Feinheit („idealtypisch“) be¬ schrieben werden. Die solcherweise beschriebenen Wirtschafts¬ systeme sind:

a) die Eigenwirtschaft in ihrer doppelten Gestalt: als bäuer¬ liche und grundherrliche Eigenwirtschaft;

b) das Handwerk;

c) der Kapitalismus.

Diesen drei Wirtschaftssystemen entsprechen die drei Wirt- schaftsepochen, die in dem letzten Jahrtausend aufeinander in Europa gefolgt sind. Die wirkliche Gestaltung des Wirtschafts¬ lebens in diesen drei Epochen darzustellen ist die eigentliche Aufgabe dieses Werks. Es ist zum ersten Male der Versuch unternommen, die Wirtschaftsweise zu schildern, während bisher, von engumgrenzten Monographien abgesehen, alle um¬ fassenden sogenannten Wirtschaftsgeschichten nichts anderes als Geschichten der Wirtschaftsordnungen waren. Weder Cun- ningham noch Levasseur noch Inama-Sternegg noch Kowale wsky sind etwas wesentlich anderes als Rechtsgeschichten. Dieses Werk will dagegen zeigen, wie sich die Unterhaltsfursorge

24

Einleitung

in Wirklichkeit gestaltet, wie sich die wirtschaftlichen Vorgänge in Wirklichkeit abgespielt haben. Was der Bauer und der Grundherr, der Handwerker und der Kaufmann gedacht, gewollt, getan haben, wie ihre Einzelhandlungen sich zu dem wunder¬ samen Gebilde der allgemeinen, gesellschaftlichen Wirtschaft zu¬ sammengefügt haben , möchte dieses W erk zur lebendigen An¬ schauung bringen. Das Problem , das zu lösen war , bestand darin: dem Leser eine „Fülle der Gesichte“ vor Augen zu stellen, ihn den unermeßlichen Reichtum der Einzelerscheinungen intensiv erleben zu lassen und ihm doch jederzeit den klaren Überblick über das Ganze zu bewahren, ihm das sichere Gefühl zu geben, daß er sich unbedenklich der Betrachtung der tausend Einzelheiten überlassen könne, ohne Gefahr zu laufen, sich in dem Wirrwarr der Tatsächlichkeiten zu verlieren. Ihm diese Sicherheit zu verschaffen, dient einerseits die allgemeine streng durchgeführte Ausrichtung aller Erscheinungen auf das jeweils herrschende Wirtschaftssystem, anderseits die im einzelnen durch¬ geführte Doppelbehandlung jedes Problems: die theoretisch¬ abstrakte und realistischrempirische. Von was immer ich in diesem Werke auch spreche: ob von Handwerk oder Kapitalis¬ mus, von Städte- oder Vermögensbildung, von Preis- oder Markt¬ bildung, von Geld- oder Naturalwirtschaft, immer wird der Leser dort, wo ich den Gegenstand zum ersten Male behandle, auf die empirische Darstellung des Tatsächlichen vorbereitet durch eine theoretische Konstruktion des Erscheinungskomplexes. Ich hoffe, daß diese hier zum ersten Male angewandte Methode sich als fruchtbar erweisen werde.

4. Das Wirtschaftsleben in seiner verschiedenen Gestaltung lebendig werden zu lassen, war das Ziel, das ich mir in diesem Werke gesteckt habe. Also mußte vor allem die Methode, die schon Mephisto verspottet hat, die aber leider noch immer im Schwange ist, vermieden werden :

„Wer will was Lebendiges erkennen und beschreiben,

Sucht erst den Geist herauszutreiben . . .“

Vielmehr war es mein heißes Bemühen, das „geistige Band“, das alle' lebendige Wirtschaft zusammenhält, bei meiner Unter¬ suchung nicht zu zerstören , sondern in seiner allzusammen- fassenden Kraft gerade aufzuweisen. Deshalb habe ich vor allem mich bemüht, den Geist, der je eine bestimmte Wirtschafts¬ epoche beherrscht hat, aus dem heraus das Wirtschaftsleben in dieser Epoche gestaltet worden ist, aufzusuchen und in seiner

Drittes Kapitel: Die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaften 25

Wirksamkeit zu verfolgen. Es ist ein Grundgedanke dieses Werkes, daß je zu verschiedenen Zeiten eine verschiedene Wirt¬ schaftsgesinnung geherrscht habe, und daß es der Geist ist, der sich eine ihm angemessene Form gibt und dadurch die wirt¬ schaftliche Organisation schafft. Diese Grundansicht, die schon in der 1. Auflage dieses Werkes sich findet, ist noch viel mehr ausgeprägt worden und zur Leitidee aller meiner Darlegungen gemacht worden b Wie ich das verstehe, werde ich noch häufig auszuführen Gelegenheit haben.

5. Aber der Geist ist auf Erden nicht allmächtig. Damit er das Leben nach seinem Bilde forme , müssen bestimmte B e - dinguhgen erfüllt sein. Und gerade dem Nachweise dieser für die Verwirklichung der wirtschaftlichen Ideen unerläßlichen Be¬ dingungen ist ein großer Teil der Darstellung dieses Werkes gewidmet. Da, wie wir wissen, die Gestaltung des Wirtschafts¬ lebens von der Gestaltung der gesamten übrigen Kultur bedingt ist, so führt die Darlegung der Bedingungen des Wirtschafts¬ lebens in alle Zweige des staatlichen und geistigen Lebens hinein und trägt zur Belebung wesentlich bei.

Die Bedingungen einer bestimmten Wirtschaftsweise habe ich in einem Falle (beim Handwerk) systematisch, im andern Falle (beim Kapitalismus) genetisch dargestellt. Auf diese genetische Darstellung ist in dem Hauptteile dieses Werkes, der die Ent¬ stehung des modernen Kapitalismus schildert, ein entscheidendes Gewicht gelegt worden.

6. Bei dieser Art der Untersuchung wird sich wie von selbst eine bestimmte Gliederung des geschichtlichen Ablaufs der Ereignisse zwanglos ergeben. Man wird in empirisch umgrenz¬ baren Zeiträumen die Herrschaft eines Wirtschaftsprinzips und des ibm entsprechenden Wirtschaftssystems so gut wie un¬ beschränkt finden ; in andern dagegen neue Wirtschaftsprinzipien im Kähmen des herrschenden Wirtschaftssystems nach An¬ erkennung ringen sehen. Anders ausgedrückt: jedes neue Wirt-

1 Die Einwände , die gegen diese meine Grundanschauung von zahllosen Kritikern der ersten Auflage dieses Werkes erhoben worden sind, haben mich nur in der Überzeugung bestärkt, daß allein meine Betrachtungsweise eine vertiefte Einsicht in das Wesen wirtschaftlicher Organisationen gewährt. Ich habe die gegen mich angeführten Gründe zu entkräften und die Berechtigung meines Standpunkts zu erweisen versucht in meinem Werke: Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen (1913). S. 3 ff., 441 ff.

26

Einleitung

schaftsprmzip muß sich, zunächst im Rahmen eines bestehenden Wirtschaftssystems durchzusetzen versuchen. Es wird zu seiner Verwirklichung sich Wirtschaftsformen schaffen, deren Gestaltung noch wesentlich von der Eigenart der aus einem andern (dem z. Z. herrschenden) Wirtschaftsprinzip erzeugten Wirtschafts¬ ordnung bestimmt wird und vermag erst allmählich sich das ge¬ samte Wirtschaftsleben nach seinem Geiste zu formen. Vom Standpunkt des neuen Wirtschaftssystems aus ist diese Epoche, in der die neuen Wirtschaftsprinzipien im Rahmen der alten Ord¬ nung sich betätigen, seine Frühepoche, vom Standpunkt des alten Wirtschaftssystems aus dessen Spät epo che. Dazwischen liegt die Hochepoche eines Wirtschaftssystems , in welcher der Geist nur eines Wirtschaftssystems zu reiner Entfaltung gelangt. Dieses Schema einer genetischen Betrachtungsweise auf empirisch bestimmte Wirtschaftsperioden angewandt ist es nun, was den folgenden Untersuchungen zugrunde liegt.

Allgemeine Literatur

Ein Werk, das dieselben Wege wie dieses ginge, gibt es meines Wissens nicht. Ähnlichen Gedanken wird man am ehesten begegnen in Gustav Schmolle rs Grundriß der politischen Ökonomie, zuerst 1900; und Karl Büchers Entstehung der Volkswirtschaft, zuerst 1893. Doch liegt beiden Werken ihrer Anlage gemäß fern eine systematische Darstellung des geschichtlichen Verlaufs der Wirtschaft in den verschiedenen Ländern. Eine solche ist bisher nur im nationalen Rahmen unternommen worden. Die bekanntesten „Wirtschafts¬ geschichten“ der wichtigsten Völker sind: W. Cunningham, The growth of english industry and commerce. 2 Vol. E. Levasseur' Histoire des classes ouvrieres et de l’industrie en France. 4 Vol. Th. v. Inama-Sternegg, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 3 Bde. Diese drei Werke, wenn sie auch, wie ich schon sagte, eher Ge¬ schichten der wirtschaftlichen Ordnung als des wirtschaftlichen Lebens darstellen, sind jedes in seiner Art ganz hervorragende Leistungen. Heute sind sie nach Fragestellung, Methode und Be¬ griffsbildung großenteils veraltet. Ganz auf der Höhe der heutigen F orschung steht von zusammenfassenden Darstellungen die ausgezeichnete Skizze von R. Kötschke, Deutsche Wirtschaftsgeschichte bis zum 16. Jahrhundert im Grundriß der Geschichtswissenschaft, herausee°' von A. Meister, Bd. II. 1.

Das Werk von Maxime Kowalewsky, Die ökonomische Ent¬ wicklung Europas bis zum Beginn der kapitalistischen Wirtschaftsform (Deutsch in 7 Bänden), enthält nicht, was der Titel verheißt : es ist reine Rechtsgeschichte im wesentlichen der Agrarverhältnisse, übrigens ebenfalls in nationalem Rahmen.

Erstes Buch

Die vorkapitalistische Wirtschaft

4

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Erster Abschnitt

Viertes Kapitel

Die vorkapitalistische Wirtschaftsgesinnung

Quellen und Literatur

Eine Literatur, die sich mit dem Probleme des historisch be¬ sonderen Geistes im Wirtschaftsleben beschäftigt, gibt es kaum. Zu nennen sind die Kritiken, die sich mit den einschlägigen Kapiteln der ersten Auflage auseinandersetzen, und die ich gelegentlich anführen werde. Außer mir hat nur Max Weber in seinen Aufsätzen „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik Band 21 ff.) das Thema selbständig behandelt. An diese Arbeit schließen sich dann wieder eine Reihe kritischer Auslassungen.

Eine Darstellung, wie die hier versuchte, ist daher ausschließlich auf die Benutzung der Quellen angewiesen. Über deren Natur und Erkenntniswert will ich folgendes im vorhinein bemerken.

Die Quellen zur Erschließung des Geistes im Wirtschaftsleben fließen für jeden, dessen Auge erst einmal geöffnet ist für das Problem, reichlich. Es sind auch hier unmittelbare und mittelbare Erkenntnis¬ quellen. Unmittelbare Erfahrung vom wirtschaftlichen Geist über¬ mitteln uns die wirtschaftenden Menschen selbst durch ihre Äußerungen. Solche

1. Selbstzeugnisse können gelegentlicher Natur sein: Gespräche, schriftliche Mitteilungen usw., oder sie sind systematisch geordnet : in Selbstbiographien, Testamenten, „Reflexionen“ und ähnlichem. Aber viel zahlreicher sind die Möglichkeifen, auf Umwegen Einblicke in die Psyche des Wirtschaftenden zu gewinnen. Diese Möglichkeiten können wir also als mittelbare Erkenntnisquellen zusammenfassen. Hier kommen in Betracht:

2. Die „Werke“ der Wirtschaftenden im weitesten Sinne; in denen sich also gleichsam ihr Geist „niedergeschlagen“ hat. Ich denke an allgemeine Organisationen, die sie schaffen: Dorfanlagen, Fabrikbetriebe, Verkehrsunternehmungen; an technische Werke: Einrichtung von Werkstätten, Gestaltung der Arbeitsmittel, Anlage von Eisenbahnen, von Bewässerungen, von Kanälen und Häfen usw. ; an besondere Ein¬ richtungen zur Durchführung wirtschaftlicher Zwecke.: das Rechnungs¬ wesen; an Wohlfahrtseinrichtungen; an das Tempo der Entwicklung ; an den Rhythmus des Wirtschaftslebens: rasche Neugestaltung, rasche Ausdehnung des Wirtschaftskörpers und ähnliches mehr.

3. Rechtsnormen : Bestimmungen über das Recht der freien Selbst¬ bestimmung, über Konkurrenz, über Reklame, über Preisbildung, über Zinsnehmen usw.

BO

Erster Abschnitt

4. Sittenleliren : religiösen oder weltlichen Ursprungs. Zu ihnen kann man auch zählen alle kritischen Äußerungen: Satiren, Kampfes¬ schriften, Reformvorschläge usw.

5. Zeitspiegelungen: in der öffentlichen Meinung: z. B. Geltung der verschiedenen Berufe (Handel!) bei der Gesamtheit oder inner¬ halb bestimmter Klassen (Stellung des Adels zum Erwerb !) ; in Literatur, Kunst und Wissenschaft: Darstellung von Typen, Art¬ beschaffenheit der beliebten „Richtungen“.

6. Soziale Stellung der einzelnen Gruppen der Bevölkerung zu¬ einander: friedliches Zusammenleben, feindliche Haltung (etwa der Arbeiter zu den Unternehmern), patriarchalische Beziehung, geschäft¬ liche Regelung.

7. Die Gestaltung der Politik, in der die Wirtschaftsgesinnung der einzelnen sich ausstrahlt: Machtpolitik oder Freihandel und der¬ gleichen.

Daß der Erkenntniswert der aus diesen Quellen zu entnehmenden Zeugnisse ein sehr verschiedener ist, leuchtet ohne weiteres ein.

Die Selbstzeugnisse (1.) sind vor allem sehr selten und schon des¬ halb nicht sehr ergiebig. Sie können freilich unter Umständen von ganz großer Bedeutung für das richtige Verstehen eines Zustandes werden. Meist muß man freilich zwischen den Zeilen lesen. Das gilt insbesondere bei allen systematischen Äußerungen der gedachten Art. In den Selbstbiographien oder Memoiren etwa hervorragender Wirtschaftsmenschen (deren es eine ganze Reihe gibt) stellen sich die Verfasser natürlich immer als ganz selbstlose, nur dem Gemein¬ wohl dienende Menschen hin, denen Geldverdienen ganz fern gelegen hat. Manche sind auch ehrlich gegen sich selbst, und die geben uns natürlich die besten Aufschlüsse. Zu berücksichtigen ist auch der Umstand, daß wir solche systematische Selbstzeugnisse meist nur von ganz hervorragenden Menschen haben, deren Überlebensgroße also auf das Durchschnittsmaß zurückzuführen ist, wenn wir ihre Leistungen und Ansichten verallgemeinern wollen.

Von den übrigen Quellen sind die zuverlässigsten die „Werke“ der Wirtschaftssubjekte (2.). Sie lügen wenigstens niemals.

Die unter 3 und 4 genannten Quellen sind sehr wichtig, aber be¬ sonders gefährlich zu benutzen, so daß es Forscher gibt, die sie über¬ haupt als Erkenntnisquelle für eine bestimmte tatsächliche Gestaltung der Dinge, hier also des „Geistes“ einer Zeit, nicht gelten lassen wollen. So haben mir seinerzeit viele Kritiker zum Vorwurf gemacht, daß ich die Ideenrichtung des mittelalterlichen Handwerkers aus Zunft¬ ordnungen oder auch aus Kritiken und Reformvorschlägen, wie etwa der Reform Kaiser Sigismunds, habe abnehmen wollen. Ich bemerke deshalb noch folgendes zu dieser Art Quellen und ihrer Verwendbarkeit:

Der Fehler, der häufig begangen wird, ist nicht der, daß man aus jenen Quellen Erkenntnis schöpfen will, sondern daß man falsche Er¬ kenntnis schöpfen will. Man wird auch nicht aus dem Strafgesetzbuch sich über die Verbreitung und die Arten des Diebstahls, aus der Gewerbeordnung nicht sich über die Gestaltung der Arbeiterverhältnisse in der Gegenwart unterrichten wollen. Aber was man aus ihnen sehr

Viertes Kapitel: Die vorkapitalistische Wirtscliaftsgesirmung gj

wohl lernen kann , ist die unsere Zeit beherrschende Durchschnitts¬ auffassung von Diebstahl und Arbeiterschutz. Natürlich kann die in der Gesetzgebung niedergelegte oder in einer Streitschriftenliteratur (für die ähnliche Regeln gelten) ausgesprochene Ansicht „veraltet“ sein und nicht mehr dem „Zeitgeist“ entsprechen. Dann wird man das fest¬ zustellen haben. Vor allem an der Hand der gegnerischen Äußerungen. Ein nicht allzu dummer Geschichtsschreiber unserer Zeit wird beispiels¬ weise aus der Mittelstandsliteratur zwar entnehmen müssen , daß in Deutschland noch eine beträchtliche Menge Menschen in handwerks¬ mäßigem Geiste denkt, wird aber feststellen müssen, daß die Grund¬ auffassung unserer Zeit, wie sie in der maßgebenden Literatur zxxtage tritt, wie sie sich in Gesetzgebung und Verwaltung bestimmend durch¬ setzt, eine andere, kapitalistische war. Umgekehrt wird unser Urteil über den „Geist“, der das mittelalterliche Wirtschaftsleben beherrschte, lauten müssen: zwar gab es gewiß täglich unzählige Handlungen und Gedanken, die gegen die handwerksmäßige Auffassung, wie sie die Sittennormen fordern und die Rechtsnormen festlegen, verstießen; ja gegen das Ende des Mittelalters werden sie sich gehäuft haben. Aber sie waren doch eben Verstöße. Und der „Zeitgeist“ (5.) verdammte sie. Der Zeitgeist empfand sie als Verstöße. Und niemand wagte, diese Verstöße zu rechtfertigen. Oder gibt es eine einzige, A ma߬ gebende Auslassung während des ganzen Mittelalters, die das Ote toi que je m’y mette-Prinzip, die die individuelle Selbstverantwortlichkeit, die das unbeschränkte Gewinnstreben zu verteidigen gewagt hätte?

Im Mittelpunkt aller Bemülmngen und aller Sorgen steht, ehe denn Kapitalismus wurde, der lebendige Mensch. Er ist der „Maßstab aller Dinge“ : mensura omnium rerum homo. Damit ist aber auch die Stellung des Menschen zur Wirtschaft schon bestimmt: diese dient wie alles übrige Menschenwerk mensch¬ lichen Zwecken1. Also: das ist die grundlegend wichtige Folge¬ rung aus dieser Auffassung ist der Ausgangspunkt aller wirt¬ schaftlichen Tätigkeit der Bedarf des Menschen, das heißt sein naturaler Bedarf an Gütern. Wieviel Güter er konsumiert, soviel müssen produziert werden; wieviel er ausgibt, soviel muß er einnehmen. Erst sind die Ausgaben gegeben, danach bestimmen sich Einnahmen. Ich nenne diese Art der Wirtschaftsführung eine Ausgabewirtschaft. Alle vorkapitalistische und vorbürger¬ liche Wirtschaft ist Ausgabewirtschaft in diesem Sinne.

1 „Divitiae comparantur ad oeconomicam non sicut finis ultimus, sed . sicut instrumenta quaedam, ut dicitur in I. Pol. Finis autem ultimus oeconomice- est totum bene vivere secundum domesticam con- versationem.“ S. Tliom. S. th. II a IIae qu, 50a. 3. Vgl. die An¬ merkung auf S. 32.

32

Erster Abschnitt

Dei Bedarf selbst wird nicht von der Willkür des Indivi¬ duums bestimmt, sondern hat im Laufe der Zeit innerhalb der einzelnen sozialen Gruppen eine bestimmte Größe und Art an¬ genommen, die nun als fest gegeben angesehen wird. Das ist die Idee des standesgemäßen Unterhalts, die alle vor¬ kapitalistische Wirtschaftsführung beherrscht. Was das Leben in langsamer Entwicklung ausgebildet hatte, empfängt dann von den Autoritäten des Rechts und der Moral die Weihe der grund¬ sätzlichen Anerkennung und Vorschrift. In dem thomistischen Lehrgebäude bildet die Idee des standesgemäßen Unterhalts ein wichtiges Fundamentum: es ist nötig, daß die Beziehungen des Menschen zur äußeren Güterwelt irgendwie einer Beschränkung, einem Maßstabe unterworfen werden: necesse est quod bonum hominis circa ea (sc. bona exteriora) consistat in quadam men- sura. Dieses Maß bildet den standesgemäßen Unterhalt: prout sunt necessaria ad vitam eius secundum suam conditionem 1.

Standesgemäß soll der Unterhalt sein. Also verschieden groß und verschieden geartet innerhalb der verschiedenen Stände. Da heben sich denn deutlich zwei Schichten voneinander ab, deren Lebensführung das vorkapitalistische Dasein kennzeichet: die Henen und die Masse des Volks, die Reichen und die Armen, die Seigneure und die Bauern, Handwerker und Krämer, die Leute die ein freies, unabhängiges Leben führen, ohne wirt¬ schaftliche Arbeit, und diejenigen, die im Schweiße ihres An¬ gesichts ihr Brot verdienen, die Wirtschaftsmenschen.

Ein s eigne uriales Dasein führen heißt aus dem Vollen leben und viele leben lassen; heißt im Kriege und auf der Ja^d seine Tage verbringen und im lustigen Kreise froher Zecher

ä

Uies Hauptstelle lautet bei S. Thomas in der Summa theol 11 IIa* 3U- 118 Art. 1 in der Passung der neuen Ausgabe der ge- saimen Werke (Romae 1886), nach der ich immer zitiere, im ganzen

wieiolgt: „Bona exteriora habent rationem utilium ad fmern, _ : Unde

necesse est, quod bonum hominis circa ea consistat in quadam mensura: dum scilicet homo secundum ab'quam mensuram quaerit habere ex- enores divitias, prout sunt necessaria ad vitam eius secun- dum suam conditionem. Et ideo in excessu huius mensurae consistit peccatum: dum scilicet aliquis supra debitum modum vult acquirere vel retmere. Quod pertinet ad rationem avaritiae quae de- nnitur esse immoderatus amor habendi.“ Von dem Glossator Card, üaietanus werden diese Leitsätze verteidigt und wie folgt erklärt: „appellatione vitae mtelüge non solum cibum et poturn, sed quae- cunque opportuna commoda et delectabilia, salva honestate“.

Viertes Kapitel: Die vorkapitalistische Wirtschaftsgesinnung

beim Würfelspiel oder in den Armen schöner Frauen die Nächte vertun. Heißt Schlösser bauen und Kirchen, heißt Glanz und Pracht auf den Turnieren oder bei anderen festlichen Gelegen¬ heiten entfalten, heißt Luxus treiben, soweit es die Mittel er¬ lauben und über diese hinaus. Immer sind die Ausgaben größer als die Einnahmen. Dann muß dafür gesorgt werden, daß diese entsprechend sich vergrößern: Der Vogt muß die Abgaben der Bauern erhöhen, der Rendant muß die Pachte steigern, oder man sucht (wie wir noch sehen werden) außerhalb der Kreise des normalen wirtschaftlichen Gütererwerbs die Mittel, um das Defizit zu decken. Das Geld verachtet der Seigneur. Es ist schmutzig, ebenso wie alle Erwerbstätigkeit schmutzig ist. Geld ist zum Ausgeben da1: „usus pecuniae est in emissione ipsius“ (S. Thomas).

So lebten die weltlichen, so lange Zeiten hindurch auch die geistlichen Herren. Ein deutliches Bild von der seigneurialen Lebensführung der Geistlichkeit in Florenz während des Quattro¬ cento, das durchaus als typisch gelten darf für alles Leben der Reichen in vorkapitalistischer Zeit, entwirft L. B. Alberti, wenn er folgendes sagt: „Die Priester wollen alle anderen an Glanz und Prachtentfaltung übertreffen, wollen eine große An¬ zahl wohlgepflegter und schöngeschmückter Rosse haben, wollen öffentlich auftreten mit einem großen Gefolge, und von Tag zu Tag steigert sich ihr Hang zum Nichtstun und ihre freche Laster¬ haftigkeit. Obwohl ihnen das Schicksal große Mittel in den Schoß wirft, sind sie doch immer unzufrieden und, ohne einen Gedanken ans Sparen , ohne Wirtschaftlichkeit , sinnen sie nur darauf, wie sie ihre angestachelten Begierden befriedigen können. Immer fehlt es an Einnahmen, immer sind die Ausgaben größer als ihre ordentlichen Einnahmen. So müssen sie das Fehlende anderswo her zu ergattern suchen“ 2 usw.

1 Vgl. auch mein Buch „Luxus und Kapitalismus“ (1912) S. 102ff.

2 I preti . . . „vogliono tutti soprastare agli altri di pompa e ostentatione , vogliono molto numero di grassissime e ornatissime cavalcature , vogliono uscire in pubblico con molto exercitio di man- giatori, et insieme änno di dl in di voglie per troppo otio et per poca virtü lascivissime , temerarie, inconsulte. A’quali, perche pur gli soppedita et soministra la fortuna, sono incontentissimi, e senza risparmio o masserizia, solo curano satisfare a’suoi incitati appetiti . . . sempre l’entrata manca et piü sono le spese che l’ordi- narie sue ricchezze. Cosi loro conviene altronde essere rapaci e alle onestissime spese, ad aitare e suoi, a sovenire agli amici, a

Sombart, Der moderne Kapitalismus I. 8

Erster Abschnitt

Ö i 04

Für die große Masse des Volkes war es auch in vorkapitalistischer Zeit notwendig, da man immer nur über beschränkte Mittel ver¬ fügte, Ausgabe und Einnahme, Bedarf und Güterbeschaffung in ein dauernd geordnetes Verhältnis zueinander zu bringen. Auch hier freilich mit derselben Voranstellung des Bedarfs, der also ein traditionell festgegebener war, und den es zu befriedigen galt. Das führte zu der Idee der Nahrung, die aller vor¬ kapitalistischen Wirtschaftsgestaltung ihr Gepräge verleiht.

Die Idee der Nahrung ist in den Wäldern Europas von den sich seßhaft machenden Stämmen der jungen Völker geboren worden. Es ist der Gedanke, daß jede Bauernfamilie so viel Hofland, so viel Ackerland, so viel Anteil an der Gemeinde¬ weide und dem Gemeindewalde erhalten soll, wie sie zu ihrem Unterhalte benötigt. Dieser Komplex von Produktionsgelegen¬ heiten und Produktionsmitteln war die altdeutsche Hufe , die im germanischen Gewanndorfe, wie wir noch sehen werden, ihre vollendete Ausbildung erfahren hat, aber doch auch in allen An¬ siedlungen der keltischen und slawischen Völker ihrer Grundidee nach sich wieder findet. Das heißt also : Art und Umfang der ein¬ zelnen Wirtschaft werden bestimmt durch die Art und den Umfang des als gegeben angenommenen Bedarfs. Aller Zweck des Wirt- schaftens ist die Befriedigung dieses Bedarfs. Die Wirtschaft untersteht, wie ich es genannt habe, dem Bedarfsdeckungsprinzip.

Aus dem bäuerlichen Anschauungskreise ist dann die Idee der Nahrung auf die gewerbliche Produktion, auf Handel und Verkehr übertragen worden und hat hier die Geister beherrscht, solange diese Wirtschaftssphären handwerksmäßig organisiert waren. Auch das werden wir im einzelnen nachprüfen.

Man hat mir, als ich schon früher ähnliche Gedanken entwickelte, entgegengehalten: es sei ganz verkehrt, für irgendeine Zeit an¬ zunehmen, daß die Menschen sich beschränkt hätten, nur ihren Unter¬ halt zu befriedigen, nur ihre „Nahrung“ zu haben, nur ihren natur¬ gemäßen traditionellen Bedarf zu decken. Vielmehr sei es zu allen Zeiten „in der Natur des Menschen“ gelegen gewesen, so viel wie möglich zu verdienen, so reich wie möglich zu werden. Ich bestreite das heute noch ebenso entschieden wie früher und behaupte heute dezidierter denn je, daß das Wirtschaftsleben in der Tat im vor¬ kapitalistischen Zeitalter unter dem Bedarfsdeckungsprinzip gestanden hat, daß Bauer und Handwerker ihre Nahrung und nichts weiter mit ihrer normalen wirtschaftlichen Tätigkeit gesucht haben. Die gegen

levare la famiglia sua in onorato stato e degno grado, sono inumani, tenacissimi, tardi, miserimi.“ L. B. Alberti, I libri della famiglia; editi da Gir. Mancini (1908), p. 265.

Viertes Kapitel: Die vorkapitalistische Wirtscliaftsgesinming 35

diese meine Auffassung erhobenen Einwände , soweit man sie über¬ haupt zu begründen versucht hat, sind vornehmlich zwei, die aber beide nicht stichhaltig sind :

1. Es hätten immer einzelne Handwerker über den Rahmen der „Nahrung“ hinausgestrebt, hätten ihre Geschäfte erweitert und hätten mit ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit Gewinn erjagt. Das ist richtig. Beweist aber- nur, daß es Ausnahmen von der Regel stets gibt, und diese Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. Der Leser erinnere sich dessen, was ich über den Begriff des „Vorherrschens“ eines bestimmten Geistes gesagt habe. Niemals hat nur ein Geist geherrscht.

2. Die Geschichte des europäischen Mittelalters lehre uns, daß zu allen Zeiten in weiten Kreisen auch des wirtschaftenden Volks eine starke Geldsucht geherrscht habe. Auch das gebe ich zu. Und ich werde im weiteren Verlauf dieser Darstellung von dieser wachsenden Geldsucht selbst zu reden haben. Aber ich behaupte, sie habe den Geist des vorkapitalistischen Wirtschaftslebens in seinen Grundlagen nicht zu erschüttern vermocht. Es ist vielmehr gerade wieder ein Beweis für den allem Gewinnstreben abgekehrten Geist der vor¬ kapitalistischen Wirtschaft, daß sich alle Erwerbslust, alle Geldgier -außerhalb des Nexus der Güter produktion, des Gütertransports und sogar zum großen Teil auch des Güter handeis zu befriedigen trachtet. Man läuft in die Bergwerke , man gräbt nach Schätzen , man treibt Alchimie und allerhand Zauberkünste , um Geld zu erlangen , man leiht Geld gegen Zinsen aus, weil man es im Rahmen der Alltagswirtschaft nicht er¬ werben kann. Aristoteles, der am tiefsten das Wesen der vor¬ kapitalistischen Wirtschaft erkannt hat, sieht deshalb durchaus sach¬ gemäß den Gelderwerb über den naturalen Bedarf hinaus als nicht zur wirtschaftlichen Tätigkeit gehörig an. Ebensowenig dient der Reichtum an barem Gelde wirtschaftlichen Zwecken: für den nötigen Unterhalt sorgt vielmehr der oixo?, sondern er ist nur zu außerwirt¬ schaftlicher, „unsittlicher“ Verwendung geeignet. Alle Wirtschaft hat Maß und Grenzen, der Gelderwerb nicht. (Pol. Lib. I.)

Fragen wir nun, in welch. em Geiste gemäß diesen Leitsätzen die Wirtschaftsführung der Bauern und Handwerker sich ge¬ staltet, so genügt es, daß wir uns vergegenwärtigen, wer die Wirtschaftssubjekte waren, die alle vorkommende Arbeit: die leitende , organisierende , disponierende und ausführende selbst Vornahmen oder durch wenige Hilfskräfte vornehmen ließen. Fs sind einfache Durchschnittsmenschen mit starkem Triebleben, stark entwickelten Gefühls- und Gemütseigenschaften und ebenso gering entfalteten intellektuellen Kräften. Unvollkommenheiten im Denken, mangelnde geistige Energie, mangelnde geistige Dis¬ ziplin begegnen uns bei den Menschen jener Zeit nicht nur auf dem Lande, sondern auch in den Städten, die lange Jahrhunderte hindurch noch große, organisch gewachsene Dörfer sind.

Erster Abschnitt

86

Es waren dieselben Menschen, deren gering entwickelten In¬ tellektualismus wir auch auf anderen Kulturgebieten beobachten. So bemerkt einmal Keutgen sehr feinsinnig von der Art der Rechtserzeugung im Mittelalter: „Es handelt sich nur um einen Mangel an geistiger Energie, der sich bei unseren älteren Rechts- aufzeichnungen häufig erkennen läßt, die von an intensive Geistes¬ arbeit nicht gewohnten Männern ausgegangen sind. ... Ich erinnere nur daran, wie überraschend lückenhaft in der Berück¬ sichtigung der verschiedenen Gebiete des Rechtslebens unsere älteren Stadtrechte sich erweisen“ h .

Ein Analogon dazu in der Sphäre der Wirtschaft bietet der gering entwickelte Sinn für das Rechnungsmäßige, für das exakte Abmessen von Größen, für die richtige Handhabung von Ziffern.

Diesem Mangel an kalkulatorischem Sinn entspricht auf der anderen Seite die rein qualitative Beziehung der Wirtschafts- subjekte zu der Güterwelt. Man stellt (um in heutiger Termino¬ logie zu sprechen) noch keine Tauschwerte her (die ’rein quanti¬ tativ bestimmt sind), sondern ausschließlich Gebrauchsgüter, also qualitativ unterschiedliche Dinge.

Die Arbeit des echten Bauern ebenso wie des echten Hand¬ werkers ist einsame Werkschöpfung: in stiller Versunkenheit gibt er sich seiner Beschäftigung hin. Er lebt in seinem Werk, wie der Künstler darin lebt, er gäbe es am liebsten gar nicht dem Markte preis. Unter bitteren Tränen der Bäuerin wird die geliebte Schecke aus dem Stalle geholt und zur Schlachtbank geführt; der alte Bourras kämpft um seinen Pfeifenkopf, den ihm der Händler abkaufen will. Kommt es aber zum Verkauf (und das muß ja wenigstens bei verkehrswirtschaftlicher Ver¬ knüpfung die Regel bilden), so soll das erzeugte Gut seines Schöpfers würdig sein. Der Bauer wie der Handwerker stehen hinter ihrem Erzeugnis; sie vertreten es mit Künstlerehre. Aus dieser Tatsache erklärt sich z. B. die tiefe Abneigung alles Handwerkertums gegen Falsifikate oder selbst Surrogate, ja auch nur gegen Schleuderarbeit.

Ebenso wenig wie die Geistesenergie ist nun aber beim vor¬ kapitalistischen Wirtschaftsmenschen die Willensenergie ent¬ wickelt. Das äußert sich in dem langsamen Tempo der wirt¬ schaftlichen Tätigkeit. Vor allem und zunächst sucht man sie sich so viel als irgend möglich vom Leibe zu halten. Wo mau

1 Friedrich Keutgen, Ämter und Zünfte (1903), 84,

Viertes Kapitel: Die vorkapitalistische Wirtschaftsgesinnuug S7

„feiern“ kann, tut man es. Man hat zur wirtschaftlichen Tätig¬ keit seelisch etwa dieselben Beziehungen wie das Kind zum Schulunterricht, dem es sich gewiß nicht unterzieht, wenn es nicht muß. Keine Spur von einer Liebe zur Wirtschaft oder zur wirtschaftlichen Arbeit. Diese Grundstimmung können wir ohne weiteres aus der bekannten Tatsache ableiten, daß in aller vorkapitalistischen Zeit die Zahl der Feiertage im Jahre enorm groß war. Eine hübsche Übersicht über die zahlreichen Feier¬ tage im bayrischen Bergbau noch während des 16. Jahrhunderts gibt H P e e t z x. Danach waren in verschiedenen Fällen :

von

203 Tagen .

. . 123 Feiertage

T)

161

. . 99

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287

. . 193

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366

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366

. . 263

ünd bei der Arbeit selbst eilt man sich nicht. Es ist gar kein Interesse vorhanden, daß etwas in sehr kurzer Zeit oder daß in einer bestimmten Zeit sehr viel erzeugt oder vollbracht werde. Die Dauer der Produktionsperiode wird durch zwei Momente bestimmt: durch die Anforderungen, die das Werk an gute up.d solide Ausführung stellt und durch die natürlichen Bedürfnisse des arbeitenden Menschen selbst. Die Produktion von Gütern ist eine Betätigung lebendiger Menschen, die sich in ihrem Werke „ausleben“ ; sie folgt daher ebenso den Gesetzen dieser blutdurchströmten Personenheiten , wie der Wachstums¬ prozeß eines Baumes oder der Zeugungsakt eines Tieres von den inneren Notwendigkeiten dieser Lebewesen Richtung, Ziel und Maß empfängt.

Ebenso wie bei dem Tempo der Arbeit ist auch bei der Zu¬ sammenstellung der einzelnen Arbeitsverrichtungen zu einem Berufe die menschliche Natur mit ihren Anforderungen allein maßgebend: mensura omnium rerum homo gi't auch hier.

Dieser höchstpersönlichen Art der Wirtschaftsführung ent¬ spricht nun ihr Empirismus, oder wie man es neuerdings genannt hat, ihr Traditionalismus. Empirisch, traditio- nalistisch wird ge wirtschaftet ; das heißt, so wie man es über¬ kommen hat, so wie man gelernt hat, so wie man es gewohnt ist. Man blickt bei dem Entscheide über eine Vornahme oder Maßregel nicht zuerst nach vorn, nach dem Zwecke, fragt nicht

1 B. Peetz, Volkswissensckaftliche Studien (1885), 186 ff,

38

Erster Abschnitt

ausschließlich nach ihrer Zweckmäßigkeit, sondern schaut nach hinten, nach den Vorbildern und Mustern und Erfahrungen.

Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß dieses traditionalistische Verhalten durchaus das Verhalten aller natürlichen Menschen ist, daß es auf allen Kulturgebieten in der früheren Zeit des menschlichen Daseins durchaus vorgeherrscht hat aus Gründen, die in der Natur des Menschen selbst zu suchen sind, und die alle letztlich in der starken Tendenz der menschlichen Seele zur Beharrung wurzeln.

Von unserer Geburt an, vielleicht schon vorher, werden wir von unserer Umgebung, die uns als geeignete Autorität gegen¬ übersteht, in eine bestimmte Richtung des Könnens und Wollens hineingedrängt: alle Mitteilungen, Lehren, Handlungen, Gefühle, Anschauungen der Eltern und Lehrer werden von uns zunächst ohne weiteres angenommen. „Je unentwickelter ein Mensch ist, desto stärker ist er dieser Gewalt des Vorbilds, der Tradition, der Autorität und der Suggestion unterworfen“ b

Zu dieser Macht der Überlieferung gesellt sich nun im weiteren Verlauf des menschlichen Lebens eine zweite ebenso starke: die Macht der Gewohnheit, die den Menschen immer lieber das tun läßt, was er schon getan hat, und was er infolge¬ dessen „kann“, die ihn also ebenfalls in den Bahnen festhält, die er bereits eingeschlagen hat.

Sehr fein nennt Tönnies1 2 die Gewohnheit: Wille oder Lust durch Erfahrung entstanden. Ursprünglich indifferente oder unangenehme Ideen werden durch ihre Assoziation und Ver¬ mischung mit ursprünglich angenehmen selber angenehme, bis sie endlich in die Zirkulation des Lebens und gleichsam in das Blut übergehen. Erfahrung ist Übung und Übung hier die bildende Tätigkeit. Übung, zuerst schwer, wird leicht durch vielfache Wiederholung, macht unsichere und unbestimmte Be¬ wegungen sicher und bestimmt, bildet besondere Organe und Kräftevorräte aus. Damit aber wird der tätige Mensch immer wieder dazu veranlaßt, das ihm leicht gewordene zu wieder-

1 A. Vierkandt, Die Stetigkeit im Kultur wandel (1908), 103 ff., wo viele feinsinnige Bemerkungen zu dem Thema des „Traditionalismus“ gemacht werden. Begreiflicherweise besteht eine ziemlich weitgehende Parallelität zwischen der. Psyche des vorkapitalistischen europäischen Menschen und der der „Naturvölker“ ; siehe ebenda S. 120 ff.

2 P. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 2- Aufl, 1912, S. 112 f

Viertes Kapitel: Die vorkapitalistische Wirtschaftsgesinnung 39

holen, das heißt bei dem einmal Erlernten zu bleiben, gleich¬ gültig, ja feindselig gegenüber Neuerungen, kurz traditionalistisch zu werden.

Es kommt dazu ein Moment, auf das Vier kandt mit Recht hinweist, daß der einzelne als Glied einer Gruppe im Bestreben, sich als würdiges Glied zu erweisen, die diese Gruppe aus¬ zeichnenden Kulturgüter besonders pflegt. Was wiederum die Wirkung hat, daß der einzelne grundsätzlich nicht das Neue erstrebt, sondern eher das Alte zur Vollendung zu bringen trachtet.

So wird der ursprüngliche Mensch durch mannigfaltige Kräfte gleichsam in die Bahnen der bestehenden Kultur hineingeschoben, und dadurch wird seine gesamte seelische Kultur in einer be¬ stimmten Richtung beeinflußt: „Die Fähigkeit der Spontaneität, der Initiative, der Selbständigkeit, die ohnehin gering ist, wird noch mehr abgeschwächt entsprechend dem allgemeinen Satze, daß Anlagen sich nur nach Maßgabe ihrer fortgesetzten Au¬ wendung entwickeln können und mangels einer solchen ver¬ kümmern“ h

Alle diese Einzelzüge des vorkapitalistischen Wirtschafts¬ lebens wie des vorkapitalistischen Kulturlebens überhaupt finden ihre innere Einheit in der Grundidee eines auf Beharrung und Auswirkung des Lebendigen im räumlichen Nebeneinander be¬ ruhenden Lebens. Das höchste Ideal jener Zeit, wie es in seiner letzten Vollkommenheit das wundervolle System des heiligen Thomas durchleuchtet, ist die in sich ruhende und aus ihrem Wesenskern zur Vollendung aufsteigende Einzelseele als ein orga¬ nischer Bestandteil der lebendigen Menschheit gedacht. Diesem Ideal sind alle Lebensforderungen und alle Lebensformen an¬ gepaßt. Ihm entspricht die feste Gliederung der Menschen in bestimmte Berufe und Stände, die alle als gleichwertig in ihren gemeinsamen Beziehungen auf das Ganze angesehen werden und die dem einzelnen die festen Formen darbieten, innerhalb deren er sein individuelles Dasein zur Vollkommenheit entfalten kann. Ihm entsprechen die Leitideen, unter denen das Wirtschaftsleben steht: das Prinzip der Bedarfsdeckung und des Traditionalismus, die beide Prinzipien der Beharrung sind. Der Grundzug des vorkapitalistischen Daseins ist der der sicheren Ruhe , wie er allem organischen Leben eigentümlich ist.

1 A, Vierkandt a. a. 0. S. 105,

Zweiter Abschnitt

Das eigenwirtschaftliche Zeitalter

Fünftes Kapitel

Der Zustand der materiellen Kultur Europas während des Frühmittelalters

Wenn Kaiser Carolus die Eindrücke hätte sammeln wollen, die er mit seinen Goetheaugen auf seinen Reisen und seinen Kriegsfahrten im Sorbenlande, auf dem Wege nach Kom oder nach Roncevall empfangen hatte, wenn er sich ein Bild hätte machen wollen von der Lebensweise der Völker, die er kennen gelernt hatte, insonderheit von ihrem materiellen Dasein und dessen Grundlagen : ich glaube, es wäre recht gleichförmig aus¬ gefallen. Zwar wohnten die Menschen an der Elbe in Rund¬ dörfern und pflügten ihre viereckigen Äcker mit dem Haken¬ pflug, während an der Mündung des Rheins die Stämme in Haufendörfern siedelten und ihre bunt durcheinander gewürfelten langen Ackerstreifen mit dem Räderpflug umwarfen ; zwar lebten sie an der Weser, im Westen Frankreichs, in den Alpentälern und anderwärts auf einsamen Höfen, während sie jenseits der Alpen in stadtartigen, Mauer an Mauer gebauten Dörfern in Haufen beieinander hausten. Aber das war doch nur die Ober¬ fläche j war nur gleichsam die äußere Form ihrer Daseinsweise. Die innere Wesenheit ihrer Kultur wies doch mehr übereinstimmende als unterschiedliche Merkmale auf. Wenigstens lassen sich ganz bestimmte gleiche Grundzüge in den sachlichen Daseinsbedin¬ gungen jenes Zeitalters nachweisen, die ihm ein starkes Gepräge verleihen und es deutlich gegen frühere und spätere Epochen abheben: vorausgesetzt, daß wir den zeitlichen Rahmen nicht allzu eng spannen und ein paar Jahrhunderte etwa das achte, neunte und zehnte unserer Zeitrechnung unserer Betrachtung zugrunde legen.

Da war denn nun doch wohl der allgemeine Charakter der

Fünftes Kapitel: Europäische Kultur während des Frühmittelalters 41

materiellen Kultur in allen Teilen Europas während jener Zeit annähernd der gleiche. Das heißt vor allem: die Kultur war primitiv und trug rein ländliches Gepräge. Keine Stadt, kein städtisches Leben in dem weiten Reiche des Frankenkaisers. Was außer Zweifel steht für jene Gebiete, in die die römische Kultur nicht vorgedrungen war ; was aber auch gilt für die ehe¬ mals dem römischen Weltreich zugehörigen Lande. Schon im 4. Jahrhundert waren die Römerstädte in den blühenden Rhein¬ landen fast verschwunden. Im Jahre 311 schildert Eumenius die burgundischen und lothringischen Landschaften als un- angebaut, schmutzig, stumm und finster und sogar die Militär¬ straßen als verfallen1. Und dem vielleicht übertreibenden Pan¬ egyriker tritt ein anderer zeitgenössischer Schriftsteller bei, der uns von der Gegend des Rheintals berichtet, daß sie ohne alle Städte sei2 3. 406 wurden Worms und Mainz zerstört8, während die römischen Städte am rechten Rheinufer und an der Rhein¬ mündung schon im 4. Jahrhundert untergegangen waren4 *.

Architektonisch brauchen wir uns diese Städte nicht völlig vernichtet zu denken, obwohl auch die Gebäude oft genug mit zerstört sein mögen : wurden doch die Tempel und Amphitheater beliebte Steinbrüche, aus denen sich die Abte das Baumaterial für ihre Kirchen und Klöster holten6 *. Aber für manche Stadt läßt sich derselbe Mauerzug wie zur Römerzeit nachweisen 6. Und manches Bauwerk hat sich hier bis auf unsere Zeit erhalten. Das Wichtige ist: daß kulturell, das heißt vor allem ökonomisch die Städte so gut wie verschwunden waren. Denn hinter ihren Mauern, wo diese stehen geblieben waren, saßen in der Karolingerzeit dieselben Menschen wie draußen: Ackerbauer. „Es fehlt jeder Grund, in den Bischofssitzen und den befestigten Orten andere

1 Eumenius pan. in Constant. Recueil des Hist, des Gaules etc. 1, 713.

2 »Per üuos tractus von Mainz bis Cöln nec civitas ulla visitur nec castellum nisi quod apud Confluentes . . . Rimomagum oppidum est et una prope ipsam Coloniam turris“. Amm. Marc. 16, 3.

3 Hieron. ep. 123 ad Ageruchiam ed. Vallarsi 1766 zit. bei S. Rietschel, Die Civitas auf deutschem Boden bis zum Ausgang der Karolingerzeit (1894), 32.

4 Rietschel, a. a. 0. 33.

6 Siehe die Stellen bei K. Lamprecht, Deutsches Wirtschafts¬

leben im Mittelalter, 3 Teile in 4 Bänden 1884 (zit. D.W.L.), 1, 78.

e Z. B. für Cöln L. Ennen, Gesch, der Stadt C., 5 Bände 1863

bis 1880, 1, 81; so für Wien,

42 Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter

Bevölkerungsverhältnisse wie auf dem Lande anzunehmen . . . es war dieselbe Markgemeinde wie auf dem Lande . . .“ 1. Daher auch die Ausdrücke Megunzan Marca, Marca Wormacia, Marca Bingiorum! Der Araber, der im 10. oder 11. Jahrhundert Deutschland bereiste, fand Mainz noch als eine Stadt, von der ein Teil bewohnt, das übrige Areal besät war 2.

Noch im Jahre 845 war die Altstadt Straßburgs das alte Argentoratus - teilweise unbewohnt: wir erfahren, daß das Kloster St. Stephan daselbst „mitten unter Schutt und Trümmern“ gegründet wird.

Auch die Römerkastelle längs der Donau von Batava castra bis Sirmium, einschließlich Vindobona, waren in Schutt ver¬ sunken 3.

Nicht viel anders aber werden die Verhältnisse in den andern römischen Kolonien4, viel anders auch in Italien selbst nicht gelegen haben. Hier hatte der Jahrhunderte lang währende Rückbildungsprozeß die Städte allmählich ihres Charakters ent¬ kleidet. Die Munizipien hatten längst aufgehört, unentbehrliche Mittelpunkte des gewerblichen Lebens oder der Kapitalbildung oder auch unentbehrliche Marktorte zu sein. Sie saßen schon seit der späteren Kaiserzeit „im Grunde nur als Schröpfköpfe im Interesse der staatlichen Steuerverwaltung“ 5 über dem Reiche. Mit dem Untergange des Römischen Reichs war auch diese Funktion weggefallen, und sie fingen nun wohl auch an, als architektonische Erscheinung mehr und mehr zu verschwinden. Die langen Gothenkriege, vor allem aber der Einbruch der Longo- barden, gaben ihnen den Rest. Von den Longobardenfürsten hören wir, daß sie die Städte, die sie eroberten Padova, Cremona, Mantova, die Städte von Luni in Tuscien bis zur Grenze der Franken und viele andere von Grund aus zer¬ störten. König Rothari ebenso wie König Agilulf: „ad solum usque destruxit“ ; „expugnavit et diruit“ ; „murus civitatebus

1 Rietscliel, Civitas, 85. Dort auch Belege für das Vorhandensein landwirtschaftlich genutzten Bodens in den „Städten“ jener Zeit. Vgl. auch Kap. 10.

2 G. Jacob, Ein arabischer Berichterstatter aus dem 10. oder 11. Jahrhundert usw. (1890), 13.

3 Hans v. Voltelini, Die Anfänge der Stadt Wien (1913), 8^9.

4 Über das Schicksal der französischen Städte äußert sich Flach, Origines de l’ancienne France 2 (1893), 237 ff. und passim.

5 Max Weber, Röm. Agrar ge schichte (1891), S, 267, wo diese Vorgänge am besten dargestellt sind,

Füuftes Kapitel: Europäische Kultur während des Frühmittelalters 43

subscriptis usque ad fundamento distruens vious laas civitates nomenare praecepit“1: „er ließ sie Dörfer nennen“, was sie im ökonomischen Sinne schon längst geworden waren: Wohnsitze einer ackerbautreibenden Bevölkerung. Das galt aber nicht nur vom germanischen Eroberungsgebiet, wo der agrarische Charakter der neuen Kultur freilich am deutlichsten zutage trat (ich spreche noch davon): auch in den Kastellen des Exarchats hauste der Grundbesitzer, der hier seit dem siebenten Jahrhundert die aus¬ schlaggebende Gewalt geworden war und selbst in den Castren, die auf den Lidi der venetianischen Küste errichtet waren, mag es nicht anders ausgeschaut haben2.

Das platte Land selbst: ganz dünn besiedelt; zwischen den wenigen Dörfern, Weilern und Höfen weite Strecken öden Landes: Sumpf und Wald, darin die Wölfe in Rudeln zu Hunderten hausen3. Italien ein Bild der Verwüstung: die Ent- und Be¬ wässerungsanlagen in Verfall; daher Dürre und Sümpfe, wo ehedem blühende Felder gewesen waren (ein Land so künst¬ licher Bodenkultur wie Italien leidet doppelt unter Vernach¬ lässigung oder gar Zerstörung) : „Nunc . . desolata ab hominibus praedia atque ab omni cultore destituta, in solitudine vacat terra : nullus hanc possessor inhabitat“; „in hac terra, in qua nos vivimus finem suum mundus non nunciat , sed ostendit“ (!) 4. Ebenso spricht Paulus Diaconus (V. 29) von den „spatiosa ad habitandum loca, quae usque ad illud tempus deserta erant . . .“ Auf den verödeten Feldern dehnten sich dann die Sümpfe und in ihrem Gefolge stellte sich die Malaria ein5 oder die Bäume und Sträucher schlugen wieder Wurzel und bildeten jene mächtigen Wälder, von denen uns um jene Zeit die Quellen berichten: in der

1 Fredegarius Chron. c. 71; vgl. Paul. Diac. IV, c. 23. 24. 28. 46.

2 Ludo M. Hart mann, Gesell. Ital. im Mittelalter, 1898 ff., II, 2, 100. 105 ff.

3 Für Aquitanien siehe die Berichte der Annalen von St. Bertiir zum Jahre 846. „Luporum incursio inferiorum Galliae partium homines audentissime devorat, sed et in partibus Aquitaniae in modum exercitus usque ad trecentos ferme conglobati et per viam facto agmine gradientes, volentibusque resistere fortiter unanimiterque contrastare feruntur.“ Prudentii Trecensis Ann. s. a. 846. MG.SS. 1, 442.

4 Gregorii M., Dial. III c. 38.

5 L. N. Muratori, Ant. It. M. Ab, t. II. Diss., XXI, p. 154. 164. 171. 180; G. Verci, Storia della Marca trivigiana 1 (1786) Poe, No. IV,

44 Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter

Landschaft von Benevent, Regio Emilia, Modena, Pavia, Bologna, Parma, Ferrara, Verona (hier lag die „immanis silva Nogariensis“) nnd anderen1, wo heute meist jede Spur einer Bewaldung ver¬ schwunden ist.

Viel brachliegendes Land in Spanien, als die spanische Mark der fränkischen Krone einverleibt wurde2 3. Riesige Waldungen in Frankreich8, in Deutschland4 selbstverständlich.

Also: was kaum hervorgehoben zu werden braucht: eine äußerst dünne Besiedlung.

Leider haben wir keine Möglichkeit, die Bevölkerungsdichtig¬ keit jener Zeit auch nur annähernd genau festzustellen. Aber die schon angeführten Symptome, zusammen mit einer Reihe von statistisch-topographischen Studien6 *, lassen keinen Zweifel da¬ rüber, daß die Bevölkerungsziffer sehr niedrig war.

1 Muratori, 1. c. p. 150. 164. 171. 180. Beweisstellen für die „überaus reiche Bewaldung des Gebietes von Florenz-Fiesole“ zusammengestellt von Hob. Davidsohn, Forschungen zur älteren Geschichte von Florenz, 1 (1896), S. 86 f. : bis ins 11. Jahrhundert hinein.

2 Siehe die Belege bei M. Kowalewsky, Die ökonomische Ent¬ wicklung Europas, deutsch 1901 ff., 3, 431.

3 Die Wälder machen in allen Schenkungen jener Zeit den bei weitem größten Teil des Areals aus.

4 Siehe die Beispiele bei K. Th. Inama-Sternegg, Deutsche Wirtschaftsgeschichte 1879 ff. (zit. D.W.G.), 1, 215; Lamprecht, DWL. 1, 94. "Über die ‘solitudines5 in Bayern siehe Th. Bitterauf, Die Traditionen des Hochstifts Freising, 1. Bd. (744 926) (Quellen und Erörterungen zur bayer. und deutschen Geschichte, N. F. IV. Bd. [1905] S. LXXXI).

5 Hierher gehören die Untersuchungen von Lamprecht im

1. Bande seines' DWL., ferner die sehr gewissenhaften Arbeiten von

F. Will. Maitland, Domesday Book and Beyond (1897) p. 20 f.

Sechstes Kapitel

Die Dorfwirtscliaft

Literatur

Die im Folgenden entworfene Skizze der Dorfwirtschaft des europä¬ ischen Mittelalters ist im wesentlichen dem Bilde nachgezeichnet, das die jetzt sogenannte „ältere“ Forschung herausgearbeitet hat. Die Männer, denen wir dieses Werk verdanken, sind vor allem v. Maurer, Landau, Guerard, Meitzen, v.Inama, Lamprecht, Gierke, S e e b o h m. Da ich meine Darstellung im wesentlichen an die Schriften dieser Forscher angelehnt habe , habe ich auf die Mitteilung von Quellenbelegen verzichtet. Diese Ansichten sind in den letzten Jahr¬ zehnten mehrfach kritisiert worden, namentlich um nur die wich¬ tigsten Vertreter der „neueren“ Forschung zu nennen von Caro, Wittich, R. Hildebrand, S. Rietschel, Joh. Reichel, T hevenin, Fustel de Coulanges, Tamassia, zuletzt von D o p s c h. Was diese Kritiker vorgebracht haben , läßt sich beim besten Willen zu einem einheitlichen Gesamtbilde noch nicht zusammen¬ fügen. Ich verzichte daher darauf, auf diesen Streit im einzelnen ein¬ zugehen, der übrigens, so viel ich zu sehen vermag, selbst wenn die „neuere“ Forschung in allen Fragen Recht behalten sollte, die uns hier in erster Linie interessierenden Grundzüge des Bildes der alten Dorfwirtschaft unberührt läßt. Denn ob die Hufe dereinst gleich groß war oder nicht, ob sie und die Mark ein autonomes oder grundherr¬ liches Gebilde gewesen sind , ändert nichts an dem , was mir das wesentliche der Wirtschaftsorganisation des mittelalterlichen Dorfes zu sein scheint: Wirtschaftliche Autonomie, Bedarfsdeckung im wesent¬ lichen auf dem Wege der Eigenwirtschaft, Privatwirtschaft in Größen¬ abstufung mit teilweiser Eingliederung in eine gemeinwirtschaftliche Organisation.

Wie nun gestaltete sich in dieser Umwelt das AVirt- scha ft sieben? in welchen Formen sorgten die Menschen jener Jahrhunderte für die Beschaffung ihres Unterhalts?

In der Wirtschaftsverfassung jener Zeit lassen sich zwei ver¬ schiedene Organisationen deutlich unterscheiden, die wir auch nacheinander betrachten wollen : Die bäuerliche Wirtschaft in den Dorfgemeinden und die Fronhofwirtschaft auf den Grundherr- schäften.

Die Völker Europas (im Westen der russischen Grenze) waren in der Epoche, die wir hier im Auge haben, seit geraumer

40 Zweiter Abschnitt: Das eigen wirtschaftliche 5£eitaitei‘

Zeit seßhaft geworden. Von den alten Kulturvölkern ganz ab¬ gesehen: auch die Germanen wohnten seit den ersten Jahr¬ hunderten unserer Zeitrechnung in festen Ansiedlungen und trieben Ackerbau, die Slawen hatten ebenfalls seit ihren Wanderungen in die frei gewordenen deutschen Gaue den Übergang zur Se߬ haftigkeit vollzogen und zuletzt (um 600) waren die Kelten in Irland aus Nomaden Ackerbauer geworden. Auch die großen Völkerzüge hatten seit einigen Jahrhunderten aufgehört. Das Agrarwesen Europas hatte angefangen, sich zu stabilisieren; in den festen Formen sich zu entwickeln, die es bei der endgültigen Siedlung der Bebauer des Landes erhalten hatte.

Diese Siedlungsformen waren wie ich schon angedeutet habe recht mannigfaltig gewesen und gaben rein äußerlich betrachtet dem europäischen Agrarwesen zunächst ein sehr buntes Gepräge, zumal ja verschiedene Nationalitäten, verschiedene Völker auf demselben Gebiete nacheinander gesiedelt hatten,' oft genug jede mit nachhaltigen Wirkungen auf die Gestaltung der Siedlungsform.

Von einem einzigen Volksstamm besiedelt gewesen sind, wie man weiß 1, nur ganz kleine Strecken Europas : Niederdeutsch¬ land zwischen Elbe, Weser, Mittelgebirge und Nordsee: das einzig rein-deutsche Land und Irland: das einzig rein-keltische Land. Über alle andern Länder sind verschiedene Völker hin¬ weggegangen und haben ihre Kultur abgelagert wie geologische Schichten.

Bei der Besiedlung Europas hat es sich im wesentlichen um die verschiedenen nationalen Siedlungsweisen der Börner, Kelten, Germanen und Slawen gehandelt; unter sie ist das europäische Land aufgeteilt und zwar bis zu der Epoche, in der wir Um¬ schau halten , so , daß Deutschland bis zur Elbe slawisch , im übrigen teils deutsch, teils keltisch besiedelt ist, daß ebenso Frankreich und Großbritannien eine Mischung keltischer und germanischer Siedlungsformen aufweisen , während südlich der Alpen soweit nicht Beste ursprünglicher Ansiedlung noch er-

1 Die unerschöpflich reiche Quelle für alle Probleme der Siedelung ist das Werk von August Meitzen, Siedelung und Agrarwesen der Westgermanen und Ostgermanen, der Kelten, Römer, Finnen und Slaven. 3 Bde. und Atlasband. 1895. Soweit die Untersuchungen M.s reichen, gehen wir auf sicherem Grunde ; wo sie aufhören, hört meist auch unsere Wissenschaft von diesen Dingen auf. Das gilt leider! für das Gebiet südlich der Alpen.

Sechstes Kapitel: I)le Lorfwirtschaft 4?

halten sind die römische Centuriataufteilung des Landes neben der deutschen Dorfsiedlung sich vorfindet1.

Es gehört nun nicht zu der Aufgabe, die ich mir hier ge¬ stellt habe, auch nur in den Grundzügen, die vier nationalen Siedlungsweisen zu beschreiben. Ich begnüge mich vielmehr mit der kurzen Bezeichnung der den verschiedenen Siedlungs¬ formen charakteristischen Merkmale und verweise für alles übrige den Leser auf das Meitzensche Werk.

Slawische Siedlung: geht von der Hauskommunion aus. Die Bauern wohnen in Bunddörfern, an deren Peripherie die einzelnen Gehöfte liegen. Yon diesen gehen strahlenförmig die -zum einzelnen Bauernhof gehörigen Ländereien aus; jeder Hof hat seinen Besitz in einem Stück.

Keltische Siedlung: geht von der Clanverfassung aus. Siedlung in Einzelhöfen, um die herum das gesamte Areal, das dem Bauern gehört, in einer abgerundeten Masse gelegen ist.

Germanische Siedlung: ruht auf genossenschaftlicher Basis. Die Bauerngemeinde wohnt in unregelmäßigen Haufen¬ dörfern. Das Ackerland jeder Bauernfamilie liegt zerstreut an verschiedenen Stellen der Flur in den sogenannten Gewannen. Daher Gewannendorf.

Bomanische Siedlung: in städteartigen Dörfern, in denen die steinernen Häuser Mauer an Mauer stehen. Speziell die Zenturiatansiedlung der Kolonien: in regelmäßigen Beclitecken von je 200 jugera.

Worauf es mir vielmehr hier ankommt, ist: den Nachweis zu führen, daß die bäuerliche Wirtschaft in jener Zeit trotz der äußerlich so außerordentlich mannigfaltigen Siedlungsart doch in ihrem Wesen in Nord und Süd, Ost und West sehr ähnlich war, daß sie jedenfalls eine sehr große Menge über¬ einstimmender Züge aufwies , die teilweise in der „Natur der Sache“ 2 begründet waren.

Wollen wir irgendein soziales Gebilde, wie es ein bestimmtes Wirtschaftssystem ist, in seiner organischen Einheit und Eigenart begreifen, so müssen wir, wie wir wissen, nach der leitenden Idee suchen, die zu seiner Entstehung geführt hat und die es

1 Ygl. die Übersichtskarte im Atlasband des M e i t z e n sehen Werkes, wo die geographische Verbreitung der verschiedenen Siedlungsformen wenigstens für Europa nördlich der Alpen graphisch dargestellt ist.

2 G. Haussen, Agrarhistorische Abhandlungen 2 Bde. 1880.84; 1, 497.

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Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitaltei1

in seinem Weiterbestände erhält: der leitenden, tragenden Idee, die wiederum nichts anderes ist als die zu einer gedanklichen Einheit zusammengefaßten und im Bewußtsein reflektierten treibenden Interessen der den Ausschlag gebenden Personenkreise.

Was die eigentümliche Siedlung aller europäischen Volks¬ stämme bestimmte, konnte nur das Bestreben der Genossen eines Nomadenstammes sein, sich angesichts des knapper werdenden Landes und der zunehmenden Übergriffe der reichen Herden¬ besitzer eine gesicherte Existenz zu verschaffen, war die Idee der „Nahrung“, wie man dieses Streben später genannt hat.

Vergegenwärtigt man sich die objektiven Bedingungen eines AVirtschaftsbetriebes in jener frühen Zeit, in der die Seßhaft- werdung erfolgte :

1. das Land: zwar zu knapp für Nomaden Wirtschaft, aber reichlich genug für extensiven Ackerbau;

2. die Technik: ganz primitiv sowohl als Ackerbau wie Viehzucht, wie als gewerbliche, wie als Transporttechnik;

3. die Bevölkerung : verschwindend gering, in ihren einzelnen Gruppen noch wesentlich durch Blutsverwandtschaft verbunden so mußte jenes Streben, die „Idee der Nahrung“ zu verwirk¬ lichen, mit Notwendigkeit zu einer Wirtschaftsverfassung führen, wie wir sie tatsächlich bei den europäischen Völkerschaften in ihrer Kindheit vorfinden.

Das Siedlungswerk wird vollbracht auf einem Gebiet, das ge¬ meinsamer Besitz einer Gruppe blutsverwandter, nomadisierender Familien gewesen und von den Ansiedlern bis dahin gemein¬ schaftlich genutzt worden war. Der Schwerpunkt der AVirt- schaft wird aus der Viehzucht in den Ackerbau verlegt. Zu diesem Behufe erhält jede Familie ein Stück Land zu ausschlie߬ licher Benutzung dauernd oder vorübergehend zugewiesen : groß genug, um den traditionellen Unterhalt seinen Bebauern zu gewähren und deren Arbeitskräfte, die durch ein Pfluggespann unterstützt werden, zu beschäftigen. Die Ackerlose sollen nach Möglichkeit gleich groß und gleich gut sein. Das Besitztum heißt selbst vielerorts „Pflug“, aratrum, plough-land oder auch possessio familiae, terra familia oder schlechthin familia.

Diese Grundidee: jede Bauernfamilie erhält ein ihrem Bedarf und ihrer Arbeitskraft angepaßtes Grundstück, kehrt bei allen Völkern gleichmäßig wieder. Sie ist in der deutschen Hufen- verfasssung am peinlichsten durchgeführt ; aber tatsächlich „bilden auch die (keltischen) Einzelhöfe Bauerngüter von ungleicher

Sechstes Kapitel: Die Dorfwirtschaft.

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Größe, jedoch, von gl eichgedachter , für die Ernährung einer Bauernfamilie ausreichender Leistungsfähigkeit“, weshalb wir denn beispielsweise in den französischen Urkunden auch den Aus¬ druck „mansus“ für die Tates angewandt finden. Und dasselbe gilt von den Dzedzinengütem der Slawen.

Von dem Gesamtareal der Flur bleibt bei allen Siedlungs¬ formen oft ein erheblicher Teil von der Vergabung an die Einzel¬ familien ausgeschlossen in gemeinsamem Besitze der gesamten Gemeinde zurück: die Almende. Dieser Teil der Dorfflur dient dann zur Unterlage einer gemeinsamen Wirtschaftsführung meist der Viehzucht als Weideland. Das hat seinen Grund vor allem wohl in den Verhältnissen, die in jener frühen Zeit eine andere als eine kollektiv betriebene Viehzucht nicht gestatten. Der primi¬ tiven Viehzucht entspricht wiederum ein primitiver Ackerbau. Wir dürfen annehmen, daß die ersten Feldsysteme, die nach der Seßhaftwerdung zur Anwendung gelangten, eine ziemlich rohe Feldgraswirtschaft oder aber eine ganz primitive Einfelder- wirtsckaffc waren.

Die innere Zusammengehörigkeit der Mitglieder einer Bauern¬ gemeinde , die blutlich in der ursprünglichen Verwandtschaft ihre Wurzel hat und in den aus dieser entspringenden sym¬ pathetischen Gefühlen, wie sie zur Bildung einer „Gemeinschaft“ im Tönnies sehen Sinne1 führen, findet dann ökonomisch ihren xAusdruck in dem Aufsichselbstgestelltsein der ganzen Gemeinde und dem Aufeinanderangewiesensein der einzelnen Bauern¬ familien. Denn nach außen findet so gut wie kein Verkehr statt. Die ursprünglichen Dorfanlagen kennen keine Wege zwischen den einzelnen Dörfern. Das gesamte Dasein ist ein¬ geschlossen in den engen Kreis der Dorfflur. Da jede einzelne Familie auf ihrer Scholle selbständig sein will, so folgt aus dieser Sachlage von selbst als das die Produktion regelnde Prinzip: die Deckung des eigenen naturalen Bedarfs.

Das Bedarfsdeckungsprinzip regelt die Anteilnahme des einzelnen an den Gemeindenutzungen: jeder soll so viel davon nehmen als er braucht (so wenigstens ursprünglich), nur verkaufen darf er nichts.

Dasselbe Prinzip bestimmt den Kreis der zu gewinnenden

1 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft usw. 1887. 2. Aufl. 1912.

Sombart, Der moderne Kapitalismus, I,

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Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche 2eitaltei!

Produkte : das sind die volkstümlichen Nalirungsfr lichte , Ge- spinnststoffe usw.

Dasselbe Prinzip gibt die Veranlassung zu den in aller früheren Zeit selbstverständlichen gegenseitigen Hilfeleistungen der Bauern untereinander.

Dasselbe Prinzip nötigt jeder Familie außer der landwirt¬ schaftlichen auch die gewerbliche Produktion auf. Daß diese zum größten Teil in jeder Bauernwirtschaft mitbesorgt wurde, versteht sich von selbst. Hat sich ja die hausgewerb¬ liche Tätigkeit der Bauernwirtschaften bis in unsere Zeit er¬ halten, wie an geeigneter Stelle noch zu zeigen sein wird. Der Hausbau, die Herstellung der Kleidung, der AVerkzeuge und des Schmuckes, das Backen des Brotes waren sicher von jeher Zweige der bäuerlichen Eigenwirtschaft. Auch was der Bauer an Eisengeräten nötig hatte, Nägel, Hufeisen usw., erzeugte er sich selbst, vom Eisenerz an, das er in der Gemarkung fand und in den einfachen Schmelzöfen, den Ilennfeuern , zu Eisen ausschmolz1). Wo größere Anlagen erheischt wurden, sorgte die Gemeinde als solche für ihre Errichtung. Das galt von der (Wasser-)Mühle 2 3 * * * * ; aber auch von der Schmiede8. Endlich wird es frühzeitig in den Dörfern einzelne Spezialarbeiter ge¬ geben haben, die für die andern die notwendigen gewerblichen Arbeiten ausführten: in erster Linie einen Schmied und einen

1 Viel neues Material bei Alfons Müller, Geschichte des Eisens in Inner- Österreich 1 (1909), 111 ff.

2 Siehe Lex Sal. 22. Lamprecht, DWL. 1, 17. Im Domesday- Book: „sometimes the ownership of a mill is divided into so many shares that we are tempted to think that this mill has been erected at the cost of the vill“. F. W. Maitland, D. Book and beyond (1897), p. 144.

3 In einer bekannten Stelle der Lex Baiuv. (IX, 2) werden Kirche, 'Herzogspalast, Mühle und Schmiede als öffentliche Ge¬ bäude genannt, die einen höheren Flieden genossen. „Wie schutzlos auf dem Felde gelassenes Ackergerät wurden solche Gebäude, welche nicht dauernd bewohnt, vielmehr nur behufs der Arbeit aufgesucht wurden und oft einsam am Flusse lagen, durch erhöhten Frieden ge¬

schirmt-, sie standen stets offen, ebenso (nämlich wie die Mühlen) die Schmieden: Diese öffentlichen Arbeitsstätten waren Eigentum der Gemeinde; alle Gemeindegenossen durften

sie abwechselnd benutzen.“ F. Dahn, Könige der Germanen,

IX, 2 (1905), 443. Dem Streit: ob die Mühlen im „Privateigentum“

oder im Eigentum der Gemeinde (Markgenossenschaft) gestanden haben,

ist das Buch gewidmet von Carl Koehne, Das Recht der Mühlen

Sechstes Kapitel: Die Dorfwirtschaf’t

51

Stellmacher, diese beiden Urtypen des ländlichen Handwerks* 1. Nur daß sie ursprünglich nicht selbständige Handwerker waren, sondern eine Art von G-emeindebeamten, die von der Gemeinde unterhalten wurden gegen die Verpflichtung, alle vorkommende Schmiede- oder Stellmacherarbeit kostenlos auszuführen. Auch diese Gebilde ragen mit ihren Trümmern in die Gegenwart hinein und haben sich in etwas veränderter Gestalt als sogenannte Gutshandwerker bis heute auf großen Gütern ganz allgemein, hie und da aber auch als Dorfhandwerker, gehalten.

Daß dieses gebundene Leben sich in den Formen eines ge¬ bundenen Hechts abspielte, ist selbstverständlich. Nur langsam öffnet sich die Gemeinde der blutsverwandten Dorfgenossen fremden Zuzüglingen ; nur langsam gewinnt die einzelne Bauem- familie die freie Verfügungsgewalt über ihr Ackerloos. Und wo, wie in den deutschen Gewanndörfern, der Acker des einzelnen Bauern „im Gemenge“ mit den anderen liegt, übt die Gemeinde strenge Ordnung in der gesamten Wirtschaftsführung aus, deren Gestaltung der Verfügungsgewalt des einzelnen Bauern ganz und gar entzogen ist. (Flurzwang!)

Diese ursprüngliche Form der bäuerlichen Wirtschaft, wie ich sie eben mit wenigen Strichen gezeichnet habe, hatte sich nun zweifellos in ihren Grundzügen durch alle die Jahrhunderte bis in die Karolingerzeit erhalten. Was sich geändert hatte, war wohl wesentlich folgendes: Die affinitas hatte mehr und mehr der propinquitas weichen müssen : die ehemals bluts¬ verwandten Dörfler waren mit fremdblütigen Elementen durch¬ setzt. Vor allem hatte eine schon ziemlich starke Differen¬ zierung in den Besitzverhältnissen Platz gegriffen. Die alten Hüfner waren zum Teil verschwunden; ihre Plätze wurden von größeren Bauern oder Teilhüfnern eingenommen. Und neben dem Hüfner erscheint schon der Kötter, der Kothsasse, der cottarius, croftmann, cotsettle der englischen Quellen.

Dis zum Ende der Karolingerzeit. 1904. Es gab m. E. 1. „Privat¬ mühlen“ der Bauern (ganz primitiver Art); 2. Gemeindemühlen; 3. Privatmühlen der Grundherrn, die von den Bauern genutzt werden konnten oder (später) mußten. Siehe Seite 74 ff. Vgl. zu obigem Streit noch M. Thövenin, Etudes sur la propriete au moyen age in der Revue Histor. 1886.

1 Der Faber, faber ferrarius in der Lex Sal. 35, 6; 10, 26; lex Bai. 9, 2; lex Alem. 81, 7 und öfters; der Carpentarius in der lex Sal. 35, 6; 10, 26 (nur daß man an diesen Stellen ebensogut an grundherrliche Arbeiter denken kann).

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Zweiter Abschnitt: i)as eigen wirtschaftliche Zeitalter

Aber der Geist der alten Bauernwirtschaft war sicherlich derselbe geblieben wie er es noch 1000 Jahre hindurch weiter blieb und auch die Wirtschaftsführung hatte keine wesent¬ lichen Veränderungen erfahren. Wissen wir doch, daß selbst die Dreifelderwirtschaft, die dann das ganze Mittelalter- hindurch bis in unsere Zeit hinein die bäuerliche Wirtschaftsführung be¬ einflussen sollte, nicht vor Ende des 8. Jahrhunderts sich aus¬ zubreiten beginnt1 * 3.

Nun wäre aber das Wirtschaftsleben zur Karolinger zeit doch vielleicht nicht so gleichförmig in ganz Europa gestaltet ge¬ wesen, wie es tatsächlich der Fall war, wenn es ausschließlich von der bäuerlichen Wirtschaft beherrscht gewesen wäre. Denn so viele übereinstimmende Züge wir auch an dieser nachweisen konnten: es haftete ihr doch immer die charakteristische Eigen¬ art der nationalen Siedlungsweise an. Was dem europäischen Wirtschaftsleben jener Zeit vielmehr den hohen Grad von Gleich¬ förmigkeit verlieh, war die zweite Organisation, von der bereits die Rede war : die Erohnhofwirtschaft auf den Grundherrschaften, die tatsächlich fast keine Unterschiede von Sizilien bis Schott¬ land, vom Sorbenland bis zur spanischen Mark aufwies. Von ihr soll im folgenden die Rede sein.

1 Siehe z. B. F. Dahn, Könige der Germanen IX, 1, 443; IX,

2, 419. NachMeitzen, Siedelungen, 2, 592 f., wird die Dreifelder¬ wirtschaft erstmalig 771 im räthisch-gallischen Gebiete erwähnt. Die landwirtschaftlichen „Altertümer“ findet man noch am besten zusammen¬ getragen bei Karl Gottlob Anton, Geschichte der teutschen Land¬ wirtschaft von den ältesten Zeiten bis zum Ende des 15. Jahrhunderts.

3 Bde. 1799. Freilich sind Mißverständnisse bei A. keine Selten¬ heit.

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Siebentes Kapitel

Die Fronhofswirtschaft

Literatur

In den letzten Jahren ist die Literatur über die Grundherr¬ schaften und ihre Wirtschaftsverfassung in Deutschland und nament¬ lich auch im Auslande mächtig angeschwollen. Eine Zusammen¬ stellung der englischen Literatur über die englischen Grundherr¬ schaften findet man bei Nathaniel J. Hone, The Manor and manorial records, zuerst 1906, p. 312 ff. Dieses Buch selbst ist eine anschauliche Schilderung einzelner Seiten des grundherrschaftlichen Lebens in England, die es durch alte bildliche Darstellungen glücklich unterstützt. Vgl. auch noch P. Vinogradoff, The growth of the Manor 1905 und English society in the XI Century, 1908. Die meist monographische Literatur der Franzosen , Italiener und Deutschen findet man berücksichtigt in der neuesten und umfangreichsten Darstellung in deutscher Sprache, dem Werke von Alfons Dopsch, Die Wirt¬ schaftsentwicklung der Karolingerzeit vornehmlich in Deutschland. 2 Bde. 1912/13. Aus der späteren Literatur sei noch besonders hin-, gewiesen auf die gute Arbeit von He inr. Pauen, Die Klostergrund¬ herrschaft Heisterbach. Beiträge z. Gesch. des alten Mönchtums usw. Her. v. II d. Herwegen, Heft 4. 1913. (Die Grundherrschaft ent¬ wickelt sich erst seit dem 12. Jahrhundert.)

Obwohl ich diesen Abschnitt über die Fronhofwirtschaft schon vor etwa acht Jahren niedergeschrieben habe, hat die neuere Forschung, hat namentlich auch das Werk von Dopsch mich zu keiner einzigen Änderung veranlaßt. Zu meiner Freude kann ich feststellen, daß ich insbesondere mit den Ansichten von Dopsch in vielen Punkten über¬ einstimme, so weit ein Historiker und ein Nationalökonom von Wirt¬ schaftszuständen überhaupt gleiche „Ansichten“ haben können.

Das gilt namentlich vom ersten Bande, worin auch irrtümliche Auf¬ fassungen früherer Forscher (insonderheit v. Inamas) richtig gestellt werden, auf Grund einer interessanten Kritik der Quellen. Den Geltungswert des Cap. de villis schätze ich genau wie Dopsch ein : meine darauf bezüglichen Bemerkungen kann ich unverändert lassen.

Anders verhält es sich mit dem zweiten Bande , worin D o p s c h „aufbauend“ Vorgehen möchte. Hier trennen sich unsere Wege. Vor allem, weil sich unsere Grundauffassungen von der Aufgabe der Ge¬ schichtschreibung scharf entgegenstehen. Ich gebe ohne weiteres zu, daß das von Dopsch beigebrachte Quellenmaterial reichlicher ist wie in irgendeiner früheren Gesamtdarstellung jener Zeitepoche (bis auf das Kapitel „Gewerbe“ , das auffallend dürftig ist). Aber dieses Material ist noch keine Geschichte. Hm Geschichte zu werden, hätte

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Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter

es Dop sch mit dem Lichte einer „Theorie“ durchleuchten müssen. Und gerade das lehnt ja der Verfasser ganz energisch ab. Sem Haupt¬ eifer ist auf die Bekämpfung der „Theoretiker“, insonderheit dei „Nationalökonomen“ v. Inama, Bücher gerichtet. Und da be¬ ginnt sein Irrtum. Hätte er die falschen und schlechten Theorien dieser Männer bekämpft und die „Theorie“ v. Inamas ist wirk¬ lich herzlich schlecht, vor allem weil sie keine (geschlossene) Theorie ist, diejenige Büch er s ist mindestens verbesserungsfähig—, so wäre das sehr dankenswert gewesen, wenn Dop sch gleichzeitig eine eigene „Theorie“ dagegengestellt hätte. Statt dessen will er von „Theorie überhaupt nichts wissen und trotzdem will er „auf bauen ! ?

Ich will hier ein für allemal meinen Standpunkt gegenüber dem Streit zwischen „Theoretikern“ und „Historikern darlegen.

Machen wir uns folgendes klar: von zwei Dingen kann nur eins bestehen : entweder die Historiker begnügen sich damit, unsere Hand¬ langer zu sein, das heißt das Quellenmaterial zu unserer Verfügung zu stellen, damit wir „aufbauen“, oder aber sie bauen selber auf. In diesem Falle müssen sie aber einen Bauplan haben, und dieser Bauplan ist eben das, was sie verächtlich „Theorie“ nennen. Diese Theorie besteht aus zweierlei: 1. einem System klarer, eindeutiger B e grir e; 2. einem Schema, nach dem man die Einzeltatsachen zu einem Ganzen zusammenfügt •, in unserem Falle bietet dieses Schema die Idee eines bestimmten Wirtschaftssystems. Wer über diese beiden geistigen Requisite nicht verfügt, kann nicht „auf bauen . Unternimmt er gleichwohl eine Ordnung der Tatsachen, so passiert ein Unglück. Es entsteht heillose Konfusion, die schlimmer ist als eine bloße Bereitstellung von Material, das dann ein anderer klarer und systema¬ tischer Kopf zur Einheit fügen mag. Ebensowenig, beispielsweise, wie jemand Heeresgeschichte schreiben sollte, der von einem berufsmäßigen Volksheere spricht, ebenso wenig sollte man Wirtschaftsgeschichte schreiben dürfen, wenn man einen zu gewerblichen Leistungen vei- pflicliteten Hintersassen mit einem Lohnwerker (im Büch er sehen Sinne) verwechselt (Dop sch 2, 154), oder wenn man von „natural- wirtschaftlichem Kapitalismus“ (sic) spricht (2, 52) und unter dem Rubrum „Die Geldwirtschaft“ Preisgestaltung und Kreditvorgänge ab¬ handelt 12).

Da kommen denn solche wahrhaft groteske Vorstellungen hei aus, als ob die karolingischen WTicher- und Zinsverbote erlassen seien, um das Publikum vor einer „monopolistischen Preistreiberei des Kapitalis¬ mus“ (sic) zu schützen (2, 275). Natürlich: ohne „Kapitalismus“ geht es jetzt in keiner Epoche mehr ab. Nehmen Geldgeber hohe Zinsen für Konsumtivkredit, treiben Grundherren die Preise für die notwenigen Lebensmittel : flugs ist „Kapitalismus da. Nun also schon zur Karolingerzeit. Nunmehr ist fällig der Nachweis des „Kapitalis¬ mus“ bei den alten Deutschen zur Zeit des Tacitus: „Da staunt dei Fachmann und der Laie wundert sich“, kann man wirklich solchen „Theorien“ (ja wohl es sind „Theorien“, bloß vorsintflutliche und schlechte) gegenüber nur noch sprechen. Nein solange die Historiker mit so gänzlich unzulänglicher Vorbildung „Wirtschaftsgeschichte“

Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft

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schreiben, ist eine Verständigung nicht möglich. Einer der ganz wenigen Historiker von Ruf, der anders verfährt, ist Georg von Below, mit dem wir uns deshalb auch jederzeit gern und leicht auseinandersetzen. Ich kann es mir nicht versagen, die goldenen Worte hier anzuführen, die v. Below in seinem neuesten Werke (Der deutsche Staat des Mittel¬ alters, 1914, S. 107 ff.) über die Voraussetzungen ersprießlicher Ge¬ schichtschreibung macht und die ich Punkt für Punkt unterschreibe. Ihr Gewicht bekommen sie dadurch, daß sie von einem unserer ersten Historiker gesprochen werden, da man ja uns „Systematiker“ stets als verschrobene „Theoretiker“ beiseite schiebt, "wenn wir ähn¬ liches sagen, v. B e 1 o w s Ausführungen beziehen sich auf die Rechts¬ geschichte für die Wirtschaftsgeschichte gilt aber natürlich genau das gleiche :

„Ganz gewiß ist es das Recht und die Pflicht des Historikers, vor willkürlichen , das heißt ohne Rücksicht auf das Quellenmaterial unternommenen, juristischen Konstruktionen zu warnen. Die juristische Betrachtung ist ferner selbstverständlich nicht die einzig zulässige Be¬ trachtung der Vergangenheit. Allein wenn wir die alten rechtlichen Verhältnisse darlegen wollen, so vermögen wir es nur mit den Mitteln der Rechtswissenschaft.“ „Die Rechtsgeschichte befaßt sich mit juristischen Fragen und muß sie folglich auch juristisch beantworten“ (v. Amira). Für die Rechtsgeschichte „bleibt totliegender Stoff, was sie dogmatisch nicht erfassen kann“ (Brunner).- - Meine Forderung besteht lediglich darin, daß eine historische Darstellung alle Bildungs¬ elemente unseres Jahrhunderts in sich aufnehmen soll, und daß daher der Historiker in seinen Arbeiten auch diejenige Sauberkeit und Prä¬ zision und Klarheit der Vorstellungen zu zeigen hat, die wir heute nun einmal von allen Darstellungen verlangen“ . . . „Ich selbst habe bereits mehrfach meine Meinung dahin abgegeben, daß Schärfe und Klarheit der Begriffe an sich keineswegs Feind echter Geschichtsforschung sind.“ (Von mir gesperrt.)

Wann endlich werden sich die „Wirtschaftshistoriker“ diese Auf¬ fassung ihres prominenten Kollegen zu eigen machen? Es ist also gar nicht der Gegensatz zwischen „Nationalökonomen“ und „Historiker“, was mich und andere Nationalökonomien von den meisten Wirtschafts¬ historikern der älteren Schule trennt. Es gibt auch Geschichtsschreiber, die mit unseren Voraussetzungen an das Studium der Vergangenheit herantreten, und das möchte ich doch nicht ungesagt lassen auf der anderen Seite genug „Nationalökonomen“, die es an Ver¬ schwommenheit der Begriffe mit jedem Vertreter einer anderen Wissen¬ schaft aufnehmen.

* *

*

Mein Urteil über das Werk von Dop sch steht nicht vereinzelt da : zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt vom Standpunkt der Historik aus Paul Sander in seiner Antwort auf eine „Berichtigung“, die D. der Sanderschen Kritik seines Buches hat zu teil werden lassen. Sanders Kritik: in Schmollers Jahrbuch, 37. Jahrg. ; die Polemik ebenda im 38. Jahrg.

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Zweiter Abschnitt: Das eigen wirtschaftliche Zeitalter

I. Die Verbreitung der Grundherrschaften

Daß die „Grundherr schäften“ mit der auf ihnen ausgebildeten eigentümlichen Wirtschafts Verfassung: der „Fronhofwirtschaft“ eine den europäischen Völkern während des Mittelalters gemein¬ same Erscheinung gewesen seien , die auf die gesamte Kultur¬ entwicklung dieser Völker, vor allem aber auch auf die Ge¬ staltung ihres Wirtschaftslebens den allergrößten Einfluß aus- o-eübt hat, wird heute von niemand bestritten.

Strittig ist nur (1.) die Bedeutung der „Grundherrschaften“ (im Sinne von Immunitäten mit eigenem [„Hof“]Recht) für die Entwick¬ lung des Verfassungsrechts (ob das Stadtrecht aus dem Hofrecht oder dem Landrecht entstanden ist ; ob das Bürgerrecht durch das Hofrecht hindurchgegangen und erst nach und nach aus der Unfreiheit empor1 gestiegen ist; ob die Zünfte hofrechtlichen oder landrechtlichen, un¬ freien oder freien Ursprungs waren usw.). Diese Fragen scheiden natürlich aus unserer Betrachtung vollständig aus. Ebenso (2.) das andere Problem, das insbesondere von Gerhard Seeliger (Die soziale und politische Bedeutung der Grundherrschaft im früheren Mittelalter. Abhandlungen der phil.-histor. Klasse der K. sächs. Gesellschaft der Wiss. XXII. Bd., Heft 1. 1904) zur Diskussion gestellt ist: welche Wirkungen die Grundherrschaften auf den persönlichen Rechtsstatus der in ihrem Bereich lebenden Personen ausgeübt haben (S. vertritt, wie ich glaube, mit Recht den Standpunkt, daß „auch innerhalb der Grundherrschaft das freie Be¬ völkerungselement nicht verschwunden , mitunter sogar reichlich ver¬ treten gewesen“ [ist] ; a. a. 0. S. 196). Ebenso lasse ich (3.) dahin¬ gestellt, welchen räumlichen Umfang die Grundherrschaften besessen haben: das heißt in welchem quantitativen Verhältnis während der ersten Hälfte des Mittelalters das von den Grundherrschaften ein¬ genommene Land zu dem freien Bauernlande gestanden habe. Zweifel¬ los eine Übertreibung war die Annahme , der man früher häufig be¬ gegnete, es habe im 10. und 11. Jahrh. nur noch Grundherrschaften gegeben. Das hatten z. B. für England Seebohm, Ashley u. a. behauptet, deren extreme Anschauungen aber seitdem durch die Unter¬ suchungen von Vinogradoff, Earle, Round, Maitland, Pollock u. a. berichtigt sind. Ebenso haben Flach u. a. für Frank¬ reich das Weiterbestehen freier Bauerngemeinden neben den Grundherr¬ schaften nachgewiesen. Merkwürdigerweise vertritt jetzt für Italien wieder den alten Standpunkt Ludo M. Har’tmann, Geschichte Italiens II, 40 ff.; II, 2, 15 ff.

Ick sagte schon, daß die grundherrschafthch-fronhofwirtschaft- liche Organisation ein sehr gleichförmiges Gepräge in den ver¬ schiedenen Ländern Europas getragen habe. In der Tat: ob wir die Verfassung der Klöster Bobbio, oder Farfa, oder der Be¬ sitzungen des Patriarchen von Grado, oder des Bischofs von Ravenna in Italien; ob die der Abtei Saint Germain des Pres,

Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft 57

oder de la Sainte Trinite de Tiron, oder der Klöster Clairvaux, oder Corbie, oder St. Remy in Frankreich; ob die des Klosters St. Gallen in der Schweiz, oder der Klöster Prüm, oder Weißen¬ burg, oder der Domänen Karls des Großen, oder der Abteien Reichenau, oder Fulda, oder Lorsch, oder Werden a. d. Ruhr, oder der Besitzungen des Grafen Siboto von Falkenstein in Deutschland, oder die der Klöster Ramsey, oder Malmesbury, oder Worcester, oder Peterborough in England, oder des Klosters St. Troud bei Lüttich anschauen: immer tritt uns, wie im Ver¬ lauf dieser Darstellung noch im einzelnen zu zeigen sein wird, annähernd dasselbe Bild entgegen.

Wohlverstanden: soweit es sich um die reale Gestaltung des technisch-wirtschaftlichen Prozesses , die Organisation der Güter¬ erzeugung, der Güterverteilung und des Güterverzehrs als eines Komplexes von Lebensverhältnissen handelt. Andere Seiten der Grundherrschaft weisen dagegen große Mannigfaltigkeit auf: so die politische Stellung des Grundherrn im Lande ; so der persönliche Rechtsstatus des Bauern bzw. Arbeiters, der vom reinen Sklavenverhältnis im altrömischen Sinne in einigen Teilen Italiens bis zur persönlichen Vollfreiheit der socmanni und alodiarü alle möglichen Nuancen aufweist; so die Besitzrechte der Bauern, die ebenfalls ein ganz buntes Büd gewähren, wo reines Eigen¬ tum neben kurzfristiger Pacht, Erbleihe neben Livellarbesitz, Emphy- teuse neben teilpachtähnlichen Verhältnissen oft länderweise ver¬ schieden , oft nebeneinander auf derselben Grundherrschaft auftreten. Die Anlage dieses Werkes erlaubt nicht nur, sondern fordert geradezu, von allen diesen Unterschiedlichkeiten abzusehen und das Realphänomen allein ins Auge zu fassen.

Das Wirtschafts leben will ich schildern. Und da sollten wir uns wieder mehr zum Bewußtsein bringen , daß die Rechtsformen in der früheren Zeit, in der das formale Recht längst nicht so entscheidend war wie Überlieferung und Sitte, für die Lebensgestaltung nur eine nebensächliche Bedeutung hatten. Das Getriebe auf einem Fronhofe oder in einem Dorfe des 10. und 11. Jahrhunderts war ganz und gar nicht bestimmt durch den mehr oder weniger freien Rechtstatus der handelnden Personen. Alles lief bunt durcheinander : von den ingenui homines bis zu den servi, und ziemlich unabhängig von diesem Unter¬ schiede baute sich das System der Leistungen und Verpflichtungen auf. Saß eine Familie auf einer Scholle, so war es für ihr Leben im Grunde ziemlich gleichgültig, ob sie ingenua oder serva war, ob terrae adscripta oder ob sie potebat ire ubi voluerit ; ob sie das Gut als beneficium, als precarium , als Colonia partiaria, als Erbzinsleihe oder als sonst etwas inne hatte. Wichtig war für sie nur: 1. wieviel sie von der Ernte abgeben; 2. wieviel Tage im Jahre sie auf dem Herrenlande frohnden mußte; 3. ob sie tatsächlich auf der Scholle sitzen blieb, von Geschlecht zu Geschleckte.

Man fragt sich unwillkürlick : woher jene überraschend große Ähnlichkeit stamme. Die Antwort, die gewöhnlich auf diese

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Zweiter Abschnitt : Das eigenwirtschaftliehe Zeitalter

Frage erteilt wird, besteht in dem Hinweise auf die gemeinsame Quelle der mittelalterlichen Fronhofverfassung: die römische Grundherr schaft und auf den gleichmachenden Einfluß , den die christliche Kirche ausgeübt habe. Ich halte diese Erklärung doch nicht für ausreichend, glaube vielmehr, daß ein dritter Faktor bei der Bildung der mittelalterlichen Grundherrschaften zu berücksichtigen ist: das ist wiederum die „Natur der Sache“, wie man nicht sehr glücklich den Tatbestand bezeichnen kann, daß Erscheinungen , wie die hier betrachtete , sich unter be¬ stimmten Bedingungen mit einer gewissen Notwendigkeit ein¬ stellen müssen. Jedenfalls ist es eine feststehende Tatsache, daß wir der grundherrschaftlichen Organisation in ganz anderen Kulturen ebenfalls begegnen: daß aber insbesondere diejenigen Völker, die die Geschichte des Mittelalters gemacht haben, ganz ähnliche Gebilde erzeugt hatten, lange, ehe von einem römischen Einfluß die Rede war. Was uns Tacitus von den Germanen berichtet \ enthält im Kern schon die grundherrschaftliche Wirt¬ schaftsverfassung des Mittelalters.

Man wird also wohl zu dem Schlüsse kommen, daß die Ausbreitung der grundherrschaftlichen Organisation in Europa während des Mittelalters wesentlich gefördert ist durch die schon in den Volksstämmen urwüchsig zur Entwicklung ge¬ langten ähnlichen Gebilde. Daß die Fronhofverfassung während der letzten Jahrhunderte des Römerreiches zur vollen Entfaltung gelangte, ist ja hinlänglich bekannt1 2; ebenso ist der Zusammen¬ hang, der zwischen der römischen und mittelalterlichen Grund¬ herrschaft besteht, oft Gegenstand der Untersuchung gewesen3.

1 „Ceteris servis non in uostrum niorem discriptis per familiam ministeriis utuntur : suam quisque sedem, suos penates regit, frumenti modum dominus aut pecoris aut vestis ut colono iniungit et servus hactenus paret: cetera domus officia uxor ac liberi exsequuntur.“ Germ. c. 25. Über ähnliche Verhältnisse bei den Kelten s. Meitzen, Siedlungen 1, 88.

2 Max Weber, Röm. Agrargeschichte, S. 243ff. A. Schulten, Die römischen Grundherrschaften, 1896. Vgl. auch Oskar Siebeck, Das Arbeitssystem der Grundherrschaft des deutschen M.A., Leipz. In.Diss., 1904, S. 11 ff. 23.

3 Vgl. z. B. Seebohm, Englisch Village Community (1883), Oh. VIII. Kowalewskya. a. 0. passim. Meitzen a. a. 0. u. a. P. Vinogradoff, Growth of the Manor, 37 ff. Einen guten zusammen¬ fassenden Überblick über den Stand der Forschung gibt Silvio Pivano, Sistema curtense im Bullettino dell’ istituto storico italiano, No. 30, 1909; insbes. p. 107 seq.

Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft

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Aber auch die Rolle , die die Kirche bei der Entwicklung und Ausbreitung dieser Wirtschaftsverfassung gespielt hat, ist klar¬ gelegt worden1. Wir wissen, daß erst die Kirche, später die erobernden Stämme im Gebiete der römischen Kultur einfach an Stelle der römischen Possessoren getreten sind, daß aber in den übrigen Teilen Europas namentlich die direkte Beeinflussung durch die Vertreter der Kirche die gleiche Art zu wirtschaften verbreitet hat.

Von großer Bedeutung ist die Benedicti Regula monachorum (rec. Wölfflin 1895) geworden, von der ich noch Gelegenheit haben werde zu sprechen. Von vornherein wurden bei Neugründungen von Klöstern die Verwaltungsgrundsätze der Mutterklöster zur Anwendung gebracht. So läßt sich deutlich verfolgen , wie die Organisation der Abtei Werden durch die beiden ersten Vorsteher Liudger und Hildigrim, die beide in Montecasino gelebt hatten , der Ben. reg. mon. nach¬ gebildet ist. R. Kötzschke, Studien zur Verwaltungsgeschichte der Großgrundherrschaft Werden a. d. Ruhr (1901), 103 ff. Dann geht die Beeinflussung herüber und hinüber : von einem Kloster zum andern, sei es durch Überweisung der Ordnung, sei es durch den Austausch der Personen. So ist die Instruktion Walas für das Kloster Bobbio in Oberitalien (veröffentlicht von L. M. Hartmann, Zur Wirtschaftsgeschichte Italiens, S. 129 ff.) offenbar beeinflußt durch Adalhards Statuta abbatiae Corbeiensis (veröffentlicht von Guerard im Pol. d’Arm. 2, 306 ff.). Daß die Abte der Klöster häufig auf sehr weite Strecken „versetzt“ wurden, ist bekannt. So erhielt Prüm Mitte des 9. Jahrhunderts einen seiner bedeutendsten Abte, Markward, aus dem Kloster Ferneres. J. IST. ab Hontheim, Hist. Trev. 1, 185 Note, zit. bei Lamp recht, DWL. 1, 79. Der berühmte Bauriß, der 820 für den Neubau des Klosters S. Gallen entworfen wurde , war italienischen Ursprungs: siehe J. v. Schlosser, Die abendländischen Klosteranlagen des früheren Mittelalters, 1889.

II. Die Gr und züge der Fr onhofwir t schaff

Fragen wir nun aber, worin die Wesenheit des neuen Wirt¬ schaftssystems bestand, das mit den Grundherrschaften in die Welt kam, so können wir zunächst ganz allgemein beschreibend sagen: es war die Wirtschaftsverfassung, die sich eine Klasse

1 Aug. Rivet, Le regime des biens de l’eglise avant Justinien. These pour le doctorat. Lyon 1891. U. Stutz, Die Verwaltung und Nutzung des kirchlichen Vermögens in den Gebieten des west¬ europäischen Reichs von Konstantin d. Gr. bis zum Eintritt der germanischen Stämme in die katholische Kirche. In.Diss. Berlin 1892. Th. Mommsen, Die Bewirtschaftung der Kirchengüter unter Papst Gregor I. in der Zeitschrift für Sozial- und Wirtschaltsgeschichte, Bd. I (1893) S. 43 ff.

(30 Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter

von reichen Leuten schuf zu dem Zwecke, ihren Bedarf an Gütern durch fremde Arbeiter in eigener Wirtschaft decken zu lassen.

Da es sich hier nicht um die Darstellung der Genesis dieses Wirtschaftssystems handeln kann, so können wir auch davon Abstand nehmen, die Entstehung dieser neuen Klasse führender Wirtschaftssubjekte und ihres Reichtums zu schildern: ihres Reichtums, der im wesentlichen in der Verfügungsgewalt über einen ausgedehnten Grundbesitz und die zu seiner Bebauung erforderlichen Arbeitskräfte bestand.

Es muß genügen, die wichtigsten Ursachen namhaft zu machen, die zu der Entstehung des mittelalterlichen Großgrundbesitzes geführt haben.

Die Ursachen waren:

1. Aneignung größerer Stücke des Marklandes durch die Principes bei der Seßhaftwerdung (also schon vor den V/ anderungen) ;

2. Okkupation während der Völkerwanderung durch die Könige und Weitervergabung dieses Krön- und Staatslandes, und zwar sowohl des gesamten ausgedehnten Großgrundbesitzes in den römischen Gebieten als auch des Markenlandes in den alten Volkssiedlungsgebieten ;

Auch unmittelbare Fortsetzung römischer Besitzverhältnisse kam vor: so waren die Ansiedler See-Venetiens im 6. und 7. Jahr¬ hundert, die aus den bedrohten Städten der terra ferma kamen, tribuniziscke Geschlechter, die ihre servi und coloni mitbrachten und ihre grundherrlichen Verhältnisse unmittelbar in die Lagunen verpflanzten. Siehe das Chron. Alt. und dazu Hartmann, Die wirtschaftl. Anfänge Venedigs in der Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 2 (1904), 434 ff.

3. die sein: verbreitete Eigengabe gemeinfreier Grundbesitzer an kirchliche und weltliche Große ;

4. die fortschreitende Aussonderung aus Marken- und Almende¬ ländereien ;

5. der in den Volksgesetzen früh erleichterte Landerwerb durch Pfandbesitz und Kauf;

6. unberechtigte , irrige und gewaltsame Besitzergreifung, die un¬ angefochten blieb und durch Besitzverjährung Eigentum wurde.

Vielmehr wenden wir unsere Aufmerksamkeit alsobald den neuen Wirtschaftssubjekten selbst zu: ihren Bestrebungen, ihren Bedürfnissen, dem Geist, von dem sie erfüllt waren, als sie die Wirtschaft auf einer neuen Grundlage aufbauten, sowie der von ihnen geschaffenen Wirtschaftsorganisation selbst.

Zunächst also: wer waren die „neuen“ Männer, auf die ein großer Teil der Wirtschaftsführung schon übergegangen war, ein wachsender Teil im Begriff war, überzugehen, was unter’

Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft

schied sie von den bisher allein bekannten Wirtschaftssubjekten: den Bauern in der Dorfgemeinde?

Die Männer, die sich nach dem Untergange des römischen Reiches aus der großen Masse der Volksgenossen heraushoben, trugen, wie man weiß, teils geistlichen, teils weltlichen Charakter. Es waren die frommen, einsamen Mönche und die Würdenträger* der Kirche; es waren die Könige und Fürsten und diejenigen der Freien, die über eine kriegsbereite Gefolgschaft verfügten; und es waren deren Dienstmannen, die von ihren Herren mit Grund und Boden als Entgelt für ihre Dienste ausgestattet wurden.

Allen diesen Männern gemeinsam war, daß sje Vermögen und damit Einkommen genug besaßen, um nicht selbst wirt¬ schaftlich tätig sein zu müssen. Sie konnten als leisured dass leben und wollten es. Die artes sordidae wurden gemieden. Man füllte sein Leben mit anderen Dingen aus : mit Kriegsdienst öder Gottesdienst; oder man verbrachte es in einsamer Muße oder im lustigen Freundeskreise, bei fröhlichen Gelagen und beschaulicher Andacht, auf Jagden und beim Spiel. Man führte, ein seigneuriales Leben. Nur die Mönche, zumal im ganz frühen Mittelalter, griffen öfters zum Spaten oder zur Axt, um die Wälder zu roden und sich auf dem neu erschlossenen Grund und Boden mit ihrer eigenen Hände Arbeit ihren Unterhalt zu be¬ schaffen. Aber dann waren sie halt Bauern und keine „Grund¬ herrn“ wie ihre Nachfolger in den späteren Jahrhunderten.

Wir müssen uns den Umfang des einzelnen grundherrlichen Besitzes und somit des arbeitslosen Einkommens, das der Grund¬ herr bezog, ganz verschieden groß denken. Vom kleinen Kriegs¬ mann, der über den Ertrag von zwei, drei Hufen gebot1, gab es alle Abstufungen des Reichtums bis zu den weltlichen und geistlichen Magnaten, die über den Ertrag ganzer Länder ver¬ fügten2. Zweifellos gab es eine große Anzahl von Grundherrn, deren Einkommen weit über den traditionellen Bedarf einer

1 Nach den englischen Quellen wird das Einkommen des kleinsten Grundherrn (Lord of the manor) auf 5 20 (gleich 100 400 £ h. W.) geschätzt. Nathaniel J. Hone, 1. c. p. 14.

2 Eine Liste der Schenkungen und Lehen an weltliche Grundherrn aus Königsgut stellt mit Angabe der Besitzgröße für die Karolingerzeit zusammen Dopsch 1, 271 ff. Schon in dieser Liste von Einzel¬ schenkungen schwankt die Größe zwischen 1 Hufe und 104 Mansen mit 300 Hörigen außer dem Salland.

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Familie hinausging, ja diese Kategorie von Großgrundbesitzern bildete wobl je mehr und mehr den normalen Typus des Grund¬ herrn. Was fing dieser wohlhabende Grundherr mit den Über¬ schüssen seiner Revenuen an?

In erster Linie war er wohl darauf bedacht, den Kreis von Personen. zu erweitern, die fern von den Mühen des Broterwerbs in Gemeinschaft mit ihm oder in Abhängigkeit von ihm an dem Verzehr seines Einkommens teilnahmen. Die weltlichen Großen schufen sich einen Hofstaat; vor allem aber eine Gefolgschaft kriegsbereiter Männer, sei es, weil vom König ein dienstbereites militärisches Aufgebot gefordert wurde, sei es, weil sie es für ihre eigene Sicherheit oder für die Entfaltung eigener Macht als notwendig erachteten. Die geistlichen Herrn, deren Um¬ gebung sich oft genug zu ansehnlichen Hofhaltungen entwickelte, waren auf die V ermehrung der Diener der Kirche, der Insassen der Klöster bedacht oder sorgten durch Almosen für den Unter¬ halt der Armen.

Neben dieser bloßen Ausweitung der Konsumentenschar ging nun aber auch das Bestreben her, die Lebenshaltung zu heben, den Bedarf zu verfeinern. Bei den weltlichen Herrn kam der Trieb nach Prachtentfaltung und allmählich wohl auch der Sinn für eine wohlhäbige und luxuriöse Lebensführung zur Entfaltung, der alsobald von den Frauen besonders gepflegt wurde1. Bei den Äbten und Bischöfen trat noch das Streben hinzu, ihre Kirche, ihr Kloster zur Ehre Gottes reich und prächtig aus¬ zustatten; ihrem eigenen Leben aber durch materielle und geistige Genüsse einen würdigeren Inhalt zu geben: der Geistlichkeit

1 Siehe z. B. die Aufzählung der Frauenschmuckstücke in der Karolingerzeit bei dem Verfasser der Lebensgeschichte der hl. Hathumod von Gandersheim MG. SS. 4, 167 c. 2. Natürlich wird der heilige Mann den Mund reichlich voll genommen haben. Man hüte sich angesichts solcher Zeugnisse um Gottes willen vor der Annahme, als sei nun jene Zeit schon im Luxus verkommen, eine Annahme, der sich jetzt Dop sch zuneigt. Will man sich eine richtige Vorstellung von dem Lebens¬ zuschnitt eines Geschlechtes machen, so darf man nicht, so wenigstens sagt mir mein Laienverstand, die Aufzählung von Schmuckgegenständen bei einem zelotischen Sittenprediger seinem Urteil zugrunde legen, sondern muß etwa nachschauen, wie ein Fronhof gebaut war, und was die Inventare in einem mittelalterlichen Herrenhofe an Möbeln und Gerätschaften aufzählen. Man wird dann zu einem ganz anderen Bilde kommen. Siehe z. B. die Beschreibung eines englischen Manor der früheren Zeit bei Nath. J. Hone, 1. c. p. 26 ff.

Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft (33

haben wir wohl vor allem die Verfeinerung der Tafelfreuden zu danken.

Das Streben, diese Bedarfszwecke sicher und reichlich zu er¬ füllen, gab das Leitmotiv für die gesamte Wirtschaftsführung der Grundherrn ab. Wie es eine Verordnung Karls des Großen ausspricht, die also lautet1: „et qui nostrum habet beneficium, diligentissime praevideat, quantum potest Deo donante, ut nullus ex mancipiis ad illum pertinentes beneficium fame moriatur, et quod super est illius familiae necessitatem, hoc libere vendat jure praescripto.“ Und wenn wir auch während des Mittelalters das unverkennbare Bestreben der Grundherrn beobachten, ihr Vermögen, das heißt ihren Grundbesitz zu vergrößern, so lag diesem Streben doch immer der Wunsch zugrunde: die einmal vorhandenen Bedarfszwecke noch besser, noch ausgiebiger er¬ füllen zu können: über mehr Personen als Gefolge zu verfügen, mehr Hintersassen zu haben, auf mehr Seelen Einfluß zu ge¬ winnen. Oder aber mehr Pracht zu entfalten, die geliebte Kirche noch reicher auszustatten. Will sagen in der von mir geprägten Terminologie: Das Bedarfsdeckungsprinzip bleibt in der grundherrlichen Wirts chaftsver fas sung das regulierende Prinzip2.

Die Wirtschaftsführung selbst wurde nun durch eine Reihe äußerer Umstände ganz eigenartig bestimmt.

Da ergab sich zunächst die Tatsache, daß in vielen Fällen eine größere Anzahl von Personen ein gemeinschaftliches Leben führen, also eine große einheitliche Konsumtionswirt¬ schaft bilden wollten. Das war die nähere dienende Umgebung auf dem Herrensitze der weltlichen und geistlichen Fürsten ; das waren aber vor allem die religiösen Gemeinschaften der Mönche (die seit Begründung der christlichen Kirche bestanden hatten) und nachher auch der Weltgeistlichen. Seit dem 6. Jahrhundert

1 Schluß der Preistaxe, die Karl M. auf der Synode zu Frankfurt a. 794 erließ. MG. LL. 2. (Abgedruckt bei Fagniez, Doc. No. 88.)

2 Vgl. dazu noch die Ausführungen Lamprechts, DWL. 1. 2, 844 und die dort in Note 3 angeführten Quellenstellen. Ferner das Breve Walas für das Kloster Bobbio bei Hart mann, Zur W.G. Italiens, 63 ff. . . . die Sorge, die in den verschiedenen Regeln dieser Zeit wie der früheren niedergelegt is"-, ist nicht, wie durch die Er¬ trägnisse der Reichtum des Klosters etwa vermehrt werden könnte, sondern in welcher Weise der Konsum zu regeln ist“ a. a. 0. S. 37.

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Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitaltei*

vollzieht sich der Übergang des- Weltklerus zum gemeinschaft¬ lichen Leben3.

Die vereinzelten Bestrebungen in dieser Richtung, die wir während des 6. und 7. Jahrhunderts beobachten, werden dann im 8. und 9. Jahrhundert systematisiert und verallgemeinert durch Verbreitung der Chrodegangschen und Aachener Regel. 760 hatte Chrodegang, der Bischof von Metz, eine Regel für den Klerus seiner Kathedralkirche nach dem Vorbilde jener des heil. Benedict und der Kanoniker vom Lateran verfaßt, deren Grundlage die Vorschriften über das gemeinschaftliche Leben bildeten. Diese Regel fand rasche Verbreitung und ihre Tendenz wurde durch die staatliche Gesetzgebung verstärkt: auch die Kapitularien Pipins und Karls M. schreiben das gemeinsame Leben vor, dessen eifrigster Vertreter dann Ludwig der Fromme wird. Er läßt denn auch im Jahre 817 auf der Synode zu Aachen die regula Aquisgranensis beschließen, die der Chrodegangschen nachgebildet war, und die von der Geistlichkeit ganz allgemein verlangte, daß sie in einem bestimmten Hause gemeinschaftlich wohne, esse und schlafe. Die Gesamtheit der an einer Kirche zu der vita communis vereinigten Kleriker wurde Kapitel ge¬ nannt, und diese Kapitel stellten, im 9. Jahrhundert über die ganze Christenheit verbreitet, einen neuen wichtigen Typus einei großen Konsum Wirtschaft dar, dessen Bedeutung für die Ent¬ wicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse während des Mittel- alters man, wie mir scheint, nicht gering anschlagen darf.

Leider bieten uns die Quellen gar keinen Anhalt, um die Zahl dieser Großkonsume festzustellen. Auf ihren Umfang im einzelnen können wir nur aus einigen statistischen Angaben schließen, die wir hie und da in den Quellen zerstreut finden. Diese beziehen sich freilich fast ausschließlich (soweit sie zu¬ verlässig sind) auf große Klöster, also die größten Konsumtions¬ zentralen (außer etwa den königlichen Pfalzen oder ein paar Erzbistümern). Im Kloster Corbie1 2 betrug ums Jahr 822 die Zahl der Münder, die täglich zu stopfen waren, nicht weniger als 300, selten mehr als 400; die Zahl der täglich zu backenden Brote bezifferte der fürsorgliche Abt (nach dem Grundsatz : „omnis substantia nostra quae per ministros nostros dispensanda

1 Siehe Phil. Schneider, Die bischöflichen Domkapitel (1885), S. 26 ff.

2 Stat. antiqua Abb. S. Petri Corbeiensis im App. zu Guörard,

Pol. d’Irminon 2, 806 ff.

Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft

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est semper magis volumus ut supercrescat quam deficiat“) 1 auf 450 (von 15 Mühlen), die Zahl der Schweine, die jährlich zum Konsum gelangten, auf 600. Das Kloster bestand aus mehreren getrennt verwalteten Abteilungen: 1. der Herberge für die Pilger usw. ; 2. dem Stift, wo 150 provendarii (die Novizen und Angestellten) Unterhalt erhielten; 3. dem eigentlichen Kloster.

Im englischen Kloster Peterborough sind (Anfang des .12. Jahr¬ hunderts) 100 Personen zu beköstigen: 40 servientes und 60 „mo- nachi äd plenum victum monachorum“ 2.

Echternach hat 885 einen Bestand von 40 Brüdern; Prüm weist (im 10. Jahrhundert) einen Gesamtbestand von 186, S. Maxi- min einen solchen von 20 Köpfen auf; Fulda besaß um 920 180 Insassen, und von Hersfeld erzählt Lambert, es habe schon früh eine Zahl von 150 Mönchen gehabt3.

Was aber bei dem Entscheide, wie nun die Produktion zu organisieren sei, schwer ins Gewicht fiel, war der Umstand, daß offenbar genügend viele und geeignete Arbeitskräfte, um eine Oikenwirtschaft nach Art derer in der römischen Kaiserzeit, ja wohl auch nur eine Guts Wirtschaft großen Stils ins Leben zu rufen, nicht vorhanden waren. Vielleicht, daß auch den Leitern der neuen Wirtschaftseinheiten die erforderlichen technischen Kenntnisse gefehlt hätten, um einer komplizierten Großwirtschaft vorzustehen.

Ferner war zu berücksichtigen , daß von einer irgendwie nennenswerten Klasse berufsmäßiger und selbständiger gewerb¬ licher Produzenten alias Handwerkern natürlich ebenfalls keine Hede war, der Gedanke also einer auf eine marktmäßige Deckung des Bedarfs gerichteten Wirtschaft ausgeschlossen war.

Endlich mußte die Wirtschaftsführung dadurch in ganz eigene Bahnen gedrängt werden, daß der Grundbesitz wohl aller größeren Grundherrschaften sogenannter Streubesitz war, das heißt nicht in einem geschlossenen Areal bestand, sondern über weite Strecken zerstreut lag, oft über viele Dörfer verteilt, in denen je einige Hufen dem Grundherrn gehörten, in einem und demselben Dorf dann wieder verschiedenen Herren. Das änderte sich erst

1 1. c. p. 312.

2 Liber niger des Klosters P. App. zum Ckron. Peterburgense (Cambr. Society 1849J p. 167 ff.

8 Siehe für den Bestand der deutschen Klöster die Quellen bei Lamp recht, DWL. I. 2, 845 f. Vgl. auch die Lieferordnung der Abtei Reichenau im Wirtemb. UB. 1, 424 126 (Urk. von 843).

gombart, Der moderne Kapitalismus. I. ö

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Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter

mit der Zeit, als die Grundherren auf ihrem eigenen Grund und Boden roden ließen und ganze Dörfer ansiedelten.

So kam man zu der eigentümlichen Organisation, die wir Fronhofwirtschaft nennen und die nun also folgendermaßen aus¬ schaute.

III. Die Organisation der Arbeit in der Fron hof¬ wirtschaft

Im großen ganzen sollte der gesamte Güterbedarf, der inner¬ halb der grundherrschaftlichen Konsumtionswirtschafb entstand, aus den Erträgnissen des eigenen Vermögens auf dem Wege der Eigenproduktion gedeckt werden. Das heißt: die Fronhofwirt¬ schaft war grundsätzlich Eigenwirtschaft, wie die Bauernwirt¬ schaft, unterschied sich von dieser jedoch wesentlich dadurch, daß der Kreis der in einer Wirtschaft vereinigten Personen zahlreiche fremde (und gerade fremde) Elemente einschloß, weshalb ich diesen Wirtschaftstypus erweiterte Eigenwirtschaft nenne.

1. Die Landwirtschaft

Schauen wir nun zunächst zu, wie sich die Gewinnung der Nahrungsmittel und organischen Rohstoffe, also die landwirt¬ schaftliche Produktion abspielte. Da begegnen wir denn der überraschenden Tatsache, daß diese sich zum großen Teil in denselben Bauernwirtschaften vollzog, die wir von früher her schon kennen. Das Eigentumsrecht des Grundherrn am Boden änderte in der Mehrzahl der Fälle die Gestalt der Wirtschaft in keinem Punkte ; es trat ökonomisch in nichts anderem in die Erscheinung als in der Verpflichtung des Bauern, Teile seines Produktionsertrages an den Grundhern abzuführen. So bestand denn dessen Sorge zunächst nur darin, jene Abgaben zu 'sammeln. Mit dieser Aufgabe betraute er bestimmte Personen Meier oder Villici genannt , von denen er je einen (das war wohl die Regel) in jedem Dorfe ansetzte; in jedem Dorfe nämlich, in dem zu Abgaben an ihn verpflichtete Bauern wohnten. Oft war es wohl einer der Bauern selbst, wenn es sich um geringe Beträge handelte, die es einzusammeln galt; oder es war selbst ein mit mehreren Hufen ausgestatteter kleiner Grundherr, der die Funktionen des Einsammelns auszuüben hatte. Die Räum¬ lichkeiten, in denen die Bauern ihre Abgaben abzuliefern hatten, hießen in Deutschland Fronhot, in Italien rectorium, dominicalia,

Siebentes Kapitel : Die Fronhofwirtsckaft ß7

dom. doroinicata usw. 1 ; der Administrationsbezirk eines Villicus hieß in Frankreich fiscus (= terre) 2. Die Abgaben bestanden in allen Produkten des Feldes und des Stalles: in Getreide, Yieh, Geflügel, Honig, Wachs, Wolle, Wein usw. und wurden zum Teil unter Berücksichtigung der besonderen Beschaffenheit des einzelnen Bauerngutes verteilt.

Für die wirtschaftliche Struktur belanglos sind:

1. die Eigentumsrechte des Bauern am Grund und Boden: ob es sein eigener war oder ob er dem Grundherrn zu eigen gehörte ;

2. die Rechtstitel, die den Bauern zu der Abgabe ver¬ pflichteten ;

8. die persönliche Rechtsstellung des Bauern.

Nach den neuen Feststellungen gewinnt es den Anschein, als ob die „freien Vertragsverhältnisse“, unter ihnen auch der Teil¬ bau schon in der Karolingerzeit eine größere Rolle gespielt haben, als man früher anzunehmen geneigt war3. Der Teilbau ist übrigens seinem innersten Wesen nach eine „eigenwirtschaft¬ liche“ Nutzungsform4.

Der Villicus führt nun die bei ihm abgelieferten Produkte an den Herrenhof oder einen der Herrenhöfe ab, wo sie zum Verzehr gelangen. Auf großen Grundherrschaften war die Liefe¬ rung in der Weise über das ganze Jahr verteilt, daß jeder Fron¬ hof die gesamten Vorräte für den grundherrlichen Unterhalt auf eine bestimmte Reihe von Tagen zu beschaffen hatte : die Leistung für je einen solchen Tag hieß Servitium, dessen schon im Cap. de villis Erwähnung geschieht. Auf großen Grundherrschaften gab es zwischen der Zentrale des Herrenhofes und den einzelnen Meiern noch Zwischeninstanzen : die Probsteien oder Präposi¬ turen, denen der Praepositus oder Procurator Vorstand. So war z. B. die Herrschaft des Grafen Siboto von Falkenstein (in

1 Im Codex Bavarus (Mitte des X. sc.), der uns über die Organi¬ sation des Grundbesitzes des Erzbischofs von Ravenna Aufschluß gibt. Siehe Hartmann, in den Mitteilungen des Instituts für öster¬ reichische Geschichtsforschung XI. Bd. 3. Heft.

2 Guerard, Pol. d’Irm. 1, 45.

3 Für Italien siehe die gründliche Arbeit von Silvio Pivano, I contratti agrari in Italia nell’ alto medio-evo. 1904. Dort findet man auch weitere Literatur. Vgl. auch Dop sch, W.Entwicklung.

4 Vgl. das auf S. 104 Gesagte.

5*

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Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter

Bayern) in vier Probsteien gegliedert, denen je eine größere An¬ zahl von Fronhöfen oder Meiereien zngehörte b

Aber die Bauernwirtschaft war doch nur die eine Quelle, aus der die landwirtschaftlichen Erzeugnisse in die Konsumtions¬ wirtschaft des Grundherrn flössen. Ein anderer Teil stammte aus der Gutswirtschaft, die der Grundherr durch seine Beamten auf seinem eigenen Grund und Boden betreiben ließ. Dieser in eigener Regie bewirtschaftete Teil des grundherrlichen Besitzes war das Salland, auch terra dominica, indominicata, in England lords demesne, angelsächsisch fthanes5 inland genannt.

Daß alle Grundherrn während des frühen Mittelalters eine eigene Produktionswirtschaft betrieben haben, ist neuerdings von kundiger Seite bezweifelt worden: W. Wittich, Die Frage der Freibauern (Zeitschr. der Saviguyst. Germ. 22); Altfreiheit und Dienstbarkeit des Uradels in Niedersachsen (Vierteljahrsschrift für Soc. u. W.Gesch. Bd. 4 S. 77). W. nimmt an, daß es auch „kleine Grundherrn“ ge¬ geben habe, „die in der Hauptsache von den Abgaben ihrer auf wenigen Höfen angesiedelten Hörigen lebten“. Ich halte das nicht für wahrscheinlich und glaube, daß die Gründe, die Ph. Heck gegen W.s Auffassung anführt, stichhaltig sind. Siehe P h. Heck, Beiträge zur Rechtsgeschichte der deutschen Stände im M.A. I, Die Gemein¬ freien der Karolingischen Volksrechte, 1900, und weiter unten den genannten Aufsatz. Ihm pflichtet jetzt auch Dop sch, 1, 287 bei. Außerdem sprechen auch, wie mir scheint, eine Menge „in der Natur der Sache“ gelegene Gründe gegen Wittichs Hypothese, die übrigens W. selbst nur noch in geringerem Umfange aufrecht erhält.

Über die Größe des Sallandes sollte einmal eine besondere Unter¬ suchung angestellt werden. Die bisherigen Darstellungen behandeln diese wichtige Frage immer nur im Vorbeigehen. Auch was Inama in seiner Monographie Sallandstudien (S.A. aus der Festgabe für Georg Hanssen zum 31. 5. 1889) S. 25 f. dazu beibringt, läßt unbefriedigt. Ich glaube, daß in den bisherigen Feststellungen viel Irrtümer untergelaufen sind. Hauptsächlich deshalb, weil es sehr schwer ist, in den Quellen zwischen dem Sallande und dem Hufenbesitz eines einfachen , zur Sammlung bestellten Villicus einerseits, dem Administrationsbezirk eines Meiers oder eines Probstes anderseits scharf zu unterscheiden. So scheinen mir z. B. Lamprecht (DWL. 1, 2, 756 ff.) ebenso wie Inama, DWG. 2, 161 fehlzugehen, wenn für die Größe des Sallandes Lamprecht für seinen Distrikt in der Karolinger- und Ottonenzeit, Inama für das 10. 12. sc. auch nur 1 Hufe ansetzen, wenn Lamprecht für den Schluß des 12. Jahrhunderts für S. Maximin, nur einen Durchschnitt von 26,5 Morgen, für Rupertsberg von etwa 30 Morgen, für das Trierer Stift von 50 Morgen berechnet. Dagegen sprechen die ganz verschiedenen Größenangaben in den Schenkungs-

1 Codex Falkensteiniensis ed. Hans Petz. (Drei bayerische Traditionsbücher aus dem 12. Jahrhundert. 1880.) S. XXII. XXIII,

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urkunden des 8., 9., 10. Jahrhunderts gerade in L.s Untersuchungs¬ gebiet (vgl. z. B. Mitt.Rhein. U.B. Bd. I Nr. 59. 52. 63), vor allem aber eine Menge Gründe der Ratio. Mir scheint, hier liegt eine Ver¬ wechslung zwischen Gutsland und Meierland vor (der mans. indom. war in den meisten Fällen nur Sammelstelle). Umgekehrt würde man, glaube ich, zu zu hohen Ziffern gelangen, wenn man aus den Pol. d’Irm. den Durchschnitt der cterra ind.’, die auf einen Fiskus ent¬ fiele , als Größe des Gutslandes ansprechen wollte (man würde dann einen Umfang des einzelnen Gutsareals von 250 ha = ca. 1000 Morgen annehmen müssen). Möglicherweise hat es im Verwaltungsbezirk eines Fiskus mehrere Gutswirtschaften gegeben. Sichere Berechnungen hegen folgenden Größenangaben zugrunde : das Salland des der Abtei Werden gehörigen Haupthofs Friemersheim betrug gegen Ausgang des 9. Jahrhunderts 607Va Morgen (einschließlich I2V2 sog. Bede- morgen). Rud. Kötzschke, Studien zur V erwaltungsgesch. der Großgrundherrschaft Werden a. d. Ruhr (1901), 13. An dienenden Hufen gab es 1 1 95/a , die K. m. E. richtig zu je 30 Morgen ansetzt, so daß sich ein fronpflichtiges Bauernland von 3645 Morgen ergibt: das Salland verhielt sich also zu dem Hufenland wie 1:6. (Die „Studien“ K.s gehören zu dem besten, wTas über grundherrliche Organisation in letzter Zeit geschrieben ist: der Verfasser hat An¬ schauung.) Ich selbst rechne z. B. für das Kloster Prüm einen Durchschnitt von 92,4 preußische Morgen heraus (MRh. UB. Bd. I Nr. 135); für die Abtei Lorsch 165 Morgen, für Fulda 122 Morgen; für das Kloster Weißenburg (13. sc.) 362 Morgen (Trad. poss. que Wirz. ed. Zeuss, p. 273 ff.); für das englische Kloster Ramsey ergeben sich 300 acrae und mehr (Cart. Mon. de Ramesia 1 [1884], 405. 490). Seebohm, The Englisch Village Community (1883), deutsch 1885, 137 nimmt für das 10. Jahrhundert die Größe des inland sogar auf 9 hidae, die des Bauernlandes auf 21 hidae als den Durchschnitt des Manor an (1 hida = 6 virgata; 1 virg. = 24 acrae). Vgl. auch Ph. Heck, Die kleinen Grundbesitzer der brevium exempla in der Vierteljahrschrift für Soz. und Wirtsch.Gesch. IV. Bd. S. 354. H. nimmt selbst für die kleinste Kategorie der „Grundherrn“ eine Größe des Sallandes von „erheblich mehr als 30 Morgen“ bis 240 Morgen an. M. E. mit Recht. Und jetzt A. Dop sch, Wirtschaftsentwicklung 1, 233 ff. , der zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt. D. vertritt die Ansicht, daß Dominikalgut und Eigenwirtschaft (D. meint Gutswirtschaft) sich „nicht völlig“ decken. Seine Gründe, mit denen er diese Ansicht verteidigt, scheinen mir nicht immer stichhaltig. Insbesondere sehe ich das Ge¬ wicht seines Hauptarguments : daß die Quellen auch von mansi in- dominicati, von Salhufen sprechen, nicht ein. Wie sollten sie nicht? Das Herrenland, das wir uns darin stimme ich D. völlig bei in den meisten Fällen als Streubesitz denken müssen, war doch in allen Dorfsiedlungen mit Hufenverfassung aus einzelnen Hufen zusammen¬ gesetzt, die selbstverständlich auch im Gemenge mit Bauernland lagen. Wie sollten sie anders als mit dem Ausdruck „Salhufen“ bezeichnet werden? Es scheint mir immer noch die ganz irrtümliche Vorstellung in den Köpfen zu spuken, als bedeute eine Gutswirtschaft im Mittel-

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alter Wirtschaft auf arrondiertem Areal oder auch nur mit Notwendig¬ keit mit eigenem Personal und Geschirr. Es wird alsobald gezeigt werden, daß das keinesfalls die Regel bildete.

Das Salland wurde vom Frordiof aus, unter der Leitung' des Meier, bewirtschaftet. Der Umfang dieser Eigenwirtschaft scheint geschwankt zu haben. Die Regel war wohl der Umfang einer großen Bauernwirtschaft, das heißt die Wirtschaft eines Drei¬ oder Vierhufners.

Die Arbeitskräfte, mit denen die Gutswirtschaft be¬ trieben wurde, bestanden zum Teil aus ledigem Gesinde und verheirateten Gutstagelöhnern , die (aber wohl nicht regel¬ mäßig?) auf dem Hofe selbst wohnten und entweder ein kleines Anwesen bewirtschafteten, um ihren Unterhalt zu gewinnen oder ein festes Deputat von der Herrschaft erhielten: nicht viel anders als die kontraktlich gebundenen Arbeiter unserer großen Güter bis in die Gegenwart. Dabei war das persönliche Rechts¬ verhältnis dieser Gutsarbeiter verschieden gestaltet. In Italien scheinen sie sich nicht weit von den antiken Sklaven entfernt zu haben.

Diese Gutsarbeiter sind die servi und ancillae (oder praebendarii, servi cottidiani) der deutschen Quellen (MRh. UB. Bd. I Nr. 41 a. 804) „ut servi et ancillae coniugati et in mansis manentes“ Wirtemberg. UB. 1, 92; wer kein beneficium erhält, unde vivit, „qui hoc non habuerit, de dominica accipiat provendam“ Cap. de villis c. 50 ; in den Italien. Urkunden werden sie „massarii“ genannt = servi mass. : Inquisitiones von 862 und 888 für das Kloster Bobbio (Hart mann, Zur W.Gesch. Italiens, S. 5 0 ff.) ; Cotsetles in England , die schon nach den Rectitudines singularum personarum entweder festes Deputat oder den Morgen im Felde, einen Anteil am Erdrusch oder an anderen Erträgen, ein oder mehrere Stück Vieh in der herrschaftlichen Herde als Entgelt für ihre Arbeitsleistung empfangen. (Der sächsische Text der Reet, stammt aus dem 10. sc.; die lateinische Übersetzung aus dem 11. sc., publ. in Thorpes Ancient Laws and institutions of E. 1 [1840] p. 433 441 ; in Sonderausgabe von H. L e o 1842 mit einer interessanten, jedoch nicht einwandsfreien Einleitung.) Ob die ‘mancipia’, die z. B. das Fragm. ampl. Pol. Sithiensis erwähnt (App. zum Pol. d’Irm., 397) in diese Kategorien des unfreien Gesindes gehören , wie v. Maure r , Fronhöfe 1, 335 annimmt, ist mir zweifelhaft. Mancipia stehen oft im Gegensatz zu familia: cum familiis et mancipiis. Cod. Laur. 1, 100. 113.

Bei der Inventuraufnahme der Villa Asnapium werden 17 Holz¬ häuschen auf dem Hofe mit ebensoviel Stuben und reichlichem Zu¬ behör ermittelt. Das waren wohl die Wohnungen der Gutstagelöhner? Brev. rer. fisc. Auszüge und Übersetzungen im App. zum Pol. d’Irm., 301, und bei Meitzen, Siedlungen 1, 603 ff.

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Wenn uns aus den Quellen1 das Bild einer stark differen¬ zierten Arbeiterschaft schon im 9. und 10. Jahrhundert ent¬ gegentritt, so wird man dieses nicht ohne weiteres für ein Ab¬ bild der Wirklichkeit, halten dürfen. Man hat allzuoft den Fehler begangen, aus dem Cap. de villis den Zustand der Gfuts- wirtschafb zur Karolingerzeit zu rekonstruieren. Man darf aber nicht vergessen, daß in derartigen Anweisungen oder in Auf¬ zählungen aller möglichen Fälle, wie sie die Rechtsbücher ent¬ halten, eben überwirkliche Idealbilder zutage treten.

Die zweite Gruppe von Arbeitskräften, über die der Herr oder sein Meier verfügt, sind die zu Frondiensten verpflichteten Bauern im Dorf. Diese Einrichtung, daß wirtschaftlich im übrigen selbständige Bauern (wohlgemerkt rechtlich durchaus verschie¬ dener Qualität) einen Teil ihrer Arbeitskraft zur Bestellung des herrschaft hohen Gutslandes verwenden, sei es in Form von Spann¬ diensten, wenn sie über ein eigenes Gespann verfügten, sei es in Form von Handdiensten, wenn nicht2, sei es endlich in Form von „Kopfdiensten“ 3, ist dem Mittelalter wohl aus der römischen Welt überkommen. Jedenfalls ist sie während des Mittelalters in ganz Europa, und zwar in einer fast völlig übereinstimmenden Form und Gestalt verbreitet. Als der Mönch Cesarius im 13. Jahr¬ hundert das Prüm er Pfründenbuch glossierte, konnte er zu dem Kapitel der bäuerlichen Frondienste die Anmerkung machen : „quo modo mansionarii debent jugera dominica arare Seminare colligere et in orreum deducere suo tempore, et sepem facere ac triturare, fere omnibus patet“ 4. Eine eingehende Beschrei¬ bung der überall wiederkehrenden Frondienste erübrigt sich also wohl heute erst recht5.

1 Schon in den Volksrechten dann im Cap. de villis; dann in den Reet. sing. pers. , in denen nicht weniger als 16 verschiedene Berufsarten von Gutstagelöhnern aufgezählt werden.

2 „qui . . . non habet animalia . sive animal ad hoc utile veniet quando ei precipitur a nostro ministro cum suo fossorio et cooperabitur aliis hominibus quod ei iniunctum fuerit.“ Cesarius zum Prümer Urbar MRh. UB. 1, 145 Note 3.

3 In England (auch in andern Ländern?) waren die Aufsichts¬ beamten fronpflichtige Bauern, die in den Hofgerichten von ihren Ge¬ nossen gewählt wurden. So der Reeve, der das Pflügen überwacht, der Hayward, dem die Verantwortung für die Erntearbeit obliegt, der Constable u. a. Hone 67 ff.

4 MRh. UB. 1, 144 Note 1.

5 Die besten Übersichten enthalten das Pol. d’Irm. (9. Jahrb.) und das Gart. Mon. de Rameseia (13. Jahrh.) a. a. 0. p. CCIV f. 281 ff.

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Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter

Die Fronpflicht der Bauern verknüpfte die Bauernwirtschaft mit der Guts Wirtschaft auf das innigste. Wie wir uns denn nur ein richtiges Bild von der Wirtschaftsverfassung des Mittelalters machen, wenn wir uns die grundherrliche Wirtschaft ein¬ geschachtelt denken in die volkstümliche Dorfwirtschaft, von der sie einen integrierenden Bestandteil bildet. Wo Flurzwang bestand, unterlag ihm das Herrenland ebenso wie das Bauern¬ land ; die herrschaftliche Herde trieb zusammen mit der Bauern¬ herde auf die Gemeinweide ; oft ist der Herr der Curtis domini- calis (des Fronhofs) verpflichtet, die Zuchttiere zu halten, die von der ganzen Dorf herde benutzt werden konnten 1 usw. Selbst wo der Grundherr neue Ansiedlungen auf seinem eigenen Grund und Boden ins Leben rief, wird doch in den meisten Fällen eine Art von Dorfgemeinschaft, in die die Guts Wirtschaft frei¬ willig eintrat, geschaffen sein.

2. Die gewerbliche Produktion

Gerade hier in der Schilderung dessen, was wir gewöhnlich gewerbliche Tätigkeit nennen, lassen uns die meisten Darstellungen im Stich 2, weshalb ich es für meine Aufgabe ge¬ halten habe, über die Organisation der gewerblichen Arbeit im Rahmen der Fronhofwirtschaft etwas eingehender zu berichten. Die Quellen bieten dafür einen überreichen Stoff dar, der merk¬ würdigerweise nur zum geringen Teil verarbeitet worden ist.

In der Regel, wenn von der gewerblichen Tätigkeit auf den Fronhöfen des früheren Mittelalters gehandelt wird, begnügt man sich damit, die bekannte Liste derjenigen Berufe aufzu¬ zählen, von denen Karl M. im Cap. de villis den Wunsch aus¬ spricht, daß sie auf allen seinen Villen vertreten sein sollen. Damit aber macht man sich die Sache denn doch etwas zu leicht. Denn man würde zweifellos ein ganz falsches Bild von der gewerblichen Organisation jener Jahrhunderte bekommen, wenn man die im Cap. de villis aufgezählten „Handwerker“ einfach auf alle Grundherrschaften übertragen wollte 3. Das ist aus mehr

1 Siehe die Belege bei G. Landau, Das Salgut (1862), 35 ff. Vgl. auch v. Below, Entstehung der deutschen Stadtgemeinde (1889), S. 16.

2 Am ausführlichsten handelt Inama, DWG. 2, 253 ff. 290 ff. von diesen Dingen.

3 Vgl. auch v. Below, Die Entstehung des Handwerks in Deutsch¬ land in der Zeitschrift für Soz, u. Wirtschaftsgesch. 5 (1897), S. 128 f.

Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft

73

als einem Grund unzulässig. Erstens nämlich muß doch bedacht werden, daß jene Liste ein Programm darstellt, das keineswegs auch zur strengen Ausführung gelangt sein wird. Selbst nicht auf den kaiserlichen Domänen, wie uns die Inventaraufnahmen erkennen lassen, die wir aus den Zeiten Karls selber besitzen* 1. Und dann dürfen doch die Organisationen der kaiserlichen Güter nicht ohne weiteres gleichgedacht werden mit denen kleinerer oder mittlerer Grundherrschaften. Ferner wird man unterscheiden müssen zwischen geistlichen und weltlichen Grundherrschaften. Gerade für die Organisation der gewerblichen Tätigkeit wurde der Umstand bestimmend, daß in jenen (meist, nicht immer!) die weiblichen Hände fehlten. Endlich muß man ganz besonders in Rücksicht ziehen die großen Klöster, in denen ein Teil der Mönche selbst gewerblich tätig war.

Ich will im folgenden versuchen die genannten Verschieden¬ heiten tunlichst zu berücksichtigen und ein Bild zu entwerfen von dem normalen Zustande der gewerblichen Produktion auf den Grundherrschaften oder besser: von dem, was überall an¬ nähernd gleichmäßig wiederkehrt.

Da ergibt sich nun vor allem, daß auch der Bedarf an ge¬ werblichen Erzeugnissen (genau wie der an landwirtschaftlichen Produkten) gedeckt wurde durch ein Zusammenwirken der eigenen (Fronhof-) Wirtschaft mit den bäuerlichen "Wirtschaften im Dorfe2. Wir machen uns von dem kunstvollen System der gewerblichen Produktion, das dadurch entstand, am besten ein klares Bild, wenn wir den Produktionsprozeß fächerweise in seinen einzelnen Stufen uns zu vergegenwärtigen trachten.

und jetzt vor allem die eindringende Kritik des von ihm nur „so¬ genannten“ Cap. de villis bei Dop sch, W.Entw. 1, 26 fif.

1 In dem Spec. brev. rer. fisc. Car. M. heißt es von einer Villa: „ministeriales non invenimus aurifices neque argentarios ferrarios neque ad venandum neque in reliquis obsequiis.“

2 Für diese zu „gewerblichen“ Fronden verpflichteten Hintersassen im Dorfe haben wir bisher keine Bezeichnung. Ich habe nichts da¬ gegen, sie als „Handwerker“ und dann im Gegensatz zu den auf dem Fronhof selbst beschäftigten „Hofhandwerkern“ als „Landhandwerker“ zu bezeichnen nach dem Vorgang von F. Philippi, Die erste Industrialisierung Deutschlands (im Mittelalter), 1909, S. 9. Aber, aber, Vorsicht! Lieber setzen, und noch lieber sie etwas um¬ ständlich als Gewerbefronpflichtige Hintersassen (Bauern) bezeichnen. Jedenfalls nicht vergessen: sie bilden das Rückgrat der Fron¬ hof- d. h. einer Eigenwirtschaft!

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Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter

a) Die Nahrungsmittelgewerbe

Das Brot lieferten die Bauern zum Teil in gebrauchsfertigem Zustande1, nachdem sie das Korn vorher in den Dorfmühlen hatten mahlen lassen und das Mehl im eigenen Backofen (?) verbacken hatten. Die Kegel war das aber auf dem Kontinente jedenfalls nicht. Vielmehr scheint durchaus der normale Fall der gewesen zu sein, daß die Bauern nur das Getreide oder (die Müller) das Mehl lieferten2 3, die Herrschaft aber das Brot in den eigenen Backhäusern hersteilen ließ. Ein (bahchus (und wie hier gleich vorweg erwähnt werden mag : ,bruhus ) scheint zu den Wirtschaftsgebäuden jedes halbwegs ansehnlichen Fron¬ hofs gehört zu haben8. Auch eigene Mühlen haben wohl die meisten Grundherrn früh besessen4 * * *, wenn sie es nicht vorzogen,

1 Das gilt vor allem für England: siehe Kemble, Cod. diplorn.

1, 193 ; vgl. 1, 296. 299. 311; 2, 46. 355; ferner das Ramsey Cartular, und vgl. dazu die fleißige Arbeit von Nellie Neilson, Economic conditions on the Manors of Ramsey Abbey. Philadelphiaer Diss. 1898. In den Quellen anderer Länder sind mir Brotlieferungen selten begegnet. Z. B. im Urb. von Prüm: siehe Lamp recht, DWL. 1,

2, 787; ferner im Urb. der Abtei Werden: dazu R. Kötschke, Studien, 17: hier müssen (abermals eine etwas andere Form!) aus den

2 Modii Roggen, die der Fronhof lieferte, 24 Brote von den Bauern o-ebacken werden; vielleicht eben in dem grundherrlichen ‘Bachus’?

2 Das Kloster St. Germain empfängt den Zins - bestehend in Getreide, Mehl, Malz, Geld von 71 Mühlen. Guerard, Pol. d’Irm. Vol. I § 342. Dem Kloster Corbie zinsen 15 Mühlen zusammen 2000 modia Mehl; Statuta ant. abb. St. Petri Corb. von 828 im App. zum Pol. d'Irm. p. 312. Im Traditionsbuch des Klosters Weißenburg ist die Wendung üblich: „molendini . . . unde veniunt modii . . .“ 1. c. passim.

3 Die beiden Gebäude zusammen heißen ‘Camba’ : Cambam vul- gariter appellamus ‘bahchus’ et cbruhus\ Glosse des Cesarius zum Prümer Urbar. Cambae waren sehr häufig, aber doch wohl nicht auf jedem Fronhof, wie wir aus der Tatsache schließen dürfen, daß in den Güterverzeichnissen ihr Vorhandensein besonders hervorgehoben wird. MRh. UB. Bd. I. Wir finden die ‘Camba’ ebenso in Frankreich: siehe den Plan der Abtei De la Sainte Trinite de Tiron im Cartulaire de l’Abbaye . . . publ. par M. Luc. Merl et 2 Vol. 1883; ferner die sämtl. Polypt. , die Irm. publiziert hat; in England: Ramsey Cart. ; Lib. niger im App. zum Chron. Peterb. 1. c. 167 ff.

4 Gutsmühlen werden schon in den Schenkungsurk. Chlodwigs

erwähnt; ebenso häufig in allen späteren Urk. Siehe z. B. die Kauf¬

verträge der Kirche S. Bertin aus dem 8. sc.; im folgenden Jahr¬

hundert errichtet dann das Kloster die ersten unterschlächtigen Mühlen.

Cart. Folguini. No. 48; zit. bei Kowalewsky, 1, 40. Vgl. die vorhin

Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft

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den Dorfniühlen die Mahlung und Schrotung eines bestimmten Quantums Getreides als Fron aufzulegen* 1. Auf den Mühlen bzw. den dazu gehörigen Ländern wurden Bauern eingesetzt2, in den Back- (und Brau)häusern arbeiteten entweder ständig gegen Deputat angestellte Gutstagelöhner; oder die Arbeit wurde von dazu verpflichteten Bauern oder Stellenbesitzern die Reihe um verrichtet3 * * * * 8.

erwähnten englischen Quellen und außerdem Reg. . Priorat. B. M. Wigomiensis. Ed. Will. Haie Haie (Cambd. Soc.) 1865.

Die Gutsmühlen wurden dann mit der Zeit „Bannalitäten“ : „est ibi molendinum venterititum, ad quod omnes villani de Broughtone, Warde- boys, Caldecote, Wodehyrst et Waldhyrst debent sectam“, Cart. Mon. de Rameseia 1 (1884), 833. Über Bannmühlen und Verwandtes im deutschen Recht siehe Waitz, Verf.Gesch. 8, 275 ff. In den Be¬ schreibungen der französischen Klösteranlagen fehlt die Mühle nicht: Clairvaux (XIII. sc.) Descriptio Positionis seu situationis Mon. Clarae Vallensis in den Opp. S. Bernardi ed. Mabillon. Nova ed. (1719)

2, 1324. 25 : Abtei De la Sainte Trinite de Tiron 1. c.

1 „unicuique molinario mansus et VI bonuaria de terra dentur: quia volumus ut habeat unde ea quae ei jubentur perficere valeat et illam molturam salviam faciat: id est ut boves et reliquam pecuniam habeat, cum quibus laborare possit, unde et ipse et omnis familia eius possit vivere“, Stat. Corbei. im App. zum Pol. d’Irm. p. 312 f. Als¬ dann : Der Müller hatte: 1. Mehl zu zinsen (s. Anm. 2 S. 74); 2. statt der Frondienste , von denen er ausdrücklich befreit wird , herrschaft¬ liches Korn zu mahlen. Für England siehe Kowalewskya. a. 0.

3, 183. Das Getreide wurde wohl häufig gleich auf dem Transport aus der zinsenden Bauernwirtschaft in den Fronhof vermahlen, wie es anschaulich im Cart. Mon. de Ram., 290 beschrieben wird: „ducet unam ringam frumenti ad molendinum de Houcthone ; quam unus cottarius de Sancto Ivone custodiet salvo, quousque illud frumentum redactum fuerit in farinam quam postmodum idem Ricardus ibidem recipiet et ducet apud Rameseyam.“ Übrigens kann man in diesen und ähnlichen Fällen nie wissen, ob es sich um eine alte fronpflichtig gewordene Dorfmühle oder um eine vom Herrn errichtete Gutsmühle handelt.

2 „sunt ibi farinarii 3, unus molendinarius, tenet de terra iornalem

pro sua vestimenta“, Reg. Prum. c. 2. „illi farinarii, qui in circuitu

sunt, unusquisque facit dies 5 inter messem et pratum et corvadas“,

ib. c. 34. Wahrscheinlich hatten die Mahlfron (Anm. 1) nur die

bequem zum Herrenhof gelegenen Mühlen, während man den cin circuitu’

belegenen die gewöhnliche Ackerfron auferlegte.

8 In der Camba „tenentur homines ibidem manentes panem fermentatum coquere et cervisiam braxare“. Von den Insten hatten einige das Amt des Brotbackens und Bierbrauens regelmäßig aus¬ zuüben. Dazu kamen dann Extraleistungen (der Bauern?), z. B. wenn der Herr Abt in die Gegend kam „tenentur frumentum de curia

Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter

Daß der Bedarf an Bier auf ganz ähnliche Weise wie der Brotbedarf gedeckt wurde, ist schon aus der vorhergehenden Darstellung ersichtlich. Nur daß eben Malz (bratsa) statt Ge¬ treide oder Mehl geliefert wurde. Ganz ähnlich wurde der Wein* 1 und in den südlichen Ländern das Öl2 gewonnen. Salz mußte entweder gekauft werden (wie ich am geeigneten Orte noch zeigen werde), oder wurde ebenfalls vom Grundherrn auf eigenen Salinen hergestellt3; oder wurde als Zins von bäuer¬ lichen Salinen erhoben oder als Zollgefälle 4.

dominica ad molendinum deducere et molere et ad cambarn dominicam reportare et paneni facere et coquere et cervisiam braxare ; ebenso wenn den Leuten auf dem Felde (während der Ernte ?) Brot und Bier verabreicht wurde „illum panem ac cexwisiam ipsa familia in suo ordine tenetur et coquere et brazare“. Oomm. des Abtes Cesarius zum lieg. Prum. ; „bracium et panem per ordinem preparare“ ; „per ordinem panem et cervisiam parare“ ; „et panem quando opus est parare“. Tracl. possessionesque Wizenb. (ed. Zeuss 1842), 274. 277. Vgl. auch Kowalewsky, a. a. 0. 8, 59. Im Kloster Peterborough linden wir im Backhaus: 2 Bäcker, cqui victum militis habent’,

1 vannator (Getreidereiniger) , 2 Bäcker mit täglich 2 Broten und

2 cbisos cum cervisia’, 2 Caratores, 2 servientes molantes ; im Brau¬ haus : 1 Braumeister (braccharius) , 2 Caratores ligni , 8 servientes aquarum. Die Beköstigung erfolgt entweder cad panes5 oder cad blada5, das heißt , das Deputat wird in Form von Brot oder von Getreide gegeben. Daneben wird schon Geldlohn bezahlt (Anfang des 12. sc.). App. zum Chron. Pet., 187 ff.

1 Lamprecht, DWL., dessen Untersuchungsgebiet ja ein spezi¬ fisches Weinland ist.

2 Ein anschauliches Bild von der Ölgewinnung gibt das Plac. Arpirandi Diaconi (A. 882), das im App. zum Pol. d Irm. mitgeteilt ist (p. 348). Es bezieht sich auf oberitalienische Verhältnisse: servi homines etc. „querunt se subtrahere ad colligendum olivas ex olivetis illas qui sunt dominicatas de ista curte de Lemunta et eas premere, vel oleum que exinde exiit evegere nolunt, sicut suorum fecerunt parentes et consortes de ipsas locas Cevenna, Cantoligo, Selvaniaco et Mandrenino a lungo tempore“. Einem ‘pressoir banal’ begegnen wir auch auf der Abtei De la Sainte Trinite de Tiron. Siehe den Grundriß des Klosters im Cart. der Abtei publ. par Me riet. Über Ölgewinnung des Klosters der Hl. Julia in Brescia: Cod. Langob. p. 713; des Klosters Bobbio Hartmann, 52 f.

3 In einer Urk. von 716 (Cod. dipl. LXVII) tauscht König Athelbad mit dem Kloster Worcester Land, um ein Salzwerk anzulegen: 3 sheds

(casuli) und 6 Öfen. Im 13. sc. finden wir das Kloster selbst im Besitz eines Salzwerks in Wich (Droitwich), das ihm jährlich 280 mittae

(= 2800 busheis) also schon wesentlich zum Verkauf liefert. Reg. Prior. B. M. Wigorniensis ed. W. Haie Haie (Cambr. Soc.)

Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft

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b) Die Bekleidungsgewerbe

Zunächst sind „Textilindustrie“ und Schneiderei ins Auge zu fassen, jene Gewerbe, die uns mit gewebten Stoffen bekleiden. Wir finden sie auf den Grundherrschäften auf ganz verschiedene Weise organisiert, ohne daß wir die Gründe anzugeben ver¬ möchten, weshalb im einzelnen Falle die eine oder die andere Form gewählt ist. Entweder nämlich ist der gesamte Pro¬ duktionsprozeß: von der ersten Behandlung des rohen Flachses oder der rohen Wolle an bis zum fertigen Gebrauchsgegenstande (Kleidungs- oder Schmuckstück) in die Bauernwirtschaft verlegt, mag eine einzige Bauernfamilie alle Teilverrichtungen nach¬ einander vorgenommen haben, oder mag die Herstellung ver¬ schiedenen Bauernfamilien obgelegen haben: jedenfalls finden wir den fertigen Gebrauchsgegenstand unmittelbar vom zinspflichtigen Bauern an den Herrn übergehen.

Die 'femoralia’ , die die .Mönche des Klosters Prüm trugen, wurden (noch im 13. sc.) von den Frauen der Bauern genäht, nach dem die Stoffe (aus Leinwand) von ihnen auch hergestellt waren, wie uns Cesarius mitteilt : „mansi nostri tenentur annuatim camsiles facere. Camsil enim est lineus pannus , de puro lino compositus , habens in longitudine VTH ulnas et in latitudine II que femoralia tenentur femine hominum nostrorum suere et camerario conventus ita consuta . . . debent representare.“

Die Weiber der Bauern im Gebiete der Abtei Fulda hatten dem Kloster zu liefern: mappae (Altardecken?), mensales, mensalia (Tisch¬ decken?), lodices (andere Decken), tunicae, pellicia etc. Schannat, Hist. Fuld. 1 (1729), 26 ff. aus dem Urb. der Abtei (9. 11. sc.). 'Tunicae ad opus ecclesiae’ (also Meßgewänder?) finden wir auch unter den Abgaben im Reg. Prum.

Manchmal leisteten auch fleißige Nonnen die Arbeit, die sonst den ßauerfrauen zufiel. So hatten die Klosterfrauen von S. Andrea ur¬ sprünglich an den Königshof in Florenz , später an den Bischof ein Gewand aus Ziegenwolle zu liefern. Die Nonnen von Or San Michele hatten ein 'Laboratorium’, in dem sie (mit ihren Mägden) webten. Der Abt von Nonantula' legte ihnen als Oberhem des Klosters die

1, XI. Andere Stellen bei Leo, Reet., 203. Häufige Schenkung von Salinenanteilen an Kirchen und Klöster in Italien. Belege bei Ad. Schaube, Handelsgesch. der roman. Völker usw. (1906), S. 46 Anm. 3 (11. sc.). Ebenso wie wir zahlreiche Kirchen und Klöster im Besitze von Salinen finden (10. sc.). Vgl. Schaube, a. a. 0. S. 72. 83. Für Deutschland siehe die ausführliche Darstellung bei Inama, DWG. 2, 238 ff., und bei Dahn, Könige der Germanen IX, 2 (1905), 428 ff. (für das Gebiet der „Baiern“).

4 Über Salinenzölle und Salinenzinse siehe Schaube, a. a. O., nam.

S. 83 f.

7g Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter

Pflicht auf, ihm jährlich aus Wolle, die er durch seinen Boten schicken würde, 5 Stück starken Stoffes anzufertigen. Die Belege bei David - sohn, Gesch. von Florenz 1, 91. Betrachtet man das Nonnenkloster selbst als c Fronhof’, so gehört die Form der Bedarfsdeckung dem gleich zu besprechenden nächsten Typus an.

Es mag daran erinnert werden , daß von den hörigen Bauern dei Germanen schon zu Tacitus Zeiten Westes’ geliefert werden (Germ., 25), wie denn wohl die ganze eigentümliche Verquickung der bäuerlichen mit der herrschaftlichen Wirtschaft bei der Erzeugung der geweib- lichen Gegenstände spezifisch deutschen Ursprungs ist.

Oder aber (und das war wohl, worauf die häufige Erwähnung dieses Falles' in den Quellen schließen läßt, die Regel): Die Bauern lieferten nur das fertige Gr e w e b e (aus Leinwand oder Wolle) \ Sei es , daß sie zu dessen Herstellung die selbst ge¬ wonnenen und verarbeiteten Rohstoffe verwendeten2, sei es, daß sie von der Herrschaft die Rohstoffe bekamen3. Diese waren dann von anderen Bauernwirtschaften gezinst oder in der Gutswirtschaft hergestellt worden.

Auf dem Herrenhofe wurde natürlich in allen den Fällen, in

1 Vgl. aus der Fülle der Quellenstellen z. B. für England: das Lib. niger des Klosters Peterborough, a. a. 0. p. 159. 162. 163. 165 (B . . . ulnas de panno“ . . . ulnas de lineo panno“);

für Frankreich: das Urb. der Abtei St. Bertin in der Coli, des C artul. de la France Tome IV (1840) Nr. XNI: ancillae XXII faciunt ladmones XII („ladmo est pensum textile mulieribus lidis vel obnoxiis impositum“: Guerard, Glossar, zum Pol. dTrm.) „de illis ingenuis feminis XIII veniunt ladmones VI et dimid. ähnl. XXIV. XXV und öfters ;

für Deutschland: die Urb. von Prüm, Fulda, Lauresh., Weißen¬ burg u. a. ; ferner W. Wittich, Die Grundherrschaft in Nordwest¬ deutschland (1896), insbes. S. 297 ff. (12. sc.)

Vgl. auch die in Anm. 2 und 3 angeführten Belegstellen.

2 „feminae, quae camsiles faciunt, colligunt linum et trahunt de aqua et parant“. MRh. UB. 1, 150. „Pannum ex proprio lino . . . debent“ Cod. Lauresh. III. p. 178. 219. „Lidi LX quorum singuli pannum ex proprio lino“ (debent) Schannat, Hist. Fuld. 1, 31; „de proprio lino camsile . . . facere debent“ Cod. Wirz. ed. Zeuss, 275.

3 „Iste lidae ancillae si datur eis linificium faciunt camsilos. Et illa ancilla facit de lana dominica sarcillam.“ Pol. d’Irm. p. 150. 176; vgl. ebenda p. 109. 212. 244 und öfters.

Es ist wohl nicht richtig, wenn v. Below, Territorium und Stadt (1900), S. 342 annimmt, daß die abgabepflichtigen Bauern immer nur selbstbeschaffte Rohstoffe verarbeitet hätten. Nebenbei bemerkt: daß hier weder von „Lohnwerk“ noch von „Handwerk“ die Rede ist, ist selbstverständlich. Vgl. für die Gesamtorganisation des Wollgewerbes in den deutschen Fronhöfen noch Erich Kober, Die Anfänge des deutschen Wollgewerbes (1908), 13 ff.

Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft

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denen die Bauern schon die fertigen Gebrauchsgegenstände lieferten, überhaupt keine gewerbliche Tätigkeit mehr verrichtet. Lieferten die Bauern jedoch nur die Gewebe ab, so mußten sie in der Wirtschaft des Grundherrn vielfach wohl noch veredelt und immer zu Kleidern usw. weiter verarbeitet werden. Wir dürfen annehmen, daß die Schneide rarbeit in der Regel von den Frauen des Hauses samt ihren Mägden verrichtet wurde. Wo weibliche Arbeitskräfte fehlten, wie in den Kapiteln und Klöstern, sorgten eigens gehaltene Schneider für die Anfertigung der Kleider. Kein Kloster wohl ohne eigene Schneiderwerkstatt b

Wo wurden die Tuche gewalkt? Wohl in den herrschaft¬ lichen Walkmühlen, die sich jedenfalls auf den größeren Fron¬ höfen vorfanden1 2 3.

Wo wurde gefärbt? Ebenfalls auf dem Herrenhofe ? Darauf läßt die Tatsache schließen, daß die Grundherrn sich mit Farb¬ stoff versehen, sei es durch Kauf auf den Märkten, wie die Mönche von St. Germain, sei es dadurch, daß sie die Bauern zur Lieferung verpflichten3.

Aber auch ausdrücklich genannt wird der ctintor5 in den Quellen als gewerblicher Arbeiter im Herrenhofe (Abtei!)4.

Nun war aber endlich noch ein dritter Fall möglich : daß die gesamte Herstellung der Kleider (von der ersten Behandlung der Rohstoffe an oder wenigstens das Spinnen und Weben) der herrschaftlichen Wirtschaft oblag. Das trat wohl namentlich

1 Kloster Farfa (10. sc.): „in fronte ipsius sit alia domns longi- tudinis pedes XL et V , latitudines XXX. Nam ipsius longitudo pertingat usque ad sacristiam et ibi sedeant omnes sartores atque sutores ad suendum, quod camerarius eis praecipit. Et ut prae- paratam habeant ibi tabulam longitudinis XXX pedes et alia tabula afixa sit cum ea, quarum latitudo ambarum tabularuni habeat VII pedes“ Consuetudines Monasticae Vol. I Cons. Farf. (1900) p. 138. 39.

„In sartrino“ des Klosters Peterborough sitzen 2 Schneider,

2 homines qui abluunt pannos, 1 homo qui affert ligna, 1 corvesarius (Flickschuster) 1. c. p. 167 ff.

Vgl. im übrigen J. von Schlosser, Die abendländischen Kloster¬ anlagen des frühen M.A. 1889.

2 Auf dem Kloster Corbie im 9. sc., ebenso wie auf dem Kloster Clairvaux im 13. sc. (s. unten S. 80), wie auf dem Kloster Subiaco im 11. sc. Reg. Sublac. 98 u. 154 bei Schaube, 46.

3 Vermiculum (= vermeil = Scharlach?) müssen die Bauern den Mönchen von St. Remi de Reims liefern; Guerard, Pol. d’Irm., p. XXX; ebenso findet es sich als Abgabe im Prümer Urbar; vgl. Lamprecht, DWL. 12, 787.

4 Davidsohn, Forschungen 3, 211. Vgl. S. 80 Anm. 1.

80 Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliclie Zeitalter

auf größeren weltlichen Grundherrschaften häufig ein, weshalb denn hier die Anzahl der geschäftigen Mägde im eigenen Hause so groß wurde, daß ihnen besondere Räume angewiesen werden mußten. Das sind die ominösen Ginecien.

Man findet in den Quellen selten Ginecien erwähnt; begreiflicher¬ weise , da sie auf den geistlichen Herrenhöfen häufig fehlten. Doch begegnen wir ihnen auch hier; wenn zwar nicht auf den Haupthöfen, so doch auf größeren Meierhöfen. So wurden auf dem der Abtei Werden a. d. Ruhr gehörigen Fronhof Leer während des 11. und 12. Jahrhunderts regelmäßig sieben Frauen mit Wollarbeit beschäftigt, für deren Unterhalt bestimmte Einkünfte angewiesen waren. R. Kötzschke, Studien, 80. Die Darstellungen stützen sich fast immer nur auf die darauf bezüglichen Stellen des Cap. de villis; so die beste, die aus der Feder v. Maurers stammt (Fronhöfe, 1, 241 ff.). Aber es gab G. offenbar auch auf anderen großen weltlichen Grund¬ herrschaften , wie es heute noch auf jedem Rittergute Ginecien gibt. Siehe z. B. die Urkunde über die Schenkung des Grafen Eberhard an das Kloster Mosbach vom Jahre 728, in der es heißt: „de mancipio nostro scopulicolas quas in genicio nostro habuimus plus minus numero quadraginta. Brequigny, Dipl., 1, 458. Das G. des Gutes Stephans¬ wert enthält 24 Weiber, die Kleider und Fußlappen herstellten. Ygl. noch das Geneceum puellarum auf der Besitzung des Grafen Egbert in Flandern im 10. Jahrh. MG. SS. 15. U. p. 583. Z. 2.

Aber in geistlichen Fronhofwirtschaften (Klöstern !) begegnen wir auch gewerblichen Arbeitern, die die Anfangsprozesse der Weberei ausüben, z. B. die Wolle verarbeiten1.

Werden in diesem Falle die Spindeln von den Bauern ge¬ liefert? Ich bin zweifelhaft, ob die im Prümer Urbar2 genannten ‘linum fusa XXX3, cde lino fusa XXX’ Spindeln oder eine Spindel voll Garn bedeuteten.

Das zweite große Gebiet der Bekleidungsgewerbe, das die Bekleidung der Füße mit gegerbtem Leder betrifft, zerfällt in die beiden Hauptzweige der Gerberei und Schuhmacherei- Beide Produktionsprozesse scheinen sich im Rahmen der Guts¬ wirtschaft abgespielt zu haben. Wenigstens ist mir kein einziger Fall bekannt geworden, in dem Bauern zur Lieferung von Leder oder Schuhwerk verpflichtet gewesen wären. Dagegen finden wir auf den größeren Grundherrschaften oft die Gerbereianlage erwähnt3 und ebenso sehr häufig eine Schusterwerkstatt oder wenigstens ein paar Schuster.

1 battitor lane: Davidsohn, Forschungen 3, 211. Daneben finden sich ein tintor und ein tirator pannorum (Urk. v. 1303).

2 MRh. UB. 1, 170.

8 Die englische Abtei Meaux hat noch im Jahre 1396 ihre eigene

Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft

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Ein sehr anschauliches Bild von den verschiedenen gewerblichen Anlagen auf einem großen Fronhofe , unter denen sich eine Walk¬ mühle , eine Mahlmühle und eine Gerberei befinden, gibt die schon erwähnte Beschreibung, die wir in den Werken des heil. Bernhard (ed. Mabillon. 1719. 2, 1324 f.) finden. Da sie wenig bekannt ist ich bin nur in einer einzigen Darstellung auf sie gestoßen : in dem Buche von H. D’Arbois de Jub ai nvill e , Etudes sur l’etat interieur des abbayes cisterciennes 1858, wo Auszüge in französischer Über¬ setzung wiedergegeben sind , so will ich die Hauptstellen im Original¬ text hierhersetzen. Die Beschreibung stammt aus der Feder eines Zeitgenossen und ist im 13. Jahrhundert niedergeschrieben; sie ist sehr cpoetisch’ gehalten und sucht die Trockenheit der Aufzählung der einzelnen Gebäude dadurch zu vermeiden, daß sie alle um das Flüßchen gruppiert, das (eine Abzweigung von der Aube) durch den Klosterhof hindurchfließt: „Fluvius . . . primurn in molendinum impetum facitf ; deinde „eum ... ad se fullones invitant, qui sunt molendino confines . . . graves illos sive pistillos sive malleos dicere mavis vel certe pedes ligneos . . . alternatim elevans atque deponens gravi labore fullones absolvit . . . tot ergo volubiles rotas rotatu rapido circumducens , sic spumans exit ut ipse quasi moli et mollior fieri videatur . . . excipitur dehinc a domo coriaria ubi conficiendis his quae ad fratrum calceamenta sunt necessaria operosam exhibet sedulitatem. Deinde minuatim se et per membra multa distribuens singulas officinas officioso discursu perscrutatur, ubique diligenter in- quirens, quid quo ipsius ministerio opus habeat: coquendis, cri- brandis, vertendis, terendis, rigandis, lavandis, ruscendis . . .“

c) Die Baugewerbe

Wollte- der Grundherr bauen, so standen ihm zunächst eine Menge von Rohstoffen und Arbeitskräften in seiner Guts- Wirtschaft zu Gebote. Er fand das Holz in seinem Walde, den Sand und die Steine in seinen Sand- und Steingruben, das Stroh in seinen Scheunen. „Ungelernte“ Arbeitskräfte fanden sich genug unter dem Gesinde oder den Gutstagelöhnern, von denen der eine oder andere aber gelernter Maurer oder (was für die frühere Zeit das wichtigere ist) gelernter Zimmermann war. Wir begegnen in den Quellen dem cementarius sowohl als (noch häufiger) dem carpentarius unter den auf dem Herrenhof wohnenden Arbeitern. Dieser ist ursprünglich nicht nur Zimmer¬ mann, sondern auch Stellmacher* 1. Die fehlenden Arbeitskräfte,

Gerberei. Genauere Angaben bei L. F. Salzmann, Engl. ind. of the Middle Ages (1913), 173.

1 Auf einem Schultenhöfe der Abtei Werden begegnen wir unter dem Gesinde einem Steinmetz, den der Schulte jährlich auf längere Zeit nach Werden zur Verfügung des Grundherrn senden muß (11., 12. Jahrh.). R. Kötzschke, Studien, 80.

Sombart, Der moderne Kapitalismus. I.

6

g2 Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter

wenn sie sich der Grundherr nicht unter seinem Gesinde hielt, ebenso wie die fehlenden Materialien , lieferte wiederum die Bauernschaft.

Wir finden folgende Fronden und Abgaben erwähnt:

a) Errichtung eines Kalkofens , Herbeischaffung der dazu nötigen Materialien : der Stecken , der Buten , der Hölzer,

o

der Kalksteine;

Wie ein Kalkofen errichtet wurde, hat uns in sehr anschaulicher Weise wieder Cesarius erzählt, dem wir wohl den meisten Aufschluß über die Organisation der Fronhofwirtschaft verdanken. Die Stelle verdient wiederum ihrem vollen "Wortlaut nach hierhergesetzt zu werden (MKh. TJB. 1, 151): „sciendum est, quod dominus abbas quolibet anno si vult ad edificationem ecclesie calcis furnum potest facere et ad hoc ornnes curie citra Kile tenantur eum iuvare. Curia enim de denesbure et hermansbanyde adducent palos (‘stehchen’) et perticas (cgerten’) ad tunicam furni sepiendam. Omnes alie curie de oslihc adducent truncos laudabiles et magnos; quilibet mansus adducet IIII truncos quorum quilibet habebit XVI pedes in longitudine et duos et dimidium in grossitudine (latitudine). Curie autem alie sicut rumers- heym sarensdorpht et valmersheym adducent lapides calcis quilibet mansus carratas XVI.“ (NB. welche Masse!) Auch sonst wird diese Kalkofenfron erwähnt: „ad furnum calcem de petris carradas V“, Cod. Lauresh. 3, 212.

b) Erbauung bzw. Ausbesserung des Hauses 1 ;

c) Erbauung der Mauern, Instandhaltung der Zäune usw. 2;

d) Dachdeckerarbeiben 3 ;

e) Lieferung der Bauhölzer4;

f) Lieferung der Ziegeln 5 ;

g) Lieferung der Holzlatten und Schindeln für das hölzerne Dach 6 ;

1 (mansionarii) „horreum nostrum usque ad tectum construunt“ bei Lamprecht, DWL. 1, 588.

„XV unusquisque ex hiis quando opus est edificare“ ; „quando opus est edificium quod infra dom. curtem est meliorare“ ; „. . . dom. eclificium facere V“ (sc. von 26 Vs Höfen in der Herrschaft Greyzingen), Trad. Wiz. ed. Zeuss; p. 277 279.

2 „sepes . . . facere“ Trad. Wiz., 279; „immun facere“ Cart. Mon. de Rameseia 1, 335. 366. Werden: R. Kötzschke, Studien, 17.

8 „Item habet (sc. monasterium) in Boningaham mansa IIII per bunaria XII ; nihil aliud faciunt per totum annum nisi emendant tecta monasterii.“ Fragm. ampl. Pol. Sithiensis im App. zum Pol. d’Irm. p. 403.

4 Jeder (?) Bauernhof des Klosters Weißenburg liefert je „V 2 carra- tam lignorum“ (Bau- oder Brennholz?) 1. c. 273 ff.

5 Dgl. (wie in Anm. 4) je „L tegulae“ 1. c. (Ziegeln oder Schindeln?).

6 Diese Abgabe ist sehr allgemein verbreitet. Schindeln sind die scintuli, scintulae , scindulae etc., Latten die axiles, asiles , axiculi,

Siebentes Kapitel; Die Fronhofwivtschaft

83

h) Lieferung von Mühlsteinen* 1.

Natürlich, konnten auf diesem Wege nur die gewöhnlichen, während des frühen Mittelalters wahrscheinlich sehr primitiven Holz- und Fachwerkbauten hergestellt werden. Galt es die Er¬ richtung eines Palatiums, einer Kirche aus Stein, so mußte man einen der wenigen Künstler und Handwerker an sich zu fesseln trachten, die jene Kunst, in Stein zu bauen, bewahrt hatten. Diese Künstler weilten je während der Bauzeit an den Höfen der großen Bauherrn, die sie sich einer vom anderen ausbaten. So erbittet der Pictenkönig Nechtan vom Abt Ceolfrid (710) „archi- tectos , qui juxta morem Komanorum ecclesiam 'de lapide in gente ipsius facerent“ 2. So schickt der Bischof von Salzburg Maurermeister (magistros murarios), Schmiede und Zimmerleute zum Bau von Kirchen3. Oder man setzte den offiziellen Ver¬ waltungsapparat in Bewegung und ließ sich durch Vermittlung der Beamtenschaft die zum Bau notwendigen seltenen Materialien liefern. So ersucht Papst Hadrian den König Karl im Jahre 768: er möchte die 2000 tt Zinn, die er für die Bedachung des Vor¬ hofes von S. Peter brauchte, durch die Grafen, jeden 100 U aufbringen lassen4.

Diese berufsmäßigen Bauhandwerker werden nur zum Teil Fron¬ pflichtige gewesen sein, zum vielleicht größeren Teil waren es wohl freie Wanderhandwerker. Als solche begegnen wir ihnen später noch einmal.

(vulgariter appellati „esselinge“ nach Cesarius) der Quellen. Woran Lamprecht (a. a. O. 1, 787) denkt, wenn er axiculi mit ‘Scheithölzer’ übersetzt, weiß ich nicht. Nach Lamprechts Berechnungen empfing beispielsweise das Kloster Prüm im ganzen 14 232 axiles und 57 038 scindulae ; a. a. O. 2, 143. Zahlreiche Belege für das Vorhandensein dieser Abgabe in der Sammlung von Pol. im Pol. d’Irm.

1 Entweder „sine precio“ oder zu einem vereinbarten Preise (dann war es schon der Anfang eines tauschwirtschaftlichen Verhältnisses): Abteien St. Maixent und Montierneuf. Belege bei P. Boissonnade, Essai sur l’organisation du travail au Poitou 1 (1900), 117.

2 Beda, Hist. eccl. V, 21, zit. bei Montalembert, Die Mönche des Abendlandes 5 (1868), 6. Nach derselben Quelle ließ Abt Benedikt im Jahre 674 französische Glasmacher kommen, um beim Neubau der Abtei von Weremouth Fenster einzusetzen. Anderson, Hist, of Com. 1, 49.

3 Conv. Baj. (a. 872) bei Dahn, Könige IX. 2, 444.

4 . . . petimus, ut per comites vestros, qui in Italia sunt actores, ipsum jam dictum stannum dirigere jubeatis, per unumquemque comitem libras centum“. Ep. Hadr. ed. Cenni 1, 472; zit. bei Hegel, Städte- verfassung Ital. 2, 12.

6*

84 Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter

"Was der einzelne G-rundlierr von seinen Hintersassen als Frondienst verlangte, das wurde vom Könige den Freien als öffent¬ liche Leistung auferlegt: die Herstellung bzw. Instandhaltung der Pfalzen , der Kirchen und anderer öffentlicher G-ebäude, der Brücken und Landstraßen. Die Anwohner waren zuächst verpflichtet. In einem Kapitulare Kaiser Ludwig II. (Cap. a. 850. c 8 8) wird über den Verfall der genannten Gebäude geklagt, mit Zwang soll jeder zur Arbeit angehalten und er soll nicht eher von Ort und Stelle entlassen werden als bis er seinen An¬ teil ausgeführt hat. Wir sehen hier die Beste der römischen munera publica.

d) Gerätschaftsgewerbe

Sie umfassen alle Gewerbe, die in den drei genannten Gruppen nicht enthalten sind, also vor allem die Gewerbe zur Erzeugung der Werkzeuge und Waffen (Schmiede und Stellmacher) sowie des Hausgeräts (außer den genannten: Böttcher und Töpfer).

Diese Gewerbe wurden nun wohl der Begel nach von Bauern betrieben, die der Herrschaft zu Fron oder Zins verpflichtet waren. Nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der Produktion fällt in den Bahmen der Guts Wirtschaft selbst: Die Quellen be¬ richten durchgehends von den Lieferungen fertiger Gebrauchs - gegenstände durch die Bauern.

Italien: Die Besitzung Luliatica des Klosters Bobbio liefert 5 Pflugscharen. L. M. Hartmann, Zur W. Gesch. Italiens, 64. In einer Urkunde vom Jahre 907 verpflichtet sich ein Höriger des Klosters Nonontola zur jährlichen Lieferung von 15 Sicheln. Cod. dipl. Lang. Mon. Hist. Patr. XIII. Nr. 422, c 730 ; im Inventarium von S. Julia in Brescia begegnen wir den Lieferungen von Sicheln, eisernen Gabeln, Beilen, Pflugscharen; 1. c. Nr. 419 c 706 ff.

Deutschland: Anfang des 12. Jahrhunderts vereinnahmt das Kloster Corvey an Zinsen: „. . . quinquaginta frustra (!) de cultellis, de rasoriis, de forcipibus.“ Nik. Kindlinger, Münster. Beiträge 2 (1790), 133 Urkunden. Je ein „securis et achia“ (Beil und Axt) liefern (im 13. Jahrhundert) die Bauernhufen dem Kloster Weißenburg; ferner lastet auf einzelnen Hufen „opus fabricandi vomeres ad tria aratra et malleos cementariorum“ (Hämmer) ; „idem opus persolvit hugo de fabbrica in colle“ (das ist der Schmied vom Berge!), „item oggerus persolvit vomerem“. Trad. ed. Zeuss, 273 ff. Andere Hufen in demselben Gebiet liefern die Weinbottiche „in autumno vascula . . ad vinum“ 1. c. p. 278. Patella liefert ein kleiner Kötter, der quar- tulam I besitzt, dem Kloster Prüm. M. Rh. U. B. 1, 169.

Hausgerät liefern die Laten auf den Grundherrschaften Nordwest¬ deutschlands W. Wittich, a. a. O. insbesondere S. 297 ff.

Frankreich : 30 Hacken liefern 22 mansi ingenuiles im Gebiete des

Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft 85

Klosters St. Gennain. Pol. d’Irm. Prol. 1, 731; 8 Beile liefert ein Villicüs ebenda , 6 Lanzen der Inhaber einer halben Hufe , 6 Wurf¬ spieße dgl. ; der Handwerker Hadon bezahlt den Zins einer halben Hufe mit seinen Erzeugnissen. 1. c. p. 149. 12 Flaschen (?) und 100 Näpfe (?) liefert ein Bauer der Abtei St. Bertin. Pol. Sith. 1. c. p. 400. Antlemarus servus und seine dem Colonenstande an- gehörige Frau in Nova villa leisten jährlich u. a. 6 Stück Holzgeschirr, 3 hölzerne Radkränze, 7 Holzfackeln. Pol. XIII, 64, p. 143.

Oder wir erfahren von Pauschalverpflicht ungen zur Leistung be¬ stimmter Arbeiten: aller Schmiede-, aller Stellmacherarbeiten usw., wofür ein entsprechender Grundbesitz vom Herrn gewährt wird.

England: „Faber (de Wermouth tenet) XII acras pro ferramentis carucae“ ; „Faber (de Queryndonshire tenet) XII acras pro ferra- mento carrucae fabricando“; „Faber I bovat pro suo servicio“. Aus Boldon Book, Hundred Rolls , Domesday zit. bei Seebohm, 1. c. p. 70. In gleichem Verhältnis steht der Carpentarius in den eng¬ lischen Quellen. Vgl. noch Reg. Worc. 56 a. James E. Thor. Rogers, A Hist, of Agricult. and Prices in England. 7 Vol. 1866 ff. 1, 469. Der Stellmacher in South Brent hat einen Pflug und eine Egge aus Holz, das er selbst liefert, zu machen ; außerdem den Bauern bei der Herstellung ihrer Wagen zu helfen. Der Schmied hat mit dem Stell¬ macher gemeinsam Pflüge herzustellen und ferner bestimmte Pferde des Herrn (ein Reitpferd und ein Lastpferd, einen „aver“) mit Huf¬ eisen zu versehen ; geht ein Pferd ein, so bekommt er dafür die Haut für seinen Blasebalg; er hat endlich die Sicheln der Mäher in der Heuernte zu schärfen, wofür er in Chalgrove einen Acre Wiese erhält. In Winterborne hat er die Gefäße, in denen der Käse bereitet wird, zu rejDarieren und mit Eisenbändern zu versehen. Dafür empfängt er ein Lamm und ein Vließ und einen Käse, der vor Johannistag ge¬ macht ist, ingleichen einen Napf voll Butter zum Einscbmieren seines Blasebalgs. Hone, 73.

Deutschland: Die Hufe, „quod pertinet ad fabrile opus“ zahlt nur 12 d., die übrigen zahlen 24 d. Kopfzins. Schenkungsbuch des Bischofs Megingod zugunsten der Kirche St. Martini zu Münster (10. Jahrhundert) Mittelrh. UB. 1, 339.

Hierher gehört wohl auch der Reginhardus tornator apud Veldern (bei Utendorf, Pinzgau), der mit anderen kleinen Gütchen vom Grafen Chunrad von Sulzau (um 1150/60) dem Stifte Berchtesgaden aufgegeben und gegen Abgabepflicht zu Lehen genommen wird. Berchtesgadener Schenkungsbuch CXII, 1; vgl. F. V. Zillner, Geschichte der Stadt Salzburg 2 (1890), 154.

Frankreich: „Mansi unde opera carpentaria exeunt;“ Urkunde von 682 Cart. de St. Bertin. Cart. Folquini Nr. 9. „praeter illam terram unde opera carpentaria exeunt“: Urkunde von 721 ib. Nr. 27.

Daneben werden natürlich auch von den auf dem Gute an¬ sässigen, wie wir sagen würden „Gutshandwerkern“ Arbeiten gleicher Art ausgeführt worden sein. Sehr häufig begegnen

86

Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter

wir auf den Herrenhöfen dem Gutsschmied und Guts- stellmacher1.

Aber auch Böttcherei scheint auf dem Herrenhofe betrieben worden zu sein. Darauf läßt die Verpflichtung mancher Bauern zur Lieferung von Faßdauben und Faßreifen schließen. Ich denke, das war der Fall 'auf denjenigen Grundherrschaften , die viel Weinbau trieben. Hier gehörte natürlich zum Küfereibetriebe auch die Anfertigung der „vasa magna ad vindemiam valde necessaria que appellantur rbuden5 2.

Sollten die genannten Gewerbe ohne Störung betrieben werden, sei es von den Bauern, sei es von den Gutsleuten, so mußten die erforderlichen Rohstoffe und Halbfabrikate vorhanden sein. Deren Beschaffung machte nun keine Schwierigkeiten, wenn es sich um Holz oder Ton oder Lehm handelte. Ganz eine andere Sache aber war es, wo Eisen verarbeitet wurde. Hier lag ein schwieriges Problem vor, wie man zu diesem Materiale gelangen könnte. Das Problem wurde in dreifach verschiedener Weise gelöst.

Entweder der Grundherr kaufte das nötige Eisen auf den Märkten. Dieser Fall geht uns hier nichts an.

Oder er legte selbst ein kleines Eisenwerk auf seinem Grund und Boden an3.

Oder (davon sprechen die Quellen am häufigsten) er legte die Eisenlieferung seinen Bauern als Zinsverpflichtung auf. Das konnte er natürlich nur, wenn in der Gegend Raseneisenstein gefunden wurde, den die Leute auf primitivste Art zu Eisen verarbeiteten 4.

1 Im Kloster Corbie finden wir a. 822 nicht weniger als sechs Grob¬ schmiede, zwei Goldschmiede, zwei Schildmacher, vier Stellmacher.

Von den angelsächsischen Grundherrn erfahren wir, daß sie mit ihrem „Schmiede“ auf die Reise gehen. War das ein Waffenschmied? der Schildknappe? eine Art „Büchsenspanner“? Siehe die Ines dö- mas § 63; die Adelbirthes dömas § 7, die Gespräche und die leges Edwardi conf. (21), auf die H. Leo in der Einleitung zu seiner Aus¬ gabe der Reet. (1842) S. 132 hinweist. Bemerkenswert ist, daß alle „Handwerker“ angelsächsisch „Smidas“ heißen, wie im Altnordischen sogar der Schuster „sko-smidr“ benamst wird.

2 Glosse des Cesarius 1. c. p. 145. Vgl. die Stellen im Mittelrh. UB. 1, 144 ff. in Pol. d’Irm. und Pol. Rem. bei Guörard, 1. c. § 392, 2, 288.

3 Dem Kloster Lorsch schenkt jemand „tertiam partem de sua mina ad faciendum ferrum“ Cod. Laur. n. 3701. t. III p. 239. Vgl. auch die Stellen im MRh. UB. Bd. 2, die sich auf das Trierer Erz¬ stift beziehen.

4 Sämtliche Pol., die Guerard ediert und kommentiert hat, enthalten

Siebentes Kapitel: Die Fronhofwirtschaft

87

Das Eisen wurde dann -weiter an die zu Schmiedearbeiten verpflichteten Bauern gegeben, wenn es nicht in den "Werk¬ stätten der Gutsschmiede seine Verwendung fand* 1. Dasselbe galt von der zum Schmiedeprozeß erforderlichen (Holz-)Kohle, die wohl Köhlerhufen zu liefern hatten.

* *

«.u

So etwa gestaltete sich das gewerbliche Leben auf den Grund¬ herrschaften in der großen Mehrzahl der Fälle. Es weist, glaube ich, während der langen Zeit von der Bildung der Grundherr¬ schaften an bis tief ins Mittelalter bis ins 12. und 13. Jahr¬ hundert nur unwesentliche Veränderungen auf. Von einer „Auflösung“ etwa vorhandener großer Wirtschaftsbetriebe auf den Gütern ist, soviel ich sehe, nirgends die Rede. Diese Be¬ triebe haben außer vielleicht auf ein paar königlichen Domänen und ganz wenigen großen Klöstern nirgends in Wirklichkeit bestanden. In der Regel handelte es sich immer um eine kleine Guts Wirtschaft , die auch gewerbliche Tätigkeit einschloß, und die in ihrem wesentlichen Inhalt, ich möchte sagen, bis in unsere Zeit, kaum umgestaltet ist. Neben ihr entwickelten sich unter dem Einfluß der Grundherrschaft im Dorfe die Keime eines selbständigen gewerblichen Lebens, das sich (wie wir sehen werden) allmählich zu Städten verdichtete.

Hier soll einstweilen nur noch darauf hingewiesen werden, daß die primitive gewerbliche Tätigkeit, wie sie als Regel auf den Grundherrschaften geübt wurde, sich an einigen Stellen schon während des frühen Mittelalters zu hohen kunstgewerb¬ lichen Leistungen steigerte.

Man weiß, daß die Klöster deren Sitz waren; daß kunst¬ sinnige und fleißige Mönche recht eigentlich die Erhalter und Vermehrer der alten römischen gewerblichen Techniken sind. Sie waren die Baukünstler jener Zeit; sie pflegten die Glas-

Eisenlieferung als bäuerliche Zinspflicht. Ebenso der Cod. Laur. (Lorsch) n. 3881, der Cod. Fuld. bei Schannat, das Urbar S. Emmeran. Auch dem Grafen Siboto von Falkenstein wird Eisen gezinst. Cod. Falk, in Drei bayer. Trad. Büchern aus dem 12. Jahrh. (1880) S. XXIV. Gleiche Abgabe im Inventar von S. Julia in Brescia: Cod. dipl. Lang. No. 419. p. 716. 712. Kloster Bobbio: Hartmann, Zur W.G. 64 und 86.

1 „N . . . facit ferra carrucarum et Prior inveniet ei ferrum et carbonem . . .“ Reg. Worc. 56a bei Rogers, Hist. 1, 469. „Faber . . . carbones inveniet“, zit. bei Seebohm, 1. c. p. 70.

88 Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter

malerei, die Emailliererei , die Ziselierkunst, die Juwelierkunst, den Orgelbau, die Kunstweberei 4, die Goldschlägerei und Gold¬ spinnerei 1 2. Und mit den Mönchen wetteiferten kunstsinnige Kirchenftirsten wie der Abt Bernwardl der spätere Bischof von Hildesheim.

Er selbst war in viel Kunst 'bewandert : nec aliquid artis erat quod non attentarit . . und errichtete in seinem Palaste Werkstätten, wo zahlreiche Arbeiter die Metalle bearbeiteten : er selbst besichtigt sie alle Tage : „inde officinas, ubi diversi usus metalla fiebant, circumiens, singulorum opera librabat“ Tangmarus , Yita S. Bernardi zit. bei J. Labarte, Histoire des arts industriels au moyen age etc. 4 Vol. 1864—1866. 1, 146.

Aber auch auf mancher weltlichen Grundherrschaft mag das Kunstgewerbe geblüht haben. So wird uns erzählt von der kunst¬ reichen Tochter Wichmanns, des Grafen des Gaues Hamalant, daß sie in der Verfertigung kostbarer Kleider fast alle Frauen ihres Landes übertroffen habe. Sie verfügte über eine Schar geschickter Gehilfinnen, die sie sich herangezogen hatte3 4. So hören wir von Seidenwebereien, die die normannischen Könige in Sizilien unterhielten (12. Jahrhundert)4.

3. Der Gütertransport

Ebenso wie die landwirtschaftliche und die gewerbliche Tätigkeit war von den Grundherren auch der Transport zu

1 Gegen 985 existierte im Kloster von St. Florent de Saumur eine ‘Manufaktur’, in der die Mönche webten „des tapisseries ornees de fleurs et de figures d’animaux“ ; 1025 findet man in Poitiers eine ähn¬ liche Anstalt. F. Michel, Recherches sur les etoffes de soie 1 (1852), 71.

2 Siehe den in der Kathedrale von Lucca gefundenen technischen Traktat, den Muratori in den Antiquit, II, 365 388 veröffentlicht hat. Z. T. a’bgedruckt bei Fagniez, Doc. No. 94. Noch im 13. Jahrh. blüht die Goldschmiedekunst in den englischen (S. Alban!) und französischen Klöstern: Belege bei H. Baudrillart, Hist, du Luxe 3 2 (1881), 188 f.

3 scimus, eam . . „numerosas cubicularias ad varietatem textrilium rerum instructas habere et in preciosis vestibus conficiendis pene omnes nostrarum regionum mulieres superare“ Alpertus von Metz MG. SS. 3, 702.

4 „nec vero nobiles illas palatio adhaerentes silentio praeteriri convenit officinas, ubi in fila variis distincta coloribus serum vellera tenuantur“ Hugonis Falc. Hist. Sic. zit. bei F. Michel, 1. c. p. 81/82. Dieses eigenwirtschaftlich organisierte Kunstgewerbe grundsätzlich zu würdigen, habe ich versucht in meiner Schrift: Kunstgewerbe und Kultur (1908), 19 ff.

Siebentes Kapitel: Die Fronliofwirtschaft

89

Wasser und zu Lande auf der Unterlage der -.Fronpflichtigkeit organisiert und zur Entwicklung gebracht worden. Ja für ihn galt, daß er oft von den Grundherren als besondere wirt¬ schaftliche Funktion erst geschaffen werden mußte. Die Güter¬ produktion kannte man, wenn auch in wesentlich einfacherer Form, auch schon vor der grundherrschaftlichen Organisation der Wirtschaft. Der ortsferne Gütertransport dagegen hat im Rahmen der urwüchsigen Bauernwirtschaft keinen Platz, da alle Güter an Ort und Stelle, wo sie erzeugt waren, auch zum Ver¬ zehr gelangten. Erst auf den Grundherrschaften mit ihren oft weit auseinander gelegenen Besitzungen entstand die Notwendig¬ keit .eines interlokalen Gütertransports, und damit nebenbei be¬ merkt, wie schon Meitzen richtig hervorgehoben hat, die Not¬ wendigkeit, ein Wegenetz zwischen den einzelnen Ortschaften zu entwickeln. Die erforderlich werdenden Transportleistungen wurden nun, wie gesagt, einzelnen Bauern als Fron auferlegt, die dadurch den Anstoß erhielten, sich zu berufsmäßigen Schiffern oder Kärrnern auszubilden, denen wir dann, in der nächsten Wirtschaftsepoche, im Rahmen der tau sch wirtschaftlichen Organi¬ sation begegnen. Hier seien nur noch einige Quellenstellen nam¬ haft gemacht, aus denen die Transportfron ersichtlich ist.

Tn den französischen Urbaren finden sich als Fron die Ver¬ pflichtung :

1. Wagen zu stellen, um Getreide und Wein usw. zu transportieren;

2. Pferde für Reisezwecke zu stellen;

3. Schiffe zu stellen, wo der Transport zu Wasser erfolgen muß.

Die Belege siehe bei Guerard in den Prolog, zum Pol. d’Irm.

§§ 411 ff.

Deutschland: „Navigium facit,“ „scaram facit cum nave,“ „scaram debet facere in navi usque ad Covelenze vel quantum in IV diebus possunt ambulare“ und ähnlich lauten die Formeln im Reg. Prum. Von den 120 Fronhöfen, die das Kloster besaß, leisteten 30 die Cscarac, das ist eben die Transportfron. Nach der Zusammenstellung bei Imbart de la Tour, Des immunites commerciales accordes aux eglises in den Etudes . . . dediees ä Gabr. Monod' (1896), p. 77 ff. Im Cod. Laur. Nr. 3671 heißt es: „item serviles hubae XXX, quarum una- quaeque servit, sicut ei praecipitur, cum navi et aliis instrumentis“ ; oder: „octava [mansa servilis] non solvit sed navigat“ ib. Nr. 3660.

Im Cod. Wiz. (ed. Zeuss, 277): „unusquisque ... cum navi per ordinem pergere (debet) aut ad frankenvort aut ad lidrichesheim“ ;

et illi XIII . . . qui vinum solvunt cum suis carris infra magonciam et wormaciam et frankenvort pergere debent“ : ib. p. 278. Ebenso gab es eine Fährdienstfron: Lacomblet, UB. 1, 95, Nr. 153.

Italien: Auf den Besitzungen des Klosters Bobbio müssen dieMassarii von Sorlasco: „colligere olivas in Garda et trahere oleum et ferrum cum

90 Zweiter Abschnitt: Das eigenwirtschaftliche Zeitalter

annona dominica de Sorlasco usque Placentia“, das lieißt von einer Besitzung des Klosters zur anderen. Siehe L. M. Hart mann, Zur Wirtschaftsgeschichte Italiens, S. 86, und die Tabelle im Anhang V, Nr. 55.

England: „et idem, faciet averagium apud BristolT et apud Wellias per totum annum et apud Pridie et post hokeday apud Brugge- wauter cum affro suo ducente bladum domini , caseum et lanam et cetera omnia quae sibi serviens praecipere voluerint ... Et debet facere averagium apud Axebrugge aut ad navem quotiens dominus voluerit . . . Proceedings of Archaeol. Inst. Salisbury, p. 203. App. to Notice of the Custumal of Bleadon, p. 182 210. Zit. bei See- b o hm , S. 57.

91

Dritter Abschnitt

Das Ubergangszeitalter

Achtes Kapitel

Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft

Literatur und Quellen

Zu I.: Als erster hat wohl K. Andree, Geographie des Welt¬ handels 1 (1867), 23 ff. , im Zusammenhang den „stummen Handel“ dargestellt. Grundlegend für die meisten späteren Arbeiten sind 0. Schräders Linguistisch-historische Forschungen zur Handels¬ geschichte und Warenkunde. 1886. Frappante Aufschlüsse hat dann die Hereinziehung des. von den Reisenden aus primitiven Kulturen beigebrachten Beobachtungsmaterials geliefert. Es ist urteilsvoll zu¬ sammengestellt in den Arbeiten von Jos. Kulischer, deren eine in deutscher Sprache veröffentlichte (Zur Entwicklungsgeschichte des Kapitalzinses, in den Jahrbüchern für NÖ. III. F. Bd. XVIII, S. 305 ff.) die Ergebnisse der früheren Studien zusammenfaßt. Wertvoll ist auch der Beitrag von Sartorius von Waltershausen, Entstehung des Tauschhandels in Polynesien in der Zeitschrift für Soz.- und W.geschichte Bd. IV S. 1 ff. Dasselbe gilt von der gründ¬ lichen Bearbeitung des Gegenstandes durch M. Pantaleon!, L’origine del baratto : A proposito di un nuovo studio del Cognetti im Giornale pegli Economisti. Ser. II a. Vol. XVIII. XIX. XX. (1899. 1900).

Zu II.: Um die Tatsache eines kontinuierlichen Tausch¬ verkehrs während des frühen Mittelalters festzustellen, besitzen wir ein hinreichendes Quellenmateriah Siehe A. Schulte, Geschichte des mittelalterlichen Handels und Verkehrs etc., 2 Bände 1900 und die daselbst auf S. 69 in Anm. 1 genannten Werke. Ich füge von wichtigeren Erscheinungen der letzten Jahre hinzu : W. Varges, Der deutsche Handel von der Urzeit bis zur Entstehung des Franken¬ reichs. Progr. Ruhrort 1903. Alex. Bugge, Die nordeuropäischen Verkehrswege im frühen Mittelalter etc. in der Vierteljahrsschrift für Soc. und W. G. Bd. IV (1906) S. 227, 277. Ad. Schaube, Handele- geschichte der romanischen Völker des Mittelmeergebiets bis zum Ende der Kreuzzüge. 1906. Alf. Dopsch, Die W.entwicklung der Karo¬ linger 2 (1913), 180 ff.

92 Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

Leider fehlt den meisten Geschichtsschreibern des Handels die nötige national-ökonomische Schulung, so daß man mehr als die Tat¬ sache der Handelsakte selten aus den Büchern erfährt. Aber auch um diese festzustellen, geht es ohne genaue Kenntnis der wirtschaft¬ lichen Welt nicht ab. So begegnen wir nur allzuhäufig einer falschen Deutung an sich für die Handelsgeschichte wertvoller Symptome, wie z. B. der Zolltarife. Gewiß ist ein Zolltarif ein wichtiger Anhalts¬ punkt, um die Güterbewegung, ,die Art der bewegten Güter etc. zu ermitteln. Nur darf man nicht aus der Tatsache eines Zolltarifs immer schon auf das Vorhandensein eines Tauschverkehrs, geschweige denn eines berufsmäßigen Waren h an d el s schließen. Die Quellen belehren uns, daß Zölle auch von denjenigen Gütern erhoben wurden, die (ohne irgendwie ausgetauscht oder gar gehandelt zu werden) innerhalb der grundherrlichen Eigenwirtschaften transloziert wurden. So vermerkt z. B. das Kap. von 805 in § 13 (MG. LL. Ia, 134) ausdrücklich, daß kein Zoll erhoben werden soll, wenn die Leute: „sine negotiandi causa substantiam suam de uno domo suo in aliam ducunt aut ad palatiam aut ad exercitium.“ Also werden wohl in anderen Fällen auch diese Güter verzollt worden sein. Andererseits können Zolltarife geradezu ein Beweis sein für die Verbreitung nicht-tauschwirtschaft¬ licher Organisation, dann nämlich, wenn die kraft seiner erhobenen Zölle Naturalzölle sind. Diese spielen während des ganzen früheren Mittelalters eine große Rolle. Siehe für das 8. Jahrhundert J. M. Pardessus, Diplom, etc. 2 Vol. 1843/45, 2, 501 (Zölle für Corbie) ; für das 9. Jahrhundert die Leges portoriae in MG. LL. 3, 480; ferner etwa noch die Charta Bosonis de Monasterio Dervensi im App. zum Pol. dTrm. p. 347 (Salzzölle); L. M. Hart mann, Zur Wirtschafts¬ geschichte It. 77 (Zölle in Salz, Pfeifer, Zimmt, Leim etc. auf dem Po); für das 10. Jahrhundert die Naturalzölle, die auf den Alpen¬ straßen erhoben wurden, bei Schulte, 1, 68; aber auch noch für das 11. Jahrhundert, die Zeit Heinrichs IV., die Zollrolle für Koblenz, in der eherne Kessel, metallene Becken, Wein, Käse, Ziegenfelle, Bocksfelle, Pische, Wachs, Schwerter als Zölle erhoben wurden. Mrh. TJB, 9, 409.

I. Die Tauschwirtschaft und ihre Entstehung

überhaupt

Eine tauschwirtschaftliche (oder verkehrswirtschaftliche) Organisation ist überall dort vorhanden, wo der Güterbedarf mehrerer Wirtschaften in der Weise gedeckt wird, daß die eine Wirtschaft Erzeugnisse der anderen Wirtschaft freiwillig gegen Hingabe eines Äquivalents hereinnimmt und zum Verzehr bringt. Sie schließt praktisch alle Wirts chafts Verfassungen ein, die nicht grundsätzlich Eigenwirtschaften sind. Sie kann ebensogut auf dem Naturaltausch wie auf dem Tausch unter Vermittelung des Geldes beruhen, das heißt Natural- oder „Geld “Wirtschaft sein;

Achtes Kapitel: Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft

98

sie kann auf handwerksmäßiger oder kapitalistischer Grundlage sich aufbauen.

Es gab eine Zeit: da glaubte man, Wirtschaften und Tauschen seien synonym: die Menschheit habe ihre Entwicklung von den Vorgängen des Tausch ens genommen; Tauschverkehr sei ein Bestandteil aller menschlichen Wirtschaft, gleich wie Produktion oder Konsumtion ; sei (wie wir es heute nennen) keine historisch¬ ökonomische , sondern eine elementar - ökonomische Kategorie. Wir wissen jetzt, daß ungefähr das Gegenteil richtig ist: daß die Menschheit wahrscheinlich erst verhältnismäßig spät den Tauschverkehr entwickelt hat, daß es jedenfalls eines lang¬ wierigen Erziehungsprozesses bedurft hat, ehe sich die Menschen daran gewöhnten, mit anderen etwas „auszutauschen“, das heißt also vor allem: ehe sie das Mißtrauen verloren: der andere (Fremde !) könne sie mit seiner Gegengabe betrügen wollen. „Wer Lust zum Tauschen, hat auch Lust zum Betrügen“, gilt noch heute unter unseren Kindern1. Wir kennen aber auch die Formen, in denen sich diese Erziehung zum Tauschverkehr voll¬ zogen hat: wenn anders wir aus den Sitten der heute oder bis vor Kurzem lebenden Naturvölker auf Einrichtungen der Urzeit schließen dürfen. Dann würde die eigentümliche Form der so¬ genannte stumme Tauschhandel gewesen sein, wie ihn uns Herodot schon beschreibt als eine Erfahrung, die ihm die Karthager mitgeteilt haben, und wie er in unserer Zeit im Ver¬ kehr mit zahlreichen Naturvölkern übereinstimmend beobachtet worden ist; sei es, daß diese untereinander Güter austauschten, sei es, daß sie mit Europäern in Tauschverkehr treten wollten.

JT. Die Entfaltung der Tauschwirtschaft im europäischen Mittelalter

Von einer „Entstehung der Tauschwirtschaft“ in dem ursprüng¬ lichen Sinne kann nun bei den europäischen Völkern in ihrer geschichtlichen Zeit keine Bede sein. Nur von einzelnen Stämmen im äußersten Nordosten Europas (an der sibirischen

1 Im europäischen Mittelalter ist dieses Mißtrauen bei den neu in die Geschichte eintretenden Naturvölkern rascher besiegt worden in dem Maße, als sie mit höheren Kulturen plötzlich durchsetzt wurden. Es findet gleichwohl noch seinen Ausdruck in dem kunstvollen Systeme des Eremdenrechts, das nichts anderes als eine Summe von Schutz¬ maßregeln der Genossen gegen gefürchtete Übergriffe der Stammes- (Stadt-)fremden darstellt.

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Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

Grenze) erfahren wir, daß sie sich der Form des „stummen Handels“ im Verkehr mit den westlichen Händlern bedient haben b Im übrigen dürfen wir mit Sicherheit annehmen , daß die drei größten Völker, Kelten, Slawen und Germanen, seit wir von ihnen Kunde haben, sich bereits an den Gütertausch, auch unter Vermittlung des Gelder, gewöhnt hatten1 2, während selbst¬ verständlich im Gebiete der römischen Kultur ein hochentwickelter, Jahrhunderte alter Tauschverkehr bestand, als die nordischen Völker sich auf ihm nie der ließen3.

Freilich vollzog sich schon während der römischen Kaiser¬ zeit eine starke Rückbildung in eigenwirtschaftliche Zustände4, die sich wohl jahrhundertelang nach dem Untergang des Römi¬ schen Reiches fortsetzte, bis sie zwischen dem 8. und 10. Jahr¬ hundert ihren äußersten Punkt erreichte5- Trotzdem haben zu allen Zeiten während des Mittelalters mehr oder minder starke tauschwirtschaftliche Beziehungen bestanden, ist in allen Jahr¬ hunderten die Eigenwirtschaft durch Kauf und Verkauf von

1 Nach arabischen Quellen. Siehe Georg Jacob, Der nordisch¬ baltische Handel der Araber im Mittelalter (1897), S. 124.

2 Wenn wir den Erzählungen Diodors (5, 22 §§ 1, 2) Glauben schenken wollen, so hätten die Stämme, die in der sogenannten jüngeren Steinzeit (1500 1000 v. Chr.) Großbritanniens und West¬ deutschlands Küsten bewohnten, schon „Handel“ (mit Zinn und Bern¬ stein) getrieben. Varges, a. a. O. S. 7 ff. Über den „Handels¬ verkehr“ der germanischen Stämme in den Anfängen der historischen Zeit spricht Varges, a. a. O. S. 24 ff. Vgl. dazu die allgemeinen Werke über die primitive Kultur der europäischen Völker.

3 Ich denke , immer noch das beste Gesamtbild auch von der wirtschaftlichen Kultur der römischen Kaiserzeit bietet uns Ludw. Friedländer in seinen Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms, 7. Aufl. 1901, dar. Der Streit Bücher-Meyer hat keine neuen Er¬ kenntnisse zutage gefördert

4 Siehe Max Weber, Römische Agrargeschichte (1891) S. 262ff.

6 Man kann zweifelig sein, ob nach den Zügen der Longobarden

und Sarazenen, also etwa im 8., oder erst nach den Einfällen und Plünderungen der Ungarn, also in der zweiten Hälfte des 10. Jahr¬ hunderts die tauschwirtschaftliche Organisation am weitesten zurück¬ gedrängt sei. Ad. Schaube nimmt für die Mittelmeervölker als diesen Punkt das 10. Jahrhundert an (Handelsgeschichte der rom. Völker 1906). Ich sehe in den beiden Jahrhunderten keine wesentlichen Veränderungen. Beachtung verdient auch der Umstand, daß die Geld¬ menge in Europa, namentlich in Deutschland, bis zum Schluß der Karolingerzeit beständig abnimmt und daß erst unter Otto I. eine Steigerung der Edelmetallproduktion einsetzt. Siehe die Darstellung auf Seite 104 ff.

Achtes Kapitel: Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft 95

Leistungen und Gütern ergänzt worden1. Wenn ich also die Zeit etwa bis zum Ablauf des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung als Zeitalter der Eigenwirtschaft bezeichne, so ist das in dem Sinne zu verstehen, den ich in der Einleitung diesem Sprachgebrauche beigelegt habe. Es soll heißen, daß die Wirt¬ schaftsführung grundsätzlich auf das Prinzip der Eigenwirtschaft ausgerichtet war, daß diese die regulative Idee der Wirtschaft, ihren Geist darstellte , das heißt : daß das Streben der Wirt¬ schaftssubjekte zunächst auf die Deckung des Bedarfs in der eigenen Wirtschaft gerichtet war , daß der Tausch mit anderen Wirtschaften die sekundäre Erscheinung bildete , die nicht im¬ stande war , den Gesamtcharakter der Wirtschaftsführung zu ändern.

Ich habe demgemäß die Überschrift dieses Kapitels gewählt. Nicht von der Entstehung der Tauschwirtschaft im europäischen Mittelalter kann hier die Rede sein, sondern immer nur von deren Neubelebung, deren Entfaltung. Die Keime sind vor¬ handen. Nun verfolgen wir, wie sie sich zu der kräftigen Pflanze entfalten, die schon im 13. und 14. Jahrhundert vor uns steht.

Zu denjenigen Kräften, die beständig auf eine Erweiterung des Tauschverkehrs hindrängten, gehörte

1. die Berufshändlerschaft, die Europa vom Orient aus heimsuchte, sei es, um namentlich im Norden und Osten Europas wertvolle Landeserzeugnisse einzuhandeln als Bernstein, kostbare Felle 2 usw., sei es, um die Erzeugnisse des Orients (Schmuck, Gewänder usw.) loszuwerden (wovon noch zu sprechen sein wird). Wir dürfen eben nie vergessen, wenn wir den Gang des europäischen Lebens im Mittelalter verfolgen, daß im Osten Byzanz und Bagdad lagen : zwei Zentren höchster Kultur , von denen Einwirkungen auf das „barbarische oder in „Barbarei versunkene Europa ausgingen, die wohl manchen Ziig gemein hatten mit denen, die heute aus unsern Kulturzentren sich wieder

1 Nicht der grundherrliche Haushalt, aber auch nicht die bauei- liche Wirtschaft ist vollkommen abgeschlossen gewesen.“ v. Below, Der deutsche Staat des Mittelalters (1914), 127.

2 Der Handel mit diesen östlichen Gebieten wird stark aktiv zu deren Gunsten sich gestaltet haben. Darauf läßt meines Erachtens - vor allem die große Menge in Masse gefundener arabischer Münzen schließen. Die Verkäufer der Pelze etc. kauften den arabischen Händlern nichts ab und wurden deshalb in bar bezahlt. Die Münzen vergruben sie oder benutzten sie als Schmuck. Siehe Jacob, a. a. 0. S. 59 ff.

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Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

zurück nach dem Osten oder in die Giebiete afrikanischer oder asiatischer Naturvölker wenden.

2. Daneben wirkten im Stillen die Kräfte weiter, die in jeder noch so volkstümlich geordneten bäuerlichen Eigenwirt¬ schaft Tendenzen erwecken zu ihrer Umbildung in tausch wirt¬ schaftliche Lebensformen. Immer besteht die Möglichkeit, Über¬ schüsse zu erzeugen , die in dem Maße , als die urwüchsige Gremeinschaftsidee an Kraft verliert1, geeignete Verkaufs objekte darstellen2. Zu diesen im Falle besonders günstiger Ernte sich einstellenden Überschüssen der Bauernwirtschaften gesellten sich nun wohl immer häufiger -ständige Überschüsse oder schon besser Produktionserträge bestimmter Spezialitäten , deren Her¬ vorbringung eine Wirtschaft dauernd sich angelegen sein ließ: Honig, Wachs, Wein, Gfeflügel (siehe den Hühner-Thorir !). Hierher gehören denn auch die ,an unwirtliche Küsten ver¬ schlagenen Bauern, die sich auf den Fischfang und bald auf den Fischhandel 8 oder auf den Salzhandel4 warfen und damit die Entwicklung der Tauschwirtschaft erheblich förderten.

Nach beiden Richtungen hin sowohl was die gelegentliche Produktion von Überschüssen als die von Spezialitäten an¬ betrifft wird nun die Tendenz zur Auflösung oder wenigstens doch Einschränkung der Eigenwirtschaft verstärkt durch einen Prozeß, der sich gerade in den Jahrhunderten, auf die sich unser Interesse besonders richtet, mit größter Stetigkeit vollzieht: die Differenzierung der bäuerlichen Besitzgrößen. In dem Maße nämlich, wie auf der einen Seite Gfroßbauernwirtschaften. mit mehr als einer Hufe sich bilden, wächst die Wahrscheinlichkeit eines rein quantitativen Überschusses an Nahrungsmitteln; in dem Maße aber, wie auf der anderen Seite der Besitz zusammen¬ schrumpft zur halben und viertel Hufe oder gar zum Parzellen- _ _

1 Siehe, was ich darüber auf S. 51 bemerkt habe.

2 Aus einer Urkunde vom Jahre 1168 erfahren wir z. B., wie die Beamten der Grundherren im Monat August bei sämtlichen Bauern herumfragen mußten, ob jemand verkäuflichen Wein habe. Bei Schöpplin, Alsatia diplom. Bd. I Nr. 249; Zit. von Kowalewsky, 3, 289.

8 Schon im 9. Jahrhundert hat die Ausfuhr getrockneter Fische von den Küsten der Nordmeere beträchtliche Ausdehnung gewonnen. Siehe Al. Bugge, a. a. 0. S. 229 ff.

4 Hauptbeispiele Commachio und Venedig. Siehe Hartmann, Commachio und der Pohandel (Zur Wirtschaftsgeschichte S. 74 ff.) 8. Jahrhundert.

Achtes Kapitel : Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft 97

besitz, stellt sich die Notwendigkeit ein, entweder wertvolle landwirtschaftliche Spezialitäten zu erzeugen (etwa Bienenzucht zu treiben) oder sich auf andere Weise (etwa durch gewerbliche Tätigkeit) einen Unterhalt zu verschaffen. (Daß die an be¬ stimmten Orten sich ausbildenden Lokalgewerbe vielfach die Keimzellen einer tauschwirtschaftlichen Organisation gewesen sind , läßt sich an mehr als einem Beispiel sogar quellenmäßig nachweisen). Wobei natürlich die Bevölkerungsvermehrung auch als ein wichtiger Umstand in Rechnung zu ziehen ist.

3. Nun kann es aber gar keinem Zweifel unterliegen, daß die Herausbildung der tauschwirtschaftlichen Organisation während des Mittelalters nicht annähernd so rasch sich vollzogen hätte, wie es tatsächlich der Ball war, wenn nicht noch ein dritter Faktor die Entwicklung in gleicher Richtung beeinflußt hätte : die Grundherrs chaft.

Die Wirtschaft des Grundherrn mußte von Anfang ihres Be- Stehens an eine starke Hinneigung zu anderen Wirtschaften haben. Zunächst als Verkäuferin. Es war doch außerordent¬ lich wahrscheinlich, daß die Größe der Konsumwirtschaft, nament¬ lich bei den reichen Grundherrn, nicht im gleichen Verhältnis wuchs, wie der Besitz und damit die Naturalabgaben der Bauern sich ausweiteten. Zumal, wenn es sich bei diesen um Speziali¬ täten handelte. Da war der Wein, der so reichlich zuströmte, daß ihn selbst ein geräumiger Klosterkeller nicht mehr zu fassen vermochte ; da war das Salz , das die grundherrlichen Salinen malterweise lieferten. Was sollte man mit ihnen anfangen? „Dem Kloster strömte eine derartige Menge Wein und Salz von seinen Höfen zu, daß es geradezu zur Notwendigkeit wurde, das Über¬ flüssige zu verkaufen,“ lehrt uns wieder der treffliche Cesarius h Weinländer sehen -wir daher besonders frühzeitig in die Bahnen der Tauschwirtschaft einlenken, zumal in ihnen auch die Bauern besonders frühzeitig Überschußprodukte in ihren Wirtschaften erzeugten. Bereits im 9. Jahrhundert preist der lateinische Dichter die Straßburger, daß sie nicht allen heimischen Wein selbst trinken müßten , da es sonst schlimm in der Stadt aus- sehen würde : der elsässische Wein bildete bald einen Haupt¬ bestandteil des kölnischen Handels. Da war die Wolle, die

1 „Antiquitus tanta copia vini ac salis proveniebat ecclesie de curtibus nostris quod opportebat quasi de necessitate superflua (man beachte den , Geist1 !) venundare“. 1. c.

Sombart, Der raodema Kapitalismus, I.

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gg Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitaltel1

namentlich auf englischen Grandherrschaften seit jeher ein wichtiges Erzeugnis darstellt \ und die natürlich verkauft werden mußte, wenn man nicht Spinnerei und Weberei selbst im Großen betreiben wollte. Da waren die Käse. Was sollte der Graf Siboto von Ealkenstein, und mochte er eine noch so stattliche Schar kriegerischer Dienstmannen um sich versammeln, mit 9694 Käsen im Jahre anfangen2, was die Tridentiner Domherren gai mit 14000 Käs3, wenn sie sie nicht zum Verkauf brachten ? Da, war aber auch das Getreide, das man nicht alles selbst zu Biot backen konnte 4, auch wenn Hunderte von Menschen zu sättigen waren.

So wird es uns nicht in Erstaunen versetzen, wenn wir häufig von Bestimmungen hören, die den Verkauf der Überschüsse in der Fronhofwirtschaft regeln sollen.

Die Stat. ant. des Klosters Corbie (a. 822) bestimmen : Die Zehnten der entfernt gelegenen Villen sollen nicht zum Kloster gefahren (sondern verkauft?), von den näher gelegenen Gütern jedoch soll ein zweites Zehntel angekauft werden. Die Gartenzehnten sollen, wo es sich mit Nutzen bewerkstelligen läßt, verkauft werden: quae rationabilitei venundari possunt, venundentur aut contra denarios aut contra an- nona (!) et ad portarium deferatur“. Vom Viehzehnt sollen nur die Schweine konsumiert werden: Dagegen die Füllen, die Kälber, die Zicklein sollen gleich oder nach 2 Jahren verkauft oder vertauscht werden: „. . portarius eos non servando , sed . . venundando vel commutando ad utilitatem hospitalis prout ratio docuerit et melius potuerit, eos convertere studeat“ (App. zum Pol. d Irm. 2, 325/26, 332). Bekannt sind die Preistaxen für Getreide etc,, die schon Karl M.

1 Über die beträchtliche Anzahl von Weideplätzen auf den Be¬ sitzungen der Kirche _S. Paul in London um die Wende des 12. Jahr¬ hunderts unterrichten die bei Kowalewsky, 3, 73 mitgeteilten Quellen. Ein reiches Material enthält der Aufsatz von Rob. Jowitt Whitwell, English Monasteries and the Wool Trade in the 13* Cen¬ tury in der Vierteljahrsschrift für Soz.- und W.geschichte 2 (1904),

_ gg

3 Cod. Falk. Introductio p. XXVI.

8 Chr. Schneller, Tridentiner Urbare aus dem 13. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Geschichte etc. Österreichs und seiner Kronländer 4 [1898], 6).

4 Ende des 12. Jahrhunderts vereinnahmt die Abtei S. Pantaleon in Köln 438 Mir. „tritici“ (Roggen?), davon werden 187 Mir. ver¬ zehrt; 577 Mir. „siliginis“ (Weizen?), wovon 313 Mir. zum Konsum^ gelangen; 891 Mir. avene (Hafer), von dem fast alles zum Verkauf übrig bleibt. Nach einer ungedruckten Urk. Lamp recht, DWL. 1, 2, 839.

Achtes Kapitel: Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft $9

erließ. Siehe z. B. den Beschluß der Frankfurter Synode vom Jahre 794 bei Fagniez, Doc. Nr. 88.

( Das Ed. Rothari (643) in lex 234 (ed. Bluhrne, 49) gibt dem „Servus massarius“ die Befugnis: „de peculio suo, id est bove vacca cavallo simul et de minuto peculio“ zu verkaufen: „quod pro utilitate casae ipsius est, quatenusr casa proficiet et non depereat“. „Et sunt in Charna manentes 13, qui reddunt de serico 1. 10 et de ipsis in Papia ducitur et ibi venundabitur ad solidos 50“ (Cod. Lang. p. 726). Im Cap. de villis heißt es (nach der Ausgabe von Iv. Gar eis 1895):

in c. 33: „quicquid reliquum fuerit exinde de omni collaboratu usque ad verbum nostrum salvetur , quatenus secundum jussionem nostram aut venundetur aut reservetur . .“ ;

in c. 39: „quando non servierint ipsos (sc. ova et pulli) venun- dare faciant.“

in c. 65 : „ut pisces de wiwariis nostris venundentur et alii mittantur in locum ita ut pisces semper habeant; tarnen quando nos in villas non venimus, tune fiant venundati et ipsos ad nostrum pro- fectum iudices nostri conlucrare faciant . .“.

Immer kehrt der Gedanke wieder : erst für den Bedarf sorgen, was übrig ist, verkaufen!

Aber noch häufiger sehen wir die Grundherren auf dem Markte als Käufer auftreten. Begreiflicherweise, da sie Geld¬ einnahmen nicht nur aus dem Erlös ihrer eigenen Erzeugnisse, sondern von früh an auch in der Form von Geld zinsen hatten, die sie von den Bauern erhielten.

Die bäuerlichen Geldzinse haben wohl zu keiner Zeit während des Mittelalters völlig gefehlt: in den Urkunden begegnet man ihnen in jedem Jahrhundert. Daß sie im 5. Jahrhundert in Gallien Vorkommen \ ist nicht so bedeutsam , weil sie in jener Zeit und in jener Gegend noch erhoben werden konnten, wie daß sie uns überall im 8. und 9. Jahrhundert entgegentreten.

Beispielshalber: im 8. Jahrh. : in Italien Abtei Farfa u. a., zitiert bei Kowalewsky, 1, 388. 411; England: ebenda 1, 538; Deutschland (Trier) : Fragm. Chartae Leodoini im App. zum Pol. d’Irm., 341.

Im 9. Jahrh.: in Italien (Bobbio): L. M. Hart mann, S. 58; Frankreich: Kloster St. Germain de Pres. Pol. d’Irm. 1, 892 ff. ; Kloster St. Remi de Keims. Pol. dieses Klosters p. XL VII. Abtei St. Bertin. Cartulaire de St. Bertin in der Coli, des Cart. de la France 4 (1840). Pars I Folquini No. XXV, XXVII, XXIX und passim; Deutschland: Kloster Prüm: Lamprecht 2, 143. Kloster Weißen- burg. Trad. poss. ed. Zeuss, p. 273.

1 Im Pfründenbuch des Klosters St. Petri in Soissons: „solvunt in anno friscingas duas ... in villa Uscladinas coloni tres . . . solidos tres solvunt.“ Pardessus, Dipl. 1, Nr. 65.

7*

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Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

Die Beträge, die aus den bäuerlichen Zinsen in bar den Kassen der Grundherrn zuflossen, waren sogar nicht einmal immer gering. Nach den eben genannten Quellen habe ich folgende Zusammenstellung gemacht. Die Einnahmen betrugen in heutiger "Währung beim *

Kloster Bobbio . . ca. 100 Mk.

Prüm . . 6 000

St. Germain 10 000

St. Demi . 12 600

Die Tatsache dieser verhältnismäßig hohen Bareinkünfte , zu denen noch die Einnahmen aus dem Verkauf der eigenen Er¬ zeugnisse traten, würde es von vornherein wahrscheinlich machen, daß die Grundherren kauften. Wir haben nun aber genug Zeug¬ nisse, die diese Vermutung zur Gewißheit machen, wie folgende Auslese erweisen wird :

Zunächst sprechen wiederum die zahlreichen Zollprivilegien , die namentlich den geistlichen Grundherrschaften für ihre Schiffe oder Fuhren oder Saumlasten zuteil wurden, eine deutliche Sprache, zumal, wenn wir erfahren , daß es sich z. B. um Salzschiffe handelte ; oder wenn in dem Zollprivilegium ausdrücklich vom Einkauf die Bede ist; siehe z. B. den Zollfreibrief, den Prüm vom König Pipin erhält (MRh. UB. Bd. I Nr. 18), in dem es heißt: „ubicunque infra regna nostra homines ipsius monasterii pro verilitate vel stipendia monachorum in quacunque civitate vel porto negotiandi porrexerint“ . . . „homines suprascripti mon. qui pro necessitate eorundem monachorum discurrere videntur.“ Ähnliche Wendungen sind häufig: die Mönche des Klosters St. Germain sollen zollfrei überall hin ziehen dürfen : „tarn ad luminaria comparanda vel pro reliqua necessitate“. Dipl. Car. M. a. 779 bei Bouquet, 5, 742. Auch in anderem Zusammenhang sprechen die Quellen oft genug unmittelbar von den Einkäufen der Grundherren: St. Gallen schickt seinen Itinerarius nach Mainz „pro pannis laneis emendis“ MG. SS. 2, 97. Mon. Sang. 16. 2, 752. (Fremdländisches Tuch finden wir bereits im 8. Jahrh. in der Abtei St. Bertin: „drappos kamisias ultra marinas quae vulgo berniscris vocitentur“ Cart. de St. Bertin, 1. c., Nr. 46.) Fehlender Bedarf soll durch Zukauf ergänzt werden: „si vero hoc ei non sufficit sc. humlo (Hopfen) ipse vel comparando vel quolibet alio modo (!) sibi adquirat“ App. zum Pol. d’Irm. 2, 333. In den Schenkungsurkunden wird gelegentlich die Verwendungsart einer Geldschenkung stipuliert: es werden geschenkt argen ti sol. X ad pisces emendos ad pastum unum fratribus ibidem exibendum“ (MRh. UB. Bd. I Nr. 110. a. 868). Jene vier Leute, die wir auf dem Wege von Helmstädt nach Bardewik an treffen werden, sollen als „Rückfracht“ Fische heimbringen: „quod cum frumento et insuper 6 sol. piscium emi potest plaustro suo reportabunt“. Zu vergleichen auch Ansegisi Cap. Lib. I (Cap. reg. Franc. 1. 410): „De thesauris ecclesiasticis. Ut singuli episcopi, abbates, abbatessiae diligenter

Achtes Kapitel : Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft

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considerent thesauros ecclesiasticos , ne propter perfidiam aut negli- gentiam custodum aliquid de gemmis aut de vasis vel de reliquo quo- que thesauro perditum sit, quia dictum est nobis, quod negotiatores Judaei necnon et alii gloriantur, quia quiequid eis placeat possint ab eis emere.“

Oder wir erfahren aus Anekdoten, die uns die Quellen überliefert haben , von den Einkäufen , die die Grundherren zu machen pflegten. Am bekanntesten ist die kleine nette Geschichte, wie der große Karl seinen Hofschranzen einen Possen spielte, als er sie zwang, eben von italienischen Händlern frisch erstandene Seidengewänder auf einer Hetz¬ jagd durch das Gestrüpp der nassen Wälder anzuziehen und damit natürlich dem Untergange zu weihen. Weniger bekannt ist ein anderer Witz , den derselbe König sich mit einem seiner geistlichen Herren machte: den er eine in Aachen gefangene und getrocknete Maus von einem jüdischen Häudler (der ins Vertrauen gezogen war) um ein Sündengeld als wertvolle Reliquie einkaufen läßt. Beide Anekdoten sind nach den Quellen (Mon. Sang.) anmutig nacherzählt von Gustav Frey tag in seinen Bildern aus der deutschen Vergangenheit 1, 323 ff.

Ebenso dürfen wir aus den Waren, die wir im Handel finden, auf regelmäßige Einkäufe durch die Grundherren schließen : wir sehen die Mönche von Corbie in Cambray Gewürze und Spezereien erstehen. App. zum Pol. d’Irm. 2, 33ö ; während die Pariser Mönche sich mit anderen an dem seinerzeit berühmten Stapelplatz Quentawic an der nordfranzösischen Küste treffen, um Honig, Krapp, Gewürze usw. zu kaufen: ibid. 1, 786 f. Vgl. auch Otto Fengler, Quentovic, seine maritime Bedeutung unter Merovingern und Karolingern in den Hans. Gesch.Bl. 1907, 1. Heft, S. 91 ff.

In den Zollrollen des achten und neunten Jahrhunderts werden als Kaufmannsgüter aufgeführt: Gold, Silber, Gemmen, Waffen, Kleider, Wachs, Bosse, Sklaven, kurz lauter Gegenstände, die nur die reichen Grundherren erwerben konnten. Siehe z. B. Ed. Bothari (a. 643) ed. Bluhme p. 48. Sicardi Pactio (a. 836) ed. Bluhme p. 193. Div. imp. LL. 1, 142 c. 11. Leg. port. LL. 3, 480 ff. Cap. von 805 c. 7 mit der bekannten Stelle „ut arma et brunias non ducant ad venundandum“, nämlich zum „Erbfeind“. Abgedruckt auch bei Fagniez, Doc. Nr. 90. In den Dialogen Aelfrids werden als Einfuhrgüter aufgezählt : Purpur, Seide, Geschmeide, Elfenbein, Gold, farbige Stoffe, Farben, Wein, Öl, Bier, Zinn, Glas und Schwefel. Thorpe, Analecta Anglo-Saxonica, p, 101, bei Gibbins, Industry in England. 4. ed. (1906), p. 45.

Endlich reden auch noch die Gräber eine deutliche Sprache. Die Gräberfunde aus der Merovingerzeit, auch in Deutschland,^ zeigen eine Fülle von Schmuckgegenständen , die sich „als Erzeugnisse fremder Industrie und Überlieferungen des Handels kennzeichnen“. L. Linden- schmit, Handbuch der deutschen Altertumskunde 1 (1880— -89), Die Altertümer der merovingischen Zeit, S. 381 ff. 437. Daß Kauf- leute von „Übersee“ Schmuckgegenstände nach Europa brachten, ist ui s auch sonst überliefert. So spricht die Lex Wisigothorum (lib. XT t. III) „de transmarinis negotiatoribus“, die Gold, Gewänder „vel quaelibet ornamenta provincialibus nostris“ verkaufen.

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Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

Und wenn wir den Schiffen begegnen, auf denen der Be¬ vollmächtigte des Grundherrn die Getreideladungen zu Markte führt, oder den Lastwagen oder Saumtieren der fronpflichtigen Bauern, die ebenfalls beladen dem Marktorte zustreben, so werden wir das auch nur natürlich finden.

Die Schiffe der Kirchen und Klöster, denen von den Kaisern Freiheit von Zöllen und Abgaben gewährt werden, sind zumal in Italien eine oft wiederkehrende Erscheinung in den Quellen : für Italien siehe die zahlreichen Belege bei Hart mann, Zur Wirt.Gesch., S. 87; Schaube, S. 87 ff. 72 ff. ; für Deutschland bei Inama 1, 440, MRh. IJB. 1 Nr. 18; für Frankreich bei Guerard, Pol. d’Irm. 1, 789.

Diese Schiffe dienten wohl besonders häufig dazu, um die ein- gekauften Güter (Salz!) heimzuführen. Wir dürfen aber annehmen, daß sie, wenn irgend möglich, beladen ausgingen. Daß dies jedenfalls vorkam, bestätigen uns sogar die Quellen: Im Jahre 860 gestattet Ludwig II. einem Bevollmächtigten des Klosters von Brescia frei von ripaticum und Verkaufs abgabe zu handeln: „quocumque cum propriis mercimoniis negotiando perrexerit“. Mühlbacher, S. 1184.

Die Fronbauern der Abtei von St. Remi in Reims finden wir (9. sc.) auf dem Wege nach Chälons (80 km), St. Quentin (70 110 km), Aachen, das heißt den Orten, wo das Getreide des Klosters seinen Markt fand. Es wurde entweder auf Lastwagen, die mit Ochsen be¬ spannt waren, oder auf Eseln als Saumlast befördert: „duos asinos in Vero mandense“ sind zu stellen. Pol. de l’abbaye de St. Remi de Reims etc., p. XXVI. XXVII. XXIX. Vier Fronbauern des Klosters Helmstädt haben jährlich 9V2 maldaria Getreide „ad vendendum in Bardewik“ zu fahren. Urb. Helmstädt p. 38, zit. bei Inama 2, 372.

Aber die Grundlierrscbaften werden nickt nur dadurch zu Beförderern der Tauscli Wirtschaft, daß sie selber in den Markt hineingezogen werden: sie werden auch zu einem Ferment, das die Eigenwirtschaften der Bauern rascher zur Auflösung bringt, als es sonst geschehen wäre. Die eine Tatsache der Geldzinse, die sie von den Bauern fordern, genügt, um das einzusehen. Denn offenbar: sobald eine Wirtschaft zu regelmäßigen Geldzahlungen verpflichtet ist, muß sie trachten, durch Verkauf ihrer Erzeugnisse sich Geldeinnahmen zu ver¬ schaffen.

Dann hat auch die Entwicklung der grundherrlichen Bann¬ rechte an Mühlen, Tuchwalken, Bäckereien, Brauereien usw., in gleichem Sinne gewirkt. Wir finden nämlich häufig ver¬ bunden mit der Verpflichtung, allein der herrschaftlichen An¬ stalt sich zu bedienen, geradezu das Verbot, die Verrichtung des Mahlens, Backens, Brauens, Walkens usw. im eigenen Hause

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vorzunehmen h Dadurch, wurde den Bauern ein tauschwirtschaft¬ licher Nexus förmlich aufgezwungen, und es wäre wohl der Mühe wert, dem Zusammenhang zwischen Entwicklung der Bannrechte und der Ausbildung der tauschwirtschaftlichen Organisation einmal näher nachzugehen. Wobei auch gleich zu prüfen wäre: wie weit die Grundherren durch ihr Interesse an hohen Markt¬ einnahmen die Bauernwirtschaften zum Besuche der Märkte drängten.

Endlich kann ich mir auch denken, daßMie Grundherrschaften die Bauernwirtschaften durch die Förderung der Produktions¬ spezialisierung in die Tauschwirtschaft hineindrängten. Je mehr ein abgabepflichtiger Bauer zur Lieferung besonderer Speziali¬ täten agrarischer oder namentlich auch gewerblicher Natur durch den Grundherrn angehalten wurde, desto mehr mußte er den Boden eigenwirtschaftlicher Selbständigkeit unter seinen Füßen wanken fühlen, desto mehr wurde es sein Interesse, nun von der Spezialität, die er beherrschte, dadurch Nutzen zu ziehen, daß er sich ihr ausschließlich widmete und nach und nach an andere Personen auf dem Wege des Verkaufs absetzte, was der Grund¬ herr nicht von ihm als Abgabe verlangte.

In der grundherrschaftlichen Organisation als solcher liegt, also die Tendenz eingeschlossen, die eigene und die bäuerliche Eigenwirtschaft zu zersprengen. Also daß der Auflösungsprozeß sich, wenn auch langsam, so doch stetig mit dem Anwachsen der Grundherrschaften vollziehen mußte. Daß er sich seit dem 11. Jahrhundert etwa fast plötzlich, sprunghaft vollzog, daß das europäische Mittelalter in dem kurzen Zeitraum von ein oder zwei Jahrhunderten aus einer grundsätzlich eigen wirtschaftlichen in eine grundsätzlich tauschwirtschaftliche Organisation über¬ ging, ist dem Zusammentreffen einer Beihe besonderer Um¬ stände geschuldet und etwa in folgender Weise zu erklären.

Wir können zunächst eine Beihe umgestaltender Maßnahmen der Grundherrn (die zum Teil wiederum untereinander sich be¬ dingen) feststellen :

1. Die Naturalzinse der Bauern werden in Geldzinse ver¬ wandelt.

Die Wirkung, die diese Wandlung auf die Bauernwirtschaft

1 Für England dargestellt von Kowalewsky 3, 139; analoge Entwicklung bei den Normannen in Sizilien; a. a. 0. S. 381 f. Siehe für Deutschland z. B. das Prümer Urbar. MRh. UB. 1, 147—149; für Frankreich: Flach, Origines 2, 198 u. pass.

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Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

ansüben mußte, haben wir schon festgestellt: der Bauer wurde zum Verkaufen gezwungen.

2. Das alte Verwaltungs System der Grundherr¬ schaften wird aufgelöst. Die Meier (Villici, bailliffs) werden zu Pächtern des Sallandes bzw. Fronhofes, auf dem sie früher nur als Verwalter des Grundherrn gesessen hatten oder auch zu Pächtern der Bauerngüter, deren Abgaben, sie früher nur ge¬ sammelt hatten.

3. Die Bauerngüter werden ebenfalls vielfach aus dem alten Hörigkeitsverhältnisse befreit und freierenFormen der Ver¬ pachtung unterworfen.

Die Tauschwirtschaft brauchte durch diese Entwicklung an

O

sich noch keine Förderung zu erfahren: wenn nämlich die Pacht¬ zinse auch nachher in natura bezahlt wurden, wie es z. B. in manchen Gebieten Nordwestdeutschlands 1 und Italiens 2 der Fall war, wo der Teilbau in der Form der Getreidepacht eingeführt wurde. Nur daß ein größerer Überschuß über den eigenen Be¬ darf herausge wirtschaftet wurde (durch Einsetzung des Eigen¬ interesses) und damit der Verkauf landwirtschaftlicher Produkte zu gleicher Zeit möglich und notwendig wurde. Überdies ver¬ band sich die Deform des Verwaltungssystems in der Mehrzahl der Fälle wohl mit einer Umwandlung der Natural- in Geldzinse.

Die hier geschilderten Vorgänge haben sich mit großer Gleich¬ förmigkeit in allen Ländern Europas vollzogen und sind von der Forschung ziemlich klargelegt worden. Aus der umfassenden Literatur will ich nur ganz wenige Werke anführen, die mir besonders guten Aufschluß *u geben scheinen.

Gesamtdarstellungen für Europa: S. Sugenheim, Geschichte der Aufhebung der Leibeigenschaft und Hörigkeit in Europa. 1861. (Teil¬ weise veraltet.) Kowalewsky, a. a. 0.

In Frankreich soll die Umwandlung schon im 9. Jahrhundert ein- setzen und im 12. im wesentlichen abgeschlossen sein nach Flach, Origines 2, 87 ff. Aber es bestanden natürlich Vülikationen“ weiter, namentlich auf den großen Klosterbesitznngen, wo die Eigenverwaltung erst im 13. Jahrhundert sich auflöst: H. D’Arbois de Jubainville, Etudes sur l’etat interieur des Abbayes cisterciennes (1858), 309 f.

In England findet die entscheidende Wandlung nach Seebohm, Vill. Comm., p. 75, zwischen Liber niger (1125) und Hundred Rolls

1 W. Witt ich, Grundherrschaft, S. 312 ff. 317 ff.

2 E. Poggi, Cenni storici delle leggi sull’Agricoltura (1848) 2, 184 ff. ; C. F. von R umohr, Ursprung der Besitzlosigkeit des Colonen im neuen Toskana (1830), S, 110 ff. (Urkundensammlung für die Zeit nach 1250),

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(1279) statt; nach dem Herausgeber des Registrum Prioratus Beatae Mariae Wigorniensis (Will. Haie Haie, Cambden Soo. 1865) erst zwischen der Mitte des 13. Jahrhunderts und dem Yalor Ecclesiasticus von 1534. Das ist wohl in dieser Allgemeinheit nicht richtig. Ashley, Wirtsch. Gesell. Englands (§§ 3. 4), dessen Quelle im wesent¬ lichen das eben genannte Registrum ist, setzt die Umwandlung der Natural- in Geldzinse in den Anfang des 13. Jahrhunderts. Auch in England wird sich die Reform auf den weltlichen Grundherrschaften früher als auf den geistlichen vollzogen haben. Die gewerblichen Leistungen sind in England wahrscheinlich früher als irgendwo anders abgelöst -worden. In den Quellen des 12. und 13. Jahrhunderts sind sie schon sehr selten. Diese Ansicht teilt Meitzen, Siedlungen 2, 132, der sie sogar auf alle Abgaben und Dienste ausdehnt. Vgl. auch Kowalewsky 3, 164 ff. Im Cart. Mon. Rameseia (13. Jahr¬ hundert) z. B. sind aber die landwirtschaftlichen Naturalleistungen noch völlig intakt. Ygl. auch Gust. F. Steffen, Studien zur Ge¬ schichte der englischen Lohnarbeiter (1901), 174 ff.; R. M. Garnier, History of the english landed interest (1908), 214 ff.

Tri Italien dürfen wir wohl den Anfang der geschilderten Um¬ wandlung in das 11. Jahrhundert oder noch früher verlegen. Siehe z. B. die Urk. der Abtei Ripa aus dem Anfang des 11. Jahrhunderts bei Kowalewsky 3, 352. Im übrigen vergl. außer der in Anm. 2 auf S. 104 genannten Literatur etwa noch G. Bianchi, La proprietä fondiaria e le classi rurali nel medio evo etc. (1891), p. 51 ff., wo die ältere Literatur verarbeitet ist.

Die Entwicklung in Belgien hat dargestellt Brants, Essais historiques sur la condition des classes rurales en Belgique, 1880.

Für Deutschland kommt zunächst die Darstellung bei Lam- precht, DWL. 1, 620 ff. 947; 2, 587 ff, und Inama, DWG. 2, 167 ff 204 ff. in Betracht. Aus der nachher erschienenen Literatur sind hervorzuheben: Wittich, a. a. O. S. 312 ff 317 ff., und Meitzen 2, 139 ff. 599. Außerordentlich lehrreich die Darstellung bei

Kötschke, a. a. O. S. 133 ff. und öfters.

Insbesondere für die österreichischen Lande siehe Dop sch in der Einleitung zu den von ihm herausgegebenen „Landesfürstlichen Urbaren Nieder- und Oberösterreichs aus dem 13. und 14. Jahrh.“ (Österr. Urbare I, 1. 1904) S. C XII ff. CXC ff. CCXI ff. Auch hier in Öster¬ reich der spätere Übergang der geistlichen Grundherrschaften. „Hier scheint im Werden, was bei den landesfürstlichen Grundherrschaften abgeschlossen war.“ D. weist nach, daß die Entwicklung Österreichs im 13. Jahrhundert ebenso weit vorgeschritten ist wie in den anderen deutschen Territorien (S. CXCI).

Diese Umgestaltungen - sind offenbar dem bewußten Willen der Grundherrn entsprungen. Dieser Wille erklärt sich zunächst und vor allem aus dem Bedürfnis , die Erträgnisse des Grund und Bodens zu steigern und diese Erträgnisse nach freier Wahl, insbesondere auch zur Beschaffung kostbarerer Gebrauchsgüter Verwenden zu können. Daher die Vorliebe für die Geldform,

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Das Streben nach gesteigerten Gelderträgen wiederum war die Folge einer allgemeinen Höherbewertung der bequemen, präch¬ tigen oder luxuriösen Lebensführung, Avie wir sie im 11. und 12. Jahrhundert allgemein in Europa beobachten können: eine Äußerung des neu erwachenden Geistes, den wir noch oft auch in anderen Dichtungen am Werke sehen werden.

Diese Tendenz der oberen Schichten, auch des Klerus, zur „Verweltlichung“ , wie wir ganz schlicht es ausdrücken können, wurde nun unterstützt durch eine Reihe äußerer Umstände, die teilweise jener Tendenz selbst ihre Entstehung verdankten, teil¬ weise auf andere Ursachen zurückzuführen sind. Die wichtigsten sind folgende :

1. die Steigerung des Reichtums, die sich zweifellos seit dem 11., dann vor allem im 12. Jahrhundert in starkem Maße fühl¬ bar macht. Die Zeiten sind ruhiger geworden. Die Plünderungen haben aufgehört. Die Einöden beleben sich mit Ansiedlern, die sich zumeist auf herrschaftlichem Grund und Boden niederlassen. Die landwirtschaftliche Arbeit wird produktiver. Seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts steigt (im westlichen Deutsch¬ land) die Intensität des Anbaus durch Übergang zur Pflege größerer Spezialkulturen; seit der Mitte des 12. Jahrhunderts wird der Terrassenbau für Weinberge, und ein wenig später der Neubruch von Wiesen eine gewöhnliche Form der Urbarmachung1. Der Ackerboden wird allmählich besser bestellt: mit drei und vier Pflugarbeiten. Die Düngung wird intensiver. Man beginnt mit dem Anbau von Futterkräutern2.

In Italien werden Weinstock und Olive wieder gepflanzt3.

In England folgen sich die Rodungen seit dem 12. Jahr¬ hundert rasch hintereinander ; das Dreifeldersystem ist mindestens seit dem Ende des 12. Jahrhunderts in raschem Vordringen4.

Aus Frankreich hören wir ähnliche Kunde. Daß sich jeden¬ falls am Ende des 12. Jahrhunderts die doppelte Bepflügung des Winterfeldes eingebürgert hat, bestätigen uns die Urkunden5.

In den Niederungen des Rheins, bei Holländern und Flämingen ,

1 Lamprecht, DWL. 1, 148 f.

2 Lamprecht, DWL. 1, 529 ff. 557 ff. nach dem MRh. UB. 1, 650; 3, 504.

8 C. Bertagnolli, Delle Vicende dell’agricoltura in Italia (1881).

p. 180.

4 Siehe die Belege bei Kowalewsky 3, 169 ff.

5 Siehe z. B. die Urk. bei Guerard, Pol. d’Irm. 1. 383.

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blühte eine Ackerwirtschaft des Moor- und Sumpfbodens, die durch zahlreiche Kolonisten dieser Stämme in die Elblandschaften und bis tief in den Osten getragen wurde h

Die gewerbliche Arbeit aber wurde produktiver vor allem in¬ folge der fortschreitenden Spezialisierung. Yon grundstürzenden Änderungen der Technik ist uns nichts bekannt. Aber die zu¬ nehmende Spezialisation genügte zweifellos, wie die Handfertig¬ keit ebenso die Leistungsfähigkeit der natürlich gleichfalls spezialisierten Produktionsmittel dermaßen in ihren Wirkungen zu heben, daß der produktive Erfolg beträchtlich größer wurde.

2. die immer häufiger und enger werdenden Beziehungen zum Orient. Daß sie es waren, die die weltliche Stimmung, die Freude an behaglicher und prächtiger Lebensführung gleich¬ sam auslösten, ff eimachten ; daß sie erst zeigten, wie man denn die zuwachsenden Leichtümer zum eigenen Vorteil verwenden könne, ist bekannt.

3. die Auflösung der Vita communis in den Kapiteln und Abteien. Diese beginnt in den Kapiteln schon im 10. Jahr¬ hundert, wird dann immer wieder aufzuhalten versucht (asketische Reaktion gegen die „Verweltlichung“ der Geistlichkeit im 11. und 12. Jahrhundert!), ist aber im 13. Jahrhundert eine vollendete Tatsache1 2. Man kann sie in Zusammenhang mit der allgemeinen Wendung zu einer mehr weltlichen Wertung des Lebens bringen. Der Wunsch nach einer freieren Lebensführung trifft sich mit dem Wunsche , die reichen Einkünfte, über die die Kapitel verfügten, mehr zu genießen, als es die „kanonisch“ einfache Lebenshaltung ermöglichte. Zu diesen allgemein wirkenden Ursachen treten bei den bischöflichen Kapiteln folgende besondere Gründe hinzu. Im 11. Jahrhundert, zum Teil noch früher, hatten die Bischöfe ihre Diözesen in ver¬ schiedene Bezirke eingeteilt und diese den Geistlichen ihrer Bischofskirche zugewiesen. Dadurch waren die Domkanoniker zu Archidiakonen, zu kirchlichen Würdenträgern geworden und hatten eine besondere Stellung vor allen Diözesangeistlichen ge¬ wonnen. Das aber wurde" ein Hauptgrund für die Zerstörung

1 Gustav Freytag, Bilder aus der deutschen Vergangenheit 2, 46. Im übrigen geben die landläufigen Geschichtsdarstellungen der Land¬ wirtschaft den etwa noch gewünschten Aufschluß.

2 Siehe Ph. S chneider, Die bischöflichen Domkapitel, ihre Ent¬ wicklung und rechtliche Stellung im Organismus der Kirche (1885), S. 41 ff.

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Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

ihrer mönchisch-einfachen Lebensweise : für hohe kirchliche Würdenträger wurde es auf die Dauer unmöglich, daß sie wie Mönche lebten1. Die Umwandlung der Lebensweise bestand aber darin, daß die täglich gelieferten Rationen in ein festes Jahreseinkommen umgewandelt wurden, ferner daß von nun ab, im Gegensatz zu früher, als die Präbende wesentlich in zu¬ bereiteten Speisen und Getränken bestand , den Domherren die unbereiteten Naturalien, die er verkaufen mußte, und in steigendem Maße Geld geliefert wurde. Jeder Domherr hatte nun sein Haus seine Curia und der Besitz des Hauses bedingte eine eigene Dienerschaft und vor allem eine eigene , von vorn¬ herein auf Einbeziehung in den Marktverkehr zugeschnittene Wirtschaft. Ganz ähnlich vollzieht sich die Entwicklung der zahlreichen Kanonissenstifter 2. Diese Auflösung der Vita com¬ munis half naturgemäß die Auflösung der alten Villikations- verfassung beschleunigen.

Eine ähnliche Umbildung erfährt die Organisation der Klöster und Abteien, und zwar augenscheinlich aus gleichen Gründen. Seit dem 10. und 11. Jahrhundert „verweltlichen“ die Äbte: die „Abteien wandelten sich damals mehr und mehr in reichsfürst¬ liche Institute mit weltlichen, politischen Zwecken um“. Die Lebensziele und die Lebensführung der Äbte, denen die Ver¬ folgung dieser Zwecke zufiel, trennten sich von denen der Mönche ; ihre fürstliche Hofhaltung entfernte sich von dem ein¬ fachen Mönchshaushalte. So kam es naturgemäß auch zu einer Aufteilung des Klostergutes zwischen Abt und Konvent: die einzelnen wichtigen Klösterämter werden mit besonderen Ein¬ künften ausgestattet, mit denen sie die Brüder zu ernähren haben, während dem Abte andere Güter Vorbehalten bleiben, die zur Bestreitung seines fürstlichen Aufwandes dienen. Alles bei gleichzeitiger Umwandlung der Dienste in feste Abgaben. „So gibt es statt des ursprünglich einheitlich verwalteten Kloster¬ gutes jetzt eine Anzahl von einander gesonderter Gütermengen, deren jede für sich verwaltet wird.“ Aber auch im Innern der

1 Diese Zusammenhänge sind dargestellt von A. Bräckmann, Geschichte des Halberstädter Domkapitels im Mittelalter in der Zeit¬ schrift des Harzvereins 32 (1899), 2. Rud. Bückmann, Das Dom¬ kapitel zu Verden im M.A. (1912), 16 f. Vgl. Schulte, Adel und deutsche Kirche (1910), 274 ff.

2 Anschaulich geschildert von K. Heinr. Schäfer, Die Kanonissen¬ stifter im deutschen M.A. (1907), 191 ff.

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Klöster vollzog sich, eine Wandlung: das klösterliche Leben wurde stark individualisiert; „der pfründenmäßige Charakter der Stellen im Kloster prägte sich aus“1. Manche Klöster, wie zum Beispiel die Abtei Werden a. d. Ruhr, wandelten sich schließlich in Stifte um und die Stifte selbst nahmen vielfach im Laufe der Zeit den Charakter von Yersorgungsanstalten für die jüngeren Söhne des Herren- und Ritterstandes an, in welchen Bällen sie ganz verweltlichten2.

Also auch von hier aus entwickeln sich Antriebe zur Aus¬ dehnung der tausch- und verkehr swirtschaftlichen Beziehungen.

4. die Tatsache, daß im 10. und 11. Jahrhundert die Edel¬ metallproduktion, vor allem also die Silbergewinnung, sich neu belebt3. Seit dem Ende des 10. Jahrhunderts beginnen die Erschließungen gerade der für das Mittelalter wuchtigsten Silber¬ minen (Gfold spielt in jener Zeit wirtschaftlich keine Rolle): in Schlesien , im Harz (Gfoslar , Klausthal) , in Sachsen (Ereiberg), in Kärnten, im Salzburgischen, in Böhmen, im Elsaß usw.

Da ich der Entwicklung der Edelmetallproduktion eine große Bedeutung für die Entstehung des Kapitalismus beimesse , so handle ich ausführlich darüber dort, wo ich schildere, wie die

1 R. Kötzschke, Studien z. Verwaltungsgesch. der Großgrund¬ herrschaft Werden a. d. Ruhr (1901), 114, wo diese Umbildung der Klosterverfassung besonders eingehend und lebendig geschildert wird. Über die allgemeine Entwicklung: G. Matthaei, Die Klosterpolitik Heinrichs II. (1877), 14 ff.; A. Hauck, Kirchengeschichte Deutsch¬ lands, 3, 814 (1906), 443 ff.

2 Arnold, Verf.Gesch. der deutschen Freistädte 2, 162 f. ; vgl. Kötzschke a. a. O.

3 Unsere Kenntnis von der frühen Geschichte des Bergbaus auf Edelmetalle ist außerordentlich dürftig. Was an Quellenmaterial vor¬ handen ist, wird man an folgenden Stellen gesammelt finden: Will. Jacob, Über Produktion und Konsumtion der edlen Metalle; übers, von C. Th. Kleinschrod (1838) S. 151 ff. Der Übersetzer hat wertvolle Zusätze gemacht. Soetbeer, Beiträge z. Gesch. des Geld- und Münzwesens in Deutschland in den Forschungen zur deutschen Geschichte, Bd. I. II. IV. VI. A. Hanauer, Etudes economiques sur l’Alsace ancienne et moderne. 2 Vol. 1876. 1878. Inama, DWG.

2, 330 f. Dop sch 2, 173 f. Ich trage noch nach: Ad annum 963 : Widukind cap. 63: „terra Saxonia venas argenti aperuerit“.. MG. SS.

3, 462 ; ad 961 : Thietmari Chron. cap. 8 : „temporibus suis aureum illuxit seculum; apud nos inventa est primum vena argenti“. MG. SS. 3 747. Über die Urzeit unterrichtet Matth. Much, Prähistorischer Bergbau in den Alpen in der Zeitschr. des deutsch, u. österr, Alpen- Vereins 1902, S. 1 ff.

HO Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

„Vorbedingungen“ des Kapitalismus erfüllt worden sind. Die Edelmetallproduktion ist aber auch schon von Einfluß gewesen auf den Entwicklungsgang des vorkapitalistischen Wirtschafts¬ lebens und hat insbesondere bei der Umbildung der Eigenwirt¬ schaft in die Tauschwirtschaft eine nicht unbedeutende Dolle gespielt. Deshalb muß ihrer schon an dieser Stelle Erwähnung geschehen. Und zwar soll hier zunächst auf diejenige Wirkung einer Vermehrung des Edelmetallvorrats hingewiesen werden, die sich ebenfalls in einer „Verweltlichung“ der Lebensauffassung äußert: die rasche Bereicherung, die stets mit einer plötzlichen Steigerung der Gold- und Silberproduktion verbunden ist, weckt und vergrößert die Begierde nach dem Gelde, vermehrt die Beize des Reichtums und erhöht die allgemeine Bewertung des Geld¬ besitzes. Wir erfahren seit den frühesten Zeiten, wie eine Er¬ schließung reicher Minen immer dieselben Seelenstimmungen ausgelöst habt.

Nun reicht aber auch in dem uns vorliegenden Problem¬ komplexe die Bedeutung einer Vermehrung der Edelmetall¬ produktion weit über diese Stimmungsmache hinaus, sofern sich nachweisen läßt, daß die ganze Umbildung der sozialen Organi¬ sation ohne sie nicht hätte erfolgen können.

AVollen wir uns aber die Rolle klar machen, die bei diesen Umbildungen die Vermehrung der Edelmetallproduktion gespielt hat, so müssen wir einige wirtschaftswissenschaftliche Begriffe revi¬ dieren beziehungsweise richtig fassen, die wir bei der Feststellung der in Frage kommenden Zusammenhänge dringend benötigen. In vielen Köpfen nämlich namentlich wohl der Historiker laufen die Begriffe Eigenwirtschaft und Naturalwirtschaft einerseits, Tauschwirtschaft und Geldwirtschaft anderer¬ seits ineinander, wodurch schlimme Konfusion entsteht. Eigen¬ wirtschaft und Naturalwirtschaft sind ebensowenig dasselbe wie Tausch- und Geldwirtschaft, und Gegensätze sind nicht Eigen¬ wirtschaft und Geldwirtschaft, Naturalwirtschaft und Tausch¬ wirtschaft, sondern nur Eigen- und Tauschwirtschaft, Geld- und Naturalwirtschaft. Was jene bedeuten, haben wir im Verlaufe dieser Darstellung, denke ich, zur Genüge uns klar gemacht. Die Ausdrücke Geld- und Naturalwirtschaft dagegen können nur den Sinn haben, daß jene eine Wirtschaftsverfassung bezeichnet, bei der neben den Gebrauchsgütern ein Geldgut auftritt, während Naturalwirtschaft ohne dieses geführt wird. Sofern nun schon ein Geldgut besteht, wenn in irgendwelchem Gute der Wert

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anderer Güter geschätzt, gemessen und ausgedrückt wird, so ist ersichtlich, daß es ztnn Vorhandensein des Geldes keiner tausch¬ wirtschaftlichen Organisation bedarf, wenn etwa der Geldausdruck und das Geldgut nur bei der Erlegung von Bußen, der Erhebung von Steuern usw. in die Erscheinung treten. Auch wenn bei¬ spielsweise im Rahmen einer grundherrschaftlichen Organisation die Abgaben in Geld umgewandelt werden, wenn der Arbeits¬ lohn statt in Konsumgütern in Geld bezahlt wird , wenn Zölle statt in Waren in Geld eingenommen werden, so bedeuten alle diese Wendungen zwar einen Übergang von der „Natural“- in die „Geld“wirtschaft, keineswegs aber auch notwendig einen Über¬ gang aus eigenwirtschaftliche in tausch wirtschaftliche Verhältnisse. Auf der anderen Seite kann eine Tauschwirtschaft bestehen in friedlichem Einvernehmen mit einer Naturalwirtschaft. Denn der Tausch kann ohne Vermittlung des Geldes erfolgen, die Pacht¬ sätze können in Bodenprodukten statt in Geld festgesetzt sein, die Arbeitslöhne können in Nahrungsmitteln gezahlt werden: alles inmitten einer grundsätzlich tauschwirtschaftlichen Organi¬ sation.

Muß man die Begriffe Eigen- und Naturalwirtschaft, Tausch¬ und Geldwirtschaft scharf trennen , so kann zugegeben werden, daß die eigenwirtschafbliche Organisation und die Naturalwirt¬ schaft ebenso wie die tauschwirtschaftliche Organisation und die Geldwirtschaft in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis von¬ einander stehen: geldwirtschaftliche Verhältnisse bewirken oder befördern eine Auflösung der Eigenwirtschaft und erzeugen oder festigen tauschwirtschaftliche Beziehungen, ebenso wie um- o-ekehrt die Tauschwirtschaft aus sich heraus Tendenzen zur Geldverwendung entwickelt.

Halten wir uns diese Zusammenhänge deutlich vor die Augen, so vermögen wir nun auch einzusehen, worin die Bedeutung der Edelmetallproduktion für die hier verfolgte Umbildung der Eigenwirtschaft in die Tauschwirtschaft beruht. Eine Vermehrung des Edelmetallvorrats bewirkt zunächst (a) die Er¬ setzung anderer Geldgüter durch Gold und (in diesem Fall) Silber, dank der diesen Gütern anhaftenden technischen Vorzüge. Erst mit der Einbürgerung der edlen Metalle als Geld wird dieses so dauerbar, hochwertig und beweglich, daß es bei ortsfernem Güter¬ tausch verwendet werden kann, den es also damit erst ermöglicht. Dasselbe gilt von einer einigermaßen, das heißt bis zur berufs¬ mäßigen Ausübung, fortgeschrittenen Spezialisation der produktiven

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Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitaitei'

Tätigkeit. Ein gewisser Vorrat an Metallgeld ist also notwendig, damit diese Vorbedingungen tausclr wirtschaftlicher Organisation erfüllt werden, und diese hat einen um so größeren Spielraum, sich zu entfalten, je größer jener Vorrat ist.

Aber die Vermehrung des Edelmetallvorrats wirkt wenig¬ stens in einem Stadium der wirtschaftlichen Entwicklung wie es Europa im 10. und 11. Jahrhundert erreicht hatte, das heißt zu einer Zeit, in der das Volk die Periode der Fortbildung überwunden hat und die Edelmetalle schon im wesentlichen als Geldgut wertet , noch unmittelbarer zersetzend auf die Eigen¬ wirtschaft, das heißt also, die Tauschwirtschaft befördernd ein. Und zwar dadurch zunächst, daß sie (b) an bestimmten Stellen im Lande, eine Nachfrage nach Gütern erzeugt, die durch Kauf erworben werden sollen, so daß sie also für den Austausch erzeugt sein müssen. Nun wird sich zwar in einer Sachlage wie der, in der sich die Menschen jener Epoche befanden, diese Nachfrage zunächst auf solche Güter richten, die aus wirtschaftlich höher stehenden Gebieten stammen und auf dem Wege des ortsfernen Handels in die unentwickelteren Gegenden gebracht werden: das waren die Orientgüter. Aber im Laufe der Zeit wird die aus dem Nichts erwachsende Nachfrage der Edelmetallproduzenten auch im eigenen Lande zur Produktion für den Absatz anregen.

Dazu kommt nun, daß durch einen reicheren Zustrom von Edelmetallen (c) eine Reihe von geldwirtschaftlichen Beziehungen geschaffen werden, die ihrerseits wiederum die tausch wirtschaft¬ liche Organisation fördern. Ich meine die Verwandlung der Naturalzinse in Geldzinse, (oder gar ihre Ablösung durch Zahlung einer Hauptsumme), der Naturallöhne in Geldlöhne, der Natural¬ zölle in Geldzölle , und die Einführung der Geldsteuern. Alle die in diesen Maßnahmen enthaltenen Verpflichtungen zur Geld¬ leistung setzen mit Notwendigkeit das Vorhandensein einer Mindest¬ menge der Geldware voraus und können um so leichter auferlegt werden, je mehr Metallgeld unter die Leute kommt: die vorher¬ gegangene Tauschwirtschaft ermöglicht so wiederum die Geld¬ wirtschaft. Wird diese nun aber in der gedachten Weise durch¬ geführt, so befördert sie dann natürlich wieder die tausch wirt¬ schaftlichen Beziehungen: der zur Geldleistung Verpflichtete wird gezwungen, Verkäufer zu werden, der zum Empfang der Geldleistung Berechtigte wird in den Stand gesetzt, Käufer zu werden, wie wir das an anderer Stelle schon festgestellt haben.

Es mag endlich daran erinnert werden, daß die Vermehrung

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Achtes Kapitel: Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft

des Geldvorrates infolge der gesteigerten Edelmetallproduktion noch andere geldwirtschaftliche Verhältnisse zu schaffen o 61 ins Große auszugestalten geeignet war, die ihrerseits wieder direkt oder indirekt dazu beitrugen, die Eigenwirtschaft zu zer¬ stören. Ich meine (d) die Ausbildung der Geldleihe, die in diese Jahrhunderte fällt und ihr gut Teil dazu beigetragen hat die feudale Gesellschaft und die ihr angemessene eigenwirtschaftliche Organisation aufzulösen. Da ich von ihr in anderem Zusammen¬ hänge noch ausführlich sprechen werde, erübrigt an diesei Stelle ein näheres Eingehen. Erwähnen wenigstens will ich hier noch, daß auch (e) die bedeutungsvolle, die Bande der Eigen¬ wirtschaft zerreißende Einführung geldgelohnter Truppen, der „Soldati“, an die Voraussetzung einer voraufgegangenen starken Vermehrung der Edelmetallproduktion geknüpft gewesen ist.

* * sN

Alle jene Tendenzen, die auf die Umgestaltung des Wirt schaftslebens in eine tauschwirtschaftliche Organisation hin- drängen, erfahren nun aber eine ungeheure Verstärkung durch dasjenige Ereignis, dem ja auch in anderer Hinsicht überragende Bedeutung innewohnt: durch (5.) die Entstehung der Stä e. Über sie , die recht eigentlich (nicht etwa , wie man woh ge¬ glaubt hat, die Kinder, sondern) die Mütter der Tauschwirtscha und der auf ihr aufgebauten handwerksmäßigen Ordnung des Wirtschaftslebens sind , über sie und die Gründe ihres Werdens und Wachsens spreche ich ausführlich in den folgenden Kapiteln. Hier muß ich aber einen Augenblick noch verweilen bei den Neugestaltungen , die durch die sich entwickelnde Tauschwirt¬ schaft die Struktur der Gesellschaft erfährt, muß erst noc einiges aussagen über die Träger der neuen Wirtschaftsverfassung: über Händler und Handwerker.

HI. Die Vorstufen des berufsmäßigen Handels

Tauschwirtschaft bedeutet noch keinen Handel, bedeutet noch kein Handwerk. Das heißt: die einzelnen Wirtschaften können durch das Band des Tausches (mit oder ohne Vermitt ung es Geldes) verknüpft sein, ohne daß darum die tauschvermittelnde (händlerische , kaufmännische) oder die gewerbliche (handwerk¬ liche) Tätigkeit berufsmäßig von besonderen Gruppen der Be¬ völkerung ausgeübt werden müßten. Die gewerbliche Tätigkeit kann sich mit landwirtschaftlicher paaren, wie es sichei m allen

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Sombart, Der moderne Kapitalismus. 1.

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Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

Anfängen der Tauschwirtschaft auch während des europäischen Mittelalters die Regel bildet; die 'kaufmännischen’ Funktionen können von den Produzenten selbst ausgeübt werden. Auch das ist in den Anfängen tausch wirtschaftlicher Organisation wohl der normale Fall, wenigstens dort, wo es sich um ortsnahen Austausch handelt. Was Bauern, Gutsherrn und Gewerbetreibende im engen Bereich der Landschaft untereinander auszutauschen haben, ist ja bis in unsere Zeit von ihnen selbst ohne Ver¬ mittlung eines Händlers ausgetauscht worden. Aber wir er¬ fahren auch, daß in den frühen Zeiten des Mittelalters über weite Strecken die Güter von ihren Produzenten (oder deren Be¬ auftragten) selbst abgesetzt wurden.

Wir sehen die Handwerker mit ihren Erzeugnissen ortsferne Messen beziehen (wovon ich in einem andern Zusammenhänge noch zu sprechen habe). Wir begegnen den kleinen Salzschiffern aus Venedig und Commacchio auf den Flüssen und an den Küsten Italiens. Wir treffen die Mönche auf dem Wege zu entlegenen Marktorten1 und lernen Bevollmächtigte der Kirchen und Klöster kennen, die eigens angestellt sind, um den Tauschverkehr ihrer Anstalten zu vermitteln, die deshalb geradezu als 'Kaufleute’, 'negotiatores’ bezeichnet werden, ohne darum natürlich etwas anderes vorzustellen als Wirtschaftsbeamte der Stifte und Klöster2.

Und oft genug, wenn wir in den Quellen von Güterbewegung und selbst von 'mercatores’ lesen, wird es sich um den Vertrieb der eigenen Erzeugnisse handeln ; öfter vielleicht, als wir früher

1 Siehe die lehrreiche Instruktion für marktbesuchende Mönche, die anhebt: „periculosum quidem est minusque honestum religiosis frequentare nundinas“, die dann aber doch ihnen gestattet, hinzugehen, aber längstens drei Tage auszubleiben im Nomast. Cisterciense ed. Jul. Paris. (1670) p. 260/61.

2 Eigene „negotiatores“ der Klöster werden zum ersten Male er¬ wähnt in einer Urkunde des Klosters St. Denys vom Jahre 775, seit¬ dem öfters. Imbart de la Tour, Des immunites commerciales etc. in den Etudes . . . dediees ä Cf. Monod (1896), p. 79. Wenn v. Below (Ztschr. für Soz. u. W. Gesch. 5, 140 f.) den Versuch eines quellen¬ mäßigen Nachweises der Tatsache, daß auch in Deutschland die Klöster usw. eigene „negotiatores“ besessen haben, als mißlungen krtisiert- , so mag er recht haben. Daß aber die Einrichtung der eigenen 'negotiatores’ überall, wo es größere Grundherrschaften gab, bestanden hat, kann wohl von niemand in Zweifel gezogen werden, der sich einmal in die Lage eines Klosters versetzt hat, das regel- mäßig große Mengen eigener Erzeugnisse verkaufen und dafür von weither andere Dinge einkaufen muß.

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Achtes Kapitel: Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft

o-eneigt waren, anzunebmen. Aber wir wissen heute doc i wenigstens, daß wir nicht überall in den Texten des Mittelalters cmercator mit '■Kaufmann5 übersetzen dürfen, daß das Wort vielmehr ebenso häufig den selbstproduzierenden Marktbesucher bedeutet .

Aber auch nachdem sich schon die Vermittlung des Waren¬ austausches als Verrichtung besonderer Personenkategorien neben den Produzenten herausgebildet hat , dürfen wir nicht o ne weiteres auf die Existenz eines berufsmäßigen Handels schließen. Zwischen diesen und den unmittelbaren Güteraustausch von Pro¬ duzent und Konsument schieben sich vielmehr noch zwei andere Entwicklungsstufen ein , die wir als V o r s t u f e n d e s b e r u t s - mäßigen Handels bezeichnen können. Es sind die ö tuten des Kaubhandels und des Gelegenheitshandels.

Der Kaubhandel ist der Zwillingsbruder des Kaubes. Er besteht darin, daß (meistens berufsmäßig) Waren verkauft werden, die von den Verkäufern weder produziert noch gekauft, sondern durch Gewalt erworben worden sind. Man kann in diesem Falle auch von einem einseitigen Handel sprechen. Wie bekannt, ist das eigentliche Feld der Tätigkeit für den Kaubhandel das Meer, wo er als Piraterie jahrtausendelang berufsmäßig ausgeübt

worden ist,

Nur mit zwei Schiffen ging es fort,

Mit zwanzig sind wir nun im Port ;

Was große Dinge wir getan,

Das sieht man unsrer Ladung an.

Das freie Meer befreit den Geist,

Wer weiß da, was besinnen heißt.

Da fördert nur ein rascher Griff,

Man fängt den Fisch, man fängt ein Schiff;

Und ist man erst der Herr zu drei,

Dann hackelt man das vierte bei;

Da geht es dann dem fünften schlecht ;

Man hat Gewalt, so hat man Kecht.

Man fragt ums Was? und nicht ums Wie.

1 Aus der umfangreichen Literatur über diese Frage sind zu ve o-leichen: v. Maurer, Städte Verfassung 1, 322 ff. : Go.1^sc^m5,

Univ.Gesch. des Handelsrechts 1 (1891), 127 ff (mit reichen Quellen¬ belegen); W. V arges, Zur Entstehung der deutschen aStad(Jv®ria^L^S in den Jahrbüchern iav NÖ., HI. F. Bd. VI (1894), S 172 ff 205 ff ; S Rietschel, Markt und Stadt (1897), 42 ff 140 ff (Zusammen¬ fassung) und sonst öfters; v. Below, in der Zeitschrift für Soz. und Wirtschaftsgeschichte 5, 138, in den Jahrbüchern für NO. 20, 23 H Pirenne, Villes , marches et marchands au moyen age , m

67 (1898), 64ff. K. Bücher, Eotrt. d. VW. ^

116 Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

wie die geistvollste Abhandlung von dem Piratengewerbe es uns gelehrt hat.

Daß alle handeltreibenden Völker vor und neben dem berufs¬ mäßigen Handel den Raubhandel gekannt, ist eine ebenso sicher verbürgte Tatsache, wie es erwiesen ist, daß das europäische Mittelalter von der Regel keine Ausnahme gemacht hat und sogar die neueste Zeit mit der Piraterie noch als mit einer allgemein verbreiteten Gewohnheit hat rechnen müssen.

Die Worte „lucrurn“ und „Lohn“ bedeuten ursprünglich nichts anderes wie Beute, Kampfpreis. Schräder, 59. Über die All¬ gemeinheit des Raubhandels auf primitiven Kulturstufen sprechen Schräder, 68 ff. ; Kulischer, Jahrbücher 18, 318 f. und öfters. Viel Material, obwohl nicht immer gesichtetes, enthält K. Andre e, Geographie des Welthandels 1 (1867), 314 ff. Vgl. auch Letourneau, L’evolution du commerce (1897), 95 ff. 335 ff. In aller früheren Zeit ist die Piraterie als ein durchaus statthaftes, nicht einmal unehrlich machendes Gewerbe betrachtet worden. Bekannt ist die Anerkennung der Piratenassoziation (eitl Xei'av) durch das solonische Gesetz sowie noch durch den Staatsvertrag zwischen Chalaeum und Oeanthia in Lokris. Goldschmidt, 27. Über den Raubhandel während des Mittelalters und der Neuzeit spreche ich noch in anderm Zusammen¬ hang. Siehe Kap. 39. Die psychologische Notwendigkeit des Raubes als einer dem Tausch voraufgehenden Art des Besitzwechsels ist in feiner Weise entwickelt worden von G. Simmel, Die Psychologie des Geldes (1900), 53 ff. Eine poetische Verherrlichung des Raubes liest man in dem Beduinenroman „Anthar“. Translated from the Arabio by Terrick Hamilton. 1819.

Eine zweite Vorstufe des berufsmäßigen Handels, die aber Läufig neben jener eben erwähnten herläuft, ist diejenige Form der Warenvermittlung, die ich den Gelegenheitshandel nenne. Dieser wird dadurch gekennzeichnet, daß er zwar bereits zweiseitiger Handel ist, das heißt also auf dem Einkauf von Waren zum Zweck des Verkaufs beruht, daß ihm aber zur vollen Wesenheit des Handels noch die Berufsmäßigkeit mangelt. Die Handelstätigkeit wird vielmehr auf dieser Stufe gelegentlich, gleichsam im Nebenberufe, von beliebigen Personen (die nur nicht selbst die Produzenten der gehandelten Waren sind) aus¬ geübt. Auch der Gelegenheitshandel ist eine in allen primi¬ tiven Kulturen verbreitete Erscheinung (Häuptlingshandel!) und spielt insbesondere im europäischen Mittelalter eine bedeutend größere Rolle, als die bisherigen Darstellungen des mittelalter¬ lichen Handels vermuten lassen. Wie ich noch in anderem Zu¬ sammenhänge in diesem Werke glaube nachweisen zu können.

Eine besonders wichtige Form des Gelegenheitshandels ist

Achtes Kapitel: Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft 117

das, was man den Saisonhandel nennen könnte: der Handel, den namentlich Bauern neben ihrer landwirtschaftlichen Tätig¬ keit ausüben. Ich glaube, daß diese Kreuzung zwischen Handel und Landwirtschaft im frühen Mittelalter mindestens ebenso häufig war wie zwischen Gewerbe und Landwirtschaft 1 2 * *.

IV. Die Anfänge des berufsmäßigen Handels

Nun würde man aber zweifellos irren, wollte man für irgend¬ eine Zeit des europäischen Mittelalters die Existenz auch b e - rufsmäßiger Kaufleute oder wenigstens als solche geltender, von den übrigen Bevölkerungsklassen scharf unterschiedener Personen leugnen. Die Quellen gerade auch des frühen Mittel¬ alters stellen oft genug die Megotiatores5 bewußt in einen Gegen¬ satz zu den übrigen Bewohnern eines Ortes2 * * *, und auch die Privilegien, die den ‘negotiatores’ namentlich in der Merowmger- und Karolingerzeit zuteil werden, kraft deren sie vom König ein eigenes (personales) Hecht erhalten, dem sie in allen Teilen des Deiches unterstehen, macht die Annahme wahrscheinlich, daß in jener' Zeit schon eine besondere Klasse berufsmäßiger Händler dagewesen sei.

Wer waren diese Händler des frühen Mittelalters ? Zunächst ihrer Herkunft nach?

Man kann zusammenfassend sagen : in den Amängen großen¬ teils Fremde. Anderen Nationen voran: die Syrer. Die nego¬ tiatores syrici bildeten bis zum Ausgang des 7. Jahrhunderts des Bindeglied zwischen Asien und Mitteleuropa. „Bis heute wohnt in den Syrern solch ein eingeborener Geschäftseifer, sagt

1 .Die gotischen Kaufleute (von der Insel Gotland), die Nowgorod

und England besuchten, wohnten alle auf dem Lande und waren Bauern. ° Al. Bugge, a. a. 0. S. 267. Auch die „negotiatores waren ansässig und . . . bedurften der Weideländereien“. Hart¬ mann, Zu W.Gesch., 112, . , .

2 In Vico qui hodieque Trajectus (Maestncht a. 828) vocatur

est que Habitantium et praecipue negotiatorum multitudme

frequentissimus“. Eginardi Historia de transl. S. Marcellini c. 81

zit. bei Eerd. Henaux, Histoire du pays de Liege 1 (1872), lob.

Forum quoque quod erat ante portam -mediam (sc. Trevir.) con¬

stitutum et frequentia comprovincialium satis celebre et famosum orto jnter cives et ne g o ti ato r e s gravi simultate, ex ®° lo°°

satiam translatum est.“ Gesta Trevirorum , 24. MG. SS 8, 162.

Gehört hierher auch die Wendung (MG. Dipl. No. 198) : „mhabitan nbus

aut in posterum habitaturis negotiatoribus sive{.) Judaeis ,

118

Dritter Abschnitt: Das Übexgangszeitalter

Martian in seinen Erklärungen zu Ezechiel, daß sie des Gewinnes wegen die ganze Erde durchziehen; und so groß ist ihre. Lust zu handeln, daß sie überall iin römischen Reich zwischen Kriegen, Mord und Totschlag Reichtümer zu erwerben trachten.“ 1

Nach ihnen kamen die Juden, die nicht mit den syrischen Kaufleuten gleichgesetzt werden dürfen, wie es Kiesselbach tut. Auch sie waren ja „Fremde“ in allen Ländern Europas geworden, nachdem sie aufgehört hatten, als cives Romani be¬ trachtet zu werden2. Die Erwähnung der Juden in den Quellen des Merowinger- und Karolingerreichs in der fast stereotypen Form „vel Judaei vel ceteri ibi manentes negotiatores“ ist so häufig3, daß wir eine starke Beteiligung der Juden am Handel jener Zeit ohne weiteres annehmen dürfen.

Außer den Juden: in Italien Araber, Libyer, Afrikaner4 5 und Griechen6; in Spanien Nordafrikaner6; im Norden dieselben Völker und dazu Italiener7. London wird im 8. Jahrhundert „multorum emporium populorum“ genannt8. Ebenso Paris9. Von den „transmarini negotiatores“ ist in den Quellen des frühen

1 W. Kiesselbach, Der Gang des Welthandels (1860), 25. Vgl. Scheffer-Boichorst, Zur Geschichte der Syrer im Abend¬ lande (Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichts¬ forschung VI).

2 J. Schipper, Anfänge des Kapitalismus bei den abendländischen

Juden (1907), 14. G.' Caro, Soz. u. WG. der Juden usw. 1

(1908), 53 ff. 128 ff. Vgl. noch besonders die gute Arbeit von R. Saitschik, Beitr. zur Gesch. der rechtl. Stellung der J., namentlich im Gebiete des heutigen Oesterr.-Ungarn vom 10. 16. Jahrh., Berner In.Diss. 1890, S. 2 ff.

3 Siehe z. B. Cap. de discipl. pal. 809. Cap. de Judaeis 814. Cap. 832 (MG. Cap. Reg. Franc. 1, 363). Ansegisi Cap. (Cap. Reg. Franc. 1, 410) MG. Dipl. No. 29. 198. 300.

Und vgl. Heyd, Lev.Handel 1, 87. Inama, DWG. 1, 448. Goldschmidt, 107 ff. Schulte, 1, 77 f. Schaube (siehe Sach¬ register s. h. v.), J. Schipper, Anfänge usw., S. 15 ff.

4 Schaube, 33 (Amalfi) allerdings im 11. sc.

5 Davidsohn, Gesch. v. Florenz 1, 39 f.

6 F. Dahn, Bausteine 2, 301 f.

7 Schulte, Jacob, Heyd. Für das Frankenreich viele Hin¬ weise bei F. Dahn, Könige der Germanen VIII. 4, 232 ff.

8 Beda, Hist. eccl. bei Anderson, Orig, of Comm.

9 „de omnes nationes quod ibidem ad ipso marcado adveniunt“. Urk. v. 769 bei Mabillon, de re dipl. p. 496, zit. von v. Maurer, St.V. r, 254.

Achtes Kapitel: Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft 119

Mittelalters die Rede1. In Bremen finden wir im 11. Jahrhundert neo-otiatores qui ex omni terrarum parte“ gekommen waren .

öAber wir hören doch auch frühzeitig von nordischen Völkern, daß sie sich aktiv am Handel beteiligen, freilich ob als Berufs¬ händler oder nur als Gelegenheitshändler verraten uns die

Quellen nicht. ^ .. , ,

So treffen wir im 9. Jahrhundert auf den Donaumarkten

Sclavi, qui de Rugis vel de Boemanis mercandi causa exeunt“, um hier Pferde und Sklaven gegen Wachs und anderes ein¬ zutauschen* 3. Wir begegnen russischen Kaufleuten aus Kiew, Gernigow und Perejaslawl im 10. Jahrhundert m Konstantinopel, wohin sie auf dem Dnjepr gefahren waren, um Seidenstoffe, goldgewirkte Stoffe, Wein, Stiefel aus Saffian, Gewürze gegen Pelzwerk, Wachs und Sklaven einzuhandeln4.

Und sicherlich haben sich den fremden Kaufleuten bald ein¬ heimische hinzugesellt, in dem Maße, wie die einzelnen Lander sich wirtschaftlich hoben. Die aufkommenden Städte finden schon überall einen Stamm einheimischer Händler vor, von denen uns aber gelegentlich auch schon aus viel früherer Zeit die

Quellen Kunde geben . . .. n-i •. 6

Welcher Art der Geschäftsbetrieb dieser „Großhändler

in vorstädtischer Zeit war, werden wir uns auf Grund unserer Kenntnisse vom Gesamtcharakter des Wirtschaftslebens leie vorstellen können, auch wenn uns die Quellen nicht so reici- liches Material an die Hand gäben, wie sie es tun. _

Es waren kleine Schnorrer, ‘Marktbesucher’, wie sie heute noch auf den Jahrmärkten der kleinen Städte sich regelmäßig ein¬ finden, Packenträger, Hausierer, die mit ihrer Hucke ihr emSaum- tier oder ihrem Karren von Dorf zuDorf, von Herrensitz zu Herren¬ sitz zogen, wie heute noch in abgelegenen Gebirgsgegenden, kleine Schiffer, wie sie auf unsern Strömen längst ausgestorben smc mit denen verglichen der Schiffer Wulkow ein Großreeder ist.

i Lex Wisigothor. lib. XI. tit. III.

3 tnqm de^theloneis Raffelstettensis (903—906) MG. Cap. 5, 251.

5 Man^enlm an den Hühner- Tkorir ! In den Gesetzen des Kg.

120

Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

Daß es keinen seßhaften Handel vor Entstehung der Städte gab, jst wohl nicht zu bezweifeln. Die Regel seit dem 8. und 9. Jahr- hundert wai dei Markt- und Meßhandel (über den ich im weiteren Ver¬ lauf noch einiges mitteilen werde). Vorher wird der H a u s i e r h a nd e 1 die Regel gebildet haben, der aber natürlich auch neben dem Markthandel Weiterbestand: „omnium negotiatorum sive in mercato sive aliubi negotientur“ (Cap. de disc. pal. 809. c. 2 Cap. Reg. Fr. 1, 158) be¬ stätigt auch „quellenmäßig“ seine Existenz.

Eine russische Urkunde nennt noch im Jahre 1190 die in Nowgorod verkehrenden Gotländer „Waräger“. Bugge, a. a. O. S. 250. b Das Wort ‘Waräger’ (BAPHL'B) existiert noch im Russischen; es bedeutet „einen herumziehenden Krämer; Hausierer, Ankäufer“.

Die Ti ansportmittel zu Lande waren die Karre oder das Saumtier (z. B. „cum carris et saumariis“ Dipl. Lud. P. a. 831 beiGuerard,

1, 787) oder der eigene Rücken (Sclavi etc. siehe oben S. 119 _ -

„de onere unius hominis massiola una solvere cogantur“. MG. Cap. 2, 251) oder (wenn irgend möglich) das Schiff? Der Handel war Flußhandel, soweit es irgend die Verhältnisse gestatteten. Daher schon frühzeitig das Streben der Grundherrn nach Flußhäfen : siehe die zahlreichen Beispiele bei Imbart de la Tour, 1. c. p. 76 Für das Vorwiegen des Flußhandels zeugt die Verwendung von ‘port’ und Handelsplatz als Synonyma im frühmittelalterlichen England: Mait- land, 1. c. p. 195 f. , dgl. von ‘portus’ in Flandern (poorter?) Pi renne, Revue histor. 57, 75.

.Über ^en ^'ransPor*: zur See in jener Zeit handelt ausführlich w it. freüiah unter vorwiegend technologischem Gesichtspunkte) Walther Vogel, Zur nord- und westeuropäischen Seeschiffahrt im frühen Mittelalter (Hans. Gesch.Bl. 1907, 1. Heft S. 153—205).

Uber den Umfang jenes frühmittelalterlichen Handels würden wir uns ebenfalls schon ein deutliches Bild mit Hilfe der bereits mit¬ geteilten Tatsachen machen können. Er war natürlich winzig. FoKende Angaben bestätigen die Richtigkeit dieser Annahme „quellenmäßig“:

Die Flußschiffe wurden gewöhnlich von drei Mann bedient: de unaquaque navi legittima, id est quam tres homines navigant“. Raffelst. ZollO. MG. Cap. 2, 251. Diesen Größenverhältnissen entspricht es wenn wir hören, daß man die Bote an Pfählen befestigte, die jedesmal Z*Ui ,,iesfm Zwecke erst eingeschlagen wurden. Priv." Bereng. II und Adalb. (22. 9. 95l). Cod. Lang. No. 595 p. 1019; oder daß man sie, um Stromschnellen zu entgehen, ein Stück über Land trug (bei der Dnj epr- Schiffahrt), A. Bugge, a. a. O. S. 247.

In einem Handelsverträge , den ein byzantinischer Kaiser mit russischen Kaufleuten abschloß (10. sc.), wurde diesen gestattet, einen Monat in Konstantinopel zu verweilen. Doch durften nicht mehr als 50 Kautleute auf einmal kommen, und keiner durfte für mehr als 50 Gulden Seidenstoffe einkaufen. Bugge, a a O S. 246. 66

Achtes Kapitel: Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft 121

V. Die Anfänge des Handwerks

Und wie sckante es mit den ge werk licken ‘Handwerkern' in der Hier betrackteten Epocke, also bis zum Beginn der Städte, aus? Gab es freie Handwerker im Sinne von selbständigen ge¬ werblichen Produzenten? -

Ick fürckte, auf diese Prägen werden wir nie eine befriedigende Antwort erkalten.’ Jedenfalls müßten ganz neue und unbekannte Quellen erschlossen werden. Das Material, das wir heute be¬ sitzen, läßt aHe möglichen Deutungen zu.

Ziemlich klar sehen wir, wie sich die gewerblichen Arbeiter auf den Grundherrschaften allmählich zu selbständigen Hand¬ werkern entwickeln : wie sie zuerst nur einen Teil ihrer Arbeits¬ kraft verwenden dürfen , um für das große Publikum gegen Entgelt zu arbeiten: Status der lex Burg. 1 ; wie dann die Eigen¬ arbeit je mehr und mehr zur Hauptsache wird und dem Grund¬ herrn nur noch bestimmte Arbeiten in beschränktem Umfange zu leisten sind : Status etwa des älteren Straßburger Stadtrechts ; bis endlich auch diese Verpflichtungen ohne Gegenleistung ent¬ fallen oder dem Grundherrn abgekauft werden. Das Interesse des Grundherrn an den gewerblichen Leistungen seiner Hinter¬ sassen erlosch und wurde verdrängt durch das Interesse an einem regen Marktverkehr.

Aber ob es von jeher neben den gewerblichen Fronhof¬ arbeitern, die großenteils wie wir sahen im Dorfe saßen, „freie“ Handwerker gegeben habe , das scheint mir , können wir nur vermuten2. Dafür spricht die Erwägung, daß es in den Dörfern

1 „Quicunque vero servum suum aurificem, argentarium, ferrarium, fab rum aerarium, sartorem vel sutorem, in publico attributum artificium exercere permiserit . . .“ Lex Burg. tit. XXI § 2.

2 Trotz des nun schon mächtig abgegriffenen „puer Parisiacus cuius artis erat vestimenta componere“, der „ingenuus genere“ war (Greg. mir. S. Martini 2, 58 bei Maurer, Fronhöfe 1, 181 und überall sonst, wo von den „Anfängen des Handwerks“ die Rede ist). Denn wir wissen , daß ein ‘homo ingenuus’ fronpflichtig sehr wohl sein konnte. Verwechslung der persönlichen mit der Produktionsfreiheit! Siehe „Mod. Kap.“ 1. Aufl. 1, 88. Noch viel weniger beweist natürlich der ‘faber publice probatus’ der Lex Alam. LXXIV. 5 für die Existenz eines „freien“ Handwerks. „Publice probatus“ heißt nicht etwa „öffentlich geprüft“ oder so etwas Ähnliches, sondern nur „öffentlich“ = allgemein erprobt und wird vom Arbeiter m dei herrschaftlichen "Wirt¬ schaft ausgesagt, wie neuerdings mit guten Gründen behauptet worden ist von C. Ko ebne in der Vierteljahrschrift für Soz. und WG. 4,

122

Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitaiter.

doch, auch gewerbliche Arbeiter gab, auch schon in der Zeit der Volksfreiheit, und daß sicher nicht alle Dörfer oder Dorfinsassen in den grundherrlichen Nexus verstrickt wurden. Dafür spricht eine gewisse Wahrscheinlichkeit (mehr nicht!), daß sich, wenig¬ stens in Italien, Beste des römischen Handwerks in das Mittel- alter hinüber gerettet haben. Die besten Kenner des italienischen Frühmittelalters nehmen es an* 1 (die Quellen schweigen vom 7. bis zum 11. Jahrhundert!). Dasselbe gilt von den Bömerstädten außerhalb Italiens. D afür spricht die Existenz von gewerblichen Wanderarbeitern, die doch also unmöglich in irgendeiner Ab¬ hängigkeit von einem Grundherrn gestanden haben können. Auf diese „Wanderhandwerker“ sollten die Forscher, deren Spezialität „die Anfänge des Handwerks“ sind, ihr Hauptaugen¬ merk richten. Wenn überhaupt zwischen 500 und 1000 ein „freies“ „Handwerk“ in nennenswertem Umfang bestanden hat, so sicher in der Form des Wanderhandwerks, dessen Hauptver¬ treter wohl die Bauhandwerker gewesen sein werden. Ich ver¬ weise einstweilen auf folgende Quellenstellen:

Edict. Bothari (a. 643) ed. F. Bluhme, p. 29 (lex 144): „si magister commacinus cum collegantes suos cuiuscunque domum ad restaurandam vel fabricandam super se, placitum finito de mercedes, susceperit.“ Wozu zu vergleichen wäre die Anmerkung, die Muratori zu dieser Lex macht, und Thom. Hodgkin, Italy and her Invaders 600—744. 6 (1895), 191.

186 ff. Im Vorbeigehen: K. irrt, wenn er meint, der aurifex käme nur in denjenigen Volksrechten vor, „wrnlche die lediglich auf römischen Kulturgebieten sich niederlassenden germanischen Völkerschaften, Burgunder und Westgoten, sich gaben“. Auch die Lex Salica X hat den aurifex. Ganz unzulässig ist es aber, aus der Auffassung von gewerblichen Arbeitern (faber, carpentarius etc.) als Zeugen in Ur¬ kunden auf ein selbständiges Handwerk zu schließen. Einen Überblick über den Stand der Forschung gibt Walther Müller, Zur Frage des Ursprungs der mittelalterlichen Zünfte. 1910. An diese Schrift, die die S e e 1 i g e r sehe Auffassung vertritt , knüpft sich wieder ein Streit; siehe v. Below in der Zeitschr. f. Soz.Wiss. 1912, in der Vierteljahrs sehr. f. Soz. u. WG. 12 (1914); sowie Seeliger und Sander in der Historischen Vierteljahrsschrift. 1913. Neue Er¬ gebnisse sind nicht zutage gefördert. Vgl. auch B. Eberstadt, Entstehung des Zunftwesens. 2. Aufl. 1916.

1 L. M. Hartmann, Urkunde einer römischen Gärtnergenossen¬ schaft vom Jahre 1030 (1892), S. 1.0 ff. ; Derselbe, Zur Geschichte der Zünfte im frühen Mittelalter in der Zeitschr. f. Soz. u. W.Gesch. 3, 109 ff. ; Derselbe, Zur W.Gesch. Italiens, S. 94 ff. (Daselbst S. 16 ff. ist auch der an zweiter Stelle genannte Aufsatz wieder ab- gedruckt.) Vgl. auch Hegel, Städteverf, Ital. 2, 61 ff.

Achtes Kapitel: Die Wiedergeburt der Tauschwirtschaft 123

Liutprant Leges Anni VIII Cap. 18 (713—735) ed. Blulime, p. 93: „si quis ad negotium peragendum vel pro qualicunque artifioio intra provincia vel extra provincia ambola/verit et in ties annos regressus non fuerit . . Urk. Ottos I. : „quanticunque negotia- tores vel ar tific e s seu et Frisones apud Worm. urbem advenissent . (Hier kann aber auch von Handwerkern die Eede sein, die ihre Er¬ zeugnisse nach Worms bringen; immerhin läuft es auf dasselbe hinaus, ■wenn sie (von wo anders her) nach Worms kommen konnten, mußten sie Produktionsfreiheit besitzen, „frei“ sein, Handwerker sein.)

Freie Wanderhandwerker waren wohl auch, wenigstens zum l ei , die gewerblichen Arbeiter, die Karl d. Gr. bei seinen Bauten be¬ schäftigte: Ad cuius (basilicae) fabricam de omnibus cismannis regio - nibus magistros et opitices omnium id genus artium advocavit. Super quos unum abbatem cunctorum peritissimum ad executionem opens . . constituit . . Provid . . Karolus quibuscumque pnmonbus . . praecepit, , ut opifices a se directos omni industria sustentare et cuncta ad opus illud necessaria subministrare curarent. Qui vero ex longmquis partibus advenissent, commendavit eos praeposito domus suae . . ut eos de publicis rebus aleret et vestiret . . .“ Mon. Sang. Gesta Kar. Lib.

SS 28 31- Mon. Germ. SS. 2, 744. 745.

' Besonders lehrreich scheint mir auch folgender Bericht über den Bau der Abtei Hyde in Hampshire , den ich noch nirgends verwertet gefunden habe; der Bau fand im Jahre 902 statt und wird wie folg,

vom Chronisten beschrieben : . ,

Artificibus itaque plurimis et operariis coadunatis, jactisque iunda- mentis, coeptum opus quotidie certatim acceleravit et m duobus anms, SLd mirum est dictu et difficile videtur, perfecit. Hex autem magnam pecuniam et largis diversarum specierum doms in argento et auro sancto patri obtuht.“ Lib. Mon. de Hyda ed. Edward Edwards

( 1 8 Alsdann : Künstler und Arbeiter «wurden von auswärts angeworben und mit Geld gelohnt. Das können nicht nur fronpflichtige Gewerb- leute gewesen sein. Diese Stelle scheint mir besser a s irgendeine andereSdas Vorhandensein eines „freien“ (W ander )Handwerks im 9. Jahr hundert zu erweisen. Daß es sich in ganz bescheidenen Grenzen hielt versteht sich von selbst. Aber da war es sehr wahrscheinlich Und das ist bedeutsam geworden für den ganzen weiteren Verlauf dei

Geschichte.

124

Neuntes Kapitel

Zur Theorie der Städtebildung

I. Der Begriff der Stadt

Auf den ersten Blick scheint es fast, als ob das Wort „Stadt“ ziemlich eindeutig ein ganz bestimmtes Phänomen bezeichne. Wenigstens steigt vor unserem geistigen Auge, wenn wir das Wort nennen hören, ein klar umschriebenes Bild auf: das Bild einer Ansiedlung vieler Menschen in Häusern und Straßen, wo¬ möglich mit Mauern und Zinnen umgeben, einer Ansiedlung, die sich scharf gegen das „platte Land“ abhebt und die auf der Landkarte mit einem mehr oder weniger großen Punkte be¬ zeichnet wird. Etwa das Bild Nürnbergs wie es uns Albrecht Dürer gezeichnet hat. Schauen wir aber genauer hin, versuchen wir mit Worten zu sagen, was wir unter einer „Stadt“ verstehen, das heißt also: versuchen wir den Begriff der Stadt scharf und eindeutig hinzustellen, so werden wir sehr bald gewahr, daß das gar nicht so einfach ist. Wir merken, daß die Merkmale des Begriffes Stadt keineswegs feststehen. Nicht im täglichen Sprachgebrauch; aber auch nicht (oder vielmehr noch viel weniger) in der Wissenschaft.

Um nur aus der Literatur über mittelalterliches Städtewesen einige Beispiele anzuführen: am meisten verbreitet dürfte die Definition v. Maurers sein: „Städte sind ummauerte Dörfer“, die sich an den bekannten Spruch des Mittelalters anschließt: „burger und gebauer zweiet nichts als zaun und mauer.“ Da¬ gegen protestiert ein anderer Gelehrter 1 : „Nicht Mauer und Graben, nicht die Zahl der Einwohner, nicht die Blüte des Handels und Gewerbes geben das entscheidende Kennzeichen einer Stadt. Der frei von den Bürgern gewählte durch die be¬ treffende Oberbehörde bestätigte Stadtrat ist das sichere Kenn¬ zeichen der in ihre volle Blüte eingetretenen deutschen Stadt.

1 K. H. Roth von Schreckenstein, Das Patriziat in den Städten (1856), 28.

Neuntes Kapitel: Zur Theorie der Städtebildung 125

Ln Itatssiegel symbolisiert sieb nicht weniger als in der Mauer der rechtlich anerkannte, organisierte Unterschied zwischen Stadt und Land.“

Etwas anders gefärbt erscheint derselbe Gedanke bei Kalls en1: „Nicht die Aussonderung eines Ortes von dem um¬ gebenden Lande durch eine ihn umschließende Mauer, sondern das im Schutz der Mauer erwachsende, eigenartige auf selb¬ ständiger Gemeinde Verbindung beruhende Leben ist das Charakte¬ ristische der Stadt.“

Die Stadt ist ein Ort, dem Marktrecht verliehen ist; „die Stadt ist eine Marktansiedluug“, sagen die Vertreter der Markt¬ rechtstheorie.

Noch andere verlangen, daß mehrere Merkmale Zusammen¬ treffen, um den Begriff „Stadt“ zu bilden: ein Ort muß be¬ festigt und er muß der Mittelpunkt eines Burgwards sein 2 ; er muß befestigt, befriedet, im Besitze des usus negotiandi und eine Korporation des öffentlichen .Rechtes sein3. „Die Stadt hat einen Markt ... Sie ist von einer Befestigung umgeben. Sie bildet einen besonderen Gerichtsbezirk . . . Sie besitzt größere Unabhängigkeit in Gemeindeangelegenheiten und einen größeren Reichtum der Gemeindeeinrichtungen ... als die Land¬ gemeinden . . . Sie ist endlich in bezug auf die öffentlichen . . . Leistungen und Pflichten vor dem platten Lande bevorzugt . . . Die Privilegierung ist überhaupt das Kennzeichen der mittel¬ alterlichen Stadt“ 4.

Sehr nett definiert Johann Heinrich Gottlob von Justi in seiner „Staatswirtschaft“ (1758) Bd. I § 477 die Stadt: „Eine Stadt ist ein Zusammenhang von Gesellschaften, Familien und einzelnen Personen, die in einem verwahrten Orte unter Auf¬ sicht und Direction eines Policeycollegii , welches man einen Stadtrat nennet, oder anderer zur Handhabung der Policey- anstalten verordneten obrigkeitlichen Personen bey einander wohnen, um mit desto besserem Erfolge, Wirkung und Zu¬ sammenhänge solche Gewerbe und Nahrungsarten zu treiben,

1 0. Kallsen, Geschichte der deutschen Städte, S. 238.

2 Seb. Schwarz, Anfänge des Städtewesens in den Elbe- und Saalegegenden (1892), S. 10.

s W. Varges, Zur Entstehung der deutschen Stadtverfassung in den Jahrbüchern für Nat.wkon. III. F. 6, 164.

4 G. v. Below, Das ältere deutsche Städtewesen und Bürgertum

(1905), 4/5.

126

Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

die unmittelbar sowol zu der Landes Notlidurft und Bequemlich¬ keit, als zu der Verbindung des gesamten Nahrungsstandes im Lande erfordert werden.“ Jus ti analysiert dann seine Definition wie folgt: „Verwahrt“ (durch Natur oder Kunst) muß eine Stadt dergestalt sein, „daß der Zugang nur an einigen darzu ausdrück¬ lich bestimmten Orten, welche man Thore oder Pforten nennet, geschehen kann; weil die zu dem Hauptmittel des Endzwecks der Städte erforderlichen Policeyanstalten anderer Gestalt nicht stattfinden können.“

Dagegen sind für die neuere Zeit beispielsweise folgende Definitionen der „Stadt“ aufgestellt: vom Internationalen Statisti¬ schen Kongreß: „Städte sind Wohnplätze von mehr als 2000 Ein¬ wohnern“, eine Begriffsbestimmung, der die amtliche Statistik in den meisten Kulturländern heute sich anschließt; von der preußischen Städteordnung von 1858: „alle bisher auf dem Pro¬ vinziallandtage im Stande der Städte vertretenen Ortschaften ; von einem gelungenen Amerikaner: „eine Stadt ist ein Ort, der eine Universität besitzt“ 1 ; von einem jüngeren Rechtshistoriker : „die Stadt ist die lokale Siedlungsform des großen sozialen Kreises“2. In der umfangreichsten neueren Schrift, die dem Problem der Städtebildung gewidmet ist und die beansprucht, es vom Standpunkte der „Soziologie“ aus zu lösen, wird die Stadt wie folgt definiert: «une societe complexe dont la base geographique est particulierement restreinte relativement ä son volume ou dont lelement territoriale est en quantite relativement faible par rapport ä celle de ses elements humains» 3.

Es soll auch Leute geben, die über „Städte“, und was mit ihnen zusammenhängt, reden oder schreiben, ohne sich überhaupt der Mühe zu unterziehen, uns ihre Meinung darüber mitzuteilen, was sie unter einer „Stadt“ verstanden wissen wollen.

Wer hat nun recht?

Man könnte versucht sein , angesichts der offenbaren Viel¬ deutigkeit des Begriffes „Stadt“, sich zu denen zu schlagen, die überhaupt auf eine Definition verzichten. Wenn nicht in der Literatur über das Städtewesen, namentlich aber in der über

1 Victor V. Branford, Science and citizenskips in The American Journal of Sociology. May 1906. p. 733.

2 P. Sander, Feudalstaat und bürgerliche Verfassung (1906), S. 129.

3 Ren6 Mau nier, L’origine et la fonction economique des villes (1910), 44. Dortselbst findet sich auf S. 34 und den folgenden auch eine Zusammenstellung noch anderer früherer Definitionen der „Stadt“.

Neuntes Kapitel: Zur Theorie der Städtebildung 127

die Geschichte der Inittelalterlichen Städte , gerade durch be¬ griffliche Unklarheiten so viel Unheil angerichtet wäre. Wir werden uns also wohl oder übel zu einer bestimmten Auffassung entscheiden müssen. Aber welcher?

Ich denke, zunächst werden wir einmal feststellen, daß die Antwort: was unter einer „Stadt“ zu verstehen sei, verschieden ausfallen wird, je nachdem die Merkmale uns von einer anderen Stelle gegeben oder von uns erst zu schaffen sind. Jenes ist der Fall , wenn wir Gesetzeskunde treiben , bestimmte Ur¬ kunden interpretieren wollen oder dergleichen. Selbstverständ¬ lich haben wir dann nur zu fragen: was ist eine „Stadt“ im Sinne des Gesetzes vom . . ., was im Sinne der Urkunden (zum Beispiel im ostelbischen Deutschland während des 9. und 10 Jahr¬ hunderts : was bedeutet hier urbs, civitas, oppidum usw.). Hier ist die Begriffsbestimmung eine Interpretationskunst. Der von der Wissenschaft durch Interpretation gewonnene Begriff mag als analytischer Begriff bezeichnet werden.

Ganz etwas anderes ist es aber , wenn wir den Begriff selbst bilden dadurch , daß wir beliebige Merkmale zusammen¬ stellen und zur Einheit zusammenfügen. Alsdann ist keine Stadt da, ehe wir sie nicht gedacht haben1. Man kann die diesem Yexffahren entspringenden Begriffe ganz allgemein synthetische Begriffe nennen. Über ihre „Dichtigkeit“ ent¬ scheidet allein der Zweck: sie sind richtig, wenn sie zweckmäßig sind. Nun ist aber ersichtlich, daß der Zwecke gar viele sein können, denen ein Begriff, wie der der „Stadt“, zu dienen hat. Der Zweck kann ein praktischer sein : zum Beispiel der, einem Landkutscher Ausweisungen zu geben, wenn er in die „Stadt“ fahren soll; oder der, die Bevölkerung eines Landes nach bestimmten Merkmalen statistisch zu erfassen und dergleichen. Oder der Zweck ist ein wissenschaftlicher : bestimmte Zusammen¬ hänge menschlicher Gesellschaft, insonderheit der Menschheits¬ geschichte, sollen klargelegt werden. Da wird es sich also darum handeln, unter welchem Gesichtspunkt man jeweils die Geschichte betrachtet: ob unter kriegsgeschichtlichem, kunst¬ geschichtlichem , geistesgeschichtlichem , rechtsgeschichtlichem,

1 Das verkennt jetzt wieder gründlich R. Maunier in dem auf S. 126 in Anm. 3 erwähnten Buche, das sonst manche hübsche Be¬ trachtung enthält. Sein unglücklicher Begriff erweist sich denn auch als ein schlechter Kompaß in dem ungeheuren Meer von Tatsachen, in dem das wissenschaftliche Schifflein des Verfassers hilflos herum treibt.

128

Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

wiHschaftsgescMchtlichem oder welchem sonst. Für jede dieser Betrachtungsweisen kann ein besonderer Begriff der „Stadt“ auf¬ gestellt werden, über dessen „Richtigkeit“ allein die Fülle von Erkenntnis entscheidet, die uns sein Bildner vom geschichtlichen Leben mit seiner Hilfe erschließt.

Also das Ergebnis: wer Wirtschaftsgeschichte treibt, wird einen ökonomischen Stadtbegriff aufzustellen haben; deutlicher : wird uns zu sagen haben, was wir unter einer Stadt verstehen müssen, wenn wir die bei dieser Erscheinung wirt schaftlich bedeutsamen Umstände erkennen und würdigen wollen. Ich definiere: eine Stadt im ökonomischen Sinne ist eine größere Ansiedlung von Menschen , die für ihren Unterhalt aiu die Erzeugnisse fremder landwirtschaftlicher Arbeit angewiesen ist1. Die besondere wirtschaftliche I ärbung dieses Begriffs wild sofort deutlich, wenn wir ihn mit anderen Stadtbegriffen : etwa dem architektonischen oder dem juristischen oder dem statisti¬ schen oder sonst einem in Vergleich setzen.

Eine Stadt im ökonomischen Sinne kann sehr wohl ein Dorf im administrativen Sinne sein: Langenbielau etwa in der Gegen¬ wart; Kempen bis zum Jahre 1294 2.

Ein Dorf im ökonomischen Sinne wird keine Stadt, wenn es befestigt wird, wie etwa die „vici in modum municipiorum“ des römischen Afrika, von denen Front in spricht, die sonst castella genannt werden , das heißt eben auf eine Verteidigung ein¬ gerichtete Dörfer waren3 *.

Es wird ebensowenig eine Stadt, wenn in ihm ein Markt ab¬ gehalten oder wenn ihm sogar Marktrecht verliehen wird.

Ein Dorf wird aber auch keine Stadt im ökonomischen Sinne,

1 Ich habe meiner Definition, die ich in der ersten Auflage (Bd. II S. 191) gegeben hatte, das Wort "größere5 hinzugefügt ; im vollen Bewußtsein der leisen Unbestimmtheit, die' ich damit in die Begriffs¬ bestimmung hineintrage. Man wird niemals ziffernmäßig feststellen können, wann eine Gruppe "nach städtischer Art lebender Menschen groß genug ist, um eine „Stadt“ zu bilden. Eine gewisse Größe aber muß wohl vorhanden sein: ein einzelner Mensch kann keine „Stadt“ bilden. Die Quantität schlägt an einer bestimmten Stelle in die Qualität (Stadt) um. Für meine Zwecke ist, wie man sehen wird, die kleine Unbestimmtheit nicht von Belang.

2 Th. Ilgen, Die Entstehung der Städte des Erzstifts Köln am

Niederrhein in den Annalen des historischen Vereins für den Nieder¬

rhein 74 (1902), 14.

2 A. Schulten, Die römischen Grundherrschaften, S. 45.

Neuntes Kapitel: Zur Theorie der Städtebildung

129

und wenn es zehnmal im administrativen Sinne Stadt wäre; die zahlreichen „Dörfer“, die im Mittelalter „zu Städten erhoben“ Avurden durch Beleihung mit Stadtrecht1 blieben wirtschaftlich natürlich, was sie bis dahin gewesen waren: Dörfer.

Endlich unterscheidet sich der ökonomische Begriff der Stadt auch von dem statistischen: der großen Anzahl .„agglomeriert“ lebender Personen. Die Biesen,, städte“ des orientalischen Alter¬ tums, wie Ninive und Babylon, werden wir uns als Städte im ökonomischen Sinne zu betrachten abgewöhnen müssen 2, ebenso wie wir dem alten indischen Großgemeinwesen, nach Art Kal¬ kuttas3 oder dem modernen Teheran und ähnlichen Ansiedlungen 4 * den Charakter einer Stadt nicht werden zuerkennen dürfen.

TT. Das Schema einer Theorie der Städtebildung

Offenbar muß nun aber die Darstellung vom Werden und Wesen der „Stadt“ ganz verschieden gestaltet werden, je nachdem es sich um diese oder jene „Stadt“ handelt. Offenbar ist es ein anderes : wann, woher, warum eine Ortschaft mit Stadtrecht be¬ lehnt ist oder einen Stadtrat bekommen hat als dieses: wann, woher, warum sie einen Kranz von Mauern una Türmen erhielt: ist es ein anderes : wann, woher, warum dort ein Markt errichtet wurde als dieses : wann, woher, warum an diesen Ort eine Uni¬ versität gelangte ; ist es ein anderes : wann, woher, aa arum sich Tausende von Ackerbauern an einem Punkt zusammenfanden,

1 Rietschel, Markt und Stadt, S. 147 f- ; Keutgen, Ämter und Zünfte, S. 75.

2 Es waren „von kolossalen Enceinten umschlossene, einen ganzen Komplex mehr oder minder lose zusammenhängender Stadtanlagen ent¬ haltende Territorien“ mit Acker und Weide, um die Bevölkerung im Fall einer Einschließung ernähren zu können. R. Pöhlmann, Die Übervölkerung der antiken Großstädte. 1884. S. 3/4.

8 Die älteren indischen Städte werden uns als eine Gruppe von Dörfern geschildert, die „in der Stadt“ nur ihre gemeinsamen Weide¬ plätze hatten. Alte Mark? Hunter, The Indian Empire. 1886.

46’ Die ummauerten Städte Mittelasiens umschließen in ihren Lehm- AVällen A'iel größere Räume als für die Stadt allein notwendig sind. In Buchara, China u. a. nehmen weit meljr als die Hälfte der Boden¬ fläche Acker- und Gartenland, öde Plätze, Teiche und Sümpfe, Haine von Ulmen und Pappeln, ausgedehnte Viehhöfe ein . . . Man rechnet bei diesen Anlagen mit der Notwendigkeit der selbständigen inneren Erhaltung bei Belagerungen.“ F. Ratzel, Anthropogeographie 2

(1891), 447.

Sombart, Her moderne Kapitalismus. X.

130

Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

die eine Stadt im statistischen Sinne bilden als dieses: wann, woher, warum eine Stadt im ökonomischen Sinne entstand, das heißt also : wann, woher, warum eine größere Anzahl von Leuten sich auf einem Fleck ansiedelten, die von den Erzeugnissen fremder Schollenarbeit leben mußten.

Wenn wir die JTrage nach der Genesis einer Stadt im öko¬ nomischen Sinne aufwerfen, so müssen wir, denke ich, zweierlei beantworten :

Erstens: woher kamen die Menschen ohne Halm und Ar, die berufen waren, die Stadt zu bilden, und was veranlaßte sie, sich zu einer städtischen Ansiedlung zusammenzufinden. Das ist die Frage nach den Gründen, die zu einer Entwurzelung der boden¬ ständigen Bevölkerung führten, ist die Frage nach den Gründen, die die einzelnen bewogen, Städter zu werden. Zweitens aber (und vor allem) wird es uns obliegen, zu erklären: wie es denn (ökonomisch) möglich wurde, daß sich so eigentümliche An¬ siedlungen bilden konnten, die aller natürlichen Daseinsweise entfremdet sind. Um hierauf die Antwort zu finden, müssen wir uns zunächst gegenwärtig halten, daß eine Stadt vom Uber¬ schuß des Landes lebt, ihre Lebensbedingungen, ihr Lebens¬ spielraum also abhängig sind von dem Ausmaß dieses Überschu߬ produktes, das sie an sich zu ziehen vermag1. Diesel Tat¬ bestand kann durch folgende Sätze etwa in seinen Einzelheiten verdeutlicht werden:

1. Die Größe einer Stadt wird bedingt durch die Größe des Produkts ihres Unterhaltsgebiets und die Höhe ihres Anteils daran, den wir Mehrprodukt nennen können.

2. Bei gegebener Größe des Unterhaltsgebiets und (durch Fruchtbarkeitsgrad der Gegend oder Stand der landwirtschaft¬ lichen Technik) gegebener Größe des Gesamtprodukts hängt ihre Größe von der Höhe des Mehrprodukts ab.

Daher zum Beispiel unter sonst gleichen Umständen in des¬ potischen Staaten mit einem hohen Ausbeutungskoeffizienten des Landvolks größere Städte als in Ländern mit demokratischer Verfassung.

1 „It is the surplus produce of tlxe country only . . . that con- stitutes tke subsistence of the town, wkick can tkerefore increase only with the increase of this surplus produce.“ Ad. Smith, Book III, Ch. I. Sehr ausführlich, wenn auch nicht immer sehr glücklich, ist von den Älteren das Thema behandelt in der Abhandlung des Grafen d’Arco, Dell’ armonia politico-economica tra la cittä e il suo terri- torio (1771), Custodi, Scrittori dass. ital. di econ. pol. P. M. Tomo 30.

Neuntes Kapitel: Zur Theorie der Städtebildung

181

B. Bei gegebener Größe des Unterbaltsgebiets und gegebener Höbe des Mehrprodukts ist die Größe der Stadt bedingt durch die Fruchtbarkeit des Bodens oder den Stand der landwirt¬ schaftlichen Technik.

Daher fruchtbare Länder u. s. g. U. größere Städte haben können als unfruchtbare1.

4. Bei gegebener Höhe des Mehrprodukts und gegebener Er¬ giebigkeit des Bodens ist die Größe der Stadt bedingt durch die "Weite ihres Unterhaltsgebiets.

Daher zum Beispiel die Möglichkeit größerer Handelsstädte ; die Möglichkeit größerer Hauptstädte in größeren Deichen.

5. Die Weite des Unterhaltsgebiets ist bedingt durch den Entwicklungsgrad der Verkehrstechnik.

Daher u. s. g. U. Fluß- oder Seelage auf die Ausdehnungs¬ fähigkeit der Städte günstig wirkt2 und in einem Lande mit Chausseen wiederum u. s. g. U. die Städte größer sein können als dort, wo nur Feldwege sind, in einem Lande mit Eisenbahnen größer als wo nur Chausseen sind.

Sodann werden wir uns klar sein müssen darüber , daß es unter den „städtegründenden“ Menschen zwei wesentlich von einander verschiedene Arten giebt : solche , die kraft irgend¬ welcher Macht, irgendwelchen Vermögens, irgendwelcher Tätig¬ keit selbstherrisch imstande sind , die für ihren Unterhalt erforderlichen Erzeugnisse des Landes herbeizuziehen : für ihren und vielleicht auch anderer Leute Unterhalt. Das sind die eigentlichen Städte gründer; die Subj ekte der Städtebildung ; die aktiven oder originären oder primären Städtebildner. Also ein König, der Steuern erhebt; ein Grundherr, dem gezinst wird ; ein Kaufmann, der im Handel mit Fremden Profit macht; ein Handwerker, ein Industrieller, die gewerbliche Erzeugnisse

1 J. Botero, Delle cause della grandezza delle cittä (1589), Libro I, cap. IX.

2 „On coDstruit ordinairement les grandes villes sur le bord de la Mer ou des grandes Rivieres , pour la commodite des transports ; parce que le transport par eau des denrees et marchandises necessaires pour la subsistance et commodite des liabitants , est ä bien meilleur rnarchä, que les voitures et transport parterre.“ Cantilion, Essai sur la nature du commerce. 1755. p. 22. 23. Im Zeitalter der Eisenbahnen wird die Richtigkeit dieses Satzes stark angezweifelt werden müssen Für das Mittelalter siehe die Studie von K. W. Nitzsch, Die oberrheinische Tiefebene und das Deutsche Reich im MA, in den Preuß. Jahrb. Nr. 30. S. 239 ff.

0*

132

Drittel- Abschnitt: Das Übergangszeitalter

nach auswärts verkaufen; ein Schriftsteller, dessen Schriften draußen vor den Toren gekauft werden; ein Arzt, der Kundschaft im Lande hat; ein Student, dessen Eltern an einem anderen Orte wohnen und der vom „Wechsel“ seiner Eltern lebt usw.

Das sind die Leute, die leben und leben lassen.

Leben lassen: die anderen Städtebewohner, die nicht aus eigener Kraft die notwendigen Unterhaltsmittel (will sagen Landeserzeugnisse) sich zu verschaffen vermögen, sondern die nur teilnehmen an denen der primären Städtebildner. Wir können sie bezeichnen als Städtefüller; als Objekte der Städte¬ bildung; als passive oder abgeleitete oder sekundäre (tertiäre, quartäre usw.) Städtebildner. Sekundäre Städtebildner sind sie, wenn sie unmittelbar ihren Unterhalt von einem primären Städte¬ bildner beziehen: der Schuster, der dem König die Stiefel macht; der Sänger, der ihm seine Lieder singt; der Wirt, bei dem der Grundherr speist; der Juwelier, bei dem der Kaufmann seiner Geliebten den Schmuck kauft; der Theaterdirektor, in dessen Theater der Handwerker geht ; der Buchhändler , der unserm Schriftsteller die Bücher liefert; der Friseur, bei dem sich unser Arzt rasieren läßt ; die Phileuse, bei der unser Student sich sein Zimmer mietet usw.

„Verdient“ nun wieder an einem sekundären Städtebildner ein anderer Städter, so ist dieser tertiärer Städtebiidner usw. Nehmen wir einen beliebigen Fall an: ein Kellner trinkt in einem Restaurant ein Glas Bier: der Wirt lebt von ihm, vom Wirt der Bierbrauer ; der Kellner bezahlt mit Trinkgeld, das ihm ein Arzt bezahlt hat; der Arzt hat Stadtkundschaft, z. B. bei einem Schauspieler ; der Schauspieler erhält seine Gage aus den Verdiensten des Theaterdirektors; diese stammen (zu diesem kleinen Teile) von den Theaterbilletten, die ein Professor ge¬ nommen hat; der Professor bezieht sein Gehalt vom Staat: hier erst erscheint der erste originäre Städtebildner: der Steuern er¬ hebende Staat: alle anderen sind abgeleitete Städtebildner. All¬ gemein : alle Gewerbetreibenden , alle Händler , alle liberalen Berufe, die den Bedarf der Städter selbst befriedigen, sind nie¬ mals Städteg-ründer, sondern Städtefüller1. Die klare Einsicht

1 Merkwürdig , wie richtig’ das Pi’oblem der Städtebildung die Männer früherer Zeit erkannten. Lag das an den einfacheren Verhält¬ nissen, die man eher durchschauen konnte? Wo begegnet man in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts einer Ausführung wie

Neuntes Kapitel: Zur Theorie der Städtebildung

133

in den Unterschied dieser beiden grundverschieden gestellten Gruppen der städtischen Bevölkerung ist die notwendige Voraus¬ setzung jedes Verständnisses für die Genesis einer Stadt.

Diese selbst ist ein geschichtliches Phänomen; sie erhält ihr besonderes Gepräge von der eigentümlichen Gestaltung der Zeit¬ umstände. Aufgabe des Historikers ist es, aus dieser die Ent¬ stehung der historischen Stadt zu erklären. Ist es also : die jeweils besonderen Ursachen aufzudecken , die Menschenmassen von der Scholle trennen; die jeweils besonderen Motive blo߬ zulegen, die Menschen zu einer städtischen Siedlung zusammen¬ führen; die jeweils besonderen Bedingungen festzustellen, unter denen die Städtegründung erfolgt; die jeweils besonderen Typen originärer und abgeleiteter Städtebildnei’ zu schildern und zu deuten. Das möchte ich im folgenden für die mittelalterliche Stadt versuchen.

dieser: „Wenn man behaupten will, daß die Gewerbe, die man ge¬ wöhnlich unter Zünfte bringt, seit jener Zeit bedeutend zugenommen haben, so kommt dieses gar nicht in Betracht. Denn da diese nur von dem örtlichen Verbrauch und von der Einwohnerzahl ab- hängen, können bekanntlich alle, die sich damit beschäftigen, nie eine volkreiche und blühende Stadt bilden, sondern müssen im Gegen¬ teil als eine notwendige Folge der nützlichen Einwohner von einer blühenden Stadt angesehen werden.“ Het Welvaren van Leiden Handschrift uit het Jaar 1659. Herausgeg. (mit deutscher Übersetzung) von Felix Driessen. 1911. c. 11. Vgl. auch des Verfassers un wesentlichen richtige „Städtetheorie“ im Kap. 1.

134

Zehntes Kapitel

Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt

Literatur und Quellen

Dieses ist ein Versuch, die Entstehung der Stadt im europäischen Mittelalter als eines realen Phänomens des sozialen Lebens zu er¬ klären. Ansätze finden sich namentlich in der lokalen Geschichts¬ forschung vielfach. Aber im großen ganzen ist die ungeheuer um¬ fangreiche Literatur zur mittelalterlichen Städtegeschichte dem hier gestellten Probleme aus dem Wege gegangen. Sie hat sich dem alten psychologischen Gesetze gemäß , daß eine Bewegung nach der Seite des geringsten Widerstandes erfolgt fast ausschließlich der Frage nach der Entstehung der Stadt v e rfa s s ung zugewandt. Be¬ greiflicherweise, da in diese Dichtung die im Augenblick beliebtesten Quellen, nämlich die Urkunden, wiesen. Neben diesen sind die anderen Quellen, aus denen man für das Lebensphänomen „Stadt“ viel mehr hätte lernen können, so gut wie ganz vernachlässigt. Nur wenige Forscher haben die kartographische Methode, die für die Besiedlungsgeschichte des platten Landes so reiche Ausbeute ge¬ währte, auf die Städte angewandt. In Deutschland haben sich ihrer mit Vorteil bedient außer einigen Lokalhistorikern wie H. Er misch für Freiberg i. S., Friedr. Haagen für Aachen, vor allem J. Fritz und A. Püschel; in England Raymond Unwin und H. Inigo Triggs. Viel zu wenig ausgenützt sind die Chronisten. Wenn irgend etwas, kann man aus ihnen die äußeren Bedingungen erfahren, unter denen Städte entstanden sind. Beachtenswerte Anfänge sind gemacht worden in der Verwertung des bevölkerungsstatisti¬ schen und vermögensstatistischen Materials , das uns auch über die Entstehung (weil soziale Struktur) der m.a. Städte auf Um¬ wegen Aufschluß geben kann. Von besonderem Werte sind hier die in letzter Zeit zahlreich veröffentlichten Untersuchungen über die Geschichte der Kirchen und Klöster in den Städten.

Einzelne Werke aus der Literatur zur Städtegeschichte hier nam¬ haft zu machen, hat keinen Zweck. Wo ich mich auf einen Schrift¬ steller beziehe, nenne ich ihn an seinem Orte. Im übrigen verweise ich auf einige kritische Übersichten über die neueren Erscheinungen dieser Literatur: so die von K. Uhlirz in den Mitteilungen des Instituts für Österreich. Geschichtsforschung vom 7. Bande an (es sind schon weit über 100 Schriften daselbst angezeigt); ferner die von J. Ziehen in der Zeitschrift für Kommunalwissenschaft. Jahrgg. I. H. 1 u. 2.

Sucht man nach einem besonderen Grunde, weshalb in der großen Masse von Büchern , die im letzten Menschenalter über mittelalter-

Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 135

liehe Städte geschrieben sind, so sehr wenig über die realen Lebens¬ erscheinungen enthalten ist, so mag man ihn in dem Umstande finden, daß viele Autoren glaubten, über Entstehung der Städte zu reden, während sie tatsächlich nur über Entstehung der Stadtverfassung sprachen; also daß sie gar nicht die Lücke empfanden, die ihre Aus¬ führungen ließen. Was wiederum sich daraus erklären dürfte, daß ihnen die richtige Problemstellung verborgen blieb.

Dieser Zusammenhang tritt am deutlichsten zutage bei den Ver¬ tretern der sogen. Marktrechtstheorie, also denjenigen Gelehrten, die die „Städte“ des Mittelalters aus einer Marktansiedlung „entstehen“ lassen. Da hier offenbar ein sehr reales Phänomen als Ursache der Stadtentstehung bezeichnet war, so wurde der Anschein erweckt, als habe gerade diese Theorie eine ökonomische und damit also sehr realistische Erklärung gegeben. So urteilte z. B. v. Bel ow (Ursprung der deutschen StadtVerf., 14): die Marktrechtstheorie sei wohl vom „wirtschaftsgeschichtlichen“ Standpunkt aus richtig, weil sie die Ent¬ stehung des Städtewesens ins Auge fasse, während er sie vom ver¬ fassungsgeschichtlichen Standpunkt aus bekämpft. Die Sache ist nun die : daß gerade vom „wirtschaftsgeschichtlichen“ Standpunkt aus die Marktrechtstheorie ganz und gar unhaltbar ist. Die Städte ökonomisch aus den Märkten erklären wollen, heißt ähnlich wie Onkel Bräsig ver¬ fahren, der bekanntlich „die Armut aus der Poverteh“ ableitete. Der kausale Zusammenhang ist doch wohl umgekehrt, als die Marktrechts - theoi’etiker annehmen: es entstehen nicht Städte, weil Märkte ab¬ gehalten (oder gar weil Marktprivilegien erteilt!) werden, sondern Märkte werden abgehalten, weil Städte entstanden oder im Entstehen sind. Zur Genesis der Städte haben die Märkte nichts, aber auch rein gar nichts beigetragen. Als mit welcher Feststellung natürlich nichts in der Frage entschieden ist: welche Bedeutung die Erteilung des Markt¬ rechts etwa für die Entstehung der städtischen V erfassung gehabt habe.

Meine eigene Darstellung will nur andeuten, wo die Probleme liegen und wde man ihrer wohl Herr werden könne; sie kann nichts abschließend behandeln.

I. Der Ursprung der Städte aus Dörfern, ins¬ besondere die Grrixndungsstädte

Man kann zweifelhaft sein, ob es überhaupt Städte (im öko¬ nomischen Sinne) während des europäischen Mittelalters gegeben habe. Jedenfalls sind sie zu keiner Zeit innerhalb eines kurzen Zeitraums „entstanden“, wie etwa eine amerikanische Stadt ent¬ steht; sondern sie sind samt und sonders in einem, meist wohl über Jahrhunderte sieb erstreckenden, Umbildungsprozesse, aus Dörfern langsam, organisch erwachsen (samt und sonders aus Dörfern : im ökonomischen Sinne !) Wie sehr langsam die Um¬ bildung der Dörfer in Städte erfolgt sein muß, können wir aus der Tatsache ersehen, daß selbst die größten Städte (vom Troß

53g Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

der mittleren und kleinen zu schweigen) noch im Hoch- und Spätmittelalter starke Spuren von Land- oder Ackerstädten au sich tragen, das heißt von halb städtischen Ansiedlungen, in denen ein Teil der Bevölkerung noch Landwirtschaft treibt, also noch nicht eigentlich zum Städter geworden ist.

Ein lebendiges Bild von dem dorfähnlichen Charakter der

o

mittelalterlichen Städte entwirft Gustav Freytag in seinen Bildern aus der deutschen Vergangenheit1:

„Wer am Morgen die Stadt betritt, der begegnet sicher zuerst dem Stadtvieh. Denn auch in den großen Reichsstädten treibt der Bürger Landbau auf Wiesen, Weiden, Äckern, Weinbergen der Stadtflur; die meisten Häuser, auch vornehme, haben im engen Hofraum Viehställe und Schuppen. Der Schlag des Dresch¬ flegels wird noch 1350 in Nürnberg, Augsburg, Ulm nahe an dem Rathause gehört ; unweit der Stadtmauern stehen Scheunen und Stadel, jedes Haus hat seinen Getreideboden und häufig einen Kelterraum ... In den Gassen der Stadt traben die Kühe, ein Schäfer führt mit seinem Hunde die Schafherde auf die nahen Höhen; auch im Städtwalde weidet das Vieh . . . Die Schweine fahren durch die Haustüren in die Häuser und suchen auf dem Wege ihre unsaubere Nahrung. Li den Flu߬ armen, vrelche durch die Stadt führen, hat das Vieh seine Schwämme ... Da fehlt auch die Mühle nicht ; auf abgelegenen Plätzen lagern große Haufen“ usw. Ich glaube, daß kein Zug an diesem Bilde falsch ist, und daß das, was Frey tag hier von den deutschen Großstädten des Hochmittelalters sagt, in gleicher Weise für die italienischen Städte, mindestens bis ins 12. Jahrhundert hinein, ebenso für die englischen wie für alle mittelalterlichen Städte zutrifft.

Die Tatsache ist so oft „quellenmäßig“ festgestellt worden, daß es erübrigt, im einzelnen Belege anzuführen. Ich verweise den Leser für Deutschland auf die zusammenfassenden Darstellungen bei v. Maurer, StädteVerf. 2, 176 ff. und öfters; v. Below, Ursprung der Stadtgemeinde, 22 ff.; vgl. desselben Werk: Das ältere deutsche Städtewesen (1905), 38 ; W. V arges, Zur Entstehung der deutschen Stadtverfassung in

den Jahrbüchern für N.ö. 6 (1894), 163 f. Auch Michael, Geschichte des deutschen Volkes 1 (1897), 129 f. hat eine Menge Belegstellen gesammelt. Ich füge noch hinzu: für Salzburg im 14. Jahrhundert F. V. Zillner, Gesch. der Stadt Salzburg 2, 234; für Lübeck im Jahre 1300 H offmann, Gesch. Lübecks; Pauli, Lübische Zu¬ stände, UB. Nr. 47; für Köln im 16. Jahrhundert Jos. Greving,

1 2, 119 f.

Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 137

Wohnungs- und Besitzverhältnisse im Kölner Kirchspiel St. Kolomba, in den Annalen des histor. Vereins für den Niederrhein, 78. Heft (1904), S. 11. Im 13. und 14. Jahrhundert wurde noch jede „bürger¬ liche“ Hantierung wie z. B. der Mauerbau in den Städten durch die landwirtschaftlichen Arbeiten unterbrochen. Lamp recht, DWL. 2, 523. Den tiefsten Einblick in die ökonomische Struktur der mittel¬ alterlichen (Mittel-)Stadt gewährt uns immer noch Karl chers Werk: Die Bevölkerung von Frankfurt a. M. im 14. und 15. Jahrhundert. Band I. 1886. Siehe für die hier erörterte Frage z. B. die Dar¬ stellung auf S. 260 ff., die wohl die gründlichste ist, die wir besitzen.

Daß in vielen italienischen „Städten“ sicher noch im 11. und 12. Jahr¬ hundert die Landwirtschaft ein sehr wichtiger Berufszweig war, zeigen uns die Urkunden mit voller Deutlichkeit. Siehe z. B. für Mantua, Pisa, Cremona (11. 12 sc.) die Urkunden nach Muratori Antiqu. IV, 13. 16. 20. 23 bei Bethmann-Hollweg, Ursprung der Lombardischen Städtefreiheit (1846), S. 129 f. Ferner die Quellenbelege bei Max Handloike, Die lombardischen Städte (1883), S. 708 ff. Wir dürfen daraus mit Gewißheit schließen, daß ein, zwei Jahrhunderte nach jener Zeit noch immer starke landwirtschaftliche Interessen auch in den italienischen Städten vertreten waren. „Auch die negotiatores waren ansässig und gerade die kleineren Grundbesitzer bedurften der Weide¬ ländereien“ : L. M. Hartmann, Zur W. Gesell., S. 112.

Von den englischen Städten haben wir genug Zeugnisse, die den Nachweis führen, daß sie ganz denselben Charakter trugen wie die deutschen, nämlich halbstädtischen. Für die Zeit des Domesday siehe vor allem F. W. Maitland, S. 203 und öfters. Aber „even long after the Conquest the agricultural element prevailed in English borouglis far more then is commonly supposed“, meint der sehr vor¬ sichtige Charles Gross, The Gild merchant 1 (1890), 4, wo er auch eine reiche Auswahl von Literatur und Quellenbelegen uns dar¬ bietet. Selbst in London begegnen wir noch im 13. Jahrhundert der Aufzucht von Schweinen und selbst Ochsen. Ashley, Engl. WG. 1, .74 und 117 nach dem Lib. Albus XLI XLII.

„Die Tätigkeit der Stadtbewohner beschränkte sich nicht auf ihr besonderes Gewerbe. Zur Erntezeit strömte alles auf das flache Land hinaus. Wenn der König im Mittelalter die Parlamentssession schließt, entläßt er die hohen Adeligen zu ihren Sports Vergnügungen , die Ge¬ meinen zur Erntearbeit und macht dabei keinen Unterschied zwischen den Landedelleuten und den Bürgern. So lesen wir auch, daß die langen Gerichts- und Universitätsferien vom Juli bis Oktober dauerten, damit die des Rechts und der Wissenschaft Beflissenen reichlich Muße für das so überaus wichtige Erntegeschäft hätten. Freilich kam die gesamte Stadtbevölkerung der Masse des Landvolkes gegenüber für die Erntearbeiten nur wenig in Betracht. Aber sicher war das den Städten zunächst gelegene Land besser bestellt und gedüngt als das von jedem größeren Beförderungsmittel ferner liegende, und die zu- schtissigen Arbeitskräfte aus der Stadt waren den großen Grund¬ besitzern willkommen.“ Th. Rogers, Six Centimes of work and wages, 2 Vol., 1884, deutsche Übersetzung S. 89. Vgl. auch des-

188

Dritter Abschnitt Das Übergangszeitalter

selben Verfassers Hist, of Agriculture 1 (1866), 252, und J. R. Green, Town Life in the fifteenth Century 1 (1894), 171.

Neuerdings hat wieder ein reiches Material für alle Länder zu- samm engetragen, das die von mir angeführten Quellen und Darstellungen ergänzen mag: R. Maunier, 1. c., p. 72 ff.

Von dieser Regel: daß alle mittelalterlichen Städte in Jahr¬ hunderte währender Umbildung langsam aus Dörfern erwachsen sind, machen auch keine Ausnahme etwa die sogenannten „Grün- dungsstädte“, das heißt die künstlich von einem Landes- oder Grundherrn plötzlich ins Leben gerufenen „Städte“, wie wir sie im Osten Deutschlands, in Böhmen, in Frankreich, in Spanien in völlig übereinstimmenden Formen seit dem 12. Jahrhundert entstehen sahen. Man hat sich hier nämlich offenbar durch das Aushängeschild, auf dem ‘Städtegründling5 stand, täuschen lassen imd hat geglaubt, es habe sich bei diesen Gründungsstädten um „künstliche Ansiedlungen von Händlern und Handwerkern“ 1 gehandelt. Diese Vorstellung ist geradezu abenteuerlich. Sie hätte nie entstehen können , wenn man sich auch nur einen Augenblick die Frage vorgelegt hätte (die im Mittelpunkte dieser Betrachtungen steht): wovon sollte eine solche Amsiedlung leben? Noch dazu in den ödesten Teilen des Landes, zum Beispiel im „entvölkerten Wendenlande“ 2, wo Lübeck „gegründet“ wurde. Man versetze sich in die Lage einer solchen Kolonie, selbst heute, in einem reichlich besiedelten Lande: woher sie ihre Kundschaft nehmen soll, da doch niemand nach ihr verlangt hat. Man vergegenwärtige sich, welche Not oft ein einziger Schuster oder Bäcker oder Krämer hat, der neu in eine Kleinstadt oder in ein Dorf einzieht. Und bedenke nun das Mittelalter! Es ist ein furchtbarer Wahn, der viele der scharfsinnigsten Historiker beherrscht: daß Rechtsakte Leben schaffen können. Dieser Glaube hat ja auch Anlaß zu der Behauptung gegeben, der wir oben schon begegneten: ein Markt oder gar ein Markt¬ privileg könne eine Stadt entstehen machen. Man denke zum Beispiel: „das auf einem bestimmten Wochentag beschränkte Marktrecht (sic) vermochte demnach wie es scheint, nicht in gleicher Weise wie das unumschränkte zum Aufblühen einer Handelsniederlassung beizutragen“ (sic)3. Es ist der alte

1 Keutgen, Ämter und Zünfte, 110. Derselbe Gedanke durch¬ zieht Rietschels Markt und Stadt wie' ein roter Faden.

2 Pauli, Lübische Zustände, 59.

3 Rietschel, Markt und Stadt, 46.

Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 139

preußische Grundsatz, den Deutschland erst jetzt aufzugeben im Begriffe ist: die Verordnung schafft das Leben. Daß der Kauf¬ mann zunächst Kundschaft und keine Privilegien braucht, liegt außerhalb dieser Denkungsweise. Und so ist denn auch der Aberglaube entstanden: im Mittelalter seien die entvölkerten Länder mit einem Netz von Städten im ökonomischen Sinne (denn das wären ja wohl „Ansiedlungen von Händlern und Handwerkern“) bedeckt worden': den sogenannten „Gründungs¬ städten“ in Deutschland, den Villes neuves in Frankreich usw. Und wenn alle Quellen übereinstimmend, in einwandfreier Lesart, dieses ausdrücklich aussprächen, so dürfte der Forscher dem¬ gegenüber nichts anderes sagen als: die Verfasser der „Quellen“ waren entweder irrsinnig oder sie haben sich auf Kosten der deutschen Professoren im 19. und 20. Jahrhundert einen Spaß machen wollen.

Nun ist es mir aber völlig unverständlich, wie man angesichts der erdrückenden Fülle von Urkunden, die das Gegenteil be¬ sagen, jemals selbst auf Grund des Quellenstudiums zu jener seltsamen Ansicht kommen konnte: im 11. und 12. Jahrhundert seien Städte (im ökonomischen Sinne) „gegründet“ worden. Die Quellen belehren uns vielmehr so deutlich, wie man es sich nur wünschen kann : daß in allen Fällen das „gegründet“ wurde, was allein einen Sinn hatte, gegründet zu werden : nämlich Dörfer. Meinetwegen mit einer Zugabe von ein Paar Krämern und Handwerkern. Das gilt sogar in der großen Mehrzahl der Fälle bei der „Gründung“ einer „Marktansiedlung“ im Anschluß an eine schon bestehende Stadt; geschweige denn bei den Städte¬ gründungen im freien Felde. Wir müssen uns jene „Gründungs¬ städte“ als eine Art römischer Kolonie mit Zenturiatassignationen vorstellen : die bekannte quadratische Straßenanlage in den neu- begründeten Dörfern läßt sogar den Gedanken aufkommen, die römische Militärkolonie habe bei den mittelalterlichen „Grün¬ dungs Städten“ Pate gestanden. Wenn wir nicht annehmen wollen, daß die quadratische Form bei gleichmäßiger Ansiedlung die natürliche ist. Warum nur das Dorf, nicht auch die Feldflur (soviel wir wissen) nach Art der römischen Kolonien in Schach¬ brettmanier aufgeteilt ist, vermögen wir mit dem Hinweis auf die Eigenart des deutschen Pfluges (der also wohl auch in Süd¬ frankreich und Spanien, wo wir dieselben Schachbrett,, Städte“ antreffen, Verbreitung durch die germanischen Stämme gefunden hatte; oder sind dort auch die Feldfluren in Quadraten auf-

140 Dritter Abschnitt: Das Übergaugszeitalter

geteilt?) einwandsfrei zn erklären. Der mächtige „Ding“ in dei Mitte der Dorfstadt, der übrigens von vornherein auch meist ein „Kaufhaus“ also etwa einen Schuppen zum Abstellen der Traglasten oder zum Einstellen der Karren usw. bekam, war offenbar so groß angelegt, um als Auftriebplatz für das Vieh zu dienen, das in den öden Gegenden, in denen die Ansiedlungen häufig entstanden , einen größeren Schutz als anderswo nötig hatte. Wir dürfen annehmen, daß die Ställe und Scheunen der bäuerlichen Ansiedler ursprünglich alle um den Ring lagen, während die Paar Handwerker in den nach ihnen später be¬ nannten Nebenstraßen untergebracht wurden.

Was sagen denn nun die Quellen aus, das heißt also die Urkunden , mittels deren einem Locator oder einer Gruppe von Ansiedlern die Rechte und Privilegien zur Niederlassung an einem bestimmten Orte erteilt wurden?

Nun in der Hauptsache überweisen sie den Kolonisten, die die neue Stadt „gründen“ sollen, eine große, meist sehr große Feldflur mit allem Zubehör, vor allem also der Gemeinde¬ weide und dem Gemeindewalde. Daß also mindestens auch eine starke Bauernschaft sich in der „Gründungstadt“ niederließ, das dürfte durch die Quellen außer Zweifel gestellt sein. Und das ist die Hauptsache. Daß es sich aber um wesentlich dorfähn¬ liche Siedlungen bei den sogenannten Gründungsstädten ge¬ handelt habe , beweist auch der Umstand , daß von insgesamt etwa 300 uns in Ostdeutschland bekannt gewordenen Gründungen nur etwa 30 über das Niveau einer kleinen Ackerstadt hinaus¬ gekommen sind b Diese aber verdanken ihre Entwicklung, wie sich leicht nachweisen läßt, dem Vorhandensein der auch in anderen Städten wirksamen städtebildnerischen Kräfte , von denen im weiteren Verlauf dieser. Darstellung die Rede sein wird.

Hier ein paar beliebig herausgegriffene Beispiele aus den Quellen :

Lübeck (gegründet 1165) erhält von Heinrich dem Löwen zu der ihm bereits vom Grafen Adolph II. geschenkten Feldmark „alle Dorpe ghelegen vor der Stadt over dem Horeghen berge“. Nach Detmars Chronik a. 1165 (Städtechron. Bd. 19) Pauli, Lüb. Zustände, 10/11, der übrigens selbst Lübeck als „Handelskolonie“ (!) entstehen läßt.

1 Joh. Fritz, Deutsche Stadtanlagen, Straßburger Programm (1894), 26.

Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 141

Stettin erhält 100 + 30 Hufen (Blümcke, Die Handwerks¬ zünfte im mittelalterlichen Stettin, Baltische Studien 34, 90). Die Hufe nur zu 30 Morgen gerechnet: eine stattliche Dorfflur! Es finden sich aber auch 150, 200, sogar 300 Hufen als Dotation der neuen „Städte“ (Fritz, a. a. O.).

Besonders lehrreich ist die Gründungsurkunde für Frankfurt a. O. (ausgestellt vom Markgrafen Johann von Brandenburg, abgedruckt bei Gerken, Cod. YI. 563, Auszug bei Kl öden, Geschichte des Oder¬ handels, 1. Stück (1845):

1. Der Markgraf überträgt die Einrichtung (constructionem) der Stadt dem Godinus von Herzberg.

2. Der Markgraf überträgt der Stadt das Eigentum an 124 Hufen Weiden und Äcker und bestimmt, daß von den 104 zum Ackerbau bestimmten Hufen jährlich je ein Vierding Hufenzins bezahlt werde. Außerdem weist er ihr 60 Hufen jenseits der Oder an , die , sofern sie angebaut werden, ebenfalls zinspflichtig werden. Das übrige Land ist Almende.

3. Käufer und Verkäufer werden bei Meinen Einkäufen vom Zoll befreit; wer Waren nach der Stadt bringt, zahlt Zoll; wer Waren bar kauft, zahlt keinen Zoll.

4. Der Markgraf behält sich in der Markthalle und auf den Jahr¬ märkten von jedem ‘Stande5 eine Pensio von 3 Pfenn. vor. Der übrige Gewinn von den Ständen im Kaufhause (also wohl durch Ver¬ mietung an die Hökerweiber) fließt der Stadt zu ; ebenso der Gewinn ans Einrichtungen, die die Stadt etwa zum Nutzen des Marktes schafft.

Also : Deutlich tritt uns das Bild eines Dorfes entgegen, das nach Möglichkeit sich zu einer kleinen Ackerstadt entwickeln soll: die 164 Hufen sind das sichere Fundamentum; die ‘Markteinrichtungen5 die Zukunftshoffnungen.

Den klarsten Einblick in die Welt der „Gründungsstädte“ gewähren uns aber die böhmischen Urkunden, deren Inhalt uns das ausgezeichnete Werk Julius Lipperts, Sozialgeschichte Böhmens, Band 2 (1898) erschlossen hat. Böhmen ist bekanntlich unter Ottokar II. von diesem selbst und zahlreichen geistlichen und weltlichen Herren, die sich gegenseitig den Ruhm als ‘Städtegründer5 streitig zu machen suchten, mit einem Netz deutscher Ansiedlungen, die wir als ‘Gründungsstädte' bezeichnen, bedeckt worden. Bei. keiner dieser Gründungen aber fehlt die Anweisung einer großen Dorfflur , selbst wenn die neue „Stadt“ sich an eine schon bestehende Stadt anschloß. So ist es der Fall bei Neu- Prag, Neu-Pilsen (168 Hufen), Neu-Budweis (bekommt die Dörfer Plawen und Malaie), Neu-Glatz (60 Hufen), Außig (26 Hufen), Nimburg (Neuenburg) (117 Hufen), Melnik (72 Hufen) ; so bei Trübau, Landskron, Chotzen, Äupa, Trautenau, Leitmeritz u. a. Nur wenn ein Ort einen sichern Broterwerb wo anders fand, wie z. B. die Ein¬ wohner Kolins, die von der Holzlieferung an das nahe Kuttenberg lebten, konnte die bäuerliche Tätigkeit etwas eingeschränkt werden. Aber selbst in diesen Fällen scheinen die vorsorglichen „Gründer“ die neuen Ansiedler mit Grund und Boden zur Landwirtschaft ausgestattet zu haben. Siehe a. a. O. S. 42 ff.

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Daß nun aber auch die ganz ähnlichen Städtegründungen m Frank¬ reich die Villes neuves des 11. sc., die „bastides“ des 13. Jahr¬ hunderts in Südfrankreich sowie in Spanien nie ohne Anweisung einer genügend großen Feldflur an die Ansiedler ins Werk gesetzt wurden, beweisen uns die neuerdings verarbeiteten Quellen ebenfalls zur vollen Genüge. Ich verweise für Spanien auf die Quellensammlung von P. de Bofarull y Mascaro, Coleccion de documentos m- edictos del archivio general de la corona de Aragon, 1851 ; für Frank¬ reich auf J. Flach, Origines de l’ancienne France 2, 165 ff. 325. 334. 343 ff- , dem ich auch die Namhaftmachung des vorstehend ge¬ nannten Quellenwerkes verdanke ; sowie auf die Spezialuntersuchung von A. du Bourg, Etüde sur les coutumes communales du Sud-Ouest de la France in den Memoires de la Soc. arch. du midi de la France. Ile ser. t. XII (1880—1882), 250 ff. Siehe namentlich p. 272 f. Die neuen Städtebewohner mußten dem Herrn sogar Ackerfronden leisten!

1 Will man sich ein Bild von der Gründung von Kolonistenstädten machen, so muß man sich die Vorgänge bei der Entstehung dei (alt-) amerikanischen Städte vergegenwärtigen. Siehe Charles M. Andrews, Die Stadt in Neu-England, ihr Ursprung und ihre agrarische Grund¬ lage in der Zeitschr. für Soz. u. WG., Bd. II.

Ich gebe nunmehr einen möglichst schematischen Überblick über die Struktur und die Entstehungsweise der Städte im Mittel- alter und beginne mit einer Analyse derjenigen Elemente, die ich als Städtebildner oder Subjekte der Städtebildung bezeichnet habe.

II. Die Subjekte der Städtebildung

1. Die Konsumenten

Wer die Genesis der mittelalterlichen Städte richtig ver¬ stehen will, der muß vor allem einsehen lernen, daß diese Städte in ihrer großen Mehrzahl und sicher wohl alle bedeutenden während .der ersten Jahrhunderte ihres Bestehens fast reine Konsumtionsstädte gewesen sind. So daß also ihre Genesis ver¬ stehen begreifen heißt: wie eine Konsumtionsstadt unter den Be¬ dingungen, die das Mittelalter bot, erwachsen konnte.

Eine Konsumtionsstadt nenne ich diejenige Stadt, die ihren Lebensunterhalt (soweit sie ihn von außerhalb bezieht, also das Überschußprodukt der landwirtschaftlichen Arbeit) nicht mit eigenen Produkten bezahlt, weil sie es nicht nötig hat. Sie bezieht vielmehr diesen Lebensunterhalt auf Grund irgendeines Rechtstitels (Steuern, Rente oder dergleichen) ohne Gegenwerte leisten zu müssen. „Sie bezieht“: heißt natürlich: eine Anzahl Personen bezieht, die damit die Gründer dieser Stadt werden. Die absonderliche Eigenart der Konsumtionsstadt besteht also

Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt ]43

darin, daß ihre Gründer jene Konsumenten sind, ihre Füller dagegen alle die für jene arbeiten und damit Anteil an ihrem Konsumtionsionds erhalten. Die originären , primären Städte¬ bildner sind somit die Konsumenten, die abgeleiteten sekundären (tertiären usw.) die Produzenten. Die Konsumenten sind in diesem Falle die Selbständigen, die Leute mit eigener Lebens¬ kraft, während die Produzenten die Abhängigen sind, deren Existenzmöglichkeit durch die Größe des Anteils bestimmt wird, den die Konsumentenklasse ihnen von ihrem Konsumtionsfonds gewähren will. (Das "Wort „Abhängigkeit“ richtig verstanden : natürlich sind im Grunde in jeder Gesellschaft alle von allen abhängig, wenn man damit meint, daß keiner den anderen ent¬ behren kann, ohne an Lebensinhalt zu verlieren.)

Damit also Konsumtionsstädte entstehen, ist es vor allem nötig, daß an einer Stelle ein großer Konsumtionsfonds sich an¬ sammelt, der hier zum Verzehr gelangt. Der Konsumtionsfonds kann von einem (oder wenigen) mächtigen Konsumenten oder von einer größeren Anzahl mittlerer oder kleiner Konsumenten zusammen gebracht werden: ein König kann ebensogut eine Konsumtionsstadt gründen wie 1000 pensionierte Generäle. Wer nun aber waren im Mittelalter diese Konsumenten? Wohl im wesentlichen Landesherrn, die von Steuern und Grundherrn, die von Landrenten lebten; wobei zu bemerken ist, daß die Grenze zwischen Landesherrn und Grundherrn in dem hier gebrauchten Wortsinn fließend war: der steuererhebende Fürst war gleich¬ zeitig Großgrundbesitzer, bezog also vom eigenen Grund und Boden ebenfalls Revenuen, die sich als Landrenten darstellten. Eine scharfe Trennung zwischen Krongut und Staatsbesitz war noch nicht eingetreten.

Ich sehe nun im Mittelalter eine erste Gruppe bedeutender Städte entstehen als Residenzen weltlicher oder geistlicher Fürsten. Es sind diejenigen, in denen der Grundherr, der überall die Zelle der mittelalterlichen Stadt bildet (um Gottes willen: nicht im verfassungsrechtlichen Sinne ! wenn ich doch das end¬ lich klar gestellt hätte , daß ich meine Begriffe , soweit nichts besonderes bemerkt ist, ökonomisch fasse. Man soll mich nun aber auch in Ruhe lassen und mit der unleidlichen Melodie von der ‘Hofrechtstheorie’ aufhören I) in denen der Grundherr (sage ich), der überall die Zelle der mittelalterlichen Stadt bildet, sich zum größeren Fürsten , zum Landesherrn auswächst in dem Sinne, daß er seine Revenuen aus Grundrenten durch Revenuen

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Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

aus Steuern vermehrt. Das ist ein langwieriger Prozeß, und demgemäß erfolgt die Städtebildung in diesen Fällen ebenfalls langsam und schrittweise.

Die Städte, um die es sich hier handelt, sind also die Sitze der Bischöfe1 und Erzbischöfe, der Grafen, Duces, Markgrafen, Herzoge, Könige.

Sehr häufig sind weltlicher und geistlicher Fürstensitz in einer und derselben Stadt, die dadurch also zweifache Förderung er¬ fährt. So waren die Bischofsstädte Oberitaliens dieselben wie die Sitze der Duces der Langobarden und später der fränkischen Comites: Vicenza, Verona, Brescia, Bergamo, Mailand, Pavia, Parma, Piacenza, Modena, Mantua, Turin und andere 2. Ebenso waren in Deutschland die „Civitates“ der Karolingerzeit auch Sitze des Gaugrafen und des Grafengerichts3. Daß die bedeutenden „Pfalzstädte“ in Deutschland auch Bischofssitze waren, ist be¬ kannt, ebenso natürlich, daß es die großen Hauptstädte Englands und Frankreichs waren. In Hamburg z. B. residierte im 11. Jahr¬ hundert der Erzbischof und der Herzog von Sachsen4; in Florenz der Markgraf von Tuscien und der Erzbischof 5 ; in Amsterdam

1 Der Name ‘Bischofsstadt’ ist zweideutig. Er kann verfassungs¬ rechtliche oder (wie hier) reale Bedeutung haben. Die bisherige Städtegeschichte sprach von Bischofsstädten nur in jenem ersten Sinne und hat für die Stadtverfassungsgeschichte natürlich recht, wenn sie das tut. Für die Genesis der Stadt ist es ganz gleichgültig, ob der Bischof jemals Stadtherr war oder nicht. Florenz ist stadt¬ geschichtlich im hervorragenden Sinne „Bischofsstadt“, denn der, Bischof ist es vornehmlich, der Florenz zu Macht und Ansehn, zu Größe und Reichtum gebracht hat. Und doch war Florenz überhaupt niemals eine Immunität; seine Verfassung ist gleich aus der grafschaftlichen eine kommunale geworden. Siehe Davidsohn, Gesell, von Florenz 1, 336.

2 H. Pabst, Geschichte des langobardischen Herzogtums in den Forschungen zur deutschen Geschichte 2 (1862), S. 437 f. Bethmann- Hollweg, Ursprung der lombardischen Städtefreiheit (1846), S. 66 f., 74 ff.

3 Rietschel, Civitas, 94.

4 „basiliea eadem ex una parte habuit domum episcopi, ex alia praetorium ducis“, Adam Brem. 2, 68 zit. bei Maurer, 1, 63.

5 Nach der Ansicht eines gründlichen Kenners der Florentiner Frühzeit vergrößert sich die Stadt während des 11. Jahrhunderts des¬ halb „sehr bedeutend“, weil sie in dieser Zeit Mittelpunkt der anti¬ kaiserlichen, hierarchischen Partei in Tuscien wird: 0. Hartwig, Quellen und Forschungen zur älteren Geschichte von Florenz 1 (1875), 93.

Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt ]45

der Bischof und die Herren von Amstel 1 ; in Ypern der Bischof und die Grafen von Flandern2 usw.

Oft genug, ja man darf sagen, dort, wo es überhaupt möglich war , nämlich in dem alten Kulturgebiet , der Regel nach lagen die Residenzen der mittelalterlichen Fürsten im Bereich der schon von den Römern bewohnten Städte. Man hat daraus den Schluß gezogen, daß die Bedeutung der mittelalterlichen Städte irgendwie bestimmt worden sei durch ihre römische Vergangen¬ heit. V eil sie „Sitze des städtischen Lebens“ damals gewesen seien, seien sie es jetzt wieder geworden. Das ist sicherlich falsch. Die römischen Städte hatten ihre Bedeutung als Städte längst verloren, wie wir an anderen Stellen schon feststellen konnten , als im Mittelalter oft an denselben Stellen neues städtisches Leben sich entwickelte. Insbesondere im römischen Koloniallande waren die Städte nichts anderes gewesen als Garni¬ sonen und Residenzen der Gouverneure. In dem Augenblick, als die Legionen und die Statthalter abzogen, sanken die Städte in nichts zusammen. Nicht das geringste verknüpft innerlich römisches und mittelalterliches Städtewesen; es sei denn die gedankenlose Redensart von dem „Handel und Verkehr“, der sich in das Mittelalter „hinübergerettet“ habe. Daß äußerlich an denselben Stellen, wo im Römerreiche Städte gestanden hatten, auch im Mittelalter Städte erblühten, hat seinen Grund in zwei Tatsachen :

1. daß die Kirche vorschrieb, die Bischofssitze sollten in „Städten“ (Civitates) errichtet werden;

2. daß die Ruinen, namentlich die Mauerreste eine gute Vor¬ arbeit für eine Befestigung, darboten , auf die man wie bekannt bei „Begründung“ der Städte das Hauptaugenmerk richtete. Deshalb kamen sie als Festungen, von denen gleich die Rede sein wird, vornehmlich in Betracht.

Wie groß die Bedeutung der Residenz für das Emporkommen der mittelalterlichen Städte war, werden wir erst (soweit es sich überhaupt im einzelnen nachweisen läßt) ermessen können, wenn wir die Städtefüller kennen lernen werden, die von den Revenuen der residierenden Herren ihren Unterhalt gewannen. Hier möchte ich aber doch schon auf zwei Symptome aufmerksam machen,

1 J. Ter Gouw, Geschiedenes van Amsterdam 1 (1879), 43 ff. Gijsbrecht III : „Hem komt regt de eertitel toe : Stichter van Amsterdam.“

2 A. Vandenpeereboom, Ypriana 3 (1880), 94 ff.

Sombart, Der moderne Kapitalismus. I

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Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

aus denen die überragende Bedeutung der fürstlichen Residenz für die Entwicklung der Städte im Mittelalter geschlossen werden darf.

Das ist erstens dies, daß blühende Städte, wenn beispielsweise der Bischofssitz aus ihnen verlegt wurde , eine starke Einbuße erlitten h Zweitens die bedeutsame Tatsache , daß Größe und Reichtum der Städte vielfach in einem geraden Verhältnis stehen zu der Macht- und Herrschaftssphäre des in ihnen residierenden Fürsten. Mit anderen Worten : Die mittelalterlichen Städte sind um so größer, je größer (und reicher natürlich) das Gebiet ist, dessen „Hauptstädte“ sie sind. Wo wir frühzeitig zentralistische Tendenzen der Landesfürsten beobachten, finden wir auch zuerst Städte von größerem Umfang. Wo es überhaupt während des Mittelalters nicht zu größeren Reichen“ und „Reichshauptstädten kommt, sind auch keine sehr großen Städte vorhanden.

Daher wir in Süditalien eher Großstädte erwachsen sehen (Palermo, Neapel) als in Norditalien; in Österreich (Wien) eher als im übrigen Deutschland1 2 ; in Frankreich (Paris) und England (London) eher als in Flandern und Brabant. Das wird niemand in Erstaunen setzen, der sich einmal vergegenwärtigt hat, welche bedeutenden Einkünfte schon im* frühen Mittelalter beispielsweise die englischen oder französischen Könige bezogen. So sollen die Revenuen des englischen Königs schon unter Heinrich I. (also im Anfang des 12. Jahrhunderts) 66000 L., das sind etwa 5 850000 Mark heutige Währung betragen haben3. Aber selbst die Einkünfte des in Wien residierenden Landesherm von Ober¬ und Niederösterreich betrugen im 13. Jahrhundert 35 000 Wiener Pfennige, also etwa 100 000 Mark heutiger Währung4. Erwägt

1 Siehe z. B. Flach, Origines 2, 329.

2 Das einen so schönen Anlauf zur Großstadt“ entwicklung ge¬ nommen hatte. Ich zweifle keinen Augenblick, daß nächst Byzanz im Jahre 800 Aachen die größte europäische „Stadt“ war. Wenn wir die Zahl der hier dauernd oder vorübergehend die Sonne Karls umschwirrenden Schmetterlinge ganz gering veranschlagen, werden wir doch ein paar Tausend „Einwohner“ des „Palatiums" und seiner Dependenzen annehmen müssen. Den deutlichsten Eindruck von der Größe Aachens in der Karolingerzeit erhält man aus der Darstellung F. Dahns (Könige der Germanen VIII. 6 [1900], 102 ff.), wo wohl alles Quellenmaterial, das wir besitzen, benutzt worden ist.

8 W. Stubbs, Constitutional History l5, 415.

4 Siehe: 'Die landesfürstlichen Urbare Nieder- und Oberösterreichs aus dem 13. und 14. Jahrhundert; herausgegeben von Alf. Dopsch

(Österr. Urbare I. 1 [1904]. S. CCXXV). Vgl. H. v. Voltelini, Die Anfänge der Stadt Wien, 44 ff.

Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 147

man, daß der Warenumsatz einer bedeutenden Hansastadt im Hochmittelalter 1—3 Millionen Mark heutiger Währung’ betrug, rechnet man selbst diesen ganzen Betrag auf auswärtigen Handel und nimmt man (sehr hoch !) einen .Durchschnittsprofit von 20 °/o vom Umsatz an, so würde der Gesamtprofit, der also den Fonds darstellt, aus dem eine städtische Bevölkerung ernährt werden kann, etwa 200 000 600 000 Mark heutiger Währung sein. Man kann somit sagen:

Der einzige König von England ernährte im Jahre 1100 mit seinen Revenuen zehn- bis dreißigmal soviel Menschen als Lübecks oder Revals Handel im 14. Jahrhundert.

Neben diesen fürstlichen Gfroßkonsumenten finden sich nun in der mittelalterlichen Stadt eine Menge mittlerer und kleiner Grundrentenbezieher zusammen, die wiederum einen beträcht¬ lichen Konsumtionsfonds bilden können. Ich denke zunächst an alle Kirchen und Klöster, die, wie man weiß, zum Teil über recht bedeutende Einkünfte verfügten. Wenn man jetzt an¬ fangen wird, die Wirtschaftsgeschichte der mittelalterlichen Städte zu schreiben, dann wird man den Betrag dieser Einkünfte zu er¬ mitteln trachten müssen. Ich führe beispielshalber an: Das St. Tlmmasstift und das St. Peterstift in Straßburg hatten ein Einkommen (im 15. Jahrhundert) von zusammen 2374 Mark oder 33000 Mark heutiger Währung1. Im Jahre 1487 besaßen die geistlichen Anstalten (Pfarrkirchen, Stifte, Klöster) im Kölner Kirchspiel St. Kolumba ^ 1 59 Mietliäuser, die einen Mietsertrag von 2830V6 Mark lieferten2 (ein Viertel des gesamten Miets¬ ertrages in diesem Kirchspiel). Der Zehnte, den die Kirchen Kölns im 14. Jahrhundert zu zahlen hatten, belief sich auf rund 300 Mark3, ihre Einkünfte betrugen also rund 3000 Mark, das sind rund 150000 Mark heutiger Währung (sollte das nicht noch zu niedrig berechnet sein?).

Um den Anteil der geistlichen Grundherrschaften am Auf-

1 Willi. Kothe, Kirchliche Zustände Straßburgs im 14. Jahrh. 1903, S. 2.

2 Jos. Greving, Wohnungs- und Besitzverhältnisse usw. in den Annalen des histor. Vereins für den Niederrhein 78, 24 f.

8 Nach dem Liber valoris eccl. Coh, der abgedruckt ist bei Ant. Jos. Binterim und Jos. Hub. Mooren, Die alte und neue Erz¬ diözese Köln, 1. Teil 1828, S. 51 ff. Über die Verhältnisse in Hildes¬ heim unterrichtet (schlecht) H. A. Lüntzel, Geschichte der Diözese und Stadt H. 1 (1858), 288 ff; 2, 23 ff

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bau der mittelalterlichen Stadt einigermaßen ziffernmäßig fest¬ stellen zu können, müßte man dann auch über ihre Anzahl ge¬ nauer unterrichtet sein, als wir es bisher sind. Nach allem, was wir wissen, können wir einstweilen nur soviel mit Sicherheit sagen, daß diese verhältnismäßig sehr groß gewesen sein muß. Was wir von einzelnen Angaben besitzen, macht das unzweifelhaft1.

In Florenz läuteten schon Ende des 12. Jahrhunderts 80 Glocken. Davidsohn, Gesch. v. Florenz 1, 732.

Über die große Zahl von Geistlichen überhaupt während des Früh¬ mittelalters : Lamprecht, DWL. 1. 2, 846.

Einen Überblick über den Bestand an Kirchen und Stiftern in 15 deutschen Städten gibt A. Püschel, Das Anwachsen der deutschen Städte. 1910. Für Wien siehe Ant. Mayer, Das kirchliche Leben usw. in der Gesch. der Stadt Wien 1 (1897), 445 ff. Für Strafsburg Karl Achtaich, Der Bürgerstand in Str. (1910), 6 ff.

Im 13. Jahrhundert sind uns in Paris die Namen von 96 Kirchen und Klöstern überliefert (in der Steuerrolle von 1292). Siehe die Zu¬ sammenstellung des Herausgebers H. Gerard in der Coli, des docum. in4d. I ser. 8. tome (1837), p. 624 626.

Von den Klöstern insbesondere wissen wir, daß sie in dem Maße wie die Städte erstarkten und durch ihre Mauern Schutz gegen räuberische Überfälle gewährten, ihren Sitz in diese verlegten, namentlich auch, wie uns die Chronisten berichten , um die Gebeine der Heiligen und die Reliquien vor den Plünderungen der Feinde in Sicherheit zu bringen. Belege für Frankreich bei Flach, Origines 2, 331. Für Deutschland hat W. Arnold, Verf.Gesch. d. deutsch. Freistädte 2, 162 ff., die Verlegung wichtiger Klöster in die von ihm behandelten Städte urkund¬ lich festgestellt, während er nachweist, daß seit dem 13. Jahrhundert die meisten Klöster von vornherein in denJStädten begründet wurden. Waren das auch vorwiegend Klöster der „ärmeren Orden“ : Franzis¬ kaner, Dominikaner und. Augustiner, so dürfen wir doch annehmen, daß auch sie in den meisten Fällen Grundbesitz auf dem Lande be¬ saßen, also Renten bezogen. Ein Klarissen- oder Franziskanerkloster z. B. wurde 1282 durch den Patrizier Humbert zum Widder und seine Ehefrau Elisabeth zum Jungen in Mainz gegründet. Sie schenkten alle ihre Güter, Einkünfte und Gerechtsame in den elf Dörfern Weiterstatt Astheim , Bubenheim , Fiersheim , Partenheim und Alsheim an das Kloster, das bald durch weitere Schenkungen noch begüterter wurde. Belege bei Arnold, a. a. 0. S. 175. Nach den Angaben desselben Gewährsmannes gab es im 13. Jahrhundert in Worms acht Klöster, in Mainz zehn, in Speier sechs. Über die Klöster in Wien: H. von Voltelini, a. a. 0. S. 25 f. ; über den reichen Grundbesitz der kirch¬ lichen Institute Wiens im Lande ebenda S. 48 f. Die Klöster Wiens werden gegründet, um den Glanz der Stadt zu heben: Rieh. Müller,

1 Allgemeine Klösterverzeichnisse für Deutschland bei A. Hauck, Kirchengeschichte 4 (1913), 975 ff. M. Schulte, Der Adel und die deutsche Kirche. 1910.

Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 149

Wiens räumliche EntA. usw. in Gesch. d. St. W. II. 1, 155 ff. Über die Klöster in London: W. Stanhope, Monastic London. 1887.

Neben den Kirchen und Klöstern sind für viele deutsche Städte auch die geistlichen Kitter orden von Bedeutung geworden , die hier eine eigene Kommende errichteten und bei ihrem bekannten Keichtum erhebliche Rentenbeträge in den Städten zusammenziehen und zum Verzehr bringen konnten1.

Den geistlichen Rentnern gesellen sich nun die weltlichen Rentenberechtigten zu. Zunächst will ich wenigstens im Vorbei¬ gehen einer Kategorie originärer Städtebildner Erwähnung tim, die doch wohl für manche Stadt (Bologna, Paris, Oxford) nicht ganz ohne Bedeutung gewesen sind: ich meine die Schüler-2 und Studenten3, die ihren „Wechsel“ von auswärts bezogen. Sie erhielten gewiß sich selbst aus ihrer eigenen Tasche und manchen caupo, manche puella außerdem.

Daß die Städte des Mittelalters, zumal in den ersten Jahr¬ hunderten ihres Bestehens, überreich gewesen seien an welt¬ lichen „Grundherrn“, das heißt Personen, die auf einem. Hofe, in einer burgartigen Behausung, einem Kastell, einer torre innerhalb der Stadtmauern wohnten und außen Grundbesitz hatten, den sie entweder von hörigen Bauern in eigener Regie bewirt¬ schaften ließen oder den sie verpachtet hatten oder von dem sie Zins erhoben : darüber herrscht wohl keine Meinungsverschieden¬ heit. Und das allein ist das Phänomen, um dessen Feststellung mir hier zu tun ist. Während ich dahingestellt sein lasse : welchen Ursprungs der Landbesitz dieser Grundherrn, welchen ständischen Charakters sie selbst gewesen seien; ob Freie, ob Ministeriale, ob Landadel, ob Stadtadel. Denn für die Frage, die uns hier beschäftigt, sind alle diese Unterschiede belanglos. Hier ist allein von Bedeutung die Tatsache, daß in den mittelalterlichen Städten in großer Anzahl Landrentenberechtigte ansässig waren. Leider besitzen wir (meines Wissens) für keine Stadt zitfernmäßige Fest¬ stellungen über die Zahl und den Besitz der weltlichen Grund-

1 Arnold, a. a. 0. S. 178 ff. (Regensburg, Speier, Köln, Mainz, Straßburg, Basel, Worms); Bücher, a. a. 0. S. 514 (Frankfurt a. M.).

2 Über Klosterschulen und ihre Verbreitung in Europa handelt ausführlich Montalembert, Die Mönche des Abendlandes, deutsche Ausgabe 6 (1878), 169 ff. Vgl. auch v. Maurer, St.V. 3, 57 ff.

3 Für die spätere Zeit siehe vor allem das Werk von F. Eulen¬ burg, Die Frequenz der deutschen Universitäten. 1904.

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Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

Herren, die städtisch siedelten : die beste Untersuchung ist wohl für Florenz angestellt worden. Und hier lassen sich bis Anfang der 1180 er Jahre 35 „torri“ , das heißt also burgartige Be¬ hausungen grundherrlicher Familien nachweisen1 2, „doch die wirkliche Zahl mag eine dreifach so große gewesen sein“

Und diese , in den größeren Städten gewiß sehr zahlreichen, großgrundbesitzenden Familien wurden nun um den Betrag ihrer Renten Städtebildner : das ist es, worauf ich die Aufmerksamkeit des Lesers hinlenken wollte, da ich ihm sonst mit diesen Fest¬ stellungen nichts neues bieten konnte.

Nur zweierlei will ich noch, um das Bild etwas zu beleben, hinzufügen :

Erstens : wenn Grundrentenbezieher, die in der Stadt leben, Städtebildner sind (woran niemand mehr zweifeln dürfte, der meine Darlegungen gelesen hat), so ist es offensichtlich, daß eine Stadt umso größer und reicher sein wird, je mehr Grundrenten in ihr zum Verzehr gelangen. Also je mehr der einzelne Rentner an Revenuen bezieht, oder je mehr Rentner sich in der Stadt vereinigen.

Mit anderen Worten:

Die Höhe der ländlichen Grundrente , die in der Stadt ver¬ zehrt wurde, hing ab von der Anziehungskraft, die eine Stadt auf die Großgrundbesitzer des Landes auszuüben vermochte, einerseits, von der Fruchtbarkeit der Gebiete andererseits, die sich in der Verfügungsgewalt der ursprünglich städtischen oder später urbanisierten Grundeigner befanden. Man muß mehr, als bisher geschehen, darauf achten, daß für die Entwicklung der Städte im Mittelalter (aus den angeführten Gründen) viel weniger ihre sogenannte Verkehrslage, als die Fruchtbarkeit und die Be¬ völkerungsdichtigkeit ihrer Landschaft, bestimmend waren. Hier lag der Vorsprung, den schon die Natur Italiens und Flanderns

1 Santini, Societä delle torri im Arcli. stör. Ser. IV. Vol. 20. Davidsoh-w. in seinen „Forschungen“, S. 121: „Türme in der Stadt“.

2 Davidsohn, Gesell, von Florenz 1, 554.

Über die bürgerlichen Behausungen der weltlichen Grundherreu in den deutschen Städten verbreitet sich v. Maurer, St.V. 2, 9 ff.

In Frankreich : „multi nobiles oppidani erant, qui magnorum possessores fundorum, in praecipuis baronibus nativae regionis pollebant, et multis magnae strenuitatis militibus, hereditario jure praeminebant“ (1098). Orderic Vital. IV, p. 49, bei Flach 2, 368. Das Verzeichnis der Hotels des Grands in Paris am Ende des 13. Jahrhunderts siehe in der Coli, des docum. ined, Ser. I, 8 (1837), 627 f.

Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 151

gewährte; denn die Länder dieser glichen schon früh im Mittel- alter einem üppigen , wohlangelegten Garten. Man muß di6 Schilderungen von der flandrischen Landschaft in der Philippide lesen, um sich das richtige Verständnis für die frühe Blüte der niederrheinischen Städte zu verschaffen. Man muß auch beachten, daß beispielsweise die flandrischen Seestädte wie Nieuport, Arden- burg , Dam und auch Brügge viel später zu Reichtum gelangen als die binnenländischen Städte wie Ypern und Gent. Abei natürlich war die Voraussetzung für die Ausnutzung jener gün¬ stigen Naturbedingungen, daß die Mehrprodukte des Landes in der Stadt verzehrt werden konnten , und dazu bedurfte es der Einbeziehung der Grundherrn in die Kreise der städtischen Be¬ völkerung. Diese aber ist in verschiedenen Ländern in sehr ver schiedenem Maße erfolgt. Weshalb , ist hier nicht zu erörtern. Man wird annehmen dürfen, daß der Einfluß der römischen, voi- wiegend städtischen Kultur einen wesentlich bestimmenden Ein¬ fluß ausgeübt hat. Deshalb doch wohl in Italien 1 die starke Tendenz des Landadels zur freiwilligen Urbanisierung, deshalb eine stärkere Konzentration ländlicher Großgrundbesitzer in den Städten über¬ all, wo außerhalb Italiens das Römertum seine Spuren zurück¬ gelassen hatte : stärker in den rheinischen und südlichen Gebieten Deutschlands, als in den unwirtlichen Kolonisationsländern des Nordens und Ostens. Aber es mögen auch andere Umstände bestimmend mitgewirkt haben. So hat in England eine eigen¬ tümliche Gestaltung des Verfassungslebens wie des Erbrechts frühzeitig eine Abstoßung der jüngeren Söhne des hohen Adels in die Städte, sowie eine Verschmelzung der Gentry mit dem Bürgertum zuwege gebracht. In Italien hat fernei die zw angs ■weise Einsperrung des Landadels in die Städte eine große Rolle gespielt2; in Flandern und Brabant war die Entwicklung ähnlich3.

1 Lange vor dem gewaltsamen inurbamento „batten die Lockungen des Behagens und der Geselligkeit einzelne Geschlechter veranlaßt, statt in einem Turme auf einsamem Bergesgipfel sich m der Stadt niederzulassen“. Davidsohn, Geschichte von Florenz 1, 343. 1 ür Venedig: R. Heynen, Zur Entstehung des modernen Kapitalismus

in Venedig (1905), 88. , , ,

2 Über das ‘Inurbamento defla nobiltä’ findet man den gesuchten

Aufschluß z. B. bei Muratori, Antiqu. Diss 47 ; v. Bethmann- Hollwe0- Ursprung der lombardischen Städtefreiheit, o. 104 n. ; 0 Bertagnolli, Vicende delfagricoltura (1881), p. 175; E. Poggi, (’enni storici delle Leggi sull’agricoltura (1848), 2, 163 ff, und in der

ersten Auflage dieses Werkes 1, 313 ft.; 2, 198 f.

a piehe die erste Auflage 1, 311 f- und die dort angeführte Literatur.

152

Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

In derselben Zeit, in der die italienischen Kommunen für die Zusammenballung vieler Bentenfonds in ihren Mauern durch das Inurbamento Sorge trugen, warfen die deutschen Städte den Adel zu den Toren hinaus :

Das Freiburger, das Hamburger (1120) und andere Stadtrechte verboten dem Adel, in der Stadt zu wohnen nullus de homi- nibus vel ministerialibus ducis vel miles aliquis in civitate habi- tabit, bestimmt das Stadtrecht von Freiburg zu derselben Zeit als die mächtige Janua den Markgraf Alderamo (1135), den Grafen von Lavagna (1138) und andere Große der Landschaft' schwören läßt : ero habitator Janue per me vel per* filium meum et tenebor adimplere sacramentum compagne, als in einer kleinen Stadt, wie Treviso, während eines Jahres (1200) über 60 zum Teil mächtige und reiche Land her ren gezählt werden, die Bürger¬ recht erworben hatten1.

Kein Wunder, daß bei dieser verschieden gestalteten Politik Freiburg Freiburg und Genua Genua wurde möchte man fast sagen. Jedenfalls: darüber darf kein Zweifel obwalten, daß, wenn als starkbestimmender Faktor für die Entwicklung- der Städte im Mittelalter die größere oder geringere Agglomeration des Gro߬ grundbesitzerstandes sehr erheblich in Betracht kommt, auch ein großer Teil der Unterschiedlichkeit, den die Geschichte der Städte hier oder dort aufweist, auf die unterschiedliche Gestaltung des uns eben beschäftigenden Verhältnisses zurückzuführen ist. Diese schlichte Erkenntnis hatten die Beobachter im 16. Jahr¬ hundert auch schon gewonnen: „pleraeque Italiae urbes augustiores et majores sunt urbißus Galliae aut reliquae Europae idque quoniam nobiles Italiae urbes inhabitant“ sagt der bis heute beste Städtetheoretiker2. Heutzutage sieht man so einfache Zu¬ sammenhänge nicht mehr.

Die zweite Anmerkung, die ich zu diesem Punkte: Städte¬ bildung durch Landrentenagglomeration machen wollte, ist diese :

Es muß im Mittelalter eine Zeit gegeben haben ich denke es ist das 10. und 11. Jahrhundert vornehmlich , in der eine plötzliche Zusammenballung ländlicher Grundbesitzer an ein¬ zelnen Punkten erfolgt. Diese Punkte sind die befestigten oder zu befestigenden oder doch als Verteidigungspunkte, also in Summa

1 Bonifaccio, Istoria di Trivigi (1744), p. 153.

2 Joh. Boteri, Libri tres de origine urbium earumque excellentia et augendi ratione etc. 1665. Lib. II, Cap. X. (Die Schrift erschien zuerst in italienischer Sprache 1589.)

Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 158

als Festungen ausersehenen Plätze, und die an diesen Punkten sich in größerer Anzahl vereinigenden Landrentenbezieher, und also Städtebildner sind die Milites, ist die Besatzung der Burg¬ mannen, die man zur Verteidigung jener bald sich zu Städten entwickelnden Orte heranzog. Sie wurden, soviel ich sehe, ein wichtiger Faktor in der Entstehung der Stadt. Denn sie schufen mit einem Male einen größeren Nahrungsspielraum für zahlreiches Volk. So daß man auch sagen könnte : die mittelalterliche Stadt ist (nicht nur in fortifikatorisch-architektonischem, sondern auch und gerade im ökonomischen Verstände) vielfach als Festung erwachsen; richtiger als Garnisonstadt; denn nicht die Mauern und die Burg ernährten ihre Bevölkerung, sondern die Milites, die in der Burg lagen und Konsumtionsfonds heranzogen. Denn natürlich waren die Castrenses , die Castellani , die milites mit irgendwelchen Gütern den Burglehen belehnte Männer, die also die Renten dieser Güter in der Stadt, wo sie garni- sonierten zum Verzehr brachten.

Eine sehr anschauliche Darstellung der ökonomischen Stellung des Males gibt Widukind, c. 35 (MG. SS. 3, 432).

Der sich an diese Stelle anknüpfende Streit: ob die milites agrarii heerbaunpflichtige Bauern oder Dienstleute des Königs waren: siehe Dietr. Schäfer in den Sitzungsberichten der Berl. Akad. der Wiss. XXVI, 1905, 25. Mai, und vgl. dazu H. Delbrück, Geschichte der Kriegskunst 3 (1907), 93 f. 109 f. ist für die hier belichteten Zu¬ sammenhänge belanglos. Hauptsache ist: daß „ceteri . . octo seminarent et meterent frugesque colligerent nono et suis eas locis reconderent.“

Bisher ist in der allgemeinen Wirtschaftsgeschichte der mittelalter¬ lichen Städte die Stadt als Garnison nur nebenbei behandelt, zudem meistens unter verfassungsgeschichtlichem oder topographischem Ge¬ sichtspunkt.

Ich verweise einstweilen auf folgende Schriften, in denen die verfassungsrechtliche , fortifikatorische usw. Seite des Problems der mittelalterlichen Festung beleuchtet ist:

Deutschland: Inama, DWG. 2, 99 Bf. Emil v. Loeffler, Ge¬ schichte der Festung Ulm. 1881. Seb. Schwarz, Anfänge des Städtewesens in den Elbe- und Saale-Gegenden. 1892. G. Köhler, Geschichte der Festungen Danzig und Weichselmünde. 2 Tie. 1893. W. Varges, Zur Entstehung der deutschen Stadtverfassung in Jahrb. f. N.Ö. 6, 163 ff.. „Die Stadt als Festung“. S. Rietschel, Das Burggrafenamt. 1905. Clem. Kissel, Die Garnisonbewegungen in Mainz von der Römerzeit an. 1907. Außerdem natürlich sind die allgemeinen Werke zurate zu ziehen, vor allem immer die riesige Materiaisammiung v. Maurers.

Für Böhmen insbesondere siehe J. Lippert, Soz.Gesch. von Böhmen 2 (1898), 169. Alle böhmischen Städte von Bedeutung waren Gauburgen,

154

Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

Für England hat Maitland, Domesday and beyond I. § 9 eine ganz ähnliche Verfassung nachgewiesen, wie sie Deutschland in seiner Burgwardverfassung besaß. Die stärkste Festung des Landes war London. In ihr spielt die Besatzung auch verfassungsgeschichtlich (wie ja übrigens in den meisten größeren Städten überall) eine hervor¬ ragende Bolle. Als der Bekenner ein Schreiben nach London schickt, adressierte er es an den Bischof, den Portreeve und die burh-thegns (das sind also just die drei hervorragenden Städtebildner!). Der Stadt¬ graf von London heißt schon in den ältesten angelsächsischen Quellen Wicgerefa.

Frankreich im allgemeinen behandelt Flach, Origines 2, 79. 330 ff.; die Champagne im besonderen Eene Bourgeois, Du mouvement communal dans le comte de Champagne aus XII® et XIII® siede. Pariser Diss. 1904. Dieselbe Verfassung wie in Eng¬ land und Deutschland: „Le domaine propre (sc. du comte de Ch.) etait . . . divise en Chätellenies ou Prevötes , qui avaient chacune pour chef-lieu le principal centre de population , point specialement fortifie, se trouvait une forteresse qualifie de chäteau ä l’exclusion des autres forteresses du meme district. Les Prevötes des comtes de Ch. etaient en 1152 au nombre de vingt-huit, dont les chefs-lieux sont aujourd’hui dans six departements : Siehe die Liste a. a. 0. S. 19.

Für Belgien siehe z. B. Alph. Wauters, Les libertes communales 1 (1878), 209. Alle belgischen (Groß-)Städte sind Garnisonen seit dem 10. Jahrhundert: Cambrai, Utrecht, Lüttich, Brüssel usw. Pirenne, Les villes flamandes avant le XII. siede in den Annales de l’Est et du Nord. Vol. I. 1905.

Für Italien ist auf die lokalgeschichtlichen Werke zu verweisen. Am besten sind wir natürlich über Toscana und Florenz unterrichtet : die Stadt glich „einem großen und volkreichen Kastell, das zur Graf¬ schaft in einem sehr ähnlichen Verhältnis stand wde die einzelnen Burgen zu ihrem Bezirk“. Davidsohn, Gesch. von Florenz 1, 331. Aber auch Gregorovius, Geschichte der Stadt Born im Mittelalter, enthält viel Material.

2. Die Produzenten

Es ist kaum eine Stadt denkbar, in der nicht ein Teil der Bevölkerung sich selbst und andere durch gewerbliche oder kommerzielle Tätigkeit erhielte, das heißt also (wie wir aus dem vorigen Kapitel wissen) sich den Lebensunterhalt durch Austausch der eigenen Leistungen von außen her selbst beschaffte. Auch im Mittelalter haben diese Bestandteile in keiner Stadt ganz ge¬ fehlt. Es wird Zeit, daß wir uns ihrer erinnern und sie einen mich dem andern in ihrer Eigenart begreifen lernen.

La wird zunächst die Arbeit der Städte für die umliegende Landschaft zu erwähnen sein: Erzeugung gewerblicher Gegen¬ stände für die Bauern; Lieferung fremder Einfuhrartikel an die-

Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 155

selben. Eine Stadt, deren Bewohner vorwiegend von diesem Verkehr mit der umliegenden Landschaft lebt, nennen wir eine Landstadt, auch wohl einen Marktort. Im Mittelalter wird zweifellos in noch größerem Umfange als heute dieser Typus der Stadt bestanden haben; es werden die Flecken von 500 bis 1000 Einwohnern gewesen sein, in denen nebenher stark Landwirt¬ schaft wie heute getrieben wurde, die also kleine Ackerstädtchen ihr Lebtag blieben. Die allermeisten jener 270 Gründungsstädte im Osten Deutschlands zum Beispiel, von denen wir schon erfuhren. Auch in den großen Städten, denen also, an die wir vornehmlich denken, wenn wir von Städten sprechen, wird ein Austausch mit den Bauern (und noch mehr mit den Grundherren) der Umgegend bestanden, und ein Teil der Bevölkerung (Hand¬ werker und Krämer) wird davon gelebt haben. Allzu umfang¬ reich wird man sich jedoch diesen Absatz an das platte Land im Mittelalter nicht vorstellen dürfen: dazu war die Eigen¬ wirtschaft noch zu stark verbreitet und der Kulturstand der ländlichen Bevölkerung nicht hoch genug. Man darf nicht etwa denken, daß dieser Austausch zwischen Land und Stadt den Lebensnerv der mittelalterlichen Stadt gebildet hätte. Davon kann keine Kede sein, daß die Bauern etwa um den Betrag, um den sie auf den Wochenmärkten ihre Erzeugnisse an die Städter verkauften, nun gewerbliche und fremdländlische Er¬ zeugnisse bei diesen eingekauft hätten. Vielmehr wunderte von dem Barerlös wohl der größere Teil in die Taschen der Grund¬ herren in Land und Stadt, und diese kauften nun mit dem Zins- gelde (oder dem Erlös für die ihnen gelieferten Naturalien) den städtischen Handwerkern und Händlern ihre Waren ab. So daß, wenn sie in der Stadt, wohnten, diese von ihnen und nicht von sich selber lebten.

Etwas größere Bedeutung mag für manche der mittelalter¬ lichen Städte der internationale Handel gehabt haben. Aber auch von dessen städtebildender Kraft darf man sich keine übertriebenen Vorstellungen machen.

Die Handelsstadt hat ökonomisch das Eigenartige, daß sie ihren Unterhalt in kleinen Beträgen aus einem sehr weiten Kreise bezieht h Und diese Eigenart ihrer Existenz steckt der Ausdehnung der reinen Handelsstadt enge Grenzen. Ganz große

1 „ils tirerent leur subsistance de tont l’univers“ : Montesquieu, Esprit des Lois. Livre XX, Ch, V,

156

Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

reine Handelsstädte hat es niemals gegeben und kann es nioht geben, denn entweder ist die Transporttechnik noch so wenig entwickelt, daß die Ausdehnung des Handels nur eine geringe sein kann1, oder aber bei entwickelterer Transporttechnik ist die Handelsprofitrate verhältnismäßig so niedrig, daß schon un¬ geheure Warenmengen umgesetzt werden müssen, um ein be¬ trächtliches Wertquantum in den Händen der Kaufleute als Ge¬ winn und damit Unterhaltsstoff für die städtische Bevölkerung zurückzulassen. Der Laie und die meisten „Theoretiker“, die über Städtebildung geschrieben haben, sind nationalökomiscli Laien pflegt sich nicht klarzumachen, daß von dem Waren¬ strom, der durch eine Stadt hindurchgeht , noch kein Sperling in dieser Stadt leben kann, es sei denn, er pickte sich aus den Getreide- oder Erbsensäcken sein Futter heraus. Worauf es allein ankommt, ist ja wohl doch der Wertbetrag, auf dessen Bezug sich die Kaufleute ein Hecht erwerben, indem sie die Güter durch ihre Stadt bewegen, ist das, „was hängen bleibt“, was „verdient“ wird, ist der Handelsprofit mit einem Wort, und der pflegt bekanntlich im umgekehrten Verhältnis zu dem gehandelten Wertquantum zu stehen. Ist er verhältnismäßig- hoch (wie im Mittelalter) so ist der Umsatz klein. Und wie klein er im Mittelalter war, werden wir noch sehen. Also selbst in den Handelsmetropolen wird immer nur ein kleiner Teil der Bevölkerung vom „Handel“ haben leben können. Wenn wir ein Durchschnittseinkommen von nur 100 Mk. heutiger Währung für das Lübeck des 14. Jahrhunderts annehmen und einen Profit¬ satz von 20 °/o vom Umsatz (!), hätte der Handel selbst in Lübeck nur etwa 6000 Menschen ernährt2 3.

Bleibt das Exportgewerbe als städtebildender Faktor zu er¬ wähnen übrig. Soweit es in Betracht kommt, läßt es den Typ der Industriestadt entstehen. Und den hat es sicher auch im Mittelalter schon gegeben, zweifellos auch auf der Grundlage einer gewerblichen Produktion im engeren Sinne (d. h. der Stoff¬ veredelung). Hier werden Städte, die eine gewerbliche Spezialität erzeugten, gewiß mit dieser ein paar Hundert, in wenigen Fällen ein Paar Tausend Menschen haben ernähren können: Mailand mit Waffen, Nürnberg mit seinen „Nürnberger Waren“, Konstanz mit seiner Leinwand, Florenz mit seinen Tüchern. Doch sind

1 „extensive commerce checks itself , by raising the price of all

labour and Commodities“: D. Hume, Essays 2 (1793), 208.

3 Siehe die dieser Rechnung zugrunde liegenden Ziffern oben S. 1 46.

Zehntes Kapitel: Die Entstehung det mittelalterlichen Stadt 157

das immer nur Ausnahmen. Und die Entwicklung dieser Industrien fällt zumeist in die späteren Zeiten des Mittelalters, so daß sie für die erste Entstehung und Ausweitung der Stadt kaum in Betracht kommen.

Eher haben schon für die Anfänge des Städtewesens be¬ stimmte Erzeugnisse des Grund und Bodens (oder des Meeres), auf dem oder an dem die Stadt lag, Bedeutung erlangt. Ich denke an die Salzstädte 1 , an die Berg- (Silber)-Städte , an die Weinstädte, am die Heringsstädte. Aber ich muß wiederum davor warnen, die städtebildende Kraft auch dieser Erwerbsquellen zu überschätzen.

Sehen wir uns eine der ersten und meistbedeutenden Berg¬ städte des Mittelalters an: die Silberstadt Freiberg in Sachsen.

Sie fängt etwa 1185 an, sich zu entwickeln. Und zwar rasch, wie das begreiflich ist. „Dieselben Ursachen, die in unserer Zeit in den Minendistrikten Kaliforniens über Nacht volkreiche Städte entstehen ließen , führten auch im Münzbachtal Ansiedler aus allen Gegenden zusammen; die neue Ansiedlung wuchs daher sehr schnell und hatte bald den Umfang erreicht, den sie dann Jahrhunderte lang bewahren sollte.“ 2 Und das Ergebnis? Im Jahre 1259 überläßt Heinrich der Erlauchte den „fimum qui colligitur in foro“ schenkweise dem Hospital, woraus wir schließen können, erstens „daß seine Menge nicht gering war“, zweitens daß nachts auf dem Markte das Stadtvieh kampierte. (Freilich wäre es auch denkbar, daß der Mist von dem aufgetriebenen Schlachtvieh herrührte?) Allerdings wurde Freiberg in Laufe des Mittelalters 'die größte sächsische Stadt. Das heißt aber? Es hatte 379 Hausgrundstücke und somit höchstens 4500— 5000 Ein¬ wohner 3. Also von allzu starker Wirkung ist der Bergbau selbst dieser ersten Silberstadt Deutschlands nimmer gewesen.

Nur ein Faktor spielt, soviel ich sehe, bei der Entwicklung der mittelalterlichen Städte neben der Akkumulation von Land-

1 Lüneburg war im Jahre 1227 die bedeutendste Stadt des Herzog¬ tums neben Braunschweig: Herrn. Heineken, Der Salzhandel Lüneburgs (Hist. Studien Heft 63. 1908), 21.

2 Hub. Ermisch, Wanderungen durch die Stadt Freiberg im Mittelalter (Neues Archiv für sächsische Geschichte; herausgeg. von H. Ermisch 12 [1891], S. 92). Vgl. damit C. E. Leuthold, Unter¬ suchungen zur älteren Geschichte Freibergs (in demselben Archiv Bd. 10 [1889]), 304 ff.

8 H. Ermisch, Zur Statistik der sächsischen Städte im Jahre 1474 (in demselben Archiv 11, 148. 150).

|58 Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitaltet

renten eine erhebliche Rolle, das ist der Geldkandel, das Bankiergeschäft oder der Wucher, wie man in den einzelnen Fällen entscheiden mag. Von ihm und seiner Bedeutung werde ich noch näheres im weiteren Verlauf dieser Darstellung mitteilen. Hier will ich nur schon darauf hinweisen, daß. aus der instinktiv richtigen Wertung des Wuchers als städtebildenden Faktors sich wohl das Bemühen mancher um das Gedeihen ihrer Stadt besorgter Stadt-herm erklärt, die Juden zur Ansiedlung zu veranlassen. So sagt im Eingang des Speyer-Privilegiums vom Jahre 1084 der Bischof Rüdiger: „Cum ex Spirensi villa urbem facerem, putavi milies amplificare honorem loci nostri , si Iudaeos colli - gerem.“ 1 Immerhin wird auch der Geldhandel nur für einige große Städte einen wesentlichen Einfluß auf die Bevölkerungszahl ge¬ habt haben und wird in den meisten Städten hinter der städte¬ bildenden Kraft des direkten Dandrentenbezuges der städtischen Grundherrn in den Hintergrund getreten sein. Wie überragend dessen Bedeutung für die mittelalterliche Stadt gewesen sein muß, ergeben schon die wenigen Andeutungen , die ich auf den vorigen Blättern gemacht habe. Dieser Eindruck seiner Prä- ponderanz wird verstärkt , wenn wir irgendeine der größeren Städte des Mittelalters auf ihren ökonomischen Artcharakter hin prüfen. Wir finden dann, daß reine „Industriestädte“ (wie Frei¬ berg) ganz klein bleiben, daß aber in jeder Stadt über 10000 Ein¬ wohner eine Häufung mächtiger Konsumenten stattfindet. Mag es Venedig oder Florenz, Genua oder Mailand, Basel oder Stra߬ burg, Nürnberg oder Augsburg, Lübeck oder Hamburg, Brügge oder Gent, Ypern oder Lüttich, Paris oder London, Wien oder Prag; sein: immer treffen wir in diesen Städten an: einen oder mehrere residierende Fürsten, König, Markgraf, Herzog, Erz¬ bischof, Bischof usw. ; eine überwältigende Menge geistlicher Anstalten; eine sehr große Zahl weltlicher Grundherrn. Freilich, ziffernmäßig läßt sich der Anteil, den diese Elemente an der Städtebildung haben, nicht nachweisen, aber daß sie die hervor¬ ragenden, ausschlaggebenden Städtebildner gewesen seien , wird außerordentlich wahrscheinlich :

1. auf Grund der allgemeinen Sacherwägung;

2. durch die eben erwähnte Tatsache , daß sie in keiner be¬ deutenden Stadt des Mittelalters fehlen;

1 J. Aronius, Regesten zur Geschichte der Juden im fränkischen und deutschen Reiche bis zum Jahre 1273 (1902), Nr. 168,

Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 159

3. durch die Beobachtung, daß, wo sie sich zusammenfanden, jedesmal auch eine größere Stadt entstanden ist;

4. durch die andere Beobachtung, daß dort, wo sie fehlen, niemals im Mittelalter eine hervorragende Stadt er¬ wachsen ist.

Möchte aber jemand trotz alledem noch an der Richtigkeit meiner These zweifeln, daß die mittelalterliche Stadt vornehmlich und jedenfalls in den ersten Zeiten ihres Bestehens Konsumtions¬ stadt gewesen ist und also ihre Entwicklung der Masse der an eurem Punkte angehäuften Landrenten (rrnd Steuern) zu danken hat, der, glaube ich, wird von seinem Zweifel befreit werden, wenn er sich die Objekte der Städtebildung im Mittel- alter anschaut , jene sekundären, tertiären usw., also abgeleiteten Städtebildner, die ja recht eigentlich erst die Städte füllen. Yon ihnen soll nunmehr die Rede sein.

III. Die Objekte der Städtebildung

Ich teile die Stadtfüller in zwei Gruppen, unmittelbare und mittelbare Brotnehmer. Die unmittelbaren Brotnehmer sind die¬ jenigen, die im Dienste der Städtebildner stehen und für Dienste, die sie diesen leisten, bezahlt, also von ihnen selbst unterhalten werden : hierher gehört die Dienerschaft im weitesten Sinne ; gehören die Hofleute, aber auch die Beamten des Königs, des Bischofs; gehört endlich auch die ganze Klerisei: Priester, Mönche usw. Mittelbare Brotnehmer sind die unabhängigen Handwerker imd Händler, die für die Städtebildner gewerbliche Erzeugnisse* hersteilen oder aus der Fremde Güter herbeischaffen.

Leider fehlt es man meines Wissens wiederum an einer irgendwie brauchbaren Übersicht über den zahlenmäßigen Umfang dieser ver¬ schiedenen Gruppen der mittelalterlichen Bevölkerung, denn auch die außerordentlich wertvollen Auszählungen, die Bücher für Frankfurt a. M. gemacht hat, gewähren noch immer keinen zuverlässigen Anhalt, ganz abgesehen davon, daß gerade Frank¬ furt kein typisches Bild der mittelalterlichen größeren Stadt (um die es uns doch in erster Linie zu tun ist) gibt, sowie davon, daß die späte Zeit, für die Büchers Ermittelungen angestellt sind, nicht mehr maßgebend für die Entstehung der mittelalter¬ lichen Stadt ist, mit der wir uns hier beschäftigen.

Da mir Lust und Muße fehlen, die Untersuchungen, die hier nötig wären, um sich ein statistisch einigermaßen gefestigtes Urteil über den Anteil der einzelnen sozialen Gruppen der mittel-

j(50 Dritter Abschnitt.- Das Ü b er gangs z ei talte i

alterliclien Stadt an ihrer Gesamtgröße zn bilden, insbesondere aber um festzustellen, wieviele der Städtefüller, namentlich auch der mittelbaren Brotnehmer, von dieser, wie viele von jener Kategorie der originären Städtebildner ihren Unterhalt bezogen (daß diese Untersuchungen mit Erfolg ausführbar wären, daran zweifle ich auf Grund meiner eigenen Studien keinen Augen¬ blick), so sind die folgenden Darlegungen nur als eine Art von Grundriß, von Disposition, von Wegweiser als Fingerzeige für künftige Forschungen zu betrachten (so wie dereinst meine Aus¬ führungen über die Entstellung des bürgerlichen Reichtums in der ersten Auflage dieses Werkes, die auf so fruchtbaren Boden gefallen sind).

1. Die Klerisei

„Eo tempore . . Unwanus archiepiscopus metropolem Flamm a- burgum renovavit, clerumque dispersum colligens, magnam ibidem tarn civium quam fratrum adunavit multitudinem“, berichtet uns der Chronist1. Und das wird, wenigstens was die Fratres an¬ belangt, kaum übertrieben sein. Denn der Eindruck, den wir aus jeder Beschreibung einer mittelalterlichen Stadt empfangen, ist der, daß es in ihr von Kutten und Soutanen schwarz ge¬ wesen sein muß. Man stelle sich nur vor, daß der größte Teil der Kirchen und Klöster, die wir heute in den großen Städten antreften, schon im Mittelalter gestanden hat, als die Stadt vielleicht den zehnten Teil ihres heutigen Areals umfaßte. Man muß in den Domvierteln alter, katholischer Städte etwa am Sonntag spazieren, wenn die Priester in Scharen über die Straße ziehen, wenn in jedem Hause ein priesterliches Gewand ver¬ schwindet, um sich eine annähernde Vorstellung zu machen von dem regelmäßigen Aussehen einer mittel alterlichen Stadt, in der ein Bischof oder ein Erzbischof seinen Sitz hatte. Die Quellen belehren uns auch, daß in manchen Städten, zum Beispiel Passau, die Altstadt ausschließlich von der bischöflichen oder klöster¬ lichen Familia bewohnt wurde, während freie Einwohner nur in der Vorstadt ansässig waren2.

Wer war da auch alles! Zunächst die Herren Prioren, die Kanoniker, der Clerge primaire: das Domkapital, die Pröbste und Dechanten der städtischen Stifte, die Äbte der angesehenen Klöster usw. Dann aber die ganze Schar der niederen Geistlich¬ keit, der Dienerschaft usw., die Vicarii, mansionarii, portionarii,

1 M. Adami, Gesta Hamm. II, 58 (10. Jahrh.) MG. SS. 7, 826. 327. 9 S. Rietschel, Markt und Stadt, S. 36.

Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 161

capellani , kurz alles, was nicht zum Kapitel gehörte, sondern hauptsächlich für den Chordienst und zur Verrichtung anderer geistlicher Funktionen angestellt war.

Einige Ziffern besitzen wir immerhin, um uns von der großen Zahl der geistlichen Bevölkerung eine Vorstellung machen zu können. Freilich betrifft die Statistik meist nur die höhere Geistlichkeit und das spätere Mittelalter. Aber auch diese Ziffern sind wertvoll, weil sie uns einen Anhalt gewähren, um danach die Menge der Gesamtgeistlichkeit wenigstens annähernd ab¬ zuschätzen.

Aus einer

späteren Zeit sind

uns die Stellen der Kanoniker

an den Domkapiteln ihrer Zahl nach bekannt1. So hatten bei-

spielsweise das Domkapitel von

Würzburg :

24 Kanoniker

28

domicelli

= 52

(■„domini“)

(d h. jüngere

Mainz :

24

17

Kanoniker)

41

Köln:

23

16

= 39

Bamberg:

20

14

JJ

= 34

Trier:

16

24

= 40

Speier :

15

12

;?

= 27

Das war nur die höhere Geistlichkeit des Domkapitels, ähn¬ liche Ziffern wiesen dann die Kapitel der Kollegiatstifte auf.

In Straßburg bestanden im 15. Jahrhundert 116 Präbenden und Kaplaneien am Dom für die niedere Geistlichkeit, 26 bei St. Thomas, 31 bei St. Peter2. Nach den Ansetzungen Kothes3 gab es im 14. Jahrhundert in Straßburg 343 männliche Geistliche und 626 Nonnen und Beginnen; also etwa 1000 Personen, das wird reich¬ lich ein Zwanzigstel der' gesamten Bevölkerung gewesen sein. Die Straßburger Diözese hatte gegen Ende des 13. Jahrhunderts über 800 Weltpriester , die zahlreichen Mönche ungerechnet4. Die Zahl der Kanoniker am Kathedralkapitel in Lüttich betrug im 13. Jahrhundert 60 5. Nach der Zählung von 1449 belief sich

1 Dürr im dritten Bande von Ant. Schmidts Thesaurus etc. (7 Vol. 1772 ff.), §§ 23. 24, p. 190 ff.

2 Grandidier, Etat ecclesiastique de la dioecese de Strassbourg en 1454 im Bulletin de la Societe pour la Conservation des monu- ments historiques d’Alsace. 2 6 * ser. 18 (1897), 363 ; zit. bei W. K o th e , Kirchliche Zustände Straßburgs im 14. Jahrhundert (1903), S. 36.

8 K o t h e , a. a. S. 123.

4 Nach dem Straßburger UB. 2 (1886), Nr. 71.

6 Ferd. Henau x, Hist, du pays de Liege 1 8 (1872), 200. Vgl.

M. L. Polain, Hist, de l’ancien Pays de Liege. Vol. I. 1884.

Sombftrt, Dev moderne Kapitalismus, I. ü

162

Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

in Nürnberg, das damals rund 20 000 Einwohner hatte, die Pfarr- und Klostergeistlichkeit „samt ihren Dienern“ auf 446 Personen, während Bücher für Frankfurt am Ende des 15. Jahrhunderts bei einer nur halb so großen Einwohnerzahl einen Personenstand in den geistlichen Haushalten der Stadt von 390 450 heraus¬ rechnet1, das waren etwa 5°/o der Gesamtbevölkerung am Ende des Mittelalters. In der Reichsstadt Ulm gab es am Beginn des 16. Jahrh. 93 Pfründen n. 0. 2. Münster i. W. hatte (gegen Ende des 16. Jahrhunderts) 213 Klosterinsassen, 373 Weltgeistliche mit Anhang, also 596 Geistliche bei 10600 Einwohnern3.

Eine interessante Statistik des Klerus im Mittelalter, die meist umfassende und am genauesten unterscheidende, die mir bekannt ist, teilt W. Stubbs in seiner Yerfassungsgeschichte für einige englische Städte mit4. Danach betrug die Zahl der ordinierten Personen :

In der Stadt

Akolyten

Subdiakone

Diakone

Priester

Insgesamt

Cirencester (1314):

105

140

133

85

463

Worcester (1314):

50

115

136

109

310

Cambden (1331):

221

100

47

51

419

Worcester (1337):

391

180

154

124

849

Das sind recht

stattliche

Ziffern ,

die sogar nur

für kleine

und mittlere Städte gelten und einen Schluß zulassen auf das imposante Heer der Kleriker in den größeren Bischofsstädten. Daß diese in der Tat einen nicht unbeträchtlichen Teil der Stadt schon durch sich selber ausgefüllt haben, darf nach allem, was wir wissen und schließen können, nicht zweifelhaft sein.

Die Geistlichen unterhielten nun aber wiederum eine Menge Gesinde. Seit der Auflösung der Yita communis, sahen wir schon, bezog jeder Kanonikus sein eigenes Haus, seine Curia. Der Besitz eines eigenen Hauses bedingte aber mehr eigene Dienerschaft. Wir begegnen in den Urkunden den mannig¬ fachsten Arten von Dienstboten, die im Dienst der Prälaten

1 Bücher, Bevölkerung Frankfurts a. M., S. 520.

2 Gerh. Kallen, Die oberschwäbischen Pfründen des Bistums Konstanz usw. (1907), 103. Vgl. nochHeinr. Schäfer, Pfarrkirche und Stift (1903), 159 f., und W. Kisky, Die Domkapitel der geistl. Kurfürsten. 1906.

8 Franz Lethmate, Die Bevölkerung M.s in der 2. Hälfte des 16. Jahrh. (1912), 34.

4 W. Stubbs, Const. Hist. 8S, 378.

Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 163

stehen: Köchen, Schlüsselverwahrern, Kellermeistern (servientes cellarii) usw. h

Daneben oleiben die niederen Beamten nnd Dienstboten der Kapitel selbst bestehen : die ecclesiastici, subsacristae, camerarii, scntellarii ; die Pförtner, die pnlsatores campanarnm, die portitores aqnae etc. Beim Halberstädter Domkapitel1 2 3 werden 3 ecclesiastici, 1 subsacrista, 4 camerarii, 1 scutellarius erwähnt; von den unteren Dienstbotenchargen meist 12, einmal 24.

2. Krieger nnd Beamte

Über die Größe dieser Kategorie sekundärer Städtebilder sind wir noch weniger unterrichtet.

Daß die Zahl der 'Scutarii5 keine ganz geringe war, dürfen wir wenigstens für die größeren Städte mit Sicherheit annehmen. Kietschel nimmt an, daß die 1000 Schilde, über die der Magde¬ burger Burggraf verfügte3 *, möglicherweise die Besatzung dar¬ stellte4. Das wäre ganz enorm. Das gäbe ja schon einen An¬ blick wie ihn heute etwa Potsdam oder Metz darbieten, wo man über die Kriegsleute stolpert. Aber daß die Burggrafen jeden¬ falls über eine „starke Schar Krieger“ zu verfügen hatten, ist gewiß5. Sonst würde beispielsweise eine Bauferei, wie sie ge¬ legentlich zwischen den Philistern und den Kriegsleuten ent¬ stand, in einer Stadt wie Straßburg nicht einen solchen Skandal solchen clamor ingens verursacht haben, daß man die Glocken der Stadt läutete8.

Und die Be amtenschaft? Stellte sie nicht auch ein an¬ sehnliches Corpus dar ? Sie wurde ja im wesentlichen von den Ministerialen gebildet, von Below, dem diese Leute schon so manchen Gram bereitet haben, möchte sie am liebsten ganz

1 UB. des Hochstifts Halberstadt 2, 1594; 4, 2678.

2 A. Brackmann, Geschichte des Halberstädter Domkapitels im Mittelalter in der Zeitschrift des Harzvereins 32 (1899), 69 f.

3 MG. SS. 16, 253.

4 Rietschel, Das Burggrafenamt, S. 330.

° Siehe z. B. für Halle: Perd. Hertzberg, Geschichte der Stadt Halle a. S. 1 (1889), 18 ff. Die Besatzung der Harzburg bezifferte sich auf 300 Mann, die der gegenüberliegenden Sachsenburg auf 200. Quellen bei Waitz, VG. 8, 406. Warum Wh im Text von „sogar 1200“ spricht, weiß ich nicht.

6 „orta est . . . inter vendentes et ementes sedicio per scutarios

regis in suburbio. deinde clamor ingens tollitur, forenses campanae pulsantur.“ Udalr. Cod. 260. Jaffe, Bibi. V, p. 445; zitiert bei Kietschel, a. a. O. S. 67.

n*

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Dritter Abschnitt: Das Übergaugszeitaltei*

aus den Städten verbannen. „Die meisten Städte weisen in ihren Mauern kaum einen Ministerialen auf“, meint er 1 in seinem Zorn gegen die Hofrechtstheoretiker. Das geht wohl selbst vom rein „verfassungsgeschichtlichen“ Standpunkt aus betrachtet ein wenig zu weit. Daß aber Beamte der welt¬ lichen und geistlichen Fürsten in den Residenzstädten wohnten, mochten sie nun einen Standescharakter haben, welchen sie wollten, wird auch von Below nicht leugnen wollen. "Wo sonst als in der nächsten Umgebung ihres Herrn hätten denn die zahlreichen Würdenträger wohnen sollen, von denen uns die Quellen berichten2? Werden doch zum Beispiel in Köln einmal ausdrücklich 25 Personen im bischöflichen Hofhalt genannt3. Also : es wird schon einen ganz stattlichen Stab von Hofleuten und „Staatsbeamten“ in den mittelalterlichen Städten gegeben haben4. Wie viele? vermögen wir allerdings noch weniger mit Bestimmtheit zu sagen, als bei den Geistlichen.

3. Die Handwerker

Daß unter den Handwerkern, die später einen so großen Bestandteil der städtischen Bevölkerung ausmachten, von Anfang an solche gewesen seien, die ihre Arbeit den Bauern in der Dorfstadt ebenso zur Verfügung stellten, wie sie es früher im Dorfe getan hatten, oder die ihre Erzeugnisse in der Umgebung der Stadt verwerteten oder gar damit ferne Messen und Märkte bezogen, also (mit einem Worte) daß unter den Handwerkern in den mittelalterlichen Städten von Anfang an originäre Städte - bildner sich befunden haben, brauchen wir nicht in Zweifel zu ziehen. Vielleicht gehören jene Wanderhandwerker oder jene, die wir im 11. Jahrhundert schon nach Worms fahren sahen, dieser Kategorie gewerblicher Produzenten an.

1 v. Below, Ursprung usw., S. 115.

2 Das meiste Material ist zusammengetragen von v. Maurer in seiner Geschichte der Fronhöfe usw. Bd. I u. II. Vgl. auch Waitz, VG. 6 2 (1896), 323 ff. ; 7, 302 ff. (Beamt, der Fürsten.) Nirgends aber findet man Ziffernangaben.

3 Alb. Barth, Das bischöfliche Beamtentum im Mittelalter, vor¬ nämlich in den Diözesen Halberstadt, Hildesheim, Magdeburg und Merseburg, in der Zeitschr. des Harzvereins, Bd. 33, S. 322 428.

4 Über die frühzeitig (seit Heinrich I.) in London zentralisierte Verwaltungsorganisation der englischen Könige unterrichtet W. Stubbs,

Const. hist. I5, 406 ff. Die Curia regis umfaßte den Exchequer und supreme tribunal of judicatur and ministry of justice; in ihr saßen die Großwürdenträger mit einem Stabe von Beamten.

Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 1(35

Daß sie aber nur einen kleinen Teil der städtischen Hand¬ werker, namentlich in den ersten Jahrhunderten der städtischen Entwicklung, ausgemacht haben, daß sie daher für diese selbst nur gering ins Gewicht fallen, scheint mir sicher zu sein an¬ gesichts des Gesamtcharakters der frühen Städtezeit. Ich meine : nicht nur die allgemeinen Erwägungen, sondern auch die wenigen Quellenstellen, die uns von den ersten Phasen des Handwerks einige Kunde geben, führen uns zu der Annahme, daß sich das Gros der Handwerker um die in der Stadt ansässigen Grund¬ herrn gruppierte; daß sie von diesen die Aufträge erhielten; daß sie diesen also die Möglichkeit allein verdankten, als freie Städter zu leben.

Dieser Sachverhalt tritt besonders deutlich in die Erscheinung, wo die Städte gründende Grundherr schaft ein einsames Kloster ist; wenigstens können wir hierfür einige besonders lebendige Schilderungen aus den Quellen namhaft machen. Aber der Hergang war imgrtm.de überall derselbe , genau so wie er uns etwa für St. Edmundsburg in England, für die Abtei Tiron in Frankreich, für Zweifalten in Deutschland überliefert ist: wo wir genau verfolgen können, wie sich eine Anzahl Handwerker itm das Kloster herum ansiedelt, um für dieses zu arbeiten.

Über die Entstehung St. Edmundsburg berichtet uns Domesday wie folgt: „In der Stadt, wo St. Edmund begraben ist, hielt zur Zeit des Königs Edward der Abt Balduin 118 Männer, um für die Lebens¬ bedürfnisse der Mönche zu sorgen. Die Stadt war früher 10 Mk. wert, jetzt 20. Jetzt umfaßt die Stadt ein größeres Landgebiet, welches damals (zur Zeit Edwards) noch gepflügt und besäet war. Es befinden sich dort im ganzen: 80 Priester, Diakone und Kleriker; 28 Nonnen und arme Brüder. Der Handwerker sind 75: Bäcker, Brauer, Walker, Schuhmacher, Schneider, Köche, Türhalter, Diener, und diese alle bedienen den Abt und die geistlichen Brüder. Jetzt stehen dort im ganzen 342 Wohnhäuser auf dem Grund und Boden von St. Edmund, wo zur Zeit des König Edward noch Ackerland war.“

Diese Schilderung könnte mit geringen Änderungen (statt Abt setze Bischof, König, Markgraf, Ritter oder dergl.) für alle mittel¬ alterlichen .Städtegründungen wiederholt werden.

Ferner wollen wir doch nicht vergessen, daß in der fronwirt¬ schaftlichen Organisation schon eine Menge gewerblicher Arbeiter im Dienste des Grundherrn tätig gewesen waren, die nun zwar rechtlich „selbständige“ Produzenten waren, ökonomisch aber ihre Existenz von der Grundherrschaft nach wie vor ableiteten.

Vor allem aber scheint mir diese Erwägung meine Auffassung zu bestätigen: daß die Natur der meisten spezifisch städtischen

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Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

Handwerker gerade in den frühen Zeiten der Städte nur eine Beschäftigung im Aufträge des städtischen Grundherrn denken läßt. Alles was über das allernotdürftigste hinaus produziert wurde (und gerade in dessen Herstellung betätigten sich doch die nun sich entwickelnden städtischen Handwerker) konnte ja nur von den Grundherrn bezahlt werden. Freilich auch von denen, die auf dem Lande saßen. Und soweit der Absatz an diese stattfand, war der Handwerker originärer Städtebildner.

Aber wir dürfen doch nicht vergessen, daß (zumal in Italien und den Niederlanden, aber vielfach doch auch in den übrigen Ländern) gerade die wichtigsten und reichsten Grundherrn vor allem die geistlichen und weltlichen Fürsten, fast alle wohl¬ habenden Kirchen usw. in den Städten ihren Sitz hatten. Nur der Kitter saß oft auf seiner einsamen Burg im Lande außerhalb der Stadt. Und dessen Bedarf an gewerblichen Er¬ zeugnissen konnte ganz gewiß nicht in Betracht kommen gegen¬ über dem Bedarf all der grund- und landesherrlichen Besteller in der Stadt selbst.

An einem für die Entwicklung des städtischen Handwerks besonders wichtigen Gewerbszweige können wir nun aber mit Bestimmtheit nachweisen, daß er sich nur im Schatten der Grundherrschaft entfalten konnte: ich meine das Baugewerbe.

Bauten aufführen und Städte gründen waren für die Zeiten als die Städte ihren ersten bedeutenden Aufschwung nahmen, fast identische Begriffe : „Magadaburgensem aedificare cepit civi- tatem . . . nam urbem hanc ... et acquisivit et construxit h

Die Mauern wurden nun freilich wohl oft genug von den umliegenden Bauern erbaut, die diese Arbeit als Frondienst zu leisten hatten1 2. Aber es wurden wohl auch dauernd Arbeiter dadurch herangezogen3. Und wenn es nun innerhalb der Mauern zu bauen galt, da mußten jedenfalls freie Handwerker herbei¬ geholt werden: „Acquiescente abbate circumquaque invitati sunt artifices et cimentarii, cesores lapidum et alii operarii“4.

1 Tliietm. Chron. II. 2 MG. SS. 3, 714.

2 „opus construendae m'bis a circummanentibus illarum partium incolis nostro regio jure debitum.“ Urk. von 965 MG. D. Nr. 300.

3 . . . eos qui ad civitatem vestram edificandam confluxerunt“, Magdeb. Schöffenweistum aus dem 13. Jahrh. bei von Maurer: St.Verf. 1, 122.

4 Wilhelmi Chronicon Andrensis monasterü MG. SS. 24, 724. Siehe

andere Stellen bei Waitz, VG., 8, 210 ff. Für England: Maitland, 1. c. p. 186 ff, '

Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 167

Das waren gewiß gut bezahlte Arbeiter, für die nun wieder eine Menge Bäcker, Fleischer, Schuster, Schneider usw. tätig sein mußte, um ihren Unterhalt zu bestreiten.

Nun aber: wer baute denn in den Städten des 10., 11. und 12. Jahrhunderts? Baute so, daß er jenen Stab gelernter Bau¬ handwerker brauchte? Doch niemand anders als die Grundherrn; unter ihnen vor allem die Kirchen. Kirchenbau ist einer der wichtigsten Bevölkerung agglomerierenden, das heißt Städte bildenden Vorgänge im frühen Mittelalter.

Wenn wir gerade das 11. Jahrhundert als dasjenige betrachten, in dem die Städte sich am raschesten entwickelt haben, so ist das ganz gewiß dem Umstande nicht zum wenigsten zu danken, daß in diesem Jahrhundert fast alle größeren Städte eine rege Bautätigkeit entfalteten, in erster Linie natürlich zur Errichtung kirchlicher Baudenkmäler. Es würde zu weit führen , und ist auch nicht nötig, da wir eine Reihe tüchtiger Arbeiten besitzen, die über diese Vorgänge helles Licht verbreiten* 1 : nachzuweisen, in welch hervorragendem Maße gerade im 11. Jahrhundert der Kirchenbau allerorts gefördert wurde.

Das 11. Jahrhundert ist ja auch die Zeit, in der in vielen Städten kraftvolle, tätige,, und oft genug prunkliebende Kirchen¬ fürsten das Regiment führten, denen nachweislich die bauliche Entwicklung der Stadt vornehmlich zu danken ist. Ich nenne aufs Geratewohl die Namen: Adalbert von Utrecht, Notger von Lüttich, Poppo von Trier, Hildebrand von Florenz, Adalbert, Bezelin von Bremen, Godohard von Hildesheim, Meinwerk von Paderborn, Aribo von Mainz, Pilgrim, Hermann von Köln, Arnulf

1 Siehe für Deutschland z. B. Paul Damas, Beiträge zur Geschichte der deutschen Städte z. Z. der fränkischen Kaiser, Breslauer Diss. 1879; eine der wenigen Schriften, aus der man über die Geschichte der Städte etwas erfährt. H. Breßlau, Konrad II. 2 (1884). A. Hauck, Kirchengeschichte 3, 334 ff. (10. Jahrh.), 924 ff. (11. Jahrh.). Für einzelne Städte: Fried r. besser, Erzbischof Poppo von Tiiei (1016—1047), 1888, S. 32 ff. Hermann Cardauns, Konrad von Hostaden, Erzbischof von Köln (1888), S. 142 ff. (spätere Zeit).

Eine Liste der großen französischen Kirchenbauten des 11. und 12. Jahrhunderts findet man bei E. Levasseur, Hist, de findustrie

1, 394 ff. Für England nimmt Cunningham an, daß diebedeutende Entwicklung der Bautätigkeit im 12. Jahrhundert eine starke Ein¬ wanderung °namentlich flandrischer Handwerker bewirkt habe. Mit "'uten Gründen gegen Ashley: W. Cunningham, Die Einwanderung von Ausländern nach England im 12. Jahrh. in der Zeitschr. für Soz. und W.Gesch. 1 (1892), 192 f.

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Dritter Abselmitt: Das Übergangszeitalter

von Hälberstadt, Werner, Wilhelm von Straßburg , Burchhard von Worms, Benno von Osnabrück. Das und die andern ihres¬ gleichen sind die Väter des städtischen Handwerks.

Was an ansehnlichen Gebäuden selbst in einer Stadt wie Paris im 14. Jahrhundert sich vorfand, waren außer den öffent¬ lichen Gebäuden, die Paläste der Grundherrn. „Welche großen und schönen Hotels gibt es in Paris“! ruft Jean de Jeandun aus, der Paris im Anfang des 14. Jahrhunderts beschreibt : „Die einen gehören dem König, den Grafen, den Herzogen, den Bittern und andern Baronen, die andern den Prälaten. Alle sind groß, gut gebaut, schön und prächtig. Für sich allem, und abgesondert von den übrigen Häusern, könnten sie eine wundervolle Stadt bilden“ h

4. Die Händler

Deutlicher noch als bei den Handwerkern tritt bei den Händlern, den Negotiatores , ihre Geburt aus dem Schoße der Grundherrschaft zutage.

Die augenblicklich „herrschende“ Schulmeinung freilich ist eine andere. Nach ihr sollen die „Kaufleute“ recht eigentlich die „Begründer“ der mittelalterlichen Städte gewesen, sollen diese recht eigentlich aus „Marktansiedlungen“ hervorgegangen sein. Ich habe schon meine Bedenken gegenüber dieser „Theorie“ geäußert und möchte hier noch einige Bemerkungen zu den früher gemachten hinzufügen, aus denen hervorgehen soll, weshalb ich diese Erklärung der Städte aus den Märkten für irrtümlich halte.

Haben sich, so möchte ich zunächst fragen, die Vertreter jener Anschauung einmal völlig klar gemacht, welche Bedeutung denn ein „Markt“ vom siedlungsgeschichtlichen Standpunkt aus für die Agglomeration von Menschenmassen an einem Punkte überhaupt haben kann?

Ob Jahrmarkt, ob Monatsmarkt, ob Wochenmarkt, gleichviel: die bloße Tatsache, daß an einem Punkte ein Markt abgehalten wird, das heißt: daß Leute dort sich periodisch einfinden, die kaufen und verkaufen, gibt noch nicht einer einzigen Person Gelegenheit, sich dort, wo der Markt stattfindet, anzusiedeln.

1 Der Tractus de laudibus Parisius ist im Jahre 1323 verfaßt. Abgedruckt bei Le Eoux de Lincy und Tisserand, Paris et ses historiens aux XIV. et XV. siecles in der Hist. gen. de Par. Vgl. Louis Boutie, Paris au temps de Saint Louis (1911), 333,

Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 1(39

In dem Angenblick, in dem die Marktbuden abgebrochen werden, die Marktbesucher davon ziehen, ist der Ort wieder verödet. Ein periodischer Markt, auf denen sich aus aller Herren Ländern Käufer und Verkäufer zusammenfinden, ist geradezu ein Hinder¬ nis für die Entstehung einer dauernden Niederlassung, wie sie eine Stadt doch darstellt. Man könnte also mit größerem Rechte sagen: eine Stadt entstand dort, wo man aufhörte, Märkte ab¬ zuhalten, entstand darum, weil man an einem Punkte auf¬ hörte, marktmäßig Handel zu treiben, darum, weil die Händler seßhaft wurden und nun den Handelsprofit mehr als früher an einem Ort verzehrten. Das hieße aber doch allzusehr die Formulierung des Gedankens zuspitzen und nach der andern Seite hin über¬ treiben. Ein richtiger Kern ist in der ‘Marktrechtstheorie’ (auch vom national- ökonomischen Standpunkt aus) verborgen; ich werde ihn gleich herausschälen. Vorläufig wollte ich nur zeigen, daß sie in der Art, wie sie gewöhnlich vertreten wird, alle realen Verhältnisse auf den Kopf stellt.

Um den wirklichen Verlauf der Dinge möglichst getreu uns vor Augen zu führen , werden wir gut tun , die Lage und die Daseinsbedingungen des Handels in der eigenwirtschaftlichen Periode uns noch einmal recht deutlich zu vergegenwärtigen, um von dort aus dann die Weiterentwicklung bis in die Stadt hinein verfolgen zu können.

Alsdann: im 8. und 9. Jahrhundert geht, wie es scheint, der Hausierhandel, der natürlich die erste Etappe in der Ent¬ wicklung des Handels gebildet hatte , ziemlich rasch in den Markthandel über. Darauf läßt die gerade in dieser Zeit häufige Erteilung von Marktprivilegien schließen h

Wie müssen wir uns nun das Dasein der Händler vorstellen, die von jetzt ab zu den Märkten zogen, statt von Villa zu Villa?

Waren sie im Auslande ansässig, so gingen sie wohl für einen bestimmten Teil des Jahres dauernd auf die Reise und besuchten der Reihe nach mehrere benachbarte Marktorte hinter¬ einander, um dann nach drei, vier Monaten in ihre ferne Hei¬ mat zurückzukehren. Waren es Händler aus nicht so fernen Landen, so mochten sie wohl von ihrem Dorfe aus, wo sie wohnten, je einen Markt aufsuchen und danach in ihren Heimatsort zurückkehren, wo sie dann wohl wieder die land-

1 K. Rathgen, Die Entstehung der Märkte in Deutschland, 1881. Imbart de la Tour, Des immunites commerciales accordees aux Eglises in den Etudes . . . dediees ä G. Monod, 1896.

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Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

wirtschaftlichen Arbeiten aufnahmen, die in ihrer Abwesenheit Frau und Kinder allein besorgt hatten. Denn die zogen doch wohl nicht mit auf den Märkten herum? Die Händler hatten also ihren Herd je an verschiedenen Punkten und fanden sich nur immer zu bestimmten Zeiten zu Karawanen1 zusammen, um sich bei der Durchquerung der öden Länder von Markt zu Markt gegenseitig Schutz zu gewähren. Wie sich die Störche zu langem Zuge sammeln, wenn sie in ihre Heimat ab ziehen. Dann, wenn die Marktreise zu Ende war, sagte man sich am Kreuzwege Lebewohl und ging auseinander mit einem: Auf Wiedersehn im nächsten Frühjahr!

An den Marktorten also trafen sich die einzeln oder in Kara- Avanen heranziehenden Händlerscharen. Wie sie hier die paar Tage über, die der Markt dauerte, hausten, können wir ziemlich genau an der Hand der Quellen verfolgen.

Ihre Waren hielten sie in Marktbuden (Stationes) feil, deren zuweilen mehrere in einer Art Markthalle 2 untergebracht waren, in der dann die Kaufleute einzelne Stände bezogen. Die Markt¬ buden oder Markthallen wurden von den Grundherren errichtet und eenen Ento-elt für die Zeit des Marktes den Händlern über- lassen3 4. Vielfach waren die hörigen Bauern zur Herrichtung der Marktbuden verpflichtet1, wenn sich der Markt nicht zwischen den Häusern der Bauern selbst abspielte. Es war nämlich hier und da (wir erfahren es von England)5 6 Sitte, daß die Bauern

1 ßietschel, Markt und Stadt, 39.

2 „sala . . . cum stationibus inibi banculas ante se habentibus“ DO. I. 145 bei Hart mann, Zur Wirtsch.Gesch. Italiens, 103.

3 Daher der Ausdruck: jus aedificandi et construendi mercatum Cod. Lang. c. 764 (No. 442); „mercatum erigere decrevimus“: UB. von Quedlinburg S. 5 Nr. 7 , dem wir so oft in den frühmittelalter¬ lichen Quellen begegnen. Daher aber auch die Schenkungen von ‘Stationes’ und ihren Gefällen, denen wir die häufige Erwähnung dieser

1 Einrichtung in den Urkunden verdanken. Siehe z. B. die Urkunden, die Ad. Schaube, Handelsgeschichte der rom. Völker, S. 9. 11 und öfters, oder Hartmann, a. a. 0. erwähnen.

4 Die Villani von Aucklandskire haben 18 Buden (bothas) auf der Messe von St. Cutkbert zu errichten. Bei P. Seebohm, Village

Community, 71.

6 „Johannes Ballard tenet mansum suurn in Villa de Sancto Ivone juxta portam prioratus pro quo dat infirmario Bamesiae XX solidos per annum et locat tempore nundinarum front es et arreragia domorum suarum in eodem manso existentium“ (a. 1251). Cart. Mon, de Bameseia 1 (1884), 286. 87. Von einem

Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 171

ihre Häuser für die Zeit des Marktes zur Aufstapelung der Waren hergeben mußten.

Die Marktbuden standen natürlich vor den Toren der Pfalz, des Klosters usw. x.

Für ihre eigene Unterkunft in der Nacht, wohl auch als Schuppen und Stall für ihre Karren und Maultiere errichtete man den Händlern, oder errichteten diese selbst sich größere Ge¬ bäude* 1 2 nach Art der Karawansereien, denen wir heute noch in Gebieten extensiven Handels begegnen. (Aus ihnen haben sich dann wohl die Stahlhöfe, die fondaci etc. entwickelt).

Solange die Händler in dieser Weise lebten, kamen sie natür¬ lich weder als Städtefüller noch als Städtegründer in Betracht. Ebensowenig wie die 200 000 Kirgisen und Afghanen, die während der Monate Juli und August in den 6500 Buden in Nishni- Nowgorod ihre Waren feilhalten, die Stadt Nishni-Nowgorod bilden.

Der entscheidende , das heißt für die Städtegeschichte be¬ deutsame Schritt wurde erst in dem Augenblick getan, als die Marktbesucher eines schönen Tages beschlossen, nicht mehr weiter zu ziehen, vielmehr in ihren stationes ständig ihre Waren feilzubieten, ihre Frauen und Kinder nachkomm en zu lassen und sich hinter der Bude ein Häuschen zu bauen. So daß die statio zur mansio sich auswächst; ein Vorgang, den wir an der Bauart mancher Städte tnit Deutlichkeit verfolgen können3 * * * * 8. Be¬

amtem Bauern heißt es ebenda (p. 291): „Et sustinet tres frontes in nundinis ad opus Abbatis.“

1 Quellenstellen bei R. So hm, Die Entstehung d. deutsch. Städte¬ wesens (1890), 20. Besonders anschaulich geschildert von F. V. Zillner in seiner Geschichte der Stadt Salzburg 1 (1885), 66 ff.

2 „In eadem valle est vicus celeberimus, Briston (— Bristol) nomine, in quo est portus navium ab Hibernia et Norvegia et ceteris transmarinis terris venientium receptaculum“ (12. sc.). Will. Malmesbiriensis Monachi Gesta pontif. Angl. p. 292 (Rer. brit. med.

SS. 52).

Die negotiatores in Virten hatten ein „claustrum muro instar oppidi

exstructum, ab urbe quidem Mose interfluente seiunctum, sed pontibus

duobus interstratis ei annexum“, Richer 3, 103 (10. sc.). Ähnliche Ver¬

anstaltungen in Magdeburg: Thietmar 1, 7 zit. bei Lamprecht, DWL. 2, 252.

8 So verraten die Häuser in Münster, die am Markt entlang stehen, noch heute durch ihre Bauart, „daß sie durch den Ausbau von Markt¬ buden entstanden sind“. Philippi, Zur Verfassungsgeschichte der westfälischen Bischofsstädte (1894), S, 14.

272 Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

deutsam wurde also, daß die Händler A, B, C, die in den Dörfern X, Y, Z domiziliert gewesen waren und regelmäßig den Markt in M. befahren hatten, nun aus X, Y, Z nach M. zu dauerndem Aufenthalte übersiedelten. Oder vielleicht, später, von M., wo sie nicht so auf ihre Kosten kamen, wie sie gehofft hatten, nach N umzogen1. Das gab dann Füllsel für die in M oder N sich entwickelnden Städte, die damit für unsere Freunde A, B, C aufgehört hatten, Marktorte zu sein, die ihre Wohnorte geworden waren.

Und nun würde der Geschichtsschreiber mittelalterlichen Städtewesens sich vor den Hauptteil seiner Aufgabe gestellt sehen. Er müßte nämlich den Nachweis zu führen versuchen: warum erfolgt die dauernde Niederlassung, warum erfolgt sie hier und nicht dort? Wir sind einstweilen auf Vermutungen oder richtiger auf die nie ganz gering zu achtende „Quelle“ unserer vernünftigen Überlegung angewiesen. Daß unseren kleinen Händler irgendein „Marktprivilegium“ veranlaßte, sich und die Seinen hinter der Marktbude ein Häuschen zu bauen, mag hier und da zutreffen. Häufig wird es nicht der Grund seines Ent¬ schlusses gewesen sein. Denn die meisten wertvollen Privilegien : den Marktfrieden, das personale Recht usw. genoß er ja gerade als Marktbesucher, darum brauchte er nicht in London sich dauernd niederzulassen. Und: Privilegium hin, Privilegium her. Solange er keine Käufer für seine Waren fand, nützte ihm das schönste Privilegium nichts. Nämlich auch das schönste Privi¬ legium stampfte noch keine Kundschaft aus dem Boden. Und an dieser wie oft soll es wiederholt werden lag doch wohl auch im 11. Jahrhundert schon dem Kaufmann allein. Hatte er sie , kam er im Notfall auch ohne Privilegium aus, batte er sie nicht, so nützten ihm alle Königsbriefe nichts2 3.

1 Wie die Negotiatores, die im 11. sc. von Rouen und Caen dem Eroberer nach nach London übersiedelten. „No sooner had London submitted to the Norman Conqueror than we are told, ünany of the citizens of Rouen and Caen passed over thither, prefei'ring to be dwellers in that city’“. Nach Vita S. Thomae ed. Giles 2, 73 (Text bei Groß, Gildmerch 1, 4), Reg. R. Sharpe, London and the Ivingdom

1 (1894), 36. Die Händler von Bardowick zogen nach Lübeck um: J. Warncke, Handwerk und Zünfte in Lübeck (1912), 13.

3 Einen etwas größeren Einfluß auf die Entschließungen des schwankenden Händlei'S werden die positiven Vergünstigungen ausgeübt haben (wie Gewährung freien Baulandes usw.). Siehe v. Maurer, St.Verf. 1, 407. Waitz, VG. 8, 388 ff. Ebenso kann er veranlaßt

Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 173

Warum also denn entschloß er sich, seinen Wohnsitz dauernd an dem Orte aufzuschlagen, den er bis dahin nur vorübergehend besucht hatte? Olfenbar darum, weil er sich sagte: hier in London, in Brügge, in Straßburg sind jetzt so viel ständige Ab¬ nehmer deiner Waren, daß du es schon riskieren kannst, einen größeren Teil des Jahres als bisher (denn einen anderen Teil des Jahres wird er doch noch nach wie vor wo anders seinen Kram feilgeboten haben) an diesem einen Orte deinen Laden aufzumachen. Oder so: daß du mit dem Absatz an die Orts¬ angesessenen ebensoviel verdienst, als wenn du an zehn Orten herumziehst auf allen Messen und Märkten. Vielleicht setzt du etwas weniger an sie ab, aber dafür sparst du ja beträchtlich an Spesen. Du gewinnst auch Zeit , die du der Pflege deines kleinen Anwesens widmen kannst, das durch deine Abwesenheit eh’ ganz vernachlässigt wurde.

Theoretisch formuliert, was der kleine Händler eben räson- niert hat: die Seßhaftwerdung der negotiatores, die Entstehung einer „Marktan Siedlung“ wurde möglich, wenn die Agglomeration der Konsumenten an einem Orte einen entsprechend hohen Grad erreicht hatte.

Wann sie den erreicht hatte, wodurch sie ihn (in der großen Mehrzahl der Fälle) allein erreichen konnte im Mittelalter, wissen wir: durch Anhäufung eines genügend großen Kon¬ sumtionsfonds an Steuern und Kenten. Mit anderen Worten: die negotiatores bildeten an einem Orte eine Marktansiedlung und halfen damit diesen Ort sich rascher ein städtisches Aus¬ sehen zu verschaffen, weil an diesem Orte jetzt schon so viel Grundherrn ansässig waren, wie vorher an zehn verschiedenen Orten.

Hatte ein kleiner Gewandschneider seine 6 Stück flandrisches Tuch, die seinen Jahresumsatz ausmachten, vorher auf 6 Messen herumschleppen müssen und hatte er auf jeder an je ein Kapitel

sein, an einem Orte ständig zu bleiben, durch Bestimmungen, die Ver¬ günstigungen ausdrücklich an die Bedingung der Seßhaftigkeit knüpften, wie etwa diejenigen des Grafen von Flandern vom Jahre 1127, in denen er St. Omer Zollprivilegien erteilte: „omnes qui gildam eorum habent, et ad illam pertinent et infra cingulam ville sue manent, liberos omnes a teloneo facio ad portam Dichesmude et Graveningis“ etc. Bei Ch. Groß, The Gild merchant 1, 290. Aber die Hauptsache blieb doch immer für den Entscheid unseres „Kauf¬ manns“ die Aussicht auf eine geschäftsfähige Kundschaft.

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Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

oder einen Bischof, oder einen Comes eins der 6 Stück ab-, gesetzt, so verkaufte er nun alle (3 in London: 2 an den König, 1 an den Erzbischof, 1 an den Port-greeve, 1 an die West- minsterabtei, und 1 schnitt er für ein paar Milites oder Münzer aus. So entstand das, was man mit dem stolzen Namen der „Kaufmannstadt“ zu bezeichnen pflegt: eine Niederlassung vor den Toren der herrschaftlichen Stadt dort, wo ehedem der Markt abgehalten war : ein paar Buden , ein paar Häuschen daneben, wo die kleine Händlerfamilie nun wohnte; daneben ein paar Kneipen und Handwerksbuden , denn die „Kaufmann¬ schaft“ mußte ja doch selbst wieder unterhalten werden. Ein Häufchen von armen Hascherin, das in tiefster Untertänigkeit das Brot der stolzen Herren aß, die jenseits des Flusses in ihren Palatien, ihren Kurien, ihren Türmen tronten. Wie es Flach (für Narbonne im 11. Jahrh.) sehr hübsch beschreibt 1 : „Les negociants , les changeurs , les banquiers , les armateurs habitent pres du port dans le bourg, toute autour de la Porte Aiguiere et dans les maisons construites, suivant l’usage du moyen äge, sur le pont qui la reliait ä l’autre rive. Ils ne peuvent evidem- ment rien entreprendre contre la formidable citadelle qui les domine , ils n’ont que les droits que l’interet bien entendu des seigneurs leurs laisse ou qu’ils acquierent ä prix d’argent.“

Oder wie es eine der hübschesten Quellenstellen, die wir zur Geschichte der Städte im Mittelalter besitzen, uns erzählt: (aus Joh. Longi Chronica Sancti Bertini in den MG. SS. XXV. 768) „Posthoc ad opus seu necessitates illorum de castello es handelt sich um die Burg des Balduin Bas- de-Fer, Grafen von Flandern, Schwiegersohns Karls des Kahlen : „Brugis = Brügge ceperunt ante portam ad pontem confluere mercemanni, id est cariorum (?) rerum mercatores, deinde taber- narii, deinde hospitarii pro victu et hospicio eorum qui negotia coram principe, qui ibidem seperat, prosequebantur , domus construere et hospicia preparare ubi se recipiebant illi qui non poterant intra castellum hospitari ; et erat verbum eorum : „Yada- mus ad pontem“ ; ubi tantum accreverunt habitaciones, ut statim fieret villa magna, que adhuc in vulgari suo nomen pontis habet, nempe Brugghe in eorum vulgari pontem sonat.“ „Ad opus seu necessitates illorum de castello“: in diesen Worten ist der ganze Sinn der mittelalterlichen Städtegeschichte, wenigstens in ihren Anfängen, enthalten.

1 Flach, Origines 2, 268 f.

Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 17g

Der bekannte Ausspruch Pirennes, in dem er seine Auf¬ fassung von der Entstehung der mittelalterlichen Städte zu¬ sammenfaßt, muß also genau in sein Gegenteil verkehrt werden, wenn er den Tatsachen -Rechnung tragen will. Pirenne meint1: „Les villes sont l’ceuvre des marchands ; eiles n1 existent que par eux“. Richtig müßte es heißen: Die Städte des Mittelalters sind (ökonomisch) das Werk der Grundrenten- imd Steuerbezieher ; die „Kaufleute“ existieren nur durch sie.

5. Die Almosenempfäiiger

Daß ihre Zahl in den mittelalterlichen Städten bedeutend gewesen sein muß, können wir aus der Tatsache schließen, daß eine der Aufgaben der Klöster in der Fürsorge für die Armen und Siechen bestand und daß namentlich in den späteren Jahr¬ hunderten des Mittelalters auch von weltlichen Reichen Stif¬ tungen gemacht wurden, sei es aus humanen, sei es aus religiösen Gründen, um bedürftige Personen, namentlich Frauen zu unter¬ halten. Hier ist an die Beginenhäuser 2 zu erinnern, die sich in den meisten Städten in beträchtlicher Zahl nachweisen lassen.

Daß für eine Stadt eine ziffermäßige Erfassung der Almosen¬ empfänger versucht wäre, ist mir nicht bekannt3 * * * * 8.

IV. Der „Zug nach der Stadt“

Bisher war die Rede nur von dem Interesse der originären Städtebildner (also vorwiegend der Grundherrn) an dem Ent¬ stehen einer Stadt sowie von deren (ökonomischen) Möglich¬ keiten. Damit die Stadt nun in Wirklichkeit erwachsen konnte, mußten die Objekte der Städtebildung sich auch einstellen. Eine Geschichte der Städte heischte also noch den Nachweis, welche

1 H. Pirenne, L’origine des constitutions urbaines in der Revue historique, 57, 70.

2 Arnold, Freistätte 2, 173 (Worms, Speier); v. Maurer, St.V.

3, 44 (Köln, Basel, Regensburg). Der Ursprung der Beginen ist in

Belgien. Vgl. im allg. G. Uhlhorn, Die christliche Liebestätigkeit in

der alten Kirche, ßd. II, Mittelalter, 1884, neue Aufl. in 1 Bande 1895,

und die gründliche Studie von V. von Woikowsky-Biedau, Das

Armenwesen des mittelalterlichen Köln usw., Breslauer Diss. 1891.

8 Angaben über die Zahl der Pfründner in den Hospitälern Lüne¬ burgs macht Erich Zechlin, Lüneburgs Hospitäler im M.A. in den Forschungen z. Gesch. Niedersachsens I. 6 (1907), 48. Sie sind jedoch für das Mittelalter nicht vollständig. Immerhin ergeben sich ein paar Hundert.

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Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

Motivreihen die Städte füllenden Menschen bewogen, sich in den Mauern der Stadt niederzulassen.

Ein Teil von ihnen saß ja schon von früher an dem Ort, wo die Stadt entstand : die ganze Dienerschaft im weitesten Sinne, alle die „fratribus et ecclesie (und natürlich auch die anderen Grundherren) cottidie in propria persona servientes“ ; ferner die gewerblichen Arbeiter, die für den Grundherrn gearbeitet hatten und, nun allmählich (wie wir das gesehen haben) zu selbständigen Handwerkern sich entwickelten. Sie und ihr Nachwuchs bildeten den Stamm der Städtefüller.

Zu ihnen gesellten sich dann die fluktuierenden Elemente, soweit sie seßhaft wurden: ich denke etwa an die freien Wander- kandwerker, von denen wir Kunde erhielten.

Aber ein sehr beträchtlicher Teil der städtischen Bevölkerung wurde doch, wie wir aus zahlreichen Anzeichen mit Sicherheit schließen dürfen, durch Einwanderung vom platten Lande her gebildet.

Leider ist die Tatsache, daß diese Einwanderung stattgefunden hat und daß sie verhältnismäßig stark gewesen sein muß, so un¬ gefähr alles, was wir von ihr wissen* 1. Das meiste müssen wir vermuten; nur weniges läßt sich mit Quellenstellen belegen.

Damit eine Einwanderung vom platten Lande als Massen¬ erscheinung stattfindet, müssen zwei Reihen bestimmter Um¬ stände Zusammentreffen: das Land muß abstoßen (repeliieren), die Stadt muß anziehen (attrahieren).

Was den Leuten den Aufenthalt auf dem Lande während der Jahrhunderte, die namentlich für die erste innere Festigung der Städte in Betracht kommen, verleidete, scheint hauptsächlich folgendes gewesen zu sein:

1 Das meiste und beste Material enthält immer noch Büch er s Werk über die Bevölkerung Frankfurts. Aber auch B. bekennt sich zu einem „ignoramus“. Ebenso wie die einzige mir bekannte Monographie, die diese Erscheinung behandelt, die Schrift von Aug. Kniecke, Die Einwanderung in den westfälischen Städten bis 1400 (1893), die infolge des Mangels an tatsächlichem Material sich lediglich mit formal¬ juristischen Problemen beschäftigt. Charakteristisch: in dem Riesen¬ materialmagazin, das sich v. Maurer, Gesch. der Stadtverfassung nennt, ist die Seite, die von unserm Problem handelt (die 408. des

1. Bandes), ungefähr die einzige im ganzen Werk ohne Anmerkungen. Ygl. noch Ed. Otto, Die Bevölkerung der Stadt Butzbach (1893), 69 ff. (15. Jahrh. nach Büch er scher Methode gearbeitet). Hans Bungers, Beiträge z. mittelalt. Topographie usw. der Stadt Köln (1897), 44 ff. (13. Jahrh. und folg. Quelle: Grundbücher).

Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt

177

1. Die gioße Unsicherheit, die sich namentlich während des 10. Jahrhunderts eingestellt hatte als Folgeerscheinung der Ein¬ fälle plündernder Völkerschaften und einer daran anschließenden Ausuferung der heimischen Ritter. Die ausführlichste Be¬ schreibung dieser Zustände findet man im 2. Bande des Werkes von Flach, der dieser Unsicherheit des Landes (für die Ent¬ wicklung Frankreichs) eine überragende Bedeutung beimißt. Aber auch in anderen Gebieten ist offenbar das allgemeine Kennzeichen der Zeiten um das Jahr 1000: Unsicherheit1. Daher ja auch die Mauerbauerei.

2. Der Frondienst in manchen Gegenden. So wenigstens belichtet uns ausdrücklich ein Mönch von den weltlichen Grund - herren, denen die Hörigen fortliefen, um beim Kloster ihre Zu¬ flucht zu suchen: „cum multos haec possideat aecclesia, qui semet ipsos propter afflictionem et multitudinem servi- tutis qua durissime premebantur a propriis dominis, in ius nostrum

, coemerint causa quietis et quibus alii ruriculae alii vinitores, quidam panifici, sutores, fabri sunt ac mercatores artiumque diver- sorum vel operum executores“ 2.

Die Tatsache, daß sich zahlreiche Hörige in den Städten wirklich einstellten, läßt darauf schließen, daß sie den Frondienst mindestens satt hatten; wie unsere Insten heute ihre Gutstage¬ löhnerschaft.

3. Hie und da scheint seit dem 12. Jahrhundert das Bauern¬ legen, d. h. Einziehen selbständiger Bauernstellen beliebt zu sein.

1 „In metu erant omnes Saxoniae civitates“ Adam Brem. 2, 31. von Maurer 1, 62. „For the skelter of the folk“ sind nach den englischen Quellen die Städte gebaut. In der ersten Urkunde von London (Liberias von 1133—1154 c. 10 § 2) heißt es: „Servare debent (cives) civitatem -sicut refugium et propugnaculum regni : omnes (enim) ibi refugium et egressum habent“. Zit. bei Brodnitz, Die Stadt¬ wirtschaft in England in Jahrbücher f. NÖ. III. P. 47, 2.

2 Ortliebi Zwifaltensis Chronicon Cap. 9 MG. SS. 10, 77/78. Den¬ selben Zustrom Höriger finden wir in anderen Städten: Konstanz: Mone, Quellensammlung zur badischen Landesgesch. 1, 140; Basel: Damas, a. a. O. S. 43; Florenz: Davidsohn, G. v. Flor. 1, 607 f. Daß seit der Mitte des 11. Jahrhunderts die Weber des platten Landes in den flandrisch-brabantischen Städte sich niederließen , be¬ richtet uns Pirenne. Ob das „hörige“ oder „freie“ Landweber waren, bleibt dahingestellt. Für den ökonomischen Effekt ist es natürlich auch ganz gleichgültig. Pirenne, Les anciennes demo- craties des Pays Bas (1910), 21. Ohne Quellenangabe. Vgl. auch Erich Kober, Die Anfänge d. deutsch. Wollgewerbes, 45 f.

Sombart, Der moderne Kapitalismus. I.

12

Dritter Abschnitt: Das Übergangszeitalter

178

Diese gelegten Bauern sahen sich also ihrer Existenzmöglichkeit auf dem Lande beraubt h

4. müssen wir für die Zeit vom 9. 12. Jahrhundert und darüber hinaus, wenigstens in manchen Ländern, eine stärkere Zunahme der Bevölkerung in Rechnung stellen1 2, wodurch eine Überschu߬ bevölkerung geschaffen wurde, die das Heer der vom Lande Ab¬ wandernden verstärken half. Sie verschwand entweder in den neu besiedelten Gebieten oder bot sich als Stoff zur Städtefüllung dar.

AVas diese nun zu Anziehungspunkten für die vom platten Lande Abgestoßenen machte, haben wir im wesentlichen kennen gelernt : es war vor allem die Möglichkeit , auch ohne Grund¬ besitz sich und seiner Familie einen Unterhalt zu verschaffen; war die Möglichkeit, sich eine sichere Existenz zu begründen. Und zwar im Stande der Freiheit.

Dieses Ideal der Freiheit scheint eine mindestens ebenso mächtige Anziehung ausgeübt zu haben wie die Aussicht auf Sicherheit und Erwerb. Wir wissen, daß die Städte das ihrige taten, um den Zuwandernden auch wirklich die Freiheit zu ver¬ schaffen oder zu erhalten, nach der sie sich sehnten. In allen Ländern wurde es ein Grundsatz des Stadtrechts : daß Stadtluft frei mache, daß der Hörige (unter bestimmten, sehr leichten Be¬ dingungen) den Verfolgungen seines Herrn entzogen wurde3 * * * * 8.

So mochte sich schließlich aus dem Zusammenwirken aller Umstände in der ländlichen Bevölkerung eine am Ende gar nicht mehr im Einzelfall begründete Vorliebe für das Leben in der Stadt einnisten, die dann zum „Vorurteil“ wurde und ein allgemeines Drängen nach der Stadt, denselben „Zug nach der

1 Das berichtet z. B. W. Wittick von den freigelassenen Leten in Nordwestdeutschland a. a. 0. S. 329.

2 „la population de la France parait avoir trös notablement augmente“ urteilt über diese Zeit ein so guter Ivenner wie Levasseur, 1. c. 1, 235.

Der Überschuß der deutschen Bevölkerung in der Zeit vom 12. bis

13. Jahrhundert war so groß, daß er genügte, um den Osten Deutsch¬ lands zurückzuerobern und die deutschen Städte zu füllen, die im

14. Jahrhundert großen Teils den Umfang erreicht hatten, den sie bis

ins 19. Jahrhundert gehabt haben. Dies das Ergebnis der Arbeit von

A. Püschel, Das Anwachsen der deutschen Städte. 1910.

8 Für Deutschland: Kniecke, a. a. 0. S. 61 ff. und öfters; dort finden sich die Hinweise auf Quellen und Literatur; für Frankreich: W. Stubbs, Const. Hist. 1,457; Flach, 2, 159 ff, 208; für Eng¬ land: Ch. Groß, Gildmerchant 1, 8; Green, Town Life 1 (1894), 174 f. Für Italien: Davidsohn, Gesch. von Florenz 1, 608.

Zehntes Kapitel: Die Entstehung der mittelalterlichen Stadt 179

Stadt“ erzeugte, wie wir ihn 1000 Jahre später in unserer Zeit wieder so mächtig in Wirksamkeit sehen.

* *

*

In diesen Städten, deren Emporkommen wir verfolgt haben, ent¬ faltete sich nun ein neues, eigen geartetes Wirtschaftsleben, das für die folgende Entwicklung der europäischen Kultur von aus¬ schlaggebender Bedeutung wurde. Zwei Kräfte haben es ge¬ schaffen: das Interesse jener kleinen Handwerkerexistenzen, die wir in den Marktbuden kampieren sahen oder in den kleinen Holzhäuschen, die wie Schwalbennester an die Burg, an das Palatium der reichen Grundherren geklebt waren.

Und das Interesse der Stadt selbst.

Wollen wir also verstehen, was es mit dem Wirtschaftsleben in einer mittelalterlichen Stadt auf sich hatte; insonderheit: welcher Art die neuen Gebilde waren, die hier entstanden, so werden wir uns vorerst klarmachen müssen, in welcher Richtung sich die Interessen der beiden schöpferischen Faktoren bewegten ; will sagen: welcher Geist sie beseelte, welches Ideal ihnen vor¬ schwebte, auf dessen Verwirklichung ihr Streben gerichtet war.

Leicht lassen sich die Endziele des einen feststellen: denn was die Stadt als Ganzes, was ihre gesetzlichen Organe wollten, ist niedergeschlagen in den Leitsätzen der städtischen Politik. Mit diesen wollen wir uns zuerst vertraut machen.

12*

180

Vierter Abschnitt

Das Zeitalter der handwerksmäßigen

Wirtschaft

Elftes Kapitel

Die Wirtschaftspolitik der Stadt

„Und so ist auch die Stadt nach der aristotelischen Be¬ schreibung und nach der Idee, welche ihren natürlichen Er¬ scheinungen unterliegt, ein sich selbst genügender Haushalt, ein gemeinschaftlich lebender Organismus. Wie auch immer ihre empirische Entstehung sein mag, ihrem Dasein nach muß sie als Ganzes betrachtet werden , in Bezug worauf die einzelnen Ge¬ nossenschaften und Familien, aus welchen sie besteht, in not¬ wendiger Abhängigkeit sich befinden. So ist sie mit ihrer Sprache, ihrem Brauch, ihrem Glauben wie mit ihrem Boden, ihren Ge¬ bäuden und Schätzen ein Beharrendes , das die Wechsel vieler Generationen überdauert und teils aus sich selber, teils durch Vererbung und Erziehung ihrer Bürgerhäuser wesentlich gleichen Charakter und Denkungsart immer aufs neue hervorbringt.“

Mit diesen wahren Worten leitet Tönnies1 seine schönen Betrachtungen über das Wesen der Stadt an sich, der ein. Und mit denselben Worten sollte jede Abhandlung auch über die Stadt des Mittelalters und ihre Eigenart begonnen werden 2.

1 Ferd. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft üsw. § 18. Ich verzichte darauf, die in diesem Kapitel gegebene Darstellung Schritt vor Schritt mit anderer Literatur oder Quellennachweisen zu beschweren. Es handelt sich im wesentlichen um bekannte Dinge, die ich nur in den Zusammenhang meiner Ausführungen einzuordnen habe. Die be¬ sondere Art, diese Dinge zu sehen, die vielleicht hier und da hervor¬ tritt, kann aber naturgemäß nicht durch „Quellennachweise“ begründet werden.

2 Ich meine, man versperrt sich jeden Weg zum Verständnis des inneren Wesens der mittelalterlichen Stadt, wenn man sie der modernen Stadt gleich und in einen Gegensatz zu den nicht-städtischen Ver-

181

Elftes Kapitel: Die Wirtschaftspolitik der Stadt

In der Tat, in diesen W orten liegt der Hinweis eingeschlossen auf jene Idee, aus der heraus allein das wahre Wesen dieser selt¬ samen Gebilde des Mittelalters, die wir Stadt nennen, begriffen werden kann: auf die Idee der Gemeinschaft, die wir nicht nur in die Dinge, um deren Erkenntnis uns zu tun ist, hineintragen, die also in diesem Falle nicht nur als philosophisches Hilfsmittel unserer Betrachtung erscheint, die vielmehr die Zentralsonne darstellt, von der alles, was in der mittelalterlichen Stadt ge¬ schah, das Leben erhielt, weil sie als tatkräftige Idee die Seelen der Einwohner und gewiß derer erfüllte, die bestimmend in die Gestaltung des städtischen Wesens eingriffen.

So wundersam diese Erscheinung ist, so ist sie doch durch tausendfaches Zeugnis als unzweifelhafte geschichtliche Tatsache uns verbürgt : jenes sonderbare Gemisch von Menschen, das, wie wir gesehen haben, sich in der Stadt des Mittelalters zusammen¬ fand, wurde ergriffen von derselben starken Idee der Gemein¬ schaft, der Zusammengehörigkeit, der Gleichartigkeit in sich, der Fremdheit gegenüber allem, was draußen vor den Toren lag. Weltliche und Geistliche, Fürsten und Bettler, Deiche und Arme, Patrizier und Plebejer, Freie und Unfreie, Bauern und Hand¬ werker umschloß das Band eines innerlichen, erlebten Einheits¬ und Gemeinheitsgefühls, das die ersten Menschengruppen gebildet, das dem Stamm, dem Dorf ihr Leben verliehen hatte. Wieder empfand eine große Anzahl von Menschen sich- als eine organische Einheit, fühlten sich viele als Glieder einer Familie, war das Be¬ wußtsein der Zusammengehörigkeit so stark, daß es alle auf¬ lösenden, zersetzenden Mächte im Innern überwand und alle zu gemeinsamem Handeln, zu geschlossenem Auftreten gegen die Außenwelt hinführte.

Aus diesem Gemeinschaftsgefühl floß also auch wie ein natürlicher Strom die Gesamtheit der Maßnahmen, die wir als

bänden des Mittelalters stellt, wie es Paul Sander in seinem Buche „Feudalstaat und bürgerliche Verfassung“ (1906) tut. So sehr ich den von ihm behaupteten Gegensatz zwischen Mittelalter und Neuzeit als richtig gesehen anerkenne (es ist im Grunde der von Tönnies gezeigte von Gemeinschaft und Gesellschaft, organischem und mecha¬ nischem Verbundensein, traditionalistisch-empirischer und rationaler Gestaltung, der auch meinen Ausführungen überall zugrunde liegt), so sehr halte ich es für verfehlt, die mittelalterliche Stadt den rationalen Gebilden zuzurechnen. S. räumt dem Umstand der Ausdehnung (großer, kleiner sozialer Kreis) eine zu ausschlaggebende Bedeutung ein : Auf den Geist kommt es an, der eine Gruppe beherrscht.

182 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

die Politik der Städte zu bezeichnen pflegen. In ihr tritt dieses starke Einheitsbewußtsein gleichsam in die Erscheinung. Ob es die Stadtherrn in den Anfängen der städtischen Ent¬ wicklung waren , ob später die patrizischen Geschlechter , ob schließlich die plebejischen Zünfte, von denen diese Maßnahmen ausgingen : immer waren sie von demselben Geiste erfüllt ; immer waren sie getragen von naivem Egoismus dieser kleinen Gruppe von Menschen, die sich als Einheit empfand und sich als Einheit durchzusetzen entschlossen war der gesamten Außenwelt gegen¬ über, die für sie die Fremde bedeutete. Die Fremde, gegen die man keinerlei Verpflichtungen empfand, die man als Objekt dem eigenen Ermessen dienstbar zu machen bestrebt war ; die Fremde, deren Abgesandten man mit Mißtrauen begegnete, weil man von ihnen wiederum nichts Gutes erwartete.

Die Grundidee , aus der heraus die Wirtschaftspolitik der mittel¬ alterlichen Stadt geboren ist, ist überall dieselbe; deshalb sind auch die Maßnahmen dieser Politik in den Grundzügen überall die gleichen; auch in England, für das man neuerdings eine Abweichung behauptet hat: G. Brodnitz, Die Stadtwirtschaft in England (Jahrbücher für N.Ö. 47, 1 ff.). Selbstverständlich bestehen Unterschiede zwischen den städtischen Gesetzgebungen in Deutschland und England, ebenso wie zwischen denen in Deutschland und Frankreich oder Italien. Vor allem ist die Stellung der Städte zum Staat wie allbekannt in England und Frankreich anders nuanciert wie in Deutschland und Italien. In diesen beiden Ländern kommt, dank der stärkeren Autonomie der Städte , die Idee der Stadtwirtschaftspolitik deshalb vielleicht etwas reiner zum Ausdruck, insbesondere ig der egoistischen Geltendmachung der städtischen Interessen gegenüber dem platten Lande. So hatten beispielsweise die englischen «Städte, wie Brodnitz behauptet, kein Straßenrecht. Ihre Getreideversorgungspolitik war darum doch aus gleichem Geiste geboren wie die der deutschen Städte. Das erkennen wir an den Bestimmungen über Stapelung, Fürkauf, Preistaxen, die wortwörtlich in den englischen Statuten ebenso lauten wie in den deutschen oder italienischen. Die Unterschiede zwischen den ein¬ zelnen Ländern sind also nur Grad-, keine Wesensunterschiede: just das zeigt jetzt wieder die Arbeit von Brodnitz.

Im Grunde waren gerade auch die englischen Städte dieselben starren und eigenlebigen Gebilde wie überall im Mittelalter: „a free self-governing Community, a state within the state“, wie sie einer ihrer besten Kenner nennt : J. R. G r e e n , The town Life in the XV. Cen¬ tury 1 (1894), 1 ff., wo sich eine summarische Aufzählung der Freiheits¬ rechte der Städte findet, die an Umfang hinter den Prärogativen keiner deutschen oder italienischen Stadt zurückstehen.

Wir haben hier nicht die tausendfachen Ausstrahlungen dieser leitenden Ideen aller städtischen Politik zu verfolgen: hier gilt

Elftes Kapitel: Die Wirtschaftspolitik der Stadt Jgg

es nur, ihren Wirkungen in einer bestimmten Richtung nach¬ zugehen, dorthin, wo sie sich zu dem System einer Wirtschafts¬ politik verdichten. Auch in diesem finden wir in der Tat die¬ selbe Idee der Gemeinschaft wieder, die alles städtische Leben beherrscht. Sie bestimmt zunächst formell das Verhalten der politischen Mächte, das heißt der Organe der Gemeinschaft, zu den wirtschaftlichen Einzelvorgängen. Und zwar in dem Sinne, daß sie nicht etwa dem Belieben des Einzelnen überläßt, wie er seinen Lebensunterhalt gewinnen will, ebensowenig wie das Haupt einer Familie dies seinen unmündigen Kindern anheim¬ stellt. Daß vielmehr die Gemeinschaft und ihre Vertreter über allen Vorgängen des Wirtschaftslebens wacht, sie alle nach einem einheitlichen Plan regelt, daß sie dem Einzelnen sein Verhalten vorschreibt, für das Wohlergehen des Einzelnen sorgt. Ganz wie von selbst folgt aus der leitenden Idee der Gemeinschaft jenes kraftvolle System regelnder Normen, wegweisender Ma߬ regeln, denen wir alle wirtschaftlichen Vorgänge in den Städten des Mittelalters unterworfen sehen.

Dieselbe Idee der Gemeinschaft bestimmt aber auch das materielle Grundprinzip, auf dem alle Wirtschaftspolitik der mittelalterlichen Städte fußt; jenes Grundprinzip, das kein anderes ist als das, das die Wirtschaftsverfassung des Stammes, des Dorfes, des Fronhofs geregelt hatte: das Prinzip der wirt¬ schaftlichen Selbstgenügsamkeit, der ökonomischen Autarkie, das Bedarfsdeckungsprinzip. Die Bewohner der Stadt sollen reichlich mit guten Dingen versorgt sein, deren sie zu ihres Leibes Nahrung und Notdurft benötigen 1. Aber was sich von selbst ver¬ steht: da das Leben der Stadt auf so durchaus anderem Grunde ruht als das aller früheren Gemeinschaften, da ja dem Wesen der Stadt gemäß zum ersten Male Menschen ohne Scholle leben sollen, so mußte derselbe Grundgedanke, den Bedarf dieser Menschen an wirtschaftlichen Gütern zu decken , zu Maßnahmen führen, die sehr verschieden waren von denen, die die Wirtschaft der Dorfgenossen oder der Fronhofsleute geregelt hatten. Aus dem¬ selben Grundgedanken der Bedarfsdeckung erwächst also ein ganz

1 In der Einleitung zu dem Bergwerksstatut der Stadt Goslar vom Jahre 1494 wird der Rammeisberg ausschließlich für die Bürger und die Stadt in Anspruch genommen und jedes Eindringen Fremder in den Besitz und Bau des Berges als „Verwüstung derNahrung der Stadt“ bezeichnet. Wagner, Corp. jur. metallici, p. 1033 t“. Vgl. dazu C. Neu bürg, Goslars Bergbau bis 1552 (1892), S. 120.

184 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

neues wirtschaftspolitisches System, das wir nun in seinen Haupt-1 zügen uns vergegenwärtigen müssen.

Wenn man sich dieses Ziel aller städtischen Wirtschaftspolitik, Fürsorge für ein nach Menge und Art befriedigendes Giiter- quantum zu treffen, deutlich vor die Augen hält, so wird man die tausend einzelnen Maßregeln, in denen die Tätigkeit der städtischen Gewalten sich ausdrückt , sehr leicht verstehen und zu einem innerlich geschlossenen System zusammenfügen können.

Dem Wesen der Stadt entspricht es, wie wir wissen, daß sie einen großen Teil ihres Lebensunterhaltes sich -durch Zufuhr von außen verschaffen muß. Dieselben Erwägungen also, die im Rahmen der geschlossenen Eigenwirtschaft zu Maßregeln führen, die bestimmt sind, jedes einzelne Produktionsgebiet zu voller Wirksamkeit zu bringen man denke an die Vorschriften des sogenannten Capitulare de villis , müssen den städtischen Wirtschaftspolitiker zu Vorkehrungen veranlassen, mittels deren er bewirkt, daß die notwendigen Gütermengen, die aber die Stadt nicht mehr selbst erzeugt, ihr von außen her zugeführt werden. An die Stelle einer reinen Produktionspolitik muß eine Zufuhrpolitik treten, die denn auch wirklich den wichtigsten Bestandteil der gesamten städtischen Wirtschaftspolitik aus¬ macht.

Wir fassen einen ersten Teil der hierher gehörigen Maßregeln zusammen unter der Bezeichnung des Straßen-, Meilen- und Stapelrechts, das sich die Stadt zu erkämpfen sucht. Das heißt, des Rechtes, jeden Warenzug (insbesondere sind es natürlich immer die Lebensmittel, ist es vor allem das Brotgetreide, auf dessen Herbeischaffung die Stadtgemeinde sinnt), der sich in einem bestimmten Umkreise der Stadt bewegt, durch die Stadt hindurchzuleiten und die auf diese Weise herbeigezogene Waren¬ menge mindestens einige Tage in der Stadt anzuhalten und den Bürgern zur Deckung eines etwa vorhandenen Bedarfes zur Ver¬ fügung zu stellen. Das heißt also: man zwang die Getreide¬ händler usw. , die Getreide irgendwo aufgekauft hatten, dieses und wenn auch auf Umwegen durch die Stadt zu trans¬ portieren und hier zu „stapeln“, ehe es seinem Bestimmungsorte zugeführt werden konnte.

Oder man hinderte gar die Landwirte in der Umo-eo-end der Stadt je weiter desto besser ihre Erzeugnisse wo anders als in der Stadt abzusetzen. Das „Recht“, dieses zu erzwingen,

Elftes Kapitel: Die Wirtschaftspolitik der Stadt

185

hieß das Marktrecht, kraft dessen also die Stadtbewohner sich ein Bezugsmonopol sicherten.

Kamen nun die Landleute mit ihren Produkten zur Stadt, so wollte man auch verhindern, daß ein spekulativer Kopf etwa die Waren schon auf dem Wege, ehe sie zum Markte gelangten, aufkaufte. Man verbot daher entweder den Ankauf vor dem Eintreffen auf dem Markte, oder man verbot überhaupt jeden Kauf von Lebensmitteln zum Zweck des Wiederverkaufs, oder man verbot wenigstens jeden Lieferungshandel mit Lebensmitteln. Die Verpflichtung, die Ware zu Markte zu bringen, wurde auch noch damit begründet, daß man nur so sich von ihrer Güte und „Legalität“ überzeugen könne.

Das Interesse des Konsumenten dem Händler gegenüber suchte man auch noch dadurch zu wahren, daß man ihm das sogenannte „Einstandsrecht“ verlieh, das heißt das Recht, von irgendeiner Warenpartie, die ein Händler hereingebracht hatte, (auch gegen den Willen des Händlers) soviel er brauchte, für sich einzukaufen1. Oder man gestattete dem Händler erst den Einkauf, nachdem die Konsumenten sich versorgt hatten: „donec burgenses ad suum opus ernennt“ ; und was dergleichen Bestimmungen mehr sind.

Daß man sich um die gute Beschaffenheit der zum Verkauf gelangenden Waren ebenfalls sorgte, geht schon aus der er¬ wähnten Bestimmung hervor, die fast in allen Städten überein¬ stimmend wiederkehrt : die in die Stadt gebrachten Lebensmittel sollen nur auf den dazu ausersehenen öffentlichen Marktplätzen feilgehalten werden. Dann aber suchte man auch zu verhüten, daß verdorbene Gegenstände zum Verkauf gebracht wurden ; daß zu hohe Preise gefordert wurden ; daß etwa falsch gewogen, falsch gemessen wurde usw.: ein ausgedehntes System „marktpolizeilicher“ Vorschriften regelte den Verkehr auf dem Markte im Interesse des Käufers. Dagegen stand nichts im Wege, daß man krankes Vieh oder faules Fleisch seinen lieben Mitchristen in der Nachbar¬ schaft aufhalse: „so mögent sie semmliche bresthafte schofe und liemmel lebendig wol ins land treiben und verkaufen,“ bestimmt

1 Nicht nur in 'kleinere® Verhältnissen’ ist dieses Einstandsrecht dem Bürger zugestanden worden, wie Inama (III. 2, 255) meint. Es galt in der größten Stadt des europäischen Mittelalters als sogen, droit de „part“ ganz allgemein: Livre des metiers, p. CXXXII. In England: „the right of Cavil“,

136 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

Straßburg im 15. Jahrhundert ; ebenso Nürnberg im Jahre 1497: „alles solich unfertig und tadelhafftig \:ihe forderlich von dannen zu thun und treiben“.

Aber man schuf auch selbst Einrichtungen, die eine gute Ver¬ sorgung der Stadt vor allem auch mit Getreide verbürgte: man erbaute auf Kosten der Stadt Speicher und legte dort Getreide ein und dergleichen.

Nicht ganz so ängstlich brauchte der Kat der Stadt um die Versorgung mit gewerblichen Erzeugnissen zu sein. Erstens weil ihr Ausbleiben keine wirkliche Not hervorrief, zweitens weil der Kegel nach in der Stadt selber genug davon hergestellt wurde. Immerhin widmete er auch ihnen seine Aufmerksamkeit : er sorgte dafür, daß fremde Handwerker und Händler auf den Jahrmärkten ihre Waren feil boten, daß die Handwerke stets gut besetzt seien, daß die Produktion in der Stadt selbst ehr- und gewissenhaft besorgt wurde, (daß keine Surrogate zur An¬ wendung gelangten, nicht verschiedene Stoffe gemischt wurden, nicht altes und neues Material zusammen verarbeitet werde, daß bei subtilen Dingen man nicht in der Nacht das heißt nach Eintritt der Dunkelheit arbeite) usw.

Bestimmungen der zuletzt genannten Art verfolgten aber noch einen anderen Zweck, sie sollten den gewerblichen Erzeugnissen der städtischen Produzenten den Absatz draußen im Lande oder in der Ferne sichern. Denn man mußte sich sagen, daß in einer Verkehrswirtschaft die Bedarfsdeckung zur Hälfte ein Absatz¬ problem sei: daß nur derjenige Handwerker die Mittel erwerbe, sich mit den wirklich zur Stadt kommenden (oder auch in der Stadt hergestellten) Gebrauchsgegenständen zu versorgen, welcher zuvor seine eigenen Erzeugnisse verkauft habe. Daher die be¬ sondere Fürsorge für die zum Export bestimmten Waren (die man erst noch einer amtlichen Prüfung unterzog). Kürzer frei¬ lich gelangte man zu demselben Ziele (den Absatz der Hand¬ werksprodukte zu sichern), wenn man das platte Land in einem wiederum möglichst weit gezogenen Umkreise zwang, sich in der Stadt mit gewerblichen Erzeugnissen zu versorgen. Man er¬ reichte das durch das Verbot aller gewerblichen Tätigkeit auf dem platten Lande : der Inhalt des sogenannten Bannrechts.

Mit dieser Fürsorge für den Absatz der Handwerksprodukte berührte die städtische Politik nun aber schon ein anderes Problem : das der Erhaltung einer bestimmten Organisation der städtischen Produktion, der handwerksmäßigen. Und damit dasjenige Problem,

187

Elftes Kapitel: Die Wirtschaftspolitik der Stadt

dessen Lösung für die Ausbildung städtischen Wesens die gleiche Bedeutung hatte wie die Versorgung des städtischen Marktes. J3enn darin gerade ist die Eigenart der Stadtwirtschaft verborgen, daß sie dieses System der handwerksmäßigen Wirtschaftsverfassung zu voller Entfaltung brachte. Am Ende des Mittelalters sind es geradezu die Handwerksinteressen, die die Interessen der Stadt schlechthin bilden. Vom „Handwerk“ müssen wir uns jetzt also zunächst eine klare Vorstellung zu verschaffen suchen.

188

Zwölftes Kapitel

Das Wirtschaftssystem des Handwerks

I. Der Begriff des Handwerks

Gemäß unserem Arbeitsplan müssen wir uns nunmehr zunächst eine klare Vorstellung von der „Idee des Handwerks“ machen, das heißt müssen die Wesenheit desjenigen Wirtschaftssystemes, das wir als Handwerk oder als handwerksmäßige Organisation der Wirtschaft bezeichnen und von dem wir wissen, daß es während des europäischen Mittelalters das Wirtschaftsleben be¬ herrscht hat, in begrifflicher Reinheit zu erkennen trachten.

Handwerk als Wirtschafts System ist diejenige Form der tauschwirtschaftlichen Organisation der Unterhaltsfürsorge, bei welcher die Wirtschafts¬ subjekte rechtlich und ökonomisch selbständige, von der Idee der Nahrung beherrschte, traditio* nalistisch handelnde, im Dienste einer Gesamtor¬ ganisation stehende, technische Arbeiter sind. Die Analyse dieses Begriffs ergibt folgende Bestandteile1.

Handwerker nennen wir alle Wirtschaftssubjekte in einer handwerksmäßig organisierten Wirtschaft, mögen sie landwirt¬ schaftliche oder gewerbliche Güterproduzenten sein oder Güter umsetzen oder Güter transportieren. Im engeren Sinne heißen Handwerker nur die gewerblichen Produzenten in einer hand¬ werksmäßigen Wirtschaft. Diese sind für das Wirtschaftssystem des Handwerks ebenso repräsentativ wie die landAvirtschaftlichen Produzenten für die Eigenwirtschaft und die Händler für die kapitalistische Verkehrs Wirtschaft. Ich werde sie deshalb hier als Vertreter aller andern Wirtschaftssubjekte der handwerks¬ mäßig organisierten Wirtschaft behandeln und an ihnen die Wesenheit dieses Wirtschaftssystems aufweisen.

1 In der ersten Auflage habe ich mich gründlich mit den Vertretern einer von der meinen abweichenden Auffassung vom Handwerk aus- - einandergesetzt. Ich empfinde jetzt die Zwecklosigkeit solcher Polemiken zu stark, um ihnen noch einen Teil des kostbaren Raumes in diesem Werke einzuräumen.

Zwölftes Kapitel: Das Wirtschaftssystem des Handwerks

189

Was seiner innersten Natur nach „ein Handwerker“ sei, werden wir aber, scheint mir, am sichersten zum Ausdruck bringen kennen, wenn wir zunächst unsere Aussage negativ dahin zusammenfassen, daß wir einen „Handwerker“ denjenigen gewerblichen Arbeiter nennen, dem keine für die Gütererzeugung und den Güterabsatz erforderliche Bedingung fehlt, sei sie per¬ sönlicher, sei sie sachlicher Natur, in dessen Persönlichkeit somit alle Eigenschaften eines gewerblichen Produzenten oder, wie wir zusammenfassend sagen können, die Produktionsqualifikation noch ohne irgendwelche Differenzierung eingeschlossen sind. Da zur Produktion stets eine Vereinigung von Sachvermögen und persönlichen Fähigkeiten erfolgen muß, so ergibt sich aus dem Gesagten zunächst, daß der Handwerker außer den persön¬ lichen Qualitäten die Verfügungsgewalt über alle zur Produktion erforderlichen Sachgüter, das heißt über die Produktions¬ mittel besitzt1: im Handwerker hat noch keine Differenzierung von Personal- und Sachvermögen stattgefunden ; oder in anderer Wendung mit gleichem Sinne: das Sachvermögen des Hand¬ werkers hat noch nicht die Eigenschaft/des Kapitals angenommen.

Aber der Handwerker besitzt nicht nur das für die Ausübung seines Gewerbes notwendige Sachvermögen, er besitzt auch alle dazu erforderlichen persönlichen Eigenschaften: er ist eine Art von gewerblichem „Herrn Mikrokosmos“. Was sich später in zahlreichen Individuen zu besonderen Veranlagungen aus¬ wächst: das alles vereinigt der Handwerker auf seinem „Ehren¬ scheitel“. Selbsverständlich alles in einem en-miniature-Ausmaße. Seiner Universalität entspricht mit Notwendigkeit seine Mittel¬ mäßigkeit.

Der Kern des Handwerkertums ist seine Eignung zum gewerblichen Arbeiter, in dem Sinne, daß er die tech¬ nischen Fähigkeiten besitzt, die zur Herstellung eines Gebrauchs¬ gegenstandes an einem Kohstoff vorzunehmenden Handgriffe auszuführen. Aber mit dieser, sagen wir technischen, Veran¬ lagung vereinigt er:

1 . die etwa erforderliche künstlerische Schau , das künstlerische Empfinden,

2. die für die Produktion, insbesondere auch für die Über¬ lieferung des Könnens erforderlichen Kenntnisse, um nicht

1 Was die französischen Statuten in einer stereotypen Formel sehr hübsch so ausdrücken: „Quiconques veut estre de tel mestier, estre le puet poer tant qu’il sache le mestier et ait de coi.“

190 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

den irreführenden Ansdruck zu gebrauchen: wissenschaftliche Befähigung. Alle Weisheit unserer „Doktor-Ingenieure“, alle Forschungsergebnisse unserer chemischen Laboratorien vereinigt er in seiner Persönlichkeit.

Daneben funktioniert er

3. als Organisator ebensowohl wie als Leiter der Pro¬ duktion. Er ist Generaldirektor, Werkmeister und Handlanger in einer Person.

Er ist aber

4. auch Kaufmann. Alle Einkaufs- und Verkaufstätigkeit, alle Absatzorganisation, kurz alles, was später als spekulative Leistung von einigen überdurchschnittlichen Persönlichkeiten be¬ sorgt wird, umfaßt sein persönliches Vermögen.

II. Die Gesamtorganisation der Wirtschaft

Will man die Grundidee erkennen, von der alles handwerks¬ mäßige Denken und Wollen bestimmt wird, so muß man sich, wie ich das in dem vierten Kapitel schon angedeutet habe, des leiten¬ den Prinzips bewußt werden, von dem die alte bäuerliche Hufen¬ verfassung getragen war. Denn das System handwerksmäßigen Schaffens ist nichts anderes als die Übertragung der Hufenverfassung auf gewerbliche (und kommerzielle usw.) Verhältnisse. Bis ins einzelne läßt sich die Analogie verfolgen, die zwischen einer bäuerlichen Hüfnergemeinde und einer in einer Zunft geeinten Korporation von Handwerkern obwaltet. Beide wollen in genossenschaftlichem Einvernehmen die wirtschaftliche Tätigkeit der einzelnen Teilnehmer ordnen. Beide gehen von einer gegebenen Größe der zu vollbringenden Arbeit und des zu befriedigenden Bedarfs aus, das heißt sind von der Idee ge¬ leitet, daß ein bestimmtes Ausmaß von Leistung und Einkommen jedem Genossen zukomme : sind orientiert unter dem Gesichts¬ punkt der ‘Nahrung’. Beide verteilen die Gesamtleistung unter die einzelnen und lassen einen Teil übrig, der von der Genossen¬ schaft als solcher zu vollbringen ist: der Gemeindeweide auf der Almende im Dorfe entspricht die Kollektivnutzung der von der Zunft (oder Stadt) errichteten Anstalten. Beide regeln bis ins einzelne das wirtschaftliche Verhalten jedes Genossen usw.

Der immer wiederkehrende Grundgedanke jedes echten Hand¬ werkers oder Handwerkerfreundes ist: das Handwerk solle seinen Mann ‘ernähren’. Er will so viel arbeiten, daß er seinen Unter¬ halt gewinnt, er hat wie die Handwerker in Jena (von denen

Zwölftes Kapitel: Das Wirtschaftssystem des Handwerks

191

uns Goethe erzählt) „meist den vernünftigen Sinn, nicht mehr zu ai beiten, als sie allenfalls zu einem lustigen Leben brauchen“.

Und wer die Zeugnisse insbesondere des Mittelalters kennt, weiß, daß dieser Grundgedanke aus jedem Zunftstatut tausend¬ fach spricht:

wolt ir aber hören, was kaiserlich recht gepuitet, unser vordem sind nit naren gewessen es sind hantwerck darumb erdacht das yederman sein täglich brot darmit gewin und sol niemant den andern greiffen in sein hantwerck. damit schickt die weit ihr notdurft und mag sich yederman erneren,“ heißt es in der sogenannten Reformation Sigismunds1.

'Aus der Verschiedenheit nun aber der Personen, aus der Ver¬ schiedenheit der Erwerbsquellen, die zwischen Bauer und nicht land¬ wirtschaftlichem Handwerker obwaltet, muß sich auch eine ver¬ schiedene Auffassung vom Wesen der „Nahrung“ ergeben. Der Bauer will als eigener Herr auf seiner Scholle sitzen und aus dieser im Rahmen der Eigenwirtschaft seinen Unterhalt ziehen. Der Handwerker ist auf den Absatz seiner Erzeugnisse angewiesen: er steht stets im Rahmen einer verkehrswirtschaftlicken Organi¬ sation. Er will (und muß seiner Wesenheit nach) gewerblicher Produzent, und er will freier, selbständiger Produzent sein.

Was für den Bauern also die hinreichende Größe seines Besitztums ist, ist für den Handwerker der genügende Umfang seines Absatzes ; was für jenen der Landbesitz überhaupt, istfür diesen die Eigenschaft des freien und selbständigen Gewerbetreibenden.

Man darf annehmen, daß erst durch Loslösung des Arbeiters von der Scholle, also in der Stadt, diese starke Betonung gerade der Selbständigkeit eintritt, wie wir sie in aller handwerks¬ mäßigen Sinnesart antreffen. Der städtische Handwerker stellte sich damit in einen bewußten Gegensatz zu äußerlich ähnlichen Existenzen auch gewerblicher Arbeiter und bildete damit einen wesentlichen Grundzug echt handwerksmäßiger Organisation erst recht aus2 3.

1 Willy Boekrn, Friedrich Reisers Reformation des K. Sigmund.

(1876), S. 218, auch S. 45 f. Dazu Carl Koehne, Zur sogen. Reformation K. Sigismunds im Neuen Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde ßd. 31 (1905) Heft 1. Die gegen mich und meine Verwendung des obigen Zitates aus dem genannten Werke gemachten Einwendungen K.s erledigen sich, glaube ich, durch meine Bemerkungen auf S. 29 ä.

3 Über den Unterschied zwischen dem „Handwerker“ als Wirt,-

192 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

III. Die Aufgabe der Handwerkergenossenschaft

Die Hufenverfassung ruhte auf dem Zusammenwirken der Dorfgenossen in der Dorfgemeinde. Es liegt nahe als das Organ, das für die gewerblichen 'Hüfner5 die Funktionen der Dorf¬ gemeinde übernehmen mußte, die Handwerkergenossenschaft, die Zunft oder Innung anzusprechen.

Man hat wohl mit Hecht die mittelalterliche Innung über¬ haupt als eine Fortsetzung der alten Bluts- und Ortsgemein¬ schaften zu betrachten uns gelehrt : Die Gilde soll in den Städten ersetzen, was die natürliche Gemeinschaft auf dem Lande von selbst bot; ergänzen, was die größere Stadtgemeinschaft dem einzelnen doch nicht zu leisten vermochte x.

Ganz gewiß aber hilft die Zunft dem einzelnen Handwerker bei der Durchführung seiner Wirtschaftszwecke in ähnlicher Weise wie die Dorfgemeinde den Bauern geholfen hatte. Sie ist es zunächst, die da Sorge trägt, daß ein genügend großes Tätigkeit^- (und Absatz- jgebiet dem Handwerk als Ganzem ge¬ sichert werde (wie die Dorfgemeinde die Größe der Dorfflur den Interessen ihrer Genossen gemäß bestimmte). Das suchte sie dadurch zu erreichen, daß sie, wo irgend möglich, den Ab¬ satz für das Handwerk einer bestimmten Stadt, sei es in dieser Stadt selbst, sei es auf fremden Plätzen, monopolisierte, und ferner dadurch, daß sie, wo das Monopol nicht völlig durch¬ geführt werden konnte, das Eindringen Fremder in das eigene Absatzgebiet tunlichst zu erschweren suchte. Daher die zahl¬ reichen, immer wiederkehrenden scharfen Bestimmungen des Gästerechts, der Markt- und Meßvorschriffcen usw., wodurch den Nichtheimischen grundsätzlich ungünstigere oder wenigstens doch nur gleichgünstige Bedingungen des Absatzes gewährt werden sollten 2.

schaftssubjekt in einer handwerksmäßig organisierten Wirtschaft und dem „Handwerker“ (im technischen Sinne) in den mittelalterlichen Eigenwirtschaften oder auch in einer modernen kapitalistischen Unter¬ nehmung siehe die ausführliche Darlegung in der 1. Auflage S. 88 f.

Da es sich hier nicht um den Nachweis einer empirischen Ver¬ wirklichung bestimmter Bestandteile der handwerksmäßigen Organisation in der Geschichte handelt, so bedarf es keiner Quellenbelege. Wer sich liir diese interessiert, sei auf die erste Auflage verwiesen, wo er sie in Menge finden wird.

Der Gedanke des Produktionsmonopols, der ursprünglich nur für das Handwerk als solches ohne Rücksicht auf die jeweils das Hand-

Zwölftes Kapitel: Das Wirtschaftssystem des tlandwerks

Und dem Streben nach einem Yerwertnngsmonopol ent¬ sprach das Streben nach Monopolisierung des Rohstoffbezuges. Daher die zahlreichen Bestimmungen, welche die Ausfuhr der Rohstoffe oder auch der Halbfabrikate aus dem „natürlichen“ Bezugsgebiet eines Handwerks zu verhindern suchten.

Der Zunft aber obliegen auch alle Tätigkeiten, die über die Kraft, des einzelnen hinausgehen würden, etwa die Besormmo- des notwendigen Rohstoffs im großen oder von weit her, oder die Organisation des Absatzes der Erzeugnisse über ein größeres Gebiet.

Obliegt, soweit die Stadt selber nicht für sie eintritt, die Er¬ richtung von Anstalten, die einen großen Aufwand erheischen und deshalb vom einzelnen Handwerker nicht errichtet werden können. Sie werden dann von den Zunftgenossen gemeinsam genutzt (wie die Ahnende, der Wald in der Dorfgemeinde!).

Bekannte Beispiele dafür sind : jiie W ollküchen, in denen die rohe Wolle gereinigt; Kamnahäuser, in denen sie gekämmt wurde; Ölmühlen, Walkmühlen, Schleifereien, Tuchrollen, Mang- und Färbehäuser, Sägewerke; Plätze, wo die Tuchrahmen zum Trocknen aufgestellt wurden; Gärten, wo gebleicht wurde; Materialhäuser für die Baugewerbe (Ziegeleien usw.); Gewand¬ häuser, in denen die Tücher verkauft wurden. In Summa: überall, wo eine gemeinsame Arbeitsleistung oder Anordnung der Pro¬ duktionsmittel im großen erforderlich wird, tritt die Zunft, wir würden heute sagen, als Werkgenossenschaft auf.

IY. Die Eigenart der Hand werkerarbeit

Die eigene wirtschaftliche Tätigkeit des einzelnen Hand¬ werkers besteht im wesentlichen in der technischen Bearbeitung und Verarbeitung der Rohstoffe und Halbfabrikate zu Gebrauchs¬ gegenständen, die er in eigener Person vornimmt, wie wir sahen. Damit aber wird die Eigenart dieser Tätigkeit selbst bestimmt. Was seiner Hände Geschicklichkeit zu leisten, was seiner Arme Spannweite zu umschließen vermag, das ist die Sphäre seines Wirkens, das also als ein unmittelbarer Ausfluß seiner Persön-

werk bildenden Personen gedacht war, wurde dann mit der Zeit dahin nuanciert, daß sich das Vorrecht auf eine bestimmte Anzahl von Meistern zu beschränken habe : ein Gedanke , der in der allmählich allgemeiner werdenden „Schließung“ des Handwerks seinen folge¬ richtigen Ausdruck findet.

Sombart, Der moderne Kapitalismus. I.

13

194 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

lichkeit erscheint. In diesem Sinne hat man das „Handwerk-' sehr treffend bezeichnet als den „Ausdruck einer zum Lebens¬ beruf ausgeprägten bestimmten Tätigkeit des Individuums , die sich sozusagen so weit ausdehnt, als die Kraft der ein zelnen Hand zu herrschen und zu schaffen vermag h Und wie es dabei nicht anders sein kann: das Werk selbst, also das Ergebnis des handwerklichen Wirkens, ist der getreue Ausdruck der Persönlichkeit seines Schöpfers. Handwerker¬ ware ist bei aller Traditionalität des Verfahrens doch immer individuelles Werk. Es trägt ein Stück Seele in die Weh hinaus, weil es ja die Schöpfung eines wenn auch noch so be¬ schränkten, aber doch lebendigen Menschen bleibt. Von den Leiden und Freuden seines Schöpfers weiß es zu erzählen. Kommt auch nicht jedes Paar Schuhe zustande, wie es der Sachs in der Johannisnacht zusammenschlägt: mit dem Hammer auf dem Leisten halt’ ich Gericht“ , Einflüsse mannigfachster Art werden sich immer bemerkbar machen: „jeder Ärger über das Kind, jeder Zank mit der Frau“, die tausenderlei Fährnisse des häuslichen Lebens gehen nicht spurlos an dem Werk des Handwerkers vorüber. Es bleibt in den Kreis seines Könnens gebannt: das aber ist verschieden von Meister zu Meister, ver¬ schieden von Tag zu Tag.

V. Hie Berufsgliederung des Handwerks

Der Idee handwerksmäßiger Arbeit als einer Betätigung der Gesamtpersönlichkeit entspricht nun auch die dem Handwerk eigentümliche Berufsgliederung, die dem Gedanken Rechnung träo-t, daß die Individualität eines Menschen seine Kräfte über einen gewissen Kreis von Tätigkeiten erstrecken kann und soll, die durch ein geistiges Band, durch die Idee eines Ganzen zu¬ sammengehalten werden; daß eine Ausweitung dieses Kreises seine Kräfte zersplittern muß, während anderseits, wenn diese Kräfte in zu engem Kreise oder wohl gar nur nach einer Rich¬ tung hin betätigt werden, der Arbeiter in die Stumpfheit des

1 Denkschrift des Zentralvereins zur Reorganisierung des Hand¬ werkerstandes in Breslau als Entwurf der Generalversammlung der Handwerksgenossen Schlesiens am 19. Juni 1848 zur Prüfung und Beratung vorgelegt vom provisorischen Komitee des Vereins (o. 0. o. J.), S. 3. Diese Denkschrift enthält auch im übrigen eine Fülle treffender und feiner Bemerkungen.

Zwölftes Kapitel: Das Wirtschaftssystem des Handwerks 195

rein mechanischen Betriebes versinkt. Was gleichsam die quali¬ tative Abgrenzung der einzelnen Handwerke charakterisiert, während die quantitative Zuteilung des Wirkungskreises deut- lichst unter dem Einfluß des Leitsatzes von der „Nahrung“ steht. Lach beiden Bichtungen hin das wollen wir festhalten sind also für die Abgrenzung der einzelnen Handwerke subjektive, in der Persönlichkeit des Handwerkers begTündete Momente maßgebend.

Die Größe des Wirkungskreises, innerhalb dessen der Hand¬ werker seine Tätigkeit ausübt, findet aber ihren Ausdruck in der Größe seines Betriebes. Daß dieser der Begel nach die Grenzen des Individualbetriebes nicht überschreiten wird , ent¬ spricht mir der Wesenheit des Handwerks.

VI. Die Ordnung der Handwerksarbeit

Daß nun dem Handwerker stets ein bestimmter Betriebs¬ umfang gesichert sei (das heißt also ein bestimmter Abnehmer¬ kreis), daß der eine sich nicht auf Kosten des anderen ver¬ größere und bereichere, daß vielmehr alle einen möglichst gleichen Anteil an dem gesamten Absatzgebiet behalten; auf die Erreichung dieser Ziele (die also recht eigentlich die Siche¬ rung der „Nahrung“ bedeuten) ist das Hauptaugenmerk der Handwerkerordnungen gerichtet , weshalb wir häufig diesen Teil ihrer Bestimmungen schlechthin als Zunftordnung be¬ zeichnen.

Der Erreichung dieses Zieles dienen:

1. Vorschriften, die die Bedingungen des Bohstoffbezugs für alle Handwerker gleich gestalten sollen; sei es, daß sie be-^ stimmen: kein Meister dürfe anders als am Markttage, am an gezeigten und bestimmten Orte und nirgends anderswo einkaufen, sei es, daß die Preise des Bohstofls amtlich festgesetzt und von ®|dermann eingehalten werden müssen, sei es, daß die Größe der von einer Person einzukaufenden Menge beschränkt wird, sei es, daß ganz allgemein jederart „Vorkauf“ verboten wird, sei es , daß jedem Handwerker das Becht eingeräumt wird, an dem Einkäufe eines anderen teilzunehmen (sogenanntes Ein¬ standsrecht).

2. Bestimmungen, in denen die Ausdehnung des Be¬ triebes oder die Menge der Produktion Beschränkungen unterworfen werden. Hierher gehört die Festsetzung der Höchst-

13*

196 Vierter Abschnitt: l)as Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

zalil der Gesellen und Lehrlinge, die e in Meister beschäftigen darf. AVo eine solche Beschränkung durch die Natur des Gewerbes untunlich oder sonst unausführbar scheint, werden andere Mittel angewandt, um das Produktionsquantum des einzelnen nicht zu stark werden zu lassen und die Entwicklung zum Großbetriebe zu verhindern.

Oder es wird die zulässige Produktionsmenge direkt fest¬ gesetzt, die der einzelne während einer bestimmten Zeit erzeugen darf. Das ist namentlich dort der Fall, wo die Produkte wesent¬ lich gleicher Art sind, also vor allem in der Weberei, dann aber auch in der Kürschnerei, Gerberei und anderen.

3. Bestimmungen, die ein möglichst gleichzeitiges, wie gleichartiges Angebot herbeizuführen bezwecken. Hierher gehören die mannigfachen Vorschriften über die Art, den Ort und die Zeit des Verkaufs, die Verbote, dem Zunftgenossen dessen Kunden oder Käufer abspenstig zu machen oder ihm ein Stück Arbeit fortzunehmen; hierher gehört auch das Verbot, das von einem Zunftgenossen begonnene AVerk weiter zu führen, und manches andere.

AHI. Die innere Gliederung des Handwerks

Das Handwerk wird dargestellt von den Meistern (denen, die das Handwerk verstehen: wie die Dorfgemeinde vertreten wurde durch die Hufen: denen, die Grund und Boden besaßen). Aber der Meister muß für Nachwuchs sorgen, damit das Hand¬ werk nicht aussterbe; der Meister braucht in vielen Fällen der Hilfe anderer Personen in seinem Betriebe. So kommt es, daß neben ihm auch noch andere im Handwerk arbeiten, daß die einzelnen Handwerksbetriebe häufig nicht Alleinbetriebe sind, in denen nur der Meister tätig wäre, sondern (und das darf sogar als der typische Fall angesehen werden) Gehilfenbetriebe.

Da ist denn nun wiederum ein dem Handwerk besonderer Zug die Art und AVeise, wie die in ihm zu einheitlichem AVirken zusammengefaßten Personen rechtlich und ökonomisch zueinander in ein Verhältnis gebracht werden; dasjenige, was man die innere Gliederung des Handwerks nennen kann. Demi ihre Eigenart folgt aus dem obersten Prinzipe handwerksmäßiger Organisation, wie es in der Zwecksetzung ihrer Träger zum Ausdruck gelangt.

Das A7erhältnis des Leiters handwerksmäßiger Produktion

Zwölftes Kr.pitel : Das Wirtschaftssystem des Handwerks 197

des „Meisters“ zu seinen Hilfspersonen den Gesellen, Knechten , Knappen, Knaben, Dienern, Helfern, Gehilfen und wie die Bezeichnungen sonst noch lauten mögen, sowie den Lehrlingen und dieser zu ihm, ,wird man nur dann richtig verstehen , wenn man sich den familienhaften Charakter ver¬ gegenwärtigt , den alles Handwerk ursprünglich trägt: die Familiengemeinschaft ist der älteste Träger dieser Wirtschaftsfo r m , und sie bleibt es auch dann noch , wrenn schon fremde Personen zur Mitwirkung herangezogen werden. Geselle und Lehrling treten in den Familienverband ein mit ihrer ganzen Persönlichkeit und werden von ihm umschlossen zunächst in der gesamten Betätigung ihres Daseins. Die Familie samt Gesellen und Lehrlingen ist Produktions- und Haushai tunns- einheit. Alle ihre Glieder sind Schutzangehörige des Meisters; sie bilden mit ihm ein organisches Ganze, ebenso wie es die Kinder mit ihren Eltern tun.

Wie nun aber gar nie die Vorstellung aufkommen kann, daß die Eltern der Kinder oder die Kinder der Eltern wegen da seien, ebenso wie es töricht wäre, zu denken, daß das Herz um des Kopfes oder dieser um jenes willen da sei, so folgt auch für das Verhältnis von Meister zu Gesellen und Lehrlingen, daß keiner der Mitwirkenden als um des anderen willen wirkend ^e-

o

dacht werden darf, sondern daß sämtliche Personengruppen, also auch die Hilfspersonen Geselle und Lehrling als Selbst¬ zweck erscheinen, oder was dasselbe ist, als Organ im Dienste eines gemeinsamen Ganzen.

Stets erscheinen dem Wesen des Handwerks entsprechend Lehrlings- und Gesellentum nur als Vorstufen zur Meister¬ schaft. Das, möchte ich sagen, ist fast das wichtigste Merk¬ mal echt handwerksmäßiger Organisation. Wie der Student nur der angehende Referendar und dieser nur der angehende Richter ist, so ist der Lehrling werdender Geselle, der Geselle werdender Meister. Daß hierfür die Voraussetzung auch ein entsprechendes zahlenmäßiges Verhältnis der Aspiranten auf die Meisterstellen zu diesen selbst ist, ist oft und mit Recht betont worden: man darf annehmen, daß dort, wo die Zahl der Gesellen mehr als die Hälfte der Zahl der Meister beträgt, ein Einrücken in die Meisterstellen schon nicht mehr jedem Gesellen gewährleistet ist h

1 Siehe die Berechnungen J. G. Hofmanns und die darauf fußenden Ausführungen Schmoll er s, Zur Geschichte der deutschen

198 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

Wo aber etwa aus betriebstechnischen oder anderen Gründen eine größere Gchilfcnzahl erforderlich ist , da hilft man sich m der Weise, daß man materiell wie ideell den Unterschied zwischen Meister und Gesellen fast völlig auslöscht und den Meister als einen Primus inter pares ansieht. Das war der Grundgedanke beispielsweise der Baugewerke, namentlich der Steinmetzen im Mittelalter, bei denen der Meister zwar als Organisator und Leiter unentbehrlich war, die Gesellen ihm aber in Lohn sowie Achtung und Ansehen fast völlig gleichstanden.

Bei aller gelegentlichen Auflehnung gegen das Meisterregiment soll der Geselle doch eingedenk bleiben, daß ihm dasselbe der¬ einst widerfahren könne, was er gegen den Meister unternimmt. Welche Erwägung der folgende Spruch zu greifbarem Ausdruck bringt :

Ein jeder Gesell oder Knecht

Der seinen stand wil brauchen recht.

Es sey mit Arbeit oder wandien,

Was dah sein Herrschaft hat zu handlen.

Darinn soll er sich brauchen schon,

Wie er wolt das man im solt thon.

Dann wie einer dienet auff Erden,

So wird im auch gedienet werden.

Gedenk wenn ich zu Ehren kom,

Dient man mir also wiederumb h

Kleingewerbe im 19. Jahrhundert (1870), 338/39; auch Bücher in den Untersuchungen des Vereins für Sozialpolitik über die Lage des Handwerks (zit. U.) III 444/45 kommt zu ähnlichen Ergebnissen.

1 Von einem Holzschnitt um 1600. Faksim. bei E. Mummen¬ hoff, Der Handwerker in der deutschen Vergangenheit (1901), 94.

199

Dreizehntes Kapitel

Die Daseinsbedingungen des Handwerks

Da wir unsere Untersuchung auf den Kreis der westeuro¬ päischen Kulturvölker beschränken, so kann die Bedingtheit unserer Wirtschaftsform durch Eigenart des Landes und des Volks außer Betracht bleiben. Vielmehr werden wir die Mög- lichkeit handwerksmäßiger Organisation im wesentlichen aus einer bestimmten (quantitativen) Gestaltung der Bevölkerungs¬ verhältnisse und der Technik abzuleiten uns angelegen sein lassen.

I. Die Bevölkerung

Die Bevölkerung ist nach drei Seiten von bestimmendem Einfluß auf die Lebensfähigkeit handwerksmäßiger Organisation *,

1. Durch die Beschaffenheit ihrer Vermehr ungstendenzen. Da ist festzustellen: je geringer die allgemeine Zuwachsrate einer Bevölkerung ist, das heißt also, je langsamer ihre absolute Vermehrung fortschreitet, desto besser für das Handwerk;

2. ist für die Lebensfähigkeit einer Wirtschaftsform der ge¬ werblichen Produktion von entscheidender Bedeutung die Zu¬ wachsrate der landwirtschaftlichen Überschußbevölkerung, also desjenigen Bevölkerungsteils, für den in der Sphäre der land¬ wirtschaftlichen Tätigkeit kein Spielraum mehr ist. Handwerk in Handel und Gewerbe ist an die Voraussetzung geknüpft, daß die agrarische Überschußbevölkerung gering sei oder was auf dasselbe hinausläuft daß für die ländliche Zuwachs¬ bevölkerung die Möglichkeit bestehe, durch Intensität des An¬ baus oder Besiedlung von Neuland ihre Arbeitskraft zu ver¬ werten ;

3. kommt für die Daseinsmöglichkeit einer gewerblichen Wirtschaftsform erheblich in Betracht der Grad der Bevölkerungs¬ dichtigkeit und der Bevölkerungsagglomeration : Handwerk setzt für beide einen niedrigen Grad voraus.

1 j Siehe die Begründung auf Seite 203 ff.

200 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

II. Die Technik

Die Technik ist bedeutsam für das Handwerk durch die Art des Verfahrens sowie durch die quantitative Leistungsfähig¬ keit. Die Art des Verfahrens, die der Idee handwerks¬ mäßiger Organisation entspricht, ist die empirisch- organische.

Empirisch wollten wir eine Technik nennen, wenn sie auf einem Kunstverfahren beruht. Das technische Können baut sich alsdann auf auf dem praktisch-persönlichen Wissen dessen, der die „Kunst“ erlernt hat, und zwar erlernt hat durch Unter¬ weisung eines anderen Könners, eines anderen Meisters der Kunst. Empirisch, erfahrungsmäßig ist die Handhabung der Technik, weil sie auf nichts anderem beruht als auf dem Er¬ probtsein, weil sie keine andere Richtschnur hat als subjektiv für wahr befundene Kegeln, die der „Meister“ aus dem tatsäch¬ lichen Vorgänge des eigenen Wirken s abgezogen und dem „Lehr¬ ling“ als die Regeln seiner Kunst wie einen persönlichen Besitz übertragen hat. Der die Kunst versteht, kennt doch immer nur das Wie? und das Wozu? des Gesamtverfahrens und aller Einzel¬ heiten; nicht das Warum? Der Bauer düngt seinen Boden, weil er persönlich erfahren und darin von seinem Vater unterwiesen ist (wie dieser es vom Großvater gelernt hat), daß die Saat auf gedüngtem Boden besser wächst als auf ungedüngtem ; der Gerber bereitet eine Lohbrühe aus Eichenrinde und bestimmtem Wasser¬ zusatz und legt die Ochsenhaut ein Jahr hinein, weil sein Meister es ihm so gezeigt hat und weil der Augenschein bestätigt, daß dieses Verfahren zweckmäßig ist, um Häute in Leder zu ver¬ wandeln.

Organisch nenne ich diejenige Technik, deren Verfalirungs- weisen durch Ausmaß und Art lebendiger Wesen bestimmt sind, deren Prozesse durch aktive wie passive Teilnahme menschlich¬ tierischer oder pflanzlicher Organismen wesentlich zustande kommen. Organisch im passiven Sinn ist diejenige Technik also, bei der als Hilfskräfte und Stoffe vornehmlich Menschen, Tiere und Pflanzen verwendet werden, im aktiven Sinn diejenige Technik, bei der das Werk selbst individuelles Menschenwerk, das heißt unmittelbarer Ausfluß eines lebendigen Menschen ist, der im Mittelpunkt der Werkschöpfung steht und von dessen natürlicher Organbetätigung der ungestörte Verlauf des Arbeits¬ prozesses abhängig ist. Der Arbeiter schafft sich selbst ein System von Hilfsmitteln die Werkzeuge um sein Werk

Dreizehntes Kapitel: Die Daseiusbedingungen des Handwerks 201

besser vollbringen zu können. Das Werkzeug, das den Arbeiter bei seiner Arbeit nur unterstützt, ist das dem organischen Ver¬ fahren entsprechende Arbeitsmittel.

Es bedarf nun wohl kaum einer besonderen Begründung, weshalb die empirisch-organische Technik und die handwerks¬ mäßige Organisation der Wirtschaft (ebenso natürlich wie die Formen der Individualbetriebe) ihrem Wesen nach zusammen¬ gehören: der Handwerker will ja gerade sich als ganze, lebendige Persönlichkeit in seinem Wirken betätigen, will Werk schaffen mit seines Kopfes und seiner Hände Arbeit, will seine Wesenheit einem Teil der äußeren Natur, die er formen soll, mitteilen: was Wunder, daß ihm eine Technik gemäß ist, die alles Wirken um die lebendige Persönlichkeit eines Arbeiters gruppiert: bei der der Landmann hinter dem Pfluge herschreitet, der Schuster unter der Wasserkugel mit Pfriemen und Draht Sohlen annäht, der Kärrner mit dem Spitz im W agenkorbe sitzt und der Kahn¬ führer seinem Fahrzeug eigenhändig stromabwärts die Richtung gibt, stromaufwärts selbst die Bewegung mitteilt.

Wie aber soll in jenem seiner innersten Natur erfahrungsmäßig¬ traditionell veranlagten Wesen, als welches wir den Handwerker kennen lernten , technisches Können anders Wurzel schlafen als durch die persönliche Unterweisung, die er vom Meister empfängt? Wie soll er seine Kunst anders handhaben können als wie er es geleimt hat, wie es seine Vorfahren ihm über¬ liefert haben: er, dem ein wissenschaftliches Erfassen des Arbeits¬ prozesses bei der Vielseitigkeit seiner Talente und seiner Tätigkeit naturgemäß völlig fern liegen muß?

Wie innerlich handwerksmäßiges Wesen und empirisch¬ organische Technik miteinander verwachsen sind, sehen wir an einer ganzen Reihe echter Züge handwerksmäßiger Organisation, die immittelbar in der Anwendung jener Technik ihren Grund haben.

So wurzelt die eigentümliche hierarchische Gliederung allen Handwerks: die „Meister“- und „Lehrlings “schaff letzten Endes in der Eigenart, der empirischen Technik. Das technische Können haftet bei ihr an einer bestimmten Person: dem „Meister“. Mit ihm lebt es , mit ihm stirbt es. Und darum bedarf es der persönlichen Unterweisung eines „Lehrlings“ durch den Meister, damit die Kunst erhalten bleibe und sich fortpflanze. Solange alle Wirtschaft im Hause eingeschlossen ist, sorgt die Familien¬ tradition, sorgt das natürliche Eltern-Kinder- Verhältnis dafür, daß

202 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

die Vorräte an technischem Wissen und Können mit dem Tode der einen Generation nicht verloren gehen, sondern auf die nächste Generation übertragen werden. »Fällt diese natur¬ wüchsige Art der Übermittlung fort, so müssen künstliche Vor¬ richtungen getroffen werden, die die Stetigkeit des Besitzes an Technik den kommenden Geschlechtern verbürgen. Diesem Zwecke dienen die korporativen Verbände (Zünfte, Gilden), die wir bei allem Handwerk wiederfinden.

Aus der Eigenart des organischen Verfahrens erklärt sich ferner im Handwerk die Bildung der Berufssphären: sie erfolgt in wirklich „organischer“ Entwicklung, das heißt im Anschluß und unter ausschließlicher Berücksichtigung des persönlichen Vermögens der Produzenten; das heißt also ohne jede Rück¬ sichtnahme auf die objektiven Anforderungen des Produktions¬ prozesses.

Aber auch der Berufsstolz, die besondere, handwerksmäßige „Berufsehre“ ist ohne empirisches Verfahren nicht denkbar. Es bedurfte der durch die Jahrhunderte überlieferten, rein persön¬ lichen Kunstfertigkeit, um deren Träger das Gefühl einer be¬ stimmten Berufszugehörigkeit als besonderen Reiz empfinden zu lassen. Der Bergmann, der Steinmetz, der Schwertschmied waren jeweils die Verweser ihrer speziellen Kunst, deren gemein¬ samer durch persönliche Vermittlung erworbener Besitz sie selbstverständlich gegen alle Uneingeweihten abschließen mußte. Daß eine Düngerfabrik, eine Anstalt zur Herstellung des besten Haarwassers oder der haltbarsten Pneumatik ähnliche Seelen¬ stimmungen weder im Unternehmer noch im Arbeiter zu er¬ zeugen vermögen, ist handgreiflich.

Aus der Natur des empirischen Verfahrens lassen sich aber auch alle Erscheinungen mühelos ableiten, in denen eine scheue Ehrfurcht vor den „Mysterien“ einer gewerblichen Kunst oder das Bestreben ihrer Jünger zutage tritt, selbst ihr Können mit einem geheimnisvollen Schleier zu umgeben und vor Profanierung zu schützen.

Es mag daran erinnert werden, wie diese Auffassung der ge- werblichen Tätigkeit als etwas Übernatürliches weil Unerklär¬ liches uns zurückführt zu den Sagen von der göttlichen Herkunft der Künste und Fertigkeiten, die allen europäischen Völkern gemeinsam sind. In den Airfängen der Kultur ist es vor allem die Eisenbereitung und Eisenverarbeitung , die man mit mystischen Vorstellungen umspann. „Wie das Staunen der Mensch-

Dreizehntes Kapitel: Die Daseinsbedingnngen des Handwerks 203

heit über die wunderbare Kunst, welche es versteht, das harte Metall im Feuer zu schmelzen und kostbare Dinge aus ihm zu schmieden, dazu geführt hat, die Erfindung derselben über¬ irdischen Wesen zuzuschreiben, so kann man sich auch' die Ausübung derselben durch irdische Geschöpfe nicht ohne die Zuhilfenahme geheimnisvoller und zauberhafter Mittel vorstellen. Diese Anschauung gilt . . . durch ganz Europa1.“

Aber gerade auch in der Periode handwerksmäßiger Pro¬ duktion begegnet uns jene Auffassung auf Schritt und Tritt. Die Geheimniskrämerei in so vielen Handwerken, namentlich in den ,Baugewerben , namentlich während des Mittelalters hängt aufs engste damit zusammen. „Die Baukunst“ wurde geheim gehalten und daher in eine symbolische Sprache und in sym¬ bolische Formen gehüllt. Jede Mitteilung an Fremde war ver¬ boten. Ebenso die schriftliche Abfassung der Geheimlehre2.“ Hierher gehört auch die Sitte des Verbleibungseides, die uns so häufig im Handwerk begegnet.

In quantitativer Hinsicht muß die Technik ebenfalls be¬ stimmte Anforderungen erfüllen, damit Handwerk möglich sei.

Die Produktivität der landwirtschaftlichen Arbeit muß infolge einer entsprechend entwickelten Technik einen solchen Grad erreicht haben, daß einer genug für zwei Nahrungsmittel und Rohstoffe zu erzeugen vermag. Erst dann offenbar kann die Verarbeitung und Bearbeitung jener zu gewerblichen Erzeug¬ nissen so sehr verfeinert werden, daß nun eine Person sich ausschließlich dieser Tätigkeit widmet, erst dann also ist eine be¬ rufliche Verselbständigung gewerblicher, kommerzieller, transport- licher Tätigkeit möglich, auf der ja alle handwerksmäßige Organi¬ sation fußt.

Ist somit ein Mindestmaß für die Entwicklung der landwirt¬ schaftlichen Technik als selbstverständliche Vorbedingung übrigens jeder berufsmäßig ausgeübten gewerblichen Tätigkeit anzunehmen, so ist umgekehrt das Wohlergehen des Handwerks, wie dann zu zeigen sein wird, geknüpft an ein Maximum von Produktivität der gewerblichen und transportierenden Arbeit, hat also zur Voraussetzung einen entsprechend niedrigen Stand der gewerb¬ lichen sowie der Transporttechnik.

1 0. Schräder, Sprachvergleichung und Urgeschichte. 2. AuÜ. 1890. S. 236 ff.

2 Vgl. Heideloff, Die Bauhütte des M.-A. (1844), S. 16—18, und dazu v. Maurer 2, 483.

204 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

Durch den Produktivitätsgrad der Technik werden nämlich im Verein mit den eigentümlichen populationistischen Verhält¬ nissen, die ohen Seite 199 als dem Handwerk angemessene be¬ zeichnet wurden, die Absatzverhältnisse wesentlich bestimmt. Diese aber dürfen als die entscheidende Bedingung jedes Wirt¬ schaftssystems angesprochen werden. Es gilt also zu untersuchen, welcher Art die Absatzverhältnisse sein müssen, damit Handwerk möglich sei, wie sie beschaffen sein müssen, damit Handwerk blühe, welches also ihre für die handwerksmäßige Organisation optimale Gestaltung sei.

HI. Die Gestaltung der Absatzverhältnisse1

Unter Absatzverhältnissen im weiteren Sinne verstehe ich ein Zweifaches :

1. die Bedingungen, unter denen sich der Produzent in den Besitz der nötigen Produktionsmittel setzt;

2. die Bedingungen, unter denen er seine Produkte ver¬ äußert.

Wir können im ersten Palle von Bezugs Verhältnissen , im anderen von Absatzverhältnissen im engeren Sinne oder Ver¬ wertungsverhältnissen sprechen.

1. Die Bezugs Verhältnisse, damit sie einer handwerks¬ mäßigen Organisation angepaßt seien, müssen am liebsten so übersichtlich und einfach gestaltet sein, daß sie ein Durch¬ schnittshandwerker mit seinem Durchschnittsverstande ohne be¬ sondere Kenntnisse und Fertigkeiten neben seiner Tätigkeit als gewerblicher Arbeiter gleichsam im Nebenamte zu über¬ schauen und zu beherrschen vermag. Das trifft überall dort zu, wo Rohstoff oder Halbfabrikat in herkömmlicher Weise vom Nachbar-Bauern aus der Umgegend oder vom Nachbar-Hand¬ werker aus der Nebenstraße bezogen werden, wie es in primi¬ tiven Wirtschaftszuständen häufig der Fall ist: Holz, Häute, Hörner, Getreide, Melil, Leder, Flachs, Wolle, Farbstoffe, ge¬ wöhnliche Felle stammen in den Anfängen der Tauschwirtschaft meist aus der nächsten Umgebung der Stadt oder aus dieser

1 Ich habe in diesem Abschnitt hier und da einige Hinweise auf die tatsächliche Herstellung der Absatzverhältnisse während des euro¬ päischen Mittelalters gegeben, um zu zeigen, daß sie während dieser Zeit der handwerksmäßigen Organisation des Wirtschaftslebens in der Tat günstig waren. Im allgemeinen ist aber auch hier der „theore¬ tische“ Charakter der Darstellung gewahrt,

Dreizehntes Kapitel: Die Daseinsbedingungeu des Handwerks 205

selbst. Unter Voraussetzung der noch zu erörternden Stabilität und geringen Expansionsfähigkeit der * gewerblichen Produktion des alten Handwerks muß es unter solchen Umständen für den Handwerker ein leichtes sein, sich ohne viel Umschweife die nötigen Materiahen für seine Produktion zu verschaffen.

Oder, wo die Kreise schon anfangen weiter gezogen zu werden, von einem größeren Gebiete die Erzeugnisse bedurft werden, zum Beispiel die "Wolle aus einer ganzen Landschaft, und Roh¬ stoffe in größeren Mengen eingekauft werden, da kann doch immer noch die Vertreterschaft der Zunft oder können angestellte Auf¬ käufer genügen, so lange es sich um regelmäßig wiederkehrende, jederzeit überblickbare, ungestörte Vorgänge handelt. Wenn nur dafür gesorgt wird, daß nicht etwa die erforderlichen Roh¬ stoffe aus dem „natürlichen“ Bezugsgebiete weggeführt werden. Es ist schon eine bedenkliche Erschütterung der Grundlagen, auf denen das Handwerk ruht, wenn jene Selbstverständlichkeit der Rohstoffbeschaffung in Frage gestellt wird.

Aber man darf nicht etwa wähnen, das Handwerk sei not¬ wendig und immer auf eine Verarbeitung der Rohstoffe aus nächster Umgebung angewiesen. Es genügt eine oberflächliche Überlegung, um einzusehen, daß auch nur ein mäßig entwickeltes Gewerbewesen der Erzeugnisse spezialisierter Fund- und Pro¬ duktionsstätten als Materialien nicht entraten kann: Eisen und Bronze, Edelmetalle, kostbare Pelze, wertvolle Bausteine und Edelsteine, einzelne Färbemittel wie Alaun haben von jeher aus weiterer Umgebung herbeigeholt werden müssen. Und jahr¬ hundertelang hat sich eine echt handwerksmäßige Produktion damit recht gut abgefunden.

Die Voraussetzung aber ist auch hier, daß die B ezugs Ver¬ hältnisse sichere, stabile seien und jedes spekulativen Momentes entbehren. Mag nun der Handwerker oder seine Zunftvertreter selbst die weite Reise unternehmen 1 oder mag er des Händlers harren, der ihm die nötigen Materialien in her¬ kömmlicher Weise zu bringen pflegt.

Auch vor dem Händler braucht der Handwerker sich nicht zu fürchten, solange dieser selbst in das feste Gefüge des gleichsam stereotypierten Wirtschaftslebens eingegliedert ist, das heißt

1 Dem ersten Straßburger Stadtreckte zufolge gehen die Kürschner selbst nach Frankfurt zum Einkauf des Rohmaterials. Vgl. auch v. Below, Großhändler und Kleinhändler im deutschen Mittelalter in den Jahrbüchern für N.Ö., III. F., Bd. 20, S. 48.

206 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

gleiche Waren zu gleichen Bedingungen in regelmäßigen Be¬ ziehungen als ein Handwerker des Warenabsatzes liefert1.

Was aber dem Handwerker bei der Gestaltung der Bezugs¬ verhältnisse auch zugute kommt, außer gleichsam ihrer Struktur, ist ein niedriger Preis der Rohstoffe und Halbfabrikate. Denn ein solcher weitet den Kreis derjenigen Personen aus, die imstande sind, mit eigenem Vermögen zu produzieren, sich also selbständig zu erhalten. Nun ist aber der Preis der Rohstoffe im Verhältnis zu dem Wertbetrage, den die Arbeit des Hand¬ werkers den Materialien durch ihre Verarbeitung zusetzt, dann niedrig, wenn Nahebezug stattfindet, also nur Produktionsauf- wand und nicht auch Transportkosten vergütet zu werden brauchen und (bzw. oder) der die Preise der Agrarprodukte so mächtig in die Höhe treibende Anteil der Grundrente sich noch nicht bemerkbar macht.

2. Welcher Art aber müssen die Absatz Verhältnisse im engern Sinne, das heißt muß die Art und Weise sein, wie die Produkte an den Mann gebracht werden, um den Anforderungen des Handwerks zu entsprechen? Auch auf diese Frage lautet die Antwort zunächst wieder ganz allgemein : der Absatz muß gesichert und stabil nach Qualität und Quantität, mit andern Worten: er darf noch kein Problem geworden sein. Mag er dann vom Handwerker selbst als Nebenftuiktion, mag er von einer berufsmäßigen Händlerklasse ausgeübt werden : das bleibt sich gleich. Auch in diesem Falle können alle Bedingungen erfüllt sein, die eine handwerksmäßige Organisation der Pro¬ duktion möglich oder sogar vielleicht notwendig machen.

Worauf es nur ankommt ist dieses, daß der Produzent keiner anderen Qualitäten benötigt als der eines technischen Arbeiters. Das trifft aber dann zu, wenn der gewerbliche Arbeiter bei ruhiger Fortsetzung seines Werkes niemals Gefahr läuft, sein Produkt überhaupt nicht oder zu nicht lohnenden Preisen ver¬ werten zu können.

Wann aber ist dies der Fall, wann ist der Absatz solcherart gesichert und stabil?

Die herrschende Theorie antwortet darauf: wenn und solange

1 Ein besonders lehrreiches Beispiel für die Regelung der Bezugs¬ verhältnisse für Importrohstoffe zugunsten des Handwerks bietet die Baumwolle , die von der Baseler Shirtingweberei verbraucht wurde, bei Traug. Geering, Basels Industrie (1879), S. 306 f. Vgl. auch noch Br. Hildebrand in seinen Jahrbüchern 6, 129 f.

Dreizehntes Kapitel: Die Daseinsbeclingungen des Handwerks 207

das Verhältnis zwischen Produzent nnd Konsument das Kunden- Verhältnis ist, das heißt der Absatz ' ohne Zwischenglieder oder sogar nur an bekannte Personen auf Bestellung erfolgt. Unzweifelhaft ist nun das Moment eines regelmäßigen Verkehrs zwischen Produzenten und einem geschlossenen Kreise von be¬ stellenden Konsumenten ein sehr wesentliches für die Sicherung und Stabilisierung der Absatzverhältnisse und ganz gewiß wird ein großer Teil aller handwerksmäßigen Produktion durch dieses Kundenverhältnis gekennzeichnet. Aber ebenso unzweifelhaft, darauf wurde schon hingewiesen , deckt sich handwerksmäßige Produktion und Kundenproduktion keineswegs. Die Kunden¬ produktion schafft keineswegs immer derartige Absatzverhältnisse, daß sie die Existenz handwerksmäßigen Produzenten ermöglichen. Das Schneiderhandwerk beispielsweise ist zugrunde gegangen, trotzdem in weitem Umfange an dem Kundenverhältnis der Konsumenten nichts verändert ist. Zu den frühesten kapitalistisch betriebenen G-ewerben gehört die Kundenschneiderei, die als Handwerk in London schon Anfang des 18. Jahrhunderts er¬ schüttert ist h Und die Fälle sind gar nicht so selten, in denen die handwerksmäßige Organisation eines Gewerbes dort zuerst zerstört wird, wo es sich nicht etwa um Export nach außen, sondern um den Absatz am selben Orte, also im Rahmen einer mehr oder weniger abgeschlossenen Kundschaft handelt. Um¬ gekehrt gibt es genug Fälle, in denen eine zweifellos handwerks¬ mäßige Organisation der Produktion bei ganz und gar nicht kundenmäßigem Abnehmerkreise, sondern trotz Export und trotz Zwischenhandel vortrefflich gedeiht.

Sicher und stabil ist der Absatz vielmehr überall dort, aber auch nur dort, wo zwischen Angebot und Nachfrage ein stetes Gleichgewicht oder ein Mi߬ verhältnis derart besteht, daß die Nachfrage dem Angebot vorauseilt; wo aber für den einzelnen Pro¬ duzenten Produktions- und Absatzbedingungen an¬ nähernd natürlich gleiche sind.

Daß nun diese Kennzeichen sicheren und stabilen Absatzes nicht nur bei dem reinen Kundenverhäitnis sich finden, dürfte bei genauer Prüfung außer Zweifel sein. Auch der marktbesuchende oder hausierende Handwerker ist in gleicher Lage wie der an Kunden auf Bestellung liefernde, wenn er bestimmt darauf rechnen

1 Vgl. S. und B. Webb, History of Trade Unionism (1894), 25 f.

208 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

kann, daß kein anderer seinen Platz am Markte einnelnnen wird, ehe er eintrifft und kein anderer die- Straße gezogen sein wird, ehe er mit seinem Pack oder seinem Karren des "Weges daher kommt. Und nicht minder der an den Händler verkaufende Hand¬ werker, vor dessen Tür zu den nämlichen Zeiten der nämliche Kaufmann erscheint, um ihm die nämliche Menge Erzeugnisse zu den nämlichen Preisen wie bisher abzunehmen. Also müssen die Gründe , die den Absatz sicher und stabil gestalten , tiefer gesucht werden. Und da ergeben sich etwa folgende:

1. Gründe auf der Seite der Nachfrage

Die Nachfrage muß qualitativ lind quantitativ stabil und sicher sein, das heißt es muß stets eine Menge gleichartiger Dinge nach- gefragt werden.

Nun wird die Nachfrage qualitativ um so unwandelbarer sein, je weniger die Kategorien von Personen sich verändern, die als Käufer auftreten, und je weniger der Geschmack dieser Per¬ sonen "Wandlungen unterworfen ist. Je weniger die Schichtung der gesellschaftlichen Verhältnisse sich ändert, das heißt je stabiler die Struktur der Gesellschaft ist, desto mehr werden die Käufer¬ arten immer dieselben bleiben. Jahrhundertelange Gliederung eines Volkes in die althergebrachten „Stände“ der Geistlichkeit, Ritterschaft, Bauern und Bürger bedeutet also stereotype Nach¬ frage, die qualitativ um so stabiler ist, je weniger sich innerhalb dieser Gruppen die Sitten und Gebräuche ändern, in moderner Terminologie: je seltener die Mode wechselt. Eine Bauern¬ schaft, die in mehreren Jahrhunderten eine einheitliche Tracht entwickelt und bewahrt, und eine moderne Großstadtbevölkerung, die in zehn Jahren zehn Kleidermoden und fünf Möbelstilarten zu Tode hetzt, sind etwa die Extreme in dieser Hinsicht.

Die wesentlichste Garantie einer qualitativ stabilen Nachfrage bietet aber die schwere Wandelbarkeit der Produktionsprozesse, wie sie dem empirischen Verfahren entspricht. Bei diesem bleibt die Mehrung des technischen Wissens und Könnens (und damit die Möglichkeit einer Veränderung) entweder ganz und gar dem Zufall überlassen, so daß gar kein Wille der Änderung oder des Bessermachens, sondern nur der "Wille des Wiederebensomachens vorhanden ist, und lediglich das als Neuerung hinzutritt, was zufällig im Laufe der Tätigkeit gleichsam von außen herein dem Arbeiter als neue Erfahrung in den Schoß fällt. Oder aber wo überhaupt nach Verbesserung gestrebt wird, da ist es ein un-

Dreizehntes Kapitel: Die Daseinsbedingungen des Handwerks 209

geschicktes Herumtasten und Herumprobieren im Dunkeln ohne klares Bewußtsein einer bestimmt zu lösenden Aufgabe.

Quantitativ stabil und sicher wird die Nachfrage aber dann sein, wenn die Menge der erzeugten Waren nicht in einem rascheren Verhältnisse wächst als die Kaufkraft der Käufer.

2. Gründe auf der Seite des Angebots

Was von der Seite des Angebots her die ruhige Behaglich¬ keit eines wie selbstverständlich gesicherten Absatzes stört, ist die Gefahr, vom Nachbar an Güte der Erzeugnisse oder Billig¬ keit der Preise unterboten zu werden. Was also den Absatz sichert, ist der Wegfall der Unterbietungsmöglichkeit, wenigstens als einer regelmäßigen Erscheinung des Wirtschaftslebens, mit der man rechnen muß. Denn daß gelegentliches Zuvorkommen niemals ganz ausgeschlossen ist, bedarf keiner weiteren Be¬ gründung. Was wir nun mit einem modernen Schlagwort auch so ausdrücken können: wenn Handwerk soll bestehen können, darf keine Konkurrenz möglich sein.

Wann aber ist Konkurrenz der Produzenten untereinander nicht oder nur schwach vorhanden?

Zunächst offenbar dann, wenn im ganzen, im Verhältnis zur Nachfrage wenig produziert wird. Denn dann wird das Konkurrieren Sache des Konsumenten; die Produzenten können sich abwartend verhalten, wie es jedem echten Handwerker zu allen Zeiten als die natürliche Ordnung der Dinge erschienen ist1. Es wird aber das Ausmaß der Produktion stets von zwei Faktoren bestimmt werden: der Menge von Arbeitskräften und der Höhe ihrer Produktivität.

Je weniger Produzenten, desto geringer die Gefahr einer „Überproduktion“, also einer Erschwerung des Absatzes. Wenig Produzenten aber werden da sein, wenn die Bevölkerung langsam wächst, wenn der Nachwuchs unter großen Schwierig¬ keiten herangebildet wird (empirisches Verfahren!), wenig Pro¬ duzenten auf nicht landwirtschaftlichen Gebieten wird es aber

1 Im Jahre 1646 beschweren sich die Baseler Passementer über die, denen der Rat für zwei Jahre ‘den Aufenthalt in Mönchenstein vergönnte, daß sie sich „aller Ordnung zuwider“ betrügen: sie „durch¬ jagen alle Orte und Dörfer mit Arbeit“. Geering, S. 600. Es wird ganz richtig noch heute geradezu als eine „Maxime des Handwerks“ bezeichnet, daß der Kunde den Produzenten aufsuchen müsse (U. VI. 662).

Sombart, De» moderne Kapitalismus. X. 14

210 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

insonderheit geben, wenn die agrarische Üb erschußbevöl kcrong gering ist.

Ist aber die Ziffer der Produzenten festgegeben, so wird offenbar ihr Gesamtangebot abhängig sein von dem Ausmaß ihrer Produktivität. Je unentwickelter diese, desto geringer die Gefahr einer Absatzschwierigkeit.

Aber alles, was bisher an Gründen beigebracht wurde, die auf der Seite des Angebots dem Handwerk die Existenz möglich machen, galt doch nur für die durch die Gesamtproduktion be¬ stimmte Gestaltung der Absatzverhältnisse. Bleibt zu prüfen, welche Umstände es sind , die auch den einzelnen Teilnehmern an der Gesamtproduktion, den einzelnen Handwerkern jedem für sich, ein verhältnismäßig sicheres Dasein gewährleisten, das heißt also auch unter den Angehörigen des gleichen Gewerbes Konkurrenz ausschließen.

"Was das Wesen der Konkurrenz der Warenverkäufer unter¬ einander ausmacht, ist die Fähigkeit des einzelnen Produzenten, die Ware besser oder billiger als sein Nachbar auf den Markt bringen zu können, ist mit einem Worte jene schon erwähnte Unterbietungsmöglichkeit. Wo diese fehlt, fehlt die Konkurrenz1. Sie ist aber stets nur im beschränkten Umfange vorhanden dort, wo

1. das empirische Verfahren herrscht. Deshalb, weil dieses die Verbilligung oder Verbesserung jedenfalls nur in einem langen Umbildungsprozesse möglich macht. Wir wissen , wie sehr die raschen Fortschritte der Technik dem Wesen der Em¬ pirie fremd sind. Wir wissen, daß es nur gleichsam Glücksfälle sind, die ein althergebrachtes Verfahren durch ein zweckmäßigeres ablösen. Wir wissen aber auch, daß alles, empirische Können an der Person haftet und nur durch diese, mit dieser übertragen werden kann. Selbst einmal angenommen also , daß irgendein Handwerker eine wesentliche Verbesserung in Anwendung brächte, wodurch ein Erzeugnis schöner oder billiger geliefert werden könnte, so würde zunächst dieses Verfahren in die Sphäre seiner persönlichen Wirksamkeit gebannt sein. Es ist gleichsam.’- ein natürliches Patent, das der Erfinder ausnützt. Und nur in dem Maße, wie er sein höheres* Können durch persönliche TJnter-

1 Man kann diese Konkurrenz als qualitative bezeichnen und sie der quantitativen gegenüberstellen, die durch die bloße Tatsache der Übersetzung eines Gewerbes hervorgerufen wird.

Dreizehntes Kapitel: Die Daseinsbedingungen des Handwerks 211

Weisung überträgt, verallgemeinert es sich. Zunächst bleibt es nur Alleinbesitz und wirkt auf die Gestaltung der Absatz¬ verhältnisse nur in dem bescheidenen Rahmen, in dem sich die Arbeitsleistung seines Inhabers bewegt. AVas uns heute ein Ahn-recht künstlerischer Gestaltung erscheint: die Bannung des Ausmaßes der Produktion an die AVirkungsspliäre einer Persönlich¬ keit , das müssen wir uns für die Zeit der rein empirischen Technik verallgemeinert denken für die meisten Verbesserungen des Verfahrens, durch die eine Steigerung der qualitativen Reize oder eine Verringerung der Produktionskosten eines Erzeugnisses herbeigeführt werden konnten.

2. Diese in der Natur des empirischen Verfahrens begründete Verlangsamung des technischen Fortschritts und die daraus fol¬ gende Behinderung erfolgreichen AVettbewerbs auf dem AVaren- markte wird nun aber in ihrer AVirkung erst recht empfunden dort, wo die Mittel fehlen, die recht eigentlich erst Verbesserungen der Verfahrungsweisen zu bewirken beziehungsweise in die Praxis einzuführen imstande sind. Dieses sind, wie noch des näheren zu zeigen sein wird, die Nutzbarmachung größerer und mächtigerer Naturgewalten , vor allem aber, wie wir schon wissen, die Zu¬ sammenfassung zahlreicher Arbeitskräfte zu einem gesellschaft¬ lichen (Groß-)Betriebe. Ist jene abhängig von den Fortschritten des technischen AVissens, so diese von zwei sozialen Be¬ dingungen: erstens dem Vorhandensein arbeitswilliger Menschen¬ massen, und zweitens der Anhäufung von AVerten, die zum einst¬ weiligen Unterhalt der im großen tätigen Arbeitskräfte sowie zur Beschaffung der für ihre Beschäftigung erforderlichen Produktions¬ mittel dienen können, vulgo einer entsprechenden „Kapitalaccu- mulation“.

AVo eine dieser Bedingungen oder gar beide unerfüllt sind, da ist es beim besten AVillen unmöglich, auch wenn ein Pro¬ duzent im Besitze eines vollkommeneren Verfahrens wäre, den Nachbar durch eine erfolgreiche Konkurrenz aus dem Felde zu schlagen. Aber damit greift unsere Untersuchung schon auf ein Gebiet hinüber, das erst später betreten werden soll. AVas in den letzten Sätzen zum Ausdruck kam, war der im Grunde selbst¬ verständliche Gedanke, daß Handwerk zur Voraussetzung seines Gedeihens die Nichterfüllung derjenigen Be- dino-uno-en hat, an die die Existenz des Kapitalis- mus geknüpft ist. AVelches diese sind, soll aber erst genauer festgestellt werden.

11*

212 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

Nur dem Gedanken möchte ich hier noch Ausdruck gehen, daß, auch von allen bisher angeführten Momenten abgesehen, immer noch ein Umstand bestehen bleibt, der bei dem von uns angenommenen Stande der Technik eine Konkurreuz im mo¬ dernen Sinne, wenigstens zwischen Produzenten an verschiedenen Orten, so gut wie ausschließen würde : ich meine die Schwierig¬ keit, die mit einem bevorzugten Verfahren oder unter sonstwie günstigeren Bedingungen hergestellten Erzeugnisse über ein größeres Gebiet zu versenden. Denn an der Unvollkommenheit der Technik einer Zeit nimmt ja nicht zum wenigsten die Trans¬ porttechnik teil.

213

Vierzehntes Kapitel

Die Gestaltung des Güterbedarfs

Vorbemerkung. Quellen und Literatur

(zu Kap. 14 bis 16)

Was wir in den voraufgehenden Kapiteln betrachtet haben, waren Ideale. Es gilt nunmehr die Untersuchung: wie sich denn in Wirk¬ lichkeit das wirtschaftliche Leben einer mittelalter¬ lichen Stadt gestaltet habe; das heißt genau gesprochen die Beantwortung der Fragen: ob und wenn ja: in welchem Umfange, in welcher Abweichung vom Ideal in den Städten Handwerk verbreitet gewesen sei. Womit dann gleichzeitig die Frage nach dem Maße beantwortet werden wird, in dem die objektiven Daseinsbedingungen des Handwerks im Mittelalter erfüllt waren.

So reich unsere Kenntnis von der Gewerbeordnung des Mittelalters ist, so wenig wissen wir von dem Gewerbe selber. Die meisten Quellen sagen immer nur wieder aus, wie es hätte sein sollen, und ihre Be¬ arbeiter haben sich fast durchweg damit begnügt, uns diesen Zustand, den man herbeiführen wollte, in systematischer Schilderung vor die Augen zu bringen.

Wir besitzen nur ganz, ganz wenig Darstellungen des Wirtschafts¬ lebens selber, und soweit ich die bisher veröffentlichten Quellen¬ materialien zu überschauen vermag, wird es auch schwer sein, wenigstens über das gewerbliche Leben im engeren Sinne mehr Licht zu vei breiten. Viel besser steht es um die Geschichte des Handels. Die könnte wenigstens geschrieben werden, denn für sie liegen doch eine größere Menge Documents humains sowie mehr statistisches Material vor. (In letzter Zeit fängt sie auch an, geschrieben zu

werden.) . ,

Für die Kekonstruktion des gewerblichen Lebens dagegen sind wir auf die nur wenig ergiebigen Bürgerverzeichnisse und Steuerrollen als Hauptquelle angewiesen und müssen versuchen, die Zunftstatuten und andere Rechtsquellen so gut es geht für eine indirekte Beweisführung zu nützen. Daneben kommen gelegentliche Schilderungen und nament¬ lich auch bildliche Darstellungen in Betracht.

Jedenfalls sollte alles Augenmerk der Geschichtsschreiber des Mittelalters auf Vermehrung des Quellenmaterials für eine Gewerbe¬ geschichte gerichtet sein. Zunftgeschichte haben wir nun nachgerade

SeilDie folgende Darstellung soll wiederum nicht mehr sein als ein Programm. _

214 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

Wir werden gut tun, um uns ein möglichst deutliches Bild von dem wirklichen Wirtschaftsleben einer mittelalterlichen Stadt zu machen, dieses nacheinander vom Standpunkt des Kon¬ sumenten und dann von dem des Produzenten zu betrachten. Ich beginne mit der Feststellung des Güterbedarfs.

Welcher Art, welchen Umfangs war der Bedarf, den es in der Stadt zu befriedigen galt? Darauf wird zunächst zu ant¬ worten sein : er hielt sich dem Umfange nach stets in verhältnis¬ mäßig (d. h. für unsere Begriffe) engen Grenzen. Als Kon¬ sumenten gewerblicher Erzeugnisse (und auf diese wollen wir vor allem unsere Aufmerksamkeit lenken) kamen in Betracht:

^1. die Bewohner der Stadt selbst.;

2. die Umwohner als Besucher namentlich der Wochenmärkte ;

>,3. die Fremden, die die Jahrmärkte besuchten.

Die Bewohner der Stadt selbst haben während des Mittel¬ alters nie eine große Menge dargestellt, denn die Einwohnerzahl der Städte hat sich stets, wie wir jetzt mit Sicherheit aussagen können, während des ganzen Mittelalters in engen Grenzen ge¬ halten. Die regelmäßigen Besuche dei\(Wochen-)Märkte aus der näheren Umgegend konnten ebenfalls nicht sehr zahlreich sein: 1. weil die Länder sehr dünn besiedelt waren; 2. weil es ver¬ hältnismäßig viel über das ganze Land zerstreute „Städte“ gab; 3. weil die bäuerliche Eigenwirtschaft jedenfalls noch eine große Ausdehnung hatte.

Über die Bevölkerungsdichte und Bevölkerungs - agglomeration während des Mittelalters unterrichten folgende Ziffern.

England hat nach der Berechnung des sehr gewissenhaften Th. ßogers bis ins 16. Jahrhundert vom 14. an etwa 2V2 Million Einwohner gehabt1, nach der Schätzung P. Fabres zu Zeiten Heinrichs H. 2 880 000 2.

In Frankreich sollen im 14. Jahrhundert 40 Menschen auf dem Quadratkilometer gewohnt haben, dann sinkt die Bevölke¬ rungsziffer und erreicht am Ende des 16. Jahrhunderts erst wieder den Stand, den sie 200 Jahre früher inne hatte3.

1 Th. Rogers, Six Centuries of Work and Wages. Deutsche Übersetzung 1896, S. 87 ff. Grundlage: Weizenproduktion.

2 P. Fahre, Eine Nachricht usw. in der Zeitschrift für Soz. u. Wirtsch.Gesch. 1, 149 ff. Grundlage: eine Abrechnung über den Peterspfennig.

3 E, Levasseur, Popul. franp. 1, 166 ff. 288 (Übersicht).

Vierzehntes Kapitel: Die Gestaltung des Güterbedarfs

215

Die größte Stadt des europäischen Mittelalters (also von Byzanz abgesehen) wird wohl Paris gewesen sein. Ich glaube aber nicht, daß es im 18. Jahrhundert schon, wie man meistens meint, die Ziffer von 100 000 Einwohner erreicht hat, denn die Berechnung Gerauds auf Grund des Registre de la Taille, der anf mehr als 200 000 kommt , halte ich nicht für einwandsfrei h

London hatte 1377 35000 Einwohner1 2.

Städte mit annähernd gleicher oder etwas größerer Einwohner¬ zahl (40 50 000) waren wohl im 14. Jahrhundert außerdem nur in Italien und Flandern-Brabant zu finden: Mailand, Venedig, Genua, Bologna, Florenz, Neapel, Palermo, Ypern, Brügge, Gent 3. In Deutschland wird keine Stadt an diese Ziffern heran¬ gereicht haben;. Lübeck hatte in jener Zeit zwischen 17 und 24000 Einwohner4, Hamburg (1419) 22 000; Augsburg (1475!) 18300, Nürnberg (1449) 20—25 000, Straßburg (1473—77) 20 bis 30000, Ulm (1427) ca. 20000, Breslau (1415) 21 866 5. Die über. wieo-ende Mehrzahl aber der mittelalterlichen Städte werden

1 Die Anhaltspunkte sind: ca. 15 200 im Reg- de la Taille (1292)

namhaft gemachte Steuerzahler und 349 ha 61 a bebaute Fläche (Collect, des doc. inedits etc. Ser. I. 8 [1837], p. 179. 471). Ich glaube, daß danach eine Bevölkerung von 60—70 000 Köpfen das Maximum darstellt. Der von den^Mauern umschlossene Raum ist etwas größer als die Gesamtfläche der Festung Metz (1902/03 = 317,33 La). Metz hatte 1910 68 598 Einwohner. Vgl. noch: Paris et ses historiens au 13. et 14. sc. (1867), nam. p. 485 seq. .

2 Nach den Berechnungen To phams in der Archaeologia (Bd. 7), deren Methode sich Rogers, a. a. O. S. 85, zu eigen macht. Grund¬ lage: Steuerlisten, die jede über 14 Jahre alte Laien-Person nennen.

&3J. Beloch, Die Entwicklung der Großstädte in Europa in Comptes rendus et Memoires du VIII. Congres international d Hygiene et de Demographie (1894), 7, 58. Ypern sollte nach einer „glaub¬ würdigen“ Urkunde im 13. Jahrhundert 200 000 (!) Einwohner haben. A. Van d e np e e r e b o o m , Ypriana 4 (1880), 24. Urk. von 1257 reduziert die Ziffer auf 40 000. Pirenne, Gesch. Belgiens 1, 311.

4 Wilh. Reisner, Die Einwohnerzahl deutscher Städte in früheren Jahrh. m. bes. Berücksichtigung Lübecks (1903), 68. 78.

5 Siehe die Zusammenstellung im Handwörterbuch der Staatswissen¬ schaften („Bevölkerungswesen“), wo für jede Ziffer die Quelle genannt ist, der sie entstammt. Über die Ermittlungsmethoden handelt am ausführlichsten J. Jastrow, Die Volkszahl deutscher Städte zu Ende des Mittelalters. 1886. Vgl. jetzt G. Schm oll er, Die Bevölkerungs¬ bewegung der deutschen Städte von ihrem Ursprung bis ins 19. Jahr¬ hundert ln der Festschrift Otto Gierke zum 70. Geburtstag dar¬ gebracht (1911), 167 ff.

216 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

kleine Mittelstädte von weniger als 10000 Einwohnern gebildet haben: zählten doch immerhin wichtige Handelsstädte wie Frank¬ furt a. M. und Rostock nicht mehr: jenes (1440) etwa 9000. dieses (1387) 10 785. Dresden hatte um jene Zeit 3—5000, Frei¬ berg i. S. 5000, Leipzig 4000 Einwohner usw.

In England gab es im 14. Jahrhundert außer London nur zwei Städte mit mehr als bzw. annähernd 10 000 Einwohnern : York mit ] 1 000, Bristol mit 9500 h Der Durchschnitt selbst der größeren Städte lag unter 5000 2.

Auf den Jahrmärkten, zumal auf den berühmten Messen, wird eine erkleckliche Menge von Käufern zusammengekommen sein; wieviel, entzieht sich natürlich jeder Mutmaßung. Es bleibt aber zu bedenken, daß (wie ich noch zeigen werde) die Zahl der Verkäufer ebenfalls sehr beträchtlich war und daß diese aus zahlreichen Städten stammten. Also entfiel auf die Produzenten einer Stadt immer nur ein bescheidener Teil jener Gesamt¬ menge aller Besucher.

Die gewiß auch mit Einschluß der Meßkundschaft geringe Anzahl von Konsumenten, für die das städtische Gewerbe über¬ haupt produzieren konnte, wird nun aber noch beträchtlich ver¬ ringert durch den Umstand, daß der bei weitem größte Teil als Käufer gewerblicher Erzeugnisse so gut wie gar nicht in Be¬ tracht kam. Gründe:

Die besonders auf dem Lande nach wie vor stark entwickelte Eigenproduktion ;

der geringe Reichtumsgrad;

die ungleiche Vermögensverteilung.

Für die erste Behauptung läßt sich ziffernmäßig kein Beweis .führen. Zur Beurteilung des Reichtumsgrades besitzen wir wertvolles Zahlenmaterial, ebenso für die Vermögens Verteilung.

Wenn Rogers die (Boden-)Produktivität im Mittelalter für England auf ein Viertel der heutigen bemißt3, so besagt das noch nicht sehr viel. Mehr Licht dagegen verbreiten die Ver¬ mögens- und Einkommensstatistiken, die wir wenigstens für manche Städte des Mittelalters besitzen , wenn wir sie etwa in Vergleich stellen mit den Preisen für gewerbliche Erzeugnisse.

1 Siehe die Anm. 2 auf S. 215.

3 Vgl. Ch. Gross, Gild merchant 1 (1890), 73 Anm. 4, wo auch noch mehr einschlägige Literatur verzeichnet ist.

8 Rogers, A Hist, of agriculture and prices. 1, 55.

Vierzehntes Kapitel: Die Gestaltung des Güterbedarfs

217

Nach den Ermittlungen Eulenburgs1 betrugen in der Rheinpfalz (im 14. Jahrhundert) die Vermögen

bis zu 20 Gulden (je 7 Mk. heutiger Währung) 29,5% bis zu 60 61 °/o

bis zu 300 93 °/o

aller Vermögen, so daß nur 7 °/o der Bevölkerung mehr als 300 Gulden (also 2100 Mk. heutiger Währung) im Vermögen besaßen. Ganz ähnliche Ergebnisse liefern die Untersuchungen über Meißen, Dresden, Mülhausen i. Th. 2 u. a. 0.

In Paris hatten (1292) von 1324 Handwerkern weniger als 250 Franken heutiger Währung 821 , das sind 62,2 % , weniger als 1000 Franken 1196, das sind 90,6% der Gesamtzahl. (Nach Berechnungen Martin St. Leons.) N

In Basel3 haben (1429) von 969 Handwerkern 488 (= 50 %) weniger als 50 fl.

904 (=91%) 300 fl.

im Vermögen.

Dem ist gegenüber zu halten, daß die Preise der gewerb¬ lichen Erzeugnisse im Mittelalter keineswegs niedriger, sondern eher höher als heute waren, wie jeder Vergleich der Ziffern soweit sie überhaupt vergleichbar sind ergibt.

Wenn wir trotzdem die „Kaufkraft“ des Geldes gegenüber den gewerblichen Erzeugnissen im Mittelalter mit der heutigen gleich¬ setzen wollen : was bedeuten dann Einkommen wie sie den oben genannten Vermögen entsprechen? Noch dazu bei stärker ent¬ wickelter hausgewerblicher Eigenproduktion. Und solcher Käufer gab es im Mittelalter 1, wo es jetzt 10 oder 100 gibt.

Als Konsumenten gewerblicher Erzeugnisse städtischer Pro¬ duzenten kommen also außer etwa den Stadtverwaltungen ernst¬ lich nur die wenigen Angehörigen der obersten Keiclitums- schichten in Betracht. Im wesentlichen wieder die Grundherren, denen sich im Laufe des Mittelalters eine Handvoll wohlhabender Geldmänner (Lombarden in Paris!) anschließt4. Vom Gesamt-

1 F. Eulenburg, Zur Bevölkerung^- und Vermögensstatistik des 15. Jahrhunderts in der Zeitschrift für Soz. u. Wirtsch.Gesch. 3, 450.

2 Arno Vetter, Bevölkerungsverh. der ehemals freien Reichsst. Mühlhausen i. Th. im 15. u. 16. Jahrh. (1910), 63 ff.

8 G. Schönberg, Finanzverhältnisse der Stadt Basel im 14. und 15. Jahrhundert (1879), 180/81.

4 Vgl. die hübsche Darstellung bei P. du Maroussem, La question ouvriere 2 (1892), 29 ff., wo die Kundschaft eines Pariser Möbeltischlers im 13. Jahrhundert analysiert wird.

218 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

reichtum des Landes entfiel auf sie als Gruppe schon der Löwenanteil: in der Rheinpfalz hatten nach den schon zitierten Berechnungen Eulenburgs (S. 450) die 3 % „reichen“ Leute (über 600 fl.) fast ein Drittel des Besitzes und des Stadtwohl¬ standes in ihren Händen: 42 von ihnen besitzen 55292 fl., 435 der armen in der letzten Vermögensklasse zusammen nur 8554. So daß also (was das wichtige ist) auf den einzelnen Haushalt ein beträchtliches Einkommen (Vermögen) entfiel.

Aus dem Eegistre de la Taille rechne ich heraus, daß 161 Per¬ sonen mehr als 10 1. Steuern bezahlten: zusammen 3134 1. oder 27°/o des überhaupt aufkomm enden Steuerbetrages (12243 livres et 8 sous), während ihr Anteil an der Zahl der Steuerpflichtigen nur wenig über 1 °/o betrug. Der durchschnittliche Steuerbetrag, den jeder dieser „oberen 161“ zahlte, betrug 20 1. oder in heutiger Reichswährung rund 550 Mk. Da die Steuer le cinquantieme des Einkommens erhob, so hätten diese 161 ein Einkommen von durchschnittlich 27 500 Mk. versteuert : da fiel schon eher etwas für Handwerkserzeugnisse ab. Frei von der taille aber waren Adel und Geistlichkeit!

Was wir also von der Höhe und von der Verteilung des Ein¬ kommens im Mittelalter wissen, nötigt uns zu dem Schlüsse: daß das Handwerk (vielleicht aber auch nur zum Teil ab¬ gesehen von den Nahrungsmittelgewerben) überwiegend für eine kleine Minderheit wohlhabender Leute gearbeitet hat. Das würde zweifellos auch eine Untersuchung bestätigen, die sich zur Aufgabe setzte, aus der Natur des Handwerks die Art von Kundschaft abzuleiten, für die das Handwerk produzierte: ich glaube, man würde feststellen können, daß die überwiegende Mehrzahl aller Metallindustrien, die meisten Bekleidungsgewerbe (alle, die irgendwie bessere Stoffe herstellten und verarbeiteten), fast das ganze Baugewerbe, von der eigentlichen Luxusindustrie ganz zu schweigen, nur an die Reichen absetzten, womit ich natürlich auch den ganzen Klerus meine, ebenso wie die niedere Ritterschaft usw. Daß daneben das „Volk“ auch Abnehmer ge¬ werblicher Erzeugnisse war, leugne ich natürlich nicht. Ich meine nur: sein Bedarf gab dem Gesamtbedarf nicht die cha¬ rakteristische Note (wie zum Teil heute)1.

1 In England hören wir gelegentlich von Lieferungen größerer Mengen von Kleidungsstücke an die Armen: Salz mann, 1. c. p. 137 (1000 Ellen Stoff: 13. Jahrh.); p. 183 (150 Paar Schuhe). Aber das waren wohl seltene Ausnahmen.

Vierzehntes Kapitel: Die G-estaltung des Güterbedarfs 219

Fragen wir, welcher Art der Bedarf des Mittelalters an gewerblichen Erzeugnissen war, so können wir einige Züge, die ihn kennzeichnen, wie mir scheint, mit ziemlicher Sicherheit feststellen.

Er war zunächst doch wohl mannigfaltiger als man öfters angenommen hat. Wenigstens in den größeren Städten Frank¬ reichs und Italiens, gar etwa in Paris, begegnen wir einem Reich¬ tum an gewerblichen Gegenständen, der uns in Erstaunen setzt. Welche Fülle von Bedarfsartikeln (von denen offenbar ein großer Teil schon handwerksmäßig hergestellt wurde) zählt Meister Johannes de Garlandia in seinem Dictionarins 1 auf, der in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts schrieb.

Sodann dürfen wir annehmen, daß der Sinn der Zeit zwar auf das Glänzende, Prunkende, aber doch auch auf das Dauer¬ hafte, Kostbare, Solide gerichtet war. Die Empfänglichkeit für die bloße Show, für Talmi, für Kitch, für Schund, kurz für alles, was man heute unter der Bezeichnung „hochmodern“ zu¬ sammenfaßt, besaß wohl das Mittelalter nicht. Ich will nicht entscheiden, weshalb es sie nicht besaß: vielleicht, weil es noch keine moderne Industrie gab, deren Lebensnerv die Erzeugung des Schundes bildet; vielleicht, weil die Masse überhaupt noch nicht als Konsumentin auftrat. Genug, daß der Geschmack der Zeit in diesem Punkte ein wesensanderer war als heute.

Endlich war der Bedarf ein verhältnismäßig stabiler. Jenen Zeiten fehlte noch fast gänzlich dasjenige, was wir heute mit dem Worte „Modewechsel“ zu bezeichnen gewohnt sind. „Der Sinn des Mittelalters war an sich auf das Hergebrachte, Über-

1 Zuerst publiziert von Geraud in Ser. I Bd. 8 der Coli, des doc. in. (1837), dann von Scheller. Leipzig 1867. Es wäre eine außerordentlich dankbare Aufgabe für einen Wirtschaftshistoriker (mit etwas Geist), das Dict. des Garlande einmal unter modernen Gesichts¬ punkten zu bearbeiten. Es enthält eine Fülle von Material und ver¬ spricht reichlich so viel Einsicht in mittelalterliches Gewerbewesen als zehn der besten Zunftstatuten. Eine andere ungefähr derselben Zeit angehörende wertvolle Quelle, aus der wir über die Menge und Art der zum Verkauf ausgebotenen Waren interessante Angaben ent¬ nehmen können, sind einige der Fabliaux des 13. Jahrhunderts; nament¬ lich Le Dit des Marcheanz , der in dem zweiten Bande des von Montaiglon-Raynaud herausgegebenen Becueil des Fabliaux (1872 1890) abgedruckt ist. Eine Inhaltsangabe findet man bei Ferd. Herrmann, Schilderung und Beurteilung der gesellschaftlichen Verhältnisse Frankreichs in der Fabliaux-Dichtung des 12. u. 13. Jahr¬ hunderts (1900), S. 36 f.

220 Vierter Abschnitt : Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

lieferte gerichtet. Ein rascher "Wechsel der Mode ist in Deutsch¬ land vor Mitte des 14. Jahrhundert nicht zu beobachten und hat auch von da an mehr den Schnitt der Kleider als die Arten der Gewebe ergriffen. Man glaubte im Mittelalter unbeschränkt an ein schlechthin Seinsollendes auf allen Gebieten, auch auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Bedürfnisse und der Technik1.“

Denjenigen, die das leugnen und dem Mittelalter ebensoviel Modewechsel zusprechen wollen , wie unserer Zeit , ist in Er¬ innerung zu bringen, daß es sich bei dem Wechsel der Ge¬ brauchs sitten im Mittelalter um unvergleichlich viel längere Perioden handelte. Ich verweise den Leser einstweilen auf meine Erörterung dieses Problems im zweiten Buche dieses Werkes.

Alles in allem : die Kundschaft für gewerbliche Produkte war im Mittelalter so geartet, wie sie ein Handwerker sich nicht besser wünschen konnte. Die Bedingungen handwerksmäßiger Produktion waren, soweit die Gestaltung der Absatzverhältnisse in Betracht kamen, in optimalem Sinne erfüllt.

Aber wir wollen nun zusehen: in welcher Art und Weise der Bedarf an gewerblichen Erzeugnissen im Mittelalter gedeckt wurde.

1 G. Schm oller, Die Straßburger Tücher- und Weberzunft (1879), S. 20.

221

Fünfzehntes Kapitel

Die Art der Bedarfsdeckung

I. Die letzten Konsumenten

Wie deckte die städtische Bevölkerung ihren Bedarf an ge¬ werblichen Erzeugnissen? (das heißt also beinahe: ihren Bedarf an wirtschaftlichen Gütern überhaupt , da bis auf Kleinigkeiten von Nahrungsmitteln [Eier, Milch, Gemüse, Obst] aller Bedarf des Menschen ein Bedarf an schon verarbeiteten „veredelten“ Rohstoffen, also an gewerblichen Produkten, ist. Auch die wichtigsten Nahrungsmittel, die wir genießen, haben schon eine Reihe von Veredelungsprozessen hinter sich: Brot, Fleisch, Salz, Getränke usw.).

Nun: zum großen Teil nach wie vor durch Produktion in der eigenen Wirtschaft. Hier gewann man selbst noch manche Rohstoffe: das Getreide, solange noch Landwirtschaft von den Städtern betrieben wurde ; obwohl das wohl in den größeren Städten während des Hochmittelalters die Ausnahme bildete1. Aber sicher noch in weitem Umfange einen Teil des Yiehs : die Schweine, ja am Ende sogar das Rindvieh 2 ; Geflügel usw. ; dann in den Gärten, die fast jedes größere Haus hatte, Gemüse, Obst, und wo die Lage es gestattete, den Wein.

Wir wollen uns auch erinnern, daß eine besonders wichtige Gruppe der Städtebewohner die reichen Grundherrn weltlicher oder geistlicher Natur waren. Und diese haben offenbar ihre Eigen- Wirtschaft eine lange Weile noch in den Städten fortgesetzt.

1 Siehe, was oben Seite 136 f. über den starken agrarischen Ein¬ schlag bemerkt wurde , den selbst die größeren Städte bis tief ins Mittelalter hinein hatten.

2 Wenn das Augsburger Stadtrecht von 1276 das Hausschlachten für Schweine ausdrücklich gestattet , für Rindvieh aber verbietet , so kann es sich dabei wohl nur um selbst gezogenes Vieh handeln. Denn kein vernünftiger Mensch wird daran gedacht haben, sich einen Ochsen auf dem Markte zu kaufen und ihn bei sich zu Hause zu schlachten !

222 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft Sie gewannen also einen großen Teil der Bohstoffe, insonderheit

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der Nahrungsmittel in der eigenen Wirtschaft (auf ihren Gütern fern von der Stadt) und ließen sie auch noch zum Teil in ihrer Stadtwirtschaft verarbeiten, wie gleich zu zeigen sein wird. So verzehrt der Herzog von Berry oder das Kapitel von Notre Dame in Paris noch am Ende des 14. Jahrhunderts das Getreide der eigenen Güter1.

Einen sehr erheblichen Teil der Bohstoffe oder Halbfabrikate mußte man aber natürlich kaufen: das Getreide oder das Mehl, das Malz, den zubereiteten Flachs, Stoffe, Leder usw. Dann nämlich und dieser Fall soll hier zunächst behandelt werden wenn im wesentlichen Umfange die gewerbliche Produktion noch im eigenen Hause stattfand.

Daß in allen Städten, auch den größten, während des ganzen Mittelalters die hausgewerbliche Tätigkeit eine große Bolle gespielt hat, dürfte außer allem Zweifel sein.

Zu Hause wurde selbstverständlichgekocht2 3 * * * *, aber auch gebacken8,

1 „De Guillaume de S. Germain, receveur de Berry, qu’il a livre pour la depense de l’ostel de mond. seigneur du froment des molins dud. seigneur ä Raoulet de Ruelle, boulengier k Meun sur Yevre qui en a cuit et livre le pain pour lad. despense faicte ä Meun sur Yevre ou mois d’aoust [mil] CCCLXXI.“ „Pro blado quod capitulum ipsum d. bolengario suo de quoquendo ministrat.“ Bei G. Fagniez, Etudes sur l’industrie et la classe industrielle ä Paris au XIII. et au XIV. siede (1877), p. 166. F.s Buch ist eine der besten Arbeiten zur Gewerbegeschichte im Mittelalter.

2 In den großen (südlichen !) Städten gab es aber auch schon öffentliche Garküchen nach Art der heutigen Bosticcerie in Italien. So finden wir in Paris im 13. Jahrhundert die Zunft der „oyers hasteurs“ (= rötisseurs d’oie), denen Et. Boileau vorschreibt, daß sie nur gutes Fleisch kochen oder rösten sollen.

3 In deutschen Städten: Zeugnisse bei Inama III. 2, 105; Eulenburg in der Zeitschr. f. Gesch. d. Oberrheins 11, 130. Aber selbst in Paris muß man am Ende des 13. Jahrhunderts noch zu Hause gebacken haben. Ich schließe das aus der Tatsache, daß die Müller einen doppelten Tarif haben: sie erhalten von den Bäckern 1 boisseau für je 2 setier, von der übrigen Kundschaft für je 1 setier; das sind aber die ‘borgois’. Livre des metiers, p. 16. Es scheint jedoch,

als ob die Backöfen, deren jedes bessere Haus in Paris und anderen französischen Städten einen hatte („. . . les menus menagiers de lad. ville [Melun] , qui ne sont pas aisi6s de cuire en leurs hostelz . . .“

Ord. des rois de Fr. 4, 593), für gewöhnlich nur zum Backen kleiner

Backwaren (nicht des Brotes) bestimmt gewesen seien und nur zu

bestimmten Zeiten (z. B. in Teuerungsjahren!) zum Brotbacken Ver¬

wendung fanden. Die Großwirtschaften der reichen Herren sowie der

Fünfzehntes Kapitel: Die Art der Bedarfsdeckung 223

wurden AVein und Bier bereitet* 1, wurde geschlachtet2, selbst¬ verständlich auch geräuchert, eingepökelt usw. Zu Hause wurden Lichte gezogen3. Zu Hause wurde gesponnen4, teil¬ weise auch gewebt5; wurde geschneidert6 und geschustert7. Zu vielen dieser Verrichtungen zog man einen gelernten Handwerker hinzu, den wir im Deutschen einen Störer nennen, (der Hand¬ werker im Hause arbeitet „auf der Stör“): einen Bäcker, einen Schuster , einen Schneider , einen Metzger , einen Tuchscherer,

geistlichen Anstalten buken dagegen wohl der Regel nach noch im 14. Jahrhundert, selbst in einer Großstadt wie Paris, noch in eigenen Backöfen. Siehe G. Fagniez, Etudes, p. 166 ff*. , und die oben S. 222 Anm. 1 zitierten Quellenstellen. Für die Eigenbäckerei der Grundherren in den Städten des 13. und zum Teil noch des 14. Jahr¬ hunderts spricht auch die Banalität zahlreicher Backöfen daselbst.

1 Sitte des Reihebrau ens ! Inama, a. a. 0. S. 105 (Regensburg' 1230). Aber es gab in den größeren Städten auch schon AVein- und Bierwirte, die selbstverfertigte oder gekaufte Getränke darboten: im Paris des 13. Jahrhunderts finden wir 56 „bufetiers vinetiers“ und 37 „cervoisiers“.

2 Siehe oben die Anm. 2 auf S. 221.

3 In Paris wird das Lichteziehen im Hause ausdrücklich gestattet unter der Bedingung, daß ein Meister Chandelier dabei mitwirkt. Die Hausfrau wird sich natürlich über das hohe Entgelt geärgert haben, das sie dem Meister (der gewiß gänzlich überflüssig war) spendete und wird sich irgendeinen angehenden Lichtemacher als Hilfe gesucht haben. Da kam aber das Zunftverbot: kein Lehrling oder Geselle (valet) darf in einem Privathause beim Lichtemachen mithelfen, der nicht eine sechsjährige Lehrzeit hinter sich hat. Livre des metiers tit. LXIV.

4 Schm oll er, T. u. AVeb.Z., S. 412; Inama, S. 125. Livre des met. tit. LVII.

5 Selbst noch in Paris ums Jahr 1400. Oder ist die Poncete, die Frau des Cardinot Auvry, die uns als „ligniere“ bezeichnet wird, und von der wir erfahren , daß sie bald in diesem Hause , bald in jenem arbeitete (eile alait aucune fois ouvrer par cy et par lä), keine Leinen¬ weberin? Im großen Sachs -Villatte steht unter linier nur die Übersetzung Flachshändler, was aber offenbar keinen Sinn gibt. AVar sie eine Spinnerin? Machte sie den Flachs zurecht, damit ihn die Fräuleins dann verspönnen? Die Quellenstelle ist: 22. Okt. 1399, Reg. d’aud. du Chat. Y 5222 fo. 142 zitiert bei Fagniez, Etudes, 67.

6 In Heidelberg: Eulenburg, a. a. O.; Wien: Eulen bürg in der Zeitschr. für Soz. u. W.G. 1, 282, 282, Gesell, d. St. Wien I. 2, 714; in Frankfurt a. M. „durchweg“: Bücher, 230.

7 Bücher,, a. a. O.

224 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

einen Goldschmied, einen Küfer usw. Auch zum Flicken der Geräte kamen gelegentlich Handwerker1 ins Haus oder nahmen das Gerät auf die Straße 2. Wie verbreitet die Störarbeit m den deutschen Städten bis in die späten Jahrhunderte gewesen sein muß, beweisen die Verbote dieser Arbeitsweise abseiten der Zünfte, als diese eine exklusivere Politik beginnen: so verbieten sie die Schneider in Helmstädt 1301, die Schuster in Frankfurt 135o, die Goldschmiede in Lübeck 1371 und andere mehr3.

Der übrige Teil der gewerblichen Arbeit war dann nun aus¬ schließlich Handwerkerarbeit, wurde also von Spezialisten gegen Bezahlung ausgeübt.

Häufig in der Form dessen, was wir als Lohn werk be- zeichneten: das heißt in der Weise, daß der Konsument (Kunde) das Material für die Produktion dem Handwerker lieferte.

Die Müllerei war sicher in beträchtlichem Umfange Lohn¬ müllerei. Wir dürfen das aus den starken Vorräten an Getreide schließen, die die einzelnen Bürger hielten (z. T. halten mußten)4. Wir besitzen aber auch sonst genug Zeugnisse dafür5.

Ebenso war die Bäckerei vielfach Lohnbäckerei.

Wer keinen eigenen Ofen hatte, schickte den Brot- oder Kuchenteig zum Bäcker6.

Die Bäcker wurden allgemein in Feil- und Hausbäcker ge¬ schieden.

1 So die „magnans ou chaudronniers ambulants“ die ambulanten Kesselflicker in Paris. L. des m. tit. XII. Vgl. auch, was unten S. 233 über die Hausierhandwerke des M. A. gesagt ist.

2 So die wandernden Möbelflicker, deren in den ‘Criees de Paris’ Guillaume de Villeneuves Erwähnung geschieht.

8 Siehe die Zusammenstellung der Quellenzeugnisse bei Inama, DWG. III. 2, 78. Im allgemeinen vgl. hierzu Büchers verschiedene Arbeiten: Artikel Gewerbe im HSt., Entstehung der Volkswirtschaft. B. hat den ‘Störer’ für die Wissenschaft wieder entdeckt!

4 Siehe für Lübeck: Joh. Hansen, Beitr. z. Gesch. d. Getreide¬ handels und der Getr.Pol. Lübecks (1912), 56 ff. 142 f. Im Jahre 1579 hatten 78,4 °/o aller Familien Getreidevorräte im Hause. In Straßburg hatten (1473—77) von 26198 Einwohnern nur 8369 keinen Vorrat an Getreide. Ant. Herzog, Die Lebensmittelpolitik der St.

Straßburg im M.A. (1909), 17.

6 Z. B. Ant. Herzog, a. a. 0. S. 19 ff.

6 Belege bei Inama, a. a. 0. S. 101; für Straßburg siehe noch Herzog, a. a. 0. S. 38; für London (14. Jahrh.) Biley, Mem. of London, 163; a. a. 0. S. 29; für Paris (14. Jahrh.) Fagniez, Etudes, 165; für Wien (15. Jahrh.) Gesch. d. St. Wien II. 2, 694.

Fünfzehntes Kapitel : Die Art der Bedarfsdeckung 225

Wir dürfen annehmen, daß die große Mehrzahl aller Bauten nn Lohn ausgeführt wurden: der Bauherr beschaffte sich die Rohmaterialien auf seine Kosten und ließ sie von Maurern, Steinmetzen und Zimmerleuten gegen Tagelohn verarbeiten. Dafür spricht die eigenartige Organisation der Baugewerbe während des Mittelalters 1 2, spricht die Tatsache, daß wir immer nur von Tagelöhnen der Bauhandwerker hören3, spricht so manche Beschreibung, die wir von den Einkäufen der Bauherrn, namentlich geistlichen Bauherrn besitzen8, sprechen die Kon¬ tiakte selbst zwischen Bauherren und Bauhandwerkern, deren Originale uns überliefert sind 4 5 ; sprechen manche Bestimmungen der Zunftordnungen °. Vielleicht kauften die Bauherren sogar die Rohmaterialien (Kalksteine und Lehm) und ließen von Kalk- imd Ziegelbrennern gegen Lohn Kalk, Ziegeln und Mauersteine hersteilen 6.

Der Eigentümer lieferte nicht nur die Baumaterialien, sondern auch die Gerüste (die er dann erst vorher von Lohnwerkem her- stellen ließ, wenn möglich aus Hölzern eigener Zucht), die Eimer und Kübel zur Bereitung des Mörtels 7 und verpflichtete sich, bei

1 Siehe Heideloff, Die Bauhütten, 1844; Jänner, Die B.H. des Mittelalters. 1876.

2 Z. B. Lamprecht, DWL. 2, 570 f. 613, und die Werke von D’Avenel, Rogers usw., wo Bauhandwerkerlöhne im Überfluß sich finden.

3 Z. B. Rogers, Six Centuries, deutsch S. 106. Wie ein Kapitel sich durch Aussendung seines Baumeisters und eines Kanonikus in den Besitz der Baumaterialien für den Bau seiner Kirche zu setzen pflegte, schildert in anschaulicher Weise für Xanten St. B eis sei, S. J., Geldwert und Arbeitslohn im Mittelalter (1885) 37 ff.

4 Z. B. G. Fagniez, Documents relatifs ä l’histoire de l’industrie et du commerce en France. 2 Vol. 1898. 1900 (zit. Doc.) Vol. 2 No. 21. 42. 51 (Bauglaser). 59. 61. 67 (Glockenguß), idem, Etudes (1877) No. 42.

5 Die Londoner Maurerordnung von 1356 sieht das „work in gross“ (die Übernahme ganzer Bauten durch einen Bauunternehmer) noch als so ungewöhnlich an, daß bei jeder Übernahme eines ganzen Baues vier oder sechs Meister Garantie leisten müssen. Vgl. G. Brodnitz, Die Stadtwirtschaft in England (Jahrbücher f. N.ö. 47, 28).

6 Daß die Kalk- und Ziegelbrenner in Venedig bis ins 14. Jahrh. ‘Lohnwerker1 waren, ergeben ihre Statuten. Es ist jedoch nicht er¬ sichtlich, ob sie für die Kalk-, Ziegel- und Steinhändler oder für die Bauherrn lohnwirkten. Siehe ihre Statuten im 26. Bande der Fonti per la storia d’Italia, 1896.

7 Beleg© bei Fagniez, Etudes, 203 und App. 42.

8omh»rt., Der moderne Kapitalismus. I.

15

226 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft.

lang-dauernden Arbeiten die Geräte der Handwerker zu erneuern1. Zuweilen wurden diese vom Bauherrn beköstigt und behaust2 und erhielten einen Teil des Lohnes in Kleiderstoffen ausbezahlt3.

Daneben wurden auch schon die einzelnen Bestandteile des Baues in Entreprise gegeben, so daß der Handwerker „Kauf¬ handwerker“ wurde. Und dann tauchen auch schon in embryo¬ nalem Zustande der Architekt und der Bauunternehmer auf, zu¬ erst wohl bei den großen Bauten in Italien und bei den Königs¬ bauten in Paris4, die wie -wir noch sehen werden für die Organisation des Baugewerbes in mehr als einer Hinsicht vor¬ bildlich gewesen sind.

Sehr häufig wird die Form des Lohnwerks in der Textil¬ industrie und den dazu gehörigen Bekleidungsgewerben gewesen sein: man gab das selbst gesponnene Garn dem Weber zum Verweben5, gab das rohe Gewebe dann wohl zum Verfeinern weiter an den Tuchscherer, den Färber, den Kalanderer6. Dann gab man den fertigen Stoff dem Schneider.

Oder man kaufte sich fertiges Tuch beim Tuchhändler, um es dem Schneider dann zu übergeben. Wir sehen den reichen Kunden in Paris , in Bologna , in Venedig in Begleitung des

1 „Pro fabricando marteilos“ ; „pro acuendo martelos . . .“ 1. c.

3 Das bildete wohl die Regel, wenn die Bauten von Ortsfremden ausgeführt wurden, wie der Lettner im Kapitel zu Troyes, den Pariser Maurer aufführten; ib. p. 208.

8 „et une robe“ ; „aulne et demie de draps“ ; „une robe et unes chauces“ sind häufig wiederkehrende Lohnsätze: ib.

4 Auch zur Geschichte des „Architekten“ und des „Bauunter¬

nehmers“ im Mittelalter hat ein reiches Material beigebracht F agni e z im 3. Kap. des 2. Buches der „Etudes“. S. das 3. Buch dieses Werkes.

6 Das Leinengarn wohl meist, namentlich in kleinen Städten ; aber selbst in Paris, wo der Weber das Garn entweder in Strähnen oder schon auf der Kette vom Kunden empfing: „se aucuns ou aucune engagoit autruie file en pelote ou en chaine“, Ord. relat. aux met. p. 390: Fagniez, Etudes, 229; in Florenz noch im 15. Jahrh. H. Sieveking, Die Handlungsbücher der Medici (1905), 33. Ebenso das Wollengarn, von dem uns wiederum für Paris berichtet wird, daß es vom Lohn¬ weber verwebt wurde: „Si mesme mestre doivent .mettre en euvre le fil come l’en leurbaillera ä tistre les blans desus diz.“ Ord. rel. aux met. p. 394 Fagniez, 223. Zuweilen lieferte der Kunde dem Weber sogar die Zutaten (suif et son in Paris bei der Leinenweberei : 1. c. p. 229).

6 „si aliquem pannum ad chilendrandum datum fuerit“ kann vom Privatmann ebenso wie vom Tuchmacher verstanden werden. Venetianer Zunftstatuten in den Fonti per la storia dTtalia 26, 140.

227

Fünfzehntes Kapitel: Die Art der Bedarfsdeckung

Schneiders, der mit seinem Rat dem Käufer zur Seite stehen soll, das Tuch einkaufen. Wie wir es heute erleben, wenn wir mit dem Dragoman in Konstantinopel Teppiche erstehen: es kam offenbar häufig- genug vor, daß der Tuchhändler den Schneider „schmierte , damit dieser seinen Kunden zu ihm und nicht zur „Konkurrenz1' geleite. Das soll ihm verwehrt sein1.

Mützen ließ man sich aus selbstgeliefertem Stoff beim Mützen¬ macher anfertigen2.

Unter den Pariser Schneidern begegnen wir im 13. Jahr¬ hundert3 4 dem tailleur le Roy, tailleur madame la Royne, tailleur aux enfans le Roy, tailleur Monseigneur Challes, tailleur la Com- tess© de "V alois, tailleur 1 Kvesque, tailleur des Marmousetz, tailleur du Temple. Der Duc de Normandie, der duc de Berry haben ebenso ihre eigenen Schneider. Ein gewisser Gfauteron ist im 14. Jahrhundert „couturier du vicomte d’Aunay“ L

Dieselbe Sitte bestand in England , wie wir aus der Be¬ stimmung englischer Zunftordnungen schließen dürfen: daß es den Mitgliedern einer Zunft verboten sein soll, die Livree ihrer Herrschaft zu tragen. In Frankreich trugen diese Hofschneider Abzeichen des Hauses, in dem sie arbeiteten, wurden aber gleich¬ wohl an der Spitze der Zunftmitglieder aufgeführt. Sie waren gegen festen Gehalt und freie Station angestellt. Gingen sie auf Reisen, etwa um Stoff einzukaufen, so bekamen sie Reise¬ entschädigung. Ebenso gab es Schneiderinnen in den Schlössern der Großen5.

Dieselbe Sitte in Wien: sartor, serviens domini abbatis Sco- torum; sartor ducis6.

1 Stat. della Soc. dei mercanti in Bologna (XIII. sc.). Fonti ec. 4, 133. In die Verhältnisse des mittelalterlichen Schneidergewerbes geben sehr deutliche Einblicke die Statuten der Schneider von Paris : Livre des möt. tit. LVI; Venedig: Fonti ec. 26, 10—12; Bologna: Fonti ec. 4, 274 ff.

Es gab Herren- und Damenschneider in Paris : 1. c. p. 15. Die genannten Statuten stammen sämtlich aus dem 13. Jahrhundert.

2 Venedig, Fonti 26, 24.

3 Statuts et ordonnances des marchands maitres tailleurs d’habits etc., 1763. Zit. bei A. Franklin, Les magasins de nouveaut&s (1891), 89.

4 P. Boissonade, Essai sur l’organ. du travail en Poitou 1

(1900), 294.

6 Siehe die Quellenstellen bei Fagniez, Etudes, 246 f.

6 Gesch. d. Stadt Wien II. 2, 714.

228 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

Wir haben hier die Abkömmlinge der alten hofhörigen Hand¬ werker vor uns, die es auch in anderen Gewerbezweigen, wie zum Beispiel im Baugewerbe, während des ganzen Mittelalters o'eo-eben hat und die wiederum offenbar die Stammväter

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der „Hoflieferanten“ der neueren Zeit geworden sind. Es lohnte sich, ihre Geschichte zu schreiben.

Aber auch in anderen Gewerben begegnen wir dem Lohn¬ werk:

Man brachte die edlen Metalle zum Goldschmied, um sie zu Geschmeiden oder Gefäßen verarbeiten zu lassen1; Eisen zum Schildner2, daß er Rüstungen, zum Hufschmied, daß er Huf¬ eisen daraus fertige : kam ein Knappe mit seinem Rößlein zum fabbro- ferraio in Bologna und brachte er das Eisen in unbearbeitetem Zustände mit, so sollte er für ein Hufeisen mit 8 Nägeln 6 bon. zahlen, brachte er aber das ganze Eisen schon fertig mit, so kostete, das bloße Anbringen nur 4 bon. Offenbar waren es nur die Wohlhabenden, die das Material lieferten; die Taxe ist nur für das Beschlagen von Pferden aufgeführt. Kam ein Bauer oder ein Wasserverkäufer oder sonst ein kleiner Mann mit seinem Eselchen, so lieferte unser Schmied das ganze Eisen; er ver¬ wandelte sich in einen Pr eis werker !“ 3

Wer noch im eigenen Hause schlachtete, ließ die Haut der Tiere beim Gerber zu Leder verarbeiten4, damit es der Störer zu Stiefeln umforme.

Und was derart Möglichkeiten sonst noch sind.

Einen sehr großen Teil des Bedarfs an gewerblichen Erzeug¬ nissen wird man aber beim Kauf- oder Preishandwerker gedeckt haben, das heißt bei demjenigen Bäcker, Fleischer, Tischler, Schmied, Schlosser, Kürschner, Täschner, Stellmacher, der selbst den Rohstoff lieferte.

Gewiß hat die Produktion „auf Bestellung“ in der mittel¬ alterlichen Stadt dieselbe wichtige Rolle gespielt wie bis in unsere Zeit hinein. Und zwar bestellte man darf man an¬ nehmen bei dem in der Stadt selber angesessenen Handwerker; nicht wie es später üblich wurde, bei den Produzenten in der

1 Venedig: Fonti, 116; Breslau: Eulenburg, Innungen der Stadt Breslau (1892), 73; London: Riley, Memorials of London, 29 bei Br ödnitz, 28.

2 Osnabrück: Inama, III. 2, 81.

8 Stat. soc. Ferratorum (1248) Fonti.. 4, 186. 189.

4 Lübeck (1454) bei Inama, a. a. 0. S. 81.

Fünfzehntes Kapitel: Die Art der Bedarfsdeckung- 229

größeren Stadt. Ich meine : der Ritter , der in der kleinen Provinzstadt wohnte, bestellte sein Hausgestühl nicht beim Tischler in Florenz oder Paris (wie der Hütten- oder Gntsbesitzer heute, der in einem „Kohlendistrikt“ oder einer entlegenen Gegend wohnen muß), sondern ließ „in seiner Heimatstadt“ arbeiten. Fand er dort nicht den Meister, den er brauchte, so wird er mehr auf Ansetzung der fehlenden Arbeitskräfte gedrungen haben. Doch können wir alle diese Dinge nur vermuten.

Dagegen wissen wir wiederum, daß ein gewiß beträchtlicher Teil der Gebrauchsgüter nicht erst bestellt, sondern „im Laden“ oder auf dem Markte fertig gekauft wurde, auch wenn die Erzeuger in der Stadt selbst ansässig waren. Bei manchem Artikel vei’stekt sich das ja von selbst, wie Backwaren, Fleisch usw. „Im Laden“, den wir uns nun so primitiv wie möglich vorzu¬ stellen haben. In den meisten Fällen wird es die Stube neben der Werkstatt gewesen sein, wenn überhaupt ein besonderer Raum für den Verkauf bestimmt war.

Auf den hübschen Holzschnitten, die Szenen aus dem Hand¬ werkerleben leider erst des 16. Jahrhunderts in Nürnberg: darstellen1, ist es so die Regel: die Frau Meisterin verkauft in dem einen Gelaß, während der Meister nebenan in der Werk¬ stätte arbeitet, so im Täschnerhandwerk, in der Kürschnerei, in der Fleischerei (nebenan wird ein Rind geschlagen!), in der Seilerei, in der Tischlerei; während Schuhwaren in einer Art offener Halle verkauft werden, die sich an die Werkstatt an¬ schließt. In den Verkaufsstuben hegt, hängt oder steht je eine kleine „Kollektion“ fertiger Waren.

Der Gürtler hat 18 Gretchentaschen „auf Lager“, der Schuster etwa ein Dutzend Paar Stiefeln und Schuhe, der Kürschner ein halbes Dutzend Pelzstücke, der Seiler ein Dutzend fertige Seile, Taue usw. Die Käufer beim Seiler, Fleischer und Schuster sind Landleute bei den andern reiche Patrizier oder Rittersfrauen.

Vielleicht waren derartige Zustände schon ein spätes Ent¬ wicklungsprodukt; vielleicht müssen wir uns die Zeiten des Mittelalters noch primitiver vorstellen, etwa wie auf den Holz¬ schnitten in J. Ammans Beschreibung aller Stände, wo Werk¬ statt und „Verkaufsladen“ ein und derselbe kleine Raum sind

1 Im Nürnberger Germanischen Museum. Jetzt wiedergegeben in dem lehrreichen Werke von Ernst Mummenhoff, Der Handwerker in der deutschen Vergangenheit (1901), S. 40 ff.

230 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

und nur ganz wenige Stücke (vielleicht bestellte?) herumstehen oder herumhängen.

Aber kleine Verkaufs stände , „Läden“ oder wenn man will Fenster, in denen fertige Erzeugnisse zum Verkauf ausgestellt wurden, hat es auch in früherer Zeit sicher schon gegeben. Die Pariser Bäcker im 13. Jahrhundert haben ihr Brot in den „Schaufenstern“ ausliegen1, die Goldschmiede in Stettin stellen fertiges Silbergerät auf ihren Brettfenstern zum Verkauf aus2. Ebenso wissen wir genug von Brotbänken, Fleischbänken usw., die uns in ihrer mittelalterlichen Gestalt noch heute in manchen Städten (z. B. Breslau!) erhalten sind.

Im allgemeinen freilich werden die Einkäufe fertiger Waren der Regel nach wohl auf den dazu bestimmten öffentlichen Ver¬ kaufsstellen, den Märkten, vorgenommen worden sein. Auch die ortsangesessenen Handwerker zogen an bestimmten Tagen mit ihren Waren in die Verkaufsbuden auf die Marktplätze der Stadt, wo sich dann die kauflustige Menge zusammenfand. Diese (Wochen-) Märkte wurden dann gleicherweise von den ländlichen Verkäufern von Gemüse, Obst usw. besucht und hier fand wohl der berühmte „Austausch“ zwischen Handwerker und Bauern statt, den man irrtümlicherweise zum Angelpunkt des städtischen Wirtschaftslebens hat machen wollen.

So wissen wir, daß die Pariser Handwerker von Montag bis Donnerstag jede Woche ihre Waren in ihren Läden in der Stadt feilhielten, während sie Freitag und Sonnabend damit „aux Halles“ zogen (zu ziehen verpflichtet waren, so daß es als ein Privilegium angesehen wurde, wenn man diesen wöchentlichen Auszug nicht vorzunehmen brauchte)3.

Für den an jedem Mittwoch und Sonnabend zu Oxford ab¬ gehaltenen Markt wurde im Jahre 1319 durch die Universität die Marktordnung festgestellt. Die Verkaufsartikel bestanden außer in landwirtschaftlichen Erzeugnissen (Heu, Stroh, Holz, Schweinen, Korn, Molkereiprodukte usw.) in Bier, Kohle, Lack, Handschuhen, Pelzen, Leinwand. Also auch hier standen die Handwerker hinter Verkaufsständen in der Hochstraße und am Kornmarkt.

Gleichsam ständige Märkte wurden in den Kaufhäusern

1 Siehe Stat. der Talemeliers art. XX im L. d. M. und vgl. im allgemeinen Fagniez, Etudes, 108 f.

2 Blümcke, Die Handwerkerzünfte im mittelalterl. Stettin, a. a. 0. S. 210.

3 L. d. M. p. CXXXIV und in den einzelnen Statuten.

Fünfzehntes Kapitel: Die Art der Bedarfsdeckung 231

oder Kaufhallen abgehalten, denen wir namentlich in deutschen Städten häufig begegnen. Sie dienten dem Absatz einer einzelnen Ware , mochte diese, so dürfen wir annehmen, am Orte selber erzeugt sein oder von auswärts kommen. Fast überall gibt es Tuchhallen, die entweder ein ganzes Haus (Gewandhaus) ein¬ nehmen oder in anderen Gebäuden untergebracht sind. Daneben finden wir Schuhhäuser1, Leinwandhäuser, Brothäuser, Korn¬ häuser, Schlachthäuser, Pelzhäuser2; aber auch für die Speziali¬ täten eines Ortes zum Beispiel für den AVaid in Görlitz wurden besondere Kaufhäuser errichtet. Auch die Salzhäuser gehören hierher. Die meisten Kaufhäuser in deutschen Städten sind im 14. und 15. Jahrhundert erbaut, es sind ihrer aber schon im 13. Jahrhundert nachweisbar3.

In den größeren Städten gab es dann aber auch schon überall eine größere Anzahl berufsmäßiger, seßhafter Detailhändler, bei denen der Bedarf an Nahrungsmitteln und gewerblichen Erzeugnissen, wohl meist auswärtigen Ur¬ sprungs, gedeckt wurde. Jedenfalls seit dem 13. Jahrhundert¬ haben wir Kunde von ihrem Dasein und auch schon von der Art ihres Geschäftsbetriebes4.

Wir wissen bis ins einzelne, was ein Pariser „mercier“ im 14. Jahrhundert an Waren feil hatte5 und wie der „Laden“ in den Städten des Mittelalters ausschaute. Denn offenbar handelt es sich in allen Anfängen des Detailhandels um ein noch un¬ differenziertes Warenlager, einen sogenannten Kram, in dem un-

1 In AVien am Hohen Markt (13. Jakrh.), wo die Schuhmacher an Markttagen ihre Erzeugnisse feilhielten: Karl Uhlirz in der G. d. St. AVien II. 2 (1905), 712.

2 In Zürich (14. Jahrh.): Ottmar Fecht, Die Gewerbe der Stadt Zürich i. M.A. (1909), 29.

3 Siehe die zusammenfassende Darstellung bei G. v. B e 1 o w , Das ältere deutsche Städtewesen (1905), 57 ff.

4 Siehe z. B. Livre des metiers tome IX und X. Für die süd¬ deutschen Städte (Augsburg, Ulm, Straßburg, AVorms) siehe Heinr. Eckert, Die Krämer in südd. Städten bis zum Ausgang des M.A., 1910.

5 Von der halb seßhaften, halb hausiermäßigen Organisation des Geschäftsbetriebes eines solchen mercier gibt einen guten Begriff ein Gedicht aus dem 14. Jahrh., das mitgeteilt wird von A„ Franklin, Les magasins de nouveautes (1894), 5 ff. ; vgl. noch Levass eur 1, 332, und die Statuten der merciers vom Jahre 1324 (abgedruckt bei Fagniez, Doc. 2 [1900], Nr. 27).

232 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

geschieden noch alles zum Verkauf stand, was überhaupt von einem besonderen Detaillistenstande vertrieben wurde.

Die Lübecker Bürgerrolle von 1353 erlaubt den Krämern zu ver¬ kaufen: Kolonialwaren, Rohstoffe, Manufaktur- und Kurzwaren. Wehr¬ mann, Lüb. Zunftrollen, S. 272 ff. Ähnliche Zustände in Breslau: W. Borgius, Wandlungen im modernen Detailhandel Archiv 13, 44; in Leipzig: S. Moltke, Die Leipz. Krämerinnung (1901), 73 ff; in süddeutschen Städten: H. Eckert, a. a. 0. S. 32 ff In den französischen Statuten selbst des 15. Jahrhunderts laufen die drei großen Warengruppen: mercerie, quincaillerie und epicerie noch in¬ einander über; die Vorsteher der Merciers (roy des merciers) haben Aufsicht zu führen über alle Händler, die mit Fackeln, Kerzen, Pfund¬ waren wie Pfeffer, Saffran usw. ... „et toutes aultres merceries et espiceries“ handeln . . . über alle „portants mercerie pour vendre ou chose qui touche mercerie ou poids, balances, aulnes ou mesures, soyent quinqualleries ou aultres choses sub- jectes audict roy des merciers“ . . . „generalement toutes choses qui se vendent ou puissent vendre en faict de marchandise, les quelle s ne se peuvent priser ne estimer que trop ou peu, est chose subjecte a mercerie.“ Ord. et reiglements concemant les marchands merciers (XV. siede); abgedruckt bei Fagniez, Doc., Nr. 166. Mit den Epiciers vermischen sich die Apotheker: bis ins 15. Jahrh. bestand der „Corps des marchands grossiers, espiciers et apothicaires“. Vgl. A. Philippe, Gesch. der Apotheker; deutsch von H. Ludwig, 2. Aufl. 1859, 5. Kapitel.

Über die innere Struktur des mittelalterlichen Handels, ins¬ besondere seinen handwerkerhaften Charakter spreche ich im 17. Kapitel. Hier interessierte er uns nur als eine der Formen der Darbietung gewerblicher Erzeugnisse.

Blieben schließlich, um alles Fehlende einzukaufen, die Jahrmärkte1, die wohl in jeder größeren Stadt regelmäßig ab¬ gehalten wurden und die sich an manchen Orten zu imposanten Messen auswuchsen, auf denen „en gros“, also Fertigfabrikate an Händler, Kok- und Hilfsstoffe, Werkzeuge usw. an Produ¬ zenten oder Händler, ab er in beträchtlichem Umfange auch an letzte Konsumenten Waren abgesetzt wurden. Gewiß ein sehr erheblicher Teil des Bedarfs an gewerblichen Erzeugnissen wurde auch abseiten der Städter aus diesen Marktwaren gedeckt, die also nicht am Orte des Konsums erwachsen waren, sondern von

1 Über ihre Entwicklung in Deutschland unterrichtet v. Maurer, a. a. 0. 1, 282 ff. ; für Frankreich siehe vor allem P. Huvelin, Essai historique sur le droit des marches et des foires (1897), der p. 604 bis 617 eine ausführliche Bibliographie der einschlägigen Literatur mitteilt.

Fünfzehntes Kapitel: Die Art der Bedarfsdeckung

O

233

auswärts, oft wohl von weit her hier an dem Marktort zusammen- strömten. Über den interlokalen Absatz gewerblicher Erzeugnisse lassen sich folgende Angaben machen, die sich sowohl auf die I alle beziehen, in denen die Handwerker in eigener Person ihre Waren, sei es auf dem Wege der Hausiererei, sei es auf Märkten und Messen feilboten, als auch diejenigen, in denen berufsmäßige Händler den Vertrieb übernahmen. Diese werden wohl der Regel nach (aber nicht immer: seßhafte Detailhändler! Gewandschneider in den Tuchhallen!) auf den Jahrmärkten ihre Ware abgesetzt haben.

Der ortsferne Güterabsatz während des Mittelalters 1

In allen Ländern begegnen wir während des Mittelalters . dem Handwerker oder der Handwerkersflau, die in derselben Weise, wie sie es heute noch tun, mit ihrer selbsterzeugten Ware auf dem Rücken oder im Schubkarren von Ort zu Ort ziehen, um die Kundschaft aufzusuchen.

Die bekanntesten Hausierhandwerke des deutschen Mittelalters, die teilweise auch Wanderhandwerke waren, sind die Keßler und Kaltschmiede. Über sie und ihre Organisation handeln v. Maurer, Städteverfassung 2, 490 ff.; E. Gothein, Bilder aus der Geschichte des Handwerks (1885), S. 12 ff., und R. Eberstadt, Französ. Gewerberecht (1899), 259 ff. Sie sind in Frankreich in der Normandie , in Deutschland im Südwesten , in Belgien in der Stadt Dinant hauptsächlich zu Hause. Übrigens werden diese Hausierhand-

1 Die folgende Übersicht hatte ich im wesentlichen schon in der ersten Auflage (1, 96 113) gegeben. Um dem Bilde seine Buntheit zu bewahren, wiederhole ich sie hier mit einigen Zusätzen. Ich könnte die Belege für das Vorkommen von Handelsartikeln im interlokalen Verkehre während des Mittelalters leicht um ein Beträchtliches ver¬ mehren, wenn ich von der überaus fleißigen Zusammenstellung Gebrauch machen wollte, die sich jetzt findet in dem stattlichen Werke von J. G. van Dillen, Het economisch Karakter der middelleuwschen Stad 1914, III. u. IV. Hoofdstuk; verzichte aber darauf und verweise den geduldigen Leser auf diese Arbeit. Der Verfasser möchte im Anschluß an meine Ausführungen in der ersten Auflage noch einmal und noch gründlicher die „Theorie“ chers von der „geschlossenen Stadtwirtschaft“ widerlegen. Er kündigt als Fortsetzung dieses, 224 eng gedruckte Großquartseiten umfassenden Bandes einen zweiten an, der sich mit dem von mir geprägten Gegensatz der Bedarfsdeckungs¬ wirtschaft und der Erwerbswirtschaft beschäftigen soll. Neuerdings bringt ein reiches Material zur Kenntnis des internationalen Handels¬ verkehrs während des Mittelalters bei: Alex. Bugge in der Viertel¬ jahrsschrift 12 (1914), 106 ff

234 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

werker, die gewiß nebenbei auch Lohnwerk verrichteten, wohl eben¬ falls mit Vorliebe die Messen und Märkte mit ihren Waren aufgesucht haben. In unsere Zeit ragen die südslavischen Mausefallenfabrikanten hinein. Aber auch die Töpfer, später die Uhrmacher, gehören hierher. Über den hausiermäßigen Vertrieb der Glaswaren durch Glasfuhr - genossenschaften: E. Gothein, W.Gesch. des Schwarzwaldes 1, 846. Auch die Erzeugnisse der Weberei wurden häufig hausierend von den Handwerkern abgesetzt. Über hausierende Tuchmacher im Kreise Hagen vor der Franzosenherrschaft s. Jacobi, Berg-, Hütten- und Gewerbewesen des Reg.Bez. Arnsberg (1856), S. 104. Historisches Material findet man auch in der Enquete des Ver. für Sozialpolitik. Schriften, Bd. 77 ff.

Noch, häufiger aber naturgemäß sind die Zeugnisse für den Marktbesuch ortsferner Handwerker ebenso wie über die Aus¬ breitung des Handels mit gewerblichen Erzeugnissen.

Wenn auch die auswärtigen Bäcker1 auf den städtischen Märkten, von denen uns die Urkunden schon des 12. J ahrhunderts berichten, nicht aus allzuweiter Feme gekommen sein mögen, so brauchen wir für die gleichzeitig erwähnten Schuhmacher2 eine solche räumliche Beschränkung nicht ohne weiteres an¬ zunehmen. Fremde Handwerker (aus Winchester) finden wir im frühen Mittelalter auf den Messen der Nachbarstädte in England3.

Zahlreiche urkundliche Bestätigungen haben wir für den fernen Marktbesuch von Webern4.

Daß das 12. Jahrhundert bereits einen ausgedehnten H a n d e 1 mit handwerksmäßig erzeugtem Tuch hatte 5, dürfen wir als aus¬ gemacht betrachten.

1 Urkunde von 1104. Vgl. Lamp recht, Deutsches Wirtschafts¬ leben 2, 313 f.

2 v. Maurer, Städteverfassung 1, 318/19, und v. Below, Ent¬ stehung des Handwerks, a. a. 0. 5, 236. Erhebung eines Marktstands¬ geldes auch von fremden Schustern in Nordhausen Anfang des 14. Jahr¬ hunderts. Vgl. Falke, Gesch. des deutschen Zollwesens (1869), 142.

3 Ashley 1, 100.

4 Vgl. z. B. Zeitschr. für Geschichte des Oberrheins, Bd. 4, und Schm oll er, Straßb. Tücher- und Weberzunft, S. 104, 110.

s Auch im 11. Jahrhundert finden wir schon Tücher als Objekte des internationalen Handels; so in England nach Aelfrics Colloquy (ca. 1000) bei Thorpe, Analecta Anglo-Saxonica (1868) zitiert bei Ashley 1, 70. Und in noch frühere Zeit reicht der Handel mit sogen, „friesischen Tüchern“ zurück: J. Klumker, Der friesische Tuchhandel zur Zeit Karls d. Gr. und sein Verhältnis zur Weberei jener Zeit. S.-A. aus den Jahrb. d. Gesellsch. für bild. Kunst usw. zu Embden. Bd. 13. 1899. Es ist aber nicht wahrscheinlich, daß

Fünfzehntes Kapitel: Die Art der Bedarfsdeckung 235

Für das 13. Jahrhundert häufen sich die nachweisbaren Fälle interlokalen Tuchhandels. Wir dürfen annehmen, daß der Ab¬ satz der Tuche teils, wie schon erwähnt, durch die Handwerker selbst besorgt wurde , teils von den Gewandschneidern , den drapiers , drapers , das heißt berufsmäßigen Tuchhändlern , die ebenso wie die Handwerker gleichzeitig detaillierten. Was das charakteristische Merkmal der Entwicklung im 14. Jahrhundert ausmacht, ist aber ein gewaltiger Aufschwung der Tuchindustrie in sämtlichen Produktionsländern* 1.

V on ebenfalls großer Bedeutung war im Mittelalter die inter¬ lokale Leinenproduktion2.

Die Leinwand wurde teilweise auch schon in konfektio¬ niertem Zustande in den Handel gebracht. In der Kramer¬ rolle der Stadt Anklarn aus dem Jahre 1330 finden wir als Hand¬ werksgegenstände erwähnt: Tischtücher, Handtücher, Rollaken, Bettüberzüge, Kissenüberzüge. Alle diese Artikel wurden en gros und en detail gehandelt3.

Von Anfang ihres Bestehens an, so dürfen wir annehmen, waren die Seidenindustrie ebenso wie die Baum wo 11- und Barchentweberei auf den Absatz ihrer Erzeugnisse in einem interurbanen bzw. internationalen Rahmen angewiesen.

Da die Gewinnung der Mineralien und Metalle nur an einzelnen über die ganze Erde verstreuten Fundstätten erfolgte, so konnte ihr Verbrauch nie in größeren Mengen stattfinden, ohne daß sie Objekte des interlokalen und internationalen Handels geworden wären. Das sind sie denn auch während des ganzen Mittelalters gewesen. Zinn bildet von altersher den Gegen¬ stand eines internationalen Handels4, Steinkohle %drd seit

es sich vor dem 12. Jahrhundert schon um die Erzeugnisse hand¬ werksmäßiger Weberei gehandelt habe. Vgl. E. Kober, a. a. 0. und R. Häpke in den Hans. Gesch.Bl. 1906.

1 Von der großen Ausdehnung des internationalen Tuchhandels im 14. und 15. Jahrhundert gibt eine gute Vorstellung die Übersicht über die in Danzig zum Verkauf kommenden Laken- oder Tuchsorten bei Th. Hirsch, Danzigs Handels- und Gewerbegeschichte (1858), 250 ff.

2 Siehe über den Leinenhandel im Mittelalter im allgemeinen, und den von Konstanz im besonderen die Ausführungen von Schulte, M.A.Handel 1, 112 ff.

3 Bei K. F. Kl öden, Über die Stellung des Kaufmanns während des Mittelalters. 1. Stück. 1841. S. 33.

4 G. R. Lewis, The Stannaries. A Study in english tin miner (1908), 33 ff.

236 Vierter Abschnitt : Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

dem 13. Jahrhundert in England als Sea-coal bezeichnet, seit sie über See exportiert wird1. Ziegeln in England aus Flandern eingeführt (14, Jahrh.) 2.

Eisen und Erze werden schon im 10. Jahrhundert nach Oberitalien eingeführt3. Wir finden Eisen als Einfuhrartikel aus Europa nach Ägypten im 12. und 13. Jahrhundert4, als Import¬ artikel nach England Anfang des 14. Jahrhunderts5, als Gegen¬ stand des deutsch-italienischen6, des hansischen 7 Handels während des ganzen Mittelalters.

Deutsches Silber begegnet uns im 13. Jahrhundert auf den Messen der Champagne8 und auf dem Wege nach England9. Es wird im 14. und 15. Jahrhundert von den Großkaxifleuten Danzigs10 ebenso wie von den Krämern Lübecks 1 1 gehandelt; es erfreut sich zunehmender Beliebtheit im deutsch-italienischen Handelsverkehr 12.

Ebenso sind Kupfer, Messing, Blei oft genannte Objekte des internationalen Güteraustauschs schon im frühen Mittelalter. Wir hören davon im 10. Jahrhundert im deutsch-italienischen Verkehr13, im 11. Jahrhundert im Handel mit England14, im 12. Jahrhundert am Ehein15, im 13. Jahrhundert in Eise-

1 Matth. Dünn, View of the coal trade of the north of England (1844), 11 ff- Salzmann, 1. c. 1 ff . (auf Grund neuen hdschr. Materials).

'A üalzmann, 1. c. p. 125.

3 Dem ältesten Zollkatalog aus der Alpenwelt zufolge, dem von Bischof Giso von Aosta 900 abgefaßten ; vgl. Schulte 1, 68.

4 Heyd, Gesch. des Levantehandels. 2 Bde. 1879. 1, 424. 426.

437.

6 Hansaakten aus England 1275 1412, bearbeitet von K. Kunze, 1891. S. XLV (Hansische Geschichtsquellen Bd. VI).

6 Schulte 1, 693 u. öfters.

7 Hans. U.B. Bd. I Nr. 432 und öfters.

8 Schaube, Ein italienischer Kursbericht usw. Zeitschr. f. Soz. u. Wirtschaftsgesch. 5, 248).

9 W. Cunningham, The growth of english industry and com¬ merce 1 (1890), 184.

10 Th. Hirsch, a. a. O. S. 257 ff.

11 Wehrmann, a. a. O. S. 273.

19 Schulte 1, 594.

13 Zollkatalog Gisos von Aosta bei Schulte 1, 68.

14 Ashley 1, 70 nach Aelfrics Colloquy (um 1000).

15 Zollprivileg der Abtei S. Simeon von 1104 bei Falke, a. a. O. S. 139; Zollprivileg der Kaufleute von Dinant, erteilt vom Senat der Stadt Köln, Ennen, Quellen 1, 7 Nr. 5. Schreiber, TJ.B. der Stadt Freiburg i. B. 1 (1828), 5/6,

237

Fünfzehntes Kapitel: Die Ärt dev Bedarfsdeckung

nach1, in Hamburg 2, in Flandern8 ; im 14. Jahrhundert bilden die genannten Metalle ein beliebtes Handelsobjekt in England4, in Lübeck5, in Danzig0, im deutsch-italienischen Handel7, werden

sie en gros und en detail gehandelt in Städten wie Anklam Goslar8.

, Aber nicllt die -Rohstoffe und Halbfabrikate, auch die fertigen Erzeugnisse der Metallindustrie kamen früh¬ zeitig in den Handel. Allen voran Schutz- und Trutzwaffen. Bereits im 10. Jahrhundert bringen die Venetianer Waffen aus den Schmieden der Lombardei, Steiermarks und Kärntens zu den. überseeischen Völkern 9. Schwerter, Lanzen und Panzer finden wir während des 10. Jahrhunderts als Handelsgegenstände auf den Verkehrsstraßen der Alpen 10. Von den „Kölner Schwertern“ aber erhalten wir Kunde am Oberrhein schon im 12. Jahrhundert n, im Handel mit England Ende des 13., Anfang des 14. Jahr¬ hunderts1"; einem Waffenhandel begegnen wir dann häufig während des 13. Jahrhunderts, so in Pirna13, in Eisenach 13, und noch mehr in den folgenden Jahrhunderten, so in Osnabrück14, in Danzig 5, in Lübeck 16. Aus diesen beliebig herausgegriffenen Urkundenbelegen dürfte ohne weiteres auf einen blühenden, aus¬ gedehnten jinternationalen Waffenhandel 17 während des ganzen

1 Falke, Zollweseu, 144.

2 Ebenda, 146.

3 Hans. TJ.B. Bd. I Nr. 432.

4 Hans. Geschichtsquellen Bd. 6 S. XLV, 334.

5 Wehr mann, 272 ff.

6 Hirsch, a. a. 0.

7 Schulte 1, 692 ff.

8 Kramerordnungen der genannten Städte bei Kl öden, 1. Stück

§ 3.

9 W. Heyd, Gesch. des Levantehandels 1, 125/26. A. Schaube Hand.Gesch. 23 f.

10 Zollkatalog von Aosta 960 bei Schulte 1, 68. Nach Schultes Meinung handelt es sich dabei um Erzeugnisse der Mailänder Waffenindustrie (1, 69).

11 Mitt.ßh. U.B. 1, 409. 2, 242. Falke, a. a. O. S. 139. v. Below, a. a. 0. S. 148.

12 Hans. Geschichtsquellen 5, XLV.

13 Falke, 144.

14 Frensdorf f, Dortmunder Stat. CXXXI.

16 Hirsch, 261.

16 Wehrmann, 456.

17 Vgl. noch W. heim, Die Waffe und ihre einstige Bedeutung im Welthandel. Zeitschr. f. histor. Waffenkunde 1, 171 ff.

238 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

Mittelalters geschlossen werden, auch wenn die Annahme eines solchen aus allgemeinen Erwägungen heraus nicht allein schon selbstverständlich wäre.

Mit den Waffen wetteiferten als Gegenstände interlokalen Güteraustausches und nahmen vielfach die Stelle der Schwerter, Harnische, Kappen usw. ein, als diese durch die Entwicklung der modernen Kriegstechnik anfingen , ihren Abnehmerkreis zu verlieren, andere Erzeugnisse der Metallindustrie, besonders Eisenwaren: Werkzeuge, Messer, Schlösser, Steck¬ nadeln, Nähnadeln, Haken, Ösen und was sonst heute unter der Bezeichnung „eiserne Kurzwaren“ 1 zusammengefaßt zu werden pflegt. Daß sie in größeren Mengen in den Handel kamen, dürfen wir aus den Bestimmungen der Zolltarife des 13. bzw. 14. Jahrhunderts entnehmen , in denen bestimmt wird , daß sie nach Stück, Dutzend oder Schock zur Y erzollung kommen sollen2. Berühmt während des Mittelalters als Erzeugungsort eiserner Kurzwaren war bekanntlich Nürnberg; daher für der¬ artige Dinge ebenso wie für sogenannte Galanteriewaren lange bis in unsere Zeit hinein der Ausdruck „Nürnberger Ware“ gebraucht zu werden pflegte3.

1 Das Mittelalter hatte dafür die Bezeichnung minuta, minuta . inercimonia. Ygl. Hans. Geschichtsquellen 5 Nr. 56, 154, 374 (Ein¬ fuhrartikel nach England während des 13. und 14. Jahrh.). Auch unter cromerey, merserie, merc. institoria verstand man vielfach das¬ selbe: calibem et ferrum et alia merc. institoria. Hans. U.B. Bd. 4 Nr. 224. Vgl. Nr. 965 (1).

2 Siehe z. B. den Zolltarif für die Niederlage der Stadt Pirna bei Falke, Zollwesen, 144. Zahlreiche Sorten von eisernen Kurzwaren in den Kramerrollen von Anklam (1330), Goslar (vor 1359), mitgeteilt bei Kl öden, 1. Stück S. 31 ff.

8 In Lübeck durften die Nürnberger folgende von ihren Hand¬ werkern angefertigten Waren in offenen Kellern verkaufen (15. Jahr¬ hundert): Schlösser, Messer, Spiegel, hölzerne und bleierne Pater¬ noster, Pfriemen, Blech, Waffenhandschuhe, stählerne Bügel, Flöten, messingene Spangen, Kinderglocken, zinnerne Schüsseln, Pferdezäume, Steigbügel, Sporen, Brillen, messingene Fingerhüte, bleierne Spangen, Dosen, Tafeln, Kinderbinden. Wehrmann, Einleitung S. 107. Im Handel mit Italien während des 14. und 15. Jahrh. finden wir ferner von Erzeugnissen der Nürnberger Metallindustrie : Altarle uchter, Schreibleuchter, Hängelampen, Messingschüsseln, Wagen, Klistier¬ spritzen, Kompasse, Scherbecken, Schermesser, Zirkel u. a. Schulte 1, 719. Von der Ausdehnung des Nürnberger Exports legen Zeugnis ab die überaus zahlreichen Zollbefreiungen, die sich Nürnberg

Fünfzehntes Kapitel: Die Art der Bedarfsdeckung 239

\ on andeien gewerblichen Erzeugnissen, die wir außer den genannten noch als Gegenstände des interlokalen Handels während des Mittelalters finden, mögen einige der wichtigeren nur noch kurz mit Angabe der Belegstellen registriert werden.

Holz war en:

10. Jahrh.: Schüsseln, hölzerne Näpfe auf den deutsch-italieni¬

schen Verkehrsstraßen h

11. Jahrh.: Wannen, Schüsseln2, Fässer (dolia), vasa lignea 3 sind

Handelsartikel.

12. Jahrh.: Holzwaren auf den Messen zu Enns feilgeboten4.

13. Jahrh.: Holzwaren einer der Einfuhrgegenstände nach Eno--

land 5.

14. Jahih. : Dauben, Reifen, Stickholz, Schüsseln in Moselland r>,

Mulden, Schaufeln, Schüsseln in Danzig gehandelt7.

15. Jahrh.: Hamburger Tonnen ; dürfen in Sneek (Friesland)8

auch außer auf Jahrmärkten feilgeboten werden.

Häute und Leder

sind frühzeitig in den Handel gekommen: Rinds-, Bocks-, Kuh-, Schafshäute im Trierer Tarif von 1248 9, die Gerberei eines der häufigsten Exporthandwerke: Basel im 15. Jahrhundert hat 59 reiche Gerbermeister mit einem Arbeitsmaximum von 360 Häuten jährlich (insgesamt 21240 Häute, also durchaus handwerksmäßiger Umfang der Produktion) bei ca. 10 000 Ein¬ wohnern mit 133 Schuhmachern10. Wir erfahren von einem Lederhandel in England während des 13. Jahrhunderts11, in

an verschiedenen Zollstätten auszuwirken wußte. Das Verzeichnis von 1332 zählt nicht weniger als 69 Orte auf, in denen Zoll¬ befreiungen bestanden, und zudem das ganze Königreich Arelat Schulte 1 658.

1 Zolltarif Gisos von Aosta bei Schulte 1, 68.

2 A. Schaube, Handelsgeschichte, 24.

v. Below, Entstehung des Handwerks, a. a. O. S. 152

4 Falke, Handel 1, 77.

5 Hans. Geschichtsquellen 5, XLV.

0 Tarif des erzstiftischen Kochemer Zolls: Lamprecht, DWL.

2, 311.

7 Hirsch, 253.

8 Stadtbuch von 1456, vgl. Hegel, Städte und Gilden 2, 290.

9 Originalauszug bei Lamprecht, DWL. 2, 315.

10 Geering, 141.

Hegel, Städte und Gilden 1, 99. Vgl. Salzmann, 1. c. p. 174,

240 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

Schweden während des 14. Jahrhunderts1. Leder ist Gegen¬ stand des Dortmunder2 *, Breslauer8, Erfurter4, Nürnberger5 Handels im Mittelalter. Leder als en gros- und en detail- Handelsartikel erwähnt in der Kramerordnung von Goslar (14. Jahrhundert)6. In der Zollrolle Margaretes von Flandern (1252) werden zahlreiche Ledersorten aufgefiihrt 7. Lebhafter Lederhandel in Poitou im 13. und 14, Jahrhundert s.

Der Weg, den das Leder vom Produzenten zum Konsumenten nimmt, ist im Mittelalter häufig länger als heute. Jetzt kauft die große Schuhfabrik in der Lederfabrik, die vielleicht selbst ihre Aufkäufer in Indien hat. Aus dem mittelalterlichen Eng¬ land erfahren wir dagegen , daß die Gildemitglieder das Privi¬ legium hatten, ungegerbte Häute aufzukaufen (corea recencia emere), die sie an die Gerber absetzten, um dann deren Produkt, das gegerbte Leder, an die Schuster zu übermitteln9.

Lederwaren:

Deutsche Sattlerarbeiten im 10. Jahrhundert im Auslande ge¬ schätzt10; im ganz frühen Mittelalter deutsche Zügel und säch¬ sische Sättel von lombardischen Bischöfen benutzt11; Geschirre, Gegenstände des Dortmunder Handels im Mittelalter12 *. Beutel, Gürtel, Taschen usw. aus „vrendim steten von gesten“ in Schweid¬ nitz feilgehalten (1336) ia.

Verschiedene Kurz waren:

Elfenbeinene Kämme sind Objekte des internationalen Handels im frühesten Mittelalter14. Hornkämme finden sich (14. Jahr-

1 Hegel 1, 280/81. 293.

2 Frensdorff, Dortmunder Statuten und Urteile, in Hans. Ge¬ schichtsquellen 3 (1882), CXVI.

8 C. Grünhagen, Schles. am Ausgange d. MA. , Zeitschr. f. Gesch. u. Alt. Schles. 18 (1884), 39.

4 Falke, Handel 1, 135.

5 Falke, 127.

6 Bei Kl öden, Stellung des Kaufmanns, 1. Stück S. 86.

7 Hans. U.B. Bd. I Nr. 432.

8 Boissonade 1, 14.

9 Nach Groß, Guild Merchant; Doren, 150.

10 v. Below, a. a. 0. S. 153.

11 Schulte 1, 74.

12 Hans. Geschichtsquellen 3, CXVI.

18 Cod. dipl. silesiac. 5, 19. 20.

14 Schulte 1, 74,

Fünfzehntes Kapitel: Die Art der Bedarfsdeckung

241

hundert) in den Tarifen von Basel und Straßburg \ in den Läden Anklams1 2, allerhand „kleyne ding“ in denen von Schweidnitz3. Paternoster aus verschiedenen Stoffen bildeten während des ganzen Mittelalters aus naheliegenden Gründen einen wichtigen Handelsartikel: Wachs, getrocknete Fische und Paternoster sym¬ bolisieren gleichsam den tiefreligiösen Zug jener Zeiten. Von hölzernen und bleiernen Paternostern war schon die Rede. Vor allem aber kommen diejenigen aus Bernstein als gesuchte Handels¬ artikel in Betracht. Der Ort, wo sie am meisten hergestellt wurden, war Lübeck. Hier bildeten die Paternosterer während des ganzen Mittelalters ein kräftiges, wohlhäbiges, reich besetztes Handwerk, das genossenschaftlich den Einkauf des Bernsteins besorgte 4.

Bekleidung und Putz:

12. Jahrh. : Kleider als Handelsartikel im Freiburger Stadtrecht

erwähnt5.

13. Jahrh.: Kaufleute aus Lille handeln mit Brügger Hosen nach

Italien 6 ;

Hosen 1252 in der Zunftrolle Margaretes von Flandern7,

12(32 in der Hamburger Zollrolle „packweise“ erwähnt8;

Schuhe finden wir gehandelt auf der Messe unterhalb der

Burg von Lags, dem Sitz der Grafschaft für Oberrhätien 9 ;

Handschuhe, Gürtel, Börsen, Yiolinsaiten bei den Pariser

„merciers“ 10.

Pelzwerk Gegenstand des Pisaner Handels11 (1218).

14. Jahrh. : Hosen, Mützen, Filzhüte, Bänder, Borten, Spangen usw.

in den Kramläden von Lübeck12, Danzig13, Anklam 13 Goslar14, Schweidnitz 15 verkauft;

1 Schulte 2, 105.

2 Kramerordnung von 1330 bei Kloeden, 1, 33.

3 Cod. dipl. silesiac. 5, 19. 20.

4 C. W. Pauli, Lübeckische Zustände 1 (1874), 52.

5 Schreiber, Urkundenbuch der Stadt Freiburg 1, 6.

6 Schulte 2, 105 (Urk. Nr. 188).

7 Hans. U.B. Bd. I Nr. 432.

8 Stieda, a. a. 0. S. 111. 9 Schulte 1, 167.

10 Dict. du mercier, Crapelet, Proverbes et dictons populaires

(1831).

11 Santini, Doc. dell’antica costit. p. 190.

12 Wehrmann, 272 ff. 286 f.

14 Klöden 1, 33. 53.

del com. di Firenze (1895),

Sombart, Der modern« Kapitalismus. I.

13 Hirsch, 256.

15 Cod. dipl. Siles. 5, 19 f.

IC

242 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

14. Jahrh. : Schuster und Schneider in Bergen verkaufen ihre Erzeugnisse über See 1 ;

Straßburger Barette und Hosen nach Italien gehandelt2,

Lübecksche nach Venedig3;

in Neustadt Brandenburg werden in einer Ausstattung an¬

getroffen „delremundsche Kleder“ 4; ausgedehnten Handel mit Kleidern und Putz treiben die G-ebrüder Bonis in Montauban5, auch Vick von Geldersen handelt damit6.

deutsche Hüte werden nach Mailand eingeführt7, sind in

Basel starke Importartikel8.

Wie sich das alles nun auf einer großen Messe zu einem bunten und lebendigen Ganzen zusammenfügte: das zeigt uns eine Schilderung der Vorgänge auf der berühmten Messe zu Winchester in England, im 14. Jahrhundert, die ich hier (in der Übertragung durch Ashley) in ihren Hauptzügen wieder¬ geben will9.

Wilhelm H. gestattete dem Bischof von Winchester, auf dem östlichen Hügel außerhalb der Stadt eine dreitägige Messe ab¬ zuhalten. Die unmittelbaren Nachfolger des Königs bewilligten ihr eine längere Dauer, bis sie endlich durch einen Freibrief Heinrichs H. auf 16 Tage ausgedehnt wurde, vom 31. August bis zum 15. September. Am Morgen des 31. August riefen die Iusticiare des bischöflichen Zeltes von der Spitze des Hügels die Messe als eröffnet aus; darauf ritten sie durch die Stadt, empfingen die Schlüssel der Tore, belegten die Wage auf dem städtischen Wollmarkt mit Beschlag, auf daß sie während der Messe nicht benutzt würde, und ritten, mit dem Bürgermeister

1 Hegel, a. a. 0. 1, 407-

2 Schulte 1, 706.

3 Stieda, a. a. 0. S. 111. Vgl. dazu noch Hans. U.B. Bd. 4 Nr. 621, 1017 (3), 1018 (8).

4 G. Sello, Brandenb. Stadtrechtsquell. (Mark. Forsch. 18 [1884], 12.)

5 Le livre de comte de freres Bonis; ed. E. Forestie. Arch. hist, de la Gascogne, fase. 20. 23. 26. 1890 94. 20, LII ff.

6 Das Handlungsbuch Vickos von Geldersen; bearb. v. H. Nirrn- heim (1895), LVIII.

7 Schulte 1, 718.

8 Geerin g, 233.

9 Siehe Dean Kitchins Einleitung zu dem Freibriefe Eduards III. für die S. Giles Fair in den Winchester Cathedral Records No. 2 (1886).

243

Fünfzehntes Kapitel : Die Art der Bedarfsdeckung

und den bailifis in ihrem Gefolge, nach dem großen Zelt oder Pavillon auf dem Hügel zurück. Hier ernannten sie einen be¬ sonderen Bürgermeister, einen bailiff und einen Gerichtsbeamten, um. die Stadt während der Meßzeit in des Bischofs Namen zu legieren. Der Hügel bedeckt sich bald mit Reihen hölzerner Buden ; in einer standen die Kauf leute von Flandern , in einer zrweiten die von Caen oder einer anderen normannischen Stadt, in einer dritten die Handelsleute von Bristol. Hier gab es eine Goldschmied- dort eine Tuchmacherreihe. Um das Ganze zog sicn ein Zaiui mit bewachtem Eingang: Vorsichtsmaßregeln, welche unternehmende Abenteuerer nicht immer daran hinderten, sich der Zahlung von Zöllen zu entziehen, indem sie sich durch Untergrabung der Umfriedigung einen Weg in das Innere des Marktes bahnten. Zu Pferde und in voller Rüstung erschienen am ersten Tage vor des Bischofs Iusticiarien auch alle jene bischöflichen Hintersassen, die durch ihr Lehen zum Kommen verpflichtet waren, unter ihnen hatten drei oder vier darüber zu wachen, daß die Urteile des Meßgerichtes und die Anordnungen des bischöflichen Marschalls in gehöriger Weise zur Ausführung gelangten, auf der Messe sowohl als in Winchester und South¬ ampton.

Jeder Handelsverkehr in Winchester und innerhalb eines Umkreises von t Meilen wurde für die Meßzeit zwangsweise aufgehoben. An abseitshegenden Posten, auf Brücken und an¬ deren Verkehrswegen waren Wachen aufgestellt, die daraufzu sehen hatten, daß den bischöflichen Rechten nicht Abbruch ge¬ schehe. In Southampton, welches außerhalb des Bannkreises lag, durften während der Messe nur Lebensmittel verkauft werden, und selbst die Handelsleute aus Winchester mußten auf den Hügel übersiedeln und dort ihrem Gewerbe nachgehen. Es gab eine Stufenfolge von Zöllen und Abgaben : alle während der ersten Woche aus London, Winchester oder Wallingford kom¬ menden Kaufleute waren frei von Eingangszöllen; nach dieser Zeit kommende zahlten Zoll, ausgenommen die Mitglieder der Kaufmannsgilde von Winchester. Für das Wägen eines Ballens Wolle wurden als „bischöfliche Wägegebühr'' 4 Pence bezahlt, außerdem vom Käufer und Verkäufer je 1 Pfennig für den Wägemeister; ähnlich verhielt es sich mit den Abgaben für andere Waren. Auf jeder Messe gab es einen court of pie- ponder (so genannt von den staubigen Füßen der Rechtssuchenden) ein besonderes Meßgericht, auf welchem der Vertreter des

244 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

Grundherrn über alle vorkommenden Streitigkeiten nach kauf¬ männischem Recht entschied, indem er zugleich die sonst geltende Gerichtsbarkeit der Stadt zeitweilig aufhob; in Winchester wurde dieses Gericht „Pavilion-bourt“ (Zeltgericht) genannt. Hierher brachten die bischöflichen Diener alle Maße und Ge¬ wichte zur Prüfung; hier setzten die Richter eine Taxe oder ein bestimmtes Gewicht für Brot, Wein, Bier und andere Lebens¬ mittel fest, und jeder Bäcker, dessen Brot sich nicht als voll¬ wichtig erwies, wurde zum Pranger verurteilt; hier endlich wurden täglich unter Vorlegung und Vergleichung der ein¬ gekerbten Kerbhölzer von den Geschworenen Schuldstreitigkeiten zwischen den Kaufleuten geschlichtet.

Ein Gegenstück zu dieser Schilderung bildet das Gedicht, das den „Lendit“, das heißt die Messe in St. Denis, im 14. Jahrhundert besingt :

„La plus roial foire du monde.“

Der Dichter schildert zunächst, wie die Prozession von Notre-Dame vorüberzieht, die die gesamte Kaufmannschaft segnet. Dann beginnt er die Aufzählung der Stände mit den verschiedenen Handwerkern und Händlern, die ihre Dienste (barbiers, tavenciers u. a.) oder Waren feilbieten. Es ist eine ebenso bunte Reihe, wie wir sie in Winchester angetroffen haben: unnütz, sie einzeln zu nennen. Besonderes Inter¬ esse bietet das Gedicht dem Wirtschaftsgeographen durch die lange Liste von Bezugsorten, aus denen die hier feilgebotenen Waren stammen. Das Gedicht ist im zweiten Bande der Sammlung Barbazan und M 6 o n abgedruckt und bildet die Nr. 79 bei Fagniez, Doc. 2 (1900).

II. Die Produzenten

Die Art und Weise , wie die Produzenten ihren Bedarf an Produktionsmitteln deckten, ist in den vorhergehenden Blättern schon mitbehandelt worden; denn es ist im Grunde dieselbe wie die, deren sich die letzten Konsumenten bedienten, um sich die von ihnen begehrten Gebrauchsgüter zu beschaffen. Es erübrigt sich daher, eine quellenmäßige Darstellung der hier befolgten Geschäftspraxis zu geben. Des Zusammenhangs und besseren Überblicks wegen will ich nur noch in Kürze bei den wichtigsten Gewerben die in Frage kommenden Bezugsmöglichkeiten an¬ geben.

Der Bäcker bekommt entweder das Mehl vom Kunden ge¬ liefert oder er läßt beim Müller das Getreide vermahlen, das er selbst gekauft oder das ihm der Kunde geliefert hat. Seinen Backofen läßt er sich vom Maurer nebenan bauen, indem er selbst die Materialien dazu hergibt oder nicht. Seine Gerät¬ schaften bestellt er beim benachbarten Schmied oder Stellmacher,

Fünfzehntes Kapitel: Die Art der Bedarfsdeckung 245

oder Böttcher oder Pinselmacher, oder kauft er auf den Jahr¬ märkten fertig.

Der Fleischer kauft das Vieh auf den städtischen Vieh¬ märkten vom Produzenten oder vom vereidigten Viehmakler (wie in Paris) oder er geht auf die Dörfer oder auf benachbarte Märkte einkaufen, oder er zieht selbst Vieh auf1.

Vom Fleischer kauft der Lichtzieher den Talg; der Spinner die Schafshaut.

Die Eisen, Blei, Kupfer verarbeitenden Gewerbe decken ihren Bedarf an Rohstoffen auf den Märkten vom Händler.

Die Holz verarbeitenden Gewerbe kaufen das Holz in den benachbarten Wäldern oder von den Flößern in der Stadt, wenn diese an einem Strome liegt. Es wird wohl aber auch Holzhändler gegeben haben.

Die Leder verarbeitenden Gewerbe fanden ihren Rohstoff auf dem Ledermarkte, wenn sie nicht Häute einkauften, die sie vom Gerber gegen Lohn gerben ließen.

Im Baugewerbe gab es Kalk-, Ziegel-, Steinhändler, von denen die Maurer oder Steinmetzen (falls ihnen der Bauherr nicht das Material lieferte) kaufen konnten. Sie ließen bei Kalk- und Ziegelbrennern das Rohmaterial zum Stufenfabrikat verarbeiten (wir lernten solche Fälle oben kennen). Glas wird der Bauglaser wohl auf den Ständen der Jahrmärkte gefunden oder von herumziehenden Glasmachern gekauft haben, wenn er nicht selbst die Hütte aufsuchte.

In der Textilindustrie laufen alle Bezugsarten durch¬ einander. Wolle, Flachs, Hanf wurden vom Produzenten oder Händler auf den Märkten feil geboten. Seide war beim Mercier zu kaufen. Die einzelnen Stufenprozesse der Gewebeherstellung wurden vielfach in wechselseitiger Lohnarbeit verrichtet: der Weber ließ vom Spinner den Rohstoff verspinnen, der Färber arbeitete gegen Lohn für den Weber oder der Weber für den Färber, der Walker für den Weber, der Färber für den Schneider und so fort in buntem Durcheinander. Häufig läßt der Verkäufer des fertigen Gewebes (der Gewandschneider, Drapier, draper) einige oder alle Stufenprozesse im Lohnwerk ausführen. Gerätschaften, Handwerkszeug, Hilfsstoffe lieferte

1 Bezeugt für England : Green, Town Life 2, 40; Frankreich: Fagniez, Etudes, p. 184; für Strafshurg: A. Herzog, a. a. 0. S. 60 f.

246 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

auch für die Textilindustrie teilweise der Nachbar Handwerker auf Bestellung (wer fertigte "Webstühle an? ich habe in den Quellen nie etwas gefunden: der Stellmacher? der Tischler?); teilweise wurden sie auf Speziaknärkten (Krapp ! Waid !), teil¬ weise auf den Jahrmärkten (ausländische Farbstoffe !) eingekauft.

Zusammenfassend läßt sich sagen: daß die Beschaffung der Produktionsmittel in derselben Weise wie heute sich abspielte mit, folgenden Abweichungen vom heutigen Verfahren: der Ein¬ kauf der fertigen Gegenstände erfolgte immer in Form des Loko- kaufs und zwar fast regelmäßig in den dazu bestimmten öffent¬ lichen Kaufstätten (Kaufhäusern, Hallen, Marktbuden). In fast allen Städten ist der Absatz direkt vom Händler (oder Produ¬ zenten) an den Käufer mit Umgehung der öffentlichen Kauf¬ stätten verboten. Und das Verbot wurde durchgeführt, wie zahlreiche Gerichtsverhandlungen es erweisen. Es fehlte so gut wie ganz der Kauf nach Probe, also der Lieferungshandel, der eich im wesentlichen auf schriftlichem Wege abspielt.

247

Sechzehntes Kapitel

Die Organisation der gewerblichen Arbeit

I. Die Verknüpfung der Produzenten mit dem

Markte

Wenn wir jetzt das gewerbliche Leben der mittelalterlichen Stadt vom Standpunkt des absetzenden Produzenten aus be¬ trachten wollen, so werden wir in unmittelbarer Anknüpfung an die bisher gewonnene Einsicht zuvörderst die verschie&- denen gewerblichen Arbeiter klassifizieren nach der Art und Weise, wie sie ihre Erzeugnisse oder ihre Dienste an den Mann (oder an die Frau) bringen. Wir haben diese Arten alle schon kennen gelernt und brauchen jetzt nur noch einmal ausdrücklich festzustellen: Es gibt in den mittelalterlichen Städten:

1. Gewerbliche Produzenten, die im Hause des Konsumenten arbeiten ;

2. Gewerbliche Produzenten, die für letzte Konsumenten lohn¬ wirken und dann in großem Umfange solche, die für andere Produzenten lohnwirken: Färber, Walker usw.;

3. Gewerbliche Produzenten, die für den lokalen Markt Güter produzieren, sei es wiederum auf Bestellung, sei es auf Vorrat;

4. Gewerbliche Produzenten, die für einen großen (interlokalen) Markt produzieren: „Exportgewerbe“.

Mit einem AVorte: alle Arten, wie der Produzent mit dem Markte überhaupt verknüpft sein kann, kommen in den Städten des Mittelalters vor.

H. Der Standort der Gewerbe

Aus der vorhergehenden Aufzählung der Typen gewerblicher Produzenten ist ohne weiteres zu entnehmen, daß es auch im Mittelalter nicht etwa bloß ein auf den lokalen Markt beschränktes Gewerbe 1 gab, daß vielmehr die eine Stadt für die andere produ¬ zierte. Es fragt sich : nach welchen Gesetzen bestimmte sich

1 Ubiquitäten im Sinne von Alfred Weber, Der Standort der Gewerbe. 1. Teil 1912.

248 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

in jenen Zeiten der Standort derjenigen Gewerbe, die für einen großen Markt produzierten. Hierüber ist meines "Wissens noch niemals eine Untersuchung angestellt worden und es steht hier abermals für den Wirtschaftshistoriker (mit etwas Geist) eine dankenswerte Aufgabe auf.

Was sich jetzt schon mit einiger Sicherheit aussagen läßt, ist dieses:

1. Hie lokale Spezialisation war für zahlreiche, wich¬ tige Gewerbe im Mittelalter sehr groß, wahrscheinlich größer als heute. Das heißt : bestimmte Erzeugnisse wurden nur in dieser, andere nur in jener Stadt hergestellt.

In dem bekannten Handbuch eines englischen Hechtsgelehrten aus der Mitte des 13. Jahrhunderts1 finden wir als Städte mit Tuchfabrikation verzeichnet: Lincoln für Scharlachtuch, Bligh für Wollendecken, Beverley für braunes Tuch (burnet), Colchester für grobes Tuch (russet) in den Parlamentsakten aus dem Jahre 1301 sind acht Weber aus dieser Stadt aufgeführt. Leinen¬ produktion wird verzeichnet in Shaftesbury, Lewes und Aylesham, Seilerwaren in Warwich und Bridpart; dieses wird auch wegen seiner Hanfwaren gerühmt. Feines Brot liefern Wycombes, Hungerford und St. Albans, Messer Maastead, Nadeln Wilton, Rasirmesser Leicester. Banbury ist durch seine Getränke be¬ kannt; Hitchin durch seinen Met und Ely durch sein Ale. Gloucester ist der Hauptplatz für Eisen, Bristol für Leder, Coventry für Seife, Doncaster für Sattelgurte, Chester und Shrewsbury für Häute und Pelze, Corfe für Marmor, Cornwall für Zinn. Grimsby liefert Stockfische, Eye Weißlinge, Yarmouth Heringe, Berwick Lachs, Eipon war ein Pferdemarkt auch noch im 16. Jahrhundert, Handschuhe kaufte man in Haverhill, Ochsen in Nottingham, und Sattelzeug in Northampton.

Die lokale Spezialisation war besonders groß in der Textil¬ industrie, aber auch in anderen Exportgewerben, wie z. B. der Waffenindustrie.

Yon einer gleichmäßigen Beherrschung aller Zweige jener war keine Eede ; das Gegenteil traf zu : hier wurde besser blau, dort besser rot gefärbt; hier verstand man sich besser auf die Zubereitung von Lodentuchen, dort von Leinwand2 3.

Schon früh hatte sich beispielsweise die Schürlitzweberei

1 Siehe die Auszüge bei Th. Rogers, Six Centuries etc. Deutsche

Übers. S. 75 f.

3 Siehe z. B. A. Schulte, Gesch. d. Handels 1, 112.

Sechzehntes Kapitel: Die Organisation der gewerblichen Arbeit 249

spezialisiert : in Ulm wurde rot, in Augsburg schwarz gefärbt; Köln war neben grün und schwarz namentlich für den blau und weiß gewürfelten „Cölsch“ berühmt; der Baseler Vogelschürlitz war blau oder blau und weiß 1 usw.

Noch viel länger als die "Woll- oder Leinenindustrie war die Seidenindustrie auf einzelne Städte beschränkt geblieben. Es dauert Jahrhunderte, ehe sie selbst in Italien von Lucca auf Genua, Mailand und andere Städte sich ausbreitete.

Wie sehr das zweite große Exportgewerbe des Mittelalters die Metallindustrie, namentlich in der Waffenbranche die Spezialität entwickelte, ist bekannt. Die Klingen von Toledo, Brescia und Passau , die Panzer und Harnische von Mailand, Innsbruck, Nürnberg hatten allerorts ein Monopol2 3 * * * *.

Um uns eine richtige Vorstellung von der Bodenständig¬ keit des mittelalterlichen Gewerbewesens zu machen, müssen wir es etwa mit der modernen agrarischen Spezialitäten¬ produktion vergleichen: Die Landwirtschaft hat dank ihrer Abhängigkeit von den natürlichen Bedingungen des Produktions¬ ortes noch heute, namentlich für Delikatessen, eine weitgetriebene Lokalisierung ihrer Erzeugnisse bewahrt. Es gibt für Gourmets Spezialkarten, auf denen die berühmtesten Produktionsorte für die Bestandteile einer guten Küche verzeichnet sind8. Ähnlich würde eine gewerbegeographische Karte des Mittelalters aus- scliauen.

Bekannt ist die Vorliebe des Mittelalters, den verschiedenen Städten je ein bestimmtes Beiwort zu verleihen, oder sie sonst durch eine bestimmte Eigenart zu charakterisieren, das sie von¬ einander scheiden sollte. Da finden wir häufig die Herstellung von gewerblichen Spezialitäten als Unterscheidungsmerkmal in Anwendung gebracht.

Es muß jedoch darauf aufmerksam gemacht werden, daß die örtliche Verteilung der Gewerbe im Mittelalter auch dort, wo

1 Geering S. 308. Einen guten Überblick über die weitgehende

Entwicklung von Spezialitäten im Tuchergewerbe gibt das in Eiandern im 12. Jahrhundert entstandene Gedicht Conflictus ovis et lini von 169 212, abgedruckt in M. Haupts Zeitschr. f. deutsches Altertum 11 (1859), 220 f.

3 Vgl. mit den bereits genannten Werken W. Böheims etwa

noch H. v. Duyse, Über den Handel mit Hiebwaffen in verschiedenen

Epochen in der Zeitschr. f. histor. Waffenkunde 1, 65 ff.

3 Z. B. Chatillon-Plessis,La vie ä table ä la fin du XIX. siede

(1894), p. 225.

250 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

sie spezialisiert war, sich in einem Punkte wesentlich von der heutigen Anordnung der einzelnen Gewerbezweige unterscheidet : die Herstellung eines Spezialartikels erfolgte nur in einer Stadt, dafür aber erfolgte sie auch ganz, von Anfang bis zu Ende in dieser Stadt. "Während heute die Teilprozesse der Produktion häufig an verschiedene Orte verlegt sind, spielen sie sich im Mittelalter häufiger an einem und demselben Orte ab. Beispiele : Wenn eine Stadt berühmt wegen ihrer Klingen war, so bezog sie nicht etwa die vorbereiteten Stahlstäbe und die Griffe von zwei anderen Städten, sondern sie erzeugte sie selbst. Während heute eine Weberei aus verschiedenen Orten ihre Garne bezieht, wurden im Mittelalter alle für die Erzeugung von Stoffen nötigen Verrichtungen von dem Rohstoffe bis zum fertigen Gewebe in einer und derselben Stadt vorgenommen: man denke an Weber¬ städte wie Florenz ! Zuweilen schreiben die Zunftstatuten diese Vereinigung sämtlicher Stufenprozesse an demselben Orte vor, so die der Leineweber in Paris. Keine Tischlerei wird heute ihre Bretter an Ort und Stelle kaufen, sie bezieht sie von der Sägemühle an der fernen Grenze usw.

Wohlgemerkt: Es handelt sich hier nicht etwa um eine ver¬ schiedene Spezialisierung des Arbeitsprozesses selbst. Diese kann vielmehr in derselben Weise wie heute gestaltet sein; das heißt auch in horizontaler Richtung die Berufstätigkeiten trennen: das Schlagen, Strecken, Spinnen, Weben der Wolle, das Scheren, Färben, Appretieren des Tuches kann genau so wie heute (oder mehr wie heute) den Inhalt besonderer Berufe bilden ; was allein den Unterschied zwischen einst und jetzt macht, ist die (häufig, nicht immer!) verschiedene räumliche Anordnung der ver¬ schiedenen Berufstätigkeiten.

2. Die Gründe für diese starke und eigenartige Spezialisierung der gewerblichen Produktion waren zum Teil dieselben, die heute noch den Standort der Gewerbe bestimmen. Zum sehr beträcht¬ lichen anderen Teil waren es im Mittelalter eigenartige Gründe, die sich hier wirksam erwiesen: in einer Zeit, in der das em¬ pirische Verfahren allein herrschte, mußte nämlich eine bestimmte Kunstfertigkeit (zu weben, zu färben, zu schmelzen, zu ziselieren usw.) weit länger, ja unter Umständen dauernd, auf einen kleinen Kreis eingeweihter Produzenten beschränkt bleiben, weil die Ausübung dieser Fertigkeit das „Geheimnis“ dieses Kreises blieb, jedenfalls nur sehr schwer von anderen erlernt werden konnte, die nicht an Ort und Stelle das Gewerbe austibten. Nur durch

Sechzehntes Kapitel: Die Organisation der gewerblichen Arbeit 251

die Wanderung der Meister konnte die Kunst von einem Ort auf den anderen übertragen werden. (Während beute die techno¬ logische Wissenschaft allgegenwärtig ist.)

In welchem quantitativen Verhältnis die gewerbliche Pro¬ duktion für den lokalen Markt zu der für einen interurbanen Markt gestanden habe, werden wir genau ziffernmäßig für das Mittelalter voraussichtlich ebensowenig je feststellen können, wie iüi die Gegenwart. Daß die lokale Gütererzeugung eine ver¬ hältnismäßig größere Bedeutung gehabt habe als heute, darf nach allem, was wir über die wirtschaftlichen Zustände des Mittelalters wissen, nicht in Zweifel gezogen werden. Manche Gewerbe, die heutigentags sich nur an einzelnen Orten finden, gab es im Mittelalter in fast jeder Stadt, so zum Beispiel (und vor allem!) die Weberei. Will man mit dem Ausdruck „ge¬ schlossene Stadtwirtschaft“ dieses Überwiegen einer räumlich begrenzten Bedarfsdeckung andeuten, so ist gegen seinen Ge¬ brauch nichts einzuwenden. Aber Vorsicht!

III. Die Zahl der gewerblichen Produzenten und ihre Leistungsfähigkeit

Über den ziffernmäßigen Anteil der gewerblichen Arbeiter an der Gesamtbevölkerung oder auch nur der städtischen Bevölkerung wissen wir sehr wenig. Man hat behauptet, daß die Gewerbe im engeren Sinne in den Städten eher einen breiteren Baum eingenommen hätten als heute. Aber ob die wenigen Ermittlungen, die wir besitzen, typisch sind, vermögen wir nicht zu sagen und Erwägungen allgemeiner Natur lassen sich zugunsten einer be¬ stimmten Annahme kaum anstellen. Bücher nimmt für das Ende des 14. Jahrhunderts 50 60% als den Anteil des Hand¬ werkerstandes an der (städtischen!) Bevölkerung an1. Für die Gewerbegruppen H IX (also die Gewerbe im engeren Sinne) rechnet er für Frankfurt im Jahre 1387 51,4% gegen 36,7 % im Jahre 1875 heraus. Dagegen kommt Eulenburg2 zu wesentlich anderen Ergebnissen: Die gewerbliche Bevölkerung Heidelbergs habe nur 46,6% im Jahre 1588 gegen 47,7% im Jahre 1882 von der Gesamtbevölkerung ausgemacht.

1 K. Bücher, Die Bevölkerung von Frankfurt a. M. im 14. und 15. Jahrhundert. 1, 148 ff.

2 Eulenburg, Berufs- und Gewerbestatistik Heidelbergs usw., a. a. 0. S. 112.

252 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

Einen noch, viel geringeren Anteil an der Gesamtbevölkerung haben aber die gewerblichen Produzenten wohl in den großen Städten des Mittelalters gebildet. In Paris betrug (nach den Steuerlisten) die Zahl der „Handwerker“ (artisans ; zu denen aber alle „Detailhändler“ gezählt sind) im Jahre 1292 4159, im Jahre .1300 5844 b In diesen Ziffern stecken aber auch zum Teil die Gehilfen. Wir werden sie demnach höchstens mit 4 multiplizieren dürfen, um die gewerbliche Bevölkerung zu ermitteln ; diese hätte also in den beiden Jahren rund je 17 000 und 23000 Köpfe ge¬ zählt ; das würden bei meiner Schätzung der Einwohnerzahl von Paris etwa 25—30% sein. Legt man die üblichen Schätzungen der Einwohnerzahl (100 000 200000) zugrunde, so würden nur 10 20% herauskommen.

Sicher dagegen ist wiederum zweierlei:

1. Der Anteil der Gewerbetreibenden im engeren Sinne an der Gesamtbevölkerung ist im Mittelalter ganz erheblich ge¬ ringer als etwa heute: da ja die große Mehrzahl der gewerb¬ lichen Produzenten in den Städten saß und diese im höchsten Falle 10% der Landesbevölkerung umschlossen (Rogers sehe Schätzung) ;

2. Die Anzahl der gewerblichen Produzenten war während des ganzen Mittelalters verhältnismäßig, das heißt, im Verhältnis zu der Nachfrage nach ihren Leistungen knapp. Ja zu be¬ stimmten Zeiten herrschte geradezu ein Mangel an Handwerkern. Im 14. und in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts sehen wir (in Deutschland) häufig ganze Städte sich bemühen, einen oder einige Färber zu erhalten, so Brietzen 1355, Eßlingen 1401, Leipzig 14691 2. In Wien fehlt es im 14. Jahrhundert „überall an Handwerkern“ 3.

Der beste Beweis für die Knappheit an Handwerkern sind die aller früheren Zeit eigenen Begünstigungen durch Privilegs aller Art, wodurch Fürsten und Städte fremde Handwerker an ihr Gebiet zu fesseln versuchten.

Auch die Preismaxima, die man um jene Zeit vielerorts für Handwerksarbeit erließ4, bestätigen diese Kargheit gewerblicher Arbeit.

1 Siehe die Berechnungen bei G. Fagniez, Etudes p. 6 ff .

2 Schmolle r, Tücher- und Weberzunft, S. 92.

3 F. Eulenburg, Das Wiener Zunftwesen in der Zeitschrift f. Soz. u. W.G. 1, 286.

4 Siehe für Frankreich Levasseur l 2, 500; für Italien Kowa-

Sechzehntes Kapitel: Die Organisation der gewerblichen Arbeit 253

Fragen wir nun aber, welches Zusammentreffen von Umständen nötig war, um einen solchen Zustand herbeizuführen, so mögen wir etwa folgende als die hauptsächlich ausschlaggebenden anführen :

Zunächst ist die Schwierigkeit zu bedenken, den Nachwuchs technisch heranzubilden. Solange es dazu eines langen Stufen¬ ganges, einer regelrechten Lehr- und Lernzeit, der persönlichen, gewissenhaften Unterweisung durch den Meister bedarf, wie das empirische Verfahren es erheischt, solange ist die Züchtung einer Nachkommenschaft gewerblicher Produzenten von Natur in enge Schranken gebannt. Daß ebenfalls die empirische Technik die Übertragung eines Kunstverfahrens auf andere Gruppen erschwert, wurde in anderem Zusammenhänge schon fest¬ gestellt.

Sodann aber und vor allem werden wir zur Erklärung die Eigenart der Bevölkerungsverhältnisse im Mittelalter heranziehen müssen. Diese bestand:

1. in einer langsamen Vermehrung der Bevölkerung über¬ haupt ;

2. in einer verhältnismäßig niedrigen Rate der agrarischen! Uberschußbevölkeruno'.

o

Wofür im folgenden, soweit die Dürftigkeit des Materials es zirläßt, einige Angaben zu machen sind.

So spärlich auch die bevölkerungsstatistischen Quellen für das Mittelalter fließen * 1, so läßt sich doch folgendes mit einiger Sicherheit feststellen.

In Deutschland müssen wir eine langsame Zunahme der Bevölkerung bis in das 13. Jahrhundert annehmen. Die jährliche Zuwachsrate betrug in den von Lamprecht untersuchten Ge¬ bietsteilen 0,5% für 1100—1150, 0,4% 1150—1200, 0,35% für 1200 1237 2. Dagegen ist dem Urteil Sch m o 1 1 e r s zuzustimmen, „daß von einer allgemeinen Zunahme der Bevölkerung von 1250 bis 1450 kaum die Rede sein kann“ 3.

lewsky in der Zeitschrift für Soz. u. W.G. 3, 414 ff. ; für England Cunningham 1, 306 f.

1 Über die Dürftigkeit der Quellen Inama-Sternegg, Art. „Bevölkerung“ im H. St. 2 2.

2 Lamprecht, DWL. 1, 164.

8 Schmoller, Die historische Entwickl. des Fleischkonsums usw. in Deutschland in der Zeitschr. f. d. ges. Staatswiss. 27 (1871), 299.

254 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft Dasselbe Bild gewähren andere Länder:

in England Zunahme zwischen Domesday Book und Hundred Rolls, dann Stillstand bis 1500 1 ;

in Frankreich Anwachsen bis ins 14. Jahrhundert, dann Stagnation bzw. Abnahme bis ins 16. Jahrhundert2 3;

in Belgien starke Bevölkerungszunahme im 12. und 13. Jahr¬ hundert8, die offenbar im 14. Jahrhundert nachläßt4.

Angesichts der Daseinsbedingungen der mittelalterlichen Be¬ völkerung werden uns diese Feststellungen nicht in Erstaunen setzen. Denn die positiven „checks to population“ waren, wie wir wissen, so mächtig, daß auch die höchsten Geburtenziffern die entstehenden Lücken nicht zu stopfen vermochten. Es braucht nur an bekannte Dinge erinnert zu werden:

1. den Mangel an aller Hygiene in Stadt und Land5;

2. die Häufigkeit und Blutigkeit der Kriege ; vor allem aber

3. die beiden Geißeln des Mittelalters : Hungersnöte und Seuchen, die gern in Gemeinschaft sich einstellten6.

Alle Länder werden gleichmäßig von ihnen heimgesucht 7 und

1 Cunningham, Growth 1, 170. W. Denton, England in the XV. cent. (1888), p. 128 131. Th. Rogers, The industrial and commercial history of England (1898), p. 46 f.

2 Levasseur, La Population fran^aise 1 (1889), 140 ff.

3 E. de Borchgrave, Hist, des colonies beiges du Nord de l’Allemagne (1865), S. 37.

4 V ander hindere S. 135 ff.

6 Über die große Kindersterblichkeit im Mittelalter : Bücher, Bevölkerung usw., S. 45 f.

6 „Auf die Not folgen, man kann fast sagen, immer große Volks¬ krankheiten; mortalitas und pestilentia sind untrennbare Begleiter einer jeden Hungersnot.“ F. C urschmann, Hungersnöte im Mittel- alter (1900), S. 60.

7 Für die Hungersnöte siehe das in Anm. 6 genannte Buch, das als 6. Band der Leipziger Studien aus dem Gebiete der Geschichte erschienen ist. Damit vgl.: Denton, 1. c. , S. 91 ff. : „famine .. . was so common in England, that all attemps to specify the years

of scarcity would only mislead“ (92), das unten zit. Buch von Creighton, p. 15 52 (gute Darstellung für die Zeit von 679 bis 1322), und Levasseur (l 2, 523), der für Frankreich im 14. Jahr¬ hundert 19, im 15. Jahrhundert 16 Hungerjahre annimmt. Über die Pest vgl. mit dem bekannten Werk von Hecker-Hirsch, Die großen Volkskrankheiten des Mittelalters (1865), für Deutschland: R. Höniger, Der schwarze Tod in Deutschland (1882) ; K. L e c hn e r , Das große Sterben in Deutschland (1884) ; für Frankreich : Levasseur, Classes ouvrieres, p. 521 ff. ; Pop. franc. 1, 176 und die daselbst zit.

Sechzehntes Kapitel: Die Organisation der gewerblichen Arbeit 255

überall wirken sie in derselben verheerenden Weise. Das 14. Jahr¬ hundert hat am meisten zu leiden : es ist das Jahrhundert der Pest xat’ i;o)djv. *

Man mag darüber streiten, bis zu welchem Grade die An¬ gaben der Zeitgenossen über die Höhe der Sterbeziffern Glauben verdienen ob zum Beispiel in England ein Drittel oder die Hälfte der Bevölkerung oder noch mehr der Pest zum Opfer gefallen sind 1 , darüber kann kein Zweifel herrschen, daß die \ erwüstungen hinreichend waren, um die Bevölkerungszunahme lange aufzuhalten.

Die agrarische Überschußbevölkerung in geringen Grenzen zu halten, wirkte dann noch eine Reihe anderer Umstände mit, namentlich die während des ganzen Mittelalters nicht geringer werdende Möglichkeit, sich auf eigener Scholle seßhaft zu machen, wenn auch nur als Hintersasse eines Grundherrn.

In Deutschland bedeutet allein die Rückeroberung1 des Ostens durch das Deutschtum eine ungeheure Expansion des vorhandenen Siedlungsgebietes. Aber auch in anderen Ländern schwindet die terra libera erst im späteren Verlauf des Mittel¬ alters dahin. Von Frankreich heißt es für die Zeit von 1200 1350: „chaque jour signale de nouvelles appropriations du sol, de nouvelles conquetes du laboureur2“. In dem Eng¬ land des 14. Jahrhunderts wird, wie in Deutschland, das Siedlungsgebiet künstlich durch Auflösung der Gutswirtschaften ausgeweitet3. Ein verhältnismäßig dicht besiedeltes Gebiet wie

Literatur; für Italien: das große Werk von A. Corradi, Annali delle Epidemie, P. I (1865) bis 1500, umfaßt auch die Hungersnöte, und M. Kowalewsky in der Zeitschr. f. Soz. u. W.G. 3, 406; für die Niederlande, insbesondere für Belgien: das ausführliche Werk von L. Torfs, Fastes des calamites publiques survenues dans les Pays- Bas et particulierement en Belgique etc. : Epidemies Famines Inondations (1859); für England: Ch. Creighton, A History of / £ Epidemies in Britain from A. D. 664 to the extinction of Plague (1666), 1891. In England hat das Problem eine besonders eingehende Behandlung erfahren. Die wichtigsten Schriften sind zusammengestellt und besprochen bei C h. P e t i t - D u t aillis , Introduction histor., zu: A. Reville, Le soulevement des travailleurs d’Angleterre en 1381 in den Mem. et doc. publ. par la Soc. de l’6cole des chartes 2 (1898), XXX ff.

1 Rogers nimmt 1/s, Cunningham V 2, Denton noch mehr an.

2 D’Avenel 1, 273 ff.

3 Rogers, Hist, of Agriculture and Prices in England 1 (1866), 24 ff. Seebohm, Engl. Vill. Comra. (1883), 33 f. 54.

256 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

Belgien sendet seine Überschußbevölkerung in die benach¬ barten, dünnbevölkerten Länder Deutschland1 und England2. Und dann die Kreuzzüge und was dazu gehört!

Ein letzter Grund für das geringe Angebot gewerblicher Er¬ zeugnisse liegt darin, daß die schon wenigen Produzenten auch noch wenig zu produzieren vermochten, weil der Produktivitäts¬ grad der gewerblichen Technik während jener Jahrhunderte als ungewöhnlich niedrig wird angenommen werden müssen.

Da wir leider keinen Gradmesser besitzen, tun die Höhe der Produktivität der Arbeit zu messen, so sind wir auf Schlüsse aus Symptomen angewiesen. Solche Symptome eines niedrigen Produktivitätsgrades sind folgende:

1. Die Höhe der Preise zahlreicher gewerblicher Er¬ zeugnisse

So' unzweifelhaft richtig diese Behauptung ist, so schwer ist es, sie ziffernmäßig zu belegen, weil wir fast nie die völlige Gleichheit der Qualität gewerblicher Erzeugnisse , deren Preise wir vergleichen wollen , feststellen können. Mit annähernder Sicherheit ist das z. B. bei Eisen möglich: eine Tonne Eisen kostete im 14. Jahrhundert in England 9 jj^, das sind in heutiger Währung 27 j^, während die Tonne besten deutschen Gießereiroheisens ab Werk in Düsseldorf 1918 = 77,5 Mk. kostete. Th. Rogers, Ind. and comm. hist. 10. Dagegen ist die Bezeichnung „ein Hut“, „ein Paar Stiefeln“, „ein Mantel“ ganz unbestimmt; selbst bei Geweben kann der Unterschied der Qualität sehr groß sein. Wir können aber mit Sicherheit feststellen, daß die ge¬ werblichen Erzeugnisse, wie z. B. Stoffe, um so teurer waren, je mehr Arbeit, je weniger Material in ihnen steckte, und daß die Differenz zwischen den höchsten und niedrigsten Preisen viel größer gewesen ist als heute. Beweis für die geringere Produktivität und geringere technische Leistungsfähigkeit der gewerblichen Arbeit! Cibrario teilt Preise für Stoffe aus der Zeit von 1261 1400 mit, deren Preis von 1:140 auseinandergeht; Uzzano (15. Jahrhundert) gibt für das teuerste Tuch einen 35 40 mal so hohen Preis wie für das billigste an. Ygl. im übrigen Roscher, System Bd. I, § 134, und die zahl¬ reichen Preisangaben gerade für gewerbliche Erzeugnisse bei D’Avenel, Hist. 3, 339 ff., und Yol. IV.

2. die Menge der beschäftigten Arbeiter: inWesei wurden im Jahre 1428 5140 Stück Tuch von 342 Webermeistern hergestellt3. Rechnet man auf 1 Webermeister (bzw. Weber

1 Siehe das S. 254 Anm. 3 zit. Werk von Borchgrave.

3 W. Cunn ingham, Die Einwanderung von Ausländern nach England im 12. Jahrhundert in der Zeitschr. f. Soz. u. W.G. 3, 177 ff.

3 Mitgeteilt bei E. Liesegang, Niederrh. Städteleben (1897), S. 640. 680.

Sechzehntes Kapitel: Die Organisation der gewerblichen Arbeit 257

überhaupt nach Schmolle r) auch nur 2 andere bei der Tuch¬ bereitung beschäftigte Personen (was sicher viel zu niedrig ge¬ griffen ist), so würden für die Herstellung jener 5140 Stück (das ist die heutige Monatsproduktion einer großen Fabrik) 14)00 Per¬ sonen benötigt sein, reichlich das zwanzigfache der jetzigen Zahl. Diese . Ziffern scheinen typisch für das Mittelalter gewesen zu sein: inBeauvais geben die Webermeister an, daß sie 400 Köpfe stark seien und wöchentlich „bis 100 Stück Tuch“ gemacht hätten1.

°" c^e Länge der Produktionsdauer: ein gutes Schloß zu fertigen, nahm noch Ende des 15. Jahrhunderts 14 Tage in Anspiuch2. TV o es sich um kunstvolle Leistungen handelte, lechnete man nach Jahren. Das ganze Geheimnis der archi¬ tektonischen und kunstgewerblichen Leistungen des Mittelalters, die uns oft in Erstaunen setzen, liegt in der ungeheuren Länge der Herstellungsperioden. Bekannt sind die Jahrhunderte langen Bauzeiten der Stadthäuser und Kirchen. Aber auch die Her¬ stellung der Mobilien nahm oft Jahre in Anspruch: man lese nur CL© Namenlisten der Verfertiger von Chorstühlen, Intarsien, Schränken usw. durch, die wir in großer Anzahl besitzen, um zu sehen, wie Generationen sich ablösten bei der Herstellung irgend hervorragender Gegenstände3. An den Altären von S. Jacob zu Pistoja und in der Taufkirche zu Florenz sind länger als 150 Jahre die ersten Goldschmiede beschäftigt; an den Pracht¬ toren, die wert waren, den Eingang zum Paradiese zu verschließen, arbeitete Ghiberti 40 Jahre4.

IV. Die Wirtschaftsform

War nun die Organisation der gewerblichen Arbeit in den Städten des Mittelalters eine handwerksmäßige? War die Idee des Handwerks verwirklicht? Hatte der zünftige Geist sich in den Gebilden des Lebens verkörpert?

Darauf wird sich voraussichtlich niemals eine ganz bestimmte Antwort geben lassen. Wir werden immer im wesentlichen auf eine Schlußfolgerung aus gewissen Anzeichen angewiesen sein, und je nach dem Material, das dem einzelnen bekannt ist, ie

1 Urk. vom 19. April 1399 bei Fagniez, Documenta 2 (1900),

Nr. 70. V

2 Boissonade, Org. du travail en Poitou 1, 370.

3 E. Foerster, Gesch. der italienischen Kunst 3 (1872), 130 f

4 (1875), 69 f.

4 G. Semper, Der Stil 2 2 (1879), 514.

Sombart, Der moderne Kapitalismus. I.

17

258 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

nach der höheren oder geringeren Wertung, die er diesem oder jenem Symptom zuteil werden läßt, wird das Urteil verschieden sich gestalten. Sehen wir zu, was für Beweisstücke uns zur Ver¬ fügung stehen und was wir aus ihnen schließen dürfen.

Zuvörderst: daß von dem Ideale einer vollkommenen Hand- werkerkaftigkeit des gewerblichen Lebens , wie es der Zunft¬ ordnung zugrundelag, die Wirklichkeit sich in sehr wesentlichen Punkten und oft recht weit entfernte : darüber sollte kein Zweifel herrschen. Das eine ist einmal ganz sicher:

Ihr oberstes Ziel: das gesamte Gebiet des gewerblichen Lebens zu umspannen, haben die Zünfte wohl nirgends im Mittel- alter erreicht. Was wir von dem Herrschaftsbereich der Zünfte in deü verschiedenen Städten kennen, bestätigt die Richtigkeit dessen, was Bücher über die Verhältnisse in Frankfurt a. M. behauptet 1 :

„Immer hat sich ein Teil der industriellen Produktion auf dem Boden des freien Betriebes vollzogen, so große Mühe sich auch in späteren Jahrhunderten die städtischen Regierungen, oft auch die Beteiligten selbst gegeben haben, die anderwärts bewährte Organisation auch auf diese Kreise der Arbeit aus¬ zudehnen. Gewöhnlich sind es diejenigen Produzenten, für deren Erzeugnisse nie ein ausgedehnter Bedarf vorhanden gewesen ist; oft sind es aber auch solche, welche später zu großer Bedeutung gelangten und diese noch heute behaupten (z. B. die Schreiner, Bierbrauer, Sattler, Goldschmiede), während andere (in Frankfurt zum Beispiel die Posamentierer, Kattunglätter, Barchentweber, Knopfmacher) nach kurzer oder längerer Blüte wieder von der Bildfläche verschwunden sind. Für die Zeit des 14. Jahr¬ hunderts, in welcher der Rat mit der Erteilung des Rechtes, Zünfte zu bilden und Trinkstuben zu halten, sehr sparsam um¬ ging, stand noch ein ziemlich bedeutender Teil der gewerbe¬ treibenden Bevölkerung der Stadt außerhalb der öffentlich an¬ erkannten „Handwerke“, wenn auch nicht außerhalb jeder Organi¬ sation“ usw.

Häufig beobachten wir, wie Gegentendenzen anderer Kreise die Interessenrichtung der Zünfte kreuzen : z. B. landesherrlichen Ursprung, wie schon in früher Zeit in Wien und ähnliches. So daß formal zunächst wohl nirgends das Zunftideal der Zunft¬ zwang voll verwirklicht ist.

1 Bücher, Bevölkerung 1, 116 f.

Sechzehntes Kapitel: Die Organisation der gewerblichen Arbeit 259

Aber was mich das viel wichtigere dünkt : auch materiell be¬ obachten wir von .den Idealen der handwerksmäßigen Organi¬ sation wesentliche Abweichungen. Vor allem kann keine Rede davon sein, daß die „Nahrung“, die dem einzelnen Ilufnerhand- werker zugewiesen wurde oder im Laufe der Entwicklung zuwuchs, etwa m einer völlig gleich großen Produktionssphäre oder einem völlig gleich hohen Einkommen bestanden hätte.

^ Die Vorstellung von einer Masse ökonomisch gleichgestellter Gewerbetreibender kann, soviel sich erkennen läßt, für keine Zeit, in der überhaupt das Handwerk schon zu größerer Ent¬ faltung gekommen war , auf Richtigkeit Anspruch machen. Zu aden Zeiten hat es Handwerke gegeben, die andere im ganzen um ein Vielfaches an Wohlhabenheit übertrafen, und innerhalb des einzelnen Handwerks Meister, die ihre Kollegen an Reichtum, wenn das Wort hier anwendbar ist, turmhoch überragten1. Einige. Ziffern werden zum Beweise dieser Tatsache genügen, v eil sie tiir ganz verschiedene Zeiten und ganz verschiedene 0rte ©in ganz übereinstimmendes Bild einer starken Vermögens- differenzierung unter den Handwerkern ergeben.

Uber die Einkommensverhältnisse der Pariser Handwerker im 13. Jahrhundert sind wir gut unterrichtet durch das Registre de la taille J292). Danach gab es einen Filzhutmacher mit 19000 frc., einen Tuchmacher mit 9000 frc. Einkommen, einige andere Handwerker mit einem Einkommen von mehr als 5000 frc. und über 100 mit einem solchen von mehr als 1000 frc., während die große Mehrzahl der Handwerker weniger als 250 frc. Ein¬ kommen bezog. Im einzelnen ergibt sich das folgende Ziffernbild :

Einkommen von:

Handwerker :

mehr als 10000 frc. 1

5000—10000 0

1000- 5 000 121

250— 1000 375

50— 250 821.

Ganz ähnlich ist das Bild, das uns die Baseler Hand¬ werker im 15. Jahrhundert gewähren2. Hier haben (1429) ein Vermögen von

1 „C’est que mille inegalites naturelles empechaient l’uniformitö, k laquelle tendaient les reglements.“ G. Fagniez, Etudes, p. 120.

2 G. Schönberg, Finanzverhältnisse der Stadt Basel im 14. und 15. Jahrhundert (1879), S. 180/81.

260 Vierter Abschnitt : Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

weniger von 50 300 bis über

als 50 fl. bis 300 fl. 1000 fl. 1000 fl.

Schmiede

42

86

36

8

Metzger ........

34

35

18

10

Bäcker .

19

31

14

6

Schneider und Kürschner .

65

47

9

2

Zimmerleute und Maurer .

86

100

28

5

Scherer?, Maler und Sattler

24

34

16

2

Leinweber und Weber . .

53

32

3

'X

488

416

131

34

Folgende Vermögensunterschiede

weisen die

Handwerker

Heidelbergs im 15. Ja

hr hundert auf.

Es entfielen 1

Gulden Vermögen auf den Kopf in der

Metzgerzunft

. . 199

Bäckerzunfb

. . 167

Schneiderzunft . .

. . 119

Schuhmacherzunft .

. . 113

Schmiedezunft . .

. . 100

Weberzunft

. . 62

Und auch, innerhalb der einzelnen Zünfte herrschte keine Gleichheit des Besitzes, sondern recht große Verschiedenheit; wiederum bilden die mittleren Einkommen nicht durchweg die Regel, sondern nur einige erheben sich über den Durchschnitt. Unter den 91 Schmieden Heidelbergs gehören im 15. Jahrhundert 9 zu den „großen“ Vermögen und 58 zu den „kleinen“ usw. 2. "Welche grellen Vermögensunterschiede zwischen den einzelnen Meistern desselben Handwerks im Mittelalter bestanden, zeigt auch folgende Gegenüberstellung. Von den Wollen webern in Frankfurt a. M. im 14. Jahrhundert hatten 11 das Recht, 36 Stück Tuch, 22 je 24 Stück, 10 je 18 Stück, 8 je 12 Stück, 20 je 10 Stück, 13 je 8 Stück, 49 nur 4 Stück Tuch auf der Messe abzuliefern3. Es gab also auch in der Produktions¬ ausdehnung Differenzen wie 1 : 9.

1 P. Eulenburg, Zur Bevölkerungs- und Vermögensstatistik des 15. Jahrhunderts (Zeitschr. f. Sozial- u. W.G. 3, 457): „Es findet sich durchaus nicht bestätigt, daß damals ein mittlerer Besitz das Normale gebildet, . . . wir beobachten vielmehr unter der städtischen Bevölkerung die größten (?) Gegensätze von reich und arm“ (S. 459).

2 Eulenburg, ebenda S. 460.

8 Iv. Bücher, Bevölkerung 1, S. 91.

Sechzehntes Kapitel: Die Organisation der gewerblichen Arbeit 261

Fast noch größer scheinen die Abstände in der englischen Tuchmacherei gewesen zu sein1.

Für Köln unterscheiden einzelne Zünfte die selbständigen, d. h. für eigene Rechnung arbeitenden Mitglieder in Brüder und Meister. Als Grund dieses Unterschieds nimmt Mo ne 2 3 an, daß zwischen Meister und Gesellen die Mittelstufe der sogenannten Brüder errichtet wurde, damit sie als- kleine Gewerbsleute doch schon selbständig ein Handwerk treiben konnten ; deshalb hatten sie nur die Hälfte des Eintrittsgeldes zu bezahlen. Hatten sie das nötige Vermögen erworben, so traten sie in die Klasse der Meister ein.

Übrigens erwähnen, wie man weiß, die Urkunden des Mittel¬ alters selbst häufig arme und reiche Mitglieder der Zünfte, und viele Bestimmungen werden in ihnen getroffen, um die armen Mitglieder von den reichen trotz des materiellen Unterschiedes unabhängig zu erhalten und die grundsätzliche Gleichberechtigung beider durchzuführen.

Welch lebendiges Bild von der starken Differenzierung in dem Pariser Fleischergewerbe gibt uns etwa die Klage der armen Hascherln, die ihre 10 Stück Fleisch und vielleicht ein paar Scheiben Speck auf ihrem Tische feil haben und denen ihr Handwerk von den zünftig-protzigen Großfleisckern gelegt werden soll4.

Und wie schon die eben mitgeteilten Ziffern erkennen lassen und andere Anzeichen bestätigen: sicher hat es im Mittelalter Formen gewerblicher Produktions wirtschaften gegeben, die kaum noch den Namen Handwerk verdienen; sei es, daß Meister in starke Abhängigkeit vom Kaufmann gerieten, sei es, daß sie selbst sich zu kleinen Unternehmern auswuchsen. Wir wissen beispielsweise zwar nicht, ob der Tuchmacher, der in Paris im Jahre des Heils 1292 9000 frc. Einkommen hatte, dies aus der Tuchmacherei allein bezog. Wahrscheinlich ist es nicht. Aber daß unter den Pariser Tuchmachern, deren doch eine ganze Anzahl mit recht hohen Einkommen in der Statistik erscheint,

1 Nach den Ziffern der Ulnagers Accounts für 1395, die nach einer Handschrift Salz mann, 1. c., p. 157 f. mitteilt. Vgl. unten S. 262 und 267.

2 Mo ne, Zunftorganisation vom 13. bis 16. Jahrhundert in seiner Zeitschrift, S. 15. 19.

3 Urk. von 1415 bei Fagniez, Doc., No. 18.

4 Livre des metiers, tit. L.

2G2 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

gewiß schon mancheiner war, der den Rahmen handwerksmäßiger Organisation überschritt, können wir sogar ans einigen Be¬ stimmungen der Zunftstatuten schließen. Diese nämlich schreiben als Maximum der Anzahl Webstühle, die jemand in seinem Hause (NB. das ist die Bedingung!) beschäftigen darf für den Meister, jeden ledigen Sohn, 1 Neffen und 1 Bruder je 2 breite und 1 schmalen Stuhl vor: Also wenn das voll von jemand aus¬ genutzt wurde, konnten sich leicht 15 20 Webstühle unter einem Dache zusammenfinden. Nach den von Salzmann1 mit¬ geteilten Ziffern würden im Jahr 1395 in Westengland ein Tuch¬ macher 1080, ein anderer 1005, 9 andere zusammen 1600 (kurze) Stück (von 12 Yards Länge) schmales Tuch beim Tuchmesser vorgelegt haben. Wenn das wirklich ein Jahreserzeugnis war, so dürfen wir auf eine" Arbeiterzahl bis 30 bei den größten Tuch¬ machern schließen.

Und daß bei solcher Sachlage die handwerksmäßige Gliede¬ rung zersprengt wurde , ein lebenslänglicher Gehilfenstand sich zu bilden anfing, darf als selbstverständliche Folge der Betriebs¬ vergrößerung angesehen werden. (Obwohl man nicht bei jedem Gesellenverein schon an moderne Gewerkvereine denken sollte) 2.

Selbst das wird nicht zu bestreiten sein, daß in manchen Städten ein ganzer Industriezweig schon während des Mittelalters aufgehört hat , Handwerk zu sein und die Entwicklung zum Kapitalismus begonnen hat. Den Eindruck, den wir auf Grund der eingehenden und sorgfältigen Schilderung Dörens vom Zu¬ stand der Florentiner Tuchindustrie in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts empfangen, ist der: daß dieses Gewerbe damals schon stark von kapitalistischen Elementen durchsetzt war. Und ähnliche Industrien hat es gewiß in anderen Städten des Mittel¬ alters auch gegeben.

Und dennoch! Trotz alledem und alledem wird unser Urteil doch lauten müssen: die Organisationsform der gewerblichen Arbeit während des Mittelalters war auch in Wirklichkeit die des Handwerks. Das Handwerk verlieh der Gesamtstruktur des gewerblichen Lebens ihr eigentümliches Gepräge. Das Hand¬ werk war nicht nur die vorherrschende, sondern die fast aus¬ schließlich herrschende Wirtschaftsform.

1 Salz mann, 1. c. p. 157 f.

2 Wie es z. B. Schanz in seinem sonst verdienstlichen Buche; Zur Geschichte der deutschen Gesellenverbände (1876) tut,

Sechzehntes Kapitel: Die Organisation der gewerblichen Arbeit 263

Um die Richtigkeit dieser Auffassung zu erweisen sagte ick. sclion , besitzen wir kein authentisches Material. Wir müssen versuchen, auf Umwegen dahin zu gelangen: wenigstens um wahrscheinlich zu machen, daß die aufgestellte Behauptung richtig ist. Diese Umwege sind zweifacher Art: ein Indizien (symptomatischer) Beweis und ein theoretischer (deduktiver) Beweis (sozusagen). Ich versuche den Leser auf beiden Wegen zu führen.

Scharren wir uns also zunächst um, welche Symptome für die Existenz des Handwerks wir kennen.

Da ist zunächst mit voller Deutlichkeit erkennbar - als sicheres Wahrzeichen handwerksmäßiger Organisation:

1. Die (wie man sagen könnte) organische Berufs- spezialisat-ion. Sie kehrt überall, wo wir im Mittelalter ge¬ werbliche Arbeit in den Städten finden, mit fast ganz überein¬ stimmenden Zügen wieder. Überall auf demselben Grundgedanken fußend : die einzelnen gewerblichen Berufstätigkeiten sollen der¬ maßen gegeneinander abgegrenzt sein, daß sie eben einem lebendigen „Handwerker“ angemessen sind; daß sie seinem höchstpersönlichen Wirken einen sinnvollen Inhalt verleihen.

Ich sagte : dieses Wahrzeichen echt handwerksmäßiger Ordnung sei deutlich erkennbar. In der Tat ist es so ziemlich das einzige, was die Forschung von der Struktur des gewerblichen Lebens im Mittelalter zu leidlich einwandfreier Erkenntnis bloßgelegt hat. Wir besitzen von verschiedenen Typen mittelalterlicher Städte die Liste der gewerblich Berufstätigen, so daß wir mit einiger Sicherheit die gleichmäßigen Grundzüge der Gestaltung wahrzunehmen vermögen. Wir können sogar dieses mit Ge¬ wißheit aussagen: daß in der Berufsgliederung der mittelalter¬ lichen Städte das Maß der gewerblichen Spezialisierung bestimmt wurde von dem Höhegrade der industriellen Entwicklung. Will sagen: daß sich die fortschreitende Verfeinerung der gewerb¬ lichen Produktion äußert in einer zunehmenden Abgliederung einzelner zu selbständigen Berufen sich verdichtenden Spezial¬ verrichtungen ; also daß die Anzahl der Berufsbenennungen einen annähernd sicheren Maßstab zur Erkenntnis des Entwicklungs¬ grades bietet, den das gewerbliche Leben einer Stadt erreicht hat. Ein „Gesetz“ !

Natürlich muß dabei vorausgesetzt werden, daß die Berichte, die wir über die einzelnen Städte besitzen, das gleiche Maß von Genauigkeit aufweisen (und die Bearbeiter das gleiche Maß von

264 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

rechnerischer Begabung!). Wenn z. B. Hirsch für Danzig’ im Spätmittelalter nur 60 verschiedene Gewerbe ermittelt, so können wir (nach dem, was wir von Danzigs Wirtschaftsleben im Vergleich zu dem anderer Städte wissen) ohne weiteres sagen: hier ist die Liste unvollständig. Auch daß Biga im 13. und 14. Jahrhundert nur 75 Berufsarten im weiteren Sinne gehabt haben soll, kommt mir zweifelhaft vor. Dagegen scheinen mir die Ziffern einwandsfrei, die Eulenburg für Heidelberg, Bücher für Frankfurt, Schönberg für Basel ermittelt haben. Wir können sie, denke ich, ruhig miteinander vergleichen.

Selbständige Berufsarten wiesen auf:

Heidelberg . . . . 103

Basel . 120

Frankfurt (1440) . . 191

In diesen Ziffern kann sich der verschieden hohe Entwick¬ lungsgrad der drei Städte ausdrücken, obwohl die Baseler Ziffer reichlich niedrig ist. Vielleicht hat dies darin seinen Grund, daß sie nur für zwei Kirchspiele gilt. Wollen wir ganz sicher gehen, so schalten wir sie auch noch aus und stellen nur Heidel¬ berg und Frankfurt in Vergleich. Wobei dann gleich noch zu bemerken ist, daß sich die Zahl der Berufsarten in Frankfurt von 1387 1440 um 43 vermehrt hat, was ein neuer Beweis für die Gültigkeit unseres „Gesetzes“ ist.

Ihre volle Bedeutung aber gewinnen diese Ziffern erst, wenn wir sie nun wiederum vergleichen mit den Ziffern, die wir von wirklichen „Großstädten“ des Mittelalters besitzen. Wie bekannt, fließen die Quellen am reichsten in der größten Stadt des Mittel¬ alters: Paris. Und wer erfahren will, was mittelalterliches Ge¬ werbewesen in vollster Entwicklung war, wird seinen Blick von Heidelberg und Frankfurt abwenden müssen und wird immer Paris ins Auge zu fassen haben.

Da sprudelt nun doch noch ein ganz anderes Leben als in jenen Städten und insbesondere der Grad der gewerblichen Spezialisation ist ein ungemein viel höherer als dort. Wenn Bücher (Bevölkerung, 227) meinte: „der Reichtum der Arbeits¬ gliederung, der sich hier vor uns auftut nämlich in Frank¬ furt übertrifft alles, was seither aus irgendeiner mittelalter¬ lichen Stadt ähnliches bekannt geworden ist,“ so ist das angesichts der Ziffern, die uns das Eegistre de la Taille (herausgegeben 1837) darbietet, nicht aufrecht zu erhalten. Denn in diesem

Sechzehntes Kapitel: Die Organisation der gewerblichen Arbeit 265

beträgt die Zahl der aufgeführten Berufsbenennungen mehr als doppelt soviel wie in Frankfurt: ich zähle unter Weglassung der als Chamberiere und Valet bezeiclmeten Personen 448 heraus. Und davon sind etwa zwei Drittel gewerbliche Berufe im engeren Sinne: nach den Feststellungen von Fagniez wurden 350 ver¬ schiedene Handwerker namhaft gemacht: das wäre also der Höhepunkt mittelalterlicher Gewerbeverfassung was Berufs¬ gliederung anbetrifft..

(Leider muß ich mir versagen, näher auf das Registre ein¬ zugehen; hier ruhen abermals ungehobene Schätze trotz der anerkennenswerten Arbeiten, die Geraud, Fagniez und andere darüber veröffentlicht haben. Abermals eine lockende Aufgabe für einen Wirtschaftshistoriker [mit etwas Geist] : die Bearbeitung des Registre de la Taille unter den in diesem Werke aufgestellten Gesichtspunkten !)

2. Ein anderes wichtiges Symptom für das Vorherrschen handwerksmäßiger Organisation ist die Kleinheit der Be¬ triebe. Leider wissen wir darüber nicht viel; längst nicht soviel wie über die Berufsspezialisation. Denn die Quellen, aus denen wir diese erkennen, sind nicht so ergiebig, wo es sich um die Betriebsgestaltuhg handelt. Im besten Falle kennen wir die Zahl der Hilfspersonen (Gesellen), die in einer Stadt lebten, nicht aber die Verteilung auf die einzelnen Handwerks¬ betriebe (mit einer meines Wissens einzigen Ausnahme). Immerhin gewährt die Gesamtzahl der Hilfspersonen einigen Anhalt, weil sie dort, wo sie uns bekannt geworden ist, immer erheblich geringer war als die Zahl der selbständigen Gewerbe¬ treibenden, so daß wir mit einiger Wahrscheinlichkeit auf sehr kleine Betriebe als Regel schließen dürfen. So nimmt Bücher für Frankfurt 060—700 Gesellen bei insgesamt 1498 Selbständigen an (Schätzung !). II. P a a s c h e ermittelt für Rostock (1584) neben 2350 Selbständigen 1036 Knechte und 1423 Mägde. 220 fremde Schuhmacher in London sollen (um 1528) „über“ 400 Hilfskräfte beschäftigt haben. Die Angabe ist aber einer Beschwerde der einheimischen Schuster entnommen , in der sie sich über das Überhandnehmen der Fremden beklagen, wird also vermutlich übertrieben sein1. Und das war schon im 16. Jahrhundert! Im Livre des metiers werden nur aufgeführt: 47 Sergents, 113 Valets,

1 Text bei G. Schanz, Engl. Handelspol. 2 (1881), 598—600.

266 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

199 Chamberieres, zusammen 359 Hilfspersonen. Das sind natür¬ lich längst nicht alle. Wo stecken die übrigen, da doch jede erwachsene Person versteuert wurde? Unter denen, die keine Berufsbezeichnung tragen? Oder (was noch wahrscheinlicher ist) in den Haushaltungen der Meister? Das ließe ebenfalls den Schluß zu auf durchschnittlich geringe Betriebsgröße. Aus den Bestimmungen der Zunftstatuten über Betriebsmaxima möchte ich dagegen nicht ohne weiteres auf die Gestaltung der Wirk¬ lichkeit schließen. Im Gegenteil, ich möchte so folgern: wo ein Maximum der Produktion oder eine Minimalzahl zulässiger Hilfs- personen vorgeschrieben ist, obwaltet schon eine Tendenz zur Betriebsvergrößerung. Gerade in diesen Gewerben dürfen wir daher etwas über durchschnittlich große Betriebe erwarten. Wo dagegen (dürfen wir schließen?) natürlich in Orten und zu Zeiten , wo überhaupt schon derartige Bestimmungen erlassen wurden - die Beschränkungen in den Statuten fehlen, bildet der kleine Betrieb noch die Regel. Im Livre des metiers sind es in der Tat nur wenige Gewerbe (Tuchmacherei!), in denen Höchstzahlen der zulässigen Gehilfen festgesetzt sind. Also (?) war im Pariser Handwerk am Ende des 13. Jahrhunderts der Kleinbetrieb die Regel.

Die statistische Ausnahme, von der oben die Rede war, be¬ trifft die Handwerker in Heidelberg, über deren Betriebsverhält¬ nisse uns Eulenburg (a. a. 0. S. 132) erfreulich genaue Mit¬ teilungen macht. Danach waren von den Gewerbebetrieben

53.3 %

27,5 %

1 2.4 °/o 5,3 °/o 1,3%

0,2 °/o

Dieser größte Betrieb gehört dem Steinmetzgewerbe an. Sonst wie gesagt sind wir auf Schlüsse oder doch wenigstens auf Berechnungen angewiesen. So könnte man allenfalls zum Beispiel die oben mitgeteilten Zitfern der Produktionsmaxima in der Frankfurter Tuchmacherei verwenden, um folgende Be- triebsgrößenstatistik zu bilden: wir nehmen an, daß das Pro¬ duktionsminimum das Jahreserzeugnis eines Alleinmeisters ist: 2X4 Stück Tuch. (Möglicherweise ist dies Quantum aber auch das Jahresprodukt eines nicht dauernd oder teilweise gegen

Alleinbetriebe 240 Betriebe mit 1 männlichen Gesellen 123

2

3

4

5

55

24

6

1

Sechzehntes Kapitel: Die Organisation der gewerblichen Arbeit 267

Lohn wehenden Arbeiters, doch können wir von dieser Even¬ tualität einmal absehen: träfe sie zu, würde das Niveau der Betriebsgrößen entsprechend sinken.) Unter dieser Voraussetzung hätten also in der Frankfurter Tuchmacherei folgende Betriebs¬ größen bestanden:

Alleinbetrieb 49 37,5 °/o Betriebe mit 1 2 männlichen Gehilfen 41 = 30,7 °/o 3-5 32 = 24,0 >

6—8 11 7,3 °/o

Bedenkt man, daß die Ziffern für Frankfurts größtes Export¬ gewerbe gelten und zieht man die verschiedene Höhe der wirt¬ schaftlichen Entwicklung in beiden Städten in Betracht, so stimmen diese Ziffern mit den quellenmäßig festgestellten Heidel¬ bergern recht wohl und können vielleicht als ein Abbild dei Wirklichkeit gelten.

Auch für die englische Tuchindustrie im 14. Jahrhundert erhalten wir aus den oben erwähnten Ziffern der Tuchmesser¬ rechnungen doch denselben Eindruck: daß die große Masse der Produzenten Kleinbetriebler waren: in Suffolk werden 733 Stück breite Tuche von 120 Personen gemacht, nur 7 oder 8 erzeugen je 20 Stück. 9200 kurze Stück schmalen Tuchs (von denen ich 30 als Jahreserzeugnis eines Webers rechne) werden von 300 Tuchmachern hergestellt; 15 davon liefern 120—160 Stuck ab. In Essex stammen 1200 schmale Stück von 9, m Bramtree 2400 von 8 Tüchern. Darunter sind Jahresproduktionen von 200 bis 600 Stück. Das sind also (wenn’s wahr ist!) jene Großbetriebe, von denen ich oben sprach. In Devonshire: 65 Meister 3565 Stück. In Cornwallis: 13 Tuchmacher liefern 90 Stück (wohl breites) Tuch ab. In Salisbury 158 Meister 6600 Stuck, nur / mehr als 150. In Winchester werden 3000 Stück erzeugt: nur 3 Tuchmacher produzieren je mehr als 100 Stück. In Yorkshire: durchschnittliche Produktion 10 Stück (breites) Tuch. In Ken , gibt es nur 1 Tücher, der mehr als 50, 3 andere, die mehr als

25 Stück fertigen. . . ,

Daß die Gewerbebetriebe des Mittelalters Individualbetriebe

waren und daß die Alleinbetriebe unter ihnen wohl in den meisten Produktionszweigen überwogen, scheinen mir auch die bild liehen Darstellungen au bestätigen, die wir von den Vorgängen des gewerblichen Lebens ans dem Mittelalter (oder gar einer etwas späteren Zeit) besitzen. Ich denke an die Handwerkerbilder aut den Holzschnitten im germanischen Museum sowie m J, Ammans

268 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

Beschreibung aller Stände, von denen oben schon die Bede war. Namentlich die selbständigen Holzschnitte sind lehrreich für uns. Sie stammen erstens aus sehr später Zeit (16. Jahrhundert) und hatten zweitens zweifellos den Zweck, das Nürnberger Gewerbe in seinem Glanze zu zeigen. Da sehen wir nun:

in der Gürtlerwerkstatt : den Meister, der das Leder zuschneidet, neben ihm zwei Gesellen, die Taschen anfertigen; in der Schuhmacherwerkstatt: den Meister, der wiederum das Leder zuschneidet und drei Gesellen, die Stiefel machen; in der Kürschnerwerkstatt: den Meister und zwei Gesellen, alle drei gleichmäßig beschäftigt, Pelzsachen zu nähen, ein dritter trägt eben der Meisterin (die im Nebenraume verkauft) ein Pelzstück hin, auf der Straße klopfen drei junge Leute (Lehrlinge?) Felle aus;

in der Fleischerwerkstatt: zwei Gesellen, die ein Rind schlagen, während im Verkaufsladen der Meister Fleisch zerhackt zum Austeilen ;

in der Gerberei: den Meister mit drei Gesellen; in der Seilerwerkstatt: den Seiler, der spinnt, mit einem Lehr¬ ling, der Hanf zuträgt;

in der Tischlerwerkstatt: den Meister, der hobelt, mit einem Ge¬ sellen, der ein Brett zersägt.

Ich meine : derartig stereotype Darstellungen haben doch eine gewisse Beweiskraft, namentlich wenn sie mit Ergebnissen, die auf anderem Wege gewonnen sind, auffallend übereinstimmen. Daß wieder mancher Meister, der Nürnberger Ware erzeugte, ebenso wie mancher Kunsthandwerker (Veit Stoss i) mehr als zwei bis drei Gesellen beschäftigt haben wird, braucht nicht in Zweifel gezogen zu werden1. Aber die Regel, das Typische, das Überwiegende, das Normale, das Gewohnte sehen wir auf unsern netten Holzschnitten doch wohl vor uns.

o. Ein Rückschluß auf die Kleinheit der Betriebe und damit die handwerksmäßige Organisation läßt sich machen aus der Zahl der an einem Ort ansässigen Handwerker, wenn wir sie in Vergleich stellen mit der Einwohnerzahl der Stadt, vorausgesetzt, daß es sich um lokale Handwerker handelt. Man müßte einmal

1 Meister Tönnies Evers in Lübeck (16. Jahrh.) hatte zuzeiten 12 Gesellen und 7 Lehrlinge im Dienst . die Zunft setzte aber ihre Entlassung durch: J. Warnke, Handwerk und Zünfte in L (1912), 87.

Sechzehntes Kapitel: Die Organisation der gewerblichen Arbeit 269

in weiterem Umfange solche Berechnungen für eine -Reihe der wichtigeren Handwerke vornehmen: sie würden alle dasselbe Ergebnis zeitigen. Um nur an einem Beispiel zu zeigen, was ich meine: Paris hatte im 13. Jahrhundert allein 68 Seine-Mühlen, außerdem lagen nachweislich an der Bievre Mühlen und es gab auch Windmühlen. Die Müllerei war fast durchgängig Lohn- .müllerei, sämtliche Mühlen arbeiteten also für den Ortskonsum. Also entfielen noch nicht. 1000 Menschen auf eine Mühle, also konnten diese nur Kleinbetriebe sein. Freilich unter der Voraus¬ setzung, daß nicht, etwa wenige den größten Teil der Produktion besorgt hätten. Diese Möglichkeit können wir ausschließen, wenn wir die Lage der Mühlen, über deren Topographie wir genau unterrichtet sind, in Rücksicht ziehen h

Ich nenne noch kurz einige andere Symptome, aus deren Auftreten (das außer Zweifel ist und deshalb nicht im einzelnen belegt zu werden braucht) die Herrschaft handwerksmäßiger Or¬ ganisation gefolgert werden darf.

4. Der Meister bleibt, soviel wir wissen, überall während des Mittelalters (mit Ausnahme vielleicht einiger Textilgewerbe in Italien und Flandern und Brabant) gewerblicher Arbeiter, das heißt, er arbeitet in der Werkstatt mit : die Funktion der bloßen Leitung ist noch nicht ausgeschieden.

5. Die Grliederung der Gesellschaft bleibt noch durchaus die zünftige, ja während der letzten Jahrhunderte gelangt sie erst recht in der politischen Organisation zum vollen Ausdruck. Was wir (immer abgesehen von den sozialen Bewegungen in einigen italienischen und belgischen Großstädten) von den Ge¬ sellenverbänden und ihrer Politik, von Gesellenunzufriedenheit und Gesellenaufständen wissen, berechtigt uns nicht zu der An¬ nahme, daß die vertikale Gliederung der Gesellschaft schon durch die horizontale verdrängt gewesen sei. Das wäre ja auch selt¬ sam. Sehen wir doch noch 1789 und selbst 1848 die Struktur des Handwerks soweit intakt, daß die Gesellen größtenteils für die Meister die Schlachten schlagen. Freilich in diesen Zeiten war neben dem Handwerk schon eine neue Organisationsform, die kapitalistische , zur Entwicklung gelangt und mit ihr die Elemente einer horizontalen Gesellschaftsgliederung. Aber davon konnte im Mittelalter noch keine Rede sein.

1 Am ausführlichsten handelt über die Pariser Mühlen im 13. und 14. Jahrhundert G. Pagniez in seinen Etudes, p. 156 ff.

270 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

Mit diesen letzten Bemerkungen führe ich den Leser zu dem zweiten Beweis hinüber, von dem ich sprach: dem theo¬ retischen, den ich mit wenigen Worten erledigen kann.

Ich verstehe darunter folgende Besinnung: wenn man die Bedingungen , unter denen gewerbliche Produktion im Mittel- alter stattfand, genau prüft (wie es im Verlauf dieser Darstellung zu verschiedenen Malen geschehen ist), so kommt man zu dem Lrgebnis, daß sie in optimalem Grade denjenigen Idealbedingungen nahe kommen , die wir als dem Handwerk günstige theoretisch feststellen konnten (siehe Kapitel 12). Vor allen Dingen: em¬ pirische Technik und langsame Bevölkerungsvermehrung sorgten in Verbindung mit der stets vorhandenen kaufkräftigen Nachfrage nach gewerblichen Erzeugnissen für große Stabilität des Absatzes und schlossen die Konkurrenz der Handwerker untereinander bis zu einem hohen Grade aus. Wie das hier nicht noch ein¬ mal dargelegt zu werden braucht. Handwerk konnte also sein. Daß aber Handwerk sein sollte, dafür spricht der Geist der Zeit, den wir kennen lernten, als wir die Idee des Handwerks uns zu veranschaulichen versuchten.

Ich könnte nun noch hinzufügen: ebenso wie alle Bedingungen iür handwerksmäßige Organisation im Mittelalter erfüllt waren, so blieben noch fast alle Bedingungen einer anderen Wirtschafts¬ form unerfüllt, die allein bestimmt war, die handwerksmäßige Produktion zu verdrängen: der kapitalistischen; aber davon handeln die folgenden Bücher.

Hier will ich nur noch dieses anmerken, daß unser Ergebnis, zu dem die Untersuchung auf den letzten Seiten uns führte (daß die Wirtschaftsform der gewerblichen Produktion während des Mittelalters Handwerk war), für jede Form des Handwerks gleich¬ mäßig gilt, also auch für dasjenige Handwerk, das für einen intei lokalen Mai kt arbeitete. Damit ist der Beweis für die Richtigkeit des Satzes erbracht, daß die handwerksmäßige Or¬ ganisation keineswegs an das Kundenverhältnis gebunden ist: mit anderen W orten : daß zu den Bedingungen, deren Erfüllung Handwerk möglich macht, nicht notwendig Produktion für einen lokalen Markt gehört. Vielmehr Handwerk sehr wohl auch als Exportgewerbe, das für den „Weltmarkt“ produziert, bestehen kann, wenn nur sonst die Bedingungen für seine Existenz erfüllt sind. Da diese Tatsache so oft nicht beachtet oder die Richtig¬ keit dieser Feststellung geradezu geleugnet wird, so will ich im folgenden Kapitel noch einige Belege dafür beibringen, daß auch

Sechzehntes Kapitel: Die Organisation der gewerblichen Arbeit 271

diejenigen Gewerbe, von denen wir wissen, daß sie auch im Mittelalter für den „Weltmarkt“ produzierten, ihre handwerks¬ mäßige Organisation bewahrten. Wenn ich dabei die Leser zum Teil auf die Darstellungen glaubwürdiger Gewährsmänner ver¬ weise, so geschieht es, um den Raum dieser Blätter nicht allzu sehr mit Tatsachenmaterial zu füllen. Der interessierte Leser kann ja leicht in den angegebenen Werken die quellenmäßigen Nachweise selber nachprüfen.

272

Siebzehntes Kapitel

Die Organisation der Exportgewerbe.

Waren denn die im 14. Jahrhundert an die Gewandschneider liefernden Tuchmacher wirklich noch „Handwerker“ und nicht etwa schon Hausindustrielle? Diese Frage wirft auch Schm oller1 aiif- „es wäre von großem Interesse, festzustellen, ob etwa ander¬ wärts sc. außer in Köln, wo sich die Weber das Hecht des Gewandausschnitts bewahrten die Gewandschneider die Ver¬ leger und Arbeitgeber der Tuchmacher waren“ h

Schmoller selbst vermeidet, auf seine eigene Frage eine runde und nette Antwort zu geben. In der Tat wird sich ein urkund¬ licher Beweis schwer führen lassen. Wir sind also auf Rück¬ schlüsse aus anderen Umständen angewiesen. Schmoller führt unter diesen mit Recht in erster Reihe die Tatsache auf, daß in den Zunftkämpfen des 14. Jahrhunderts fast überall die Tuchmacher die führende Zunft waren und daß der Kampf gegen den Rat und die Kaufmannschaft sogar vielerorts zu einem Kampfe gegen die Gewandschneider um den Gewandschnitt ausartete. Mir scheint nun aber gerade diese politische Rolle, die durchgängig die Tuchmacher und Weber im 14. Jahrhundert spielen, ihr Streben, ihrer Zunft und den andern Handwerkern zu Sitz und Stimme im Rat zu verhelfen, der ganz und gar zünftlerische Geist, den ihre Ordnungen noch im 15. Jahrhundert atmen2, durchaus für ihren noch reinen handwerksmäßigen Charakter zu sprechen. Hausindustrielle hätten weder die Spannkraft, noch

1 Tucherbuch, S. 110.

2 Vgl. die detaillierte Schilderung der Aachener Tuchmacherei bei Thun, Industrie am Niederrhein 1, 8 ff., und jener der Schwarzwald¬ orte bei Gothein, W.G. 1, 531. Aus beiden Werken habe ich den Eindruck gewonnen, daß der rein handwerksmäßige Charakter auch der Export-Tuchmacherei bis weit in die sogen, neue Zeit erhalten ge¬ blieben. ist. Bis tief ins 18. Jahrhundert hinein handwerksmäßig organisiert war auch ein Teil der englischen und französischen Tuchindustrie. Davon spreche ich ausführlich in diesem Werke im zweiten Bande bei der Darstellung des frühkapitalistischen Gewerbe¬ wesens.

Siebzehntes Kapitel : Die Organisation der Exportgewerbe 273

die spezifisch zünftlerische Interessiertheit für jene Vorkämpfer- Stellung besessen, wie sie die Tuchmacher jener Zeit einnahmen. Aber auch für die ökonomisch gedrückte Lage des damaligen Weberhandwerks läßt sich meiner Ansicht nach kein Beweis erbringen. Die Schlußfolgerungen, die Schm oller zu der Be¬ hauptung führen, daß das Verhältnis des Tuchmachers zum Ge¬ wandschneider, wo ihm jeder Einzelverkauf untersagt war, „ein gedrücktes, durchaus ungünstiges“ gewesen sein müsse, sind meiner Ansicht nach nicht stichhaltig. Dasselbe gilt für die kampflustigen flandrischenW eberzünfte im 14. J ahrhundert 1. Das neu erschlossene Quellenmaterial 2 verstärkt den Eindruck, daß die flandrische Textilindustrie im 14. Jahrhundert eine im wesentlichen handwerksmäßige Organisation gehabt hat.

Besonders früh ist, wie wir wissen, die Florentiner Tuch¬ macherei kapitalistisch organisiert gewesen, aber selbst für Florenz dürfen wir annehmen, daß bis um die Wende des 13. Jahr¬ hunderts die kaufmännisch-großindustriellen Elemente noch nicht die Übermacht über die Kleinmeister bekommen hatten3.

Auch die interlokale Leineweberei hat sich lange über das Mittelalter hinaus als Handwerk erhalten. Noch im 18. Jahr¬ hundert sind die schlesischen Leinwandhändler ganz und gar nicht immer Verleger, sondern oft nur Abnehmer der von selbständigen kleinen Produzenten hergestellten Leinwand4.

Daß die Seidenindustrie, die ja wohl sehr frühzeitig Exportgewerbe wurde , doch auch handwerksmäßig organisiert war: diesen Nachweis besitzen wir für Genua, von wo schon im 13. und 14. Jahrhundert Seidenzeuge ausgeführt wurden, während die hausindustrielle kapitalistische Organisation erst im 15. Jahrhundert ihren Anfang nimmt und das ganze Jahr¬ hundert gebraucht, wie von sachkundiger Seite gezeigt worden ist5, um sich gegen die handwerksmäßige Organisation durch¬ zusetzen. Noch lange Zeit, nachdem das Verlagssystem Wurzel

1 Vgl. die anschauliche Schilderung jener Kämpfe bei L. Vander- kindere, Le siede des Artevelde (1879), p.- 147 ff.

2 Recueil de Docum. rel. ä l’Histoire de lTndustrie drapiere en

Flandre. 1906 ff.

3 A. Doren, Studien aus der Florentiner W.Gesch. I (1901), 27.

4 Wiederum ist auf die Darstellung im 2. Bande dieses Werkes zu verweisen.

5 H. Sieveking, Die Genueser Seidenindustrie im 15. und 16. Jahrhundert, in Schmollers Jahrbuch 21 S. 101 ff.

Sombart, Der moderne Kapitalismus. I. 18

274 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

geschlagen hat, finden wir beispielsweise die Seidenweber außer für Verleger, auch noch für eigne Rechnung arbeiten.

Ganz ähnlich wie in Genua lagen die Verhältnisse in Venedig und in der Mutterstadt der europäischen Seidenindustrie Luc ca. Auch in Venedig und Lucca hat es zweifellos handwerksmäßig organisierte Seidenindustrie gegeben. Diejenigen Seidenweber, die im Anfang des 14. Jahrhunderts von Lucca nach Venedig auswanderten man nennt die Zahl 31 waren sicher weder Lohnarbeiter (sie beschäftigten vielmehr selbst Gesellen) noch auch Hausindustrielle (wie hätten sie dann auswandern können?), sondern sicher meist Handwerker'1.

Noch 1432 wird den Venetianischen Seidenwebern erlaubt, an einem Webstuhl für eigene Rechnung zu weben2 *. Ebenso erlangten die Seidenweber in Lucca durch den Aufstand der Straccioni sogar noch 1531 das Recht, an einem Stuhl für eigene Rechnung zu weben0.

Auch die Seidenindustrie in den schweizerischen Städten ist anfangs bis ins 16. Jahrhundert hinein ein Handwerk4.

Aber selbst die Barchent- und Baumwollweberei, die von vornherein eine Tendenz zum Export hatte, finden wir anfangs oft noch in durchaus handwerksmäßigem Rahmen. Be¬ sonders deutlich tritt dies bei der Baseler Schürlitzweberei des 15. und 16. Jahrhunderts hervor, die trotzdem sie für den inter¬ lokalen Markt arbeitete, reines Handwerk war5.

Ein Irrtum, dem viele Historiker der mittelalterlichen Textil¬ industrie zum Opfer gefallen sind, ist der: daß sie dort, wo z. B. ein Tuchhändler für sich „weben läßt“, schon eine kapi¬ talistische Organisation unterlegten; zumal wenn sie in den Quellen Verbote des Trucksystems fanden. Man muß sich aber klar machen, daß dieses „andere für sich gegen Lohn arbeiten lassen“ sehr wohl mit handwerksmäßiger Organisation vereinbar ist: es sind dann eben „Lohnwerker“, die aber ebensogut Hand¬ werker wie die Kaufhandwerker sind.

1 San di, Istoria ciyile di Venezia. Parte II. Vol. I. p. 247. 256; zit. bei Ad. Smith, III. B. 3 ch.

2 Che ciascun niercadante testor abbia libertä di poter tessere al suo proprio con un solo tellar con le sue man proprie potendo tuor un garzon e non piü per aida quel tellar. Broglio d’ Ajano, Die venetianische Seidenindustrie (1893), S. 49 f.

8 Tommasi, Arch. stör. ital. 10, 397 ff.; zit. .bei Sieveking, a. a. 0. S. 129.

4 Geering, S. 465 f.

6 Geering, S. 306 f.

Siebzehntes Kapitel: Die Organisation der Exportgewerbe 275

Die Lohngewerbe waren im Mittelalter sehr häufig, häufiger wie heute (sie spielen übrigens auch im Rahmen der kapita¬ listischen Organisation eine große Rolle), beweisen aber selbst¬ verständlich an und für sich nichts gegen eine streng handwerks¬ mäßige Organisation des Gewerbes. Auch das Truckverbot be¬ weist noch nicht, daß nun Kapitalismus in das Gewerbe ein¬ gezogen sei. Wir erfahren aus den Quellen vielmehr, daß auch von Handwerker zu Handwerker die Sitte oder Unsitte der Bezahlung in Waren statt in barem Gelde bestand: die Walker der Stadt Paris, denen im Jahre 1293 und später verboten (!) wurde, sich anders als in Geld bezahlen zu lassen, waren echte zünftige Handwerksmeister, die selbst Gesellen beschäftigten.

Aber waren denn die Metalle Erzeugnisse von Hand¬ werkern? Auch diese Frage ist zu bejahen. Wir sind durch eine Reihe neuerer Untersuchungen 1 über die Anfänge des Bergbaus und der Metallgewinnung genugsam davon unter¬ richtet, daß die früheste Organisation auch dieser Gewerbszweige durchaus eine handwerksmäßige war. Allerdings in einer spezi¬ fischen Nüance: es sind fast immer von Anfang an, jedenfalls sehr frühzeitig, Handwerkergenossenschaften, die nach einem cremeinsamen Plane die Ausbeute der Gruben und teilweise auch die Verhüttung der Erze besorgten. Da uns der Gang unserer Untersuchung noch einmal auf die eigenartige Form der hand¬ werksmäßigen Organisation im Bergbau führen wird, so soll ein näheres Eingehen bis dahin unterbleiben. Hier mag nur noch erwähnt werden, daß ganz analog wie der Bergbau die Salz¬ gewinnung ursprünglich organisiert war.

Zweifellos bewegt sich das ganze Mittelalter hindurch, bis in das 16. und 17. Jahrhundert hinein die Gewinnung des Eisens im handwerksmäßigen Rahmen: ganz sicher, so lange der Rennwerksbetrieb vorherrschte (und das tat er lange über das Mittelalter hinaus, als schon längst der Hochofen „erfunden“ war), teils aber auch noch, als man Eisen schon im Hochofen verhüttete 2.

Daß aber auch die Waffenerzeugung Handwerk war, wissen wir aus zahlreichen Untersuchungen, unter denen die Arbeit

1 Siehe die genauen Literaturangaben im 2. Buche, Kap. 29 und im 2. Bande.

2 L. Beck, Geschichte des Eisens l3 (1891), letzte Abteilung,

und 2 (1893), 177 ff. und öfter. Siehe auch den 2. Band.

18*

276 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

Thuns über die Solinger Schwertfabrik noch immer einen her¬ vorragenden Platz einnimmt 1.

Ein fast immer sicheres Zeichen für die Intaktheit der hand¬ werksmäßigen Organisation eines Gewerbes ist die streng durch¬ geführte Scheidung zwischen der Zunft der gewerblichen Produ¬ zenten und derjenigen der Händler derselben Branche, bzw. das Verbot für die Händler, die von ihnen gehandelte Ware selbst hersteilen zu lassen. Ein solches Verbot begegnet uns in der Florentiner Waffenindustrie. Hier war der Zunft, der Arma- iuoli (Waffenhändler) der Betrieb des Harnisch- und Speer¬ schmiedehandwerks streng verboten; sie handelten durchaus nur mit eingekaufter Ware.

Wer waren die Produzenten der Nürnberger Waren,- insonderheit der Erzeugnisse seiner Metallindustrie ? Wir wissen, daß schon frühzeitig eine weitgehende Spezialisierung unter den einzelnen Produktionsstätten durchgeführt war: es gab im 13. Jahr¬ hundert Schermesserer, Sensenschmiede, Gabelschmiede, Zirkel¬ schmiede, Kettenschmiede. Dann unter den Waffenschmieden: Harnischmacher, Panzerhemdenmacher, Haubenschmiede, Klingen¬ schmiede, Schwertfeger usw. Das allein würde darauf schließen lassen, auch wenn wir sonst keinerlei Zeugnisse hätten, die dafür sprächen, daß wir es wenigstens äußerlich mit einer durch¬ aus handwerksmäßigen Organisation der Metallgewerbe zu tun haben : das Produktionsgebiet wird- in voller Reinheit durch das technische Können des Meisters nach Quantum und Qualität begrenzt. Waren aber diese Handwerksmeister als solche viel¬ leicht nur Scheinexistenzen, waren sie imgrunde verlegte Stück¬ meister? Daß das Verlagssystem frühzeitig in Nürnberg Boden faßt, unterliegt keinem Zweifel. Die Untersuchungen Schoen- lanks haben sein Vorkommen schon im Anfang des 14. Jahr¬ hunderts nachgewiesen2. Wenn wir aber das Urkundenmaterial durchsehen, das sich auf das Verbot oder die Regelung der Haus¬ industrie bezieht, und von dem Schoenlank einen großen Teil verwertet hat, so müssen wir zu dem Schlüsse kommen, daß es sich bis ins 16. Jahrhundert hinein doch immer nur um Aus¬ nahmen handelt, daß erst in dieser Epoche eine allgemeine •Tendenz zur kapitalistischen Organisation Platz greift.

1 Thun, 2, 8 ff. Vgl. he im, Meister der Waffenschmiede¬ kunst. 1897, und L. Beck, Gesch. des Eisens 2, 342 ff. 987 ff.

2B. Schoenlank, Soziale Kämpfe vor 300 Jahren (.1894), S. 48. Vgl. auch J. Falke, Gesch. des deutschen Handels 1 (1859), 125 f.

Siebzehntes Kapitel: Die Organisation der Exportgewerbe 277

Was wir aus Hans Sachsens Beschreibung aller Stände (1568) entnehmen können, läßt auch auf wesentlich handwerks¬ mäßige Organisation aller Nürnberger Exportgewerbe noch im IG. Jahrhundert schließen.

Dafür, daß die Erzeuger dieser „Nürnberger Waren“ im Mittelalter Handwerker waren1, jedenfalls sein konnten, spricht auch die Tatsache, daß die vielfach ähnliche Produkte für den großen Markt herstellende sogenannte rheinische Kleineisen¬ industrie die Solinger Messerfabrik, die Kemscheider Industrie und die Schmalkaldener Industrie bis tief in die neue Zeit hinein ihren rein handwerksmäßigen Charakter bewahrt haben. Das Handwerk ist in Solingen bis ins 16. Jahrhundert noch völlig intakt, im 17. beginnt der Kampf, aber noch 1687 erfolgt formell die vollständige Wiederherstellung der Zunftverfassung. Die Kemscheider Industrie dagegen findet Thun noch in den 1870 er Jahren in einer wesentlich handwerksmäßigen Organisation vor. Die Schmalkaldener Kleineisenindustrie ist während ihrer Blütezeit im 16. Jahrhundert streng zünftlerisch 2 und bewahrt ihren Handwerks Charakter bis ins 18. Jahrhundert hinein3.

-Ich verweise den Leser im übrigen nochmals auf meine Dar¬ stellung der gewerblichen Produktionsverhältnisse im Zeitalter des Frühkapitalismus (im 2. Bande), wo ich immer an die ehemals handwerksmäßige Organisation eines Gewerbezweigs ankniipie, wenn er in kapitalistischem Sinne umgebildet ist und seine Be¬ harrung in handwerksmäßiger Verfassung hervorhebe, wenn jene Umbildung bis zum Ende des frühkapitalistischen Zeitalters nicht erfolgte.

•i»

*

Aber meine Behauptung geht nun noch weiter : nicht nur alle berufsmäßige gewerbliche Produktion trug während des Mittel¬ alters handwerksmäßiges Gepräge. Auch der berufsmäßig aus¬ geübte Handel tat es, von dem ich in einem folgenden Kapitel ausführlich reden will. Eine gründliche Aussprache über den mittelalterlichen Handel ist um so notwendiger, als gar zu häufig

1 Vgl. zu ihrer Charakteristik auch noch J. F. Roth, Gesch. des

Nürnberger Handels 3 (1801). . Tr .

2 K. Frankenstein, Bevölkerung und Hausindustrie rni Kreise

Schmalkalden (1887), S. 48. .

3 Beckmann, Beyträge zur Ökonomie, Technologie usw. 10

(1786), 148.

278 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

Handel und Handwerk in einen Gegensatz zueinander gebracht werden, weil man sich gern jeden Handel als eine Erscheinungs¬ form des Kapitalismus vorstellt1. Demgegenüber ist zu zeigen, daß ebenso wie die gewerbliche Produktion auch der Handel lange Zeit als ebenbürtiger und verträglicher Bruder des hand¬ werksmäßigen Gewerbes bestanden hat. Der Darstellung dieses vorkapitalistischen Handels ist das folgende Kapitel gewidmet.

1 „Der Handel muß seiner Natur nach kapitalistisch betrieben werden.“ Rieh. Ehrenberg, Entstehung und Bedeutung großer Vermögen, in der Deutschen Rundschau vom 15. April 1901. S. 123.

Achtzehntes Kapitel

Der Handel als Handwerk

Vorbemerkung

Ich schicke der Darstellung folgende Bemerkungen voraus:

1, Zur Terminologie: Es muß nun endlich der Unterschied zwischen En gros- und en detail-Handel festgelegt werden: jener ist Waren¬ absatz (als Beruf) an Produzenten und Händler ; dieser an letzte Kon¬ sumenten. Der Unterschied ist derselbe wie zwischen Groß- und Kleinhandel, hat aber nichts zu tun mit dem Unterschied zwischen kleinem und großem Handel. Ein kleiner Schnorrer kann „Gioßhändlei sein, das Bon Marche in Paris mit 200 Millionen Franken Jahresumsatz treibt „Kleinhandel“. Daß selbst Eulenburg (Zeitschrift für Soz. und Wirtsch.Gesch. 1, 278) diese verschiedene Unterscheidung nicht scharf auseinanderhält, ist erstaunlich.

2. Es gab im Mittelalter nicht nur handwerksmäßigen Handel, sondern auch (in beträchtlichem Umfange daneben) Gelegenheit s- handel, von dem schon die Rede war und über den ich noch

folgendes bemerke: .

Im europäischen Mittelalter bildet es nicht minder wie im klassischen Altertum einen häufigen Fall, daß gerade bedeutende Handelsoperationen von Nichtkaufleuten ausgeführt wurden. Diejenigen Kategorien, die als Gelegenheitshändler vornehmlich m Betracht kommen, waren (und zwar im Süden genau so wie im Norden)

1. die Katsherren und Bürgermeister der Städte: der Doge von Venedig nicht minder als der Ratsherr von Hamburg oder

Lübeck (Vicko von Geldersen! die Wittenborgs!);

2. die Geschlechter, insonderheit die reichen grundbesitzenden

Familien ;

3. die Stifte, Klöster, Orden, Geistlichen aller Grade.

Kurz alles, was im Mittelalter vermögend war.

Bei zahlreichen dieser Vermögensmächte des Mittelalters stellte sich im Laufe der Zeit, wie wir noch sehen werden, eine Art Geld¬ plethora ein, und der Gedanke, das überflüssige Geld in anderer Weise als durch Ausweitung des Grundbesitzes, nutzbringend anzulegen lao- nahe. Jetzt kommt die Zeit, da gelegentlich Betrage vielleicht noch erst unentgeltlich der bedürfenden Stadtgemeinde, bald aber auch eeeen Entgelt vornehmen Herren leihweise überlassen werden. Es kommt die Zeit, da man einem Faktor Summen anvertraut, mR denen er auswärts Handelsgeschäfte betreiben soll: also die Zeit des Gelegenheitshandels. Es handelt sich zunächst immer um gelegentliche Handelsunternehmungen , um Kompagniegeschafte auf kurze Zei .

280 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

Die wohlhäbigen Bürger bleiben in den Anfängen meist selbst in der Vaterstadt, wo sie sich den öffentlichen Interessen und der Verwaltung ihrer liegenden Güter widmen. (Vgl. Bücher, Be¬ völkerung, 216/47.) Nur als solchen Gelegenheitshändler wird man einen venetianischen Nobile oder einen Wittenborg 'oder Geldersen richtig verstehen. Wenn man sich einmal die Mühe nimmt, die An¬ zahl Warenposten zu zählen, die in dem „Handlungsbuche“ eines solchen Ratsherrn verzeichnet sind, so kommt man zu erstaunlichen Ergebnissen: in einem Jahre sind nicht mehr als 20 30 Einträge ge¬ macht; also alle vierzehn Tage einer. Was hätte der Mann mit seiner Zeit anfangen sollen, wenn er wirklich, wie man wohl gelegentlich annimmt, ein Berufskaufmann gewesen wäre? Der Unterschied zwischen den handwerksmäßigen Berufshändlern und den alten (Gelegenheits-) handeltreibenden Geschlechtern ist besonders deutlich in Wien. Siehe Voltelini, a. a. 0. S. 67 ff. Dann natürlich wächst sich im Laufe der Zeit bei einzelnen Familien diese sporadische , intermittierende Tätigkeit als Bankier oder Händler zu einem Berufe aus. Von diesen Gelegenheitshändlern ist hier nun nicht die Rede : hier soll nur der Handel als Handwerk zur Darstellung' gebracht werden.

I. Der Geschäftsumfang

Von entscheidender Bedeutung für ein richtiges Verständnis des vorkapitalistischen Handels würde die genaue Kenntnis seiner Größenverhältnisse insonderheit der von einem Händler um¬ gesetzten Gütermengen oder Wertbeträge sein. Leider sind wir bis jetzt hierfür auf gelegentliche Mitteilungen der Quellen an¬ gewiesen und werden es wohl in aller Zukunft im wesentlichen bleiben. Immerhin ist das, was wir heute von dem Geschäfts¬ umfang des mittelalterlichen Handels wissen, genug, um uns eine ungefähre Vorstellung von seiner quantitativen Bedeutung zu machen. Quellenmäßig verbürgte Ziffern verschiedenster Art verbunden mit einer allmählichen Entwicklung des statistischen Sinnes auch für die Zahlen des Handelsverkehrs beginnen all¬ mählich freilich viel langsamer als auf dem Gebiete der Be¬ völkerungsstatistik ! mit den phantastischen Größenvorstel¬ lungen aufzuräumen , wie sie etwa die Zifferangaben. Mocenigos und Marino Sanutos für Venedig, Villanis für Florenz in den Köpfen vieler Historiker erzeugt hatten , wie sie beispielsweise noch in der bekannten Abhandlung des Generalpostmeisters Stephan 1 eine Rolle spielen. Wir müssen uns gewöhnen , auch und gerade mit Bezug auf den Handel und Verkehr, Ziffern der

1 Stephan, Das Verkekrsleben im Mittelalter, in Räumers Historischem Taschenbuch. Vierte Folge, zehnter Jahrgang. 1869.

Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk

281

Vero-angenheit, deren Entstellungsart wir nicht ganz genau nach- prüfen können, mit Argwohn zu betrachten. Es ist auffallend, daß die Historiker von Fach , deren Akribie in bezug auf lite¬ rarische und urkundliche Überlieferung die höchste Ausbildung erfahren hat, alles, was sie. an statistischen Ziffern in den Quellen finden, häufig genug unkritisch mit einem naiven Dilettantismus verwenden. Wer schriebe beispielsweise nicht unbesehens seinem Vorgänger nach, daß der Warenumsatz im Fondaco dei Tedeschi in Venedig jährlich 1000000 Dukaten betragen habe. Und doch ist mir nicht bekannt, daß irgendein sachlicher Anhalt vorhegt, der uns geneigt machen könnte, jene phantastische Ziffer°eines blagierenden Bürgermeisters glaubhaft zu finden.

Eine gleich verdächtige Ziffer sind die berühmten 100000 Stück Tuch des Vill ani, die anno 1308 in Florenz fabriziert sein sollen, und die noch Doren als „einwandsfrei“ bezeichnet1. Man braucht aber, um ihre Unglaubwürdigkeit zu erweisen, mw folgende Rechnung anzustellen: Ende des 13. Jahrhundert be¬ trug die Gesamtausfuhr an Wolle aus England nach Italien etwa 4000 Sack2. Nun rechnet man in damaliger Zeit auf einen Sack Wolle drei Stück Tücher3. Der Gesamtbetrag der nach Italien ‘gelangenden Wolle hätte also eine Ausbeute von 12000 Stück ergeben. Mochte nun Florenz auch noch anderswoher seine Wolle beziehen: Hauptausfuhrland war doch England. Und jene Ausfuhrziffer bezieht sich ja nicht nur auf die nach Florenz, sondern die nach ganz Italien gelangende Wolle!

Dies nur exempli gratia4.

Um zu richtigen Vorstellungen von dem Geschäftsumfange eines Händlers in früherer Zeit zu gelangen, stehen uns zwei Weo-e offen: die Division von Gesamtumsätzen eines Platzes durch die Zahl der an ihnen beteiligten Kaufleute und der direkte Geschäftsausweis des einzelnen Händlers bzw. die Fest¬ stellung der von dem einzelnen gehandelten Gütermenge.

Ziffern über den Gesamtumsatz eines Platzes oder

i Doren, Studien aus der Florentiner Wirtschaftsgeschichte 1

<'19(21j)ie Lizenzen bezifferten sich (1277/78) auf 4235 Sack. K. Kunze, Hanseakten aus England 1275—1412. Hans. Geschichtsquellen Bd. 6 (1891), S. 332.

s Doren, Studien 1, 54. . , T „u

4 über die Unfähigkeit des Mittelalters zur Statistik: Lamprecht,

DWL. 2, 6 ff.

282 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

der über eine Verkehrsstraße bewegten Gütermengen sind natur¬ gemäß für die frühere Zeit besonders selten. Immerhin stehen uns einige sehr lehrreiche und ganz zuverlässige Statistiken zu Gebote, von denen die folgenden als Stichproben hier mitgeteilt werden mögen.

Zunächst die Beträge des Ausfuhrhandels der wichtigsten Hansastädte im 14. Jahrhundert. Sie betrugen in dem letzten Jahre, für das unser Gewährsmann1 Ziffern mitteilt in:

Reval (1384) 131 085 Mk. lüb. oder 1 245 305 Mk. heutiger Währung

Hamburg (1400) 336 000 3 192 000

Lübeck (1384) 293 760 2 790 720 ,,

Rostock (1334) 76 640 ,, 728 080

Stralsund (1378) 330 240 3 137 280

Nach den Berechnungen Schulte s ist der sich über den St. Gotthard bewegende Jahresverkehr im Spätmittelalter auf eine Gewichtsmenge von 1250 t anzusetzen; das ist, wie bekannt, de!- Inhalt von ein bis zwei Güterzügen.

Recht genau sind wir über die Ausmaße des städtischen G e - treidehandels im Mittelalter und zum Beginn der Neuzeit unterrichtet. Die Menge des Getreides, das im 16. und 17. Jahr¬ hundert in den bedeutenden Getreidehandelsplätzen Stettin und Hamburg in den Handel kam, betrug in Stettin 2—3000 t, in Hambuig das Doppelte, der gesamte Jahresumsatz Stettins an Getreide in seiner Blütezeit umfaßte also eine, derjenige Ham¬ burgs zwei unserer heutigen Schiffsladungen2 3 * * * *.

Noch genauer kennen wir die Mengen der aus England während des Mittelalters von den Ausländern ausgeführten Wolle8. Sie betrug beispielsweise im Jahre 1277/78 14301 Sack.

1 W. Stieda, Revaler Zollbücher und -Quittungen des 14. Jahr¬ hunderts. Hans. Geschichtsquellen Bd. 5 (1887) LVI, LVII. Die Einleitung Stiedas zu dieser Edition gehört unzweifelhaft zu den wertvollsten Publikationen über mittelalterlichen Handel. Vgl auch

Oskar Wendt, Lübecks Schiffs- und Warenverkehr in den Jahren 1368 und 1369 (1902).

3 W. Naude, Deutsche städtische Getreidehandelspolitik vom

15. bis 17. Jahrhundert usw. 1889; dazu meine Anzeige des Buches

m Schmollers Jahrbuch XIV, 312 ff. Ich habe dort versucht auf

rechnerischem Wege und durch Vergleiche mit modernen Verhältnissen

eine genauere Vorstellung von dem Umfange des Getreidehandels Hamburgs und Stettins in ihrer Blütezeit zu gewinnen.

8 Das war etwa zwei Drittel der Gesamtausfuhr nach den Be¬ rechnungen Schaubes in dem unten auf S. 309 zit. Aufsatze S. 68-

Achtzehntes Kapitel: -Der Handel als Handwerk

283

den Sack zu rund 2 dz gerechnet, also noch nicht ganz 30 000 dz oder 3000 t ; die von den hansischen Kaufleuten in diesem Jahre exportierte Wolle bezifferte sich dagegen auf 1655 Sack, rund 3300 dz oder 330 t\ während in den letzten Jahren nach Deutsch¬ land etwa 200000 t Wolle jährlich ein geführt wurden.

An diesem Bilde ändert sich auch nichts, wenn wir den Geld¬ ausdruck für die W arenmenge einsetzen. Der Preis für den Sack Wolle betrug in England während des 14. Jahrhunderts etwa

90 _ 100 sh, das wären in heutiger Reichs Währung etwa 300 Mk.

(den damaligen englischen Penny zu 20,625 troygrains Feinsilbei o-erechnet). Die Gesamtausfuhr der englischen Wolle würde also einem Werte von 4-5 Mill. Mk. heutiger Währung, diejenige der Hanseaten einem solchen von etwa 500 000 Mk. heutiger Währung entsprochen haben. Im Jahre 1913 wurde aber füi 412.7 Mill. Mk. heutiger Währung rohe Schafwolle eingeführt.

Kun gewinnen aber alle diese Ziffern für uns erst ein Inter¬ esse, wenn wir gleichzeitig die Zahl der Händler kennen,

die jenen Umsatz bewirkt haben.

Die Zahl der Getreidehändler in Hamburg während des 16. Jahrhunderts wird uns mit 6 12 angegeben, alleidings von einem Gewährsmann, dessen Interesse eine Unterschätzung der Ziffer wahrscheinlich macht. Immerhin lassen auch andere An- o-aben den Schluß zu, daß ein „großer“ Getreidehändler jener schon verhältnismäßig späten Periode nicht mehr als höchstens 400 Last Getreide umsetzte1 2.

An der Wollausfuhr aus England waren aber m dem an-

1 Hans. Geschichtsquellen 6 (1891), 332. Die angeführten Zahlen betreffen die erteilten Lizenzen, stellen also das meist nicht er¬ reichte Maximum der Ausfuhr dar.

2 Ein renommistischer Chronist schreibt gegen 1500 (Naud6, o*J, es gäbe Bürger, die in einem Jahre wohl 400 Last Korn verschi en. Dasgwar also ein Wunder. 1580 petitionieren die Stettiner Kaufleute . man möchte doch lieber, statt ihnen einen Eid aufzuerlegen, vor- schreiben, wieviel Getreide - 60 oder 100 Last - der Kaufmann, nach Gelegenheit der Zeit, als Maximum kaufen dürfe. Innerhalb des ganzen Jahres? es möchte fast unglaublich erscheinen. Wenn aber 400 Last etwas Besonderes war, dann sind 100 Last durchschnittlich, als rrebnis einer zwangsweisen Beschränkung , noch gar nicht so wen g. In demselben Jahre (1580) klagen die Gildebrüdei^ „es sei zum Er- barmen, daß 6, 8, höchstens 11 oder 12 Personen den Q^nleams^ ausschließlich in Händen hätten“ (a. a. O. b. 73). Das war also schon ein Zustand, der als ungesund empfunden wurde, so daß wir für die frühere Zeit eine viel größere Anzahl Händler annehmen müssen.

284 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

gegebenen Jahre nicht weniger als 252 Händler beteiligt, so daß auf jeden Händler ein Durchschnitt von 56 Sack oder etwa 110 dz Wolle, ein Umsatz von etwa 15000 Mk. heutiger Währung entfällt, während die Zahl der deutschen Händler 37 betrug, ihr Diu chschnittsanteil sich also auf 45 Sack oder 90 dz, ihr durch- schnittlicher Umsatz auf 13—14000 Mk. heutiger Währung be¬ zifferte.

Im allgemeinen dürfen wir annehmen , daß ebenso klein wie die Menge der insgesamt umgesetzten Waren im Mittelalter gewesen ist, ebenso groß die Ziffer der daran beteiligten Händler war.

Man hat diejenigen Historiker verspottet, welche „die zahl¬ losen Städte von Köln und Augsburg bis Medebach und Kadolf- zell mit Kaufleuten im modernen Sinne, also einem berufsmäßig entwickelten Stand von Händlern bevölkert“ haben. Gewiß mit Hecht, soweit es sich um Übertragung des modernen Großkauf¬ manns in die mittelalterlichen Städte handelt. Mit Unrecht jedoch meines Erachtens, sofern nur die Zahl der (allerdings durchaus handwerkerhaften) Händler in Frage kommt. Diese war gewiß sehr hoch. Es hat in der Tat in den mittelalterlichen Städten, wenigstens soweit sie Handel trieben, von Händlern und Handelshilfspersonen förmlich gewimmelt. Man mag sich in die Zustände Genuas oder Venedigs im 12. oder 13. Jahr- hundert, in die einer hanseatischen Stadt noch am Ausgange des Mittelalters versenken: immer stößt man auf denselben Haufen kleiner und mittlerer Händler. Man ermesse doch, was das heißt: 252 Wollhändler sind bei der Ausfuhr von 30 000 dz Wolle beteiligt! Man bedenke, daß es zur Bewältigung des oben charakterisierten Getreidehandels in Hamburg 48 "beeidigter Kornmesser und 132 beeidigter Kornträger bedurfte. Oder man vergegenwärtige sich das Gewimmel im Fondaco dei Tedeschi m Venedig, der bis 1505 allein zu Wohnzwecken 56 Gelasse enthielt, später 72 und 80, die immer besetzt waren, und in dem 30 Makler, 38 Ballenbinder, 40 Auktionatoren und eine Unmenge von Verwaltungspersonal ihr Wesen trieben1. Oder man denke an das Heer von arbeitsteilig organisierten Beamten, das unter dem prevost und den echevins in Paris steht, zur Besorguno-

1 Simonsfeld, Der Fondaco dei Tedeschi 2 (1887), 10, 18 ff 112. „Eine Eigenart des Mittelalters ist das starke Hervortreteu der kaufmännischen Beamten- und Mittlerelemente (Makler, öffentl. Messer Wäger usw.).“

285

Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk

der scharf voneinander abgegrenzten Handelshilfsgeschäfte. Oder man blättere die Chartae in den Historiae patriae Monumenta durch, tun zu erstaunen, daß fast alle Tage ein Commendavertrag in dem Genua des 12. Jahrhunderts abgeschlossen wird über irgendein Handelsunternehmen kleinsten Umtangs.

Doch wird es sich für unsere Zwecke mehr empfehlen, statt uns auf diese Erwägungen allgemeiner Natur einzulassen1, uns nach konkretem Zahlenmaterial für den Geschäftsumfang odei den Warenumsatz einzelner Händler umzusehen., Glücklichei - weise fehlt es daran nicht. Gleich die zuletzt erwähnte Quelle gibt uns in ihren Notariatsverträgen über temporäre „Handels¬ unternehmungen“, weil darin die Beträge des eingeschossenen Betriebsfonds angegeben sind, einen vortrefflichen Anhaltspunkt für die richtige Bemessung der Größenverhältnisse mittelaltei- lichen Handels. In dem 1858 veröffentlichten zweiten Band der Chartae finden sich von Nr. 293 ab, das heißt seit dem 16. April 1156 eine große Anzahl von Commenda- und Societas-Verträgen mit Angabe des eingeschossenen Vermögens. Solcher Verträge habe ich die ersten 50 zusammengestellt und den Durchschnitt der darin angegebenen „Gesellschaftsvermögen“ gezogen. Es gibt bei einem Gesamtbetrag von 7470 genuesischen Libre, über die die 50 Verträge lauten, einen Durchschnitt von rund 150 lb., das heißt bei einem Verhältnis der Lira zum Florin von 5 : 4, von 120V2 fl., das sind also etwa 1000—1100 Mk. heutiger Währung-.

Unter den Beträgen lautet der höchste über 900 lb., zwei weitere über mehr als 400 lb., zwei über 300 lb., der Best bleibt unter dieser Summe. Dabei handelt es sich vielfach um Ge¬ schäfte mit fernen Ländern: Nr. 431 Vertrag über 297 lb. Handel nach Alexandria, 434 (224 lb.) nach Tunis, 441 (150 lb.) nach Alexandria, 457 (300 lb.) nach Sizilien usw. Häufig wird der eine der Anteile in Waren (in pannis) geleistet: es assoziiert sich ein Handwerker, der Tücher macht, mit einem anderen, der die Tücher über Land oder See verführen soll.

Ganz ähnliche Ziffern wie in dem Genua des 12. Jahrhunderts finden wir in den Gesellschaftsverträgen Lübecks im 14. und 15. Jahrhundert. In den von P.Eehme veröffentlichten Sozietas-

1 Als ein Symptom geringen Umsatzes, das ebenfalls noch all¬ gemeiner Natur ist, wäre auch das lange Verharren bei der effektiven Silberwährung anzuführen. Die ersten Goldmünzen werden m Deutsch- land 1325 geprägt (Schulte 1, 329); m England 1341. } 1

Foedera etc. 5, 403.

286 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

vei ti ägen, die im Lübecker Niederstadtbuch eingetragen sind (wo übrigens nur die erheblichen Geschäfte insbesondere mit ferner- stehenden Personen gebucht wurden), bleibt der größte Teil der Beträge (72) unter 100 liib. Mark (etwa 1000 Mk. h. W.), die Beträge gehen bis auf 4 Mark hinunter. Ein kleiner Teil bewegt sich um 200 Mark. Beträge zwischen 460 und 1000 Mark finden sich 5 darunter, ferner Beträge zu 1350, 1400, 3200 und 4600 : die beiden letzten, die einzigen also, die aus dem Lahmen eines handwerksmäßigen Geschäftsumfanges heraustreten, sind von je denselben beiden Personen (Abr. Bere und Joh. de Alen) be¬ zahlt b b

Hätte man sich die kleine Mühe schon früher gemacht, die Summen, die den Commenda- und Societas -Verträgen zugrunde liegen, aufzurechnen: es wäre viel unnützes Gerede über die „wirtschaftliche Natur“ dieser Gesellschaftsformen vermieden worden2, in denen man von Anbeginn an die Flügelschläge des Kapitalismus hat wollen rauschen hören.

Ebenso wie die Gesellschaftsverträge gewähren einen Anhalt lür die Abmessung der Warenumsätze mittelalterlicher Handels¬ geschäfte die Ziffern, die die Vermögen der Kaufleute zum Ausdruck bringen

Wir dürfen bei der Länge der Umschlagsperioden damaliger Zeit getrost annehmen , daß kein Händler für mehr Waren Im Jahre umsetzte, als sein Vermögen Wert hatte, das ja noch großenteils in Liegenschaften angelegt war. Nun hören wir aber beispielsweise, daß 1429 in der reichen Handelsstadt Basel nur 5 Kaufleute mehr als 4000 fl. besaßen, davon 4 zwischen 4000 und 6500 fl., 30 ein Vermögen zwischen 1000 und 4000 fl., 14 ein solches zwischen 500 und 1000 fl., 22 zwischen 100 und 500 fl., 6 unter 100 fl. ihr eigen nannten8. Selbst in Augs¬ burg finden wir am Ende des 15. Jahrhunderts erst 70 Per-

,, ' P--DEe!lm® in ^er Zeitschr. f. d. ges. HR. Bd. 42. Vgl. auch *-'• W. r auli, Liibeckiscke Zustände, 3 Bde. 1846 78 1, 140 ff.

.. 4U® der Literatur über Kommenda- und ähnliche Verhältnisse uie bei Goldschmidt im übrigen wohl vollständig verarbeitet ist, ra-en hervor: Lästig, Beiträge zur Geschichte des Handelsrechts, in der Zeitschrift für das ges. Handelsrecht Bd. 24, Lattes, II diritto com- merciale nella legislazione statutaria della cittä italiane (1884), 154 ff.

?naS Weber Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter, 1889. Vgl. noch die unten S. 312 f. genannten Werke.

180/81 bchönberS> Finanzverhältnisse der Stadt Basel (1879),

287

Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk

sonen, die ein Vermögen von je mehr als 6000 fl., 15, die ein solches je über 15000 fl., 4 je über 30000.fi. besitzen1 * 3.. Und von den 70 Personen gehörte wohl nur ein kleiner Teil der Berufshändlerkaste an.

Bin weiteres Symptom für die Kleinheit auch des Seehandels in vorkapitalistischer Zeit ist das geringe Ausmaß dei Schiffe, die ja zudem noch, trotz ihrer geringen Größe, meist von mehreren besessen wurden: bekanntlich ist der Partenbesitz bis tief in die Neuzeit hinein die charakteristische Form der

Die Schiffe, die im 13. Jahrhundert von New Castle mit Steinkohle als Ballast ausliefen, hatten weniger als 40 t Gehalt“.

Im Jahre 1470 wurden sieben spanische Schiffe mit Eisen, Wein, Früchten und Wolle beladen, auf dem Wege nach Flandern von englischen Fahrzeugen gefangen und in englische Seehäfen erbracht. Die Eigentümer wandten sich an den König Hein¬ rich VI. um Losgebung und legten einen Eid ab über den Wert der Schiffe und der Ladung. Folgendes sind die Wertangaben 4 : 1 Schiff von 100 t = 107 £ 10 sh. Geldwert 1 , ., 70 t = 70 sh. .

1 120 t = 110 £ sh.

1 M 40 t = 70 Ji^ sh.

1 110 t = 140 £ sh.

1 r 110 t = 150 £g sh.

1 l 120 t = 180 £ sh.

In den Jahren 1368—1384 wurden Seeschiffe, die in den Häfen Reval, Riga oder Pernau verkehrten, mit 475—3421 Mk.

1 J. Hartung, Die Augsburger Zuschlagsteuer von 1475; der¬ selbe, Die augsburgische Vermögenssteuer und die Entwicklung der Besitzverhältnisse im 16. Jahrh., beide Aufsätze in Schmollers Jahrb. 19 /-irqo Die Vermögenssteuer betrug für Immobilien h Io, tui Mobilien 1U °/o ; wie sich das Vermögen auf die beiden Kategorien verteilt, wissen wir nicht, da wir nur die von einer Person- gezahlte Gesamtsteuer kennen. Ich habe ein gleiches Verhältnis zwischen beiden Vermögenskategorien angenommen. Jene 6000 fl. würden also == 4000 fl. in Immobilien = 8000 fl. in Mobilien sein. Der Steuei-

Siehe darüber v. Below in den Jahrbüchern 20, 42 ff., und vgl.

meine Darstellung im 2. Bande dieses Werkes.

3 Th. Rogers, Six Centuries ec., deutsche Übersetzung, S. 90.

4 Die Rechnung findet sich in Rymers Foedera. Sie ist abgedruckt bei W. Jacob -Klei nschrod, Über Produktion und Konsumtion der edlen Metalle 1 (1838), 222.

288 Vierter Abschnitt-: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

heutiger Währung bezahlt1. Während des 14. Jahrhunderts waren in norddeutschen Städten Seeschiffe von mehr als 100 Last noch nicht häufig, solche von 150 Last außerordentlich selten2.

Selbst die Seeschiffe der venetianischen Handelsflotte, die wahr¬ scheinlich die größten ihrer Zeit gewesen sind, waren, an den Größenverhältnissen unserer Tage gemessen , winzig : kleinere Spreekähne. Nach den Stat. nav. 3, die für das 13. Jahrhundert galten, betrug die Tragfähigkeit der venetianischen Seefahrer 200000 bis 1 Million Pfund; das wären, wenn wir das U subt. annehmen 662/s 333V3 t, beim U gross 96 480 t. Zudem lassen die Statuten nicht erkennen, ob die größeren Typen gebaut wurden: nur für den Fall, daß sie gebaut werden, werden sie bestimmten Vorschriften unterworfen. Dagegen gab es (1912) unter den deutschen Binnenschiffen 9100 mit mehr als 250 t Tragfähigkeit, darunter 2317 mit 400 600, 1423 mit 600 800, 1650 mit 1800 und mehr. Der Bheinkakn hat bereits eine durch¬ schnittliche Tragfähigkeit von mehr als 500 t.

Wenn nun an der überhaupt geringen Ladung eines solchen Schiffes, wie es die Hegel war, noch obendrein eine ganze An¬ zahl von Kaufleuten beteiligt war, so läßt sich daraus auf den geringen Umfang der einzelnen Geschäfte ein sicherer Schluß ziehen. Stieda hat uns für das Jahr 1369 über den AVert der Ladungen von 12 aus Reval abgehenden Schiffen, sowie über die Zahl der daran beteiligten Kaufleüte außerordentlich lehr¬ reiche Angaben gemacht. Danach betrug die Zahl der Kaufleute, die auf diesen 12 Schiffen Waren versandten, 178; der Gesamt-

! Stieda, Revaler Zollbücher, LXIX.

* Hirsch, 264. „In jener Zeit lag es im Interesse der See¬ schiffer , möglichst flachgehende Fahrzeuge zu führen , weil sie mit diesen am bequemsten auch in flache Häfen hineinsegeln konnten. An Baggerarbeiten in größerem Maßstabe, an Vertiefung der Mündung dachte wohl niemand“, bemerkt für Stettin im 14. Jahrhundert Th. Schmidt, Zur Geschichte der früheren Stettiner Handels¬ kompagnien usw. (1859), 8. Vgl. F. Sie wert, Geschichte und Urkunden der Rigafahrer in Lübeck, Hans. Geschichtsquellen. N. F. Bd. I (1899), 207 ff. Sehr anschaulich stellen die Zeichnungen Willy Stöwers die verschiedenen Typen der Hansaschiffe im 14. und 15. Jahrhundert dar. Es sind in der Tat im heutigen Sinne Nachen, wie sie auf den deutschen Flüssen zu wirtschaftlichen Zwecken nur noch selten verkehren. Siehe die Tafel im VII. Bde. der von Hans F. Helmolt herausgegebenen AVeltgeschichte (1900) zwischen S. 36 u. 37.

3 Abgedruckt bei Tafel und Thomas, 3, 404 448.

Achtzehntes Kapitel : Der Handel als Handwerk

289

wert sämtlicher 12 Schiffsladungen aber bezifferte sich auf 29 304 '/2 Mk. lüb. Jeder einzelne Kaufmann hatte also im Durch¬ schnitt einen Warenwert von 164 Mk. lüb. oder etwa 1600 Mk. heutiger Währung verfrachtet1. Daß die Größenverhältnisse aber keineswegs vereinzelte waren, lehren uns zahlreiche andere Fälle, die ein ganz ähnliches Bild gewähren. Der Wollhändler in England wurde schon im allgemeinen gedacht. Kehren wir noch einen Augenblick zu ihnen zurück, um sie noch etwas genauer zu betrachten. Versetzen wir uns in den englischen Hauptausfuhrhafen für Wollen im 13. und 14. Jahrhundert: Boston. So begegnen uns dort2 * beispielsweise im Jahre 1303 nicht weniger als 47 hanseatische Wollhändler, die zusammen 749 Sack Wolle ausführen. Von ihnen ist der bedeutendste ein Walter aus Reval , der 91 Sack P/2 Stein (für etwa 30000 Mk. heutiger Währung) exportiert; der nächstgrößte hat 68 Sack löVz Stein zu Schiff gebracht; dann folgen drei, die mehr als 40 Sack, sieben, die mehr als je 10 Sack ex¬ portieren; auf den Best 35 Händler entfallen zusammen 305 Sack 17x/2 Stein, jeder einzelne von ihnen ist also nach England gefahren, um weniger als 20 dz Wolle für weniger als 300 Mk. heutiger Währung nach Hause zu bringen.

Welche Quoten bei einer hansischen Schiffsladung auf die einzelnen Verfrachter entfielen, zeigt Urk. Nr. 352 im Bremer ÜB. 4, 462 8. Einschließlich des Kapitäns Kolingh, der auch Waren an Bord hatte, sind es 15 Verfrachter, die zusammen für 384 nobelen (a 1/a verladen haben. 10 von ihnen haben Waren im W erte bis 30 nobelen; darunter 2 für 6, einer für 3 nobelen. Einer verlädt für 42, einer für 44 nobelen, 3 für je 60, einer für 80, einer für 100, einer für 22o (6 Last Weizen und 2 Last Bier).

Ganz dasselbe Bild selbst in Venedig: der Wertbetrag einer Schiffsladung wird (im 12. Jahrhundert) beispielsweise auf 632 Perpern (ca. 6000 Mk.) angegeben, davon einer der Teilhaber 158 Perpern eingelegt hat. Ein anderer gibt 79 Perpern dazu4 *; alles also Summen, mit denen heute der Kolonialwarenhändler

1 Stieda, Revaler Zollbücher LXXXVTII ff. Vgl. dazu Stieda, Schiffahrtsregister, in Hans. Geschichtsblätter 1884, 77 ff.

2 Hans. Geschichtsquellen 6, 340 ff.

8 Vgl. noch Rud. Häpke, Die Entstehung der großen bürger¬ lichen Vermögen im M.A. in Schmollers Jahrbuch 29 (1905), 1079.

4 R. Heynen, Entst. des Kapitalismus (1905), 91.

Sombart, Ber moderne Kapitalismus. I. 14

290 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

in Bentschen Handel treibt. Winzig sind selbst die Waren¬ umsätze der großen Florentiner Handelshäuser noch im 14. Jahr¬ hundert, die doch als Geldleihgeschäfte so bedeutend waren: 1312 empfangen die Bardi für zwei Scharlachtücher aus Ypern 270 fl., für 13 Stücke französisches Tuch 389 j£, 17 sh., 2 d., im Jahre 1322 führen sie 74 Stücke Tuch und 5 Ballen Seidenzeug nach Pisa aus : also Grossistenumsatz in Leitomischel. Im Oktober 1330 waren ihnen im Hafen mehrere Schiffe beschlag¬ nahmt, deren Ladung zusammen (!) einen Wert von 11000 fl. darstellte h Darunter waren 360 000 U Käse. Das sieht nach etwas aus, ist aber nichts : es sind 180 t. (Einfuhr nach Deutsch¬ land im Jahre 1913: 26 264 t). Fast unglaublich klein sind die Warenumsätze, mit denen sich im 15. Jahrhundert die Medici in Florenz befaßten2 3.

Daß der Landhandel eher noch in kleineren Mengen sich abwickelte, ist von vornherein wahrscheinlich und wird durch ein umfangreiches Quellenmaterial bestätigt. Daß es im 13. Jahr¬ hundert verlohnte, über „3 pecias telarum de Basic“ einen Com- mendavertrag abzuschließen0, wird uns nicht in Erstaunen setzen, wenn wir noch im 16. Jahrhundert Jos. Kramer, einen der reichsten Männer Augsburgs, seinen Faktor nach Venedig schicken sehen, um 16 Sack Baumwolle, den Zentner um 4 Dukaten 17 gross einzukaufen4. Zwei Kaufleute aus Lille, die 1222 bei Como ausgeraubt werden, führen 13x/2 Stück Tuch und 12 Paar Hosen bei sich5. Der Wert einer im Jahre 1391 von Kittern geplünderten Karawane Basler Kaufleute, die zur Frankfurter Messe zogen, wurde auf 9544 fl. oder 12 430 lb. geschätzt. Daran waren aber nicht weniger als 61 (!) Kaufleute beteiligt, deren jeder also mit einem Warenwerte von durchschnittlich 156 fl. die be¬ schwerliche Keise angetreten hatte. Der Jahresumsatz der reichsten Basler Kaufleute betrug damals 1200 1400 fl., die meisten aber erreichten mit ihrem Umsatz diesen Betrag nicht annähernd. Unter jenen 61 die Frankfurter Messe besuchenden Händlern waren 27, die weniger als 100 fl. Verlust anzumelden hatten, einzelne hinab bis zu 13, 10, 9, 8, 71/4 fl.6.

1 David sohn, Forschungen Bd. III Nr. 623. 635. 770. 974.

2 H. Sieveking, Die Handlungsbücher der Medici (1905), 17 f.

3 Schulte 1, 116.

4 Chroniken deutscher Städte 5, 128. 132 (Chron. d. Burkard Zink).

5 Schulte 2, 105 (Urkunde 188).

6 Geering, 145. Zum Vergleiche ziehe man etwa noch die Klageartikel Rigas gegen England vom Jahre 1406 heran, worin die

Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk 291

Mit diesen Ziffern stimmen die Beträge überein, über die die Wechsel auf den flandrischen Handelsplätzen in ihrer Blütezeit lauten. Yon 102 Yprer Meßbriefen aus der Zeit von 1251 1291 weisen nur 17 einen größeren Betrag als 100 auf; der Höchst¬ betrag ist £ 239 s. 6 \

Interessant sind auch die Ziffernangaben über die Umsätze der Kölner Krautwage in den Jahren 1491 1495* 1 2. Sie sind un¬ glaublich gering.

Was wiederum an Glaubwürdigkeit gewinnt, wenn wir hören, daß der gemeine deutsche Kaufmann in Nowgorod im 14. Jahr¬ hundert in maximo 1000 Mk., also noch nicht 10000 Mk. heutiger Währung umsetzte.

Überall bietet sich uns dasselbe Bild dar: von wenigen größeren, oft vielleicht gar nicht berufsmäßigen Kaufleuten ab¬ gesehen, eine wimmelnde Schar kleiner und kleinster Händler.

H. Der Händler

Die Träger des berufsmäßigen Handels in vorkapitalistischer Zeit waren, wie es die Größe ihres Geschäftsbetriebes vermuten läßt, nichts anderes als handwerksmäßige Existenzen. Ihr ganzes Denken und Fühlen, ihre soziale Stellung, die Axt ihrer Tätig¬ keit, alles läßt sie den kleinen und mittleren Gewerbetreibenden ihrer Zeit verwandt erscheinen. Es gibt in der Tat nichts Törichteres, als das Mittelalter mit kapitalistisch empfindenden und ökonomisch geschulten Kaufleuten zu bevölkern. Das handwerksmäßige Wesen des Händlers alten Schlages tritt vor allem in der Eigenart seiner Zwecksetzung zutage. Auch ihm liecrt im Grunde seines Herzens nichts ferner als ein Gewinn-

o

streben im Sinne modernen Unternehmertums; auch er will nichts anderes, nicht weniger, aber auch nicht mehr, als durch seiner Hände Arbeit sich recht und schlecht den standesgemäßen Unter-

Waren dreier untergegangener Handelsschiffe und ihre Besitzer auf¬ gezählt werden. Auch hier handelt es sich um Hunderte kleiner Händler, deren jeder einzelne soviel Waren auf dem Schiffe hatte, als heute ein Packenträger auf dem Rücken oder allenfalls ein „fahrender Hausierer“ auf seinem Karren mit sich führt. Die Urkunden sind abgedruckt in Hans. Geschichtsquellen 5, 241 ff. (Nr. 326).

1 Rud. Häpke, Brügges Entwicklung zum mittelalterlichen Welt¬ markt. 1908. Anhang.

2 Geering in den Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 11. Heft 1887 S. 43. Abgedruckt auch als Beil. VIII zu Inama, DWG. m. 2, 523.

19*

292 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

halt verdienen; auch seine ganze Tätigkeit wird von der Idee der Nahrung beherrscht.

"Wir werden sehen, wie dieser Gedanke vor allem in der eigentümlichen Gestaltung der Rechts- und Sittenordnung des alten Handels zum Ausdruck kommt.

Hier mag nur daran erinnert werden, wie der handwerks¬ mäßige Geist des urwüchsigen Handels als die selbstverständliche Seelenstimmung der langen Jahrhunderte des Mittelalters gleich¬ sam seine Bestätigung findet in all den zahlreichen Buß- und Reformschriften, die bei Beginn der neuen Zeit aus dem Boden wachsen. Dieselbe Reformation Kaiser Sigismunds, die wir schon zur Charakterisierung des handwerksmäßigen Gewerbetreibenden heranziehen konnten , hatte den Kaufleuten nur den Ersatz der Reise- und Transportkosten gestatten und jeden Unternehmer¬ gewinn verbieten wollen. Wie aber die Reformatoren, vor allem Luther, mit treffsicherem Listinkte den alten die „Nahrung“ ver¬ bürgenden Handel richtig gezeichnet hatten, bringt die folgende Stelle deutlichst zum Ausdruck1 : „Darumb mustu dyr fursetzen, nichts denn deyne zymliche narunge zu suchen ynn solchem handel, darnach kost, muhe, erbeyt und fahr rechen und uber- schlahen und also denn die wahr selbst setzen, steygern oder nyddem, das du solcher erbeyt und muhe lohn davon habest.“ In ganz der gleichen Richtung bewegen sich die Gedankengänge der berühmten Schrift Christian Kuppeners über den Wucher (1508). Auch hier dieselbe Gegenüberstellung : die neuen Männer, die den grenzenlosen Gewinn erstreben nnd der petit commerce solide, der dem ehrsamen Handwerkshändler samt seiner Familie ein standesgemäßes Auskommen gewährt hatte 2. Im Mittelpunkt

1 M. Luther, Von Kaufshandlung und Wucher (1524). Werke- Krit. Ges. Ausg. 15 (1899), 296.

2 „Kaufmannschatz“ ist „ziemlich“ „dy do geschieht . . . czu einer erlichen entliehen unn wirgklichen that als nemlichen czu enthaltunge seins hauszes und seiner kinder unn hauszgesindes nach seinem stände . ..“; sie wird „unziemlich“ und „ungöttlich“ „czum ersten durch den grausamen, ungesetigten, unmessigen geitz eines menschen“. Nach den Auszügen aus der Schrift Christ. Kuppeners über den Wucher bei M. Neumann, Geschichte des Wuchers in Deutschland. Beilage E, S. 594. 595. Db und El. Durchaus handwerksmäßigen Geist atmen denn auch die „Regeln frommer Kaufmannschaft“ a. a. 0. S. 606. (F 3V) , deren Nr, 4 besagt: der Gewinn der Kaufgeschäfte solle nicht aus Habgier, sondern als Ersatz der aufgewendeten Arbeit genommen werden.

Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk 293

der Erwägungen aller dieser Kritiker steht der Gedanke: auch der Händler solle in seinem Verdienst nur einen Ersatz für auf¬ gewandte Arbeit erblicken: hier ist die Wurzel für die Idee von dem „gerechten“ Preise , die das ganze Mittelalter beherrscht. Demi auch der Händler ist in ihren Augen oder wenigstens soll es sein, weil es so seit jeher Brauch und Übung war nichts anderes als ein technischer Arbeiter1. Und damit treffen sie wiederum den Kern der Sache. Wollen wir uns ein richtiges Bild von dem Kaufmann alten Schlages machen, so müssen wir zunächst alles vergessen, was wir vom modernen Handel und seinen Trägern wissen.

Dieser ist ja vor allem und heute fast ausschließlich Or¬ ganisator des Absatzes. Seine Kunst, die er ausübt und di e ( zu einer Wissenschaft weitergebildet hat aus Gründen, die in anderem Zusammenhänge genauer dargelegt werden besteht, wie wir es nennen, in der „Beherrschung des Marktes“. Das heißt: er macht es sich zur Aufgabe und die Eigenart des mo¬ dernen Wirtschaftslebens bringt es mit sich daß die Erfüllung dieser Aufgabe als die Ausübung einer hoch zu lohnenden P unktion betrachtet wird die Waren an den Mann zu bringen. Überall dort ist das eigentliche Tätigkeitsgebiet modernen kaufmännischen Wesens, wo der Markt übersetzt ist, wo zwei Produzenten einem Käufer nachlaufen. Dann wird der Kaufmann Herr der Situation, dann beginnt er, den Produzenten in Abhängigkeit von sich zu bringen. Dann ist er aber ein guter Kaufmann auch nur, wenn er scharfsinnig zu disponieren, zu kalkulieren, zu spekulieren versteht. Von alledem aber weiß ja nun die frühere Zeit, wissen die Jahrhunderte insbesondere, die wir Mittelalter nennen, dank der unentwickelten Produktionstechnik so gut wie nichts. Absatz¬ not ist ihnen fremd. Zwei Käufer laufen in der Regel einem Produzenten nach. Der Absatz bewegt sich in gewohntem Rahmen, in ausgefahrenen Geleisen. Die Mengen der um¬ zusetzenden Waren sind gering. Wo also in aller Welt sollte

1 So nennt noch Heinrich von Langenstein den Kaufmann neben dem Bauern und Handwerker als einen Mann, der „für sich und andere im Schweiße seines Angesichts durch körperliche Arbeit den nötigen Lebensunterhalt“ be¬ schaffe im Gegensatz zu dem geistigen Arbeiter und dem Müßiggänger, zu denen die vertragschließenden Wucherer gehören. Tractatus de contractibus emtionis et venditionis, im Anhänge der Kölner Ausgabe von Gersons Opp. 4, 185 f., bei Janssen 1, 480.

294 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

der Händler etwas zu disponieren, zu kalkulieren oder zu speku¬ lieren finden? Aber dieselben Umstände, die seine Entwicklung zum kapitalistischen Unternehmer kintanhalten, sie zwingen ihm eine Menge von Arbeitsverrichtungen technischer Natur auf, die dem Kaufmann heutigen Tages abgenommen sind. Fand sich für ihn keine Gelegenheit, zu disponieren, zu kalkulieren und zu spekulieren, so . hatte er umsomehr zu emballieren, zu misurieren, zu. transportieren, zu detaillieren, ja auch gelegentlich, noch, zu fabrizieren. Man weiß 1, welch mühsames und meist gefährliches Werk jedes Handelsgeschäft war, das eine Ortsveränderung der AVare (und darum handelte es sich ja fast immer) zur Voraus¬ setzung hatte, weiß, daß der Händler selbst mit dem Schwert umgürtet sich auf die Heise begeben, Wochen- und monatelang lang in. eigener Person Wagenführer und Herbergsvater spielen mußte, um seine paar Colli glücklich an ihren Bestimmungsort zu bringen. Viel mehr als heute war der Kaufmann unterwegs ; die zahllosen kleinen Händler des Mittelalters finden wir fort¬ während über ganze weite Länder zerstreut, bald in dieser, bald in jener Stadt auftauchend2.

Eine Urkunde von 1271 schildert treffend den mittelalterlichen Kaufmann: „Mercatöres, qui de loco ad locum merces etnecessaria deferre consueverunt.“ 3

Andreas Kyff besucht jährlich 30 und mehr Märkte. Er sagt von sich: „Hab wenig Ruh gehabt, daß mich der Sattel nicht an das Hinterteil gebrennt hat.“ 4

Kam er aber in die Heimat zurück , so galt es , ebenso wie vorher auf den Messen und Märkten in fremden Orten, hinter dein Ladentisch stehen und Elle und AVage fleißig führen5. Der

1 Siehe darüber die zusammenfassende Darstellung bei Sckmoller, Die Tatsachen der Arbeitsteilung, in seinem Jahrbuch 13, 1055 ff., und Gengier, Deutsche Stadtrechtsaltertümer (1882), 456 ff. Abel Material bei Kl öden, namentlich Stück 2 und 3, und Falke, Zoll¬ wesen, 197 ff. Aus der neueren Literatur seien hervorgehoben A. Doren, Untersuchungen zur Geschichte der Kaufmannsgilden des Mittelalters, 1893, und Des Marez, La lettre de foire ä Ypres au XIII. siede (1901), 75 ff. Es sei auch an dieser Stelle daran erinnert, daß der Begriff des „Handels“ sich ursprünglich mit dem des „Wandels“, Transportierens bzw. AVanderns vielfach deckt. Das hat Schräder, a. a. 0. S. 63. 79 und öfters, überzeugend nachgewiesen.

2 v. Maurer, Städteverfassung 1, 403 ff.

3 Hans. UB. 1, Nr. 692. 4 Geering, 412.

5 Es ist meiner Auffassung nach v. Below in seinem öfters an¬

gezogenen Aufsatze in den Jahrbüchern für N.O. 20, 1 ff. vollständig

Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk

295

Krämer bereitete aus dem eingehandelten Saffran, Pfeifer und Ingwer den Spieswurz, Gutwurz, Kintpetterwurz oder gefärbten Wurz* 1. Welch, großer Wert auf die technischen Fertigkeiten des Gewürzkrämers gelegt wurde, zeigt eine Verordnung Karls VIII. von Frankreich aus dem Jahre 1484 , die eine genaue Revision der Gewichte und Wagen aller derer befiehlt, die Zucker und Gewürze verkaufen und vorschreibt: „daß wegen der Wichtigkeit der Arbeiten mit Zucker und Konfekten auf die Einhaltung einer vierjährigen Lehrzeit und die Anfertigung eines gelungenen Meisterstückes streng zu sehen sei“ 2. Also eine Analogie zu den Apothekern! Technische Arbeitsverrichtungen, wo immer wir hinblicken, bilden die Haupttätigkeit des vorkapitalistischen Händlers. Selbstverständlich lag ihm daneben dann auch die besondere kaufmännische Funktion des Warenumsatzes, also des Einkaufens und Verkaufens ob. Und mehr als seinen Kollegen hinter dem Schraubstock oder der Hobelbank wies ihn sein Beruf in die geheimnisvolle Welt der Zahlen hinein. Aber auch soweit er im engeren und eigentlichen Verstände Händler war, müssen wir uns seine Tätigkeit noch bar jedes ökonomischen Rationalismus denken. Seine „Geschäftsführung“, sein „Verfahren“ ist, wie das seines gewerblichen Kollegen, durchaus empirisch-traditionell.

Die Kunst des Schreibens und Lesens war in Italien bis in das 13. Jahrhundert, hinein, im übrigen Europa das ganze Mittelalter hindurch sicherlich nur einem Bruchteil der Berufshändler vertraut. Wir wissen es gerade aus dem Venedig des 10. Jahrhunderts, daß nur wenige Kaufleute auch nur ihren Namen unterschreiben konnten3: vermutlich wird dieses Verhältnis der Schreib- und Leseunkundigen zu den Schnft- o-elehrten auch in späteren Jahrhunderten des Mittelalters sich

o-elungen den Nachweis zu führen, daß bis ins 16. Jahrhundert hinein ein selbständiger „Engroshandel“ (in Deutschland) nicht bestanden habe, vielmehr alle Importeure und Exporteure auch detaillierten, d. h.’ „Krämer“ oder „Gewandschneider“ waren.

1 G e e r i n g , 240/42.

2 A. Philippe, Gesch. der Apotheker, 2. Aufi. deutsch 1859.

If nn ^

3 Von 69 Vertretern, die die Urkunde von 960 betreffend Veibot des Handels mit Sklaven unterzeichnen, schreiben nur 35 ihren Namen mit eigner Hand; in der Urkunde von 971, betreffend Handel in Holz und Waffen mit Sarazenen von 81 gar nur 18; bei den übrigen Namen steht „signum manus“. Fontes rer. austr. 12, 22 ff., bzw. 28 ff. Vg , dazu jetzt R. Heynen, Entst. des Kap., 81 f.

296 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

nur sehr allmählich verschoben haben. Sicher wissen wir da¬ gegen, daß die für den Kaufmann von Beruf fast noch wichtigere Rechenkunst während langer Jahrhunderte sich auf niedrigster Stufe bewegt hat und fast das ganze Mittelalter hindurch ohne das Hilfsmittel der Schrift sich hat behelfen müssen. Auch hier müssen wir zwischen Italien und dem übrigen Europa an die 200 Jahre Abstand annehmen. Italien ist während des ganzen Spätmittelalters Lehrmeisterin des Nordens in der ars compu- tandi gewesen. Noch Lukas Rem geht im Beginne des 16. Jahr¬ hunderts nach Venedig, um rechnen zu lernen1. Und um was für ein Rechnen handelte es sich noch ! Um kaum mehr als um die Erlernung der vier Spezies im Rechnen mit ganzen Zahlen, um Lösung einfacher Regeldetriaufgaben und ein elementares „G-esellschaftsrechnen“. Es war schon Zeichen hoher kauf¬ männischer Schulung, wenn jemand sogar richtig dividieren konnte. Noch Ende des 16. Jahrhunderts tun sich Hieronymus Eroben und Andreas Ryff etwas darauf zugute, daß sie bei Teilung den Quotienten. richtig herausfinden2 3.

Das Rechnen selbst bewegte sich in den schwerfälligen Formen des Rechenbretts, der Rechenpfennige, und mußte sich noch (in Italien bis zum 16., im Norden bis zum 15. Jahrhundert) ohne Ziffern mit Stellenwert, ohne Null behelfen.

Über die Rechenkunst im Mittelalter stelle ich noch folgende Ingaben

zusammen :

Anfang des 15. Jahrhunderts tretet in Deutschland die Modisten auf. „Auf allen diesen Schulen . . . kann der Rechenunterricht nicht elementar genug gedacht werden. Kaum irgendwo wird er das Rechnen mit ganzen Zahlen überschritten haben.“ Unger, Methodik der prak¬ tischen Arithmethik (1888), 17—19. Ein deutliches Bild von dem Stande der Rechenkunst geben uns die frühesten Rechenbücher oder Kompendien der Mathematik des europäischen Mittelalters. Was ' Leonardo Pisano, der übrigens wie Jordanus seiner Zeit vorausgeeilt war, für Italien anfangs des 13. Jahrhunderts leistete, erreichen für Deutschland kaum die Rechenbücher aus dem Ende des 15. Jahr¬ hunderts. . Wie tief selbst das Niveau der Klosterschuien war, zeigt uns beispielsweise das Rechenbuch Bernards vom Jahre 1445, das

1 Von Rem selber in seinem Tagebuche (ed. Greiff, 118611, 5)

erzählt, wie er nach Venedig kommt, um den Abacus, d. h. Rechnen, zu erlernen: „da lernet, ich rechnen in öVä monat gar aus“. Andere Beispiele von Deutschen, die in Venedig das Rechnen lernten, bringt oimonsfeld, Pondaco 2 (1887), 39/40.

3 Ge e ring, 212.

Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk

297

nichts anderes als das alte gelehrte Rechnen , das wir in Europa bis auf Jordanus zurückverfolgen, lehren wollte. Und sogar auf den Uni¬ versitäten finden wir „das Rechnen . . . auf keiner höheren Stufe als auf den vorbereitenden Schulen“. M. Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik 2 (1892), 159/160. Von Grammateus er¬ fahren wir, daß der Algorithmus M. Georgii Beurbachii, der etwa das¬ jenige Maß arithmetischen Wissens enthält, welches gegenwärtig zehn¬ jährige Kinder besitzen, „gemacht sei für die Studenten der hohen schul zu Wien“. Unger, S. 25.

Das erste deutsche gedruckte Rechenbuch , das Bamberger von 1-488, enthält ebenfalls nur die ersten Elemente der Algebra. Und doch bedeutete die Veröffentlichung solcher für Kaufleute heraus¬ gegebenen Leitfaden schon einen ungeheuren Fortschritt gegen früher. Es war schon arabischer Geist in Italien, italienischer im Norden, der diese Blüten trieb. Über die verschiedenen Typen von Rechenbüchern vgl. Unger, 8 7 ff. ; Cantor, 202 ff.

Für das 16. Jahrhundert bemerkt zusammenfassend Unger, Methodik, 112: „Tüchtig rechnen können galt für keine leichte Sache, sondern für eine Kunst im vollsten Sinne des Wortes.“

In Italien bürgern sich die arabischen Ziffern mit Stellen¬ wert und Null im Laufe des 18. Jahrhunderts, offenbar aber doch nur langsam ein. Noch 1299 wird den Mitgliedern der Calimala- Zunft iu Florenz ihr Gebrauch verboten! In Deutschland sind sie nicht früher als ums Jahr 1500 Volkseigentum geworden, in England um dieselbe Zeit; vgl. außer den Werken von Unger und Cantor noch II. Hankel, Zur Geschichte der Mathematik im Altertum und Mittel- alter (1874), 340 ff. Der älteste bekannte deutsche Algorismus (eine Baseler Handschrift) stammt aus dem Jahre 1445. Sie ist heraus¬ gegeben und übersetzt von F. Unger, Das älteste deutsche Rechen¬ buch, in der Zeitschrift für Mathematik und Physik. KXXIII. Jahrg. (1888), Histor.-literar. Abteilung, 125 ff.

Wie langsam selbst in Italien die Rechenkunst Fortschritte machte, zeigt noch die Handschrift des Introduetorius über qui et pulveris dicitur in matkematicam disciplinam aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, dessen Verfasser durcheinander arabische Ziffern mit Stellenwert, römische Zahlzeichen, Finger- und Gelenkzahlen be¬ nutzt. Cantor 2, 143.

Das Rechnen mit dem Rechenbrett ist nördlich der Alpen noch während des ganzen Spätmittelalters ebenso allgemein wie die Ver¬ wendung von Rechenpfennigen (jetons, counters), die bis ins 18. Jahr¬ hundert hinein in Übung bleibt.

In Italien war damit schon früher gebrochen; Ende des 15. Jahr¬ hunderts spricht Ermolao Barbaro (j* 1495) von dem Jetonsrechnen als von einer Sitte, „qui . . . hodie apud barbaros fere omnes servatur“, also in Italien überwunden war. Vgl. wiederum Cantor, a. a. O. S. 100. 112. 197 ff. Wie schwerfällig aber das Rechnen auf der Linie verglichen mit dem Ziff errechnen war, hatte schon der Rechenmeistei Simon Jacob von Koburg richtig erkannt, wenn er schrieb: „soviel vortheils ein Fußgänger, der leichtfertig und mit keiner last beladen

298 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

ist, gegen einen, der unter einer schweren last stecket, hat, soviel vortheil hat auch ein Kunstrechner mit den Ziffern für einen mit den Linien.“ Unger, 70.

Daß bei diesem Zustande der Rechenkunst von einer genauen Kalkulation keine Rede sein konnte, liegt auf der Hand. Auch wenn man mehr "Wert als jene Zeit auf sie gelegt hätte. In Wirklichkeit wollte man aber auch noch gar nicht „exakt“ sein. Das ist eine durchaus moderne Vorstellung, daß Rechnungen not¬ wendig „stimmen“ müssen. Alle frühere Zeit ging bei der Neu¬ heit ziffernmäßiger Ausdrucksweise immer nur auf eine ganz un¬ gefähre Umschreibung der Größenverhältnisse hinaus. Jeder, der sich mit Rechnungen des Mittelalters befaßt hat, weiß, daß bei Nachprüfungen der von ihnen aufgeführten Summe oft sehr abweichende Ziffern herauskommen. Flüchtigkeits- und Rechen¬ fehler sind gang und gäbe b Der W echsel von Ziffern im An¬ satz einer Beispielrechnung bildet, fast möchte man sagen, die Regel. Wir müssen uns eben die Schwierigkeiten für jene Menschen, Ziffern auch nur kurze Zeit im Kopfe zu behalten, als ungeheuer große denken. Wie heute bei Kindern.

Aller dieser Mangel an exakt-rechnerischem Wollen und Können kommt nun aber in der Buchführung des Mittel¬ alters zum deutlichsten Ausdruck. Wer die Aufzeichnungen eines Tölner, eines Viko von Geldern, eines Wittenborg, eines Ott Ruland durchblättert, hat Mühe, sich vorzustellen, daß die Schreiber bedeutende Kaufleute ihrer Zeit gewesen sind. Denn ihre ganze Rechnungsführung besteht in nichts anderem als einer ungeordneten Notierung der Beträge ihrer Ein- und Verkäufe, wie sie heute jeder Krämer in der kleinen Provinz¬ stadt vorzunehmen pflegt. Es sind im wahren Sinne nur „Journale“, „Memoriale“, das heißt Notizbücher, die die Stelle der Knoten in den Taschentüchern von Bauern vertreten, die zu Markte in die Stadt ziehen. Obendrein noch mit Ungenauigkeiten gespickt. Auch lax und liberal in der Festhaltung von Schuld- oder Forderungssummen. „Item und ain bellin mit hentschüchen, nit waiss ich wie viel der ist;“ „item und noch ist ainer, hat

1 Siehe z. B. C. Sattler, Handelsrechnungen des deutschen Ordens (1887), 8, oder die Einleitung Koppmanns zu Tölners Handlungsbuch in den Geschichtsquellen der Stadt Rostock 1 (1885), XVIII f. oder die Steuerlisten für Paris aus dem Jahre 1292, die Ger and herausgegeben hat (Coli, des doc. ined. I. 8). „La plupart des additions sont inexactes,“ p. V,

Achtzehntes Kapitel : Der Handel als Handwerk

299

mit den obgeschriebnen gekauft; bleibt mir och 19 gülden rhe'in. umb mischtlin paternoster . . . ich hab des Namens ver¬ gessen.“ Auch den Soranzos (im Venedig des 15. Jahr¬ hunderts!) „entfällt“ gelegentlich der Name eines Kunden1. Was aber diese Notizensammlungen der mittelalterlichen Kauf¬ leute zu ganz besonders deutlichen Kennzeichen eines durch und durch handwerksmäßigen Betriebes stempelt, ist ihre Höchst¬ persönlichkeit. Sie sind von ihrem Veranstalter gar nicht zu trennen. Kein anderer kann und soll sich in diesem Wirrwarr von einzelnen Aufzeichnungen zurechtfinden. Sie tragen also ein ausgesprochen empirisches Gepräge2. Von einer irgend¬ welchen systematischen Objektivierung der Vermögensverwertung ist ganz und gar noch keine Hede. Führten aber die größeren Händler solcherweise Buch, so dürfen wir schließen, daß die große Mehrzahl der Kaufleute jener Zeit sich ohne alles Buch¬ wesen behalfen.

Und diesem gänzlichen Mangel an kalkulatorischem und ob¬ jektivierend- systematischem Sinne entspricht der Zustand des Maß- und Gewichtswesens, das, wie bekannt, ebenfalls noch in durchaus empirischer Weise, in noch starker Anlehnung an die organischen Maß- und Wägemethoden geordnet ist.

IH. Die Ordnung des vorkapitalistischen Handels

Es liegt nicht in meiner Absicht, das weitschichtige Problem, das mit dieser Überschrift angedeutet wird, auch nur in seinen Grundzügen zu erörtern. Es ist das nicht ohne Aufwand von Geist und mit vielem Wissen in letzter Zeit von zahlreichen Gelehrten unternommen worden, deren Untersuchungen den folgenden kurzen Bemerkungen zugrunde gelegt werden. Diese haben keinen andern Zweck, als den Nachweis zu führen, daß auch aus der Gestaltung kaufmännischen Rechts und kauf¬ männischer Sitte auf den unkapitalistischen Ghaiaktei des Handels im Mittelalter geschlossen werden darf.

Dabei denke ich nicht sowohl an jene Bestandteile der Rechts-

1 Sie.veking, Aus venat. Handl. -Büchern. Schmollers Jalirb. 26, 215. Vgl. noch W. von Slaski, Danziger Handel im 15. Jahr¬ hundert auf Grund eines im Danziger Stadtarchiv befindlichen Hand¬ lungsbuches (1905), 21 f.

2 Vgl. jetzt die guten Ausführungen bei Luschin v. Ebengreuth in der Gesch. der Stadt Wien II. 2 (1905), 847 ff. und bei Paul Sander, Feudalstaat und bürgerliche Verfassung (1906), 107 ff.

300 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

Ordnung, die ihre Erklärung in der ursprünglichen Gleichsetzuug von Handel und Raub finden: wohin ich das Recht der Grund¬ ruhr, das Strandrecht, das Eremdenrecht und vieles andere rechne , als vielmehr an die Ordnung des handwerksrhäßigen Handels selbst. Es ist an einzelnen Beispielen zu zeigen, wie die Handwerksliaftigkeit des vorkapitalistischen Handels aus den ihn regelnden Normen mit Deutlichkeit ersichtlich ist.

1. Das Gesellschaftsrecht und seine Entwicklung vor allem gestattet uns tiefe Einblicke in den Artcharakter des Handels quo ante.

Es ist bekannt, wie mühsam sich die Vorstellung eines quotenmäßigen Anteils der einzelnen Genossen an Kosten und Gewinn herausbildet. Die ursprünglich ja meist familienhaften Vereinigungen kennen nur eine gemeinsame Kasse, aus der die einzelnen Teilhaber je nach ihrem persönlichen Bedarf ihren Unterhalt bestreiten1. Läßt sich das Prinzip der Bedarfs¬ deckung als Zweck wirtschaftlicher Tätigkeit schroffer ver¬ treten denken als in dieser alten Anschauungsweise von gemein¬ samem Nutzen und gemeinsamer Unterhaltung? Ich denke nicht. Wie sehr dann aber die ganze Händlertätigkeit unter der Idee der Handwerksmäßigkeit stand, wie im Händler nichts anderes als der technische Arbeiter erblickt wurde, möchte ich aus der Art und Weise entnehmen, wie die Beziehungen zwischen den einzelnen Genossen auf den von mehreren ausgeführten Handels¬ reisen, insbesondere aber diejenigen zwischen den herumziehenden Handwerker-Händlern und den daheim bleibenden Geldgebern geknüpft und juristisch formuliert wurden. Ich denke hier vor allem an das viel umstrittene Institut der Oommenda und ver¬ wandter Gesellschaftsformen. Es ist bekannt, daß man gern in allen Commenda -Verhältnissen Formen kapitalistischer Handels¬ organisation erblickt. Nichts aber scheint mir verkehrter als dies. Die Commenda ist recht eigentlich die Betätigung für den

1 „Der Gedanke quotenmäßiger Mitrechte tritt während des Be¬ stehens der Gemeinschaft überhaupt nicht als Maßstab für die Be¬ rechtigungen der einzelnen hervor; ihre Bedürfnisse werden. vielmehr, seien sie groß oder klein . . . aus der gemeinsamen Kasse ohne Ab¬ rechnung der Lasten des einzelnen bestritten, in welche anderseits was gleichfalls besonders charakteristisch ist der gesamte Er¬ werb des einzelnen, sei er groß oder gering, ohne irgendwelche An¬ rechnung zu seinen persönlichen Gunsten eingeworfen wird.“ Max Weber, Zur Geschichte der Handelsgesellschaften (1889), 45/46.

Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk

301

durch und durch handwerksmäßigen Charakter jener Zeit. Das haben meines Erachtens gerade auch Lästig s Untersuchungen erwiesen, so sehr Lastigs Terminologie und wohl auch seine eigene Auffassung der entgegengesetzten Deutung der Commenda (als einer Form kapitalistischen Handels) zuzuneigen scheinen. Nach Lästig1 ist die Commenda „ein Arbeitsverhältnis; der Kapitalist, Accommendant, zieht eine andere Person (Arbeiter), Accommendatarius in seine Dienste, damit diese mit einem ihr übergebenen Kapital (!)... für seine (des Kapitalisten) Rechnung aber in eigenem (des Arbeiters) Namen gegen Anteil am Gewinn Handelsgeschäfte treibe“. Die Commenda ist seiner Auffassung nach eine „einseitige Arbeitsgesellschaft“. „Der Commendatarius oder Komplementär steht einfach im Dienste des Comandor oder Accomandans, resp. der Societas accomendantium ... er hat die Verpflichtung, mit dem ihm übergebenen Kapital innerhalb der ihm gesteckten Grenzen für Rechnung seines Herrn aber auf eigenen Namen Geschäfte zu treiben und erhält dafür häufig neben einem festen Gehalt eine Quote des Geschäftsrein¬ ertrags . . . Allein der Commendatarius oder Komplementär ist Dritten gegenüber berechtigt und verpflichtet.“ Diese Konstruk¬ tion hat auf den ersten Blick für den Nationalökonomen etwas geradezu Abstoßendes; sie scheint den wirklichen Sachverhalt auf den Kopf zu stellen. Bei näherem Zusehen ist sie dagegen durchaus berechtigt, trägt sie auch den ökonomischen Vei'hält- nissen durchaus Rechnung. Sie bestätigt nämlich gerade den schlechthin handwerksmäßigen Charakter des Handels jener Zeit dadurch, daß sie die vollständige Trennung zwischen Geld¬ besitzer und Händler zum deutlichen Ausdruck bringt. Der Geldbesitzer steht noch außer jedem Konnex mit der Handelstätigkeit selbst, die vielmehr ausschließlich Sache eines technischen Arbeiters ist. Das zur Verwertung überwiesene Geld hat noch nicht den Charakter des Kapitals angenommen, sondern ist nichts anderes als Betriebsfonds2. Ich erinnere ferner an die Höhe der Summen, die den Commendaverträgen meist zugrunde lagen: Beträge von einigen Hundert Mark in unserm Gelde, die schon wegen ihrer Geringfügigkeit außerstande sein würden, Kapitaleigenschaft anzunehmen angesichts der

1 Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht 24, S. 400 u. 414.

3 „stock-in-trade there undoubtedly was, but no Capital as we now use the term.“ Cunningham, Growth 1, 4, Vgl. das im Nach¬ trag zu diesem Kapitel Gesagte.

302 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

Hoch Wertigkeit der Arbeitskraft in früherer Zeit. Daß dann im weiteren Verlauf der Entwicklung aus jenen Kompagniegeschäften zwischen Geldbesitzern und Handwerkern Abhängigkeitsverhält¬ nisse und am Ende kapitalistische Unternehmungen erwachsen sind, soll natürlich nicht geleugnet werden. Das schließt aber nicht aus , daß ursprünglich jene Geschäftsformen gerade der rein handwerksmäßigen Organisation des Wirtschaftslebens ihre Entstehung verdanken.

Endlich aber möchte ich noch einen letzten Gesichtspunkt herauskehren, der mir in der Literatur über das vorkapitalistische Handelsrecht (die ja freilich fast ausschließlich von Juristen geschrieben ist!) nie recht die ihm gebührende Beachtung findet: daß nämlich in der bloßen Tatsache des Vorwiegens gesellschaftlich betriebener Handels Unterneh¬ mungen auch ein Beweis für deren Handwerkshaftigkeit ge¬ legen ist: Es war überhaupt meistens erst durch Aufstauung der winzigen Saohvermögen , die in den Händen einzelner Per¬ sonen angehäuft waren , möglich , einen Handel auch nur in bescheidenen Grenzen in die Ferne zu betreiben1. Gerade wie ein Schiff, selbst von den geringen Ausmessungen der damaligen Seefahrzeuge , doch immer nur von mehreren zusammen aus¬ gerüstet werden konnte. Daher die Schiffergesellschaften 2, rich¬ tiger Schiffergenossenschaften, ebenso wie die Handelsgesell¬ schaften, richtiger Händlergenossenschaften, durchaus die den mittelalterlichen Handel und Verkehr kennzeichnenden Rechts¬ formen sind.

2. Nicht minder bedeutsam für die Erkenntnis des hand¬ werksmäßigen Charakters mittelalterlichen Handels sind die

1 Die häufig wiederkehrende Form gesellschaftlichen Handels¬ betriebes findet aber des weiteren ihre Erklärung auch in dem , wie wir Wissen, in aller früheren Zeit noch stark verbreiteten Gelegen¬ heitshandel. Eben jene „vornehmen“ Leute, die dank ihres Reichtums am ehesten in der Lage waren , einen ausgedehnteren Handel zu betreiben, konnten oder wollten dies vielfach nur in der 1 orm tun , daß sie einen berufsmäßigen (Handwerker-)Händler damit beauftragten, mit dem sie dann selbstverständlich in ein Gewinn¬ beteiligungsverhältnis eintraten. Vgl. auch v. Below in den Jahr¬ büchern 20, 38 ff.

2 Über die vorkapitalistischen Schiffergesellschaften : Gold- Schmidt, S. 336 ff. , und dazu die besonders lehrreiche Tabula de Amalfa, die von Lab and herausgegeben und kommentiert ist in der Zeitschrift für das ges. Handelsrecht 7, 305 ff.

Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk 303

Rechts- und Sittennormen , die die Formen der Handels¬ geschäfte regeln, ebenso wie diese selbst natürlich. Ich darf daran erinnern, daß der älteste bekannte Wechsel, der von deutschen Kaufleuten gezogen wurde, aus dem Jahre 1323 stammt1, daß aber selbst in Frankreich die Anfänge des Wechsels nicht über das 13. Jahrhundert zurückreichen2; ich darf daran erinnern, daß wir in Frankreich noch hn 13. Jahrhundert3, in Deutschland noch während des 15. Jahrhunderts einem Verbot der Lieferungsgeschäfte, ja wohl aller Kreditgeschäfte begegnen4; daß selbst in dem Florenz des 14. Jahrhunderts die Formen des Geldhandels , verglichen mit den modernen , noch durchaus in den Anfängen der Entwicklung steckten5.

Was ich aber hier der Erwähnung noch für wert halte, ist die Beweiskraft des kanonischen Zinsverbots für die Handwerkshaftigkeit des mittelalterlichen Handels6. Es sollte, meine ich, in dem Streite um die Frage nach der praktischen Tragweite jenes Verbots der Gedanke noch mehr Berücksich¬ tigung finden, daß ein Gewinn ohne technisch ausführende Arbeit, das heißt ohne sichtbare Hantierung an Gegenständen der äußeren

1 Schulte, Gesoh. des Handels 1, 281.

2 Nr. 135, 167, 171 der Documents relatifs ä l’histoire de l’industrie et du commerce en France, publ. par G. Fagniez (1898). Vgl. dazu Introduction XLV ff.

3 Siehe die außerordentlich interessante Stelle im Livre des metiers, tit. L art. 6. Vgl. auch mein Buch „Die Juden und das W.Leben“ (1911), 60 ff.

4 Das Verbot der Lieferungsgeschäfte wird noch 1417 auf der Tagfahrt in Lübeck ausgesprochen : „Niemand solle Hering kaufen,

ehe er gefangen, Korn, ehe es gewachsen, Gewand, ehe es gemacht“. Neumann, Geschichte des Wuchers, S. 37. Verbot aller Kredit¬ geschäfte Hoch in deutschen Stadtrechten des 15. Jahrhunderts. Neumann, S. 88 ff.

6 „Le cambiali a scadenza protatta, il deposito a interesse fermo, il nome stesso di banchieri, le fiere dei cambi, i banchi pubblici, operazioni ed istituti che s’ incardiano sopra V uso generale e costante del mutuo feneratizio appartengono tutte all’ etä moderna. G. Toniolo, L’ economia di credito ec. in der Rivista internazionale di Science sociali 8, 571.

6 Was ich hier über das kanonische Zinsverbot sage, ist im wesent¬ lichen schon in der ersten Auflage enthalten. Es behält für das frühe und zum Teil noch hohe Mittelalter seine Geltung. Daß im Spätmittelalter das kanonische Zinsverbot auf den Konsumtivkredit beschränkt wurde und den Kapitalprofit nicht mehr betraf, habe ich nachgewiesen in meinem „Bourgeois“ (1913).

304 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

Natur für alle in handwerksmäßigen Anschauungen befangene Zeiten in der Tat nur als unehrlich, als unstatthaft angesehen werden konnte h Es kommt doch wohl in jenem Rechtssatze des Zinsverbots nichts anderes zum Ausdruck, als die Anerkenntnis des dem handwerksmäßig organisierten Wirtschaftsleben an¬ gemessenen Wirtschaftsprinzips der Bedarfsdeckung durch Werk¬ schaffung. Weshalb denn das Verbot sich schon auf das bloße Gewinnstreben erstreckte1 2. Objektiv fand aber die Achtung oder Verachtung des Zinsnehmens ihre Rechtfertigung in dem Umstande, daß der Regel nach, ja in der überwiegenden Mehr¬ zahl aller Fälle, tatsächlich das Geld nicht die Kraft besaß, sich aus sich selbst heraus zu vermehren, so lange es nämlich noch keine Kapitalsqualität angenommen hatte, das heißt seine Ver¬ wendung noch keine Steigerung der Produktivität der Arbeit herbeizuführen vermochte. Ursprünglich ist daher auch die Geldleihe nicht anderes als ein Nobile officium, ein Dienst, den der Genosse dem Genossen, der Stadtbürger seiner Stadt, der Wohltäter den Armen und Bedrängten leistet, selbstverständlich^ ohne dabei Gewinn zu erzielen, nihil inde sperans, gerade wie man heute dem Freunde in der Not aushilft und nur auf dessen Drängen sich die vorgestreckte Summe verzinsen läßt.

„Item si ascun homme ou femme de la dite fraternite . . . sanz sa defaute propre chiete en pouert, la dite fraternite luy apprestera une somme dargent pur merchander et profiter pur un an ou deux a lour auys sanz rien prendre de gayn.“ Stat. der „Gilda Mercatoria de Couentre“ (14. Jahrh.) bei Groß, Gild merchant 2, 50. Ebenso lieben die deutschen Gesellenverbände ihren Mitgliedern ohne Zinsen ; vgl. G. Schanz, Zur Gesch. d. deutsch. Ges. -Verbände (1877), 72. Zahllose Beispiele zinsloser Darlehen, namentlich an Städte, die sich in Not befinden, noch im 15. Jahrhundert bei Neumann, S. 507 ff., der übrigens m. E. die Bedeutung, ja die ursprüngliche Selbstverständlichkeit des zinslosen Darlehens nicht genügend würdigt. Es ist doch im Grunde nur die dem natürlichen Empfinden entsprechende Auffassung, wenn es beispielsweise in einer venetianischen Urkunde

1 „Sind denn die Juden,“ fragte noch Geiler von Kaisersberg, besser als die Christen , daß sie nicht arbeiten wollen mit ihrer Hände Werk? Stehen sie nicht unter dem Spruche Gottes: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot verdienen? Mit Geld wuchern heißt nicht arbeiten, sondern andere schinden in Müßiggang.“

2 „huiusmodi homines prointentione lucri, quam habent (cum omnis lesura et superabundantia prohibentur in lege) judicandi sunt male agere.“ Decr. Greg. Lib. V, tit. XVIII, cap. 10 (1186). Weitere Belege für die Verpönung der usuraria voluntas bei Neumann, 95 f.

Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk

305

von 1187 heißt: „cum nos dum videremus nostro comuni neces- sarium esse pro guerra pecuniam invenire ad eos precibus duximus recurrendum, qui possunt nostre patrie hoc necessitatis temporis sub- venire. Rogavimus igitur omnes viros , quorum nomina inferius con- tinentur, ut pro sua liberalitate comuni nostro in tali necessitate hoc tempore constituto de praefata pecunia subveniret, qui quoniam terre nostre veri sunt amatores promiserunt nostro communi dictam pecuniam se daturos“ ec. Abgedruckt bei W. Lenel, Die Entstehung der Vor¬ herrschaft Venedigs an der Adria (1897), 43. Ganz ähnliche Be¬ gründung in den Winchester- Ordinances. Archäol. Journal 9, 73. Eine der beliebtesten Formen, in denen die Klöster während der frühen Zeit des Mittelalters ihren Hintersassen und Gläubigen mit materiellen Diensten zu Hilfe kamen , war die Geld- oder Güterleihe, bei der jedoch abermals von Zinszahlung keine Rede war, wenn man auch streng auf Rückgabe des Geliehenen sah. Vgl. Sackur, Bei¬ träge zur Wirtschaftsgeschichte französischer und lothring. Klöster im 10. und 11. Jahrh., in der Zeitschr. f. Soz. u. W.Gesch. 1, 163 ff. Von einem Privatmann (12. Jahrh.), der „vicinis suis indigentibus nummos non tarnen ad usuras accommodabat“, berichtet CJunningham 1, 239. In Tirol sind bis zum Ende des 13. Jahrhunderts zinslose Dar¬ lehen üblich. Hans v. Voltelini, Die ältesten Pfandleihbanken und Lombardenprivilegien Tirols (1904), S. 25. Fedor Schneider vermerkt in seiner Besprechung des Buches (Vierteljahrschr. f. Soz. u. W.G. 4, 392) diese Feststellung mit dem Zusatz: „eine neue Tat¬ sache, die Ref. den Forschern zur Beachtung empfiehlt, die für die früheste Geldwirtschaft, ja schon für die Naturalwirtschaft den Zins als selbstverständlich erklären“.

Erst im Verkehr mit Fremden (Juden! Lombarden!) konnte überhaupt die für das naive Empfinden häßliche Idee eines zins¬ tragenden Darlehns entstehen; wer sich aber zu dieser abscheu¬ lichen Handlung hergab, von dem in Not befindlichen Geldsucher Zinsen zu nehmen, mußte selbstverständlich als geächtet er¬ scheinen, und wäre es durch die Sitte gewesen, ob ein kirch¬ liches Zinsverbot bestanden hätte oder nicht, als welches viel¬ mehr nur der Ausdruck der Volksstimme in diesem Falle war. Es wäre sonst gewiß nicht zu verstehen, daß selbst in den italienischen Städten bis ins 15. und 16. Jahrhundert hinein die „usurarii“ aus den Kaufmannsgilden und Handelskammern aus¬ geschlossen blieben.

Nach den Statuten der Tuchkrämer in Florenz (14. Jahrh.) ist der Wucherer entweder ganz von ihrer Zunft ausgeschlossen oder hat, wenn die wucherischen Handlungen bereits verjährt sind, den Makel mit doppelter Matrikel zu büßen. Derselben Zunft ist der Wucher auch genügendes Motiv, ein Mitglied, das das Votum der Genossen für schuldig erkennt, auszustoßen. Seit 1429 schloß auch

Sombart, Der moderne Kapitalismus. I. SM

306 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

die Seidenzunft den rückfälligen Wucherer aus. Im Statut der Wechsler- zunft von 1367 war ausdrücklich verboten, „auf Zins zu leihen, sei es gegen Pfand oder Schuldschein, oder sonstigen Wucher zu treiben bei Strafe von 100 Lire“. Ende des 14. Jahrhunderts fand dann das Zinsverbot in schroffster Form Eingang in den Statuten aller Florentiner Zünfte. E. Pöhlmann, Die Wirtschaftspolitik der florentiner Eenaissance (1878), 53. 84. Ähnliche Bestimmungen in den Statuten von Mailand (1396), Bergamo (1497), Pesaro (1532). Vgl. Lattes, II diritto commerciale etc. 32/33. 147 f., und L. Z dekauer im Arcli. stör. it. V. Ser. t. XVII (1895), p. 63 ff.

Erst die Verwandlung des Geldes in Kapital, die damit ge¬ schaffene Selbstverständlichkeit des Zinses hat auch den Wucher (der jedes Darlehn zu Konsumtivzwecken ist) in gewissen Schranken von seiner Anrüchigkeit befreit. Woraus wir aber offenbar den Schluß zu ziehen berechtigt sind, daß J ahrhunderte, in denen das zinstragende Darlehn von Gesetzgebung und Volks¬ gefühl verpönt war, von der kapitalistischen Wirtschaftsweise noch keinen Hauch verspürt haben konnten.

3. Besonders durchsichtig ist aber endlich das Korpora¬ tionsrecht des mittelalterlichen Handels. Hier schimmert in deutlichen Umrissen die echt handwerksmäßige Struktur des damaligen Handels hindurch.

Es ist ja bekannt, daß häufig genug zwischen Handwerker¬ zünften und Händlerzünften gar keine strenge Scheidung bestand, und daß die Gilden der Großkaufleute mit denen der Krämer engste Beziehungen hatten. Wir müssen uns aber an die Vor¬ stellung gewöhnen, daß der Berufshändler des Mittelalters sich wohl gelegentlich vornehmer dünkte als mancher Handwerker, aber nicht anders als der Angehörige einer beliebigen gewerb¬ lichen „höheren“ Zunft. Was den Kaufmann vom Handwerker unterschied, waren nur immer erst Grad-, keine Wesensver¬ schiedenheiten; er war oft ein „besserer“ Handwerker, wie der Goldschmied oder der Bäcker andernorts , aber er gehörte mit seinem Denken und Empfinden den Kreisen der Hand¬ werker an.

Wer daran noch zweifeln sollte, braucht nur die Statuten der Kaufmannsgilden, die Ordnungen der „Höfe“ und „Kontore“ in fremden Städten1 zu durchblättern. Dort wird er auf jeder Seite eine Bestätigung für die Kichtigkeit meiner Auffassung

1 Eine anschauliche Schilderung von dem Leben des deutschen Kaufmanns in den fremden Ländern entwirft J. Falke, Gesch. dea deutschen Handels 1, 200 ff.

Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk

307

finden. Der Ideenkreis der Handwerkerzünfte ist fast ohne Veränderung in jene übertragen.

Vor allem begegnen wir in den Statuten der Händlerzunft überall dem obersten Grundsätze handwerksmäßiger Ordnung: daß jedem Genossen, der in der Väter "Weise seine Arbeit ver¬ richtet, ein Auskommen gesichert, die Nahrung gewährleistet sein solle b Erkämpfung eines möglichst großen , gegen nach¬ barliche Einfälle gesicherten Absatzgebietes; gleichmäßige ge¬ ordnete Verteilung der einzelnen Anteile unter die Genossen, also Ausschließung jeder Konkurrenz nach außen wie im Innern2: das ist das Fundamentum, auf dem auch aller vorkapitalistischer Handel ruht. Und der Erreichung jenes Ziels, der Gewähr¬ leistung eines konkurrenzlosen, der Veränderung durch individuelle Spekulation und Intrigue entrückten, ruhigen Dahinarbeitens sind dann im einzelnen alle Verbote und Gebote der Innungsstatuten gewidmet. Was wir bei den Handwerkerzünften finden: hier kehrt es in stereotypen Wendungen wieder: die Beschränkung der Betriebsgröße3; das Verbot des Vorkaufs4; die Verpflichtung, den Genossen in den Kaufvertrag eintreten zu lassen5; das Verbot

1 Es ist kaum nötig, dafür Beleg© anzuführen, daß die Idee der Nahrung auch die Ordnungen der Händlerzünfte beherrscht. Besonders lehrreich sind die Verhältnisse der englischen Händler¬ zünfte, wie sie uns von Charles Groß geschildert werden. Zur allgemeinen Orientierung ist auch A. Doren, Kaufmannsgilden im Mittelalter, geeignet. Vgl. daselbst u. a. S. 60, 97, 147. W. Kießel- bach, Der Gang des Welthandels (1860), 206. Für Frankreich insbes. sind zu vergleichen : Levasseur, Fagniez, Pigeonneau.

Die Hausierer sind Störer der festen örtlichen Nahrung der Krämer.“ Ersch und Gruber s. v. „Hausierer“ (1828).

2 „Es galt hier die Konkurrenz der Konstanzer Verkäufer (sc. von Leinwand) unter einander aufzuheben und das Ansehen der Konstanzer Kaufmannschaft zu stärken.“ Schulte 1, 163.

8 Das Statut für Nowgorod bestimmt: es solle niemand über 1000 Mk. im Jahre umsetzen (oder auf Lager haben?), sei es sein eigenes oder fremdes Gut (das er im Sendeve- Vertrag hat) oder Ge¬ sellschaftsgut.

4 Statut der Ripen- und Dänemarkfahrer zu Stade (14. Jahrh.): „were dat yement in der kumpenye deme andern dar vorekop dede de schal der kumpenye dat beteren mit 4 olden groten“. Hans. Urkanden- buch III, Nr. 183, Art. 7.

5 , The gildsman was generally under Obligation to share all pur- chases” with his brethren , that is to say, if he bought a quantity of a given commodity , any other gildsmen could claim a portion of lt at the same price at which he purchased it. 1 Groß 1, 49. Belege

£0*

*308 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

der Kundenabtreibung ; das Verbot der Preisverabredung und viele ähnliche Bestimmungen.

„nullus de societate vocet aliquem comparatorem donec est ad bancam alterius ad emendum nec sibi faciat cignum vel insignam aliquam.“ Statut der Pizzicagnoli von Bologna (um 1242). Stat. delle Soc. del Pop. di B. 2 (1896), 175. Das Statut der Florentiner Societas campsorum vom Jahre 1299 verbot den Mitgliedern der Zunft, in der Stadt umherzugehen, um sich nach Wechselgeschäften um¬ zusehen. Die „Bankiers“ sollten ruhig bei ihren Ständen warten, bis die Kunden zu ihnen kämen, damit die Gelegenheit des Verdienens für alle Mitglieder der Zunft eine möglichst gleiche sei. H. Sieve- king, Genueser Finanzwesen 2 (1899), 44. Dasselbe besagt ein Straßburger Weistum über die Rechte der Hausgenossen aus den 1380er Jahren: 35. „Es sol ouch nieman in deheins würtes husz gon wehssein, der würt sende dann mit namen nach ime oder der gaste, der do wehssein wil“ . . . 37. „Die an dem fritage uff dem bloche

sitzent und wechsselnt , die sollent nieman ruffen über den graben noch winken . . .“ Abgedruckt bei K. Eheberg, Über das ältere deutsche Münzwesen und die Hausgenossenschaften (1879), S. 188. 189. Die von E. abweichende Datierung nach J. Cahn, Münz- und Geld¬ geschichte der Stadt Straßburg im Mittelalter (1895), S. 31.

Verbote von Preisverabredungen in den italienischen Städten siehe bei J. Köhler, Strafrecht der italienischen Kommunen, 1892. Dazu vgl. A. Lizier, La vita sociale del secolo XII. XVI. nella legislazione penale degli Statuti italiani di quel tempo in der Rivista intern, di scienze soc. Aprile 1900, p. 510.

Also von allen Seiten her die Bestätigung des Satzes: der berufsmäßige Handel des Mittelalters, genauer gesprochen der Handel Italiens bis tief in das 14. , der des übrigen Europas bis in das 16. Jahrhundert hinein trägt das unverkennbare Ge¬ präge der Handwerkshaftigkeit. Auf eine Darstellung der realen Existenzbedingungen des vorkapitalistischen Handels kann ver¬ zichtet werden: es sind dieselben, die den Bestand des Hand¬ werks ermöglichen.

2, 46. 150. 161. 185. 218. 219. 226. 290. 352. Die Statuten der Gilde vc-n St. Omer enthalten die Bestimmung in § 2 : „si quis vero guildam habens mercatum aliquid non ad victum pertinens valens V gr. s. et supra taxaverit et alius gildam habens supervenerit si voluerit in mercato illo porcionem habebit.“ Doren, 60. Häufig lauten auch die Bestimmungen dahin, daß ein Käufer verpflichtet sei, solange der Kauf nicht perfekt, jedes andere Mitglied der Genossenschaft auf Ver¬ langen zur Hälfte am Kaufe teilnehmen zu lassen. Vgl. F. Conze, Kauf nach hanseatischen Quellen. Bonner J. D. 1889. S. 16 f.

Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk

309

Nachtrag zur zweiten Auflage

Die vorstehende Darstellung ist im wesentlichen unverändert, nur durch neues Material ergänzt, aus der ersten Auflage übernommen worden. Kaum ein zweites Kapitel habe ich solcherweise als Ganzes wieder verwerten können wie dieses, obwohl gegen kein zweites (mit Ausnahme desjenigen, das meine sog. „Grundrententheorie“ enthält) soviel kritische Bedenken erhoben sind wie gegen dieses. Ich habe meine Darstellung nach reiflicher Überlegung in wesentlich gleicher Passung wiederholt. Denn die Kritik, die sich auf diesen Teil meines Werkes bezieht, hat mich in keinem einzigen wesentlichen Punkte widerlegt.

Es sind namentlich folgende Schriften, die sich mit meinen An¬ schauungen auseinandersetzen :

A. Nuglisch, Zur Frage nach der Entstehung des modernen Kapitalismus in den Jahrbüchern für Nat.Ökon. III. F. 28, 238 250.

GustavBeckmann, Die Bedeutung des Handwerks im Wirt¬ schaftsleben nach den Darstellungen Sombarts usw. in der Beilage zur Allgemeinen Zeitung. Jahrgang 1904. Nr. 106. 107. 108.

F. Keutgen, Hansische Handelsgesellschaften vornehmlich des 14. Jahrhunderts in der Yierteljahrsschrift für Soz. u. W.G. Bd. IV.

Silberschmidt, Das Senden und Befehlen der Waren nach der kaufmännischen Korrespondenz des 15. Jahrhunderts im Archiv f. bürgerl. Recht 25 (1905), 129 ff., insbes. S. 148 f.

Derselbe, Das Sendegeschäft im Hansagebiet in der Zeitschrift für das ges. HR. 68 (1910).

R. Heynen, Zur Entstehung des Kapitalismus in Venedig. 1905. H. spottet seiner selbst und weiß nicht wie, wenn er „die Größe“ des mittelalterlichen Handels damit beweisen will, daß er seinen Helden Mairano, einen durch Reichtum ausgezeichneten Mann (ttXou-w matpsptov), den Bau eines riesigen (!) mit drei (!) gewaltigen (!) Segeln ausgestatteten Schiffes vornehmen läßt (S. 101), das später in Konstantinopel allgemeines Aufsehen erregte (!), denselben Mairano, der, als sein Geschäft auf dem Zenith angelangt war, einen Kommis engagiert (104) und von seinem Schwiegervater 150, von seinem Vetter 50 Mk. borgt (!).

Eine ausführliche, wertvolle Anzeige des H.schen Buches hat Silberschmidt in der Zeitschr. f. d. ges. HR. 58 (1906) ver¬ öffentlicht.

Adolf Schaube, Die Wollausfuhr vom Jahre 1273 in der Vierteljahrsschrift für Soz. u. W.G. Bd. VI. Sch. weist mir in der Tat einen Fehler nach: ich habe die Menge der aus England im Jahre 1273 von Ausländern ausgeführten Wolle gleich gesetzt der überhaupt ausgeführten V^olle: es ist etwa 2la. Im* übrigen enthält der in. gehässigem Tone geschriebene Aufsatz eine willkommene Bestätigung der Richtigkeit meiner eigenen Darstellung. Wohin kommen wir aber, wenn wir- einen Autor, weil ihm das genannte Versehen unter¬ gelaufen ist, in Grund und Boden kritisieren, so daß kein Hund ein

310 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

Stück Brot mehr von ihm nimmt ! Das ist doch eine unerträgliche, geistlose Oberlehrerwissenschaft im schlimmen Sinne.

R. Davidsohn, Über die Entstehung des Kapitalismus in seinen Forschungen z. Gesch. v. Florenz IV (1908), 268 ff.

Was die Kritiker gegen meine Auffassung vo& mittelalterlichen Handel eingewendet haben, ist vornehmlich folgendes :

1. Der Händler ging immer auch im Mittelalter auf Erwerb aus, suchte nicht nur seinen Unterhalt zu befriedigen: die Idee der '■Nahrung’ beherrschte ihn also nicht. Zu diesem Einwande habe ich schon mich geäußert, und ich verweise den Leser auf das, was ich S. 29 ff. bemerkt habe. Ich bleibe dabei: die regulative Idee blieb auch für den Handel während des Mittelalters lange Zeit dieselbe wie für das (gewerbliche) Handwerk. Die Ideenwelt des Händlers war im wesentlichen dieselbe wie bei seinem Bruder, dem gewerblichen Pro¬ duzenten. Zuzugeben ist, daß die neuen Ideen sich in der Sphäre des Handels eher bemerkbar machten als in anderen Wirtschafts¬ sphären. Ich bitte auch immer die Totalität des kapitalisti¬ schen Geistes (Gewinnstreben im Zusammenhang mit ökono¬ mischem Rationalismus und Auflösung aller Qualitäten in die eine Quantität Geld: darüber handelt ja erst das zweite Buch!) als den Gegensatz zum Geist des mittelalterlichen Händlers zu betrachten. Natürlich will der Gepäckträger in Neapel auch lieber 3 als 1 Lira haben. Aber wer zwischen ihm und Pierpont Morgan keinen Unter¬ schied in der Geistesrichtung wahrnimmt, der ist eben psychologisch farbenblind und scheidet als Kritiker (oder gar Geschichtsschreiber) aus.

2. Der Handel im Mittelalter sei gar nicht „so klein“ gewesen, wie ich ihn darstellte. Nun: tatsächlich ist keine einzige meiner Zahlenangaben (bis auf die von Schaube richtig gestellte Ziffer) als unrichtig nachgewiesen worden x.

Man wirft mir dann vor: ich hätte die Kleinheit des mittelalter¬ lichen Handels nicht richtig gewürdigt. Die einen (Nuglisch) verweisen mich darauf, daß die Kaufkraft des Geldes in Rücksicht zu ziehen sei, wenn man die Bedeutung einer Geldsumme für eine Zeit feststellen will. Das war mir auch vorher nicht ganz unbekannt. Aber wer auch nur ein klein wenig die Schwierigkeit des Problems kennt, das wir mit dem Worte „Zahlungskraft des Geldes“ andeuten, wird sich hüten, eine Geldsumme je anders als nach ihrem Metallwert auszudrücken, wie ich es getan habe. Wie sich die „Zahlungskraft“ des Geldes im Mittelalter (will ich nur im Vorbeigehen dem genannten

1 Das einzige, was G. Beckmann gegen mich anführt, ist die Tatsache, daß die Kleinheit der Schiffe nichts für den geringen Um¬ fang des Handels beweise, weil öfters eine „merkwürdig große Zahl“ von Schiffen in den Dienst von Handelsunternehmungen gestellt wurde. Einer Handelsunternehmung, das bezweifele ich. B. scheint das Zu¬ sammenausfahren mehrerer Schiffe zu meinen. Auf einem Schiffe so klein es war finden wir ja meist einen ganzen Haufen von Kaufleuten in eigener Person oder durch ihre Waren vertreten.

Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk

311

Herrn verraten) zu der in unserer Zeit verhalten habe, läßt sich ganz und gar nicht in einer Verhältniszahl ausdrücken. Was sollen solche Feststellungen, wie diese: „für wenige Pfennige konnte man sich schon satt essen, für einen Gulden wohnen“ (a. a. 0. S. 241). Sie besagen nichts, aber rein gar nichts. Was heißt: „satt essen“, womit? Qualität der Kost! Was heißt „wohnen“? Wo? Auch heute wohnt man auf dem Lande nicht viel teurer als im Mittelalter. Und die Preise für andere wichtige Dinge? Z. B. für alle gewerblichen Er¬ zeugnisse, die im Mittelalter ein vielfaches gegenüber heute kosteten? für alle Beförderung? für alle sogenannten Vergnügungen? für die „geistige Nahrung“ ? für alle Genußmittel? für die Nutzung einer Arbeits¬ kraft? und was sonst noch für Geld gekauft werden kann? Siehe im übrigen das, was ich im zweiten Bande darüber sage.

Andere halten meine Methode für verfehlt, die Ziffern der mittel¬ alterlichen Handelsstatistik mit der Gegenwart zu vergleichen. Neuerdings hat sich in diesem Sinne Rud. Häpke, dessen Uiteil in handelsgeschichtlichen Dingen gehört zu werden verdient, in seinem Buche: Brügges Entwicklung zum mittelalterlichen Weltmarkt (1908), geäußert. Seine tatsächlichen Ergebnisse, zu denen er gelangt, ^be¬ stätigen in erfreulicher WTeise die Richtigkeit meiner Auffassung. Sein Urteil faßt er wie folgt zusammen (S. 268): „Im ganzen ruhte der Handel auf breiter demokratischer Basis, und Handelsmagnaten waren im Warenhandel nur selten. Um so weniger sind bei diesen Gro߬ kaufleuten Warenmengen zu erwarten, die dem modernen Auge einiger¬ maßen imponieren.“ Dann aber fügt er hinzu: „Mittelalterlicher und heutiger Umsatz läßt aber gar keine Vergleiche zu“, und an einer anderen Stelle sagt er . . . große Dimensionen wird er vergebens suchen, auch wenn er mit mittelalterlichen, Augen zu sehen gewöhnt ist.“

Demgegenüber habe ich folgendes zu bemerken:

1) gerade müssen wir Ziffern der Vergangenheit mit heutigen Ziffern vergleichen: es ist die einzige Möglichkeit, sie uns in ihrer Größe anschaulich zu machen;

2) gerade müssen wir mit „modernen“ und nicht mit „mittelalter¬ lichen“ Augen das Mittelalter betrachten, um es in seiner Eigenart und in seiner Abweichung von der Gegenwart verstehen zu lernen. Wir sollen uns gerade losmachen von der Anschauung des Zeitgenossen, für den natürlich die jeweils erreichte Höhe z. B. eines Handelsverkehrs der Gipfel war. Häpke warnt selbst vor Phrasen wie „enormer Warenumsatz“ u. dgl., die gar nichts besagen. Alle fruchtbare historische Forschung beruht darauf, mit eigenen Augen zu sehen und dadurch die Be¬ sonderheit früherer Zustände zu erkennen. Ich erinnere an die glücklichen Ergebnisse der bevölkerungs-, namentlich städte¬ statistischen Forschung: jetzt erst begreifen wir das Wesen einer mittelalterlichen Stadt, wenn wir wissen, daß sie nicht 200 000, sondern 20 000 Einwohner hatte.

Aber offenbar schwebt meinen Kritikern noch etwas anderes vor: sonst könnte ich mir den feindseligen Ton nicht erklären, in den sie

312 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

alle geraten, wenn sie auf meine Auffassung von der „Kleinheit“ des mittelalterlichen Handels zu sprechen kommen. Sie vermuten , ich habe damit den Wert, die Bedeutung des Mittelalters herabsetzen wollen. Als ob die Größe einer Zeit an der Menge der gehandelten Waren gemessen werden könnte! Ich meine: durch nichts sei die „Größe des Mittelalters so deutlich gemacht worden als durch meinen Nachweis, daß die Ausdehnung des Handels im Mittelalter ganz geringfügig war, wenn wir sie mit der Gegenwart vergleichen. Groß war die Zeit, weil sie die Minnesänger und das Straßburger Münster, Dante und Giotto, Kaiser Rotbart und Thomas von Aquino hervorgebracht hat, trotzdem vielleicht nur ein Hundertstel ^oder Tausendstel soviel Käse vom Handel „bewegt“ wurde wie heute.

3. Am liebsten hätte ich den Abschnitt über das Recht, in Sonder¬ heit das Gesellschaftsrecht des mittelalterlichen Handels, in manchen Punkten verbessern, nach manchen Seiten hin vertiefen mögen. Ich werde einiges nachholen, wenn ich im zweiten Bande die Entwicklung der Handelsgesellschaften während des frühkapitalisti¬ schen Zeitalters zur Sprache bringe. Aber in der Grundauffassung bin ich auch hier nicht wankend gemacht worden, so berechtigt manche Einwendungen meiner juristischen Kritiker, namentlich in den aus¬ gezeichneten Arbeiten Silberschmidts, zu sein scheinen. Eher haben gerade die Ausführungen dieses scharfsinnigen und kenntnis¬ reichen Forschers in den entscheidenden Punkten meine Ansichten zu bekräftigen beigetragen, wie ich denn glaube daß unsere Meinungen nicht weiter auseinandergehen, als es der mehr juristischen und mehr soziologischen Betrachtung der Dinge entspricht.

Ich will die Kritik S.s hier im Wortlaut in ihren Hauptpunkten wiedergeben :

In seinem Aufsatze: Das Senden und Befehlen der Waren nach der kaufmännischen Korrespondenz des 15. Jahrh. im Arch. f. bürg. R. 25 (1905), S. 148 sagt Silberschmidt: „In neuester Zeit hat W. S. den Gegensatz zwischen handwerksmäßigem und kapitalistischem Betrieb auch in der Geschichte des Handels untersuchend, gerade hierin den schlechthin handwerksmäßigen Charakter des Handels jener Zeit gefunden (sc. daß in allen Beteiligungsverhältnissen die Tätigkeit des Auswärtigen für den Abwesenden, die Arbeit in jener Zeit das Entscheidende war). Auch wenn man das zugeben will, so wird sich der weitere Satz, daß der „Geldbesitzer noch außer jedem Kontakt mit der Handelstätigkeit selbst stehe, die vielmehr Sache eines tech¬ nischen Arbeiters sei“, nach den Quellen nicht aufrechterhalten lassen. In einer späteren Zeit wird von Nichtkaufleuten die Kommenda als Kapitalsanlage benutzt, aber gerade für die frühere Zeit ist der Auftraggeber immer (?) Kaufmann. Daß das hingegebene Geld zuerst wurde überhaupt Ware gegeben niemals den Charakter des Kapitals, auch im S. sehen Sinne, gehabt habe, muß ebenso bezweifelt werden vie dei Satz, daß das Vorwiegen gesellschaftlich betriebener Unter¬ nehmungen den besten Beweis für die Handwerksmäßigkeit des Be¬ triebes bilde. Im Gegenteil dürfte sich aus der obigen Korrespondenz im Zusammenhalt mit den früheren Quellen der Satz rechtfertigen

Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk 313

lassen: der in der Natur des Handels begründete Di’ang, über die Bedürfnisbefriedigung, über die Mannesnahrung hinaus die vorhandenen Waren möglichst vorteilhaft oft und rasch (!) zu vefkaufen und zu vertauschen, war die Veranlassung, solche Waren auch fremden Leuten zu senden, und zu befehlen, damit sie so auch an einem Orte, an dem der Kaufmann persönlich nicht sein konnte, umgesetzt würden; um diesen Fremden ein höheres Interesse an der Sache zu geben, beteiligte man sie, und so entstanden partiarische und gesellschaftliche Verhältnisse.“

Darauf erwidere ich folgendes: Formell hat S. zweifellos recht, wenn er behauptet, daß die Kommendanten häufig (sicher nicht immer) selber Berufshändler gewesen wären. Sachlich wird dadurch meine Behauptung nicht entkräftet : durch die Hingabe einer Geldsumme (oder einer Ware zum Verkauf) an einen Handwerker-Händler, auch wenn der Geber ein Berufshändler ist-, wird der handwerksmäßige Charakter des Handels noch keineswegs aufgehoben. Das meinte ich mit der Trennung von Geld¬ geber und geldnehmendem Händler, daß die Leitung des Geschäfts damit noch nicht auf den Geldgeber übergeht. Weder dieser, wenn er ein Handwerker ist, noch der in die Fremde ziehende Händler werden kapitalistische Unternehmer bloß durch die Tatsache, daß sie sich vereinigen. Silberschmidt selbst hat uns in anschaulicher Weise diese Kommendaverhältnisse geschildert. Er zeigt (schon in der Schrift: Die Commenda in ihrer frühesten Entwicklung bis zum 13. Jahrhundert, 1884; dann im Archiv für bürgerl. Recht Bd. 23 und Bd. 25), wie in der Kommenda man zuerst nur gelegentlich und für einzelne Reisen, später immer allgemeiner einem Verwandten oder Freunde , der selbst die Reise machte , die eigenen Waren kommen- dierte, d. h. „anvertraute im eigenen Interesse des Gebers“, wobei der Kommendatar den Auftrag ganz unentgeltlich erfüllte oder in ehrenvoller Weise am Ertrage des Unternehmens beteiligt wurde. So entstand das Sendevegeschäft und daneben die Colleganza (deutsch Kumpanei): die Vereinigung mehrerer Geldbeträge zu gemeinsamem Geschäft. S. vergleicht mit vollem Recht die primitive Commenda der Socida, dem Viehverstellungsvertrag (Arch. f. b. R. 23, 7) und bemerkt einmal (Arch. f. b. R. 25, 147) treffend: wie heute noch in einfachen ländlichen Verhältnissen der zur „nächsten Stadt fahrende Bauer für seine Mitbürger Ein- und Verkäufe mitbesorgt, so finden wir auch hier Fälle reiner Gefälligkeit. Diese Tätigkeit am fremden Orte für andere wird aber häufig zu einer ständigen, berufsmäßigen“ usw.

Also, denkbar ist jedenfalls die Form der verschiedenen Ge¬ sellschaftsverträge auch im Rahmen handwerksmäßiger Wirtschaft. Ihr Vorkommen an sich beweist also nichts gegen diese. Und da entsinne ich mich nun aller der Anzeichen, die sonst für den hand¬ werksmäßigen Charakter des mittelalterlichen Handels sprechen , er¬ innere mich der winzig kleinen Commendabeträge, des geringen Um¬ satzes , der zunftmäßigen Ordnung usw. usw. und komme zu dem Schlüsse: auch dieser Gesellschaftshandel, sei es in Commenda-, sei es in Societasform, war in seinem typischen Vorkommen, d. h. als Massenerscheinung, noch lange Jahrhunderte hindurch Handwerk. Wie

314 Vierter Abschnitt: Das Zeitalter der handwerksmäßigen Wirtschaft

er sich allmählich zu kapitalistischen Formen entwickelte, werde ich selbst im zweiten Bande zu zeigen versuchen.

* *

*

Hier möchte ich nur noch zwei Bemerkungen allgemeinerer Art machen, die vielleicht dazu beitragen, daß sich die Spannung zwischen der juristischen Kritik und mir verringert.

Ich wies schon auf die verschiedene Betrachtungsweise des Juristen und des soziologischen Nationalökonomen hin: jenen interessiert im wesentlichen die Form, uns der Inhalt des Wirtschaftslebens. Zum Inhalt gehört in erster Linie der in den Wirtschaftssubjekten lebendige Geist und gehört die Größenabmessung der Vorgänge und Zustände. Eine und dieselbe Rechtsbeziehung (wie in diesem Falle die Com- menda) kann nun einem nach Qualität und Quantität ganz und gar verschiedenen Wirtscbaftsakte zugrunde liegen. Ob ich 100 Mk. oder 100 000 Mk. einem Produzenten darleihe, damit er sie in seinem Geschäfte verwende , macht juristisch keinen Unterschied aus , wenn die Rechtsform des Geschäftes die gleiche ist; ökonomisch begründet es den Wesensunterschied der beiden Geschäfte.

Sodann aber müssen sich die Juristen auf dem Laufenden halten auch auf dem Gebiete der nationalökonomisch-soziologischen Forschung und müssen mit den Begriffen vertraut sein, die diese im Laufe des letzten Menschenalters, namentlich auch für die historische Forschung, ausgebildet hat. Es ergeht uns eigenartig: die Historiker werfen uns vor, daß wir zu viele Begriffe und zu viele „Theorien“ haben, die Juristen beklagen sich über die Unzulänglichkeit unserer Begriffs¬ bildung. Diesen Vorwurf einer starken Rückständigkeit national¬ ökonomischer Begriffe hat z. B. Lästig in seinen handelsrechts¬ geschichtlichen Arbeiten öfters erhoben. So sagt er z. B. in der Zeit¬ schrift f. d. ges. HR. 24, 408 : „Die Wirtschaftslehre operiert mit den Begriffen Kapital und Arbeit, die Rechtslehre dagegen mit unendlich feineren Terminis.“ Damals, als er seine grundlegenden Forschungen veröffentlichte (1879), hatte Lästig mit solchem Vorwurf bis zu einem gewissen Grade Recht. Seitdem ist nun aber auch bei uns gearbeitet worden, und das scheinen viele Rechtshistoriker unbeachtet zu lassen. Sie verwenden, wenn sie auf wirtschaftliche Verhältnisse zu sprechen kommen, oft noch heute solch simplizistische Begriffe wie „Geldwirt¬ schaft“, „Kapital“ (im Sinne von Geld oder Produktionsmitteln), sprechen vom „Handel“ als einer einförmigen Erscheinung usw.

Um nur ein Beispiel aus den letzten Jahren anzuführen, will ich auf einige Sätze aus einer im übrigen vortrefflichen rechtsgeschichtlichen Arbeit Haemanns (in der Zeitschrift f. d. ges. HR. 68 [1910], 467) hinweisen. Sie lauten: „Damit (mit dem Beginn der Tauschwirtschaft; seit dem 8. Jahrh.) wird aber auch das gesamte Leben in neue Bahnen gelenkt, in jene, in denen es sich noch heute fast ausschlie߬ lich bewegt, nämlich in die Bahnen (!) des Handels (!). Daß dieser bald zu einer so üppigen Entfaltung gelangen konnte, ist dem Um¬ stande zuzuschreiben , daß er sich als ein vorzügliches Mittel zur Mehrung des Wohlstandes (!) erwies, worauf es in der Hauptsache

Achtzehntes Kapitel: Der Handel als Handwerk

315

ankam (!). Wo nun die Kräfte des einzelnen nicht ausreichten, um zum heißersehnten Ziele (1), zu großem Reichtum zu gelangen, da suchte er den Anschluß an andere Gleichgesinnte , und die fanden sich sehr bald(!)“, „in der Zeit, in der sich auf dem Gebiete der allgemeinen (!) Volkswirtschaft jene grundlegende Umwälzung vollzog, die zur Annahme einer besonderen Entwicklungsstufe in der Ge¬ schichte der VW, geführt hat, unter der Herrschaft des Geld- und Kreditwesens (!)...“

Wenn wir in solchen allgemeinen, nichtssagenden Redensarten über juristische Dinge schreiben wollten, würde die Rechtshistoriker gewiß ein Schrecken anwandeln. Dann sollen sie aber sich auch gewöhnen, unsere Probleme in der strengen Begriffssystematik zu behandeln, die wir nun allmählich herausgebildet haben. Ich zweifle nicht, daß das zum Einanderverstehen wesentlich beitragen wird.

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Zweites Buch

Die historischen Grundlagen des modernen Kapitalismus

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319

Erster Abschnitt

Wesen und Werden des Kapitalismus

Neunzehntes Kapitel

Das kapitalistische Wirtschaftssystem

Ich zeichne zunächst, ehe ich die Entstehung der kapitalisti¬ schen Wirtschaft verfolge, die Idee dieser Wirtschaftsweise, wie sie im kapitalistischen Wirtschaftssystem erscheint, in begriff¬ licher Reinheit.

I. Begriff

Unter Kapitalismus verstehen wir ein bestimmtes Wirtschafts¬ system1, das folgendermaßen sich kennzeichnen läßt: es ist eine verkehrswirtschaftliche Organisation, bei der regelmäßig zwei verschiedene Bevölkerungsgruppen: die Inhaber der Produktionsmittel, die gleichzeitig die Leitung haben, Wirt Schafts Subjekte sind und besitzlose Nurarbeiter (als Wirtschaftsobjekte), durch den Markt verbunden, Zusammenwirken, und die von dem Erwerbsprinzip und dem ökonomischen Rationalismus beherrscht wird.

Die verkehrswirtschaftliche Organisation, zu der Einzel- oder Privatwirtschaft, Berufsdifferenzierung zwischen den einzelnen Wirtschaften und marktmäßige Verknüpfung gehören, hat der Kapitalismus also mit dem Handwerk gemein2); morphologisch unterscheidet er sich von diesem durch die soziale Differenzierung des persönlichen Produktionsfaktors in die beiden Bestandteile des leitenden und ansführenden Arbeiters, die sich gleichzeitig als

1 Siehe das 3. Kapitel.

2 Zur Ergänzung dieses Kapitels dient meine Darstellung im 4. Bande des Grundrisses der Sozialökonomik, wo ich alle, hier nur in den Grundzögen gezeichneten , Gedanken ausführlicher entwickelt habe.

320 Erster Abschnitt: Wesen und Werden des Kapitalismus

Besitzer der Produktionsmittel und technische Nurarbeiter gegen¬ übertreten und sich vom Markte zu der notwendigen Vereinigung im Produktionsprozesse zusammenführen lassen müssen.

Die herrschenden Wirtschaftsprinzipien sind das Erwerbsprinzip und der ökonomische Eationalismus, die an die .Stelle der Prinzipien der Bedarfsdeckung und des Traditionalismus treten, die, wie wir sahen, Eigenwirtschaft und Handwerk beseelen.

Ich habe die Wesenheit dieser Wirtschaftsprinzipien schon in der Einleitung dargetan und füge zur Ergänzung des dort Gesagten folgendes hinzu:

Die Eigenart des Erwerbsprinzips äußert sich darin, daß unter seiner Herrschaft der unmittelbare Zweck des Wirt¬ schaften nicht mehr die Bedarfsbeffiedigung eines lebendigen Menschen, sondern ausschließlich die Vermehrung einer Geld¬ summe ist. Diese Zwecksetzung ist der Idee der kapitalistischen Organisation immanent ; man kann also die Erzielung von Gewinn (das heißt die Vergrößerung einer Anfangssumme durch wirt¬ schaftliche Tätigkeit) als den objektiven Zweck der kapitalisti¬ schen Wirtschaft bezeichnen, mit dem (zumal bei vollentwickelter kapitalistischer Wirtschaft) die subjektive Zwecksetzung des einzelnen Wirtschaftssubjektes nicht notwendig zusammenzufallen braucht x).

Der ökonomische Eationalismus, das heißt also die grundsätzliche Einstellung aller Handlungen auf höchstmögliche Zweckmäßigkeit, äußert sich in dreifacher Weise:

1. als Planmäßigkeit der Wirtschaftsführung;

2. als Zweckmäßigkeit im engeren Sinne;

3. als Eechnungsmäßigkeit.

Die Planmäßigkeit bringt in das kapitalistische Wirtschafts¬ system das Wirtschaften nach weitausschauenden Plänen; die Zweckmäßigkeit sorgt für die richtige Mittelwahl; die Eechnungs¬ mäßigkeit für die exakt-ziffernmäßige Berechnung und Eegistrie- rung aller wirtschaftlichen Einzelerscheinungen und ihre rechne¬ rische Zusammenfassung zu einem sinnvoll geordneten Zahlen¬ systeme.

1 Diese komplizierten, dem gemeinen Verstände nicht sichtbaren Zusammenhänge habe ich klargelegt an dem in der vorigen Anmerkung- genannten Orte. Dortselbst findet der Leser auch die erst für das Verständnis der hochkapitalistischen Wirtschaft notwendige Ent¬ wicklung der in der Erwerbsidee eingeschlossenen Entwicklungsformen der wirtschaftlichen Orientierung.

Neunzehntes Kapitel; Das kapitalistische Wirtschaftssystem 321

II. Die kapitalistische Unternehmung'

Die Wirtschaftsform des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist die kapitalistische Unternehmung. Sie bildet eine abstrakte Einheit: das Geschäft. Ihr Zweck ist die Erzielung von Ge¬ winn. Das eigentümliche Mittel zur Erfüllung dieses Zwecks ist die Vertragschließung über geldwerte Leistungen und Gegen¬ leistungen. Jedes technische Problem muß sich im Rahmen der kapitalistischen Unternehmung in einen Vertragsabschluß auflösen lassen, auf dessen vorteilhafte Gestaltung alles Sinnen und Trachten des kapitalistischen Unternehmers gerichtet ist. Mögen Arbeitsleistungen gegen Sachgüter oder Sachgüter gegen Sachgüter eingetauscht werden; immer kommt es darauf an, daß am letzten Ende jenes Plus an Tauschwert (Geld) in den Händen des kapitalistischen Unternehmers zurückbleibt, auf dessen Erlangung seine ganze Tätigkeit eingestellt ist. Alle Vor¬ gänge der Wirtschaft verlieren dadurch ihre qualitative Färbung und werden zu reinen in Geld ausdrückbaren und ausgedrückten Quantitäten.-

Die kapitalistische Unternehmung weist verschiedene Formen auf, die wir wie folgt unterscheiden können1:

1. nach dem Inhalte der in einer Unternehmung: verrichteten Tätigkeit:

a) Unternehmungen zur Erzeugung von Sachgütern;

b) Unternehmungen zur Übermittlung von Sachgütern;

c) Unternehmungen zur Darbietung von Diensten;

d) Unternehmungen zur Bereitstellung genußreicher Sachgüter ;

e) Unternehmungen zur Gewährung oder Vermittlung von Kredit ;

f) Unternehmungen mit einem aus a bis e verschieden kom¬ binierten Inhalt.

2. nach der Bildung des Unternehmungskapitals:

a) Einzeluntemekmimgen, die auf dem Vermögen einer Person beruhen ;

b) Kollektivunternehmungen, deren Kapital mehrere Personen zusammengeschossen haben.

3. nach der Stellung des Unternehmers zum Ar¬ beiter:

1 Ausführlich in der 1. Aufl. S. 199 ff. und im GDS. Vgl. auch das Kapitel im 2. Bande : „Die Entstehung der kapitalistischen Unter¬ nehmung“.

Sombart, Der moderne Kapitalismus, t. 21

322 Erster Abschnitt: Wesen und Werden des Kapitalismus

Da es eine der wichtigsten Aufgaben des folgenden Buches ist, zu zeigen, wie sich aus lockeren Gel egenheits Verknüpfungen zwischen Geldgeber und Arbeiter die kapitalistische Unter¬ nehmung als Arbeitsorganisation historisch aufbaut, so werde ich, um Wiederholungen zu vermeiden, die verschiedenen theo¬ retischen Möglichkeiten der Stellung des Unternehmers zum Arbeiter dort behandeln, wo ich den empirischen Werdegang der verschiedenen Arbeitsorganisationen zur Darstellung bringe.

4. nach der Stellung des Unternehmens zur öffent¬ lichen Gewalt:

a) freie Unternehmungen, die völlig unabhängig von der öffent¬ lichen Gewalt sind;

b) gebundene Unternehmungen, die in irgendwelcher umnittel¬ baren Abhängigkeit von der öffentlichen Gewalt stehen; besonderer Fall: die gemischt- Öffentlichen Unternehmungen.

IU. Die Funktionen des kapitalistischen Unter¬ nehmers

sind * 1 :

1. organisatorische

Da das Werk, das der Unternehmer vollbringt, stets ein Werk ist, bei dem andere Menschen mithelfen, da also andere Menschen seinem Willen dienstbar zu machen sind, damit sie mit ihm Zu¬ sammenwirken, so muß der Unternehmer vor allem ein Organi¬ sator sein.

Organisieren heißt: viele Menschen zu einem glücklichen, erfolgreichen Schaffen zusammenfugen; heißt Menschen und Dinge so disponieren, daß die gewünschte Nutzwirkung uneingeschränkt zutage tritt. Darin ist wieder ein sehr mannigfaches Vermögen und Handeln eingeschlossen. Zum ersten muß, wer organisieren will, die Fähigkeit besitzen, Menschen auf ihre Leistungsfähigkeit hin zu beurteilen, die zu einem bestimmten Zweck geeigneten Menschen also aus einem großen Haufen herauszufinden. Dann muß er das Talent haben, sie statt seiner arbeiten zu lassen, und zwar so, daß jeder an der richtigen Stelle steht, wo er das Maximum von Leistung vollbringt, und alle immer so anzutreiben, daß sie die ihrer Leistungsfähigkeit entsprechende Höchstsumme von Tätigkeit auch wirklich entfalten. Endlich liegt es dem Unternehmer ob, dafür Sorge zu tragen, daß die zu gemeinsamer

1 Ausführliches siehe in meinem Bourgeois, 70 ff. Vgl. auch

1. Anfl. 1, 197 ff.

Neunzehntes Kapitel: Das kapitalistische Wirtschaftssystem 323*

Wirksamkeit vereinigten Menschen auch zu einem leistungsfähigen Ganzen zusammengefügt werden, daß das Nebeneinander und das Über- und Untereinander der einzelnen Teilnehmer an dem Werke wohlgeordnet sei, und daß ihre Tätigkeiten nacheinander richtig ineinander greifen: „Sammlung der Kräfte im Kaum“; „Ver¬ einigung der Kräfte in der Zeit“, wie es Clausewitz vom Feld¬ herrn verlangt.

2. händlerische

Die Beziehungen, die der Unternehmer mit Menschen eingeht, sind noch anderer Art, als sie mit dem Worte „organisieren“ bezeichnet werden. Er hat seine Leute selbst erst anzuwerben; er hat dann unausgesetzt fremde Menschen seinen Zwecken dienstbar zu machen, indem er sie zu gewissen Handlungen oder Unterlassungen anders als durch Zwangsmittel anhält: Zu diesem Behufe muß er „verhandeln“: Zwiesprache halten mit einem andern, um ihn durch Beibringung von Gründen und Wider¬ legung seiner Gegengründe zur Annahme eines bestimmten Vor¬ schlags, zur Ausführung oder Unterlassung einer bestimmten Handlung zu bewegen. Verhandeln heißt ein ßingkampf mit geistigen Waffen.

Der Unternehmer muß also auch ein guter Ver handle r, Unterhändler, Händler sein, -wie wir denselben Vorgang in verschiedener Nuancierung ausdrücken. Der Händler im engeren Sinne, das heißt der Verhandler in wirtschaftlichen An¬ gelegenheiten, ist nur eine der vielen Erscheinungen, in denen der Verhandler auffcritt.

Immer handelt es sich darum, Käufer (oder Verkäufer) von der Vorteilhaftigkeit des Vertragsabschlusses zu überzeugen. Das Ideal des Verkäufers ist dann erreicht, wenn die ganze Be¬ völkerung nichts mehr für wichtiger erachtet als den von ihm gerade angepriesenen Artikel einzukaufen. Wenn sich der Menschenmassen eine Panik bemächtigt, nicht rechtzeitig mehr zum Erwerb zu kommen (wie es der Fall ist in Zeiten fieber¬ hafter Erregung auf dem Effektenmärkte).

Interesse erregen, Vertrauen erwerben, die Kauflust wecken: in dieser Klimax stellt sich die Wirksamkeit des glücklichen - Händlers dar. Womit er das erreicht, bleibt sich gleich. Genug, daß es keine äußeren, sondern nur innere Zwangsmittel sind, daß der Gegenpart nicht wider Willen, sondern aus eigenem Entschlüsse den Pakt eingeht. Suggestion muß die Wirkung des Händlers sein. Der inneren Zwangsmittel aber gibt es viele.

324 Erster Abschnitt: Wesen und Werden des Kapitalismus

3. rechnerisch-haushälterische

Sind die vorbenannten Funktionen allem Unternehmertum eigen , so hat der kapitalistische Unternehmer die spezifische Funktion, das Rechnen (Kalkulieren), auszuüben. Da sich seine Tätigkeit in Vertrags chließung über geldwerte Leistungen und Gegenleistungen auflöst, so muß er den Inhalt jedes Vertrages sofort in einer Geldsumme sich vorzustellen wissen, die in be¬ ständigem Einnehmen und Ausgeben schließlich ein Aktiv-Saldo ergeben müssen: diese Funktion aber nennen wir Rechnen. Wo das Rechnen ein Rechnen mit unbekannten Größen ist, sprechen wir von Spekulation. Er muß aber ebenso ein guter Haushalter sein , da nur durch bedachte Sparsamkeit das oberste Ziel der kapitalistischen Unternehmung erreicht wird.

IV. Das Kapital und seine Verwertung

Die einer kapitalistischen Unternehmung als sachliche Unter¬ lage dienende Tauschwertsumme ist das Kapital. Dieses be¬ ginnt und endigt in der Form des Geldes, während es dazwischen in wechselnden Formen als Produktionsmittel oder Ware er¬ scheint.

Wir nennen Produktionszeit diejenige Zeit, während welcher das Kapital sich in der Produktionssphäre, Umlaufszeit, während welcher es in der Zirkulationssphäre sich aufhält. Umschlagszeit ist die Summe von Produktions- und Umlaufszeit1.

AVir nennen Realkapital dasjenige, das zum Ankauf von Pro¬ duktionsmitteln, Personalkapital dasjenige, das zum Ankauf von Arbeitskräften dient. Diese wichtige Unterscheidung tritt er¬ gänzend neben die übliche Einteilung in fixes oder stehendes und zirkulierendes oder umlaufendes Kapital1.

Das in einer Unternehmung angelegte Kapital zu „verwerten“, das heißt mit einem Aufschlag (Gewinn, Profit) zu reproduzieren, ist also der Zweck der kapitalistischen AVirtschaft. Die Möglich¬ keiten, den Profit eines Kapitals von gegebener Größe zu steigern, sind aber folgende:

I. Ist die Gewinnquote am einzelnen Produkt gegeben, so entscheidet über die Höhe des Profits die Menge der m einer gegebenen Zeit hergestellten Pr o dukteinheiten: diese wird vergrößert durch Beschleunigung (Intensivierung)

1 Ausführlicher in der 1. Aufl. 1, 204 ff.

325

Neunzehntes Kapitel: Das kapitalistische Wirtschaftssystem

des Produktionsprozesses, kapitalistisch ausgedrückt: durch Be¬ schleunigung des Kapitalumschlags.

II. Ist die Menge der in einer bestimmten Zeit herstellbaren Güter gegeben, so entscheidet über die Höhe des Profits die Gewinnquote am einzelnen Produkt. Diese wird ge¬ bildet durch die Differenz zwischen Verkaufspreis und Kosten. Das Streben ist also auf Vergrößerung dieser Differenz gerichtet. Diese Vergrößerung kann grundsätzlich auf zweifache Weise bewirkt werden:

1. dxirch Steigerung der Verkaufspreise: diese findet ihre Grenze in der Notwendigkeit, den Konkurrenten im Preise zu unterbieten. Daraus ergibt sich für das Kapital die Anti¬ nomie: möglichst teuer und möglichst billig zugleich zu ver¬ kaufen. Eine Lösung dieser Antinomie wird angestrebt durch künstliche Ausschaltung der Konkurrenz, sei es auf gesetzlichem Wege (Monopolisierung, Privilegisierung usw.) oder auf dem Wege der gegenseitigen Verständigung: Tendenz zu Preisverabredungen, Kartellbildung usw. Lassen sich die Preise nicht erhöhen, so bleibt übrig als letztes Mittel, den Profit zu steigern:

2. die Verringerung der Kosten. Diese kann erzielt werden :

a) durch P r o d u k t i o n s v e r b i 1 1 i g u n g , das heißt dadurch, daß man durch Steigerung der Produktivität mit demselben Auf¬ wand mehr Güter herstellt. Die Steigerung der Produktivität erfolgt :

a) durch Vervollkommnung des Arbeitsprozesses (der Betriebs¬ organisation),

ß) durch Vervollkommnung der Technik;

b) durch Produktionsfaktoren Verbilligung, das heißt dadurch, daß man ein gleiches Quantum Produkt mit ge¬ ringerem Aufwande herstellt, ohne eine gleichzeitige Steigerung der Produktivität, also lediglich durch Ersparnisse, die man an den Auslagen für Beschaffung der Produktionsfaktoren macht; und zwar

a) an den sachlichen Produktionsfaktoren: durch vorteilhaften Bezug, sorgfältige Konservierung usw., Ver¬ wertung der Abfälle usw..

ß) an den persönlichen Produktionsfaktoren.

aai) durch Herabsetzung des Entgelts für die gleiche Arbeits¬ leistung (Lohndruck, Beschäftigung billigerer Arbeits¬ kräfte wie Kinder und Frauen),

326 Erster Abschnitt: Wesen und Werden des Kapitalismus

ßß) durch Steigerung der Arbeitsleistung bei gleichem Ent¬ gelt, sei es durch Extensivisierung der Arbeit (Ver¬ längerung der Arbeitszeit), sei es durch Intensivisierung der Arbeit (strengere Aufsicht, Akkordlohn usw.).

IV. Die Bedingungen kapitalistischer Wirtschaft

Wie jede besondere Art zu wirtschaften ist auch der Kapitalis¬ mus an die Erfüllung bestimmter, sei es in dem wirtschaftenden Menschen, sei es in der Umwelt gelegener Bedingungen ge¬ knüpft. Diese festzustellen, stehen uns^zwei Wege offen: wir können entweder Umstände aufzählen, die jeder Kapitalismus theoretisch voraussetzt, damit er da sein könne. Diesen Weg habe ich, als ich das Handwerk darstellte, in diesem Werke (siehe Kapitel 13), bezüglich des Kapitalismus in meiner Ab¬ handlung im GDS., beschritten. Oder aber, wir können diejenigen Ereignisse feststellen, deren Eintritt eine historische Erscheinungs¬ form des Kapitalismus, den „modernen“ Kapitalismus möglich gemacht und zur Entwicklung gebracht haben. Das ist der Weg, den wir hier zu gehen haben. Denn wir wollen uns der Gesamt¬ anlage dieses Werkes erinnern, das sich zur Aufgabe gestellt hat, das Werden und Wachsen der unserer Zeit und unseren Völkern angehörigen kapitalistischen Wirtschaftsweise zu schildern. Da liegt es uns nunmehr also ob, zu verfolgen: wie aus den uns bekannten Wirtschaftsformen des europäischen Mittelalters in langsamer Umbildung der moderne Kapitalismus hervorgegangen ist. Und gerade der Nachweis , wie sich die für seine Ent¬ stehung unerläßlichen Vorbedingungen erfüllt haben, ist zu dem Hauptproblem in diesem Bande gemacht worden. Die eigenartige historisch engbegrenzte Fragestellung ist somit diese: nachdem die Wirtschaft der europäischen Völker die besondere Form der feudal-handwerksmäßigen während des Mittelalters angenommen hatte, die wir also als gegeben setzen, nachdem der neue Geist den Willen zum Kapitalismus aus sich geboren hatte: welche Umstände sind zusammengetroffen, die es ermöglicht haben, daß jener Wille zum Ziele gelangt ist. Darüber ist ein Mehreres im Zusammenhänge zu bemerken.

327

Zwanzigstes Kapitel

Das Werden des Kapitalismus

I. Die treibenden Kräfte

Aus dem tiefen Grunde der europäischen Seele ist der Kapi¬ talismus erwachsen.

Derselbe Geist, aus dem der neue Staat und die neue Religion, die neue Wissenschaft und die neue Technik geboren werden: er schafft auch das neue Wirtschaftsleben. Wir wissen: es ist ein Geist der Irdischheit und Weltlichkeit; ein Geist mit un¬ geheurer Kraft zur Zerstörung alter Naturgebilde, alter Gebunden¬ heiten, alter Schranken, aber auch stark zum Wiederaufbau neuer Lebensformen, kunstvoller und künstlicher Zweckgebilde. Es ist jener Geist, der seit dem ausgehenden Mittelalter die Menschen aus den stillen, organisch gewachsenen Liebes- und Gemeinschafts - beziehungen herausreißt und sie hinschleudert auf die Bahn ruheloser Eigensucht und Selbstbestimmung.

Erst in diesem und jenem starken Menschen Wurzel schlagend und ihn hinausjagend aus der Masse ruheliebender, bequemer Ge¬ nossen; dann immer weitere Kreise erfüllend, belebend, bewegend.

Es ist Faustens Geist: der Geist der Unruhe, der Unrast, der nun die Menschen beseelt. „Ihn treibt die Gährung in die Ferne...“ Will man es Unendlichkeitsstreben nennen, was wir hier sich betätigen sehen, so hat man Recht, weil das Ziel ins Grenzenlose hinausverlegt ist, weil alle natürlichen Maße der organischen Gebundenheiten als unzulänglich, beengend von den Vorwärtsdringenden empfunden werden. Will man es Macht¬ streben nennen, so wird man auch nichts Falsches sagen; denn aus einem tiefsten Grunde, in den unsere Erkenntnis nicht hinab¬ zublicken vermag, quillt dieser unbeschreibliche Drang des ein¬ zelnen Starken, sich durchzusetzen, sein Selbst gegen alle Ge¬ walten trotzig zu behaupten, die andern seinem Willen und seinen Taten zu unterwerfen, den wir als Willen zur Macht be¬ zeichnen können. Will man es Unternehmungs drang nennen, so drückt man gewiß auch überall dort etwas Richtiges aus, wo jener Wille zur Macht die Mitwirkung anderer zur Vollbringung eines gemeinsamen Werkes erheischt, Die „Unternehmenden

328 Erster Abschnitt: Wesen uud Werden des Kapitalismus

sind es, die sicli die Welt erobern; die Schaffenden, die Leben¬ digen: die Nicht-Beschaulichen, Nicht-Genießenden, Nicht- Welt¬ flüchtigen, Nicht- Weltvemein enden.

Wir wissen es: auf allen Gebieten des menschlichen Lebens ringt dieser neue „unternehmende“ Geist sich zur Herrschaft durch. Im Staate vor allem: da heißt sein Ziel: erobern, herrschen. Aber ebenso gut wird er in der Religion, in der Kirche lebendig: hier will erbefreien, entfesseln; in der Wissen¬ schaft: hier will er enträtseln; in der Technik: da will er er¬ finden ; auf der Erdoberfläche : da will er entdecken.

Dieser selbe Geist beginnt nun auch das Wirtschaftsleben zu beherrschen. Er durchbricht die Schranken der auf geruhsamer Genügsamkeit aufgebauten, sich selbst im Gleichgewicht haltenden, statischen, feudal - handwerksmäßigen Bedarfsdeckungs-Wirtschaft und treibt die Menschen in die "Wirb e 1 der Erwerbs Wirtschaft hinein. Erobern heißt hier im Gebiete des materiellen Strebens erwerben: eine Geldsumme vergrößern. Und nirgends findet das Unendlichkeitsstreben, findet das Machtstreben ein seinem inner¬ sten Wesen so sehr gemäßes Feld der Betätigung wie in dem Jagen nach dem Gelde, diesem völlig abstrakten, aller organisch¬ natürlichen Begrenztheit enthobenen Wertsymbole, dessen Besitz dann immer mehr auch als Machtsymbol erscheint.

Ich habe an anderer Stelle ausführlich dargetan, wie sich diese Gier nach Gold und Geld zunächst und lange Zeit hin¬ durch neben dem Wirtschaftsleben ein Bett gräbt und zu einer Reihe von Erscheinungen führt, die mit dem Wirtschaftsleben nichts zu tun haben , da die Menschen zunächst das Gold oder das Geld außerhalb des Kreises ihrer normalen wirtschaftlichen Betätigung zu erlangen trachten. Es sind jene für die letzten Jahrhunderte des Mittelalters und die ersten Jahrhunderte der neuen Zeit charakteristischen Massenphänomenen :

a) des Raubrittertums ;

b) der Schatzgräberei ;

c) der Alchymie ;

d) der Projektenmacherei;

e) des Darlehnswuchers.

Dann aber dringt dieser Geist der Eroberung auch in das Wirtschaftsleben ein, und damit tritt der Kapitalismus in die Erscheinung: jenes Wirtschaftssystem, das in wunderbar kunst¬ voller Weise dem Unendlichkeitsstreben, dem Willen zur Macht dem Unternehmungsgeiste auch und gerade im Gebiete der All-

Zwanzigstes Kapitel: Das Werden des Kapitalismus 329

tagssorge für den Unterhalt ein besonders fruchtbares Feld der Betätigung eröffnet. Die kapitalistische Wirtschaftsweise besitzt diese Eignung deshalb', weil unter ihrer Herrschaft im Mittel¬ punkte aller Zwecksetzung nicht eine lebendige Persönlichkeit mit ihrem natürlichen Bedarf, sondern ein Abstraktum: das Kapital steht. In dieser Abstraktheit des Zweckes liegt seine Unbegrenztheit. In der Überwindung der Konkretheit aller Zwecke liegt die Überwindung ihrer Beschränktheit.

Machtstreben und Erwerbsstreben gehen nun ineinander über : der kapitalistische Unternehmer, denn so nennen wir die neuen Wirtschaftssubjekte, erstrebt die Macht, um zu erwerben, und null erwerben um der Macht nullen. Nur wer Macht besitzt, kann erwerben; und wer erwirbt, vergrößert seine Macht. Wir werden sehen, daß sich dabei im Verlauf der Entwicklung: der Begriff der Macht verschiebt. Wie infolgedessen sich auch die Typen der Unternehmer verändern ; wie allmählich die Machtmittel der List und der Überredung die Machtmittel der Gewalt ver¬ drängen; wie immer mehr die händlerischen Veranlagungen über die Geltung als Unternehmer im 'Wirtschaftsleben entscheidet.

Aber der Kapitalismus ist nicht allein aus diesem Unendlich¬ keitsstreben, aus diesem Machtwillen, aus diesem Unternehmungs- geiste geboren. Mit diesem hat sich ein anderer Geist gepaart, der dem Wirtschaftsleben der neuen Zeit die. sichere Ordnung, die rechnerische Exaktheit, die kalte Zweckbestimmtheit ge¬ bracht hat: das ist der Bürgergeist, der sehr wohl außerhalb des Kreises der kapitalistischen Wirtschaft wirksam sein kami und jahrhundertelang wirksam gewesen ist in den unteren Schichten der städtischen Wirtschaftssubjekte, der Berufshändler und Handwerker.

Will der Untemehmergeist erobern, erwerben, so will der Bürgergeist ordnen, erhalten. Er drückt sich in einer Reihe-von Tugenden aus, die alle darin übereinstimmen, daß als sittlich gut dasjenige Verhalten gilt, das eine wohlgefügte kapitalistische Haushaltung verbürgt. Daher sind die Tugenden, die den Bürger zieren, vornehmlich: Fleiß, Mäßigkeit, Sparsamkeit, Wirtschaft¬ lichkeit, Vertragstreue. Die aus Unternehmungsgeist und Bürge rgeist zu einem einheitlichen Ganzen ver¬ wobene Seelenstimmung nennen wir dann den kapi¬ talistischen Geist. Er bat den Kapitalismus geschaffen.

Das Problem des „kapitalistischen Geistes“ habe ich ausführlich und nach allen Seiten behandelt in meinem Buche : Der Bourgeois, das 1913 erschienen ist und den Untertitel trägt: „Zur Geistesgeschichte

330

Erster Abschnitt: Wesen und Werden des Kapitalismus

des modernen Wirtsehaftsmenscken“. Ich habe deshalb hier, indem ich mich auf jenes Buch beziehe, nur ganz kurz das Wesen des kapitalistischen Geistes skizziert und verzichte ganz an dieser Stelle auf seine Ableitung, der der größte Teil meines „Bourgeois“ gewidmet ist, um mich nicht wiederholen zu müssen. Ebenso verweise ich den Leser, der sich für das Problem interessiert : ob der „Geist“ das „Wirtschaftsleben“ oder dieses jenen „erzeuge“, auf meine Ausführungen an derselben Stelle. Ich halte im übrigen das, was ich dort zur Lösung dieses Problems gesagt habe, sehr wohl der Erweiterung und Vertiefung, vor allem nach der metaphysischen Seite hin bedürftig,' will aber dieses Werk nicht mit der weitschichtigen Erörterung gerade dieses Themas belasten, und behalte mir vor, darauf bei anderer Gelegenheit zurückzukommen.

II. Der h i s t o ri s c h e Aufbau des modernen Kapita¬ lismus

Geschichte schreiben heißt : den Nachweis führen, auf welchen Wegen sich der Völkergeist seinem Ziele nähert; was ihn bei seinem Bestreben fördert, was hindert. Anders ausgedrückt: heißt aufzeigen: in welchem Umfange und durch welche Mittel die einem Volke oder einer Völkergruppe zugrunde liegende Idee verwirklicht wird. Auf das Wirtschaftsgeschichtliche und unsere besondere Aufgabe angewandt: die Geschichte des mo¬ dernen Kapitalismus schreiben heißt: nachzeichnen, wie sich im Laufe der Jahrhunderte die Idee des kapitalistischen Wirtschafts¬ systems in Tatsächlichkeit verwandelt; wie sich das Wirtschafts¬ leben der europäischen Völker aus dem neuen Geiste in allen seinen Verzweigungen herausentwickelt.

Im Bilde gesprochen (das auch der Überschrift dieses Unter¬ abschnitts die Fassung gab): wir wollen den „Aufbau“ des modernen Kapitalismus begreifen. Zu diesem Behufs nehmen ■wir die Wirksamkeit eines unbekannten Baumeisters an, dessen „Baugesinnung“ uns aber sehr wohl bekannt ist, weil sie uns in der Seelenveranlagung strebender Menschen offenbar wird, und verfolgen nun, aus welchen Bestandteilen er seinen Bau zusammenfügt. Den Bau selber werden wir erst in dem nächsten Bande dieses Werkes erwachsen sehen. Hier gilt es, zunächst einmal die „Grundlagen“ und auch die Baumaterialien und die Bauarbeiter kennen zu lernen.

Der Leser möge sich durch "einen Blick in das Inhalts¬ verzeichnis überzeugen, auf welche Erscheinungen bei der gene¬ tischen Betrachtung des modernen Wirtschaftslebens ich ent¬ scheidendes Gewicht lege. Ob ich die richtige Wahl getroffen

Zwanzigstes Kapitel: Das Werden des Kapitalismus.

331

habe, kann selbstverständlich erst das Studium dieses Werkes erweisen. Hier will ich dem Leser dieses dadurch zu erleichtern trachten , daß ich ihm einen Überblick über das weit¬ schichtige Material verschaffe. Ich tue dies, indem ich ihm die Zusammenhänge aufzeige , die ich erblicke zwischen den wirkenden Kräften und den verschiedenen Gebieten der geschicht¬ lichen Wirksamkeit, die die folgenden sieben Abschnitte um¬ spannen; zwischen diesen untereinander und zwischen ihnen und der kapitalistischen Wirtschaft.

Ich sage an einer Stelle einmal: „im Anfang war die Armee“, und will damit ausdrücken, daß ich in den modernen Heeren das erste und wichtigste "Werkzeug erblicke , das sich der neue Geist formt, um sein Werk zu vollbringen. Mit Hilfe der Armee wird der Staat (2. Abschnitt) geschaffen, dieses erste vollendete Gebilde des neuen Geistes, in dem und durch den dieser sich vor allem auswirkt. Um der Naturgewalten Herr zu werden, trachtet er dann die Technik (3. Abschnitt) umzugestalten, und sein ihm innewohnender Drang nach Geld und Macht führt ihn zu den Edelmetallagern (4. Abschnitt), die er ausbeutet.

Diese drei Gebiete erscheinen als selbständige Felder der Tätigkeit des neuen Geistes, und es läßt sich die eine Strebung nicht restlos aus der andern ableiten. Wohl aber bemerken wir, wie sie alle drei in engster Wechselwirkung miteinander stehen. Das Staatsinteresse ist es vor allem, das, um die Schlagkraft der Heere zu steigern, auf unausgesetzte Verbesserung der Technik drängt; es ist es, das die Vermehrung der Edelmetall Vorräte als wichtigstes Ziel der Politik betrachtet und deshalb die Steigerung der Edelmetallproduktion betreibt. Sind aber technische^- Fort¬ schritt und Edelmetallproduktion staatsbewirkte Vorgänge, so sind es doch ebenso sehr Bedingungen staatlicher Entwicklung: ohne Hochofentechnik keine Kanonen und darum keine modernen Heere; ohne Kompaß und Astrolabium keine Entdeckung Amerikas und keine kolonialen Reiche. Ohne die Erschließung reicher Silberminen und Goldfelder in Amerika kein modernes Steuer¬ system, kein Staatskredit, kein Heer, kein Berufsbeamtentum und also kein moderner Staat. Aber auch Technik und Edelmetall¬ produktion stehen im Verhältnis engster Wechselwirkung: ohne Wasserhaltungsmaschine, ohne Amalgam verfahren keine Silber- * produktion; ohne die Fortschritte der Münzprägung kein modernes Währungs System. Und umgekehrt: ohne die Sucht nach dem Golde längst nicht so rasche Fortschritte auf dem Gebiete der Technil^,

332 Erster Abschnitt: Wesen lind Werden des Kapitalismus

Staat, Technik lind Edelmetallproduktion sind gleichsam die Grundbedingungen der kapitalistischen Entwicklung : immer den Willen zum Kapitalismus als einen Bestandteil des neuen Geistes vorausgesetzt. Jede dieser Grundbedingungen läßt sich getrennt in ihrem Einflüsse verfolgen:

Der Staat, durch sein Heer vor allem, schafft für den Kapi¬ talismus einen großen Markt; durchdringt das 'Wirtschaftsleben mit dem Geiste der Ordnung und Disziplin. Der Staat erzeugt durch seine Kirchenpolitik den Ketzer und, indem er die Wande¬ rungen aus religiösen Gründen bewirkt, den „Fremden“: zwei beim Aufbau des Kapitalismus unentbehrliche Elemente. Der Staat drängt in die Ferne, er erobert die Kolonien und treibt mit Hilfe der Sklaverei die ersten kapitalistischen Großbetriebe hervor. Der Staat pflegt und fördert durch bewußtes Eingreifen seiner Politik die kapitalistischen Interessen.

Die Technik macht die Produktion und den Gütertransport im Großen erst möglich (und notwendig) ; sie schafft durch neue Verfahrungsweisen die Möglichkeiten neuer Industrien, die im Rahmen der kapitalistischen Organisation erwachsen.

Die Edelmetalle beeinflussen das Wirtschaftsleben in viel¬ facher Hinsicht und wirken selbständig durch ihre Fülle Wunder : sie bilden den Markt in einer der kapitalistischen Entwicklung förderlichen Richtung; sie steigern den kapitalistischen Geist, indem sie den Erwerbstrieb verstärken und die Rechenmäßigkeit vervollkommnen.

So wirken Staat, Technik und Edelmetalle unmittelbar auf den Kapitalismus ein. Ihre Förderung der kapitalistischen Ent¬ wicklung ist nun aber in noch stärkerem Maße eine mittelbare, indem sie nämlich es sind, die eine Reihe anderer wichtiger Be¬ dingungen dieser Entwicklung zur Erfüllung bringen.

Sie sind es, die durch ihr Zusammenwirken die Ent¬ stehung des bürgerlichen Reichtums (5. Abschnitt) möglich machen. Dieser aber ist eine notwendige Vorbedinguno' des Kapitalismus , sofern durch ihn : einerseits die Bildung des Kapitals erleichtert, andererseits ein Ausgabefonds geschaffen wird, der bei der Neugestaltung des Güterbedarfs (6. Ab¬ schnitt) eine wichtige Rolle spielt. Durch diese erst wird die Möglichkeit eines Absatzes im Großen geg’eben , wie ihn der Kapitalismus braucht. Diese Neugestaltung ist aber wiederum das Werk der drei Grundkräfte: Staat, Technik, Edelmetall¬ produktion, die teilweise direkt (Luxusbedarf der Höfe! Heeres- bedaifj Schiffsbedarf! Kolonialbedarf!), teilweise durch das

338

Zwanzigstes Kapitel: Das Werden des Kapitalismus

Mittelglied des bürgerlichen Reichtums (Luxusbedarf der neuen Reichen!) ihren Einfluß ausüben.

Die Beschaffung der Arbeitskräfte (7. Abschnitt) er¬ folgt unter der Einwirkung der Technik größtenteils durch Ver¬ mittlung des Staates auf direktem oder indirektem Wege.

In der Unternehmerschaft, deren Ursprung dann noch (8. Abschnitt) aufgedeckt wird, werden die Kräfte lebendig, die bestimmt sind, alle einzeln analysierten Elemente zu dem Kosmos der kapitalistischen Wirtschaft zusammenzufügen. Sie bewirken und zwar verschieden je nach der Herkunft; sie sind aber ebenso bewirkt und bedingt durch all die Umstände, die in diesem Buche aufgezählt werden: der Staat beeinflußt ihre Zusammensetzung, sofern er aus seiner Mitte zahlreiche Leiter der neuen Wirt¬ schaftsformen stellt, sofern er durch seine Politik, wie ich schon sagte, wichtige Typen neuer Wirtschaftssubjekte erzeugt; die Entstehung des bürgerlichen Reichtums bewirkt, daß in außer¬ bürgerlichen Kreisen ein Anreiz zum erwerbenden Unternehmer- tum geboten, in vielen Fällen die sachliche Möglichkeit zur Unternehmertätigkeit erst geschaffen wird usw.

Das alles im einzelnen nachzuweisen, ist ja die Aufgabe dieses Werkes.

Noch eine einschränkende Bemerkung muß ich der geschicht¬ lichen Darstellung voraufschicken: in den folgenden sieben Ab¬ schnitten dieses Buches werden die Vorbedingungen der kapita¬ listischen Wirtschaft aufgewiesen, die deren Entfaltung in ihren Anfängen bis zum Ende des früh kapitalistischen Zeitalters ermöglicht haben. Damit der Kapitalismus in seine Hochepoche eintreten konnte, mußten andere Bedingungen erfüllt werden, wie später zu zeigen sein wird. Solange sie nicht erfüllt waren, also bis etwa in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, bestanden „Hemmungen“ der kapitalistischen Entwicklung. Welche das waren, wird auch zur gegebenen Zeit zu sagen sein.

Jetzt müssen wir erst in langem, innigem Nacherleben uns die ungeheure Fülle von verwirrenden und sich vielfach durch¬ kreuzenden Tatsachen ins Bewußtsein bringen und vor Augen stellen, deren Zusammentreffen überhaupt erst kapitalistische Wirtschaft möglich gemacht hat. Die stete Ausrichtung aller Geschehnisse und Begebenheiten auf den einen Punkt : was be¬ deuten sie für die Entwicklung des Kapitalismus? wird uns befähigen, des gewaltigen Stoffes, der sich vor uns auftürmt, Herr zu werden.

334

Zweiter Abschnitt Der Staat

Einundzwanzigstes Kapitel

Wesen und Ursprung des modernen Staates

I. Der Begriff des modernen Staates

Das Sachphänomen des Fürstenstaates oder des absoluten Staates, wie er seit dem Ausgang des Mittelalters in Europa zur Entfaltung gelangt, beruht in der Tatsache, daß eine große An¬ zahl Menschen eine große Anzahl: das heißt zunächst mehr als in einer Stadtgemeinde oder auch in einer „Landschaft11 siedeln durch den Willen eines Herrschers (oder seines Statt¬ halters) den Interessen dieser Machthaber unterworfen werden. Daß diese Menschen durch kein Gemeinschaftsband: nicht das des Blutes, aber auch nicht das der Nachbarschaft oder der Gefolg¬ schaft aneinander geknüpft sind, daß ihre „Vereinigung“ vielmehr eine „mechanische“ (keine „organische“), eine gemachte (keine gewachsene) ist, daß sie unter rationalem Gesichtspunkte zu¬ stande kommt : das ist es, was diese Gebilde von allen früheren politischen Verbänden von Menschen wesentlich unterscheidet.

In dem Staate bricht sich jenes Unendlichkeitsstreben, das die neue Zeit erfüllt, zuerst und am erfolgreichsten Bahn. Wir sehen zunächst kraftvolle Einzelpersönlichkeiten sich zu „Ty¬ rannen“ aufschwingen, die dann aber gleichsam über sich selber hinauswachsen, indem sie sich zur Idee des Staates erweitern. Das L’etat, c’est moi hat doch auch den Sinn: moi, c’est l’etat. Und in dieser Ausweitung der fürstlichen Interessen zu den Staatsinteressen liegt ja die Besonderheit der europäischen Staatsentwicklung , die diese scharf von allen orientalischen Despotien scheidet. Das Staatswohl deckt sich mit dem Wohl des Fürsten, aus dessen Machtvollkommenheit heraus die Idee der Obrigkeit sich entwickelt.

Einundzwanzigstes Kapitel : Wesen Und Ursprung des modernen Staates 335

Aber so wie sich die Staatsidee von der Person des Fürsten loslöst, der nur noch ihr sichtbarer Führer, ihre „verkörpernde Erscheinungsform“ ist und sich verselbständigt: so setzt der Gedanke der Obrigkeit den Staat auch als etwas vom Volk Ver¬ schiedenes. Und damit gewinnt die Staatsidee wohl eigentlich erst ihre expansive Kraft ; wird sie wohl eigentlich erst befähigt, dem imendlichen Machtstreben als regulatives Prinzip zu dienen und ihm gleichzeitig die Bahn für seine Betätigung frei zu machen.

Losgelöst von den organischen Schranken der Volksgemein¬ schaft entwickelt sich der Staat nach mechanischen Grundsätzen zum absoluten Staat. Nach außen: indem er nach grenzen¬ loser Expansion strebt, die er durch das mechanisch gegliederte und damit ebenfalls unbeschränkt ausdehnungsfähige moderne Massenheer durchzuführen trachtet, das heißt, indem er zum reinen Machtstaat wird ; nach innen, indem er alle Lebensgebiete einer bewußten Pegelung unterwirft und seinen Willen zu dem einzigen Quell des Lebendigen zu machen die Tendenz hat, das heißt, indem er zum Polizeistaat wird.

Seltsam ist die Übereinstimmung der Entwicklungsreihen des modern-staatlichen und modern-wirtschaftlichen Lebens. Aber es wäre ein vergebliches Bemühen, den einen Erscheinungs¬ komplex aus dem andern, die Wirtschaft aus dem Staat, den Staat aus der Wirtschaft „ableiten“ zu wollen. Beide entspringen aus gemeinsamer Wurzel und bedingen und bestimmen sich dann freilich auch wechselseitig.

Wie der Staat durchaus sein eigenes Leben lebt, seine eigenen Wege geht, unabhängig von aller Wirtschaft, sehen wir ein, so¬ bald wir uns seinen Werdegang vor Augen halten.

H. Der Ur sprung des modernen Staates

Woher der moderne Staat seinen Ursprung genommen habe, welches Vorbild für ihn bestimmend geworden sei: diese Frage hat man oft in ganz verschiedenem Sinne zu beantworten unter¬ nommen. Wenn man, wie es oft geschieht, Kaiser Friedrich II. als den ersten modernen Fürsten bezeichnet, so liegt es nahe, die Constitutio von 1231 für die Entstehung des modernen Staates verantwortlich zu machen und diesen somit auf byzan¬ tinischen oder arabischen Einfluß zurückzuführen1. In der Tat

1 Hans Wilda, Zur sicilischen Gesetzgebung, Staats- und Finanz¬ verwaltung unter Kaiser Friedrich II. und seinen normannischen Vor¬ fahren. I.-D. 1889.

336

Zweiter Abschnitt: Der Staat

enthält die Const. Friedr. zum ersten Male eine Eeilie ganz und gar moderner Verwaltungsgrundsätze: vor allem das Berufs¬ beamtentum, das bis auf Boger zurückreicbt und in der Const. Friedr. seine systematische Ausbildung erfahren hat. Dann aber kommen doch wieder Bedenken. Im Staate Friedrichs II. waren ebenso wesentliche Bestandteile noch mittelalterlich-feudal ge- blieben: dem Kriegswesen liegt noch die Lehnsidee zugrunde und was dergleichen mehr ist. Dann ist es aber auch zweifel¬ haft, ob die Staaten der Benaissance ihren Stammbaum auf den Friederizianischen Staat wirklich zurückführen. In Sizilien selbst, namentlich auf dem sizilianischen Festlande, sind die Bestim¬ mungen der Const. Friedr. bald von andern Gesetzen über¬ wuchert worden. In Neapel war der Feudalismus selbst durch Friedrichs II. Gesetzgebung nicht bewältigt worden: unter den Anjou wurde er wieder die Grundlage der Verfassung und des Wirtschaftslebens und so folgerichtig durchgeführt, daß dies noch nach 200 Jahren die Verwunderung des Franzosen Com- mines erregt: die Beziehungen des Besitzes zum Amt, des Amtes zum Hofdienst wurden überall streng festgehalten. Freilich müssen wir uns auch der Tatsache erinnern, daß einer der ersten ganz modernen Fürsten Alfonso von Aragonien ist, der 1416 1458 König von Neapel war, und den wir als den „Musterkönig der Benaissance“ zu bezeichnen gewohnt sind. Hatte er seine An¬ regungen von seinen Vorgängern auf dem Thron empfangen? Oder war in ihm türkischer Einfluß lebendig geworden? Denn schon fing man an, das osmanische Eeich zu studieren und zu bewundern, das im 16. Jahrhundert im Mittelpunkte des Inter¬ esses aller Staatsmänner stand, und von dem Luther schrieb: „man sagt, daß kein feiner weltlich Eegiment irgend sei als bei den Türken.“

Aber vielleicht brauchen wir unsern Blick gar nicht auf die Länder des Ostens zu richten, wenn wir die Genesis des mo¬ dernen Staates erklären wollen : vielleicht genügen die Elemente der europäischen Gesellschaft des Mittelalters vollauf, um aus ihnen das absolute Fürstentum und mit ihm den modernen Staat abzuleiten. Mir scheint doch, als ob sich ein großer Teil der Grundsätze und Ideen der modernen Staatskunst folgerichtig aus der mittelalterlichen Stadt dort, wo sie ihre reinste Aus¬ bildung erfahren hat: in Italien entwickelt hätte. Vor allem die beiden Grundgedanken des absoluten Staates : den Bationalis- mus und die Vielregiererei finden wir in den italienischen Städten

Eimmdzwanzigstes Kapitel: Wesen und Ursprung des modernen Staates 337

und Stadtstaaten des 14. Jahrhunderts schon völlig entwickelt. „Die bewußte Berechnung aller Mittel, wovon kein damaliger aüßeritalienischer Fürst eine Idee hatte, verbunden mit einer innei halb der Staatsgrenzen fast absoluten Machtvollkommenheit, brachte hier ganz besondere Menschen und Lebensformen her¬ vor.“ (Burckhardt.) „Der Fürst, so hören wir schon zur Zeit des Trecento in Italien, soll selbständig, unabhängig von den Hofleuten, dabei aber bescheiden und einfach regieren, für alles sorgen ! Küchen und öffentliche Gebäude hersteilen und unterhalten, die Gassenpolizei aufrechterhalten, Sümpfe aus¬ trocknen, über Wein und Getreide wachen; strenge Gerechtig¬ keit walten lassen, die Steuern so ausschreiben und verteilen, daß das Volk ihre Notwendigkeit und das Unbehagen des Herrschers, die Kassen anderer in Anspruch zu nehmen, erkenne, Hilflose und Kranke unterstützen und ausgezeichneten Gelehrten seinen Schutz und Umgang widmen.“ Wiederum "wird sich der Einfluß der italienischen Entwicklung auf die übrigen europäischen Staaten nicht im einzelnen einwandsfrei nachweisen lassen. Un¬ verkennbar ist jedoch, daß die Staatsverfassung und die Staats¬ kunst der italienischen Renaissance nicht nur die Theoretiker, sondern auch die Welt des politischen Handelns überall in hohem Grade beschäftigt, angezogen und abgestoßen haben. „Unver¬ hüllter und übersichtlicher als anderwärts trat hier die Verwelt¬ lichung des Staates zutage. Hier wurde ganz offen die Macht zum Selbstzweck, die ratio Status zum obersten Gesetz erhoben, vor dessen Allgewalt jede sittliche und religiöse Rücksicht . . . zurückstehen sollte.“

Die Ableitung der Idee des modernen Staates aus den italienischen Städtestaaten wird uns noch mehr einleuchten, wenn wir uns erinnern, daß auch der Name „Staat“ zuerst in der italienischen Sprache im modernen Sinne gebraucht wird. Das Wort Stato finden wir erst in Verbindung mit dem Namen einer Stadt (stato di Firenze etc.), dann für jeden Staat angewandt. Nach der Meinung J. Burckhardts (Kult, der Renaiss. 1 8, 121) hießen die Herrschenden und ihr Anhang zusammen lo stato, „und dieser Name durfte dann die Bedeutung des gesamten Daseins eines Territoriums usurpieren“. In diesem Wandel der Wortbedeutung käme die Grundidee des modernen Fürstentums: daß sich das Wohl des Fürsten zum Wohl des Staates erweitert, zu greifbarem Ausdruck. Vgl. noch G. Je Hin ek, Allgemeine Staats¬ lehre. 3. Aufl. 1914, S. 131 f.

Als dann diese Ideen anf größere Gebiete hinübergriffen, als aus den kleinen Tyrannen der italienischen Stadtstaaten „Könige“ geworden waren, die nun für ihre großen Reiche dieselbe Macht-

Sombarfc, Der moderne Kapitalismus. I. 2 1

338

Zweiter Abschnitt: Der Staat

Vollkommenheit in Ansprach nahmen wie jene für ihre Zwerg - fürstentümer, da mußte bald der Gedanke auftauchen, diese neu¬ entstandenen Herrschaftsverhältnisse mit dem alten imperium in einen inneren Zusammenhang zu bringen. Mit Hilfe des römischen Hechtes bildeten die Staatsrechtslehrer des 16. und 17. Jahr¬ hunderts den modernen Souveränitätsbegriff aus: sie gaben damit „dem aufgeklärten Despotismus das gute Gewissen und die Über¬ zeugungskraft, deren er bei seinem willkürlichen Verhalten sehr bedurfte.“ Bodin (1530 1596), der dieses Werk begann, de¬ finierte ja die Souveränität (majestas) als „summa in cives legibusque soluta potestas“, gab also dem praktischen „l’etat, c’est moi“ die theoretische Weihe. Was Bodin, Hobbesu. a. für die formale Staatslehre leisteten, unternahm Montchretien für die materiale Staatslehre: die Rechtfertigung der Staatszentrali¬ sation. Damit war der moderne Groß Staat auch als systema¬ tische Einheit vollendet, nachdem er von den „Drei Magiern“, wie man die großen Könige, die Ende des 15. Jahrhunderts regierten: Ferdinand den Katholischen, Ludwig XI. und Heinrich Tudor genannt hat, praktisch zum Leben erweckt worden war.

Eine Stärkung erfährt der absolute Staat dami durch den Protestantismus, durch den der Begriff des christlichen Staates und der christlichen Obrigkeit, die unmittelbar von Gott ist, erst recht begründet werden1.

Die Ideen dieses absoluten Staates und seiner Politik, nament¬ lich auch seiner Wirtschaftspolitik, verbreiteten sich dann in den folgenden Jahrhunderten über alle Länder. Mag das aufgeklärte Fürstentum vielleicht auch im Sonnenkönige und in Preußens Königen seine typischen Vertreter gefunden haben: die Grund¬ sätze ihrer Politik finden wir ebenso in den holländischen Frei¬ staaten wie in dem konstitutionellen, in dem republikanischen und in dem absoluten England in Anwendung. Wir können sogar im einzelnen verfolgen, wie die Politik des einen Landes dem andern Lande die Befolgung derselben Politik abnötigt: wie beispielsweise Holland durch die Politik Englands und dann namentlich Frankreichs in das Fahrwasser der merkantilistischen Politik hineingezogen wird, in dem es dann im 18. Jahrhundert

1 Diese Zusammenhänge werden mit vielem Geist aufgewiesen von C. B. Hundeshagen, Über einige Momente in der geschichtlichen Entwicklung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, in Doves Zeitschrift f. Kirchenrecht 1 (1861) 232 ff., 444 ff.

Einimdzwanzigstes Kapitel: Ursprung und Wesen des modernen Staates 339

segelt, als es sich darum handelt, die von den französischen Refugies ins Leben gerufenen Industrien zu schützen1.

HL Die Bedeutung des Staats für den Kapitalismus

Die bedeutsamen Wirkungen, die eine solche künstliche Zu¬ sammenfassung vieler Menschen unter dem Willen einer Person im Gefolge hat, sind vor allem diese:

Erstens wird, damit jener Zweck des Fürstenstaates : die Be¬ völkerung eines weiteren Landstriches dem Staatszweck dienstbar zu machen, erfüllt werde, ein System von Mitteln geschaffen, die selbst von stärkstem Einfluß auf die Gestaltung des Menschen¬ schicksals werden : Kräfte müssen zusammengefaßt , Menschen , müssen zu bestimmten Handlungen und Unterlassungen angeleitet werden: eine „Organisation“, ein Verwaltungsapparat entsteht' Und dieses System von Herrschaftsmitteln gewinnt dann selbst wieder Leben und wirkt weiter als Subjekt und Objekt im Ablauf der Geschichte.

Zweitens werden die „Untertanen“, das heißt also die Objekte der Staatszwecke in ihrer eigenen Lebensgestaltung beeinflußt: die Einrichtungen des Staates greifen in jedes Einzelnen Leben hinein und führen gleichzeitig die vielen zu einer engeren Lebens¬ gemeinschaft zusammen, verbinden sie, die früher unverbunden waren.

In Europa, wissen wir, ist die lange Epoche seit den Kreuz¬ zügen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, just jene Zeitspanne, die wir als die Epoche des Frühkapitalismus bezeichnen, durch die Entwicklung des absoluten Fürstentums gekennzeichnet, im Rahmen dessen also rein äußerlich der moderne Kapitalismus zur Entfaltung kommt.

Aber ein großer Teil der Lebensäußerungen des modernen Staates steht auch innerlich mit der Genesis des modernen Kapitalismus in irgendwelchem Zusammenhänge ; hat für ihn als Vorbedingung oder als Förderung oder auch als Hemmung zu gelten. Das sind aber mehr als es auf den ersten Blick scheinen möchte. Denn wenn auch eine bewußte unmittelbare Förderung der kapitalistischen Entwicklung nur in der Wirtschaftspolitik des „Merkantilismus“ zutage tritt, so sind doch andere Zweige des staatlichen Lebens ungewollt und mittelbar für die Aus-

1 E. Laspeyres, Geschichte der Volkswirtschaft!. Anschauungen der Niederländer (1863) 124 ff., 134 ff.

340

Zweiter Abschnitt: Der Staat

Wirkung kapitalistischen Wesens von außerordentlich hoher Be¬ deutung geworden, wie das im Verlaufe dieser Untersuchungen im einzelnen nachgewiesen werden wird.

Diejenigen Gebiete der staatlichen Verwaltung, die solcher¬ weise für unsere Betrachtungen von Wichtigkeit sind , sind folgende :

1. das Heerwesen;

2. die Gewerbe- und Handelspolitik;

3. die Verkehrspolitik;

4. die Münz- und Währungspolitik;

5. die Kolonialpolitik;

6. die Kirchenpolitik ;

7. die Arbeiterpolitik ;

8. die Finanz Wirtschaft.

Die ersten sechs Gebiete werden in diesem Abschnitte ab¬ gehandelt, da sie ausschließlich Äußerungen der Staatsgewalt sind und als solche verstanden werden können. Der unter 7 genannte Zweig der Politik muß dagegen im Zusammenhang mit anderen Erscheinungen behandelt werden, die erst in einem späteren Stadium der Gedankenentwicklung auftauchen, da sie ohne diese unverständlich sind. Er bildet deshalb den Gegen¬ stand eines besonderen Abschnittes.

Die staatliche Einanzwirtschaft wird dem Plane dieses Werkes gemäß in folgendem Zusammenhänge ihre Erledigung finden: 1. in dem Kapitel über das Geldwesen; 2. als „Hemmung“ der kapitalistischen Entwicklung (2. Band) ; 3. als Anregerin für Lebensäußerungen kapitalistischen Wesens, deren Erörterung und genetische Darstellung einem späteren Bande Vorbehalten sind (Börsenwesen, Efiektenwesen usw.); 4. als Quelle der Bereiche¬ rung findet die Finanzwirtschaft der modernen Staaten ausgiebige Berücksichtigung in dem Abschnitt, der der Geschichte des bürgerlichen Eeichtums gewidmet ist.

Literatur zu diesen wenigen allgemeinen Bemerkungen aber Wesen und Ursprung des modernen Staates, die lediglich den Zweck einer Ein¬ führung in das folgende haben, anzugeben, hat wenig Sinn. Werke, die sich das hier erörterte Problem grundsätzlich und in allgemeiner Betrachtung eigens zum Vorwurf gemacht hätten, gibt es meines Wissens nicht. Bücher wie die von J. Ferrari, Iiistoire de la raison d’Etat, 1860 (das übrigens durch seine eigenartige Bibliographie der italienischen politischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts wertvoll ist), Franz Oppenheimer, Der Staat (1907), und ähnliche sind doch zu allgemeinen Inhalts, um die hier gesuchte Einsicht wesentlich zu fördern.

Einundzwanzigstes Kapitel : Wesen undUrsprung des modernen Staates 341

Das Werk von Sam. Max Melamed, Der Staat im Wandel der Jahr¬ hunderte (1910), enthält nicht, was man dem Titel nach erwartet: nicht der Staat, sondern die Staatstheorien werden in ihren Wandlungen ver¬ folgt. Einige der Allgemeinen Staatslehren enthalten kurze geschichtliche Übersichten über die verschiedenen Staatsformen der Vergangenheit. So namentlich Jellinek, a, a. 0. S. 287 ff. Man ist aber* doch hier im wesentlichen angewiesen auf die Geschichtsdarstellungen, die diese Periode zum Gegenstände haben. Am meisten Aufklärung findet der für die Allgemeinheit der Entwicklung interessierte Studien¬ beflissene noch immer in Jacob Burckhardts unübertroffener „Kultur der Renaissance“ sowie in den Werken Rankes, die sich ja gerade mit dem 16., 17. und 18. Jahrhundert besonders eingehend befassen. Leider versagt Ranke freilich in den wirtschaftshistorischen Teilen fast ganz. Aus der neuen Literatur sei auf den Band in der „Kultur der Gegenwart“ verwiesen, der „Staat und Gesellschaft der neueren Zeit“ behandelt (V erf. Bezold, Gothein, Koser), und in dem die Arbeit von Bezold über die Reformationszeit besonders wertvoll ist.

Daß in die hier umschriebene Interessensphäre auch diejenige Literatur hineinragt, die die Staatstheorien in ihrer geschicht¬ lichen Entwicklung zur Darstellung bringt, versteht sich von selbst. Einen interessanten Versuch, die Bildung der modernen Staaten unter wesentlich geographischem Gesichtspunkt zu schildern, enthält das Buch von Aug. Hirn ly, Histoire de la formation territoriale de l’Europe centrale. 2 Vol. 1876.

342

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Das Heeres wesen

Vorbemerkung. Literatur

Aus Blut und Eisen ist der moderne Fürstenstaat aufgebaut. Nach innen wie nach außen wurde er so stark und so groß, wie die Macht seines Schwertes reichte. Entwicklung des modernen Staates und Entwicklung des Heereswesens sind daher gleichwertige Begriffe. Aus diesem Grunde wird jeder, der irgend etwas vom modernen Staat aussagen will, die Eigenart der militärischen Verhältnisse in Rücksicht ziehen müssen.

Aber nicht nur deshalb spreche ich hier von der Begründung und Ausweitung der modernen Heere, sondern auch und vor allem aus dem Grunde : weil gerade von dieser Seite her der Kapitalismus eine wesentliche und weite Gebiete berührende Förderung erfahren hat, also daß die Herausbildung des Militarismus als eine der Vor¬ bedingungen des Kapitalismus erscheint.

Ich bin diesen Zusammenhängen , die zwischen Militarismus und Kapitalismus obwalten, nachgegangen in meiner Studie: ..Krieg und Kapitalismus“ (1912), auf die ich den Leser verweise, wenn er ausführlicher den Sachverhalt erfahren will, als ich ihn hier darstellen kann. Der Leser findet dortselbst im Anhänge auch eine Auswahl der wichtigsten militärwissenschaftlichen Werke verzeichnet, die ihm als literarischer Wegweiser bei weiterem Eindringen in das Gebiet der heeresgeschichtlichen Probleme dienen können.

Dem Gesamtplan dieses Werkes gemäß bringe ich in diesem Kapitel zunächst nur die Tatsache der militärischen Organisation der modernen Heere und Flotten, die als ein Werk der Staatsverwaltung erscheint, sowie ihre Entstehungsweise, soweit sie zum Verständnis notwendig ist, zur Abhandlung. Je an den besonderen Stellen werden dann später die Wirkungen aufgewiesen, die von der Neuordnung des Heereswesens auf den Gang der wirtschaftlichen Entwicklung ausgegangen sind.

I. Die Entstehung der modernen Heere

1. Die Herausbildung' der neuen Organisationsfornien

a) Das iMndlieer

> Das moderne Heer ist ein stehendes und ist ein Staatsheer. Die beiden schon immer vorhandenen Tendenzen: den Fürsten (als Vertreter des Staates) zum alleinigen Befehlshaber zu machen

Zweiundzwanzigstes Kapitel: Das Heereswesen

348

und ihm dauernd die Truppen zur Verfügung zu stellen, wirken also bis zrun letzten Ende weiter, bis die Grundsätze zu all¬ gemeiner Geltung gelangt sind. Dieser Sieg der beiden Prinzipien findet seinen äußeren, man wäre versucht, zu sagen : symbolischen Ausdruck, wenn dieser Ausdruck nicht gleichzeitig eine so sehr reale Bedeutung für die Grundideen des modernen Heeres hätte : in der dauernden Bereithaltung oder Bereitstellung von Geld¬ mitteln zur Beschaffung und Ausrüstung der stehenden, staat¬ lichen Truppen; von Mitteln, über die der Fürst frei zu verfügen hat, also daß er dadurch die zeitliche Dauer wie auch die ad¬ ministrative Durchdringung des Heeres von seinem V illen ab¬ hängig machen kann: in dieser nunmehr geschaffenen materiellen Potenz des Fürsten vereinigen sich die beiden wesentlichen Merkmale des modernen Heeres: daß es stehend und daß es staatlich ist, wie von selbst zu einer organischen Einheit. . Der Fürst verfügt nunmehr über „Mittel und Volk , und damit ist das Heer in seiner neuen Form gewährleistet; damit ist es zu dem geworden, was es zu sein bestimmt war: zum Schwert in der Hand des Fürsten, dem es wiederum erst zu seiner Eigenart verhilft: da in der politischen Welt „ein Herr in keiner Con- sideration ist, wann er selber nicht Mittel und Volk hat , wie es der Große Kurfürst in seinem politischen Testamente von

16C7 ausdrückt.

Hat man die innige Zusammengehörigkeit der drei Momente : Mittelbeschaffung, Kontinuität und staatliche Verwaltung und ihre grundlegende Bedeutung für die Herausbildung des modernen Heeres erkannt, so ist man allerdings geneigt, den Reformen Karls VII. von Frankreich epochemachenden Charakter zu¬ zusprechen h

Was sich in Frankreich schon um die Mitte des 15. Jahr¬ hunderts abspielte, wiederholte sich in anderen europäischen Staaten erst zwei Jahrhunderte später. In England fallt die Konsolidierung der Armee doch erst in die Zeit des Common¬ wealth 1 2.

Für Deutschland, das heißt für die deutschen Landesfursten, ist, möchte mir scheinen, der Artikel 180 des Reichstags-

1 Über diese unterrichtet am klarsten und kürzesten Ranke, Franzos. Geschichte la (1877), 55 ff. Vgl. Krieg u. Kap*, 25 f.

2 Quellen bei J. W. Fortes cue, Hist, of the British Army 1

(1889), 204 sag.

344

Zweiter Abschnitt: Der Staat

abschieds vom 17. Mai 1654 von entscheidender Wichtigkeit

o

geworden x.

Im Anfang des 18. Jahrhunderts steht das moderne Heer in seiner staatsrechtlich-verwaltungstechnischen Gestalt fertig da. In Preußen, dem nunmehr führenden Lande, bezeichnet die Kabinettsorder vom 15. Mai 1713 den Abschluß der Neubildung1 2.

o

Aber wenn wir uns „das moderne Heer“ in seiner ganzen Eigenart vor Augen stellen, so erscheinen in dem Bilde doch deutlich noch andere Züge als sein verfassungs- und verwaltungs- hafter Charakter: das moderne Heer ist auch militärtechnisch eigenartig bestimmt. Und zwar stellt es sich uns dar als das, was man ein Kollektivheer oder ein Massenheer oder auch ein Truppenheer nennen könnte und unterscheidet sich dadurch ebenfalls scharf von allen mittelalterlichen Heeren.

Die Besonderheit eines solchen Massenheeres liegt darin, daß es vor allem durch seine Größe, durch die zu einer taktischen Einheit zusammengefaßten, von einem gemeinsamen Geist be¬ seelten vielköpfigen Kriegerhaufen wirkt. Die Gemeinsamkeit des Geistes wird durch das Kommando hergestellt, das von den Führern ausgeht. Die Funktionen der (geistigen) Leitung und der (körperlichen) Aktion sind also getrennt und -werden von verschiedenen Personen ausgeübt, während sie früher in einer und derselben Person zusammengefügt waren. Es hat sich jener Differenzierungsprozeß vollzogen, der für die gesamte moderne Kulturentwicklung so außerordentlich charakteristisch ist.

Vor allem drängt sich die Analogie der Entwicklung in der Organisation des Wirtschaftslebens auf: vom Handwerk zum Kapitalismus.

Diese Differenzierung der leitenden und aus¬ führenden Funktionen zieht dann eine ganze Menge von Erscheinungen nach sich, die das moderne Heerwesen kenn¬ zeichnen : vor allem das Exerzieren und die Disziplin, durch die auf mechanischem Wege die Verbindung zwischen leitenden und ausführenden Organen hergestellt werden muß. Im „Gleichtritt“, den die Griechen und Römer geübt hatten, den die Schweizer und

1 J a n y , Die Anfänge der alten Armeen. Urk. Beiträge und Forschungen z. Gesch. des preuß. Heeres, hrsg. vom Großen General¬ stab, Heft 1 (1901), 118 f.

2 Zum ersten Male verwertet bei M. Jähns, Gesch. der Kriegs- Wiss. (1889 4891) 2, 1554. Vgl. G. Schmoller, Die Entstehung des preuß. Heeres in seinen „Umrissen“, 267.

Zweiundzwanzigstes Kapitel: Das Heereswesen 345

Schweden wieder übten, den Leopold von Dessau in der preußischen Armee zur Regel machte, begrüßt das moderne Heer gleichsam sein Symbol.

Sicherlich hätte das moderne Fürstentum diese Form der Heeresbildung aus sich selber heraus erzeugt, auch ohne Vor¬ bilder, just wie der moderne Kapitalismus mit zwingender Not¬ wendigkeit die großbetrieblichen Formen der Arbeitsorganisation aus sich und seinem innersten "Wesen heraus entwickeln mußte, weil diese äußeren Erscheinungsformen in ihnen selbst ein¬ geschlossen lagen.

Das moderne Fürstentum mußte das differenzierte Massenheer aus sich heraus erzeugen, weil dieses allein dem ihm innewohnenden Drang nach Ausdehnung, nach Machtentfaltung gerecht wurde. Die Waffentechnik mag dabei mitgesprochen haben. Aber eine primär wirkende Ursache ist sie bei der Herausbildung der modernen Heeresorganisation nicht gewesen (ebensowenig der Vergleich drängt sich unwillkürlich immer wieder auf wie bei der Herausbildung der großbetrieblichen Formen im Rahmen des kapitalistischen Wirtschaftssystems). Die taktische Einheit des G-e vierthaufens , in dem das moderne Massenheer zuerst in die Erscheinung tritt, hat zur waffentechnischen Grundlage die Pike und hat erst stark umgeändert werden müssen, um das Schießen mit Feuerwaffen zu ermöglichen. Dann hat später natür¬ lich die Feuerwaffentechnik mit ihrer monoton-mechanischen Wirkung die Organisation des Massenheeres gefestigt, hat dieser gleichsam den automatischen Zug eingeprägt und hat die ehedem rein aus freiem Entschlüsse gebildete Formation zur Notwendig¬ keit gemacht (wie die Dampftechnik die Manufaktur zur Fabrik übergeführt hat).

Ursprünglich aber ist die Form des Massenheeres frei vom modernen Fürsten geschaffen worden, um seinem innersten Wesen Ausdruck zu verleihen: nur in ihm lag die Möglichkeit einer raschen und unausgesetzten Ausweitung eingeschlossen. In der Differenzierung zwischen leitender und ausführender Arbeit, in der dadurch bedingten mechanischen Übertragung der Fertig¬ keiten lag die Gewähr, in kurzer Zeit eine beliebige Masse un¬ geschulter Menschen zu tüchtigen Kriegern heranzubilden. In dem Maße natürlich, wie der taktische Erfolg immer mehr auf der Massenwirkung aufgebaut wurde, was in steigendem Umfange der Fall war mit dem Eindringen der Feuerwaffen, wuchs der Zwang zur Vergrößerung der Heere, von deren Umfang (bei

346

Zweiter Abschnitt: Der Staat

sonst gleichen Umständen der Ausbildung, Ausrüstung usw.) die Größe der Macht des Staates nunmehr abhing.

b ) Die Flotte

Gewiß weist die Organisation des Seekriegs viel gemeinsame Züge mit der des Landkriegs auf. Vor allem begegnen wir bei der Marine vielfach den gleichen Formen der Heeresaufbringung wie beim Landheer: es gibt ebenso das Aufgebot wie das Söldner- tnm wie das Condottieriwesen zu Wasser wie zu Lande.

Aber was das Seekriegswesen vom Landkrieg unterscheidet, ist doch vielleicht noch mehr und bedeutsamer. Vor allem: es hat nie einen Ritter zur See gegeben. Jene aus dem Mutter¬ boden der eigenen Scholle erwachsenen Einzelkrieger, die das Heerwesen des Mittelalters so charakteristisch gestalten, fehlten aus rein äußerlichen Gründen im Seekriege. Die Taktik mußte hier grundsätzlich von Anfang an auf Massenwirkung ausgehen. Wenn auch beim Entern des feindlichen Schiffes der Einzeikampf gepflegt wurde: die kriegerischen Erfolge hingen doch im wesent¬ lichen ab von der guten Manövrierung des Schiffes, die immer das Werk von vielen ist, unter denen einer befiehlt, während die anderen seine AVeisungen ausführen. AVelch ein Unterschied (genau in denselben Jahrhunderten) zwischen einer Ritters chlacht und dem Kampf etwa venetianischer und Genueser Galeeren, wo Hunderte von Sklaven auf den Ruderbänken sitzen!

Die zweite Eigenart des Seekrieges liegt in der Tatsache be¬ gründet, daß die Kriegführung immer an einen außerordentlich starken Aufwand sachlicher Natur gebunden ist, der die persön¬ liche Leistung oft weit an Bedeutung übertrifft. Zu der voll¬ ständigen Ausrüstung des Kriegers tritt noch das Schiff, das herzustellen und zu bewegen unverhältnismäßig viel größere Mittel erfordert als die Bereitstellung von AVaffen für den Einzel¬ krieger und selbst als die Herbeischaffung eines Streitrosses.

Und was das Sonderbare ist : diese allerwichtigsten Zubehöre bei der Kriegsführung hält der gewöhnliche Kaufmann jederzeit bereit in Gestalt seiner Handelsschiffe.

Aus dieser seltsamen Tatsächlichkeit hat sich frühzeitig ein dem Seekriegswesen eigentümliches System der Heeresorganisation herausentwickelt: die Nutzbarmachung der Handelsflotte für Kriegszwecke. Dieses System finden wir bei allen seefahrenden Nationen Europas während des ganzen Mittelalters in Anwendung b

1 Siehe Krieg und Kap., S. 35.

Zweiundzwauzigstes Kapitel: Das Heereswesen

347

Auf der anderen Seite liat die überwiegende Bedeutung des Sachaufwandes beim Seekriege früher zu so etwas geführt, was man eine stehende Flotte nennen könnte. Hat ein Fürst einmal die Mittel, sich Schiffe zu bauen, so bleiben ihm diese auf längere Zeit zur Verfügung; sie heischen nicht wie der Krieger unausgesetzt neue Aufwendungen. Natürlich bedarf es nun erst noch der Matrosen und der Seesoldaten, um Krieg zu führen. Aber in den Schiffen besitzt der Fürst doch einen wesent¬ lichen Teil der Heeresmacht, die also „stehend“ ist, solange die Schiffe brauchbar sind. Es scheint fast, als ob Könige und Städte schon frühzeitig einen Bestand an eigenen Schiffen ge¬ habt haben1.

Auch die Verstaatlichung der Kriegsmarine reicht viel weiter zurück als die Verstaatlichung der Landheere. Es scheint liier die strafrichterliche Gewalt des Königs die Brücke gebildet zu haben zwischen den selbständigen Schiffsmannschaften und der Oberhoheit des Königs2.

2. Die Ausweitung des Heereskörpers

Ich sagte, daß die dem modernen Heere innewohnende Ver¬ größerungstendenz seine für uns in diesem Zusammenhänge wichtigste Eigenart darstelle, weil sie, wie sich aus der späteren Darstellung ergeben wird, wichtigste ökonomische Wirkungen nach sich zieht.

Um eine deutlichere Vorstellung von diesem Phänomen der Expansion der modernen Heere zu geben, will ich die Ziffern der Heeresstärken für die Hauptstaaten hier mitteilen.

a) Die Lanclheere

Eines der wichtigsten Ergebnisse, zu dem Hans Delbrück im dritten Band seiner Geschichte der Kriegskunst gelangt3, ist der Nachweis, daß das Mittelalter durchgehend kleinere Heere gehabt hat, als man bisher annahm. Damit ist für die Kriegführung dasselbe nachgewiesen , was ich für den Handel gezeigt habe, was viele andere schon früher für die allgemeinen

1 Krieg und Kap., S. 35.

3 So in England: Laird Clowes, The Royal Navy, 1897 f-, und

Frankreich: Krieg und Kap., S. 36 f.

8H Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der

politischen Geschichte. Dritter Band: Das Mittelalter. 1906.

348

Zweiter Abschnitt: Der Staat

Bevölkerungsverhältnisse , namentlich die Einwohnerzahl der Städte, dargetan hatten : die äußere Kleinheit der mittelalterlichen Welt (die ihre innere Größe um so imposanter erscheinen läßt). In der Schlacht vor Hastings hatte man früher Hunderttausende, ja Millionen (eine Schätzung kommt bis auf 1 200000) miteinander streiten lassen; sehr wahrscheinlich zählte in Wirklichkeit das normannische Heer weniger als 7000 Krieger, sicher nicht viel mehr; das Heer Haralds war noch schwächer: 4000 7000.

Selbst die Kreuzzugsheere, die wohl die größten des Mittel¬ alters waren, sind verhältnismäßig klein: die höchste Zahl der Reiter, die in einer Schlacht in Palästina gekämpft haben, dürfen wir auf 1200, die der Fußgänger auf 9000 ansetzen.

Die größte Armee, die das Mittelalter wohl gesehen hat, war die, die Eduard in. 1347 bei Calais zusammenzog; sie be¬ stand aus 32 000 Mann: eine wie Delbrück seiner Berechnung hinzufügt1, „für das Mittelalter unerhörte Kriegsmacht“. Und wir müssen bei all diesen Ziffern immer noch bedenken, daß diese großen Heere immer auf ganz kurze Zeit beieinander ge¬ halten werden konnten.

Demgegenüber erscheinen uns die modernen Heere’ schon am Ende des 18. Jahrhunderts, bis zu dem wir ihre Entwicklung liier verfolgen, ins Riesenhafte gewachsen.

Die Stärke der stehenden Heere sämtlicher europäischer Staaten in der zweiten Hälfte des 18. Jahr¬ hunderts gibt der kundige Mitarbeiter bei Krünitz (Bd. 50, S. 746), dessen die Bände 50 bis 53 füllenden Artikel über das Kriegswesen sich durch große Sachkenntnis auszeichnen, auf Grund offenbar bester Quellen einzeln an, bis auf Mecklenburg- Strelitz, dessen Kriegsmacht 50 Mann groß war, herab. Danach betrug die Zahl der Truppen in den vier großen Militärstaaten:

Österreich im Frieden .... 297 000 Mann, im Kriege .... 363000

Rußland, reguläre Truppen . . 224 500

Preußen . 190 000

Frankreich . 182 000

1 H. Delbrück, a. a. O. S. 476; die übrigen Zahlen ebenda S. 153. 229. 344. 363. 404. Vgl., auch für die folgende Darstellung, Krieg und Kap., S. 37 ff.

Zweiundzwanzigates Kapitel : Das Heereswesen

349

h) Die Flotten ß) Die italienischen St aaten

Im 13. Jahrhundert war die größte Seemacht Europas die Republik Genua. Ihre Kriegsflotte war um diese Zeit selbst für heutige Begriffe nicht klein, für mittelalterliche Verhältnisse geradezu unwahrscheinlich groß. Die Ziffern sind aber kaum zu beanstanden; sie erwecken durch ihre Ungeradheit Vertrauen. Die Quelle sind die Annales Januenses. Auch der gewissenhafte Heyok1 * nimmt an, daß sie der Wirklichkeit entsprechen.

Schon um die Mitte des 12. Jahrhunderts (1147 1148) werden G3 Galeeren und 163 andere Fahrzeuge gegen die spanischen Sarazenen ausgesandt. 1242 fochten 83 Galeeren, 13 Tariden und 4 große Lastschiffe gegen die sizilianisch-pisanische Flotte. 1263 kreuzen 60 genuesische Kriegsgaleeren in den griechischen Gewässern. 1283 sollen gar, die kleineren Geschwader ein¬ gerechnet, 199 Galeeren in Dienst gestellt sein. Bedenken wir, daß eine Galeere 140 Ruderer hatte, daß also auf 199 Galeeren 27 860 Ruderer (olme die Krieger !) gewesen wären. Da werden wir annehmen müssen, daß die 199 Galeeren nacheinander bemannt und ausgesandt wurden. Wir sind aber auch über die Größe des Mannschaftsaufgebots unterrichtet: 1285 stellte die Republik 12085 Mann aus ihrem Bezirk an der Riviera in Dienst; davon waren 9191 Ruderer, 2615 Seesoldaten und 279 Schiffer (nauclerii). Sie verteilen sich auf 65 Galeeren und 1 Galion.

ß) Spanien

Die „Felicisima Armada“, die 1588 von England besiegt wurde, bestand, als sie aus Lissabon aussegelte (ins Gefecht kamen dann 2 Schiffe weniger), aus 130 Segeln und 65 Galeeren. Diese Schiffe hatten einen Ladegehalt von 57 868 t und eine Besatzung von 30656 Mann „ohne Freiwillige, Priester und andere Zivil¬ personen“ 3.

y) Frankreich

Frankreichs Kriegsflotte wird zu ihrer imponierenden Größe vornehmlich durch Colbert hinaufgehoben.

Bei seinem Tode (1683) war die Gesamtzahl der bereits fertigen

1 Ed. Heyck, Genua und seine Marine. 1886; ein vorzügliches

Werk. . . .

3 C. F. Duro, La Armada Invincible, 1884, doe. 110; zitiert bei

Laird Clowes, 1, 560.

B50

Zweiter Abschnitt: Der Staat

Kriegsschiffe auf 176 gestiegen1, zu denen noch 68 im Bau be¬ findliche kamen, so daß sich ein Gesamtbestand von 244 ergab. Davon waren:

ersten Banges . 12

zweiten 20

dritten 39

vierten bis sechsten Banges .... 71 Hilfsschiffe . 44

ö ) Niederlande

Auch die holländische Kriegsflotte entwickelt sich innerhalb weniger Jahrzehnte während des großen 17. Jahrhunderts aus kleinen Anfängen zur damals vielleicht ersten und stärksten Flotte Europas.

Noch in den Jahren 1615 1616 2 besteht die niederländische Seemacht aus nur 43 meist winzigen Schiffen, von denen 4 je 90, 11 zwischen 50 und 80, 9 je 52 Mann Besatzung hatten, während 19 noch kleiner waren. Das ergibt 2000 bis höchstens 3000 Mann Besatzung. Im Jahre 1666 stellten die Vereinigten Niederlande den Engländern eine Flotte von 85 Schiffen mit einer Besatzung von 21 909 Offizieren und Mannschaften gegenüber.

f) Schweden

Schweden war im 16. und 17. Jahrhundert eine bedeutende Seemacht. Seine Kriegsflotte nimmt ihren Anfang unter Gustav Wasa im Jahre 1522. Im Jahre 1566 weist die Schiffsliste schon einen Bestand von 70 Schiffen auf. Einen neuen Aufschwung erlebt sie dann zu Beginn des 17. Jahrhunderts: 1625 werden 21 neue Schiffe gebaut, 30 Galeeren dienstbereit gemacht3.

t) England

Das rasche Aufsteigen dieser größten europäischen Seemacht hat seinesgleichen nur in der plötzlichen Entfaltung des preußi-

1 Nach den amtlichen Listen : E. Sue, Histoire de la marine francaise. 4 Vol. 1837. 4, 170.

2 J. C. de Jonge, Geschiedenes van het Nederlandsche Zee- Avezen. 10 Bde. 1858 Vol. I, Bijlage XII.

8 App. A. in Publ. of the Navy Records Society Vol. XV, 1899. Für Rußland unter Peter d. Gr. vgl. : History of the Russian Fleet during the Reign of Peter the Great. By a Contemporary Englishman (1724). Edit. by Vice-Adm. Cyprian A. G. Bridge in den genannten Publications.

Zweiundzwanzigstes Kapitel: Das Heeresweeen

851

sehen Heerwesens. Die Entwicklung1 setzt etwa zur Zeit Heinrichs VIXI. ein.

Gegen Ende unserer Epoche ist der Bestand der englischen Marine folgender (am 31. Mai 1786 nach den Admiralitätsregistern) :

292 Kriegsschiffe, davon 114 Linienschiffe,

13 5ö-Kanonenschiffe (den Linienschiffen ähnlich),

113 Fregatten,

52 Kriegsschaluppen.

Die Linienschiffe haben zwischen 500 und 850 Mann Be¬ satzung. In beständigem Solde stehen 18000 Seeleute, nämlich 14140 Matrosen und 3860 Seesoldaten.

Ihr Gesamttonnengehalt hatte schon 1749 228 215 t betragen.

Der Kriegsflottenbestand in den europäischen Staaten am Ende des 18. Jahrhunderts (nach Krünitz: siehe die Be¬ merkung auf S. 348) war folgende :

Gr o ßbr itanni en

Frankreich .

Vereinigte Niederlande . Dänemark und Norwegen Sardinien . .

Venedig . .

Beide Sizilien Schweden . .

Portugal . .

Kirchenstaat Toscana . .

. 278 Kriegsschiffe

(davon 114 Linienschiffe)

. 221 Kriegsschiffe 95

60 armierte Fahrzeuge 32 Kriegsschiffe 30

25

25 Linienschiffe 24 Kriegsschiffe

20 .

„einige Fragatten“.

II. Die Grundsätze der Heeresausrüstung

Die Or gani s atio n der Heeresausrüstung2 bildet einen Teil der Heeresverwaltung. Sie stellt sich zur Aufgabe, das Heer mit allen für seine Existenz und sein richtiges Funktionieren notwendigen Sachgütern zu versorgen. Diese Sachgüter sind ; 1. die Waffen;. 2. die Beförderungsmittel, also namentlich Pferde und Wagen; 3. die Unterhaltsmittel, also die Nahrung, die •Kleidung und die Wohnung. Je nachdem es sich um die Be-

1 Ausführlich dargestellt in Krieg und Kap., S. 46 ff.

2 Siehe die ausführliche Darstellung in Krieg und Kap., S. 66 ff.

352

Zweiter Abschnitt: Der Staat

Schaffung dieser oder jener Kategorie von Sachgütern handelt, erwächst das Problem der Bewaffnung,

Berittenmaclfung (Beförderung),

Beköstigung,

Bekleidung, *

Behausung

des Heeres.

Die wichtigsten Zweige der Heeresausrüstung haben folgende Entwicklung genommen :

1. Die Bewaffnung

Der Krieger des Mittelalters, mochte er Ritter oder Land¬ stürmer oder Söldner sein, brachte der Regel nach seine Waffe und Wehr selbst mit.

Das mußte sich ändern, und zwar zunächst aus -rein pro¬ duktionstechnischen, äußeren Gründen, als man aus Kanonen mit Pulver zxx schießen gelernt hatte. Diese Waffen konnte der Einzelkrieger beim besten Willen nicht selbst mitbringen. Wir sehen deshalb frühzeitig Städte und Staaten sich um die Beschaffung der groben Geschütze kümmern. Den äußeren Aus¬ druck findet diese Fürsorge in der Anlage von Zeughäusern oder Arsenalen, in denen die Kanonen, die man jeweils einer Truppe zur Verfügung stellte, aufbewahrt wurden. Anfangs sind es städtische, später staatliche Arsenale. So hat im 15. Jahrhundert die Stadt Paris ein prächtig ausgestattetes Zeughaus 1 2 ; ebenso die Städte Mons, Brügge3.

Im 16. Jahrhundert bemühten sich die Fürsten, zahlreiche Arsenale zu errichten. Allen voran waren die beiden großen Militärmächte der Zukunft, Frankreich und Brandenburg-Preußen.

Welche Ausdehnung die Zeughäuser bis zum Ende des 17. Jahrhunderts in allen europäischen Staaten gewonnen hatten, lehrt uns ein Blick in „Das neueröffnete Arsenal“ 3, das uns im vierten Abschnitt ein Verzeichnis gibt „von den Stellen, wo Ge¬ schütz und Ammunition verfertigt, aufbehalten und gebraucht wird“.

1 E. Bo utaric; Institutions militaires de la France (1863), 360 seg.

2 M. Guillaume, Hist, de 1’ Organisation mil. sous les ducs de Bourgogne (1847), 78, 102/3.

3 „Das neueröffnete Arsenal“ bildet einen Teil des „Neueröffneten Rittersaales“. 1704.

Zweiiindzwanzigstes Kapitel: l)^s Hecrcswcsoii

353

Nun ist aber hier anzumerken , daß in den Arsenalen und Zeughäusern keineswegs nur das „grobe Geschütz“ aufbewahrt wurde , daß in ihnen vielmehr auch Schutz- und Trutzwaffen anderer Axt lagen. Damit ist die Tatsache erwiesen, daß das gesamte Bewaffmmgswesen in der Zeit vom 15. bis 17. Jahr¬ hundert von einer Tendenz zur Verstaatlichung ergriffen wird, da natürlich die in den Zeughäusern stapelnden "Waffen dazu dienten, den Kriegern unentgeltlich oder gegen Entgelt, das bleibt sich gleich, geliefert zu werden.

Die nachweislich erste Versorgung der Krieger mit Waffen durch den Staat fand bei dem nach der alten Heeresfolge übrig¬ gebliebenen Aufgebote der Bevölkerung statt, wenn ein Krieg ausgebrochen war K

Dann dehnt sich das System der staatlichen Waffenlieferung allmählich auf alle Truppen aus. Im 17. Jahrhundert, in dem so vieles Neue zur Welt gebracht wird, vollzieht sich die Wand- lung. V ir können in jener Zeit noch deutlich die verschiedenen Übergangszustände beobachten, die sich aus der Umwandlung der privaten in eine staatliche Versorgung mit Waffen ergeben können :

1. Der Krieger bringt einen Teil der Waffen mit, die andern liefert ihm der Staat1 2.

Ein Abzug vom Sold wurde die übliche Form des Entgeltes.

2. 'Der Oberst beschafft die Waffen einheitlich und zieht den Knechten den Betrag monatsweise ab3.

3. Die Waffen werden entweder in natura geliefert, oder die Soldaten bekommen ein besonderes Waffeno-eld4.

o

Daneben kommt aber das ganze 17. Jahrhundert hindurch auch schon die vollständige Lieferung der Waffen durch den Staat vor5.

Aber die Neuordnung des Bewaffnungswesens wird uns doch erst dann in seiner ganzen charakteristischen Bedeutung ver¬ ständlich, wenn wir in Erfahrung bringen, daß im Zusammen-

1 M. Thierbach, Die geschichtl. Entwicklung der Handfeuer¬ waffen (1888 90), 21.

2 Beispiel bei G. Droysen, Beitr. z. Gesch. des Militärwesens in Deutschland während der Epoche des 30jährigen Krieges, in der Zeitschr. f. Kult. -Gesch. 4 (1875), 404 ff.

3 Beispiel bei Jany, Anfänge, 45.

4 Beispiel in der Geschichte der Bekleidung usw. der Kgl. preuß. Armee 2, 277.

5 Jany, 55. Gesch. der Bekleidung 2, 203.

Sombart, Der moderne Kapitalismus. I, 23

Zweiter Abschnitt: Der Staat

354

hange mit der Verstaatlichung sich gleichzeitig eine Vereinheit¬ lichung in der Gestaltung der "Waffen , eine Uniformierung also des gesamten Waffenwesens vollzog.

Bis ins 16. Jahrhundert hinein waren Waffen und Wehr jedes einzelnen Kriegers von denen des andern verschieden gewesen . beim Kitter natürlich, aber auch beim Fußvolk, selbst noch bei den neuen Gewalthaufen der Schweizer, die noch allerhand Kurz¬ wehren, Streitäxte, Morgensterne und vor allem Hellebarden führten, selbst noch als die Feuerwaffen aufkommen: „Kaliber, Form und Name sind in das Belieben derer gestellt , die sie kaufen oder machen lassen“ („Calibres, fa9ons et noms etant selon la volonte de ceulx qui les acheptent ou les iont faire ) heißt es in der Treille 1567 J.

Das erste Beispiel einer gleichförmigen Bewaffnung größerer Scharen bieten wohl die langen Spieße der Landsknechte im 16. Jahrhundert, deren Einheitlichkeit unmittelbar aus der Grund¬ idee des auf Massenwirkung hinzielenden modernen Truppen¬ körpers folgte. Entindividualisierung hier wie dort.

Dann aber bedeutet natürlich die Feuerwaffe einen neuen, gleichsam produktionstechnischen Anlaß zur Uniformierung. Ende des 16. Jahrhunderts bieten die Augsburger Büchsenmacher dem Herzog Wilhelm von Bayern 900 Handrohre an, „so alle auf eine Kugel gerichtet“8, was also noch ungewöhnlich war.

Nun hält der Begriff des Kalibers seinen Einzug in die Welt der Waffen1 2 3 4.

2. Die Beköstigung

Wir werden gut tun, Landheer und Marine gesondert zu be¬ trachten, da die Verpflegung ihrer Truppen doch zu viel innere Verschiedenheiten aufweist, um sie in einem zu betrachten.

Das ganze Mittelalter hindurch bis tief in die neuere Zeit hinein war es bei den Landtruppen die Kegel, daß jeder Krieger für seinen Unterhalt selbst sorgte oder daß die Nächst¬ stehenden ihn mit Unterhaltsmitteln in natura versahen, ganz

1 Fran<y 16 691; fol. 102 vo bei Ch. de la Ronciere, Hist, de la marine frani;. 2, 493.

2 Georg Liebe, Der Soldat in der deutschen Vergangenheit (1899), 21.

3 Jälms, Gesell, d. Kriegswiss. 1, 662.

4 Krieg und Kap., S. 84 f.

Zweiundzwanzigstes Kapitel: Das Heereswesen

355 *

gleich ob es Reiterheere oder Fußheere , ob Aufgebots- oder Söldnertruppen waren.

Es ist der Zustand, der noch zur Zeit Wallensteins herrscht h

Mit der fortschreitenden Verstaatlichung der Heere wird die Regelung des Verpflegungs Wesens nach und nach auch als eine Aufgabe des Staates anerkannt1 2.

überall, soviel ich sehe, beginnt die Staatsgewalt die Regelung des Verpflegungs wesens mit einer Art von indirekter Für¬ sorge: Die Beamten des Königs oder der andern Obrigkeit wachen darüber, daß die für den Unterhalt der Truppen not¬ wendigen Lebensmittel in hinreichender Menge , guter Qualität und zu zivilen Preisen dem einkaufenden Soldaten zur Verfügung stehen. Von einer solchen Fürsorge erfahren wir im 15. Jahr¬ hundert bei dem Schweizer Aufgebot, von dem schon die Rede war3. Wir hören davon noch früher in Frankreich4. Sie begegnet uns bei den Heeren des Dreißigjährigen Krieges5.

Aber frühzeitig wurde die Mitwirkung des Staates bei der Beköstigung der Truppen doch eine inhaltlich helfende. Der Fürst hatte von alters her eine Leibwache : für deren leiblichen Unterhalt mußte er selbst sorgen. Er mußte ferner die Festungen verproviantieren. Er mußte die Truppen mit Lebensmitteln ver¬ sehen, die er über See sandte. So sehen wir abermals schon im Mittelalter den König von Frankreich am Werke, durch die Bailles und Senechaux Lebensmittel aufkaufen zu lassen, die er für die eben genannten Zwecke verwandte6.

Daneben finden wir frühzeitig öffentliche Körperschaften vom Staate damit beauftragt, für den Unterhalt der Truppen zu sorgen :

1 Über die Verpflegung der Wallensteinschen Heere unterrichten (beide nicht sehr genau): J. Heilmann, Kriegswesen zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges (1850); V. Loewe, Die Organisation und Verwaltung der Wallensteinschen Heere (1895). Vgl. Fr. Foerster, Lebensbeschreibung Wallensteins, 1834 (mit wichtigem Material), und M. Ritter, Das Kontributionssystem W.s (Histor. Zeitschr. Bd. 90).

2 Über die Entwicklung der mit der Fürsorge für das Verpflegungs¬ wesen betrauten Organe der Staatsgewalt (Kriegskommissariat !) siehe Krieg und Kap. S. 118 ff. Vgl. außer der dort genannten Literatur noch 0. Hintze, Der Kommissarius und seine Bedeutung in der all¬ gemeinen Verwaltungsgeschichte. Aufsätze für K. Zeumer, S. 493 ff., und dazu Gr. v. Below, Landtagsakten von Jülich und Berg II, S. IXf.

3 H. Delbrück, Gesch. d. Kriegskunst 3, 608 f.

4 Boutaric, Inst, milit., S. 277 280.

5 G. Droysen, Beiträge, a. a. O. 623 ff.

6 Boutaric, 1. c. p. 277 seg.

8S*

856

Zweiter Abschnitt: Der Staat

die Ordonnanzkompagnien Karls VII. wurden von den Provinzen in natura verpflegt1.

Bei der zunehmenden Erstarkung des Staatsgedankens konnte es nicht ausbleiben, daß der Fürst auf die Idee verfiel, nachdem er sein Heer verstaatlicht hatte , nun auch das gesamte Ver¬ pflegungswesen zu verstaatlichen. Es scheint, als ob das System der Verpflegung der Truppen durch den Staat zu voller Entwicklung zuerst in Spanien während des 17. Jahr¬ hunderts gelangt sei. Von hier fand es Verbreitung auch in andern Staaten, wie in Brandenburg-Preußen. Hier sehen wir es bis zur Zeit des Großen Kurfürsten in der Form der „Speisung“, d. li. der Verpflegung durch den Quartierwirt, in Übung.

Dieses System der vollen Verpflegung durch den Staat hielt sich jedoch nicht lange. Die Schwierigkeiten der Durchführung, die damit für die bequartierten Gegenden verknüpften Unzu¬ träglichkeiten bestimmten schon den Großen Kurfürsten dazu, die Speisung der Armee wieder zu beseitigen, die Geldzahlung wieder an die Stelle zu setzen. Friedrich Wilhelm I. suchte noch mehr die fiskalische Naturalverwaltung zu beschränken : die Regimenter, Kompagnien und die einzelnen auf feste Geld¬ einnahmen zu setzen, mit denen sie auskommen mußten. So bildete sich im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts in den meisten Staaten eine Art von gemischtem System heraus, das ziem¬ lich einheitlich auf folgenden Grundsätzen beruhte: der Staat verpflegt den Soldaten ganz auf dem Marsche und im Felde ; in der Garnison überläßt er es im wesentlichen dem einzelnen, wie er sich für den Geldsold, den er empfängt, beköstigt. In den einzelnen Staaten wird dieser oder jener Bestandteil des Unter¬ halts dem Soldaten vom Staat oder vom Quartiergeber (in Gestalt des sogenannten Servis) in natura verabreicht.

Sobald der Staat irgendwelche Fürsorge für den Unterhalt des Soldaten übernahm, also namentlich sobald er ihm das Brot sei es immer, wie in Frankreich, sei es zuzeiten, wie in den meisten deutschen Staaten lieferte, mußte er für Bereithaltung von Vorräten, insonderheit also -wieder für Aufstapelung von Getreide sorgen.

Das geschah dadurch, daß er möglichst über das ganze Land verstreut Magazine anlegte: in Frankreich geschieht dies be¬ reits unter Heinrich IV., dann unter Ludwig XIII. in weitem

1 Boutaric, 311; nach dem Ms. im Brit. Mus. W 115 u. 2.

Zweiundzwanzigstes Kapitel: Das Heereswesen

357

Umfange1; in Preußen namentlich unter Friedrich Wilhelm I. (1726 waren 21 Kriegsmagazine errichtet)2; von andern deutschen Staaten waren Sachsen, Böhmen und Württemberg in gleicher Richtung schon seit dem 16. Jahrhundert vorangegangen3.

%

* *

Die Verhältnisse bei der Marine liegen insofern anders wie beim Landheer, als die Selbstverpflegung der Mannschaft bei irgendwie größeren Schifistypen und längeren Reisen kaum durch¬ führbar ist. Man vergegenwärtige sich , daß auf einem Kriegs¬ schiffe ein paar hundert oder tausend Menschen wochen- oder monatelang von allem Verkehr mit der Außenwelt abgeschlossen sind. Sie müssen also jedenfalls mit großen Vorräten an Lebensmitteln versehen sein. Die Beschaffung dieser Vorräte dem einzelnen zu überlassen, sie einzeln im Schiffe aufzustapeln, zu bewachen und sie dann auch einzeln verzehren zu lassen, ist außerordentlich lästig. Vorgekommen scheint auch diese Art der Selbstbeköstigungen auf Schiffen zu sein, wohl unter kleinen Verhältnissen 4.

Die großen seefahrenden Staaten, also namentlich Spanien, Holland, Frankreich und England, scheinen das System der Selbstbeköstigung ihrer Schiffsmannschaften niemals gekannt zu haben. Was verschieden gestaltet ist, ist nur die Form, in der die kollektive Beschaffung der Lebensmittel für die Schiffs¬ besatzung erfolgt. Hier sind, soviel ich sehe, im Laufe der Jahr¬ hunderte zwei Systeme angewandt worden: eins, das man das französische nennen kann, bei dem den Schiffskapitänen die Ver¬ proviantierung ihrer Schiffe überlassen ist, und ein englisches, bei dem der Staat für die Verpflegung der Schiffsmannschaften Sorge trägt5.

3. Die Bekleidung

«) Die Beldeidungssysteme

Den Anfang macht auch hier die Eigenfürsorge jedes Kriegers für seine Bekleidung. Der Landsknecht brachte seine Anzüge

1 Boutaric, 384.

2 Acta Borussica, Getreidehandelpolitik 2, 272.

3 Acta Bor., d. c. 2, 87 ff.

4 Z. B. in Genua im 13. Jahrh. : Ed. Heyck, Genua und seine Marine 158. 160. 169.

5 Für Frankreich: Principes de Mr Colbert sur la marine, ab¬ gedruckt bei Sue, 1. c. 1, 317. Für England: Close Rolls 48, 71, 'und 15 John 158, bei Laird Clowes 1, 119,

358

Zweiter Abschnitt: Der Staat

mit, so wie er sie für gut hielt. Aber auch die Krieger in den Ordonnanzkompagnien Karls des Kühnen (1471), also schon einer Art von „stehendem Heer“, haben noch selbst für ihre Bekleidung (ebenso wie für ihre Bewaffnung) zu sorgen x. Denselben Zustand treffen wir auf der englischen Flotte zur Zeit der Elisabeth an

Wenn eine höhere Instanz sich um das Bekleidungswesen zu bekümmern anfängt, so geschieht es manchmal, ähnlich wie wir es bei der Beköstigung schon kennen gelernt haben, in der I orm einer indirekten Fürsorge : man überläßt es zwar dem einzelnen Krieger noch, sich nach eigenem Gfutdünken und auf seine Kosten zu equipieren, achtet aber darauf, daß er gute und preiswerte Ware beim Einkauf vorfindet.

So verfuhr die englische Regierung auf ihrer Flotte im 17. Jahrhundert1 2 3.

Aber in dem Maße, wie die einzelnen Truppenkörper sich in sich selbst festigten und zu einem einheitlichen Heere zusammen - geschweißt wurden, trat doch die kollektive Bedarfsdeckung an die Stelle der Einzelversorgung.

Das militärische Unternehmertum, das namentlich im 16. und 17. Jahrhundert das Heerwesen beherrschte, brachte es von selbst mit sich, daß diejenige Instanz, der die Bekleidung eines Truppen¬ körpers zufiel, wenn schon die Individualversorgung aufhören sollte, der Oberst des Regiments oder der Kompagniechef wurden.

Dieses System der regiments- oder kompagnieweisen Be¬ schaffung der Kleidung hat wohl in allen Militärstaaten von Beginn der modernen Heere an bis ins 18. Jahrhundert hinein geherrscht 4.

Frühzeitig griff aber dann auch der Staat in das Be¬ kleidungswesen ein, indem er sicli an der Ausrüstung des Heeres selbst beteiligte. Zunächst neben den andern Instanzen, sei

1 M. Guillaume, Hist, de l’organ. militaire sous les ducs de Bourgogne (1874), 140.

2 M. Oppenheim, Hist, of the administration of the Royal Navy (1896), 138. 139.

8 W. Laird Clowes, 1. c. 2, 20. St. P. D. 11. Dez. 1655; St. P. D. CXXXIY, 64; St. P. D. Sept. 1656; bei Oppenheim 329.

4 Für England: Handschr. Quellen bei P. Gr ose, Military Anti- quities resp. a History of the English Army 1 (1812), 310 seg. ; Fortescue, Hist, of the British Army 1, 283 seg. Für Frankreich: L. Mention, L’armee de Fanden regime (1900), 255. Für Branden¬ burg-Preußen: Geschichte der Bekleidung usw. der Kgl. preuß. Armee, 2. Teil. Dm Kütassier- u. Dragonerregimenter (bearb. von C. Kling), 1906, S. 3/4,

Zweiundzwanzigstes Kapitel: Das Heereswesen

359

es daß er einen Teil der Truppen völlig einkleidete, sei es daß er einen Teil der Bekleidung aller Truppen auf sieb, übernahm.

In diesem Falle stellte er entweder den Obersten und H’aupt- leuten das Rohmaterial für die Kleidung, also namentlich das Tuch für die Anzüge, gegen entsprechendes Entgelt zur Ver¬ fügung. Das geschah z. B. in Brandenburg-Preußen ’.

Oder der Fürst lieferte einen Teil der Kleidung, die Offiziere den andern1 2.

Der andere Weg, den der Fürst einschlug, um an der Bekleidung seiner Truppen teilzunehmen, führte ihn zur völligen Versorgung eines Teiles des Heeres, so daß in diesem Falle sich die Armee in staatlich und sonst woher bekleidete Regimenter schied.

Von Anfang an hatte der Fürst wohl für die Equipierung seiner Leibgarde gesorgt. Und auf deren reichliche und kostbare Ausstattung blieb dann auch später, als sie sich beträchtlich erweiterte und in Frankreich z. B. sich zu den „Truppen des königlichen Hauses“ auswuchs, das Hauptbestreben gerichtet. Daneben gab der Fürst andern Truppen Monturen, je nach deren Bedarf imd je nach seinem Können3.

Im 18. Jahrhundert vollendet sich dann in allen Militärländern die Verstaatlichung des Bekleidungswesens.

Vorbildlich für die Organisation des Militärbekleidungswesens wurden die 1768 errichteten österreichischen Monturs¬ kommissionen, die den Zweck hatten, „sämtliche Truppenteile der Armee sowohl in Friedens- als Kriegszeiten mit den erforder¬ lichen Monturs-, Armaturs-, Lederwerks- und Pferdeausrüstungs¬ gegenständen und Feldrequisiten aller Art zu versehen“ , und die auch gleichzeitig für die Beschaffung der Spitalgerätschaften und Bettfurnituren zu sorgen hatten4.

b) Die Uniform

Engstens mit den Wandlungen der Bekleidungssysteme im Zusammenhang stehen die für die ökonomischen Piobleme be-

1 Jany, Anfänge, 33. Frh. v. Richthofen, Der Haushalt der ' Kriegsheere, in der Handbibliothek für Offiziere 5 (1839), 628 ff.

2 Siehe z. B. den Vertrag über die Bekleidung des Regiments Anhalt zu Fuß vom 23. Jan. 1681, in der Geschichte der Bekleidung

usw. 2) 2 1. 2 _ . .. ... / ~. tt -i

3 Beispiele für England: F. Grose, Military Antiquities (2 Vol.

1812) 1, 310 ff. Hub. Hall, Society in the Elizabeth Age (4. ed. 1901) p 127; für Frankreich: L. Mention, 1. c. 255 seg.

4 Frb. v. Richthofen, Der Haushalt der Kriegsheere a. a. 0.

3G0

Zweiter Abschnitt: Der Staat

sonders wichtigen Veränderungen, die die Form der Bekleidung erfahrt.

Wenn jeder Krieger ganz nach Gutdünken und Vermögen für seine Kleidung selbst zu sorgen hat, so kommt bei einer ganzen Truppe, ähnlich wie wir es bei der Bewaffnung sahen, eine große Buntscheckigkeit heraus. Jedem steht das Bild eines Haufens Landsknechte vor Augen, in dem jeder einzelne seinem absonder¬ lichen Geschmacke in der Kleidung Ausdruck verleiht1.

Die moderne Uniform2 ist ein durch und durch rationales Gebilde : sie ist geboren aus einer Reihe ganz intensiver und ganz subtiler Zweckmäßigkeitserwägungen heraus. Zweckmäßigkeits¬ erwägungen zunächst militaristischer Natur.

Da war der rein äußerliche Grund : daß man an einer Uniform eine Truppe leichter erkennen und leichter von der andern unter¬ scheiden konnte. Aber zu diesem äußerlichen gesellten sich schwerwiegende innerliche Gründe, die eine Uniformierung der Heere nahelegten: die Uniform verleiht den Trägem, sagte man sich, ein Gefühl der Solidarität, das sie ohne die gleiche Tracht nicht besitzen.

Verwandt, aber nicht identisch mit dieser Erwägung war die andere, die später die großen Truppenorganisatoren anstellten: wenn sie meinten, zur guten Disziplinierung eines Heeres gehöre die Uniform. Hier war es gleichsam eine heteronome Unter¬ werfung des einzelnen unter die Zwecke des Ganzen, die man von der Uniformierung erwartete. Ohne Uniform keine Disziplin: diesen Gedanken spricht Friedrich der Große einmal aus, als er den Zustand der Armee des Großen Kurfürsten beschreibt3.

Zu diesen, wie ich sie nannte, militaristischen Zweckmäßig¬ keitserwägungen gesellen sich nun aber als Helfer die starken Gründe der ökonomischen Ratio, die eben gleichfalls auf

1 Die Mannigfaltigkeit der Kleidung reicht noch bis in das 17. Jahr¬ hundert hinein. Über die Buntscheckigkeit der schwedischen Truppen im 30jährigen Kriege siehe z. B. J. Heilmann, Das Kriegwesen der Kaiserlichen usw. (1850), 18; der Armee des Großen Kurfürsten : Geschichte der Bekleidung usw. 2, 213. Weshalb die Heere noch im 17. Jahrhundert Erkennungszeichen irgendwelcher Art trugen: Ge¬ schichte der Bekleidung 2, 4" vgl. Anlage 41 43.

2 Über ihre Entstehung siehe Krieg und Kap. S. 156 ff.

3 Mem. pour servir ä l’histoire de la Maison de Brandenburg 1767 par Frederic II, abgedr. in der Geschichte der Bekleidung 2, 201.

Zweiundzwanzigstes Kapitel: Das Heeres wesen

361

die Uniformierung hindrängen : die Gleichförmigkeit schafft die Möglichkeit des Massenbezuges und der Massenherstellung, und diese gewähren zahlreiche Vorteile, deren wichtigster der niedrigere Preis ist.

Die Uniform dehnt sich in gleichem Maße und in gleichem Schritt aus wie die Verstaatlichung des Bekleidungswesens.

In dem Maße nun, wie der Fürst die Truppen überhaupt mit Kleidung versah, uniformierte er sie auch. So daß wir während des 16., 17. und 18. Jahrhunderts das Fortschreiten des staat¬ lichen Bekleidungssystems an dem Fortschreiten der Unifor¬ mierung verfolgen können: bis zum völligen Siege der beiden Prinzipien h

1 Über den allmählichen Sieg der Uniformen in den verschiedenen Heeren unterrichten : Xav. Andouin, Hist, de l’admin. de la guerre 1 (1811), 52seg.; de Chennevieres, Details militaires 2 (1750), 116 ff. ; Boutaric, Inst, mil., 359. 425; Fortescue, op. cit. 3, 213; Laird Clowes, op. cit. 3, 20; König, Alte und neue Denk¬ würdigkeiten der Kgl. preußischen Armee (1787), 24, zit. in der Gesch. der Bekleidung 2, 211; Jany, Anfänge, 45 f. ; Gesch. der Bekleidung 2, 3; A. v. Crousaz, Die Organisation des brandenburgischen und preußischen Heeres 1640 1665 1 (1865), 11 ff. Vgl. Krieg und Kap. S. 161 ff.

i

362

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Der Merkantilismus als Ganzes

Quellen und Literatur

Als Quellen für das Studium des Merkantilismus kommen natürlich fast ausschließlich die Gesetze, Verordnungen usw. mit ihren Begründungen in Betracht. Sie finden sich für alle Länder in leicht zugänglichen Sammelwerken zusammengestellt.

Eine vollständige Übersicht aller englischen Quellenwerke findet man bei Cunningham, Growth, im Anhang.

Für Frankreich kommt vor allem in Betracht Isambert, Jourdan et Decrusy, Becueil general des anciennes lois fhu^aises de 420 ä 1789. 1822 27. 29 Vol. in 8 0 (v. Index sub Manufactures,

Mines etc.), und dann zu bequemerer Benutzung die Spezialsammlung Becueil de reglements generaux sur les manufactures. 4 Vol. in et 2 Vol. de suppl. 1730—32, wo man alle Gesetze, die sich auf die große Industrie beziehen, aus den Jahren 1660 1730 zusammengestellt findet. Der Code du Fabricant, 2 Vol. 1788, war mir nicht zugänglich. Die Begesten der auf die Manufakturen bezüglichen Eeglements von 1650—1751 im App. Nr. 2 des Seite 372 genannten Buches von Martin (Louis XIV).

Für Spanien: Becopilacion de las Leyes destos Beynos. 3 Tom. 1640.

Für Holland: Groot Placcaetboek, 9 dln, 1658 1797.

Für Österreich: Jos. Kropatschek, Kais. Kön. österr. Gesetze, welche den Kommerzialgewerben und den Gewerbsleuten insbesondere vorgeschrieben sind. 2 Bde. 1804. F. Xav. Wekebrod, Samm¬ lungen der Verordnungen und Generalien für sämtliche Zünfte und Innungen. 1799.

Für Deutschland: Schmauss-Senckenberg, Sammlung der Beichsabschiede (bis 1736). 4 Bde. 1747. Brandenburg - Preufsen:

Mylius, C. C. N. Cod. dipl. Brand., ed. Biedel. Acta borussica, hrsg. von der Kgl. Akad. der Wiss. 1892 ff.

Neben dem gesetzgeberischen Material sind dann noch zu Bäte zu ziehen die Korrespondenzen usw. der Fürsten, der großen Staats¬ männer und der höheren Beamten, von denen wir namentlich für Frank¬ reich eine Beihe guter Sammlungen besitzen, wie die Correspondance administrative sous le regne de Louis XIV. Tome III: Affaires de Finances Commerce Industrie. De Boislisle, Correspondance des contröleurs des finances avec les intendants. 3 Vol. in fol. 1874. 1883. 1878. Clement, Lettres, instructions et memoires de Colbert. 7 Vol. 4°. 1861 82. (Der zweite Band bezieht sich vornehmlich auf

Dreiundzwanzigstes Kapitel: Der Merkantilismus als Ganzes 363

die Industrie.) Für England': Thom. Carlyle, Oliver Cromwell’s

Letters and Speeches. 4 Vol. 1902.

Werke, die den Merkantilismus unter allgemeinem Gesichtspunkte behandeln, sind, wenn wir von den rein literar-historischen Arbeiten absehen, nicht zahlreich. Die wichtigsten sind: H. J. Bidermann, Der Merkantilismus. 1870. Edm. Frh. v. Heyking, Zur Geschichte der Handelsbilanztheorie. I. (einziger) Teil: Einleitendes. Altere englische Systeme und Theorien. 1880. Für die Zeit ihres Erscheinens eine ganz hervorragende Schrift, G. Sc hm oll er, Das Merkantil¬ system in seiner historischen Bedeutung: städtische, territoriale und staatliche Wirtschaftspolitik, in seinem Jahrbuch 8 (1884), S. 15 ff. H. Sieveking, Grundzüge der neueren Wirtschaftsgeschichte vom 17. Jahrh. bis zur Gegenwart, in Meisters Grundriß II, 2. 19 07

' Um so zahlreicher sind die Darstellungen der merkantilistischen Epoche in den einzelnen Ländern, die ich in den folgenden Kapiteln nennen werde.

Die gleichförmigen Eigenarten der merkantilistischen Wirt¬ schaftspolitik wird man, wie mir scheint, am besten verstehen, wenn man sich klar macht, was an Ideen und Grundsätzen aus der früheren (stadtwirtschaftlichen) Periode übernommen wurde und welche Neuerungen mit Notwendigkeit aus dem veränderten Interesse des Fürsten sich ergeben mußten.

Der Merkantilismus ist zunächst in der Tat nichts anderes als die auf ein größeres Territorium ausgedehnte Wirtschaftspolitik der Stadt. Wie diese den Mittelpunkt der Welt mit ihren Interessen gebildet hatte, denen selbstverständ¬ lich alle übrigen Interessen untergeordnet waren, so wird dies jetzt das vom Fürsten beherrschte Gebiet : egozentrisch bleibt die Politik in ihrer Grundauffassung. Aber auch die alte Gemeinschaftsidee setzt sich in der allgemeinen Staatsidee bis zu ihren letzten Konsequenzen fort: das Wohl des Ganzen geht dem einzelnen vor; die Gesamtheit, wenn auch vertreten durch den absoluten Monarchen, steht solidarisch ein1. Aus dieser Grundauffassung folgt zunächst eine weitgehende Fürsorge auch des absoluten Staates für den wirtschaftlichen Verzehr seiner Angehörigen : die „Versorgungspolitik“ der mittelalterlichen Städte wird von ihm in allen ihren Teilen apf das gewissenhafteste fortgeführt.

Die Versorgungspolitik“ der Städte hatte den Zweck ver¬ folgt die Einwohner mit den nötigen Lebensmitteln (Getreide, Vieh) zu versehen. Daher das Bestreben, soviel wie möglich von diesen

i Diese Ideen, die in Frankreich am höchsten entwickelt sind, hat meisterhaft dargestellt Ranke in seiner Französischen Geschichte.

364

Zweiter Abschnitt: Der Staat

Gütern in die Stadt zu ziehen, was mafi dadurch zu erreichen suchte, daß man die Ausfuhr aus der Landschaft verbot , die Produzenten verpflichtete , ihre Erzeugnisse zu Markte zu bringen , daß man den Fürkauf untersagte, vorüberziehende Händler zum „Stapeln“ ver- anlaßte und für den Fall der Not Magazine anlegte. In allen diesen Punkten führen die Fürsten die städtische Politik weiter.

In Spanien begegnen wir königlichen Ausfuhrverboten für Vieh und Brot 1307, 1312, 1351, 1371, 1377, 1390, für Getreide und Herden 1455, Herden und Vieh 1502. Rec. Buch VI u. VII.

In Frankreich beginnt die Versorgungspolitik der Könige mit den Ordonnanzen Philipps IV. von 1305 und 1307: in ihnen wird die Getreideausfuhr verboten, die Marktbeschickung geboten, wird der Aufkauf untersagt, werden Preise für Nahrungsmittel festgesetzt. Diese Grundsätze bleiben in allen folgenden Jahrhunderten in Kraft: 1577 wird die Ausfuhr von Getreide nur gegen Erlaubnisschein gestattet; Getreideausfuhrzölle (22 livres pro muid) enthält der Tarif von 1614. Die Reglementierung des Getreidehandels wird im 17. und 18. Jahr¬ hundert eher noch strenger: die Pächter sollen ihr Getreide nicht länger als zwei Jahre auf dem Speicher haben; die Städte sollen sich für drei Jahre mindestens verproviantieren; die Kaufleute sollen kein Getreide kaufen in einem Umkreis von mehr als 2 Meilen um jede Stadt, von 7 8 Meilen um Paris; auswärtige Händler müssen ihr Getreide in persona anbringen und verkaufen usw. usw. Siehe z. B. die Ordonnance du Roy sur le faict de la police generale de son royaume 1578. Eine sehr ausführliche Darstellung dieser Gesetz¬ gebung gibt P. Boissonade, Essai sur l’organ. du travail au Poitou 1 (1900). Livre II Ch. I: die Hauptreglements stammen aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Vgl. G. Afanassiev, Le commerce des Cereales en France au XVIII siede. 1894.

'In England beginnt die Fürsorge der Könige mit Heinrich III. Es kommt ebenfalls zu einem Verbot der Getreideausfuhr (solange der Preis nicht auf 6/8 pro Quarter sinkt) sowie zu sehr strengen Be¬ stimmungen über den Fürkauf und Zwischenhandel mit Lebensmitteln. Siehe namentlich 5 u. 6 Edw. VI c 14 und 13 Elis. c 25.

Seit der Zeit der Elisabeth wurden die Bestimmungen über die Getreideausfuhr etwas milder: das hatte seinen natürlichen Grund in der zunehmenden Rücksicht, die die Könige auf die Getreide- und Viehproduzenten nehmen mußten, und macht sich gleichzeitig in allen Ländern bemerkbar. Es kommt zu einer Art von Kompromiß zwischen städtischem Konsumenten- und ländlichem Produzenteninteresse, der meist darin gipfelte, daß die Getreideausfuhr grundsätzlich gestattet wurde, aber in Zeiten hoher Preise wieder verboten werden konnte. So in Frankreich im 16. Jahrhundert, wie oben schon erwähnt wurde. So in England seit 1571: die Ausfuhr wird gestattet, nur in Teuerungszeiten können sie die Friedensrichter verbieten. Fürkaufsverbot, Preistaxen, Aufsicht über Kauf und Verkauf bleiben aber auch nach dieser Zeit in Kraft. Siehe für England R. Fab er, Die Entstehung des Agrar - gchutzes in E. 1888,

Drenmdz-wanzigstes Kapitel: Der Merkantilismus als Ganzes 365

Es folgt daraus ferner der Grundsatz, daß das einzelne Wirt¬ schaftssubjekt sein Recht , Güter zu erzeugen oder .Handel zu treiben, von der Gemeinschaft ableitet: daß diese, die nun vom Monarchen dargestellt wird, ihm nach ihrem Gutdünken so viel Rechte verleiht und Pflichten auferlegt, als sie im eigenen Inter¬ esse für richtig hält: alle wirtschaftliche Tätigkeit ist eine „privilegierte“.

Und es folgt endlich aus jener Grundauffassung, daß der einzelne sein Verhalten streng den "Weisungen der Obrigkeit an¬ zupassen, daß diese die wirtschaftliche Tätigkeit zu überwachen habe und für ihre sorgfältige Ausübung verantwortlich sei: als zu welchem Zwecke sie jede Handlung der Wirtschaftssubjekte mit einer zurechtweisenden Vorschrift zu begleiten verpflichtet sei: alle wirtschaftliche Tätigkeit ist eine „reglementierte“.

An dieses festgefügte System der städtischen Wirtschafts¬ politik trat nun der Fürst mit seinen besonderen Interessen heran. Wir wissen, daß er seine Macht gründete vor allem auf zwei Einrichtungen : dem Söldnerheere und dem Berufsbeamten¬ tum, und wissen auch, daß diese beiden Einrichtungen von vorn¬ herein grundsätzlich auf geldwirtschaftlicher Basis aufgebaut waren. Um Armee und Beamtenschaft (zu denen sich noch der teure Hofstaat gesellt) erhalten zu können, bedurfte der Fürst also vor allem Geld und nochmal Geld und zum drittenmal Geld. (Erst später machte sich der Mangel an Menschen in einzelnen Ländern fühlbar und führte zur Peuplierungspolitik zum Beispiel in dem armen Preußen.)

Der Fürst verschaffte sich das Geld, dessen er für seine Zwecke benötigte, auf dem Steuerwege oder durch Anleihen. Damit aber Steuern erhoben und Anleihen aufgenommen werden konnten, mußte .ein Mindestvorrat von Edelmetall im Lande aufgespeichert sein, der um so größer zu bemessen war, je geringer entwickelt die Kreditformen waren.

Wir können von der Warte des Historikers hier wahmehmen, wie also auch eine bestimmte Mindestmenge von Edelmetall auf der Erde produziert werden mußte, um den Anforderungen des modernen Fürstenstaates zu genügen. Und können hinzufügen, daß die starke Vermehrung der Edelmetallproduktion in diesen Jahrhunderten, von der wir uns im vierten Abschnitt noch genauer überzeugen werden, eine wesentliche Förderung für die Entwicklung des modernen Staatswesens bedeutete. Wenn ein guter Kenner der Heeresgeschichte gelegentlich einmal den Aus-

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Zweiter Abschnitt: Der Staat

spruch tut: „seine (Sachsens) Zeughäuser und Armeen erwuchsen aus den Silberschachten Schneebergs“ *, so können wir diesem Satz die allgemeinere Fassung geben : aus den Silbergruben Mexikos und Perus und aus den Goldwäschen Brasiliens ist der moderne Staat emporgetaucht. Oder anders gefaßt: Soviel Silber (später Gold) soviel Staat! Selbstverständlich nur im Sinne des Bedingtseins: ohne eine so ergiebige Edelmetall¬ produktion, wie sie seit der Entdeckung Amerikas sich einstellte, wäre auch der moderne Pürstenstaat nicht zu solch rascher und allgemeiner Entwicklung gelangt.

Geld zu beschaffen, wird also das Zentralproblem der fürst¬ lichen Staatskunst, und es ist ja sattsam bekannt, daß sich um dieses Streben nach Geld alle Ideen und Maßnahmen der mer- kantilistischen Politik herumgelagert haben. War es das eifrigste Bemühen der städtischen Obrigkeiten gewesen, ihre Stadt mit Gebrauchsgütern gut zu versorgen, so (könnte man sagen) wurde es zum Kernstreben aller großen Staatsmänner des ancien regime, Tauschwerte in der Form des Geldes in die Kassen ihrer Fürsten und zu diesem Behufe vorher Geld in die ihnen unterworfenen Länder zu bringen, damit es direkt oder auf Umwegen zu den Staatskassen ströme. Aus der Güterversorgungspolitik der Städte wurde eine Geldversorgungspolitik der Staaten.

„Je crois que l’on demeurera facilement d’accord de ce prin¬ cipe qu’il n’y a que l’abondance d’argent dans un Etat, qui fasse la difference de sa grandeur et de sa puissance“: mit diesen Worten drückt Colbert1 2 tatsächlich die Überzeugung nicht nur seiner Zeit aus, sondern der Jahrhunderte, die ihr vorausgehen, und des Jahrhunderts, das ihr folgt. Dieses Streben nach Geldvermehrung lag allen merkantilistischen Politikern, lag der merkantilistischen Theorie wie der merkantilistischen Praxis gleichermaßen zugrunde. Was sich im Laufe der Zeit änderte oder was die einzelnen unterschied, war nur die verschiedene Auffassung von der zweckmäßigsten Art, wie man am leichtesten und ausgiebigsten das ersehnte Geld sich verschaffen könne. In England sehen wir den Kampf der Meinungen im 17. Jahr¬ hundert sich ausfechten zwischen den Bullionists, die die direkte Beeinflussung des Edelmetall-Zuflusses und -Abflusses fordern,

1 Jähns, Geschichte der Kriegswiss. 1, 686.

2 Lettres , instruct. etc. de Colbert par P. Clement, t. II

2e partie p. CCVII.

Dreiundzwanzigstes Kapitel: Der Merkantilismus als Ganzes 367

lind den Mercantilists , die eine indirekte Regelung durch, die Richtung des Warenstroms (Handelsbilanz!) für zweckmäßiger halten; und sehen dann, wie in den letzten Jahren der Stuarts jene Auffassung zum Durchbruch kommt, die vor allem von der Entwicklung der Industrie die Vermehrung des Geldvorrats er¬ wartet. Einer der ersten, der diese Meinung in England vertritt, ist der Verfasser der Britannia Languens (1680) h

Wir werden deshalb am leichtesten einen Überblick über die bunte Welt der merkantilistischen Politik gewinnen, wenn wir die einzelnen Äußerungen dieser Politik uns als ebensoviele Ver¬ suche verständlich machen, den obersten Zweck der Staatskunst, soweit sie materieller Natur war, zu verwirklichen, und wenn wir sie gruppieren nach der Verschiedenheit der Methode, das gesteckte Ziel zu erreichen. Wir werden uns dabei nur immer wieder der Tatsache erinnern müssen, die wir oben feststellen konnten: daß die merkantilistische Staatskunst ihre eigenartigen Ziele im wesentlichen auf den Wegen zu erreichen suchte, die vorher schon von den städtischen Obrigkeiten begangen worden waren.

Das eifrigste Streben aller merkantilistischen Politik mußte natürlich darauf gerichtet sein, sich des Geldes auf direktem Wege zu bemächtigen, sei es dadurch, daß man das im Lande vorhandene Gold und Silber darin zu erhalten trachtete, sei es daß man Edelmetalle im eigenen Lande zu produzieren sich bemühte.

Wenn die Könige die Ausfuhr des Bargeldes aus ihren Staaten verboten: solche Ausfuhrverbote finden wir in Frankreich schon im Jahre 1303 und 1322, ebenso in England (unter Eduard III.), Spanien u. a. , so treten sie damit nur in die Fußtapfen der Stadtregierungen, wie wir in anderm Zusammenhang noch ge¬ nauer sehen werden.

Auch Edelmetallbau hatten die Städte schon freilich nur vereinzelt getrieben. Seit dem 16. Jahrhundert tritt nun aber bei den Staatsverwaltungen immer deutlicher die Tendenz her¬ vor, die Silbergruben in eigene Regie zu nehmen, um den Strom der Edelmetalle im eigenen Lande nicht versiegen zu lassen1 2.

1 Am frühesten formen sich die merkantilistischen Theorien wohl in England, wo z. B. das 1436 erschienene Libell of English Policy schon Gold und Wohlstand gleichsetzt. Vgl. Alb. Hahl, Zur Ge¬ schichte der volkswirtsch. Ideen in England (1893), S. 45 f.

2 Tatsachen bei Schmoller in seinem Jahrbuche Band XV, 3. Artikel.

368

Zweiter Abschnitt: Der Staat

Es wird sogar zu einem Grundsatz der merkantilistisclien Theorie : daß ein Edelmetallbau auch dann volkswirtschaftlichen Nutzen bringe, wenn er mit Schaden betrieben werde h

Aber die Hauptsache war doch, daß das Verlangen nach dem Besitz eigener Silbergruben oder eigener Goldfelder die Staaten über ihre Grenzen hinaus „nach Indien“, dem Zauberlande, trieb, und daß aus dieser Jagd nach dem Golde, an der sich alle Staaten während jener Jahrhunderte beteiligten, die großen Kolonialreiche der europäischen Völker emporwuchsen. Über ihre Entstehung spreche ich aber im Zusammenhänge ausführlich im 27. Kapitel.

Wie die Kolonialpolitik auf Umwegen der merkantilistiscken Idee dienen sollte, drückt in klassischer Form in folgenden Worten einer der besten Kenner der Kolonialgeschichte aus: „They (the disciples of the Mercantile System) . . . have carried into execution, in this brauch of policy, the most elaborate , and the most violent of their artificial schemes , for powring into the nation an abondance of the precious metals. Colonies have not, indeed, always furnished, directly, those precious supplies; but they have been used as means of ob- taining the supplies from other markets, and of unlocking the money- chests of different nations in Europe: their produce has been en- grossed, as a weight, by which to procure, in other countries, the great object of the Mercantile System: a favorable balance of trade.“ H. Brougham, An inquiry into the colonial policy of the European powers. 1 (1803), 5/6.

Ebenso erwähne ich hier einstweilen nur kurz, um später noch einmal darauf zurückzukommen, daß aus dem Streben, den fürstlichen Kassen möglichst große Geldmengen auf direktem Wege zuzuführen, natürlich der ganze kunstvolle Bau der Steuer- und Schuldenwirtschäft hervorwuchs, und daß dasselbe Streben zu einer eigenartigen Münz- und Währungspolitik führte, die für die Gestaltung des Wirtschaftslebens von großer Bedeutung ge¬ worden ist.

Dann aber wurde der Staat selbst Unternehmer, um sich auf dem Wege des Profits das fehlende Geld zu. verschaffen: wir werden ihm in dieser Eigenschaft dort begegnen, wo wir den Aufbau der kapitalistischen Wirtschaft selbst verfolgen und nach den Wirtschaftssubjekten der frü ' kapitalistischen Epoche Um¬ schau halten (siehe den ersten Abschnitt des zweiten Bandes).

Hier ist vor allem jener Bestandteile der merkantilistisclien

1 v. Hörnigk, Österreich über alles. 1684, Ausgabe von 1727, S. 30, 173. Andere Stellen bei Roscher, System Band III § 179 Anm. 6.

Dreiundzwanzigstes Kapitel: Der Merkantilismus als Ganzes 369

Wirtschaftspolitik zu gedenken, in denen das Streben des Staates zutage tritt, auf Umwegen sein Ziel: die Geldbeschaffung , zu erreichen. Diese Umwege führten ihn aber zu einer Art von Kompagniegeschäft mit dem empor streben den Kapitalismus, und die Abwicklung dieses Kompagnie¬ geschäftes ist recht eigentlich das, an was man gemeinhin denkt, wenn man von Merkantilismus spricht.

Wir müssen uns zum Bewußtsein bringen, daß der Fürst und der kapitalistische Unternehmer in jenen Jahrhunderten natür¬ liche Bundesgenossen waren, weil sie zu einem guten Teile gleiche Interessen verfolgten. Vor allem wurden die beiden zu¬ sammengeführt durch ihre gemeinsame Gegnerschaft gegen die mittelalterlich-städtisch-feudalen Gewalten. Wie diese es waren, die der Ausbreitung der, fürstlichen Herrschaft über ein großes Gebiet Hindernisse in den Weg warfen, so waren sie es, die dem aufstrebenden Kapitalismus durch ihre Zunft- oder Zoll¬ schranken Fesseln anlegten. Gemeinsam aber war den beiden neuen Mächten das Interesse an einem möglichst ausgedehnten Vorrat an Edelmetallen im Lande. So kam es ganz von selbst, daß die beiden zusammenhielten; daß insbesondere was uns hier angeht der absolute Staat zum Förderer und Helfer der

<Ü5

kapitalistischen Interessen, also in erster Linie der kapitalistischen Industrien und des großen auswärtigen Handels wurde : die Arts et manufactures müssen gefördert werden, heißt es in der Pre- ambule des Edikts Heinrichs IV. vom August 1603 . . . pour estre . . . le seul moyen de ne point transporter hors du royaume l’or et l’argent, pour enrichir nos voisins“ . . . „Das Geld ist sanguis corporis politici und solches nicht allein zu erzügeln , sondern beizubehalten kein anderes Mittel , als daß fremde Waren entweder in einem Lande nicht admittiert oder wenn sie unvermeidlich und zur allgemeinen Notdurft erforder¬ lich sind, im Lande selbst per naturam vel industriam erzeugt und zuwege gebracht werden , allermahlen solcher gestalten occasio et causa movens cessat, das Geld außer Landes gehen zu machen.“ 1 Der Keichtum an Edelmetallen im Lande be¬ fördert die Industrie, meint Colbert: „quant l’argent est dans le royaume, l’envie etant universelle d’en tirer profit, fait que les hommes lui donnent du mouvement“ , und dabei profitiert

1 Hofkamraer-Keferat 16/III 1700 (2/VI 1710), Hoff. 13 917, bei H. von Srbik, Exporthandel Österreichs. (1907), 270.

Sombart, Der moderne Kapitalismus. I.

21

370

Zweiter Abschnitt: Der Staat

wiederum die Staatskasse: „c’est dans ce mouvement que le Tresor trouve sa part.“ Um aber jene günstige Wirkung zu er¬ zielen, gilt es vor allem, den auswärtigen Handel zu entwickeln : „il n’y a que le commerce seul et tout ce qui en depend qui peut produire le grand effet d’amener de l’argent; il fallait lin- troduire en France ni le general ni meine les particuliers ne s’y sont jamais appliques“ ... 1

Die andere Seite des Problems : wie die kapitalistische Industrie dem aufstrebenden Staate nützte , verfolge ich hier nicht. Es mag nur hervorgehoben werden, daß, abgesehen von der indirekten Förde¬ rung, die die Entfaltung des Kapitalismus dem Fürsten und seinem Lande gewährte , die Staatskassen unmittelbar an dem Gedeihen der kapitalistischen Unternehmungen Anteil nahmen durch Schatzung mannigfachster Ai't. Die unten zu erwähnenden Privilegien wurden meist nur gegen Entgelt erteilt. Bei vielen Unternehmungen, nament¬ lich den großen Handelskompagnien , war es üblich , daß das ganze Aktienkapital oder doch ein beträchtlicher Teil dem Staate als Anleihe zur Verfügung gestellt wurde: die (neue) englisch-ostindische Kom¬ pagnie beispielsweise leiht Wilhelm III. 2 000 000 ü^, Anna 1 200 000 j^, zusammen 3 200 000 „what may properly be called the Capital stock of this Company“. P o stlethway t, Dict. 1, 682. Im Jahre 1743 gibt sie für die Verlängerung ihres Privilegs auf 14 Jahre 1 000 000 zu 3°/o. Anderson, Annals 3, 241. Die Südseekompagnie wurde im neunten Jahre der Königin Anna errichtet, um eine Schuld von 9 177 967 £ abzutragen, die die Regierung aufgenommen hatte. Po st - lethwayt 2,255. Anderson 3, 43 ff. 1715 kommen 822 082.4.8 £ dazu. Dafür erhält die Gesellschaft das Recht auf den Bezug der Zölle (Steuern) auf Salz, Lichte usw.

Die französische Mississippi-Gesellschaft (Law) wird begründet und privilegiert , um einen Betrag von 60 Mill. livres Staatsschulden zu tilgen : die ersten 60 Mill. Kapital werden in Staatspapieren gezeichnet ; dann vergrößert der Staat das Kapital auf 100 Mill.

Die holländisch-ostindische Kompagnie zahlt bei der Erweiterung ihres Privilegs im Jahre 1643 an die Regierung 1600 000 fl., und so fort jedesmal wieder, z. B. 1729, 3 600 000 fl. .

Oder man besteuerte die Gesellschaften direkt während ihres Be¬ stehens: 4/5 Will. & Mary c. 15 (1693) besteuert die ostindische Kompagnie mit 5 von jeden 100 Aktien; die afrikanische Kom¬ pagnie mit 20% von jeder Aktie; die Hudson Bay Co. mit 5 von jeder Aktie usw. Anderson 2, 598. Die Staatsregierung nahm ganz naiv an, daß die wirtschaftliche Tätigkeit im Lande immer gleich¬ zeitig auch zum Besten der Staatskasse betrieben würde. So spricht die Charte von Leeds im Jahre 1626 davon, daß diese Stadt „zum Ruhme und zum Besten der Einkünfte der englischen Krone“ seit

1 Mein, de Colbert au roi. 1670. Lettres etc., ed. Clement, t. VII p. 233.

Dreiundzwanzigstes Kapitel: Der Merkantilismus im Ganzen 371

langem Tuch fabriziert habe; 1661 beklagt sich eine neue Verfassungs¬ urkunde über die Betrügereien bei der Wollindustrie , die nicht nur der Industrie, sondern auch den öffentlichen Einkünften zum Schaden gereichten usw.

Zahlreiche Beispiele einer unverblümt entgeltlichen Gewährung von Privilegien usw. findet der Leser in den im folgenden Kapitel ge¬ nannten Spezialwerken.

Vierundzwanzigstes Kapitel

Die Gewerbe- und Handelspolitik

Quellen und Literatur

Die Quellen habe ich im vorigen Kapitel schon genannt. Die Literatur ist unübersehbar: nächst der Zunft- und Stadtverfassungs¬ geschichte ist kein Zweig der Wirtschaftsgeschichte so stark entwickelt wie die Literatur über die merkantilistische Gewerbe- und Handelspolitik. So viel Belehrung sie uns über die Vorgänge in der Staats Verwaltung gebracht hat, so hat sie doch (ähnlich wie wir es bei der Literatur zur Geschichte des Städtewesens gesehen haben) die eigentlich wirt¬ schaftsgeschichtliche Forschung vielfach gnfgehalten : man glaubte, Wirtschaftsgeschichte zu schreiben, während man Verwaltungsgeschichte schrieb , die doch gewiß nicht dasselbe sind. Ich stelle eine kleine Auswahl von Schriften zusammen, die zur ersten Einführung geeignet sind:

Frankreich. 1. Gewerbepolitik: (bis 1581) Rud. Eberstadt, Das französische Gewerberecht und die Schaffung staatlicher Gesetz¬ gebung und Verwaltung usw. 1899; für das 17. und 18. Jahrhundert: G. Fagniez, L’economie sociale de la France sous Henry IV. 1897. Alfred des Cilleuls, Histoire et regiine de la grande industrie en France aux XVII et XVIII sc. 1898. L. Mosnier, Origines et developpement de la grande industrie en Fr, 1898. G. Martin, La grande industrie sous Louis XIV. 1899. Idem, La grande industrie sous Louis XV. 1900. Natürlich ist zu allererst E. Levasseur zur Hand zu nehmen.

2. Handelspolitik: Charles Gouraud, Hist, de la politique commerciale de la France. 2 Vol. 1854. Aus der Literatur über die großen Handelskompagnien: P. Bonnassieux, Les grandes com- pagnies de commerce. 1892. Paul Kaeppelin, La Compagnie des Indes Orientales. 1908. H. Pigeonneau, Hist, du Comm. de la France. 2 Vol. 1885. 1889 (bis Richelieu). E. Levasseur, Hist, du Comm. de la France. 2 Vol. 1900.

Paris insbesondere: M. Fr e gier, Hist, de l’administrat. de la police de Paris. 2 Vol. 1850.

Dann gehört hierher die große Literatur über Colbert. Hauptwerk: Clement, Hist, de C. et de son administration. 3 ed. 1892. 2 Vol.

England. 1. Die Gewerbepolitik ist in zahlreichen Mono¬ graphien einzelner Industrien behandelt, u. a. : J. J a m e s , Hist, of the Worsted Manufacture in England. 1857. J. Burnley, The

Vierundzwanzigstes Kapitel: Die Gewerbe- und Handelspolitik 373

history of Wool and Wool Combing. 1889. L. Duchesne, L’evo- lution economique et sociale de l’industrie de la laine en Angleterre. 1900. F. Lohmann, Die staatliche Regelung der englischen Woll¬ industrie. 1900.

Allgemeines: Ad. Held, Zwei Bücher zur sozialen Ge¬ schichte Englands. 1881. W. A. S. Hewins, The english trade and finance chiefly in the XVII. cent. 1892. Ch. I and II behandeln die „Monopolpolitik“. George Unwin, Industrial Organisation in the 16. and 17. centuries. 1904. William Hyde Price, The English Patents of Monopoly. 1906. Herrn. Levy, Monopole usw. 1909.

2. Handelspolitik: G. Schanz, Englische Handelspolitik. 2 Bde. 1881 (behandelt vor allem die Regierungen der beiden ersten Tüders). W. A. S. Hewins, 1. c.

Ein guter Wegweiser gerade in wirtschafts p o litis chen Dingen ist auch Cunningham. Durch seine klaren und richtigen Urteile ausgezeichnet ist das noch heute lesenswerte Buch von W. v. Ochen- kowski, Englands wirtschaftliche Entwicklung im Ausgange des Mittelalters. 1879.

Spanien. G. de Ustariz, Theorie et pratique du commerce. Trad. sur l’espagnol 1753. Bern, de Ulloa, Retablissement des manufactures et du commerce d’Espagne. Trad. sur l’espagnol 1758. Don Man. Colmeiro, Hist.de la economia en Espana. 2 t. 1863. M. J. Bonn, Spaniens Niedergang. 1896.

Niederlande. E. Laspeyres, Geschichte der volkswirtschaftl. Anschauungen der Niederländer usw. 1863. Otto Pringsheim, Beiträge zur wirtschaftl. Entwicklungsgeschichte der ver. Niederlande im 17. und 18. Jahrh. 1890.

Österreich. 1. Gewerbepolitik: Karl Pfibram, Geschichte der österreichischen Gewerbepolitik von 1740—1860. Erster Band: 1740 1798. 1907. Ein vortreffliches, außerordentlich inhalts- und lehrreiches Buch. Daneben sind von früheren Schriften zu vergleichen : A. Beer, Die österreichische Industriepolitik unter Maria Theresia. 1894. H. Waentig, Gewerbliche Mittelstandspolitik. 1898. S. 7 bis 47. Hans Rizzi, Das österreichische Gewerbe (in Wirklichkeit behandelt der Verf. im wesentlichen auch die Gewerbe p o litik) im Zeitalter des Merkantilismus, in der Zeitschrift für Volkswirtschaft, Soz.-Pol. und Verw. Bd. XII. 1903. Gibt einen Gesamtüberblick. Max Adler, Die Anfänge der merkantilistischen Gewerbepolitik in Österreich. 1903. Über die merkantilistische Epoche hinaus ragt die Darstellung bei Joh. Slokar, Geschichte der österreichischen In¬ dustrie und ihrer Förderung unter Franz I. 1914. Das Werk reiht sich ergänzend an die früheren an. Es ist wohl ein Ausfluß der be¬ sonders starken Bureaukratisierung der österreichischen Wirtschafts¬ politik, daß ihre Geschichte so viele gute! Bearbeitungen ge- * funden hat.

2. Handelspolitik: A. Beer, Die österreichische Handels¬ politik unter Maria Theresia und Josef II. 1898. Helene Landau,

374

Zweiter Abschnitt: Der Staat

Die Anfänge des Warenhandels in Österreich, in der Zeitschrift für V.-W. usw. Bd. XV. 1906. Behandelt im wesentlichen die innere Handelspolitik. Heinr. Bitt. v. Srbik, Der staatliche Exporthandel Österreichs von Leopold I. bis Maria Theresia. Untersuchungen zur Wirtschaftsgeschichte Österreichs im Zeitalter des Merkantilismus. 1907. Ebenfalls ein gutes Buch.

Brandcnburg-Preufsen. G. Schmoller, Studien über die wirtschaft¬ liche Politik Friedrichs II. und Preußens überhaupt von 1680 1786, in seinem Jahrbuch Bd. 8. 10. 11. Derselbe, Das brandenburg¬ preußische Innungswesen von 1640 1800, wurde abgedruckt in dem Sammelbande Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte besonders des preußischen Staates im 17. und 18. Jahrh. 1898. Dort sind auch noch andere einschlagende Arbeiten Schmollers vereinigt. G. Schmoller und O. Hintze, Die Preußische Seidenindustrie im 18. Jahrhundert und ihre Begründung durch Friedrich d. Gr. 3 Bde. 1892 (Acta borussica). K. v. Bohrscheidt, Vom Zunftzwang zur Gewerbefreiheit. 1898. C. Matschoss, Friedrich d. Gr. als Beförderer des Gewerbefleißes. 1912.

H. Freymark, Zur preußischen Handels- und Zollpolitik von 1648 1818. Hall. Diss. 1898. O. Meinardus, Beiträge zur Ge¬ schichte der Handelspolitik des Großen Kurfürsten. Histor. Zeitschr. Bd. 66.

H. Fechner, Wirtschaftsgeschichte der preußischen Provinz Schlesien in der Zeit ihrer provinziellen Selbständigkeit (1741 1806). 1907. (Seite 1 453 behandelt die Wirtschaftspolitik.)

Deutschland im allgemeinen. G. v. Below, Der Untergang der mittelalterlichen Stadt Wirtschaft , in den Jahrb. f. Nationalök. III. F. 21, S. 449 ff. 593 ff.

Auf verschiedene Länder erstreckt sich W. Naude, Die Getreide¬ handelspolitik der europäischen Staaten vom 13. bis zum 18. Jahrh., Acta Borussica 1896.

Ein Mittelding zwischen Literatur und Quellen sind die großen Kaufmannslexika Savary, Postlethwayt, Schatzkammer usw., in denen sich ein reiches Material findet. Sehr viel Angaben ent¬ halten auch die verschiedenen Bände der Encyclopedie , die die tManufactures5 und den cCommercec behandeln (Bearbeiter: Boland de la Platiere).

I. Übersicht

Die folgende Skizze der merkantilistischen Politik bringt dem Kundigen im einzelnen nichts Neues. Was ich mit ihr bezwecke, ist: den Nachweis zu führen, daß diese Politik (trotz beträcht¬ licher nationaler Verschiedenheiten) in ihren Grrundzügen doch in allen europäischen Ländern sich gleich gestaltet hat. Dies^ Zusammenstellung der in ihrem Wesen übereinstimmenden gesetz¬ geberischen Maßnahmen der wichtigsten Staaten ist auch dem-

Vierimdzwauzigstes Kapitel: Die Gewerbe- und Handelspolitik 375

jenigen vielleicht willkommen, der die einzelnen nationalen Ver- waltungssysteme von Grund aus kennt. Dem andern soll meine Übersicht als Einführung in das Studium dienen. Sie durfte aber auch deshalb an dieser Stelle nicht fehlen, weil sie ein not¬ wendiges Glied in der Gesamtstruktur meines Geschichtsaufbaus bildet.

Schauen wir uns nun die Maßregeln im einzelnen an, die der Staat im Interesse der kapitalistischen Wirtschaftselemente ergriff, so sehen wir, daß er wirklich im Grunde nichts anderes tat, als die Maximen der städtischen Wirtschaftspolitik anzu¬ wenden auf das Staatsganze und seinen besonderen Zwecken ent¬ sprechend im einzelnen weiter zu entwickeln. Das heißt : die merkantilistische Wirtschaftspolitik erschöpft sich wie die Politik der Städte in

(1.) Privilegierung und

(2.) Reglementierung von Produktion und Handel, um dem dann allerdings einen wichtigen neuen Komplex von Ma߬ nahmen hinzuzufügen, die wir am ehesten unter der Bezeich¬ nung der

(3.) Unifizierung zusammenfassen können.

Die folgenden Angaben haben den Zweck, an einigen Bei¬ spielen Sinn und Bedeutung dieser Politik dem Leser zum Be¬ wußtsein zu bringen.

II. Die Privilegierung

Unter Privilegierung verstehe ich hier ganz allgemein die Einsetzung staatlicher Machtmittel zu dem Zwecke, die wirt¬ schaftliche Tätigkeit Privater überhaupt erst ins Leben zu rufen oder sie dort, wo sie bereits geübt wird, rentabel oder rentabler zu gestalten. Hier handelt es sich selbstverständlich nur um die „Privilegierung“ kapitalistischer Unternehmungen, an deren Emporkommen, wie wir sahen, die modernen Staaten ja auch in erster Linie interessiert waren. Will man genau unterscheiden, so wird man sagen müssen, daß also die staatlichen Machtmittel eingesetzt wurden: sei es, um vorhandene kapitalistische Inter¬ essen zu fördern; sei es, um zum Leben drängende, aber erst keimhaft schlummernde kapitalistische Interessen zur Entwick¬ lung zu bringen; sei es endlich, um die Keime solcher Interessen erst zu pflanzen. Vielfach dienten auch die Privilegierungen dazu, um die kapitalistische Wirtschaftsweise den entgegen-

376

Zweiter Abschnitt: Der Staat

stehenden Ausschließungsrechten der Handwerkerzünfte zum Trotze zu ermöglichen.

Der ganze Sinn der staatlichen „Privilegierungen“ kommt aber in folgendem Briefe Heinrichs H. (vom 13. Juni 1568) zum Ausdruck 1 : „Nous voulons accroistre le desir ä tous et chacuns de nos subjetz et les exciter ä s’exercer a choses bonnes et prouffitables au publicq de nostre royaume, et s’occuper et em- ployer, en recongnoissant et authorisant par dessus les autres par Privileges et bienfaits les personnes vertueuses et industrieuses en tous artz.“

Die „Privilegierungen“ haben nun sehr verschiedene Formen angenommen, nach denen sie im folgenden der besseren Über¬ sicht halber gruppiert werden sollen.

1. Die Monopolisierung

hat im Systeme des Merkantilismus eine sehr große Rolle ge¬ spielt. Sie besteht grundsätzlich in der Ausschließung anderer; ist also, wie man sagen könnte, eine Art negativer Privilegierung 2.

In historischer Ableitung geht das Hecht der Monopolgewäh¬ rung wohl auf die alten Ideen des Feudalismus zurück: der König ist Inhaber aller Macht und aller aus ihr ableitbaren Rechte und verleiht deren, soviel ihm gutdünkt, an seine Diener, die selbst die ihnen verliehenen Rechte ganz oder zum Teil an andere weitergeben. Dieser Feudalismus leuchtet oft mit wunder¬ barer Klarheit aus der Verleihung und Afterverleihuno- o-anz moderner Industriemonopole heraus. Die unmittelbaren Vor¬ gänger der Fürsten waren ja auch hier die Städte gewesen: „Die Stadt als Ganzes empfing den Absatz von Gewerbeprodukten innerhalb ihrer Bannmeile als eine Art Lehn. Von diesem großen Lehn wurden einige Zweige allen Bürgern als solchen freigegeben, andere dem Rate ausschließlich Vorbehalten, die meisten aber den Zünften gleichsam als Afterlehn ausgetan.“ (Roscher.)

1 Ms. bei Levasse ur 2, 37.

2 Die Privilegierung der merkantilistischen Zeit in Gestalt der Monopolisierung unterscheidet sich von der Privilegierung unserer Zeit in Gestalt der Patentierung dadurch, daß jene erfolgt unter der Autorität der Regierung in der ausgesprochenen Absicht, durch jeden einzelnen Akt der Privilegierung das öffentliche (oder fürstliche) Inter¬ esse zu fördern, während die Patentierung einer Erfindung auf einem individuellen (Privat-) Rechte beruht, dessen Gewährung nicht ver¬ weigert werden kann. Darüber handelt E. Wyndham Hulme, The Historv of the Patent System under the Prerogative and at Common Law in The Law Quarterly Review 12 (1898) und 16 (1900).

Vicrundzwanzigstes Kapitel: Die Gewerbe- und Handelspolitik 377

"Wie dann sich in langsamer Umbildung das Regal als die der nachmittelalterlichen Zeit entsprechende Rechtsform der fürstlichen Ausschließungsbefugnisse entwickelte , ist hier , weil für den Zweck, d6r hier verfolgt wird, belanglos, nicht darzu¬ stellen 1 : genug daß der moderne Fürst sich das Recht zuschrieb, alle wirtschaftliche Tätigkeit zu gestatten und zu verbieten, zu ihrer Ausübung bestimmte Personen zuzulassen und andern sie zu untersagen. Zuweilen ließ der Monarch sein alleiniges Ver¬ fügungsrecht über Gewerbe oder Handel ausdrücklich erklären; so begegnen wir schon in der Const. Frider. (1213) einem Monopol des Königs für den Handel mit Getreide, Salz, Eisen, roher Seide ; so wird im 15. Jahrhundert in den italienischen Staaten der ge¬ samte Handel vom Fürsten „monopolisiert“2 3; im 16. Jahrhundert wird in Portugal der gesamte Gewürzhandel zum Monopol; in Frankreich werden unter Heinrich III. Gewerbe und Handel zum droit domanial erklärt usw. Das Wichtige aber war doch eben, daß alle Monarchen mit oder ohne solche ausdrück¬ liche Erklärung so handelten, als ob sie die Alleinberech¬ tigten seien.

Man hat die moderne Form der Privilegierung von der mittel¬ alterlichen, also die kapitalistische von der handwerksmäßigen, dadurch unterscheiden wollen, daß man die Zunftmonopole als Korporationsprivilegien , die staatlichen (königlichen) Monopole als Personalprivilegien charakterisierte8. Das trifft aber doch nicht in allen Fällen zu. Vielmehr erscheint auch das kapita¬ listische Monopol sowohl als Korporations- wie als Personal¬ privileg, wenn auch dieses die Regel bilden mag. Wir sehen z. B., wie in England einzelnen Korporationen die Kontrolle über andere Zünfte, z. B. in der Seifen- und Stecknadelfabrikation, in einer Zeit übertragen wTird, in der diese Gewerbe schon längst kapitalistisch organisiert waren4; oder wir finden die Communaute der Händler von Paris im aus schließenden Besitz des Rechtes, mit bestimmten Waren zu handeln5: oder wir erfahren, daß eine Anzahl Kohlenhändler im Jahre 1600 das Recht einer inkorpo-

1 Daß verschiedene Rechtsquellen den Regalismus gespeist haben (neben dem Feudalismus der Imperialismus) , ist sehr wahr¬ scheinlich.

2 Burckhardt, Kult, der Ren. 1, 35 ff-

3 R. Eberstadt, Franz. Gew.R. (1897), 325 ff.

4 Unwin, Organ. 164 ff-, und pass. Levy, Monopole 38.

5 Sa vary, Dict, s. h. v.

378

Zweiter Abschnitt: Der Staat

rierten Gilde erlangen und damit das Recht, Kohlen an die Schiffe zu verkaufen, die den Ty ne -Fluß befahren1 usf.

Wenn einer Korporation das Recht zugesprochen wurde, so konnte damit gleichzeitig das Recht verbunden sein, die Zahl der Mitglieder zu beschränken, dieses Recht, also der Numerus clausus, konnte aber auch fehlen: Typen solcher Art privilegierter, das heißt mit dem Monopol ausgestatteter Vereinigungen waren die meisten „regulated Companies“ in England während des IG., 17. und 18. Jahrhunderts 2.

Das Monopol, das einer Person oder einer Korporation erteilt wurde, konnte sich grundsätzlich auf jede beliebige gewinn¬ bringende Beschäftigung erstrecken: wir begegnen ebenso oft Produktionsmonopolen wie Handels- oder Verkehrsmonopolen.

Produktionsmonopole waren natürlich im wesentlichen Industriemonopole. Sie wurden entweder (das heißt bei schon bestehenden Gewerben, die in die kapitalistische Organisation übergeführt werden sollten: meist an der Hand eines neuen Verfahrens, das den Anlaß zur Monopolisierung bot) in der schon beregten Weise verwirklicht, daß eine einzelne Korporation die Kontrolle über das gesamte Gewerbe erhielt, oder so, daß von vornherein ein nationales Monopol geschaffen wurde: die Reo-©l bei neubegründeten Industrien, wie etwa der Glas-, Salz- oder Drahtindustrie in England.

Zuweilen wurde das Vorrecht, Güter einer bestimmten Art herzustellen, auch einer Stadt oder einer Landschaft gewährt: das heißt allen Personen, die jeweils an jenem Orte produzierten. So erhielt Lyon das ausschließliche Recht, Strümpfe aus schwarz¬ gefärbter Seide herzustellen.

Das Monopol konnte auf ewige Zeiten oder auf Lebenszeiten des ersten Empfängers oder auf eine bestimmte Anzahl von Jahren erteilt werden. In dieser letzten Form nähert es sich dem modernen Patent, und als solches erscheint es schon häufig im England der Elisabeth: 15G5 Monopol-Patent (auf 20 Jahre')

1 Ralph Gardiner, Englands Grievance discovered in relation to the coal trade . . . the tyi'annical oppressions of those magistrates, their Charters and grants . . . 1655. Repr. 1796.

2 Vgl. die Darstellung der Wirtschaftsformen im 2. Bande. In dem Streit um die Monopole hat diese Frage: ob Monopol mit oder ohne numerus clausus natürlich eine hervorragende Rolle gespielt. So verteidigt die Handelsmonopole, aber ohne num. claus. , z. B. Jos. Child, A new discourse of Trade Ch. III.

Vierundzwanzigstes Kapitel: Die Gewerbe- und Handelspolitik 379

zur Erzeugung von Salz; 1567 (auf 21 Jahre) zur Erzeugung von h ensterglas usw. 1 Auch in Frankreich begegnen wir frühzeitig solchen befristeten Monopolen : so war gleich das erste Monopol, das Heinrich H. iin Jahre 1551 zur Errichtung der Glashütte in S. Germain-en-Laye erteilte, auf 10 Jahre beschränkt2.

In Österreich können wir zwei Epochen unterscheiden : in den An¬ fängen der merkantilistischen Politik (unter Leopold I.) bildete die gesetzliche Grundlage der neuen Wirtschaftsformen das Privilegium exclusivum, das einzelnen Unternehmern den Alleinverkauf en gros im Gesamtgebiete der österreichischen Erbländer für ihre Erzeugnisse sicherte. Unter Maria Theresia treten an die Stelle „die Fabriks¬ befugnisse“, die zweifacher Art waren. Man unterschied „einfache fabrikmäßige Befugnisse“, die die Anerkennung der Nützlichkeit der Unternehmung, die Befreiung von jedem Zunftzwange und das Recht, ahe Arten gewerblicher Hilfsarbeiter in dem Betriebe zu vereinigen, in sich schlossen, und die „Landesfabriksbefugnisse“. Diese enthielten die Anerkennung der „besonderen Wichtigkeit und Solidität“ der Unternehmung. Sie berechtigten zur Führung des kaiserlichen Adlers und zur Aufdingung und Freisprechung von Lehrlingen, was bei der andern Klasse den Zünften Vorbehalten war.

Oder das Monopol war ein Handelsmonopol. Dann um¬ schloß es entweder das Recht, ausschließlich mit einer bestimmten Ware oder einer Warengattung Handel zu treiben: solch ein Monopol besaßen die New Castler Kohlenhändler während des 17. Jahrhunderts, besaßen die privilegierten Kaufleute in der Solinger Messerindustrie3, besaß die Gesellschaft, der schon Ludwig XI. das Privileg der Gewürzeinfuhr erteilt hatte 4 5. Wiederum konnte das Monopol einem Orte statt einer Person verliehen sein : wenn etwa alle Seide, die in Frankreich gehandelt wurde, ihren Weg über Lyon nehmen mußte.

Oder das Monopol gewährte das Recht, ausschließlich mit einer bestimmten Gegend, mit einem bestimmten Lande Handel zu treiben: wenn die Merchant Adventurers (noch im 17. Jahr¬ hundert) allein das Recht haben, alle Arten Tuchwaren nach Deutschland und den Niederlanden auszuführen6. Die geogra-

1 Eine Liste der Patente bei Hulme, Hist, of Patent System, in Law Quarterly Review XII, 1896, und XIV, 1900. Vgl. Cunning- bam, Growth 2, 58 ff. 76 ff., und die neue, gründliche Arbeit von H. Hyde Price, The English Patents of Monopoly. 1906.

2 Levasseur, 2, 37.

3 W. Thun, Ind. am Niederrhein 2, 27.

4 Pigeonneau, Hist, du comm. 1, 435.

5 Rymers, Foedera 19. 583. Vgl. James, Worst. Manuf.

(1857), 148.

380

Zweiter Abschnitt: Der Staat

phische Monopolisierung, von der man in diesen Fällen sprechen könnte, fand ja ihr bedeutsamstes Anwendungsgebiet bei allen großen überseeischen Handelsgesellschaften. Inder ' Regel war in der Charte das der Gesellschaft zu unbeschränkter Ausbeutung überwiesene Land ausdrücklich genannt: die be¬ rühmteste von ihnen: die 1600 begründete englisch-ostindische Handelskompagnie, hieß „The Governor and Company ofMerchants of London trading into the East In dies“ und erlangte das Handels¬ monopol für alle Länder am Indischen und Stillen Ozean zwischen der Magelhaensstraße und dem Kap der guten Hoffnung. Die 1719 aus drei andern Gesellschaften gebildete französische Com¬ pagnie des Indes war „chargee de tout le commerce colonial de la France“ h

Solcherart Monopolpolitik haben nun, wie schon die Beispiele zeigen, mit denen ich die verschiedenen Formen der Monopoli¬ sierung kenntlich gemacht habe, alle Staaten getrieben, seit und soweit sie in die Bahnen der Beförderung kapitalistischer Inter¬ essen einmündeten : auch hierin als Erben der städtischen Wirt¬ schaftspolitik.

In dem einen Lande ist die Neigung zur monopolistischen Gestaltung des Wirtschaftslebens vielleicht stärker gewesen als im andern; in diesem hat sie früher nachgelassen als in jenem; hier hat sie alle Zweige des Wirtschaftslebens gleichmäßig er¬ griffen, dort einige stärker, andere schwächer: aber in den Grund¬ sätzen war die Politik überall dieselbe. Während in Frankreich die Industriemonopole im 18. Jahrhundert die größte Ausdehnung und ihr Ende erleben, während sie in der Form des Konzessio- nierungssystems sich in den deutschen Staaten bis tief ins 19. Jahrhundert erhalten, verschwindet diese Form der Monopoli¬ sierung in England schon seit 1687. Dafür sind in keinem Lande die Handels- und Verkehrsmonopole bis in das 19. Jahrhundert hinein so rigoros gehandhabt worden wie in Großbritannien : erst 1813 wird der indische Handel den Außenseitern freigegeben; erst 1796 wird das Schiffahrtsmonopol, das, wie wir sehen werden, seit Richard H. datiert und, wie bekannt, in Cromwells Navigations¬ akte (1651) seine endgültige Prägung erfährt, zum ersten Male durchbrochen, erst 1849 wird die Navigationsakte aufgehoben.

Was ein Schriftsteller in den 1770 er Jahren von Österreich schrieb, hätte für alle Staaten gelten können: „Les monopoles

1 Vgl. die Darstellung der Wirtschaftsformen im 2, Bande.

Vierundzwanzigstes Kapitel: Die Gewerbe- und Handelspolitik 381

dans nos provinces sont innombrables , partie ignores, partie toteres et partie legalement antorises par le Gouvernement. Presque tous nos fabriquants, manufacturiers et gros negociants sont monopoleurs.“ 1

2. Die Handelspolitik

Eine Form der Privilegierung der kapitalistischen Industrie, die im Grunde auch auf die Gewährung eines Monopols wenigstens für einen ganzen Industriezweig hinausläuft, ist die künstliche Beeinflussung des Warenmarktes, durch Maßregeln befördernd oder hemmend auf den Warenzustrom oder -abstrom einzuwirken. Man sucht dasselbe Ziel, dem die Monopolisierung zustrebt : den Wettbewerb auszuschließen oder einzuschränken statt auf geradem Wege auf Umwegen zu erreichen. Wozu dann freilich eine Reihe anderer Wirkungen handelspolitischer Maßnahmen neu hinzutritt.

Die Handelspolitik des Merkantilismus ist wiederum in gerader Linie aus der städtischen Handelspolitik erwachsen wie wir schon festzustellen Gelegenheit hatten, als wir der „Versorgungspolitik“ gedachten. Der Zweck, den die Fürsten in ihren Staaten ver¬ folgten, war ja derselbe gebheben, den schon die Stadtverwal¬ tungen zu erfüllen getrachtet hatten: die gewerblichen Produzenten sollten über reichliche Rohstoffe verfügen und gegen die Kon¬ kurrenz der fremden Erzeugnisse geschützt werden. So bleiben denn in den Anfängen der staatlichen Handelspolitik auch die Mittel dieselben: man verbot die Ausfuhr der’ Rohstoffe (und Halbfabrikate) ebenso wie die Einfuhr der Fertigfabrikate.

In Spanien wird die Ausfuhr von (Nahrungsmitteln und) Rohstoffen schon während des 14. Jahrhunderts von den Königen, z. B. Arra- goniens, verboten. 1462 bestimmt Heinrich IV., daß bei der Ausfuhr von Wolle auf der einheimischen Produzenten Wunsch ihnen ein Drittel preiswürdig zu überlassen sei: diese Vergünstigung wird noch aus¬ gedehnt durch Gesetze von 1551, 1552, 1558, 1560- Im Jahre 1537 wird die Ausfuhr von Eisenerzen untersagt; 1548, 1550, 1552, 1560 wird die Lederausfuhr verboten.

In Frankreich gehen die ältesten Ordonnanzen, in denen die Könige die Ausschließungspolitik der Städte aufnehmen, auf Philipp III. zu¬ rück, der bereits 1278 die Ausfuhr der einheimischen Wollen verboten hatte. Die Ordonnanzen, in denen dieses Verbot erneuert und auf andere Rohstoffe und Halbfabrikate , wie Flachs , Färbematerialien, Garne, rohe Tücher usw., ausgedehnt wird, sind dann in den folgenden Jahrhunderten zahlreich: wir begegnen ihnen z. B. 1305, 1320, 1567, 1572, 1577 usf. Zu ihnen gesellen sich frühzeitig die Ordonnanzen,

1 Mitgeteilt bei Pf ihr am, 273.

382

Zweiter Abschnitt: Der Staat

die die Einfuhr fertiger Erzeugnisse , namentlich der Textilindustrie, verbieten : 1469 verbietet Ludwig XI. die Einfuhr der indischen Leinen, 1538 Franz I. die der Tuche von Katalonien und Perpignan, 1567 die der flämischen sayetteries ; 1567, 1572, 1577 wird die Einfuhr der draps d’or, d’argent et de soie verboten.

In England verbietet schon das Oxforder Parlament im Jahre 1258 die Wollausfuhr, Eduard II. die Ausfuhr von Weberkarden. Dann kommen diese Ausfuhrverbote wohl eine Zeitlang in Vergessenheit, als der Wollexport die große volkswirtschaftliche Bedeutung für Eng¬ land erlangt. Aber gegen Ende des 15. Jahrhunderts werden die alten Verbote wieder aufgenommen: 4 H. VII. c. 10; 22 H. VIII. c. 2; 37 H. VIII. c. 15 enthalten Wollausfuhrverbote , 2. u. 3. Edw. VI. c. 26 das Verbot der Ausfuhr weißer Asche. Unter Jakob I. wird die Ausfuhr nicht vollendeter Wollwaren verboten; 1648, 1660 wird das Verbot der Wollausfuhr wiederholt. Das Verbot bleibt dann bis 1825 in Kraft. Noch im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts sind die Bestrebungen zur Verhinderung der Wollausfuhr besonders lebhaft. James, Worsted Manufacture (1857), 301 ff. Vgl. auch J. Bon- wick, ßomance of the Wool Trade (1887), 14 ff. 167 ff.

Ebenso wie die Ausfuhr der Wolle war die der Häute verboten (1 El. c. 10; 18 El. c. 9) (eine Zusammenstellung der auf das Leder bezüglichen Gesetze findet sich in der Flugschrift Leather, A dis- course tendered to the High Court of Parliament 1629. Abgedr. in Soc. Engl, illustr. A Collection of XVIIth Century Tracts (1903), 331 ff.), ferner die von Hörnern (4 Edw. IV. c. 8; 7 Jac. I. c. 14); von Metallen (21 H. VIII. c. 10).

Und auf der andern Seite sind noch während des 15. Jahrhunderts zahlreiche Fertigfabrikate von der Einfuhr nach England ausgeschlossen : 33 H. VI. c. 5 (1455); 3 Ed. IV. c. 3 (1463); 22 E. IV. c. 3 (1483) verbieten die Einfuhr von Seide und verschiedener Seidenwaren ; 3 Ed. IV c. 4 die Einfuhr von fast hundert Artikeln aller Branchen.

Ganz ebenso lagen die Dinge in andern Ländern: zahlreiche Aus¬ fuhrverbote für rohe Häute und Felle, für Eichenrinde und Borke in den verschiedenen deutschen Staaten (Übersichten, bei Bergius, Neues Policey und Cam. Magaz. 4 (1778), 25 ff. 27); in Holland Ausfuhrverbote für Schiffsbaumaterialien (Laspeyres, 154).

Setzte der Fürstenstaat in den Einfuhr- und Ausfuhrverboten die städtische Wirtschaftspolitik nur fort, so hat er im weiteren Verlauf doch auch ein Mittel der Handelspolitik entwickelt,- das die frühere Zeit nicht gekannt hat und um dessentwillen man die ganze merkantilistische Handelspolitik oft als eine voll¬ ständige Neuerung kennzeichnet: den Schutzzoll.

Abgaben von den in Bewegung befindlichen Sachgütern zu erheben, war das ganze Mittelalter hindurch üblich gewesen : ur¬ sprünglich hatten diese Abgaben den Sinn der Gebühr gehabt, dann waren sie allmählich zur Steuerquelle für Herren und Städte geworden. Es war eine geniale Idee, diese Finanzzölle, wie wir sie

Vierundzwanzigstes Kapitel: Die Gewerbe- und Handelspolitik 383

heute nennen würden, den Zwecken des Industrieschlitzes dienst¬ bar zu machen. Wann diese Wandlung erfolgt ist, können wir mit voller Gewißheit nicht sagen 1 : vielleicht oder sogar wahrschein¬ lich ist die Umbildung des Finanzzollsystems in ein Schutzzoll¬ system ganz allmählich erfolgt, als ein Werk kasuistischer Politik.

Soviel wir zu sehen vermögen , tauchen in größerer Menge Schutzzölle in Frankreich und England während des 16. Jahr- hunderts auf: in England könnte man den Tarif von 1534, in Frankreich die Tarife von 1564, 1577 und namentlich den von 1581 als erste Schutzzolltarife ansprechen.

Bekannt ist, daß dann in den Tarifen Colberts von 1*664 und 1667 das Schutzzollsystem seine volle systematische Ausbildung erfahrt: hohe Ausfuhrzölle auf .Rohstoffe, hohe Einfuhrzölle auf Fertigfabrikate, Einfuhrerleichterungen für Rohstoffe, Ausfuhr¬ begünstigungen für Fertigfabrikate : dieses waren die Grundsätze der Politik, die wir ihres Vollenders wegen auch als Colbertismug/-' bezeichnen, und die ebenso wie die Monopolisierungspolitik alle Länder bis tief hinein ins 19. Jahrhundert beherrscht hat: in England, dem „Freihandelslande“ par excellence, wurde durch den Handelsvertrag, den Pitt im Jahre 1786 mit Frankreich schloß , die erste Bresche in das Hochschutzzollsystem gelegt, das bis dahin bestanden hatte. Trotz der Reformen Huskissons in den Jahren 1824 und 1825 fand die Peelsche Tarifreform des Jahres 1845 noch Zölle auf 130 verschiedene Artikel zum Ab¬ schaffen vor.

* *

*

Nun hieße es aber der Handelspolitik des Merkantilismus nur sehr unvollkommen gerecht werden, wollte man eine Maßnahme unerwähnt lassen, durch die die kapitalistischen Interessen eine ganz besonders starke Förderung erhielten: die Aufhebung der Binnenzölle. Die Grenze des alten Weichbildes war jetzt gleichsam an die Landesgrenze gerückt: das Gebiet aber, das von diesen eingeschlossen war, sollte einheitlich und durch keine Zollschranke in einzelne Teile zerschnitten sein. Besonders stark entwickelt war das Binnenzollsystem in Frankreich und Deutschland. In Frankreich gelang es Colbert (1664), wenigstens

1 Siehe für Frankreich: A. Callery, Les douanes avant Colbert et l’ordonnance de 1664, in der Revue historique, 7e annee, tome 18 (1882), 47 ff ; auch u. d. T. Histoire generale du Systeme des droits de douane aux XVI et XVII siecles, 1882; für England Hub. Hall,

A history of the Custom Revenue in England, 1885.

384

Zweiter Abschnitt: Der Staat

einen Teil der Binnenzollschranken anfznheben: diejenigen, die in den 20 „provinces des cinq grosses fermes“ bestanden, so daß seitdem Normandie, Picardie, Champagne, Bourgogne, Touraine, Poitou, Anjou mit Isle de France und Paris zu einem gleich¬ artigen Ganzen zusammengeschlossen waren. Die französische Revolution vollendete das Werk, während, wie bekannt, in Deutschland wenigstens die Staatsgrenzzölle (die etwa den fran¬ zösischen Provinzzöllen entsprachen) erst durch den Zollverein (1834) aufgehoben wurden.

. 3. Prämiierungen

Neben der Monopolisierung und dem Schutz durch künstliche Beeinflussung der Warenbewegung fanden sich aber noch andere Mittel der Privilegierung kapitalistischer Interessen in dem Arsenal der merkantilistischen Wirtschaftspolitik vor.

Man kann sie alle zusammen als „Unterstützungen“ oder „Prämiierungen“ bezeichnen, durch deren Gewährung man ent¬ weder die Menschen geneigt machen wollte, sich als kapitalistische Unternehmer zu betätigen, oder ihnen, wenn sie schon den Ent¬ schluß gefaßt hatten, eine Industrie oder einen Handel oder sonst eine gewinnbringende Beschäftigung auszuüben, die Mög¬ lichkeit verschaffen wollte, Profite zu machen.

S a v a r y 1 zählt in seinem Dictionnaire alle die Vergünstigungen auf, die der Staat den Unternehmern und den Arbeitern in den königlichen Manufakturen zuteil werden ließ. Es sind folgende :

1. die Unternehmer empfangen:

den erblichen Adel (die bedeutendsten); die Erlaubnis zur Naturalisation (wenn sie Fremde sind); Erlaß der Eingangszölle oder Ausfuhrzölle, die auf den von ihnen gebrauchten Rohstoffen oder gefertigten Fabrikaten ruhen ;

zinslose Darlehen auf mehrere Jahre;

Jahrespensionen (deren Höhe sich nach dem Erfolge ihrer Unternehmungen bemißt) ; die Erlaubnis des Salzbezuges zu Engrospreisen; die Erlaubnis, Bier für sich, ihre Angehörigen und ihre Arbeiter zu brauen;

Bauplätze für ihre Werkstätten; das Recht „Committimus“ ;

Befreiung von der Gewerbeaufsicht;

1 Savarv, Dict. du Comm, s. v. Mavmfactures 2, 632.

Vierundzwanzigstes Kapitel: Die Gewerbe- und Handelspolitik 385

2. die Arbeiter erhalten:

Steuerfreiheit ; das Meisterrecht.

Die Hauptsache waren für den Unternehmer natürlich die Zuschüsse, die er in bar aus der Staatskasse empfing. Das waren, zumal unter der Regierung Colberts, in Frankreich recht be¬ trächtliche Summen. Man hat berechnet, daß zwischen 1664 und 1683 zur Gründung oder Subventionierung industrieller Unternehmungen 1 800 000 1. ausgegeben worden sind : ohne die Manufactures d’Etat, die allein 3 Mill. 1. gekostet haben, ohne die Ankäufe, die Louis XIV. bei privilegierten Unternehmungen machte, und ohne die Pensionen, die den Unternehmern gewährt wurden. M. Guiffrey, der Verfasser der Comptes des bäti- ments du roi, kommt auf eine Gesamtsumme von öVa Mill. 1., die zur direkten Unterstützung der Textilindustrie ausgegeben wurden: 2 Mill. für Pensionen und Subventionen, 3 Mill. für Bestellung von Teppichen und Geweben. Außerdem wurden die Provinzen und die Städte veranlaßt, industrielle Unternehmungen zu finanzieren, und zahlreiche Etats provinciaux, namentlich die von Languedoc und Bourgogne 1 und Städte wie Lille , unter¬ hielten denn auch wirklich Industrien aus ihren Mitteln. „Allen Erfindungen wurde durch Privilegien und Protektion zu Hilfe gekommen, des Königs Kasse stand gleichsam an Märkten und Landstraßen und harrte derer, denen nur irgendeine Erfindung zu Gebote stand, um sie zu belohnen“. (Heinrich Laube)

Vielleicht nicht mit demselben Feuereifer und mit denselben Opfern an Geld, aber im Grunde doch mit gleichen Mitteln suchten die Fürsten allerorten die kapitalistische Industrie zu fördern. Insbesondere waren die Prämien bei der Ausfuhr fertiger Fabrikate namentlich auch in England beliebt2 * *. Oder man fand auf anderem Wege Gelegenheit, den Industriellen Zuwendungen zu machen: indem man z. B. Vorkaufsrechte, die der Krone zu¬ standen, an Kapitalisten abtrat, wie seit der Elisabeth die eng¬ lischen Könige es taten mit den Erzvorkaufsrechten, die sie gegenüber den Zinnbergwerken in Cornwall hatten8.

Dieselben Maßnahmen kehren in allen andern Ländern wieder.

1 Sie schießen (1667) 400 000 1. vor, um 200 Serge-Stühle auf¬ zustellen; in den folgenden Jahren fahren sie mit den Subventionen fort: Levasseur, Ind. 2, 241.

2 Cunningham, 2, 516.

2 G. R. Lewis, The Stannaries (1908).

Sombart, Der moderne Kapitalismus. I.

25

386

Zweiter Abschnitt: Der Staat

An Unterstützungen und Vorschüssen wurden in Österreich seit Mitte der 1760 er Jahr alljährlich 50—80000 fl. ausgegeben1.

II. Die Reglementierung

Wie die erste Grundidee des mittelalterlichen Wirtschafts¬ lebens: daß niemand wirtschaften solle, er habe denn von oben die Ermächtigung dazu erhalten , von dem Fürstenstaate über¬ nommen wurde, so nicht weniger streng die zweite: daß jeder¬ mann sein (wirtschaftliches) Verhalten den Anweisungen der Obrigkeit gemäß einzurichten habe. Ich nannte die erste Grund¬ idee die des Privilegs und nenne die andere die des Reglements, unter dessen Zwange die ganze frühkapitalistische Epoche eben¬ falls noch steht.

Was man wohl als die dem absoluten Staate eigene „Viel¬ regiererei“ bezeichnet: darin eben schlägt sich die Herrschaft dieser Reglementierungsidee nieder, von Friedrich n. und den italienischen Fürsten des Trecento angefangen bis zu den Stuarts und Louis XIV. oder Friedrich M. Was man in den Anfängen des absoluten Fürstentums als dessen Pflichten pries und als ein Ideal erstrebte wir hörten Burckhardt darüber , das wurde im 17. und 18. Jahrhundert Wirklichkeit in reichster Fülle. Horen wir, um was alles sich selbst in dem immer noch am wenigsten „reglementierten“ Lande: England, die Regierung (allerdings zur Zeit der Stuarts: ich wähle als Beispiel das Jahr 1630) kümmerte:

die Seide soll schlecht gefärbt sein: verordnet, daß nur Spanisch-Schwarz zum Färben genommen wird;

das Getreide wird knapp : verordnet, daß Freitag abend kein Abendbrot gegessen wird, noch an andern Fasttagen;

die Fischerei gedeiht nicht : verordnet : es wird eine Kom¬ mission zur Untersuchung eingesetzt;

die ausgeführten Tuche sollen zuweilen an Länge, Breite und Gewicht Defekte gehabt haben: verordnet die Bestellung von Kommissionen für Somerset, Wilts, Gloucester und Oxon, die die Aufseher beaufsichtigen sollen;

die Wollindustrie bedarf der Unterstützung: verordnet, daß Tuchstoffe nur aus heimischen Wollstoffen hergestellt werden;

falsche Färbung kommt vor: verordnet, daß kein logwood oder blockwood zum Färben genommen wird;

1 PHbram, a. a. O. S. 71 ff. 132.

Vierundzwanzigstes Kapitel: Die Gewerbe- und Handelspolitik 387

zu viel fremder Draht wird verbraucht: verordnet, daß kein fremder Draht mehr eingeführt wird usw.;

London droht übervölkert zu werden : verordnet, daß keine neuen Häuser in London und innerhalb drei Meilen errichtet werden ;

der Verbrauch von Tabak nimmt überhand: verordnet, daß in England kein Tabak gepflanzt werden soll 1 usw. usw.

Hier interessiert uns nur die Ordnung der wirtschaftlichen, insonderheit der gewerblichen und kommerziellen Tätigkeit (so¬ weit sie nicht schon in der Privilegierung enthalten ist), und es soll auf den folgenden Blättern versucht werden, festzustellen : worin die "Wesenheit dieser Ordnung im absoluten Staate be¬ standen hat : was aus früherer Zeit übernommen, was neu hinzu¬ gefügt wurde.

Da haben wir denn, was sich schon aus den Eino-anns- Worten ergibt, vor allem festzustellen : daß die in der Zunft¬ ordnung niedergeschlagene Wirtschaftsverfassung des Mittelalters in ihren Grundgedanken während der ganzen frühkapitalistischen Epoche unver¬ ändert in (Geltung geblieben ist. Das "Wirtschaftsrecht bleibt also grundsätzlich ein gebundenes.

"Was nun freilich nicht ausschließt, daß das absolute Fürsten¬ tum wesentliche Änderungen an der alten Wirtschaftsordnung vorgenommen hat, von denen im folgenden die Rede sein soll.

Zunächst ist in den Jahrhunderten des absoluten Staates die Zunftordnung in zahlreichen Punkten verschärft und ihre Geltung verallgemeinert worden. Die Ordonnanzen der französischen Könige seit dem Ende des IG. Jahrhunderts führen die Zwangsinnungen überall erst recht ein und führen den Zunftzwang streng durch: vor allem die beiden wichtigsten: die Ordonnanz Heinrichs IH. vom Dezember 1581 und Colberts Ordonnanz von 1673. Und als dann um die Mitte des 18. Jahr¬ hunderts viele Zünfte ihre Statuten erneuern, geschieht es mit der ausgesprochenen Absicht, durch die Neupublikation den Geist der Exklusivität zu stärken. Die Sammlung sei nützlich, meinten z. B. die Chaudronniers, „surtout quand il s’agira d’avoir affaire ä des marchands ou maitres de differentes communautes qui entreprennent continuellement contre le commerce de la dite

1 Die Texte der Verordnungen finden sich in Rymers Foedera 19, 187—235.

388

Zweiter Abschnitt: Der Staat

communaute au prejudice de ses droits et des differents arrets et sentences obtenues“ 1.

Auch die englischen Zünfte, die während des 16. bis 18. Jahr¬ hunderts neu gegründet werden, sind teilweise ausschließender und eno-er in ihren Grundsätzen als die des Mittelalters 2. Ebenso

o

ist es bekannt, daß in Deutschland das Zunftwesen während des 17. und 18. Jahrhunderts starrer und düsterer wird3.

Auch vermehrte sich die Zahl der Zünfte in dieser Zeit noch beträchtlich: in Paris gab es 1672 60, kurz nach Erlaß der Colbertschen Gewerbeordnung 83, 1691 schon 129 4 ; in Poitiers gab es Mitte des 16. Jahrhunderts 25, 1708 35, 1717 43 ge¬ schworene Handwerke 5.

Diese Verschärfung der zünftlerischen Tendenzen ging ja nun freilich vornehmlich das Handwerk an, und sie entsprang wohl großenteils der Bedrängnis, in die manche Handwerke durch das Fortschreiten des Kapitalismus gerieten. Aber zum nicht un¬ erheblichen Teil wurden doch auch die kapitalistischen Interessen durch die Neuerungen mit getroffen: so hatten beispielsweise alle jene Vorschriften der Statuten, die sich auf die Aufsicht der Gewerbe bezogen, also für die Güte des Fabrikats, die ordnungsmäßige Einrichtung der Betriebe usw., sorgten, ihr Hauptaugenmerk gerade auf die kapitalistische Industrie gerichtet. Wir hören das lebhafte Interesse an deren Reglementierung aus den Worten Colberts heraus, mit denen er die französische Gewerbeordnung des Jahres 1669 einleitet (in der 150 frühere Spezialordnungen aufgingen!): „Nous de- sirons remedier autant qu’il nous est possible, aux abus qui se commettent depuis plusieurs annees . aux longueurs , largeurs, force et bonte des draps, serges et autres etofies de laine et fil, et rendre uniforme toutes celles de mesme Sorte, nom et qualite, en quelque lieu qu’elles puissent estre fabriquees tant pour en augmenter le debit dedans et dehors nostre royaume que pour empescher que le public ne soit trompe!“ „II n’y a de plus im¬ portant“ als Reglements zu erlassen, hat er ein anderes Mal gesagt 6.

1 Siehe die Liste der neuen Statuten bei Levasseur, Ind. 2, 461 f.

2 Unwin, Ind. Org., 103 ff.

3 Siehe z. B. Stieda, Art. Zunftwesen in HSt.

4 Savary, Dict. Art. Corps et Com.

6 Boissonade, Essai sur l’origine du trav. en Poitou 2, 6. 15.

6 Depping, Introd. ä la correspondance administr. de Louis NIV Tome III p. IV/VI.

Vierundzwanzigstes Kapitel: Die Gewerbe- und Handelspolitik 389

Im 18. Jahrhundert werden die Reglements immer strenger, immer minutiöser : sie zählen bis 100 und 200 Artikel auf und enthalten immer mehr Produktionsanweisungen: die Gesetzgebung wird immer komplizierter. Bis 1683 hatte die Zahl der Regle¬ ments 48 betragen, von 1683 bis 1739 zählen wir 230 „edits arrets et reglements sur les arts et metiers“ h „Ein Wahnsinn hat die Zeitgenossen ergriffen, dessen man den menschlichen Geist niemals fähig gehalten haben würde“, ruft M1' Roland, der das Gewerbewesen für die Encyclopedie zu bearbeiten hatte, ganz entsetzt aus2.

In den übrigen Ländern lagen die Dinge nicht viel anders: die englische Textilindustrie war seit jeher in enge Fesseln gelegt (bis auf die Baumwollindustrie, die sich etwas freier entwickelte). Gesetze von 1329, 1469, 1484, 1585, 1593 u. a. regeln die Aus¬ maße der Stücke; Gesetze von 1515, 1518 ü. a. den Fabrikations¬ prozeß, das Markenwesen usw. Behufs Durchführung der Gesetze bestand eine strenge Gewerbeaufsicht, ebenfalls bis ins 18. Jahr¬ hundert hinein: im Jahre 1806 fand die Untersuchungskommission in der Wollindustrie allein noch 70 reglementierende Gesetze in Kraft.

In Holland finden wir im 17. und 18. Jahrhundert ganz genaue Bestimmungen über die Art der Fabrikation, die Art des Ver¬ kaufs, die obrigkeitliche Kontrolle usw., nicht nur als Überbleibsel aus dem Mittelalter, sondern häufig erneuert und vermehrt: „in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts suchte die Obrigkeit mehr als je die Hilfe für die Gewerbe in (deren) Gängelung“ (L a s p e y r e s). Es folgt V erbot auf V erbot, V erfälschungen vor¬ zunehmen: von Hopfen (1721), Milch und Käse (1727), Butter (1725), Indigo (1739) usf. In einem Gewerbezweig nach dem andern wird der Produktionsprozeß immer wieder neu geregelt: in der Wollweberei (1724), der Färberei (1767), der Hanfbereitung (1770, 1790), fier Bereitung der Kette für Segeltuch (1759) usw.

In Österreich dasselbe Bild 3 : Garnordnungen, Tuchordnungen, Leinwandordnungen. „Die österreichische Politik des 17. und 18. Jahrhunderts wandelt völlig in den Bahnen Oolberts. Die

1 Siehe Anm. 6 S. 388.

2 „C’est l’epoque d’un delire dont on n’aurait jamais cru l’esprit humain susceptible.“ Enc. meth. Mf. 1 , 4. Hier findet man auch unter dem Stichwort Reglement die sehr detaillierten Vorschriften der 1770 er und 1780 er Jahre im Wortlaut.

8 Pfibram, a. a. O. S. 76 ff.

Zweiter Abschnitt: Der Staat

*390

Ausdrücke: Reglementierung, staatliche Bevormundung, Polizei¬ aufsicht bezeichnen kurz das System, durch das die Regieiung nach Colbertschem Brauch auf das Gewerbe erzieherisch einzu- wirken suchte; Reellität der Produktion wollte man durch strenge Kontrollierung und Gleichartigkeit der Arbeit sichern ...

Am beliebtesten war die Reglementierung natürlich in der Standardindustrie jener Zeit: in der Textilindustrie. Aber auch in andern Gewerbezweigen war die Produktion strengen Regeln unterworfen: so enthalten die deutschen Blechhammel Ordnungen genaue Bestimmungen über Zahl und Größe der Blechhämmer, über Größe, Länge, Breite, Beschneidung, Verzierung usw. der Bleche1 2.

Ingleichen besitzen wir sehr peinliche Reglementierungen der Papierindustrie 3 usw.

Trafen diese Reglements die kapitalistische Industrie (und auch den kapitalistischen Handel) in manchen Fällen, weil es Gewerbe und Handel- waren (nicht weil sie in kapitalistischer Form betrieben wurden), so gab es doch eine Fülle von Be¬ stimmungen, gab es eine Menge von Maßnahmen, die neu getroffen wurden im Hinblick auf den kapitalistischen Charakter von Handel und Industrie, die geradezu eine Durchbrechung oder Umbiegung oder Weiterbildung der handwerksmäßigen Ordnung bedeuteten, mit denen also das absolute hürstentum wiederum den kapitalistischen Interessen vielfach auf Kosten des Handwerks zu dienen beflissen war.

Ich denke in erster Linie an die Beseitigung aller derjenigen Beschränkungen des zünftlerischen Gewerberechts, die den Zweck hatten, die Ausdehnung der Betriebe zu hindern: also der Be¬ schränkung in der Zahl der Gehilfen oder Produktionsmittel (Webstühle usw.). Entweder die neuen Industrien wurden aus¬ drücklich von diesen Gesetzen befreit oder in den Gewerbe¬ ordnungen selbst wurden diese einschränkenden Bestimmungen gestrichen: so enthielt das Statute of Artificers der Elisabeth zwar noch die Vorschrift einer mindestens 7jährigen Lehrzeit,

1 H. v. Srbik, 304; vgl. S. 286 ff.

2 Siehe z. B. die kurfürstl. sächsischen von 1660 und 1666, die abgedruckt sind in der Allg«m. Schatzkammer der Kaufm. 1 (1741), 585/86

3 Siehe z. B. die Regl. von 1671. 1730. 1739. 1741, die auf das genaueste die Papierind. von Angoumois regeln, bei P. Boissonade, L’ind. du papier en Charente. Bibi, du „Pays Poitevin“ Nr. 9 (1899),

13 ff.

Vierundzwanzigstes Kapitel: Die Gewerbe- und Handelspolitik 391

jedoch keine Beschränkung mehr in der Zahl der Lehrlinge, vorausgesetzt daß sie in einem richtigen Verhältnis zur Zahl der Arbeiter standen.

III. Die Unifizierung

Eine wesentliche Förderung der kapitalistischen Interessen bedeuteten aber vor allem diejenigen Maßnahmen der merkanti- listischen Politik, die man als die Nationalisierung der Zunftordnung bezeichnen kann, durch die alle Hindernisse beseitigt werden sollten, die die mittelalterlichen Städte im lokalen Interesse aufgerichtet hatten , durch die vor allem das Gewerberecht im ganzen Lande nach Möglichkeit vereinheitlicht wurde.

Diese Nationalisierung erreichte man entweder dadurch, daß der Staat als Aufsichts- oder Kontrollorgan an die Stelle der Stadt oder der Zunft trat; oder dadurch, daß man die Zünfte zu nationalen Verbänden machte; oder daß man von vornherein für neu auftauchende Gewerbezweige nationale Zünfte ins Leben rief. Entsprechend der Umbildung, die die Wirtschaftsform in jener Zeit gerade in zahlreichen Gewerben erlebte: aus dem Handwerk in die Hausindustrie, empfingen die neuen nationalen Zünfte von vornherein schon den Charakter von Hausindustrie - ordnungen: demjenigen Typ des staatlichen Gewerbevereins, der in allen Ländern während des 17. und 18. Jahrhunderts neu und massenhaft auftaucht und der Gewerbefassung jener Zeit ihr eigentümliches Gepräge verleiht. Es ist hier nicht der Ort, diese Wandlungen im einzelnen zu verfolgen: sie sind durch eine .Reihe guter Bücher in ein besonders helles Licht gerückt und jedem, der sich mit der frühkapitalistischen Epoche beschäftigt hat, ganz und gar vertraut. Ich gebe nur der Vollständigkeit halber ein paar Hinweise auf einige der wichtigsten Gesetze und Verordnungen.

Die Nationalisierung des Zunftwesens beginnt in Eng¬ land und Frankreich, den dort herrschenden starken Einheitstendenzen gemäß , bereits während des Mittelalters ; unter den letzten Planta¬ genets und den ersten Valois: die Ordonnanzen von 1307, 1351 und 1383 tun die ersten Schritte. Sie wird vollendet in beiden Ländern ungefähr gleichzeitig: in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts: in England durch die Statute of Artificers und Statute of Apprentices der Elisabeth; in Frankreich durch die Ordonnanzen Heinrichs III. von 1581 und Heinrichs IV. von 1597. Der Inhalt dieser Gesetze war im wesentlichen derselbe : die Zunftverfassung wird bestätigt, aber ihres lokalen Charakters entkleidet. In den englischen Gesetzen werden

892

Zweiter Abschnitt: Der Staat

ausdrücklich nationale Zünfte errichtet, zum Teil auf den Trümmern der lokalen, deren Kompetenz in der Aufsicht über das Gewerbe be¬ steht und vom Könige sich ableitet. In den französischen Ordonnanzen wird ausdrücklich Freizügigkeit innerhalb gewisser Grenzen gewährt: jeder Meister kann sich in seinem Gewerbe auch an einem andern Orte innerhalb derselben bailliage oder Senechaussee ohne weiteres niederlassen: nur nicht in Paris; die Pariser Meister können sich ohne weiteres im ganzen Königreich niederlassen.

Diesen Grad der Vereinheitlichung wie in Frankreich und England hat das Zunftwesen in den übrigen Ländern, namentlich auch in Deutschland, vor der Einführung der Gewerbefreiheit nicht erreicht.

Immerhin versuchte die Reichszunftordnung vom 16. August 1731 (in Österreich als Generalzunftpatent am 16. November 1731 verkündet) in gleichem unifizierenden Sinne zu wirken wie die entsprechenden westeuropäischen Gesetze, während die größeren deutschen Einzel¬ staaten ( Brandenhurg-Preufsen 1668) selbständig das Zunftwesen zu ordnen , das heißt , wie man es bezeichnen kann , zu verstaatlichen bemüht waren.

Die wichtigste Maßregel aber, um das Zunftwesen mit den An¬ forderungen der kapitalistischen Organisation in Einklang zu bringen, war die Schaffung neuer, eigenartiger Verbände für die aufkommenden Hausindustrien oder hausindustrieähnlichen Arbeitsverfassungen, die vielfach noch zwischen Handwerk und Kapita¬ lismus in der Mitte standen. Solche Hausindustrieordnungen werden in Frankreich und England wiederum ziemlich gleichzeitig während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts in großer Fülle ins Leben gerufen: in Frank¬ reich gehören hierher die Kürschner- Ordonnanz von 1583, die Hosen- macher-O. von 1575, die Gürtler-O. von 1575, die Handschuhmacher- 0. von 1656, vor allem aber die Lyoner Seidenweber - 0., die ihre Vollendung 1700 findet. Für die Pariser Gewerbe ist der 3. Band von Les pinasse, Metiers de Paris, zu Rate zu ziehen; für die Lyoner Seidenweber-O. die Spezialliteratur über die Lyoner Seiden¬ industrie, unter der Godard, L’ouvrier en soie (1899), hervorragt. Vgl. auch A. du Bourg, Tableau de l’ancienne Organisation du Travail dans le midi de la France, und H. Hauser, Les questions industr. et comm. dans les cahiers de la Ville et des Communautes de Paris aux Etats generaux de 1614, in der Vierteil ahrsschrift für Soz. u. WG. 1, 376 ff.

In England haben wir als entsprechende Gebilde die Tuchmacher- Company, die Gilde der Gerber, Goldschmiede, Galanteriewarenhändler (haberdashers), Maßschneider, Eisenhändler, Sattler, Messerschmiede, Lederhändler, Schwarz schmie de, Gürtler, Tischler, Zinngießer (pew- terers) u. a. : alle ungefähr aus derselben Zeit, dem Zeitalter der Elisabeth. Ein besonders lehrreiches Beispiel für die Neuzünfte auf kapitalistischer Basis ist die Company of Stationers, in der Verlegei' und Drucker zu gemeinsamem Werke geeint waren. Über die Ver¬ bände der englischen Hausindustrie hat jetzt das Unwinsche Buch neues Licht verbreitet.

Vienmdzwanzigstes Kapitel: Die Gewerbe- und Handelspolitik 393

Ganz dieselben Verbände finden wir dann aber auch in andern Ländern; in Holland wird 1752 die Betttucliweber- und Seidenband- webergilde, 1756 die Spitzentuchwebergilde gegründet.

In Deutschland sind die bekanntesten Beispiele die der Solinger Schwert- und Messerschmiede, der Calwer Zeughandlungskompagnie, der fränkischen Strumpfwirker, der H. -J. - Verbände in der Sonne¬ berger Spiel Warenindustrie. Zur Orientierung über die deutschen Ver¬ hältnisse dienen noch außer den genannten Schriften: A. Thun, Industrie am Niederrhein. Bd. II (1879); W. Tr 0 eit sch, Die Calwer Zeughandlungskompagnie. 1897; Georg Schanz, Zur Geschichte der Colonisation und Industrie in Franken. 1884; dazu: Schmoller, in seinem Jahrb. 11 (1887), 369 ff. ; Louis Bein, Die Industrie des sächsischen Voigtlandes. 1884; G. Schmoller, Das Recht und die Verbände der Hausindustrie, in seinem Jahrb. 15 (1890), 1 ff.; H. Dressei, Die Entwicklung von Handel und Industrie in Sonne¬ berg (1909), 55 ff.

Die gleichartige Entwicklung in Österreich ist dargestellt von Pfibram, a. a. 0. S. 42 ff.

394

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Die Verkehrspolitik

Literatur

Zahlreiche Monographien, die ich im 2. Bande bei der Darstellung des Verkehrswesens anführen werde. Eine zusammenfassende Behand¬ lung haben wenigstens einige Teile der Verkehrspolitik des absoluten Staates in Frankreich erfahren in dem ausgezeichneten Quellenwerke von E. J. M. Vignon, Etudes historiques sur l’administration des voies publiques en France aux 17 et 18 siecles. 4 Vol. 1862 bis 1880. Auch viele der im vorigen Kapitel genannten Schriften befassen sich mit der Verkehrspolitik.

I. Maßnahmen zur Förderung privater Unternehmer

Die merkantilistische Verkehrspolitik bedient sich zum Teil derselben Mittel wie die Gewerbe- und Handelspolitik, um ihren Zweck: „Hebung des Verkehrs“, zu erreichen. Die wichtigsten Maßregeln dieser Art sind folgende:

1. Monopolisierung und Privilegisieruug

Verkehrsmonopole schufen die der nationalen Schiffahrt (als Ganzes) gewährten Vergünstigungen: wenn etwa die Be¬ förderung der Waren zwischen bestimmten Plätzen, insbesondere der Verkehr in den Häfen des Landes, den Schiffen des eigenen Landes Vorbehalten war.

Die merkantilistische Schiffahrtspolitik , die wiederum nur eine Fortsetzung der städtischen Schiffahrtspolitik ist, trägt überall den¬ selben stark protektionistischen Zug. Am ausgeprägtesten, wie bekannt, in England , wo die Monopolisierungstendenzen schon unter Richard II. beginnen: 5 Richard II. c 3 bestimmt: „none of the Kings subjects should bring in or carry out any merchandise but in English ships.“ Eine Weiterbildung erfuhr diese Politik unter dem ersten Tudor, dann erlebte sie einige Rückschläge, wurde aber seit Elisabeth (Verbot der Küstenschiffahrt für fremde Schiffe !) wieder aufgenommen und erreichte in Cromwells Navigation act (1651) ihren Höhepunkt, auf dem sie bis ins 19. Jahrhundert verharrt ist. Die berühmte Navi¬ gationsakte bestimmte aber:

1. daß Waren asiatischen, afrikanischen oder amerikanischen Ur¬ sprungs, sei es aus britischen Kolonien oder aus andern Gebieten,

Fünfundzwanzigstes Kapitel: Die Verkehrspolitik

395

nach England und Irland nur auf Schilfen eingeführt werden durften, die britischen Untertanen gehörten und der Mehrzahl nach mit solchen bemannt seien;

2. daß die aus europäischen Ländern stammenden Waren nur auf englischen Schiffen oder Schiffen derjenigen Länder, aus denen die Waren kamen, eingeführt werden durften;

3. Vorbehalt der Fischerei für englische Schiffe;

4. Vorbehalt der Küstenschifffahrt für englische Schiffe.

Ähnliche Maßnahmen in Frankreich: Nach der Ord. vom 8. Febr.

1555 durften Franzosen nur französische Schiffe befrachten; 1659 wurde das „droit de fret“ eingeführt: eine Differential taxe von 50 sols von der Tonne ausländischer Schiffe; 1670 wurde der Verkehr mit den Kolonien französischen Schiffen Vorbehalten usw. Siehe die Zusammenstellung bei Lexis, Art. Schiffahrt im HSt. 7, 258 ff.

Auf dem Wege der Monopolisierung und Privilegisierung be¬ strebt man sich aber auch, die Verkehrseinrichtungen im Lande zur rascheren Entwicklung zu bringen.

Der Verkehr auf den Land- und Wasserstraßen ist ins¬ besondere der Briefverkehr frühzeitig in den meisten Staaten zum Regal erklärt worden.

2. Prämiierung

Alle seefahrenden Staaten haben sich die größte Mühe ge¬ geben, mittels eines kunstvollen Prämiensystems die nationale Schiffahrt zu fördern. Schon in den italienischen Staaten, dann in Spanien (Gesetz von 1498), in Frankreich und namentlich in England finden wir die Prämiierung des Schiffsbaues als eine ständige Einrichtung: Elisabeth und Jakob I. vergüten 5 s. für jede Tonne bei Schiffen über 100 t, Karl I. (1626) dieselbe Summe bei Schiffen über 200 tj; Cromwell setzt diese Politik fort, die das ganze 18. Jahrhundert hindurch noch in Übung bleibt2.

Zu diesen baren Prämien kamen andere Vergünstigungen des Schiffsbaues: unter Elisabeth traf Burleigh Fürsorge für die Produktion von Holz, Hanf, Seilerwaren; für Beförderung der Seefischerei (um Matrosen heranzubilden) usw. Und auch diese Politik wird in England während des 17. und 18. Jahrhunderts fortgesetzt 2.

3. Unifizierung

Die Verkehrspolitik des absoluten Staates machte sich zur

Aufgabe, das öffentliche Verkehrsrecht in einheitlicher

Weise zu ordnen und den Bedürfnissen des reger gewordenen

*

1 Anderson, Orig. 2, 318.

3 Cunningham, (jrowtk 2, 483 ff.

396

ZAveiter Abschnitt: Der Staat

Verkehrs anzupassen: das Markt- und Meßrecht, das Maß- und Gewichtswesen, zum Teil auch, wie wir sehen werden, das Münz- und Geldwesen wurden vom Staate für sein Gesamtgebiet neu gestaltet.

II. Selbsttätige Förderung der Verkehrsinteressen

durch den Staat

Die Eigenart des Verkehrs und seiner Bedingungen brachte es mit sich, daß der Staat, wollte er die Entwicklung des Ver¬ kehrswesens befördern, sich genötigt sah, vielfach selbst Hand anzulegen und Verkehrseinrichtungen aus eigener Initiative zu schaffen. So richtet die moderne Fürstengewalt ihr besonderes Augenmerk auf die Verbesserung der Land- und Wasserstraßen und trägt für die erste Organisation des Verkehrs im Innern des Landes Sorge: die Anfänge der staat¬ lichen Post fallen in diese Periode.

Vor allem die französischen Könige von Philipp dem Schönen an, der schon die Seine bis Troyes schiffbar machte, haben auf diesem Gebiete Großes geleistet: seit Heinrich IV. war das Ver¬ kehrswesen zentralisiert durch die Einrichtung des grand voyer de France, deren erster Vertreter Sully war. Ausgaben für den Bau von Wegen und Brücken erscheinen nun regelmäßig im Staatsbudget: sie betrugen schon in der Zeit Heinrichs IV. im Jahre etwa 400 000 liv. 1 Dazu kamen die Ausgaben der Provinzen und der Städte.

Im Jahre 1609 wurden 870000 1. für Schiffbarmachung von Flüssen ausgegeben, genau wie Sully uns in seinen Memoires berichtet, „pour divers canaux, pour rendre communicables plusieurs ri vieres, comme Loire, Seine, Aisne, Veile, Vienne et Chin“. Unter Sully wurde der erste Kanalbau in Frankreich begonnen 2 : der Canal de Briare , der nicht nur dazu dienen sollte, die Versorgung der Hauptstadt zu erleichtern, sondern auch das Mittelmeer mit dem Ozean zu verbinden (einstweilen Seine und Loire). 6000 Mann Truppen wurden bei dem Bau be¬ schäftigt. Der 1605 begonnene Bau wird 1642 vollendet.

Unter Colbert wurde diese Politik mit Entschiedenheit weiter¬ geführt: die Straßen werden verbessert; Flüsse korrigiert; der

1 Siehe die genauen Ziffern der Ausgaben für Verbesserung der Land- und Wasserstraßen in den Jahren 1600 1661 bei Vignon, Voies publiques. App. au tome premier p. 2 im 4. Vol. des ganzen Werkes.

2 Vignon, 1. c. 1, 61. *

Fünfundzwanzigstes Kapitel: Die Verkehrspolitik

397

große Kanal zwischen dem Mittelmeer (Rhone) und dem Atlan¬ tischen Ozean (Garonne), der Canal du midi, wird unter Leitung von Riquet erbaut (1666—1681). Die Ausgaben beziffern sich in den Jahren 1666 1683 L

für Brücken und Wege .... auf 4860489 livres tourn.

das Pflaster von Paris ... 1436641

Kanalbauten . 9619315

» Hebung d. Verkehrswege insgesamt 15916445 livres tourn.

In den Jahren 1737 1769, für die wir die genauen Auf¬ stellungen besitzen, schwankten die Ausgaben für die genannten Zwecke zwischen 2 297 001 liv. und 4011125 liv. , hielten sich aber in den letzten Jahren nahe an 4 Mill. liv.

In England wurde die Fürsorge für die Landstraßen den An¬ wohnern, die für den Bau künstlicher Wasserstraßen dem Privat¬ kapital überlassen1 2 3. Die Flußkorrektionen führte die Regierung aus s.

In Deutschland waren es einige der westdeutschen Territorien, die seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts den Chausseebau, war es vor allem Brandenbimg-Preußen , das seit dem Großen Kur¬ fürsten den Kanalbau von Staats wegen betrieben.

Da jedoch die staatliche Verkehrsfürsorge sich engstens mit den Bestrebungen Privater berührt, da sich ein Urteil über die Leistungen der positiven Verkehrspolitik nicht fällen läßt, ohne auf die tatsächliche Gestaltung der Verkehrs Verhältnisse einzu¬ gehen, da diese aber noch andere als staatliche Bedingungen für ihre Entwicklung haben, so habe ich mir ein näheres Eingehen auf die Maßnahmen der staatlichen Verkehrspolitik sowie eine Würdigung ihrer Erfolge Vorbehalten für die Darstellung des Verkehrswesens im zweiten Bande. Auf diese verweise ich den Leser, dem die hier gegebene Übersicht allzu dürftig er¬ scheint. Dort findet er auch eine eingehende Behandlung des Postwesens, dessen Organisation in vielen Ländern vom Staate ausging und deshalb genau genommen einen Teil der staatlichen Verkehrspolitik oder Verkehrsver’waltung bildet. Eine so strenge Scheidung der verschiedenen Seiten eines und desselben Tat¬ sachenkomplexes, wie es dem Bedürfnis einer sauber durch¬ geführten Stoffanordnung entsprechen würde, verbietet sich oft aus sachlichen Gründen.

1 Vignon, 1. c. 1, 183.

2 Cunningham, 2, 532 ff.

3 F orb es- A shford, Our Waterways (1906), Gl f. 64 f.

398

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Das Geldwesen

Vorbemerkung

Das Kapitel über das Geldwesen nimmt im Rahmen dieses Ab¬ schnittes eine Sonderstellung ein. Wie der Leser weiß, ist dieser im wesentlichen der Darstellung derjenigen Lebensäußerungen des modernen Staates gewidmet, die eine Förderung der kapitalistischen Wirtschafts¬ weise bedeuteten. Das gilt nun aber für einen großen Bestandteil der staatlichen Geldpolitik gewiß nicht, die vielmehr als „Hemmungen der kapitalistischen Entwicklung angesehen werden müssen, obwohl sie (ungewollt vom Gesetzgeber) auf Umwegen sehr häufig zur Ent¬ faltung gerade kapitalistischen Wesens beigetragen haben. Nun lassen sich aber diese Bestandteile aus dem Ganzen der staatlichen Geldpolitik nicht aussondern, ohne das Verständnis der übrigen, auch vorhandenen, der Entfaltung kapitalistischen Wesens günstigen Maßregeln zu er¬ schweren. Ja um den Sinn der staatlichen Münz- und Währungs¬ politik von Grund aus zu verstehen, ist es sogar unvermeidlich, die tatsächliche Gestaltung des Geldwesens selbst wenigstens in einigen besonders hervorragenden Erscheinungen zu skizzieren, wobei auf die Zeit des Mittelalters zurückgegriffen werden muß. Andererseits bleibt nun aber das Gebiet des Geldwesens eine Provinz der staatlichen Verwaltung und tritt der wirtschaftenden Welt als Gegebenheit gegen¬ über, bleibt in seiner Ganzheit „Grundlage“, weshalb es nicht in die Darstellung des Ablaufs des wirtschaftlichen Prozesses, die im zweiten Band gegeben wird, verwiesen werden kann wie das Verkehrswesen.

Das Ergebnis all dieser Erwägungen ist die folgende Skizze, die (nach kurzer theoretischer Orientierung) den Versuch darstellt, den Verlauf der Geldgeschichte im Zeitalter des Früh¬ kapitalismus zu schildern. Einen Teil dieser Geschichte : die Ver¬ wandlung der Edelmetalle in gemünztes Geld, kann ich aber erst dort erledigen, wo ich die Verwertung der Edelmetalle und ihren Zusammen¬ hang mit der Preisbildung erörtere, nämlich im 36. Kapitel.

Daß es dabei wie immer nur auf die Hervorhebung einiger Haupt¬ punkte abgesehen ist, versteht sich von selbst. Ich möchte mir zur Charakterisierung der Art dieses „Abrisses der Geldgeschichte“ die Wendung eines der ersten Münzforscher (H. Grote) zu eigen machen, der seine meisterhafte „Übersicht der Geschichte des deutschen Geld- und Münzwesens und der jetzigen Münzsorten“ (in seinen „Münz¬ studien“ 1 [1855], S. 139 ff.) mit den hübschen Worten einleitete: „ich Avill kein Schwimmlehrer sein, sondern ein Pfahl mit der Inschrift: ‘Untiefe’.“ Das Hauptaugenmerk ist auch hier auf den Nachweis der Gleichförmigkeit der Entwicklung in den Hauptländern Europas gerichtet.

Sechsundzwanzigstes Kapitel: Das Geldwesen

399

Quellen und Literatur

Zu I (Verkehrs ge ld und Staatsgeld). Es genügt, wenn ich einerseits auf das Buch von G. F. Knapp, Staatliche Theorie des Geldes (1905; 2. Aufl. 1912), verweise und aus der älteren Literatur Karl Marx, Zur Kritik der pol. Ökonomie (1859), nenne. Marx kann repräsentativ für alle modernen „metallistischen“ Geld¬ theoretiker stehen, die sämtlich (wie z. B. Knies und Meng er, um die beiden bedeutendsten zu nennen) in seinen Bahnen wandeln.

Zu II (Metallgeld). Literatur und Quellen sind hier zweifacher Art. In Betracht kommen Werke sowohl münzgeschichtlichen als geldgeschichtlichen Inhalts. Nach Menge und Güte sind die beiden Gruppen außerordentlich verschieden. Die münzgeschichtliche (numismatische) Literatur ist (soviel ich zu beurteilen vermag) in glänzendem Zustande : spezielle Bearbeitungen sind ebenso zahlreich und gut wie zusammenfassende Darstellungen. Eine Keihe vortreff¬ licher Zeitschriften sorgt für eine methodische Behandlung einschlägiger Fragen. Für unsere Zwecke genügt es , wenn ich hier die beiden neuesten Publikationen namhaft mache, die wohl auch auf lange Zeit hinaus einen Höhepunkt der wissenschaftlichen Entwicklung bilden werden: als Materialiensammlung das große Werk von A. Engel et R. Serrure, Traite du numismatique du moyen äge. 3 Vol. 1894 bis 1901, und A. Engel et R. Serrure, Traite du numismatique moderne et contemporain. (16.— 18. sc.) 1897 ff. ; als systematische Bearbeitung das ausgezeichnete Buch von A. von Luschin von Ebengreuth, Allgemeine Münzkunde und Geldgeschichte des Mittel¬ alters und der neueren Zeit. 1904 ; wobei ich allerdings den Ton auf Münzkunde legen möchte, da diese es ist, die jene meisterhafte Behandlung erfahren hat; während der geldgeschichtliche Teil des Buches ganz erheblich an Wert gegenüber dem andern zurücksteht. Trotzdem wird man auch die Darstellung der Geldgeschichte bei Luschin mit Dank entgegennehmen müssen, weil sie als all¬ gemeine zusammenfassende Behandlung des Gegenstandes doch in neuerer Zeit auch kaum ihresgleichen hat. Was insbesondere der Nationalökonom an ihr vermissen wird: den geldtheoretisch festen Untergrund und damit auch die spezifisch nationalökonomische Problemstellung, das findet er in den Artikeln von Lexis im H.St. (Edelmetalle, Doppelwährung, Gold, Silber, Münzwesen). Sie stellen wohl das höchste dar, das die Wissenschaft bisher auf geldgeschicht¬ lichem Gebiete an systematischer Betrachtung geleistet hat. Nur daß sie ihrer Zweckbestimmung entsprechend die Darstellung in zer¬ stückelter und aphoristischer Form bringen (und leider! un¬ endlich schwer zu lesen sind). Außer jenen Artikeln kommen von neueren Bearbeitungen allgemeiner Natur (da die Bücher Del Mars auf geldgeschichtlichem Gebiete ihrer Kritiklosigkeit wegen völlig ver¬ sagen) noch Ad. Wagners einschlägige Abschnitte in seiner Theoret. Sozialökonomik. 2. Bd. 1909, sowie das Buch von W. A. Shaw, The History of Currency 1252 to 1894 (2. Aufl. 1896, von mir ist die Auflage' von 1894 benutzt) in Betracht: eine gewiß auch hochverdienstliche, un-

400

Zweiter Abschnitt: Der Staat

ersetzliche Leistung. Nur daß Shaw doch im wesentlichen nur ein Problem der Geldgesehichte (wenn auch eines der allerwichtigsten) behandelt: den Kampf zwischen Staat und Verkehr um das Geld (wie man kurz sagen kann). Vgl. auch die Einleitung zu dem unten ge¬ nannten Buch von E. Nübling. Andere gute geldgeschichtliche Arbeiten der letzten Jahre behandeln kleinere Ausschnitte aus dem großen Ganzen: einzelne Epochen des Geldwesens in Köln, Branden¬ burg-Preußen, Pommern, Florenz, Wien, im Elsaß, in England usw. Besondere Hervorhebung verdienen die gründliche „Münz- und Geld¬ geschichte der im Großh. Baden vereinigten Gebiete“, herausgegeben von der Badischen Histor. Kommission, bearbeitet von Dr. Julius Cahn. I. Teil. Konstanz und das Bodenseegebiet im Mittelalter. 1906, ferner die Darstellung des preußischen Münzwesens im 18. Jahr¬ hundert, in den Acta bor. 1904 lf. Bearbeiter: F. Frh. v. Schrötter; sowie das Buch von Alfr. Schmidt, Geschichte des englischen Geldwesens im 17. und 18. Jahrhundert. 1914.

Dagegen fehlt es leider, soviel ich sehe, ganz an brauchbaren und umfassenden Herausgaben von Urkunden zur Geldgeschichte, so daß wir noch immer auf die älteren, zum Teil recht alten Sammel¬ werke zurückgreifen müssen. Eine sichtende Publikation der wichtigsten Münzordnungen, Ordonnanzen, Reichstagsabschiede usw., das Geld¬ wesen aller europäischen Staaten betreffend, wäre eine dankens¬ werte Aufgabe. Einstweilen geben wohl folgende Werke die beste Auskunft :

über Frankreich: Le Blanc, Traite historique des monnoies de France. 1690. (Dupre de St. Maur), Essai sur les mon¬ noies etc. 1746.

über Italien: Ph. Ar ge latus, De monetis Italiae varior. illustr. viroi’um dissertationes. 6 Vol. 1750 59; enthält außer den Diss. eine reiche Urkundensammlung.

über England: Ru ding, Annals of the Coinage of Britain. 8 Vol. 1840. W. A. Shaw, Select Tracts and Documents illustrative of English Monetary History 1626 1730. 1896; enthält Ab¬

handlungen, kein Gesetzesmaterial.

über Spanien: A. Heiss, Descripcion general de las monedas Hispano - Cristianas. 3 Vol. 1865 69; bringt außer der Münz¬ beschreibung ein wertvolles Belegmaterial zur Münz- und Geld¬ geschichte.

über Deutschland: Melchior Goldast, Catholicon rei monetariae sive leges monarchicae generales de rebus numariis et pecu- niariis etc. 1620. Joh. Chr. Hirsch, Des Teutschen Reichs Münz-Arcliiv. 9 Bde. in fol. 1756 68. Allerlei interessantes Material, meist aus den Ulmer Ratsprotokollen, findet man bei Eugen Nübling, Zur Währungsgeschichte des Merkantilzeit¬ alters. Ein Beitrag zur deutschen Wirtschaftsgeschichte. 1903. Für Brandenburg-Preußen liegt jetzt die schon erwähnte Publi¬ kation in den Acta bor. vor.

Zu III (Banco-Geld). P. J. Marperger, Beschreibung der Banquen (1717), beschreibt (unter Anführung der Bankordnungen) im 7. 10. Kapitel die vier bekannten Girobanken seiner Zeit.

401

Secjisundzwanzigstes Kapitel: Das Geldwesen

Über sie unterrichtet ebenfalls die Allg. Schatzkammer der Kauf'm. unter den verschiedenen Schlagworten. Vgl. noch 0. Hübner, Die Banken. 1854 (der aber alle Arten von „Banken“ durcheinanderwirft), und R. Ehrenberg im HSt. 23, 860 ff.

Uber die Amsterdamsche Wisselbank insbesondere: Le Mo ine de l’Espine, Le negoce d’A. (1710): Ch. I et II; Ricard, Le nögoce d’A. (1723); Ch. XXVI.

Über die Hamburger Girobank: Levy von Halle, Die Ham¬ burger Girobank und ihr Ausgang. 1891.

Andere Spezialliteratur gebe ich noch im Text an.

Zu IV (Papiergeld). Es genügt, da das Thema hier noch nicht von Grund auf erörtert wird , der Hinweis auf die verschie¬ denen Aufsätze unter dem Stichwort „Banken“ und „Papiergeld“ im HSt., wo auch die geschichtliche Entwicklung in den Grundzügen dar¬ gestellt ist, und auf die dort genannte Literatur.

I. Verkehrsgeld und Staatsgeld

Für die im folgenden zur Behandlung gelangenden Probleme ist die scharfe begriffliche Unterscheidung der beiden in der Tiberschrift genannten Gelder unerläßliche Bedingung.

Knapp, wenn er das Geld für eine staatliche Einrichtung, für ein „Geschöpf der Rechtsordnung“ hält, hat gewiß Recht; aber Marx, wenn er das Geld als „allgemeines Warenäquivalent“ definiert, ganz gewiß auch. Das bedeutet, daß wir mit dem Worte Geld zwei recht verschiedene Dinge be- zeichn e n , wie die folgenden Besinnungen zeigen werden.

Einigkeit herrscht darüber, welche „Funktionen“ in der Ver¬ kehrswirtschaft jenes Etwas ausübt, das wir Geld nennen, das wir aber auch als G oder X bezeichnen können. Es dient dazu :

1. „Tauschwerte“ zu messen: es ist Ausdruck aller Tauschwerte ;

2. Tauschakte zu vermitteln: es ist allgemeines Austausch- und Zirkulationsmittel; 3. Tauschwerte zu übertragen: es ist all- gemeines Zahlungsmittel; 4. Tauschwerte aufzubewahren : es ist Schatzbildungsmittel.

Der Streit beginnt, wenn es sich darum handelt, festzustellen, was dieses „Etwas“ ist; worin sein „Wesen“ bestehe.

Nun scheint mir diese Frage nach der „Wesenheit“ des Geldes nicht sehr glücklich zu sein, so daß ich an ihre Stelle lieber die andere setzen möchte : was (welche Autorität) bewirkt es , daß ■jenes unbestimmte Etwas die Funktionen ausübt, die wir es tat¬ sächlich ausüben sehen; woher leitet es seine „Kompetenz“ her?

Sombart, Der moderne Kapitalismus. I. - 2<3

402

Zweiter Abschnitt: Der Staat

Denn nur diese Frage ist es, deren Antwort in den Bereich eines sozialwissenschaftlichen Interesses fällt. Gerade wie den Ver¬ waltungstheoretiker an der Frage: was ist ein Polizist? (das heißt also ein Mann, der die und die Funktionen ausübt) nur die Alternative interessiert: ob er ein Organ dieser oder jener Behörde ist.

Stellen wir die Frage nach dem „Wesen“ des Geldes so, dann ergibt sich eben, daß mit dem Worte zwei ganz und gar ver¬ schiedene Dinge bezeichnet werden, weil jenes Etwas seine Machtvollkommenheit, Ausdruck aller Tauschwerte, allgemeines Austauschmittel usw. zu sein, aus zwei ganz verschiedenen Quellen ableitet. Im einen Falle ist es der stillschweigende Consensus aller an einer Verkehrsgesellschaft teilnehmenden Personen, das andere Mal ist es der Willkürakt der rechtsetzenden Gewalt (des Staates), was dem Etwas jene autoritative Stellung verleiht; und das wir nun je nach dem Ursprung seines „Geltens“ als Verkehrsgeld oder Staats geld1 bezeichnen können.

Ist am Ende der Umkreis der Funktionen des Verkehrs- wie des Staatsgeldes derselbe, so wird er doch von zwei ganz ver¬ schiedenen Punkten aus erfüllt: das Verkehrsgeld nimmt seinen Ausgang immer von der Funktion des Tauschwertmaßes oder Tauschaktvermittlers, die immer nur ein Gebrauchsgut mit eigenem Wert, das zur Ware geworden ist, ausüben kann: im Anfang ist ein Sachgut (oder eine Wertung). Das Staatsgeld dagegen kommt auf die Welt als Zahlungsmittel, das von da aus die übrigen Funktionen des Geldes auszuüben sich unterfängt: seine Anfangsfunktion auszuüben, wird es befähigt dadurch, daß es vom Staate mit der Macht ausgestattet wird, gesetzliche Ver¬ bindlichkeiten zu begleichen, daß es zum „gesetzlichen“ Zahlungsmittel erklärt wird: im Anfang ist ein Staatsakt.

Was der Staat (in der Währung) für Geld erklärt, das heißt also immer nur : welchem Ding er gesetzliche Zahlungskraft ver¬ leiht, steht (formal) völlig in seinem Belieben: ob alten Hüten oder Papierzetteln oder Metallen. „Weshalb sollen nicht Stücke aus beliebigem Stoffe chartal behandelt werden?“ (Knapp.)

1 Es geht unmöglich an, statt dessen, wie Knapp es tut, das Wort Geld für den Begriff Staatsgeld oder in seiner Terminologie für „chartales Zahlungsmittel“ allein zu verwenden, um dann freilich, ohne Widerspruch gewärtigen zu brauchen, nachweisen zu können, daß „das Geld“ eine Staatseinrichtung sei. Das heißt doch dem Sprachgebrauch, vielleicht sogar der Logik Gewalt antun.

Sechsundzwanzigstes Kapitel: Das Geldwesen 403

Es leuchtet ein, daß Geld im Verkehrssinne und Geld im Staatssinne sehr voneinander verschiedene Begriffe sind. In Wirklichkeit berühren sich nun aber die beiden Erscheinungen häufig, oft sogar decken sie sich äußerlich. Bas ist der Fall, wenn der Staat das Verkehrsgeld als sein Geld an¬ erkennt oder umgekehrt der Verkehr das staatliche Geld an nimmt. Immer aber ist der Bereich, in dem die beiden Gelder sich decken können, örtlich durch die Machtsphäre des Staates bestimmt, also räumlich begrenzt. Sehr wohl können aber selbst innerhalb des Staatsbereichs Geld im staatlichen Sinne und Geld im Sinne eines allgemeinen Warenäquivalents sehr verschieden voneinander sein. Bas zeigt sich, wenn etwa (wie es im Mittelalter wohl der Fall war) der Verkehr auf der Grundlage einer „Barrenwährung“ sich abspielt, unbekümmert um das, was der Staat (die Stadt) für Geld erklärt hatte, oder wenn fremde Münzen in einem Lande umlaufen, ohne daß sie daselbst vom Staate anerkannt sind.

Beutlich aber tritt die Boppelnatur des Geldbegriffs regel¬ mäßig in die Erscheinung im internationalen Verkehr, für den kein Staatsgesetz zwingende Normen schaffen kann. Bieser kennt nur das Geld als allgemeines Warenäquivalent, als Verkehrs¬ erscheinung, die ihre Existenzberechtigung nur aus dem still¬ schweigenden Consensus omnium ableitet. Und wenn sämtliche Staaten der Erde heute zur Kochtopfwährung übergingen: Geld im internationalen Verkehr würde (einstweilen, bis es etwa durch ein anderes Gebrauchsgut ersetzt wäre, was natürlich denkbar ist) nur das Gold sein.

(Inwieweit die Währungspolitik des Staates an die Wahl des Verkehrsgeldes zum Staatsgelde gebunden ist, inwieweit sie bei der Kreirung des Staatsgeldes vom Verkehrsgelde abhängig ist, haben wir hier nicht zu entscheiden).

In dieser Feststellung kommt die Tatsache zu ihrem Recht: daß ein entwickelter Verkehr aus seinen Bedürfnissen heraus sich ohne, staatliche Beihilfe und selbst gegen sie ein Geld zu schaffen vermag. Und wiederum damit im Zusammenhänge steht eine Reihe von sog. „Gesetzen“, besser Entwicklungstendenzen, die das Geldwesen in allen seinen Stadien, sobald es überhaupt erst vom großen Verkehr ergriffen ist, beherrschen. Ich meine 1. das „Gesetz“, daß ein Metall, von mehreren in einem Land als Geld benützten, das gesetzlich unterwertet ist, aus dem Verkehre verschwindet;

404

Zweiter Abschnitt: Der Staat

2. das „Gesetz“, daß Münzen, die Übergewicht haben, eben¬ falls verschwinden, und in diesem Falle das leichtere Geld zurückbleibt.

Beide Tendenzen finden in der Erwägung ihre Begründung, daß die Menschen, die ihren Vorteil suchen (und wissen, wo er liegt), ihre Verpflichtungen mit geringeren Werten lieber als mit höheren begleichen werden.

Beide „Gesetze“ lassen sich übrigens auch zu dem einen zu¬ sammenfassen: wenn in einem Lande „gutes“ und „schlechtes“ (das heißt : höher- und minderwertiges) Geld umläuft mit gleicher Zahlungskraft, so hat das „gute“ Geld die Tendenz, aus dem Verkehre zu verschwinden. Für alle Geldgeschichte, der wir uns nunmehr zuwenden, ist die Wirksamkeit dieser Tendenz von überwiegend großer Bedeutung gewesen.

II. Das Metallgeld

1. Die allgemeinen Grundlagen des Geldwesens vom 13. bis zum 18. Jahr¬ hundert

Der Zeitraum, den wir hier überblicken, die frühkapitalistische Epoche, beginnt mit den ersten Lebensregungen eines größeren, interlokalen Verkehrs (womit eine „Geschichte“ des Geldwesens erst recht eigentlich ihren Anfang nimmt) und schließt mit den Wirkungen einer Reihe bedeutsamer Ereignisse des 17. Jahr¬ hunderts: der Prägetechnik einerseits; des Gesetzes 18th (6th) Charles II (1666, c. 5), der Gründung der englischen Bank, und des Aufkommens des Papiergeldes andererseits, der geldtheoretischen Schriften dritterseits.

Was aber für die Gestaltung des Geldwesens in diesem Zeit¬ raum bestimmend werden sollte, waren vornehmlich folgende

o

Momente :

1. eine große Unvollkommenheit des Wissens und Könnens auf technischem sowohl wie ökonomischem Gebiete.

Die Technik der Münzherstellung1 war primitiv und erlebte während des ganzen Zeitraums (da die unten -Seite 496 erwähnten Fortschritte der Münzprägetechnik in England erst seit dem 18. Jahrhundert, in den übrigen Ländern noch später zur An¬ wendung gelangten) fast gar keine Veränderung. Die ganze Arbeit von der Bereitung des Gusses an bis zur Prägung beruhte auf rein

1 C. von Ernst, Die Kunst des Münzens von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, in der (Wiener) Numismatischen Zeitschrift 12 (1880), 22 ff., insbesondere 55 ff.

Sechsundzwanzigstes Kapitel : Das Geldwesen

405

empirisch-handwerksmäßiger Grundlage; sie wurde von Anfang bis zu Ende von Handarbeitern verrichtet, die sich keines andern Arbeitsmittels als der nötigen Pfannen , Ambosse und Hämmer bedienten. Eine Menge von Handwerkern arbeitete sich in die Hände (wenn man will, kann man in den Münzwerkstätten schon frühzeitig Ansätze zum Manufakturbetriebe entdecken)1. Gold¬ schmiede (1) scheinen das Gravieren der Münzstempel besorgt zu haben (aber wohl in ihrer eigenen Werkstatt). Daneben werden (z. B. im sog. Wiener Münzrecht von 1450) Eisengraber (2) er¬ wähnt, die ebenfalls die „Eysen“ (Stempel) herzustellen hatten. Die Münzgüsse wurden von dem Versucher (3) und Nachver¬ sucher (4) geprüft; nach der Prüfung goß der Gießer (5) das beschickte Gut in Zaine aus ; diese wurden vom Zainmeister (6) auf die erforderliche Münzstärke ausgeschlagen und dann vom Schrotmeister (7) gestückelt mittels einer besonderen Scheere, der sog. Benehmscheere. Die ausgeschnittenen Schrötlinge wurden nun durch Hammerschläge geebnet (8) und dann dem Setzmeister (9) übergeben, der das Aufsetzen des Gepräges zu bewerkstelligen hatte. Das Prägen selbst wurde in folgender Weise besorgt: der eine Stempel wurde in einem Holz- oder Steinblock befestigt, welcher groß und fest genug sein mußte, um die durch die Hammerschläge bewirkte Vibration aufzuhalten. Auf diesen Stempel wurde die Münzplatte gelegt, und der obere Stempel wurde senkrecht darauf gestellt ; dieser wurde von einem Arbeiter (10) gehalten, während ein anderer Arbeiter (11) mit einem schweren zweihändigen Schmiedehammer die Schläge nach Bedarf ausführte. Später wurde wohl (darauf ließe schon, meint von Ernst, das auffallend glatt gehauene obere Ende der noch heute erhaltenen Stempel schließen; für Frankreich wurde es auch ausdrücklich bestätigt) eine Art Fallhammer statt des fiei o-eschwungenen Schmiedehammers angewendet, um die Schläge mit größerer Sicherheit führen zu können. Aber auch dann blieb das Münzen eine langwierige, mühsame Tätigkeit, wie unser Überblick über den Verlauf des Arbeitsprozesses erkennen läßt. Die bedeutsamen Folgen dieser unvollkommenen Münztechnik waren diese zwei: daß die Herstellung der Münzen teuer und ungenau war. Teuer: die Prägekosten betrugen bei den Goldmünzen 0,6%, bei den silbernen Großmünzen 1,5—3%, beiden

1 Der gesetzmäßige Arbeiterbestand betrug 1497 in der Münze von Sevilla 170, von Granada 100, von Burgos 98, außerdem gab es 62 Münzer.

406

Zweiter Abschnitt: Der Staat

kleineren Münzen $—25 % der ausgeprägten Münze h Ungenau: da man weder die genügenden chemischen Kenntnisse besaß, um sicher einen bestimmten Gehalt des Gusses zu erzielen; noch vor allem die erforderlichen Wägeinstrumente, um genau gleich¬ schwere Münzen herzustellen. Die Abweichungen des Gewichtes der einen Münze von der andern gleicher Art konnten mehrere Gramm ausmachen.

Beispielsweise waren die Gewichtsdifferenzen bei den eng¬ lischen Münzen noch Ende des 17. Jahrhunderts folgende2:

Wert der leichtesten Stücke

Kronenstücke . .

Halbkronenstücke Schillinge . . .

Sixpences . . .

d.

11

0

0

Wert der schwersten Stücke d. d. d. 1,

7,

1,

s.

5.

2.

1.

2,

8,

2,

3

0

0

s. d. d.

4. 9, 10,

2. 4, 5,

0. IOV2, 11,

0. 5, 51/2 . . .

Nicht besser als mit der Technik war es mit dem sozialökono¬ mischen Wissen vom Wesen und von der Funktion des Geldes bestellt 3 ./Noch im 14. und 15. Jahrhundert standen selbst die Männer der italienischen Handelsstädte wie vor einem Wunder: wenn sie plötzlich alles Silber außer Landes gehen sahen oder wahrnahmen, daß ihre Landsleute die eigene Landesmünze nicht in Zahlung nehmen wollten. Und halb drollig, halb rührend sind die immer wiederholten Klagen der französischen Ordonnanzen über die Unvernunft oder die Böswilligkeit des Volkes, das sich eine be¬ liebige Münzverschlechterung nicht ohne weiteres gefallen lassen wollte. In einem Satze zusammengefaßt: es fehlte noch in den

1 G. Schm oll er, Grundriß der Allg. Volkswirts cbaftslehre, 532. In Basel während des 14. und 15. Jahrhunderts 5,72 11,83 °/o des Münzwertes: B. Harms, Die Münz- und Geldpolitik der Stadt Basel im Mittelalter (1907), 78.

2 Haynes, Brief Memoirs relating to the Silver and Gold Coins of England with an Account of the Corruption of the Hammer’d Monys and of the Reform by the Late Grand Coynage at the Tower and the five Coüntry Mints 1700. Brit. Mus. Laus. M.S. DCCCI p. 63, mit¬ geteilt von Cunningham, Growth 2, 434.

3 Über den verhältnismäßig hohen Grad geldtheoretischer Einsicht bei Kopernikus siehe den lehrreichen Aufsatz von J. Jastrow, K. Münz- und Geldtheorie, im Archiv Bd. 38. Dagegen Oresimus ist geradezu die Schwalbe, die noch keinen Sommer macht. (Gegenstück zu der Stellung Lionardos in der Geschichte der Technik! s. unten Kap. 29).

Sechsundzwanzigstes Kapitel: Das Geldwese*

407

maßgebenden Kreisen die Einsicht in den Unterschied zwischen Staatsgeld und Verkehrsgeld.

Also auch beim besten Willen wäre es der Zeit nicht möglich gewesen , ein (in unserm heutigen merkantilischen Sinne) voll¬ kommenes Geldwesen zu schaffen. Was nun aber jene Epoche des weiteren kennzeichnet, ist dieses : daß

2. jener Wille des Staates: ein im merkantilen Verstände gutes Münz- und Währungssystem zu schaffen, gar nicht einmal vorhanden, daß vielmehr die Geldpolitik der Staaten teilweise bis in die allerneueste Zeit hinein (Frankreich, Deutschland), überall aber bis tief ins 17. Jahrhundert ausschließlich fiskalisch orientiert war. Das heißt : die Fürsten sahen im Gelde nichts anderes als eine Quelle, aus der sie ihre immer leeren Kassen mit Reichtümern füllen konnten. Es ist, finanzgeschichtlich gesprochen, die Zeit zwischen der rein auf Domanialbesitz aufgebauten Epoche und der modernen Epoche des öffentlichen Kredits, von der ich spreche. Da die Einsicht in die Verkehrsbedingtheit des Geldes aber noch fehlte, so behandelten die öffentlichen Gewalten (übrigens bis in die Handelsstädte Italiens hinein: selbst Venedigs und Florenzens Ver¬ waltungen hielten sich nicht völlig frei von Fehl, wie wir noch sehen werden, wenn auch freier als die aus feudalem Holze geschnitzten Fürsten der andern Länder) das Geld nur als Staatsinstitution, die sie nach ihrem Ermessen einzurichten in der Lage seien. Die Theoretiker der Zeit beeilten sich, die dieser Auffassung entsprechende „staatliche Theorie des. Geldes“ zu formulieren: man lese die Schriften der Geldtheoretiker des 15. und 16. Jahr¬ hunderts, die Budelius in seinem Werke De monetis et re nummaria, 1591, zusammengestellt hat!

Aber wir dürfen uns nicht vorstellen, daß „der Verkehr“ sich diese Willkür ohne weiteres habe gefallen lassen. Das war wohl der Fall gewesen im frühen Mittelalter bis ins 12. und 13. Jahr¬ hundert hinein, als sich der Handel noch in ganz bescheidenem Umfange rein handwerksmäßig abgespielt hatte. *Mit der Auf¬ schwungsperiode im 13/ Jahrhundert, als die italienischen Städte auf die Höhe ihrer kommerziellen Macht hinaufzusteigen be¬ gannen, änderte sich das von Grund auf. I „Der Verkehr“, und vor allem natürlich der internationale Verkehr, die Großhändler in Waren und (namentlich) Geld in den italienischen Republiken begannen gegen die Willkür der Staatsgewalten sich aufzulehnen. Auf verschiedenen Wegen strebten sie

408

Zweiter Abschnitt : Der Staat

dem für jeden (vor allem natürlich für jeden kapitalistisch aus¬ gerichteten) Handel selbstverständlichen Ziele zu : ein sicheres allgemeines "Warenäquivalent im Gielde zu haben. Will man jene Jahrhunderte der Genese des Geldes richtig verstehen, so darf man die Internationalität der damaligen Verkehrsbeziehungen wenigstens in ihren intensiven "Wirkungen nicht zu gering ein¬ schätzen. Wir müssen uns vielmehr gegenwärtig halten , daß wenigstens vom 18. Jahrhundert an eine regelmäßige kauf¬ männische Kontrolle des Geldwesens in den verschiedenen Ländern stattfand , die zu einer genauen Registrierung der „Stück “kurse und auf Grund davon zu einem lebhaften Arbitrage - geschäft und einer regelmäßigen internationalen Geld- und Edel- metal lb e w egung den Anlaß gab. Der Markt, auf dem die Kurse für ganz Europa festgestellt wurden, war vom 13. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts Florenz, dann wurde es Antwerpen, bis an dessen Stelle (seit dem Ende unserer Epoche) London trat1.

Daß das Geldwesen, das sich auf diesen Grundlagen aufbaute den Stempel der Unsicherheit, der Unstetigkeit, der Unordnung- trägen mußte, leuchtet von vornherein ein. Die folgende Dar¬ stellung soll es an einigen markanten Symptomen im einzelnen nachweisen, um dann die Anfänge einer Besserung, das heißt einei Anpassung an kapitalistische Interessen, aufzuzeio-en.

2. Die Gestaltung- der Münz- und Geldverliältnisse

a) Der räumliche Geltungsbereich der Münzen

Das Mittelalter hatte den Grundsatz entwickelt : der Heller gilt nur da, wo er. geprägt ist. Und für einen im wesentlichen lokalen Verkehr, in den nur hie und da einmal ein fremder Händler hineinschneite , hatte sich dieser Grundsatz ganz wohl bewährt. Mehr als auf alles andere legte man Gewicht auf die bekannte Prägung, die allein das einheimische Geld gewährte. Der Münzherr hatte natürlich ein lebhaftes Interesse daran, daß jenei Grundsatz aufrechterhalten bliebe. Galt er, so war der Machtbereich des reinen Staatsgeldes gesichert. Auch „der Ver-

1 Im Jahre 1606 enthalten die niederländischen Plakkate Ab¬ bildungen und Kurse von fast 1000 fremden Münzen! Es ist eines der Verdienste des S h aw sehen Buches, gerade diese Zusammenhänge klargelegt zu haben. Insbesondere hat er die Bolle, die Antwerpen als zentraler „Stückemarkt“ gespielt hat, mit vielem Fleiße geschildert. Eine entsprechende Arbeit für Florenz wäre noch zu leisten. Einiges Material bringt jetzt bei G. Arrias, 159,

Sechsundzwanzigstes Kapitel: Das Geldwesen

400

kehr“ konnte sich dabei beruhigen, solange der Gehalt der Münzen überall gleich blieb. Dann erwuchs dem internationalen Händler nur die Mühe, erwuchsen ihm nur die Kosten des Um- wechselns (das in der Kegel auch als ein nutzbringendes, selbst von der Obrigkeit ausgeübtes oder verpachtetes oder sonstwie vergabtes Hoheitsrecht angesehen wurde). Die Sachlage änderte sich aber ganz und gar, als die Münz Systeme sich in verschie¬ dener Richtung entwickelten, als sich vor allem „gute“ und „schlechte“ Münzen, höher und geringer metallwertige Münzen zu differenziieren anfingen. Da wurde es als vorteilhaft und zweckmäßig erachtet, mit andern als den Landesmünzen zu zahlen. Und zwar so paradox es im ersten Augenblicke klingt entweder weil die fremde Münze besser oder weil sie schlechter war. In jenem Falle leistete sie die größere Gewähr und bot die größere Sicherheit; in diesem Falle ermöglichte sie die Begleichung einer Schuld mit einem geringeren (Metall-) Betrage.

Aus dem einen oder andern Grunde floß daher immer fremde Münze in die Landesmünze hinein. Und es ist durchaus ein Kennzeichen unserer Epoche, daß die Umlaufs mittel ein stark internationales Gepräge trugen. Und es ist der ewige Kampf zwischen Staat und Verkehr um die Reinheit der Landeswährung, der die Jahrhunderte erfüllt. Ein ewiges Einerlei in hunderten von Verordnungen und Gesetzen: Klagen über das Überhandnehmen fremder Münzen, Verbot ihrer Benutzung, das offenbar in den meisten Fällen wirkungslos geblieben ist, wie wir aus den häufigen Wiederholungen schließen dürfen, teil¬ weise auch Gestattung fremder Münzen.

Ein paar beliebig herausgegriffene Beispiele werden die Richtig¬ keit dieser Feststellungen bestätigen.

In Florenz , erfahren wir, werden die Lohnarbeiter im 14. Jahr¬ hundert mit schlechter ausländischer Münze bezahlt. N. Rodolico, II sistema monetario e le classi sociali nel medio evo, in der Bivista ital. di Sociologia 8 (1904), 467. Ebenda wird im Jahre 1382 alle fremde Münze sie sei denn eque bona vel melior als die Floren¬ tiner verboten. Arch. di Stato Balia Reg. n. 19, bei N. Rodo¬ lico, 1. c. Verbote der fremden Silbermünzen werden in Florenz häufig erlassen: von 1534 1660 13- oder 14 mal. Shaw, 93.

In Frankreich verbietet eine Ordonnanz nach der andern den Um¬ lauf fremder Münze. Unter Philipp dem Schönen (1309) sind es die Sterlinge und die goldenen Fiorinen, die verboten werden. Weiter finden Verbote statt: 1355, 1577 usf. Le Blanc, 227 und öfters. Vgl. Sully, Memoires 4 (1752), 6 ff. (s. a. 1601). Das Edikt

410

Zweiter Abschnitt: Der Staat

vom 10. März 1500 erlaubt die Zirkulation Venetianer, Florentiner, Sieneser, Ungarischer Dukaten ; von englischen „angelots, lions, saluts et nobles“ ; von spanischen und portugiesischen Cruzados.

Klagen der Österreicher über schlechte bayrische Münzen, die nach Österreich gedrungen seien und hier vielfach Mißstände hervorgerufen hätten. Karajan, Beiträge zur Geschichte der landesfürstl. Münze Wiens im Mittelalter, in Chm eis, Österr. Geschichtsforscher 1, 293, und Urk. LXXXI bei Eheberg, 59.

Deutschland: Auf dem Reichstag zu Nürnberg (1522): Klage über die unbrauchbare , falsche und entwertete Münze , die an Stelle der Goldgulden und guten Silbermünzen im Lande umlaufe.

Ein Münzedikt Ferdinands I. vom Jahre 1559 bestimmt, daß ein halbes Jahr nach Erlaß des Ediktes „kein fremb Gold so ausserhalb Teutschen Nation geschlagen in Reich sol ausgegeben und genommen werden dann allein nachfolgende stuck die ihr geordnet gewicht haben“, bis dahin sollen alle andern Guldenmünzen, „wie die jetzo gang und gebe, gegeben und genommen werden“ dürfen. Die für die Folgezeit zugelassenen und mit einem gesetzlichen Kurse (in „guten Rheinischen goldgulden“) versehenen Goldmünzen sind aber diese:

Alle kastilischen, arragonischen, valentianischen , navarresischen, sizilischen, mailändischen, französischen Doppel-Dukaten; alle spanischen, kastilischen, arragonischen, neapolitanischen, münsterbergisclien, polnischen, genuesischen, venedischen, päpst¬ lichen, bononischen, breslauer (sowohl bischöflichen wie städti¬ schen), liegnitzer, weidischen, glatzer, florentiner, mailändischen, salzburgischen, augsburgischen, kaufbeurischen, hamburgiscken, lübeckischen und portugiesischen Dukaten; alle burgundischen , niederländischen , französischen , spanischen, kastilischen, valentianischen, mailändischen, sizilianischen, genue¬ sischen und päpstlichen Kronen. Bei Goldast, 148 f.

Immerhin noch eine ganz hübsche Anzahl fremder Münzsorten!

Vgl. auch die Münzordnung Karls V. von 1551, ebenda S. 162 ff. und S. 188 ff., wo ein paar Dutzend Silbermünzen aufgezählt werden, die im Reich zirkulieren und nach Jahresfrist „außer Kurs gesetzt“ sein sollen. Offenbar hatte das Verbot nichts genutzt. Denn allerhand minderwertiges Silbermünzenzeug kroch auch später noch unausgesetzt in das heil, römische Reich hinein. In den Speirischen Dekreten Maxi¬ milians II. vom Jahre 1570 heißt es, „dass man im h. Reich teutscher Nation an stat der guten probierten Reichsmüntzen nichts anders als böse frembde verfälschte Müntzsorten sehen und haben muss. Welches dann auch nit die geringste ursach der beharrlichen steygerung in allen Victualien und Commercien“. Goldast, 178. Vgl. den ganzen tit. XLV und tit. LIV.

In England beklagen sich die englischen Kaufleute im Jahre 1346, daß das gute Geld außer Landes gehe und falsche Lusshebournes (Luxemburger), die nur 8 s. im Pfund wert seien, hereingebracht würden. 1401 beklagt sich das Parlament: flandrische Nobles seien so häufig in England, daß man nicht eine Summe von 100 sh. empfangen könne, ohne 3 oder 4 solcher Nobles darunter zu finden;

Sechsundzwanzigtes Kapitel: Das Geldwesen

411

und seien doch um 2 p. weniger wert als die englischen Nobles. Shaw, 44. 55. Für das 17. Jahrhundert charakteristisch z. B. Th. Mun, Englands Treasure by forraign Trade 1664, Ch. VIII und folgende. Wie zahlreich im 18. Jahrhundert die portugiesischen Gold¬ münzen waren,, die in England umliefen, wurde schon erwähnt.

Ausdrückliche Anerkenntnis fremder Münzen finden wir z. B. in Spanien. In einer Ordonnanz Karls von Navarra (1356) heißt es: „nos place y queremos que toda manera do mercedores tanto de nuestro Kegno como de fuera puedan traher, poner y sacar fuera y allober en aqueil todas maneras de monedas francament y sin arrest o em- pachamiento alguno . . .“ Doc. ined. del Reino de Navarra ec., ab¬ gedruckt bei Heiss, 3 (1869), 231.

Der Ersatz der eigenen durch fremde Münzen konnte soweit gehen, daß die fremde Münze die einheimische in ihrer Stellung bedrohte. So enthält die Const. vulg. von Siena (aus dem Anfang des 14. Jahrh.) das ausdrückliche Gebot: die Landesmünze in Zahlung zu nehmen: „che neuna persona scusi la moneta senese.“ Bei Arrias, 150.

b) Währangs- und Münzsysteme

Fragen wir zunächst nach der Substanz der "Währung, nacli dem Metall oder den Metallen, die jeweils als Währungs- geldware gedient haben, so müssen wir ganz und gar auf eine knappe Antwort verzichten, wie wir sie heute auf jene Frage zu erhalten beanspruchen können. Von Begriffen wie Gold¬ währung, Silberwährung, Bimetallismus: in dem Sinne, daß von Gesetzes wegen einem der beiden oder beiden Metallen ausdrück¬ lich die Eigenschaft als gesetzliches Zahlungsmittel zugesprochen, dem andern beschränkte Zahlungskraft verliehen oder, falls beide volle Zahlungskraft besessen hätten, eine Relation zwischen beiden aufgestellt und was die Hauptsache ist alles das konsequent festgehalten wäre: davon ist in jenen Jahrhunderten keine Rede. Vielmehr ist hier alles schwankend, alles empirisch, alles kasuistisch: ohne auch nur das Bemühen der grundsätz¬ lichen und systematischen Ordnung jener Verhältnisse. Man kann deshalb nicht sagen: jene Währungsbestimmungen waren da; man kann aber auch nicht sagen : sie waren nicht da. Ich möchte z. B. angesichts der zahlreichen Bestimmungen über die Eignung eines bestimmten Metalls, als Zahlungsmittel zu dienen, nicht mit Shaw übereinstimmen, wenn er (in der Preface p. IX) die Meinung äußert: vom 13. bis zum 18. Jahrhundert sei nie die Rede davon gewesen, die gesetzliche Zahlungskraft sei es von Gold oder Silber ausdrücklich festzusetzen oder zu be¬ schränken: Shaw selber führt in seinem Buche (45) die Ver¬ ordnung Eduards III. vom Jahre 1346 an: wonach alle Waren

412 Zweiter Abschnitt: Der Staat

in Gold bezahlt werden sollen, auch keine Verabredung über die Zahlungsart getroffen werden dürfe, im Falle aber, daß doch eine Verabredung schon bestehe, trotzdem der Käufer das Recht der Option zwischen Gold oder Silber haben solle. Er hätte sich auch 2 H. VI. c. 12 und 19 H. VII. c. 5 erinnern können. Aber auch in den italienischen Gesetzen finden sich häufig ähnliche Be¬ stimmungen. Nur daß wir nicht an ihre Wirksamkeit zu glauben brauchen.

In Wirklichkeit gestalteten sich die Dinge wohl so : Gold und Silber war während der ganzen Periode vom 13. bis zum 18. Jahrhundert nebeneinander als Geld im Gebrauch; eines der beiden Metalle wurde vom Handel jeweils bevorzugt als Rieht- Geld: im 14. und 15. Jahrhundert wohl das Gold, im 16. und 17. Jahrhundert wieder mehr das Silber, das in wirt¬ schaftlich rückständigen Staaten bis ins 19. Jahrhundert das haupt¬ sächliche Geldmetall blieb, während namentlich England seit dem Ende des 17. Jahrhunderts sich immer mehr dem Golde zuwandte.

Die Wertrelation zwischen den beiden Metallen wurde teils vom Gesetzgeber (dann in der Regel bewußt falsch), teils vom Verkehr ausschließlich (wenn die gesetzliche Relation etwa fehlte) oder neben der gesetzlichen Normierung festgesetzt. Es ergeben sich also in dieser Zeit immer mehrere Relationen: eine nach den Preisen, die die Münzstätten für die rohen Metalle bezahlten, und die man mit allen Mitteln auch dem Verkehr auf¬ zuzwingen suchte: das Münzpreis Verhältnis, wie es Lexis nennt; sodann die Relation, die sich ergab aus den Edelmetallmengen, die bei gleichem Nominalbeträge in den Münzen erhalten waren : das Nominalwertverhältnis. (Die erste und zweite Relation hätte übereinstimmen müssen, wenn der Schlagschatz bei beiden Me¬ tallen derselbe gewesen wäre ; tatsächlich war er aber bei Silber¬ münzen höher.) Diesen beiden Relationen, die (wie man es ausdrücken kann) ein reines Staatsgeldverhältnis (an artificial arbitrary mint rate, wie es Shaw bezeichnet) darstellten, trat nun als dritte Relation diejenige gegenüber, die sich im Verkehr bildete: das Verkehrsgeldverhältnis. Es entstand oder vielmehr stellte sich dar in dem erhöhten Kurswert der Münzen, die aus dem bevorzugten (gesetzlich unterwerteten) Metall hergestellt waren.

Die Folgen dieses Zustandes lassen sich leicht denken: stete Kursschwankungen der Münzen eines Metalls ausgedrückt in den Münzen des andern; unausgesetzte Bewegungen der Geld- und Edelmetallmengen : aus einem Lande in das andere oder aus der

Sechsundzwanzigstes Kapitel: Das Geldwesen

413

Münzform in die Barrenform ; endlich häufige Entblößungen eines Landes von dem einen Metalle: wie es etwa 1345 in Florenz geschah, aus dem damals alles Silber, weil unterwertet , ver¬ schwunden war1.

Die Unruhe,’ die damit über alles Geldwesen kam, wurde nun aber noch gesteigert durch eine Reihe von Eigenarten, die die Münzsysteme jener Zeit als solche unabhängig von der Wahl des einen oder des andern Metalls aufwiesen.

Die erste^ dieser Eigenarten ist die durch Jahrhunderte fast imunterbrochen fortschreitende Entwertung der einzelnen Münze, sei es durch Verringerung ihrer Feinheit, sei es, was der bei weitem wichtigere Fall ist, durch Verringerung ihres Gewichts, immer bei gleichbleibendem Nominalwerte. Diese Entwicklung hat sich wie folgt vollzogen."

Als die europäische Wirtschaftsgeschichte ihren Anfang nahm, wurde auch das Münzwesenjneu geordnet; es entstand das Pfund¬ system Karls des Großen: 1 Pfund Silber wurde in 20 Solidi, 1 Solidus in 12 denare , also das Pfund in 240 denare geteilt. Dieses Karolische Münzsystem fand in fast ganz Nord- und Westeuropa Verbreitung und hat als Rechnungssystem das Geldwesen fast ein Jahrtausönd lang beherrscht: überall rechnete man nach Pfund, Schillingen, Pfennigen; Livre, sols, deniers; Libbra, Solidi, quattrini; Pound, Shillings, pence usw., während die wirklich geprägten Münzen ihre eigene Entwick¬ lung durchmachten. Von den Münzen des Karolischen Systems wurden zunächst nur die Pfennige (den.) ausgemünzt: entsprechend der Kleinheit der Umsätze. Mehrere Jahrhunderte lang begnügte man sich mit Pfennigen: numismatisch läßt sich die Zeit vom Ende des 8. bis zum Ende des 12. Jahrhunderts als das Zeitalter der Pfennige bezeichnen. Dann, mit steigendem Verkehr, begann man (um die Mitte des 13. Jahrhunderts) auch den Solidus aus¬ zuprägen, der bis dahin nur als Rechnungseinheit bestanden hatte. Die 12-Pfennigstücke, die silbernen Solidi in specie, waren die großen Münzen, die nummi grossi, und da sie zuerst in Tours geprägt wurden, so hießen sie grossi turonenses, gros tournois, Toumosgroschen, Tournosen. Fast um dieselbe Zeit ging man dann auch dazu über, das Pfund (in Gold) auszuprägen, von dem nachher die Rede ist. Vorerst müssen wir uns noch etwas ge-

1 „avendo in Firenze grande difetto e nulla moneta d argento . . . che tutte le monete d’ argento si fondeano e portavansi oltremare.“ Villani, Cron. lib. XII, c. 53 (ein sehr lehrreiches Kapitel).

414

Zweiter Abschnitt: Der Staat

Bauer Biit den Pfennigen und den Dickmünzen beschäftigen und festzustellen suchen, welche Art Münzen das denn nun waren.

Nach dem System Karls des Großen gingen, wie wir sahen, 240 d. auf das Pfund. Dessen Schwere steht noch nicht fest. Grote setzte es noch auf 326,6 g an; nach neueren Forschungen soll es 409,32 g schwer gewesen sein h Wie der Entscheid auch ausfallen möge: immer war der Solidus ein Silberstück von der Größe unseres Talers und darüber; der Pfennig stellte einen Silbergehalt von 25 30 Pfennigen in unserer heutigen Währung dar. Wie aber schauten diese Münzen ein paar Jahrhunderte nach der Zeit Karls des Großen aus? Sie waren immer kleiner und kleiner geworden: wie die Semmel beim Bäcker in Teuerungs¬ zeiten, und hatten, wie diese; immer denselben „Wertbetrag“ (rechnerisch) dargestellt: waren immer Pfennige = V240 Pfund und Solidi = V 20 Pfund gebheben. Als man anfing, den Solidus auszuprägen, da stellte er, stellten also 12 d. nur noch ein Silber¬ stück von der Größe etwa eines heutigen Franc dar : so war der Pfennig schon entwertet, das heißt schlechter und leichter aus¬ geprägt worden. Und doch begann die Zeit der Valutaentwertung erst recht eigentlich mit den grossi, den Dickmünzen, die nun selbst wieder zusammenschrumpften, bald wieder Dünnmünzen geworden waren. Aber immer blieben sie 12 d. wert und immer gingen ihrer 20 auf das Pfund, also stellte auch das Pfund einen immer geringeren Silberbetrag dar. Zur Belebung des Bildes teile ich die Ziffern für einige Münzsysteme mit, aus denen sich diese unerhörte Entwertung ohne alle Mühe ablesen läßt. Sie ist eine allgemeine Erscheinung in allen Ländern ; nur sind Größe und Tempo der Entwertung von Land zu Land verschieden.

1. Deutschland: a) in Hamburg-Lübeck wurden aus 1 Mark (ca. 234 g) feinen Silbers ausgebrackt :

Mk.

Sch.

Pf.

Mk.

Sch.

Pf.

1226 .

... 2

2

0

1398

.... 4

15

2

1255 .

... 2

9

5

1403

.... 5

1

11

1293 .

... 2

9

8

1411

.... 5

12

5

1305 .

... 2

15

5

1430

.... 8

8

0

1325 .

... 3

0

9

1450

.... 9

12

2

1353 .

... 3

10

11

1461

.... 11

8

10

1375 .

... 4

3

0

1506

.... 12

8

0

Benno

Hilliger, Studien

zu mittelalterlichen Maßen und Ge-

wichten, in Seeligers Historischer Vierteljahrsschrift 1900, S. 202 ff. Siehe den Art. Münzwesen (Mittelalter), Verf. So mm er lad, im HSt.

Sechsundzwanzigstes Kapitel: Das Geldwesen

415

b) in Straß bürg betrug:

Tolir»

Anzahl der Pfennige Gewicht der

«j am

auf die rauhe Mark

Pfennige

12. Jahrh.

. 240

0,979 g

1313 . .

. 480

0,487

1319 . .

. 490

0,476

1321 . .

. 494

0,473

1329 . ,

. 510

0,455 ,

1340 . .

. 516

0,453

1362 . .

'. 540

0,432

(Jul. C ahn ,

Münz- und Geldgeschichte

der

Stadt Straßburg

Mittelalter. Straßb. Diss.

1895,

S. 44.)

2. In England wog ein Silber-Penny in Troy Gi’ains:

1300 ....

22

1346

.... 20

1412 .... 15

1344 ....

201U

1351

.... 18

1464 .... 12

3. In Spanien

wurden Maravedi (eine billon-Münze) geprägt

der kölnischen Mark:

1312 130

1868

200

1390 500

1454 2250

1324 125

1379

250

1406 1000

1550 2210

4. In Frankreich wurden aus der Mark Silber ausgeprägt:

Livres

(Tournois)

Sols

Livres

(Tournois)

Sols

1309

. . . . 2

19

1561

.... 15

15

1315

. . . . 2

14

1573

.... 17

0

1343

. . . . 3

4

1602

.... 20

5

1350

. . . 5

5

1636

.... 23

10

1361

. . . . 5

0

1641

.... 26

10

1381

. . . . 5

8

1679

.... 29

11

1422

. . . . 7

0

1693

, . . . 33.

16

1427

. . . . 8

0

1713

.... 43

Vn

1429

. . . . 7

0

1719

.... 69

V 8

1446

. . v . 7

10

1720

.... 98

2 In

1456

. . . . 8

10

(dann steigt der Wert wieder etwas,

1473

... 10

0

bis er durch das Gesetz von 1803

1519

... 12

10

auf 222 2/g Francs aus

1 kg Silber

1540

... 14

0

festgesetzt wurde).

Zu bemerken ist zu all diesen Ziffern noch , daß sie nicht etwa die einzigen Änderungen darstellen, die die Währung im Laufe der Jahrhunderte erfuhr, sondern nur die großen Etappen der Senkung bezeichnen. Zwischen den hier verzeichneten Jahren ging dann der Münzwert oft unzählige Male herauf und herab. Speziell das französische Münzwesen ist reich an diesen unausgesetzten Wertwechseln. Beispiel : im Jahre 1348 wechselte man elfmal die Münzen, 1349 neunmal, 1351

416

Zweiter Abschnitt: Der Staat

achtzehnmal, 1353 dreizehmnal, 1355 achtzehnmal. Innerhalb dieses kurzen Zeiti’aums ging der Kurs von 4 Livres (auf die Mark) bis 1 71 */2 Livres in die Höhe und sank wieder auf 43/s Livres.

Welches waren die Gründe für diese rasche und ganz allgemeine Entwertung des Geldes? fragen wir.

Die blinde Gewinnsucht oder, wenn man lieber will: die wachsende Finanznot/ der Fürsten, gibt man uns zur Antwort. Und zweifellos haben sie ihr gut Teil zu dieser seltsamen Münz¬ politik beigetragen. In einer Zeit, in der der öffentliche Kredit erst wenig entwickelt, in der das Papiergeld noch unbekannt war, sagte ich selbst schon, mußte den geldbedürftigen Fürsten dieser Ausweg außerordentlich glücklich erscheinen: für 3 oder 4 Geldstücke, die sie verwarfen und einzogen, 5 oder 6 (nominal) gleichwertige ausgeben zu können. Aber mir scheint dieser Hin¬ weis auf die Finanznöte der Regierung doch nicht hinzureichen, um diese ganze riesige Erscheinung ohne Rest verständlich zu machen. Woher diese Verbreitung in allen Ländern? Waren alle Regierungen gleich bedürftig, alle gleich gewissenlos?

Nein ich glaube, man muß noch nach andern Gründen Umschau halten. Und man hat denn auch schon andere Gründe namhaft gemacht. Shaw z. B. meint: die Geldentwertung des 14. und 15. Jahrhunderts hinge mit dem Steigen des Silberwertes in jener Zeit zusammen : die Städte und Staaten hätten, um die daraus folgende Preissenkung aufzuhalten, den Silbergehalt der Münzen in der geschilderten Weise herabgesetzt. Sicher hat diese Erwägung oft wenigstens die Maßnahmen der Entwertung- äußerlich motivieren müssen h Aber war diese Einsicht allgemein verbreitet? Und was erklärte dann die Tatsache, daß die Ent¬ wertung fortgesetzt wird, nachdem der Edelmetallbestand sich längst wieder vermehrt hatte und die Preise eine rasche Steige¬ rung erfuhren?

Ich glaube vielmehr, daß eine Tendenz zur Entwertung zu¬ nächst schon in der technischen/Natur des Münzwesens jener Zeit gelegen war, daß aber, sobald das Münzsystem eines Landes aus irgendeinem Grunde einmal entwertet worden war,

1 Siehe z. B. die Begründung, die im Jahre 1411 Heinrich V.

seiner Geldverschlechterung gab, bei Shaw, 55: „because of the great scarsity of money at the time“ wolle er jetzt 50 Nobles aus

dem Pfund Gold und 30 sh. aus dem Pfund Silber schlagen lassen (wodurch das Gewicht des Silberpenny von 18 auf 15, das der Gold¬ nobles von 120 auf 108 Grains sank). Vgl. hierzu das 31. Kapitel.

Sechäunclzwanzigstes Kapitel: Das Geldwesen 41?

diese Tatsache das andere fast dazu zwang, künstlich ebenfalls eine Entwertung der eigenen Münzen vorzunehmen.

Aus der Unvollkommenheit der Münztechnik, neben der her gewiß in zahlreichen Fällen eine bewußt betrügerische Falsch- münzung ging, folgte, wie wir schon feststellen konnten, eine oft sehr erhebliche Ungleichheit der Münzen nach Schrot und Korn. Also enthielt von vornherein jede Münz¬ menge eines Landes schwere und leichte, gute und schlechte Münzen. Dieses aber bot den Händlern (es werden wohl meist die Goldschmiede oder die Wucherer [Juden] gewesen sein, die sich hier betätigten) eine willkommene Gelegenheit, dadurch Gewinne zu machen, daß sie die guten Stücke aus dem Verkehr zogen und entweder einschmolzen oder in das Ätisland brachten, wo sie sie vorteilhaft einwechseln konnten.

Daß diese Praxis zu allen Zeiten geübt wurde : dafür besitzen wir eine ganze Reihe urkundlicher Beweise : siehe z. B. den Schwur der Wiener Hausgenossen : daß sie das durch den Wechsel gewonnene Geld nicht aussuchen und das schwere nicht einschmelzen , sondern ohne Auswahl damit handeln wollen. Karajan, Beyträge zur Ge¬ schichte der landesfürstl. Münze Wiens im Mittelalter, in Chmels österr. Geschichtsforscher 1, 321, und Urk. LXXI u. LXXII.

Die Straßburger Münzordnung von 1470 beginnt mit den Worten: „Als untzhar vil uffsatz und vorteil gesücht ist an allen silbernen milnssen, die sweresten und besten von den andern usgelesen und die gebrant und das silber liinweggeschicket und ouch etlich geschirre daraus liessent machen.“ Bei Ehe b erg, Hausgenossenschaften, 200. Vgl. auch Nr. 16 derselben Ordnung a. a. 0. S. 206.

Wir erfahren sogar: wer sich jenen „uffsatz und vorteil“ zu ver¬ schaffen wußte und wie hoch er sich belief: bis zu 80 Mark Silber wurden von einzelnen Straßburgern eingeschmolzen und außer Stadts geschickt. Besonders auf der Frankfurter Messe, die damals viele Münzen des Rheinlandes mit Edelmetall versorgte, hatte man heimlich Silber verkaufen lassen. Die älteren schweren Engelpfennige wurden von den Wechslern allgemein ausgelesen und eingeschmolzen: „Clein Rülin Lentzelin het ouch geseit, daz man ime die engeier Sonderlinge zu hoffen habe geben, . . . unde habe dun bürnen unde verkfifft habe das silber und hat öch geseit, daz ez mengelich füge.“ (15. Jahrh.) Bei J. Cahn, a. a. O. S. 60.

Ähnliche Klagen sind in den Kaiserl. Dekreten häufig: z. B. Frankf. Dekret Maximilians II. vom Jahre 1571, bei Goldast, 41.

England: In einer Verordnung Karls I. vom Jahre 1627 heißt es: „some of them (sc. goldsmiths) have grown to that licentiousness that they have for divers years presumed, for their private gain, to sort and weigh all sorts of money current within our realm to the end to cull out the old and new monies, which, either by not wearing or by any other accident, are weightier than the rest; which weightiest moneies Sorabart. Der moderne Kapitalismus. I. £7

418

Zweiter Abschnitt: Der Staat

liave not only been molten down for the naaking of plate etc. but even traded in and sold to merchant-strangers etc., wbo bave exported them.“ Rhymer, Foedera 18, 896 ; bei Anderson, Orig, of Comm. 2, 324.

Über die Zustände in England am Ende des 17. Jahrhunderts unterrichtet uns ein zeitgenössischer Schriitsteller wie folgt: „But tho’ all the pieces together might come near the pound weight or be within remedy yet diverse of ’em compar’d one with the other were very disproportionable ; as was too well known to many persons who pick’d out the heavjr pieces and threw ’em into the Melting pott, to litt ’em for exportation or to supply the Silver Smiths. And ’twas a thing at last so notorious, _ tliat it ’scap’d the observation of very few.“ Haynes, 1. c. p. 63. Über die rapide Entwertung des Silbers in¬ folge Beschneidens in den Jahren 1672 ff., die zurümprägung in dem Jahre 1696 führte, unterrichtet jedes Geschichtsbuch.

Die bekannten Vorgänge in Deutschland während der Jahre 1621 bis 1623, die diesen die Bezeichnung der „Kipper- und Wipper¬ zeit“ eingetragen haben (siehe die anschauliche, wenn auch wohl etwas dichterisch gesteigerte Schilderung bei Gust. Frey tag, Bilder aus der deutschen Vergangenheit 3 5 [1867], 152 ff.), waren nur ein akuter Ausbruch eines ganz allgemeinen , schleichenden Übels , ähnlich wie die englische Clipping-Zeit Ende des 17. Jahrhunderts. Eine „Kipper¬ und Wipperzeit“ ist fast die gesamte Epoche des Frühkapitalismus gewesen. Die Erscheinung trug auch durchaus europäisches Gepräge.

So wurde das Geld eines Landes zunächst ganz von selbst schlechter: seine Münzstücke enthielten nach einiger Zeit nicht mehr soviel Metall, als ihr Nominalwert angab.

Kam nun diese unterwertige Münze in ein Land, wo noch\ vollwertige umlief, so verdrängte sie wiederum diese, die nun ihrerseits aus dem Verkehr zu verschwinden, drohte. Das aber mußte die Regierungen veranlassen, die Währung des eigenen Landes nun ebenfalls herabzusetzen, 'damit sie die Konkurrenz der fremden Münze auslialten könne und im Lande verbleibe. Nun kam diese im AVert herabgesetzte Münze selbst wieder ins Ausland und wirkte hier in gleichem Sinne, wie vorher die des fremden Staates auf sie selbst gewirkt hatte : sie verdrängte die gute Münze aus dem Verkehr und zwang die Machthaber zur Entwertung, und so immer fort.

Die Entwicklung konnte aber auch gerade umgekehrt ver¬ laufen und doch dasselbe Endergebnis zeitigen: den Zwang zur Geldverschlechterung. AV ährend nämlich in dem eben betrach¬ teten Falle das schlechte fremde Geld das bessere Geld des eigenen Landes verdrängte (weil es bei dem gleichen Nominal¬ werte eine geringere Menge Silber enthielt, also daß derselbe Preis in Münze mit einer geringeren Menge Silber beglichen

Sechsundzwanzigstes Kapitel: Das Geldwesen 449

werden konnte), war es ebenso gut möglich, daß das gute Geld in ein Gand mit entwerteter Münze abfloß, um hier mit seinem höheren Metallgehalt sich in einer größeren Anzahl minderwertiger Landesmünzen darzustellen. Das eine Mal kam dem schlechten Gelde der gleiche Nominalwert, das andere Mal dem guten Gelde sein höherei’ Metallwert zustatten. Diese doppelte Verwendung erklärt es, weshalb wir bald in den Urkunden lesen, daß schlechtes Geld, bald daß gutes Geld abfloß. Aber immer bestand die Tendenz, daß das gute Geld aus dem Verkehr verschwand, und damit wurde die Notwendigkeit erzeugt , die Entwertung, mit der ein fremdes Land angefangen hatte, im eigenen Lande nach¬ zumachen.

Belege dafür im einzelnen beizubringen, daß sich tatsächlich die Vorgänge in. der geschilderten "Weise abspielten, ist unnötig: nicht nur daß die Geldgeschichte voll von Beispielen ist; man kann geradezu sagen : jenes Hin- und Hei’fließen der Geldbestände aus einem Lande in das andere, jenes unausgesetzte Verschwinden des guten Geldes, jene dadurch hei'beigeführte Nötigung zur Entwertung der Landesmünze: das ist die Geldgeschichte in dem von uns betrachteten Zeiträume.

Denn auch die andere Eigenart des Münzwesens jener Jahr¬ hunderte , die ich im Sinne habe , stellt mit diesen eben ge¬ schilderten Vorgängen in allercngstem Zusammenhänge: ich meine das Doppelmünzsystem, das sich in allen europäischen - Ländern seit dem 13. Jahrhundert etwa einbüi’gert und mit dem es folgende Bewandtnis hat.

Es ist ersichtlich, daß dies l’äumliche Durcheinander ver¬ schiedenwertiger Münzen aller Herren Länder, wie es sich als eine Folge des Herüberfließens der Geldmassen ei’geben mußte; die3 zeitliche Wechseln des Wertes einer und derselben Münze, wie es aus der Gepflogenheit der Münzherrcn, den Wert einer Münze beliebig oft und beliebig hoch festzusetzen, notwendig hervoi’gehen mußte, einen Zustand lästigster Unsicherheit heibei- zuführen geeignet war, der um so unerträglicher erscheinen mußte, je regelmäßiger und zahlreicher die internationalen Ver¬ kehrsakte wurden, je mehr kapitalistisches Wesen zur Entfaltung drängte. „Der Verkehr“ mußte auf Abhilfe sinnen. Und erfand Mittel und AVege, den Übelständen wenigstens die größte Schärfe zu nehmen. Der eine Ausweg, den er einschlug, um sich vom der immer schlimmer werdenden Münzverwirrung zu retten, war die .Rückkehr zum reinen staatslosen Verkehrs-

27*

420

Zweiter Abschnitt : Der Staat

gelde: er brauchte das Edelmetall wieder ohne Rücksicht auf’ seine Münzgestalt oder in ungemünzter Gestalt als Geld. Knapp/ würde sagen: als pensatorisches,' Zahlungsmittel. Jenes tat er, wenn er die Münzen wog und effektive (nicht etwa die rech¬ nungsmäßig fiktiven) Gewichtsgrößen den Abmachungen zu¬ grunde legte („morphische Zahlungsmittel mit pensatorischer Verwendung“); dieses, wenn er die Edelmetalle in Barrenform beließ oder sie in die Barrenform/zurück verwandelte. So wurden z. B. die Zahlungen an den englischen Exckequer lange Zeit hindurch ad scalam/ d. h. nach dem Gewicht geleistet 1 (die Schatzkammer wußte am besten Bescheid , wie es um die Münzen stand !) ; ebenso wurden in Deutschland eine Zeitlang die Denare nach Gewicht genommen 2. Die Barrenpraxis ist aber gleichfalls namentlich in Deutschland während des Mittelalters verbreitet gewesen: wTir begegnen ihr am Rhein und in Schwaben, Bayern, Österreich und Schlesien seit Beginn des 13. Jahrhunderts; in Niedersachsen, Engern und Westfalen während des ganzen 14. Jahrhunderts3.

Auf die Dauer konnte aber der Verkehr sich mit diesen Ersatzmitteln eines rechtschaffenen Geldsystems nicht zufrieden geben. Er mußte auch im Bereiche des staatlichen Geldes seinen Interessen Geltung zu verschaffen trachten dadurch, daß er wenigstens eine Münzsorte vor der „Pest“ der Entwertung4 schützte. In der Tat gelang es , zunächst in den italienischen Städterepubliken, eine Münze zu schaffen, deren Metall¬ wert ein- für allemal derselbe (oder doch wenigstens an¬ nähernd derselbe) blieb, und die nun der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht wurde : das war das goldene „Pfund“, das zuerst in Florenz- als „fiorino“ im Jahre 1252 das Licht dieser Welt erblickte.

Der Florentiner Gulden hatte in der Tat eine für jene Zeiten unerhörte Wertkonstanz : er wurde Jahrhunderte hindurch ganz fein ausgeprägt und wog. Jahrhunderte hindurch 3,519 g./ Diese Eigenschaft

1 Madox, Hist, of the Exchequer 1, 274 f.

2 Inama, DWG. 3 n, 390 ff.

3 Inama, DWG. 3 u, 391. Verbot des Barrengeldes : „in civitate et aliis locis , ubi propria et justa moneta esse consuevit nemo mer- eatum aliquod facere debeat cum argento sed cum denariis proprie sue monete.“ Sentent. de cambio et imag. den. MG. Const. II Nr. 301/2 (1231), p. 416.

4 So drückt sich Carli in seiner Abhandlung über das Geld aus (SS. dass. P.M. 13, 323).

Scchsundz wanzigstes Kapitel :

Das Geldwd

421

machte ihn bald zur beliebtesten Handelsmünze, die überall gern ge¬ nommen wurde und nun auch in andern Staaten Nachahmung fand. Das Vorbild der italienischen Goldstücke (noch im 13. Jahrhundert prägte Venedig, seine Zechinen oder Dukaten, Genua seine Genovinen) zwang die Regierungen der andern Länder, nun ebenfalls eine unver¬ änderliche Goldmünze zu schaffen, wollten sie vermeiden, daß die italienischen Goldgulden ausschließlich in Umlauf blieben. Man prägte mit Vorliebe die eigenen Münzen auch äußerlich dem fiorino nach: ein Beweis, welche Verbreitung dieser gefunden haben, in welchem Ansehen er bei den Händlern stehen mußte. Denn offenbar wollte man mit der Nachahmung des Gepräges die einheimischen Münzen dem fiorino zum Verwechseln ähnlich machen.

Siehe die Abbildungen der nachgeprägten Florene in den Beilagen zu der Abhandlung von H. Dannenberg, Die Goldgulden vom Florentiner Gepräge in der (Wiener) Numismatischen Zeitschrift 12 (1880), 146 ff. Die Geschichte der Goldprägungen im Mittelalter am besten dargestellt von S h a w/ Zu vergleichen v. Inam a/, Die Gold¬ währung im Deutschen Reiche während des Mittelalters, in der Zeit¬ schrift für Soc. u. W.Gesch. 3 (1895), 1 60.

Ganz wurde dieses Ideal der Unveränderlichkeit außerhalb Italiens freilich nicht erreicht. So verschlechterte sich der Gulden z. B. in Deutschland seit dem 15. Jahrhundert weniger im Schrot als im Korn. Man unterschied von da ab den ungarischen (italienischen) Gulden/ und den rheinischen Gulden: so genannt, weil die vier rheinischen Kurfürsten sich um seine Stabilisierung mit Erfolg bemühten. Vom Ende des 15. Jahrhunderts an ist der Metallgehalt des rheinischen Gulden ebenfalls ziemlich stabil: er stellt etwa 3/i des Wertes des Dukaten dar.

Über das Schicksal des rheinischen Gulden unterrichtet folgende Übersicht bei Julius Cahn, a. a. O. S. 154.

Jahr

Korn

(Karat und Grän)/

Gewicht

nach

Goldgehalt

jframm

Goldwert in heutiger Keichswährung

1891

23

Kar.

Gr.

3,542

3,396

9,48 Mk.

1402

22

» 6

55

3,542

3,322

9,27

1409

22

51

55

3,542

3,248

9,06

1417

20

55

51

3,542

2,953

8,23

1425

19

55

55

3,507

2,777

7,95

1464

19

55

55

3,405

2,696

7,52

1477

18

» 10

55

3,372

2,647

7,89

1490

18

6

55

3,278

2,527

7,05

Damit wurde nun aber (seit der Mitte des 14. Jahr¬

hunderts) der Goldgulden auch die allgemeine Rech¬ nungsmünze: man rechnete in der großen Handels¬ welt nach Gulden, während die Pfundrechnung dem Lokal-

422

Zweiter Abschnitt : Der Staat

»

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verkehr verblieb. Der Gulden wurde dann je nach dem Stande der Pfundr e clinung tarifiert1. Es gab also immer zwei Geld¬ ausdrücke, deren Verhältnis zueinander fortgesetzt schwankte: den Ausdruck in Gulden und den Ausdruck in (Pfunden, die man häufig wegließ) Schillingen und Pfennigen.

Dieser Zustand ist bis zum Ende unserer Epoche annähernd unverändert geblieben. AVas sich änderte, war nur die Metall¬ substanz und der Name des Gulden : aus dem Golde wurde Silber, aus dem Gulden der Taler (Piaster, Louis d’argent usw.).

Diese Umgestaltung hing mit der Zunahme der Silber¬ produktion seit dem Ende des 15. Jahrhunderts zu¬ sammen2 3. Silber war bis dahin zur Ausprägung der Groschen und Pfennige verwandt, die je mehr und mehr zur „Scheide¬ münze“ herabgesunken waren. Als nun zunächst in Deutschland und Österreich plötzlich so sehr viel Silber gewonnen wurde, konnte dieses nicht alles als Scheidemünze untergebracht werden. Deshalb verfiel man auf die Idee, die Kurantmünze (den Gulden) nun ebenfalls in Silber auszuprägen. So entstanden um die Wende des 10. Jahrhunderts die großen Silbermünzen, die bei einem Gewicht von 2 Lot und einer Feinheit von 15 Lot nach dem damaligen Kurse des Silbers tatsächlich einen Gulden an Wert darstellten. Weil man bisher keine größeren Silbermünzen als die Groschen gekannt hatte, so nannte man die neue Münze Guldengroschen, bis eine neue Bezeichnung: (Joachims-) Taler auf kam. Ebenso aber wie das deutsche Silber drängte dann das amerikanische Silber dazu, große silberne Kurantmünzen herzu¬ stellen: das waren die Piaster in Spanien und ähnliche Gro߬ silberstücke in andern Ländern.

Je mehr und mehr eroberte sich auf diesem Wege das Silber wieder seine herrschende Stellung im Verkehr, die es drei Jahr¬ hunderte früher besessen hatte, und die es dann bis in die neueste Zeit hinein (in England bis zum Beginn des 18. Jahr¬ hunderts, in den übrigen Ländern bis um die Mitte des 19. Jahr¬ hunderts) sich bewahrt hat.

Das alte Verhältnis aber der vollwertigen, „guten“ Kurant¬ münzen zu den kleineren, sich immer noch verschlechternden Schillingen und Pfennigen bleibt bestehen

1 Die beste mir bekannte Spezialuntersuchung über die mittelalter¬ lichen Gold-(Gulden-)Kurse ist die Arbeit von C. Schalk, Der Münz¬

fuß der Wiener Pfennige, in der Num. Zeitschr. 12, 186 ff. 324 ff.

3 Siehe hierzu den vierten Abschnitt, namentlich Kapitel 31,

Sechsundzwanzigstes Kapitel: Das Geldwesen 423

In Frankreich erreicht die Münz Zerrüttung im 18f Jahrhundert, nach den unglücklichen Finanzspekulationen der .Regierung, erst recht eigentlich ihren Höhepunkt. Auch in Deutschland änderte sich bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein wenig. „Darstellung des fruchtlosen Kampfes , den etwa zehn ignorante Falschmünzer gegen den sich allmählich entwickelnden Welthandel führen, heißt: Geschichte des deutschen Münzwesens während der vorletzten drei Jahrhunderte.“ H. Grote in seinen „Münzstudien“.

An die Stelle des (Zähl-) Pfundes trat in einigen Ländern eine neue Zähleinheit: in Deutschland der Zähltaler, der nun ebenso wie früher das Pfund ein wechselndes Disagio gegen den Speziestaler (so genannt, weil „in specie“ vorhanden) oder den Piaster oder den Louis d’argent usw. erhält. Daneben bleiben dann die Goldstücke ebenfalls in Umlauf und helfen die Kon¬ fusion vergrößern. Vom IG. bis 18. Jahrhundert schloß man die Verträge teils auf Gold, teils auf Silbergeld ab oder war bei gewissen Geschäften das eine oder das andere Metall herkömm¬ lich im Gebrauch. Natürlich ergab das wiederum zwei verschiedene Preise, je nach der augenblicklichen Relation zwischen Silber und Gold, die ebenso wie die Tarifierung der Kurantmünze nach wie vor vom Verkehr allen gesetzlichen Tarifierungen und allen Verboten (z. B. in der Reichsmtinzordnung von 1509) zum Trotz den Uarktverhältnissen gemäß festgesetzt wurde.

Die Pfennige wurden gelegentlich in ihrer Fähigkeit, als gesetzliches Zahlungsmittel zu dienen, beschränkt, also zur Scheidemünze erklärt l, mit welchem Erfolge, steht dahin.

Eine neue Epoche des Geldwesens bahnte sich schon während des 18. Jahrhunderts in England an, vornehmlich infolge der Tatsache, daß die englische Regierung als erste (und bis zum Ende des 18. Jahrhunderts einzige) das Geldwesen vom mer¬ kantil-rationalen Gesichtspunkt aus zu behandeln anfing. Das Gesetz 18 Karl II. c. 5 (1666), wodurch der Schlagschatz auf¬ gehoben wurde, machte den Anfang. Als dann die starke Ent¬ wertung des Silbergeldes Ende des 17. Jahrhunderts infolge des akut auftretenden Kippens und Wippens einsetzte, widerstand der Staat der Versuchung, den Silbergehalt der Münzen entsprechend zu verringern, schritt vielmehr zu einer Umprägung im Interesse des Verkehrs. Er wachte dann über der neuen Währung, indem

1 Die Münzordnung von 1551 schränkt die Annahmepflicht bei Pfennigen auf 10 fl. ein, das Münzedikt von 1559 bestimmt sogar, daß „niemands in einiger grossen bezahlung wenig oder viel pfennig wider seinen willen zunemmen schuldig sein“ soll, Goldast, 184.

424

Zweiter Abschnitt: Der Staat

er ein Passiergewicht einführte , und hielt sie dank der gleich¬ zeitigen Fortschritte der Prägetechnik leidlich intakt. Dazu kam, daß seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts die Goldwährung erst faktisch, dann rechtlich zur Einführung gelangte. Diese eine unmittelbare Wirkung der Erschließung der brasilianischen und afrikanischen Goldfelder, wie wir noch sehen werden leitet die neue Epoche, die hochkapitalistische, die goldene ein. Ihre Anfänge fallen in die frühkapitalistische Epoche und sind durch folgende Etappen bezeichnet:

1. Erklärung der freien Ausprägbarkeit des (Silbers und) Goldes durch das Gesetz von 1666;

2. Überfüllung der öffentlichen Kassen mit Gold, da diese einstweilen allein dem Annahmezwang unterliegen;

3. Erklärung der Annahmepflicht für jedermann im Jahre 1717 ;

4. Abstrom des Silbers infolge Überwertung des Goldes (21 s. die Guinea);

5. Erklärung des Silbers zur Scheidemünze im Jahre 1774;

6. Aufhebung der freien Ausprägbarkeit des Silbers im Jahre

1798.

III. Das Bancogeld

Die schlimmen Münzwirren namentlich im 16. und 17. Jahr¬ hundert führten zu einer Einrichtung, die ähnlich wie das „goldene Pfund“ dazu dienen sollte, dem kaufmännischen Ver¬ kehr ein von den unaufhörlichen Kursschwankungen nicht be¬ troffenes, also in seinem Werte beständiges Zahlungsmittel zu verschaffen, genauer: Zahlungen, die jene Bedingungen der Sicherheit erfüllten, zu ermöglichen: das war die Einrichtung des Bancogeldes. Sie bestand darin, daß Kaufleute Metallgeld vorgeschriebener Prägung in einer „Bank“ hinterlegten, wo dieser Betrag in einem zu diesem Behufe geschaffenen Zählgelde (oder auch in der als fest angenommenen Landesmünze) gebucht wurde. Über diesen Betrag, der also einer ganz bestimmten Menge Edel¬ metall entsprach, und der unberührt in den Kellern der „Bank“ liegen blieb, konnte der Einleger durch Anweisungen verfügen. Da die meisten Geschäftsleute der Orte, wo diese „Banken“ be¬ standen, ein Konto bei ihnen hatten, so konnten die Zahlungen auf dem Wege des Giro erfolgen, woraus sich ein zweiter wesent¬ licher Vorteil ergab.

Daß diese Anstalten mit dem, was wir heute unter einer Bank verstehen, nichts zu tun hatten, leuchtet ein. Gleichwohl nannte

Scchsundzwanzigstes Kapitel: Das Geldwesen 425

man sie zu ihrer Zeit. „Banken“, ja im 17. Jahrhundert verstand/ man unter „Banken“ geradezu jene Girokassen.

So heißt es bei Marperger, a. a. 0.: „Eine Banco heißt nach der heutigs Tags . . . gewöhnlichen Redensart derjenige Ort, oder die löbliche Veranstaltung, in welcher große und kleine Geld -Summen sicher in Verwahrung können niedergesetzet, von ihrem Eigeuthümer aber jedesmal wann es ihm beliebt . . . wieder abgefordert und zurück¬ genommen werden“ (können). Sie sind eingeführt, „umb des vielen Geld-Zahlens überhoben zu sein“. Das war wohl erst der zweite Grund: hauptsächlich wurden sie ins Leben gerufen, um dem Jammer der Münzunsicherheit zu entgehen.

Und die Definition in der Allg. Schatzkammer der Kaufmannschaft 1 (1741), 362 lautet: „Banco, Banque oder Banck heißt bei den Kauf¬ leuten ein aus öffentlicher Autorität etabliertes und privilegiertes Haus, in welchem sie ihre Gelder teils zur Verwahrung und mehren Sicher¬ heit, teils zur Commodität (des vielen Auszahlens überhoben zu seyn) niedersetzen und hernach, dem sie schuldig von solchen Geldern je gewisse Summam zu , von ihrer Rechnung aber abschreiben lassen, dahingegen ihnen von andern auch wieder dasjenige, was sie in Banco- Geld von ihnen zu fordern haben solchergestalt zugeschrieben wird, und dieses nennt man ein Giro“ . . .

Die Geschichtsschreibung des „Bankwesens“ hat (ähnlich wie die der Post) sehr darunter zu leiden gehabt, daß man unter Bank (wie unter Post) jeweils etwas ganz und gar Verschiedenes verstanden hat. Ich komme darauf bei der Darstellung des Wirtschaftslebens im Zeit¬ alter des Frühkapitalismus im zweiten Bande zu sprechen.

In der zeitgenössischen Literatur werden meist vier solcher Bancogeldanstalten namhaft gemacht, nämlich (in der Reihenfolge ihrer Gründungsjahre) :

1. Banco di Rialto (1587), seit 1619 Bänco del giro in Venedig ;

2. die Amsterdamsche Wisselbank (1609);

3. die Hamburger Girobank (1629);

4. der Banco publico in Nürnberg (1621).

Es tragen aber, soviel ich sehe, noch mehr Anstalten dasselbe oder ein sehr ähnliches Gepräge, nämlich:

5. die Bank von Lyon1;

6. die Casa di S. Giorgio in Genua (seit 1586), zu der sich 1675 die Banchi di moneta corrente gesellen2;

7. der Banco di S. Ambrogio in Mailand (seit 1593) 3 ;

8. der Banco di deposito in Leipzig4;

9. die Bank von Rotterdam (1635).

1 Über diese siehe Vigne, La banque de Lyon (1903), 84.

2 H. Sieveking, Die Casa die S. Giorgio (1899), 202. 205 ff.

3 E. Greppi, 11 banco die S. Ambrogio, im Arch. Stör. Lomb. 10 (1883), 514 seq.

4 Siehe Allgem. Schatzkammer der Kaufmannschaft 4, 540 ff.

■126

Zweiter Abschnitt: Der Staat

Das berühmteste dieser Institute ist die Amsterdamschc Wissel - bank, über die ich deshalb noch etwas eingehender berichten will. Sie wurde am 31. Januar 1609 auf Grund eines Privilegiums der Herren Generalstaaten sowie der Bürgermeister der Stadt Amster¬ dam errichtet, unter deren Obhut das in der Bank niedergelegte Geld stand. Als Zweck ihrer Gründung wird in ihrem Statut bezeichnet: „um allen den Münzwirren zu entgehen und um denen, die Geld um¬ zusetzen haben, eine bequeme Zahlungsgelegenheit zu schaffen“ (om alle steygering ende confusie in ’t stuck van de munte te weeren, ende den luvden, die eenige specien in de koopmanschappe van doen hebben, te gerieven). „Sie ist“, schreibt ein urteilsfähiger Zeitgenosse, „von einer so großen Bequemlichkeit für die handeltreibende Welt, daß man es nicht für möglich hält, wenn man nicht einige Zeit in dieser Stadt gelebt und Geschäfte gemacht hat, da man mit ihrer Hilfe täglich Millionen bezahlen kann vermittels einfacher Zahlungsanweisungen, die man Bankbillete nennt.“ Es gab deshalb auch sehr wenige Kaufleute in Amsterdam und den Nachbarstädten, die sich ihrer nicht bedient, das heißt: die kein Bankkonto gehabt hätten. Dieses erwarb man: 1. durch Ankauf von Bankgeld an der Börse; 2. durch Erwerb eines Wechsels, der in Bankgeld zahlbar ist; 3. durch Verkauf einer in Bankgeld zu bezahlenden Ware ; 4. durch Einzahlung von Münzen. Die Bank nahm an: 1. Golddukaten; 2. Rigksdaler/; 3. Piaster; 4. Louis d’Or, alle zu einem bestimmten, unter dem Metallwerte stehenden Kurse. Barren¬ gold oder -silber konnte nicht eingeliefert werden. Man konnte (außer an drei Tagen im Jahre) erst den folgenden Tag über eine angewiesene Summe verfügen. Der Mindestbetrag einer Anweisung waren 300 fl. Man mußte die Anweisungen persönlich überreichen, bis 3 Uhr nach¬ mittags (nach 11 Uhr vormittags gegen eine besondere Gebühr), und persönlich die Zahlungen in Empfang nehmen. Alle Wechsel über 600 fl. mußten auf Bankgeld^ lauten.

Ich teile noch die Urteile zweier besonders kenntnisreicher Aus¬ länder mit, aus denen man am besten die Eigenart dieser Anstalt ersieht:

„cette banque est proprement la caisse generale, chacun serre son argent, parce qu’on le juge en plus grande seurete et l’on en dispose plus facilement, tant en payant qu’en recevant, que si on le tenait en ses propres coffres. Et tant s’en faut que la banque paye interest de l’argent que Fon y depose que mesmes celuy qui y est, vaut plus que la monnoye courante , dont les payements se font manuellement; parce que Fon n’y apporte point d’autres especes que les meilleurs les plus approuvees et les plus generalement connues tant en Allemagne qu’ä un Pais-bas.“ Temple, Remarques sur l’Estat des Provinces-Unies des Pays-bas, faites en l’an 1672. (1674), 132/33.

„The proper definition of this bank is not a bank of current money to be received and issued daily like those of London, Venice ec., but is purely a deposit of money, the credit whereof passes from hand to hand daily, by signed tickets . . . But although it be, without doubt, an excellent Institution for safety, ease, dispatch and re cord , yet it cannot be said to increase the general quantity of

Seclisundzwanzigstes Kapitel: Das Geldwesen

427

circulation of moiiej^ as some otlier banks certainly do“ : da immer die volle Summe, über die ein Geschäftsmann verfügt, bar in der Bank liegt. Anderson 2, 235. Vgl. aucli noch die bekannte Dar¬ stellung und Beurteilung der Amsterd. Bank bei Ad. Smith, W. of N. B. IV, ch. III, Part I. Digression. ^

Eine ziffernmäßige Angabe über die Höhe ihrer Umsätze ist mir nicht bekannt. Sie wäre sehr lehrreich, um uns eine Vorstellung vom Umfang des holländischen Handels in seiner Blütezeit zu geben. Die Zeitgenossen nennen sie nur übereinstimmend die „reichste“ Bank. Ternple, 1. c. p. 131, meint: der in ihr aufgehäufte Schatz sei der größte von allen, die man kenne, „reels ou imaginaires“. Bekannt ist die Schätzung, die Adam Smith vorgenommen hat: 2000 Konten

zu 1500 SS = 3 Milk SS oder 33 Mffl. fl.

Dagegen besitzen wir erfreulicherweise eine genaue Statistik der Hamburger Girobank aus ihrer letzten Zeit, die ich hier mitteile:

Bankfonds . 1772 3^2 Mill. Mk.

1799 38 Va

Zahl der benutzten Bankfolien . . . 1774 7570

1799 24151

Gesamtumsatz . 1774 230 Milk Mk.

1799 1506

E. Baas ch, Hamburgs Handel und Schiffahrt am Ende des 18. Jahr¬ hunderts, in H. um die Jahrhundertwende (1900), 166.

IV. Die Anfänge des Papiergeldes

Man wird die Eigenheit des Geldwesens im Zeitalter des Frühkapitalismus nur begreifen, wenn man sich zu vollem Be¬ wußtsein bringt, daß alles, was wir mit dem Namen Papiergeld oder Papierwährung bezeichnen, dem Geiste jener Epoche fremd war, daß also diese Geldformen, wo sie uns etwa damals ent¬ gegentreten, als normale Bestandteile des wirtschaftlichen Gesamt¬ lebens (bis auf einen Fall) nicht anzusehen sind.

Was die Geschichte des Papiergeldes in der Frühzeit des Kapitalismus vielmehr kennzeichnet, ist \1. das Unvermögen der Staatsorgane, mit diesem gefährlichen Werkzeug umzugehen, \2. das tiefe Mißtrauen des Publikums gegen diese Geldform, das sich namentlich im 18. Jahrhundert erst recht einstellte (als Folge der Schwindelmanöver in der ersten „Gründerzeit“).

Noch umspielte den Begriff des Papiergeldes ein Zauber der Romantik; noch wurde es von den Fürsten als eine neue Alt des Goldmachens angesehen; noch hatte man die innere Gesetz¬ mäßigkeit dieser Geldform nicht durchschaut; noch galt es als ..Teufelswerk“, als Zauberwerk. Wie das alles ja in den Kaiser- Szenen des „Faust“ zu klassischer Darstellung gelangt ist.

428

Zweiter Abschnitt:: Der Staat

Deshalb muß man aber auch das Lawsche Bank unter¬ nehmen als den eigentlichen Typus aller damaligen Versuche an- sehen, Papiergeld einzuführen. Man weiß, daß diese Episode, in der es schließlich zur Verausgabung von 2 Milliarden Frcs. Banknoten kam, von sehr kurzefDauer war: 1720 hörte alles auf, und erst ein halbes Jahrhundert später begann man in Frankreich, wieder an die Schaffung einer Notenbank zu denken. Daß aber die Zeit des Papiergeldes auch damals noch nicht erfüllet war, beweist das Schicksal der Assignaten.

Nicht viel anders, wenn auch weniger dramatisch, verliefen die Experimente, die man im 18. Jahrhundert mit dem Papier¬ geld in Dänemark und Nonvegen, in Schiveden, in Rußland, in den amerikanischen Staaten machte. Überall ist der Verlauf der¬ selbe: das Unternehmen endigt überall mit einer starken Ent¬ wertung des Papiergeldes : in den meisten amerikanischen Staaten z. B. betrug die Entwertung mindestens 100 °/o, in einzelnen bis zu 1000%, einmal sogar 1400%, also schon beinahe Assignaten¬ verhältnisse.

Das Mißtrauen der Bevölkerung und namentlich der Geschäfts¬ welt gegen das Papiergeld war also begreiflich.

Es wird nur der Ausdruck der allgemeinen Stimmung gewesen sein, wenn ein Hamburger im Jahre 1782 schrieb1: „Sie sehen, daß unsere Bank einzig und allein zur Sicherheit, Bequemlich¬ keit und Richtigkeit unserer Handlung angelegt ist ; daß sie sich folglich von allen Credit-Banken unterscheidet, die so oft nur durch allerhand künstliche Finanzprojekte zusammengeklebet und erhalten werden, und aus welchen man so viel schöne in Kupfer gestochene Bankzettel, die die klingende Münze vorstellen sollen, in die Welt hineinjagt: wodurch dann aber auch am Ende der Credit so sehr geschwächet und die Handlung eines Landes so sehr in Unordnung gebracht werden kann . . .“ usw.

Die Ausnahme, von der ich oben sprach, sind die Noten der Bank von England. Da hier das Recht der Notenaus¬ gabe auf den Betrag des Bankkapitals beschränkt war, so konnte ein Mißbrauch der Papiergeldpresse wie in andern Ländern nicht eintreten. Wir hören deshalb auch nur von geringen Ent¬ wertungen der Noten dieser Bank, die wir uns vielmehr als einen Teil des normalen Geldvorrats Englands im 18. Jahrhundert vor-

1 Schlözers Staatsanzeigen 1 (1782), 76. Vgl. auch die Aus¬ führungen ebenda Band 11 (1787), 369 ff.

Sechsundzwauzigstes Kapitel: Das Geldwesen

429

zustellen haben. Doch möchte ich auch in diesem Falle davor warnen, nun etwa anzunehmen, daß das Papiergeld oder die Banknoten in England schon während des 18. Jahrhunderts auch nur annähernd die Bedeutung gehabt hätten wie etwa heute. Sie blieben vielmehr auch in England bis zum Beginne des 19. (oder mindestens bis in die letzten Jahrzehnte des 18.) Jahr¬ hunderts durchaus eine nebensächliche Erscheinung, die für die Gesamtheit des englischen Geldwesens ohne erhebliche Be¬ deutung war. Wir dürfen dies einerseits aus der Art, wie die Noten ausgegeben wurden, andererseits (und vor allem!) aus der Geringfügigkeit der in den Verkehr gebrachten Notenmenge schließen.

Anfangs mußten die Noten indossiert werden; bis 1759 wurden nur Noten von 20 £ und mehr ausgegeben.

Bis um die Mitte des 18. Jahrhunderts mußten die Noten der Bank von England um ihre Geldeigenschaft kämpfen. Noch im Jahre 1758 mußte erst durch Entscheidung des obersten Gerichtshofs festgestellt werden, daß eine testamentarische Verfügung eines Mannes über alles in seinem Besitz befindliche Geld auch etwaige Noten der Bank ein¬ schließe, weil diese Noten, so gut wie die Guinea, Geld seien. Quittungen über den Empfang von Noten der Bank seien gleichbedeutend mit Quittungen über den Empfang von Geld. Auch bei Bankrotten seien die Noten als Geld zu behandeln. Alfr. Schmidt, Gesch. des engl. Geldwesens, 170/71.

Der Betrag der ausgegebenen Noten betrug aber die längste Zeit im 18. Jahrhundert nicht viel mehr als 2 Mill. £ (entsprechend der Höhe des Bankkapitals). Selbst 1780 waren erst für 8,41 Mill. £, 1796/97 erst für 9,67 hüll. £ Noten im Verkehr.

Diesen Ziffern müssen wir die Mengen Münzgeld gegenüber¬ stellen, die damals in England umliefen. Das waren aber, wie wir noch genauer feststellen werden, annähernd 100 Mill. £. Das Papiergeld verhielt sich also zu dem Hartgelde in England in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts seiner Menge nach wie etwa 1 zu 50, ein Verhältnis, das sich dann allmählich zugunsten des Papiergeldes bis zum Schlüsse des Jahrhunderts verschob, so daß es schließlich wie 1 zu 10 stand. Das ist aber immer noch ein wesentlich anderes Verhältnis wie das heutige. Heute haben wir (selbst in einem Lande wie Deutschland, das eine starke Vorliebe für Metallgeld hat) in normalen Zeiten doch nur etwa doppelt soviel Hartgeld im Lande wie Papiergeld.

Siebemmdzwanzigstes Kapitel

Die Kolonialpolitik

Vorbemerkung

Genau genommen bildet die Gründung großer Kolonialreiche, wie wir sie seit den Tagen Venedigs und Genuas während des Mittelalters und der neueren Zeit erleben, einen Teil der merkantilistischen Handels¬ politik und hätte deshalb in dem 24. Kapitel mit behandelt werden müssen, wenn der Systematik des Aufbaus volle Genüge hätte ge¬ schehen sollen. Daß ich den Kolonien oder richtiger: der Kolonial¬ politik ebenfalls ein besonderes Kapitel widme, hat seinen Grund vor allem in der außerordentlichen Mächtigkeit, mit der gerade dieser Strom aus den merkantilistischen Gewässern in die Geschichte herein¬ bricht; dann aber auch in den vielen Besonderheiten, die sich von allen Seiten an die kolonialen Bestrebungen ansetzen und ihnen eine ganz selbständige Bedeutung verleihen, die sie zu einer ganz eigenen Entwicklung hintreiben. Diese Sonderstellung des Kolonialproblems hat seit jeher ihre Anerkennung auch in der Literatur gefunden, in¬ sofern sich eine außerordentlich reiche Spezialliteratur mit ihm immer beschäftigt hat: ein letzter Grund, das Problem auch in dieser Dar¬ stellung abgeteilt von der allgemeinen merkantilen Politik zu er¬ örtern. Die Systematik des Werkes wird aber insofern gewahrt, als dieses Kapitel sich in den Abschnitt einfügt, der vom Staate handelt, so daß also alles, was hier über Kolonien und Koloniengründung zu sagen ist, immer nur das ist, was mit dem Staat in einem unmittel¬ baren Zusammenhänge steht: Eroberung, Organisation, Verwaltung. (Während die Bedeutung der Kolonial wirts chaft je an verschiedenen andern Stellen des Buches gewürdigt wird.)

Endlich bedarf noch der Umstand eines Wortes der Erklärung: daß ich meine Skizze des modernen Kolonialwesens mit den italie¬ nischen Kolonien beginne, und diese gerade so besonders ausführlich dar stelle.

Die erste Tatsache hat einen inneren Grund: ich glaube wirklich, daß mit der Besitzergreifung der Levante die Wendung vom Mittel- alter zur neuen Zeit wenigstens für Italien einsetzt, und daß Dantes Zeitalter nicht nur geistig, sondern auch wirtschaftlich und namentlich staatlich als der Anfang der neuen Geschichtsepoche anzusehen ist: nicht zuletzt gerade wegen der kolonialen Expansion der italienischen Stadtstaaten. Wir werden sehen, daß auch die Kolonisation zunächst durchaus in den Formen des mittelalterlichen Lebens einsetzt, was ja aber, wie wir feststellen konnten, von aller Politik des modernen Staates gilt, daß dann aber an den kolonialen Bestrebungen sich eine

Siebenundzwanzigstes Kapitel : Die Kolonialpolitik 431

moderne Einrichtung nach der andern , ein moderner Gedanke nach dem andern emporrankt. Vor allem aber wäre auch das Kolonisations- werk des Cinquecento in seinem inneren Aufbau ganz und gar un¬ verständlich ohne einen Einblick in die Grundlagen der italienischen Levantekolonien. Daß ich ihnen dann einen verhältnismäßig so großen Raum in meiner Darstellung widme, hat den äußeren Grund, daß man von ihnen so wenig weiß : von all den ex professo die Geschichte des Kolonialwesens behandelnden Werken haben die italienischen Kolonien erst in dem neuesten eine nennenswerte Berücksichtigung gefunden, nämlich in dem Buche von Morris.

Quellen und Literatur

Als Quellen kommen großenteils dieselben in Betracht, aus denen wir unsere Erkenntnis der merkantilistischen Politik im allgemeinen schöpfen. Von Materialsammlungen, die sich besonders auf die Kolonial¬ geschichte beziehen, seien zu den im 24. Kapitel genannten noch folgende hinzugefügt: für die italienischen Kolonien (außer Tafel und Thomas) H. Noiret, Docum. inedits pour servir ä l’histoire de la domination venetienne ä Crete (Bibliotheque des ecoles franqaises d’Athenes et de Rome fase. 21 [1892]). Mas Latrie, Histoire de l’ile de Chypre. 3 Vol. 1851—61.

Für die spanische Kolonisation": Colleccion de documentos ineditos relativos al descubrimento, conquista y colonizacion de las posesiones Espanoles en America e Oceania. 1864 seg.

Für die holländische Kolonisation: De Jonge, Opkomst van hed Nederlandsch gezag in Oostindie. 1862.

Für die englische Kolonisation : Calendar of State Papers. Colonial Series.

Für die nordamerikanischen Kolonien insbesondere : Docum. relat. the Colon. Hist, of the State of New York.

Viel Urkundenmaterial ist auch selbständig in neueren Monographien veröffentlicht, wie ich am passenden Ort berichten werde.

Außer den „Urkunden“ kommen für die ältere Kolonialgeschichte als Quellen vor allem auch die Reiseberichte in Betracht. Ich begnüge mich, die beiden wichtigsten Sammlungen von Reiseberichten aus dem Cinquecento namhaft zu machen: Ramus io, Delle navi- gationi ec. 3. ed. 1563, und Rieh. Hackluyt, Principal Voyages etc. 3 Vol. 1600.

Die Literatur über die Geschichte der Kolonien ist außerordent¬ lich umfangreich. Ich werde am geeigneten Ort die von mir benutzten Werke anführen und nenne deshalb hier nur die ganz allgemeinen Darstellungen. Mehr kolonialpolitischer, aber doch auch geschicht¬ licher Natur sind: H. Brougham, An inquiry into the colonial policy of the European powers. 2 Vol. 1803; H. M er i vale, Lectures on Colonization and Colonies. 1861 (beide Werke gehören noch immer zu den besten Büchern über Kolonisationspolitik). Roscher und Jannasch, Kolonien, Kolonialpolitik und Auswanderung. 3.Aufl. 1885;

432

Zweiter Abschnitt: Der Staat

A. Zimmer mann, Kolonialpolitik, 1905 (vorwiegend historischen Charakters). Wesentlich geschichtliche Darstellungen: Guillaume F. T. Eaynal, Hist, philos. et politique des Etablissements et du Commerce des Europeens dans les deux Indes ; öfters aufgelegt ; von mir benutzte Ausgabe: 3 Vol. 1775. Paul Leroy-Beaulieu, La colonisation chez les peuples modernes. 4Vol. 1891. Alfr. Zimmer¬ mann, Die europäischen Kolonien. 5 Bde. 1896 1908. Henry C. Morris, The History of Colonization from the earliest times to the present da}^. 2 Vol. 1904. Diese neueste Darstellung der Kolonial¬ geschichte ist zugleich die vollständigste. Sie enthält im Anhang eine sehr gut zusammengestellte Bibliographie, auf die im übrigen zu ver¬ weisen ist. Eine umfassende Bibliographie der gesamten Kolonialliteratur (auf 156 Seiten gr. 8 0 !) hat herausgegeben A. P. C. Griffin, List of Books relating to the theory of colonization etc. 2. ed. 1900.

Zur Ergänzung dienen die Werke der historischen Geo¬ graphie, soweit sie die Entstehung der Kolonialreiche zum Gegen¬ stände haben. Zu den klassischen Büchern der deutschen Literatur gehört das schöne Werk von Osc. Peschei, Geschichte des Zeit¬ alters der Entwicklungen. 1858. Die wichtigsten Erscheinungen der neueren Zeit sind Sophus Buge, Das Zeitalter der Entdeckungen. 1881, und Al. Supan, Die territoriale Entwicklung der europäischen Kolonien. 1906. Beide hervorragenden Werke befassen sich ihrer Aufgabe entsprechend auch viel mit der (äußeren) Kolonialgeschichte. Beide beschränken sich auf die Zeit seit dem 15. Jahrhundert. Supans Darstellung ist chronologisch. Einen Gesamtüberblick gibt die geistvolle Skizze von Ferd. Toennies, Die historisch-geographischen Eichtungen der Neuzeit, im Weltwirtsch. Archiv Bd. 6, 1915, S. 307 ff.

Einen besonderen Zweig der allgemeinen kolonialgeschichtlichen Literatur, der in dem Zusammenhänge dieses Werkes von ganz be¬ sonderer Bedeutung ist, bildet die Literatur über Sklaverei und Sklavenhandel, über die ich aber weiter unten Angaben mache.

I. Die Idee der Kolonien

Wenn man, wie es in diesem Buche geschieht, die Politik der absoluten Staaten in ihren äußeren Formen als eine Fortsetzung und Vollendung der Politik mittelalterlicher Städte betrachtet, so liegt es nahe, die Kolonialgebiete, die sich um alle diese Staaten herum¬ legen, mit der „Landschaft“ zu vergleichen, über die sich wenigstens die wirtschaftliche Machtsphäre der mittelalterlichen Stadt aus¬ dehnte: der Staat trat an die Stelle der Stadt, wie wir an un¬ zähligen Beispielen verfolgen konnten, und schuf sich nun in den Kolonien ein Gebiet, das er ebenso ausbeuten konnte, wie die Stadt die Landschaft ausgebeutet hatte : indem er es zwang, ihm ausschließlich seine Erzeugnisse zu liefern und dafür die Pro¬ dukte des Staates aufzunehmen. Kein Zweifel in der Tat, daß dieses Grundverhältnis zwischen Stadt und Landschaft in den

Siebenundzwanzigstes Kapitel: Die Kolonialpolitik 433

wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Mutterland und Kolonie wiederkehrt.

Läßt sich doch die Kolonialwirtschaftspolitik der meisten europäischen Völker in folgende Sätze zusammenfassen:

1. Die Kolonien dürfen ihre Erzeugnisse nur an das Mutter¬ land liefern: „no sugar, tohacco, cotton-wool, indigo, ginger, fustic and other dying woods, of the growth or manufacture of our Asian, African or American colonies shall be shipped from the said Colonies to any place but to England, Ireland, or to some other of His Majestys said plantations, there be landed“ 1 : das Straßenrecht!

2. Die Kolonien dürfen Erzeugnisse, namentlich gewerbliche, nur aus dem Mutterlande beziehen: das Marktrecht!

3. Die Kolonien dürfen Produkte, die das Mutterland erzeugt, selbst nicht hersteilen: das Bannrecht!

4. Das Mutterland behält sich das Transportmonopol vor.

5. Die Waren, die aus den Kolonien kommen, werden verzollt (versteuert), wenn sie aus den Häfen der Kolonien aus- und wenn sie in die Häfen des Mutterlandes einlaufen.

Aber dann, bei näherem Hinsehen, finden sich doch auch wieder zahlreiche Abweichungen, weist das Kolonialverhältnis wesentliche Unterschiede von dem alten Verhältnis der Land¬ schaft zur Stadt auf. Will man den Gegensatz, der zwischen beiden besteht, mit dem Gegensatz der großen Wirtschaftsideen in Verbindung bringen, so kann man sagen, daß das Expansions- bedürfhis der mittelalterlichen Stadt von der Idee der Nahrung, das der modernen Städtestaaten und Großstaaten von der Idee des Erwerbes^geleitet und beherrscht war. Die alte Stadt wollte so viel Land zu ihrer wirtschaftlichen Verfügung haben, als sie für ihren Unterhalt brauchte, der selbst durch die ziemlich konstante Einwohnerzahl nach Maß und Art bestimmt war. Der moderne Staat kannte schon bei seiner Entstehung diese natürliche Begrenztheit nicht : es ist eine uns bekannte Tatsache, daß gerade eine Wesenseigentümlichkeit des modernen Staates (dem wir die italienischen großen Städtestaaten immer zuzählen müssen) in dem unbegrenzten Streben nach Ausdehnung sich bemerkbar machte. Und diese Vergrößerungstendenz tritt dann in der kolonialen Expansion recht eigentlich zutage. Daß

1 Art. XIII der Schiffahrtsakte vom Jahre 1660 (1. Karl II. c. 18) bestätigt durch 25 Karl II. c. 7.

Sombart, Der moderne Kapitalismus. I.

28

434

Zweiter Abschnitt: Der Staat

dies© eine schrankenlose war, fand dann eine besondere Be¬ gründung noch in dem Ziele, dem alle Staaten bei ihren Beute- zügen znstrebten: dem Golde/ Sobald und weil dieses sie alle vornehmlich über ihre europäischen Grenzen hinauslockte, ergriff sie derselbe Taumel nach "unbegrenztem Besitz , der die 'Wirt¬ schaftssubjekte erfaßte und sie aus den engen Kreisen des Nahrungsideals herausschleuderte.

Dieser Drang leitet dann die Staaten in fast überall gleiche Bahnen und läßt allerorts ähnliche Normen der kolonialen Herr¬ schaft sich entfalten.

H. Die Entstehung der Kolonialreiche

Wie sich im Laufe der Jahrhunderte die einzelnen Kolonial¬ reiche bildeten, wie die verschiedenen Staaten und Städtestaaten sich die Gebiete der Erde nacheinander streitig machten, wie bald diese, bald jene Macht die Vorherrschaft in den umstrittenen Landesteilen besaß : das ist im allgemeinen bekannt und kann hier nur andeutungsweise erzählt werden, ~

/Die Geschichte der modernen Kolonien nimmt ihren Anfang mit den Kreuzzügen und der Ansiedlung der Europäer im heiligen Lande.

Die Kreuzfahrer Staaten 1 selbst waren keine Kolonien im modernen Sinne, wohl aber bieten sie die erste Gelegenheit für die italienischen Städte, in die Poren fremden Volkstums einzudringen und damit den Grund zu der späteren Kolonial¬ wirtschaft zu legen. Von den 1101 und 1104 eroberten Städten Arsuf, Cäsarea und Accon erhielt Genua je den dritten Teil, ebenso wie von dem umliegenden Gebiete. Ihm folgten Pisa und Venedig, das seit 1100 am Kampfe beteiligt, 1110 von dem reichen Sidon, 1123 von Tyrus je ein Drittel sich zusprechen läßt1 2. Zu den Städten gehörte stets eine große Landschaft; be¬ saßen doch die Venetianer allein in der Umgegend von Tyrus einige 80 Casalien3.

Von nun an war alles Sinnen und Trachten der großen, führen¬ den Stadtgemeinden Italiens auf Erweiterung ihres Kolonialbesitzes in den Mittelmeergebieten gerichtet. Und es entstanden denn auch Kolonialreiche von einer Mächtigkeit (im Vergleich natür-

1 E. Rey, Les colonies franques de Syrie aux XIl et XIII siede. 1883.

2 H. Prutz, Kulturgeschichte der Kreuzzüge (1883), 377 u.

3 H. Prutz, a. a. O. S. 390. Heyd 1, 170 f.

Siebenundzwanzigstes Kapitel: Die Kolonialpolitik 435

lieh zu der Größe der Mutterstadt), wie sie die Weltgeschichte trotz Rom und England wohl ein zweites Mal nicht ge¬ sehen hat.

Venedigs Kolonialbesitz erfuhr bekanntermaßen eine plötz¬ liche Ausdehnung infolge der Aufteilung des byzantinischen Reichs , bei welcher die Lagunenstadt drei Achtel des riesigen Gebietes erhielt h Damit kamen in seinen Besitz die Länder Epirus, Akarnanien, Ätolien, die ionischen Inseln, der Peloponnes, die gegen Süden und Westen gelegenen Inseln des Archipelagus1 2, eine Anzahl Städte an der Meerenge der Dardanellen und am Marmarameer, thrazische Binnenstädte wie Adrianopel u. a., Pera, die Vorstadt von Konstantinopel, Kandia und bald nachher auch das wichtige Cypern. Dieses Gebiet wurde dann im Verlauf der Jahrhunderte fortgesetzt abgerundet durch Erwerbungen in Ar¬ menien, am Schwarzen Meer usw.

Hier jedoch hatte die Vorherrschaft Venedigs gefährlichste Rivalin: Genua3. Die Genuesen besaßen in der Krim ebenso wie auf dem Festlande ausgedehnten Grundbesitz. Den Mittel¬ punkt ihrer Kolonien am Schwarzen Meer bildete Kaffa, in dem sie seit 1266 herrschten. Diese Stadt soll im 14. Jahrhundert 100000 Einwohner gezählt haben (?). Dann aber befanden sich in den Händen der Genuesen, die ertragreichen Inseln Chios, Samos, Nikaria, Önussa, Sa. Panagia, Teile von Cypem (Famagusta), Korsika (bis 1768) und Sardinien, das Genua dann an das ara- gonische Königreich verlor, Besitzungen in Spanien, in Griechen¬ land4, an der armenischen Küste, in Syrien und Palästina.

1 „Vint ä la part de Venise la quarte part et la moitie de la quarte part de tout l’empire de Romanie.“ Le livre de la Conqueste. Edit. Buchon (1845), 2L Die genannten Angaben siehe bei J. A. C. Buchon, Recherches et materiaux pour servil’ ä une histoire de la domination framyaise aux XIII., XIV. et XV. sc. dans les provinces demembrees de l’empire grec. 1 (1851), 13 ff. Die Urkunden sind abgedruckt bei Thomas und Tafel 1, 452 ff.

2 Hier herrschten die Sanudos, die sich ducs des douze lies nannten, bis sie 1372 die Crispo ablösten. Buchon, 352 ff., 357 f. Man nannte das „conquete de familles“.

3 Über den Genueser Kolonialbesitz unterrichten im Vorbeigehen Heyck, Genua und seine Marine (1886), 154; Sieveking, Genues. Finanzwesen 1, 178 f.; 2, 102; Cibrario, Ec. pol. 3 2, 280 (der ein Ms. Semino, Mem. stör, sul commercio de’ Genovesi dal sec. X al XV, zitiert), und natürlich auch Heyd.

4 Über die Besitzungen der genuesischen Familie der Centarioni in Griechenland vgl. Buchon, 1. c. 304 ff.

28*

436

Zweiter Abschnitt: Der Staat

Neben Venedigs und Genuas Kolonialreichen verschwinden diejenigen der übrigen italienischen Staaten. Immerhin ist auch der Kolonialbesitz von Pisa 1 2 und Florenz2, nicht unbedeutend gewesen. Beide Städte waren seit dem 12. Jahrhundert in Syrien und Palästina angesiedelt; Pisa hatte frühzeitig an der afrika¬ nischen Küste Fuß gefaßt und Florentiner Familien herrschten in Griechenland3.

Als dann seit der Entdeckung Amerikas und des Seeweges nach Ostindien neue, große Kolonialreiche jenseits des Ozeans entstehen, sind es, wie man weiß4, andere Nationen, die sie be¬ gründen: im 16. Jahrhundert vor allem Spanien und Portugal; im 17. und 18. Jahrhundert Frankreich, Holland und England, während die deutschen Staaten beiseite stehen und nur das winzige Brandenburg einige vergebliche Versuche macht, sich auch als Großstaat zu betätigen.

Die Spanier sind zeitlich die erste der modernen Kolonial¬ mächte. Ihr Besitz erstreckte sich schon im 16. Jahrhundert über ganz Südamerika (ohne Brasilien), Mittelamerika und den Südteil von Nordamerika von Kalifornien bis Florida, sowie über einige kleinere Landstrecken in Afrika und der Südsee ; ein Ge¬ biet, das sie bis in das 19. Jahrhundert hinein besessen haben.

Im 16. Jahrhundert stand Spanien ebenbürtig zur Seite : Portugal, das damals die West- und Ostküste Afrikas, die Küsten des Arabischen Meeres einschließlich der Westküste Indiens, einzelne hinterindische Küstenplätze , die Molukken und vor allem das große Brasilien beherrschte. Dieser Besitz wurde aber schon im 16. und noch mehr im 17. Jahrhundert durch das Vor¬ dringen der übrigen Staat en stark ge schmäle rt._

Unter ihnen nimmt während der ersten Hälfte des 17. Jahr¬ hunderts die führende Stellung ein: Frankreich. Schöpfer des französischen Kolonialreichs ist Richelieu (1624 1642). Als er

1 A. Main, I Pisani alle prime crociate (1893), zit. bei Toniolo, L’ economia di credito e le origini del capitalismo nella rep. fior., in der Riv. intern. 8, 37 f.

2 Toniolo, a. a. 0. Davidsohn, Gesch. von Florenz 1, 282. Ida Masetti-Bencini, F. e le isole della Capraia e della Pianosa, im Arch. stör. ital. Ser. V t. XIX (1897), p. 110 ff.

8 Im 14. Jahrhundert erlangt die Familie der Acciaiuoli die Herzogs¬ würde von Athen. Buchon, 346 ff.

4 Am übersichtlichsten findet man die Tatsachen der neueren Kolonialgeschichte zusammengestellt in dem obengenannten Werke von Al. Supan, 14 ff.

Siebenuudzwanzigsteg Kapitel: Die Kolonialpolitik 487

zur Regierung kommt, besitzt Frankreich nur Quebec, bei seinem Tode: Kanada, Martinique, Guadeloupe, Dominique und andere Antillen. 1682 wurde Louisiana begründet, und auch in Hinter¬ indien fa,ßte Frankreich festen Fuß. Der Zusammenbruch dieses großen französischen Kolonialreichs erfolgte am Ende des 18. Jahr¬ hunderts, als Kanada in die Hände der Engländer fiel und (1803) Louisiana an die Vereinigten Staaten verkauft wurde.

Im 17. Jahrhundert entstehen dann neben den französischen Besitzungen die beiden größten Kolonialreiche der neueren Zeit : das holländische und das englische.

Die Holländer verdrängen zum Teil die Spanier und Portu¬ giesen aus ihren Ansiedlungen und setzen sich im Laufe des 17. Jahrhunderts in Brasilien, Afrika und Ostindien fest, wo bis dahin die Portugiesen gesessen hatten. Dazu aber erwarben sie das Kapland und vor allem die Sundainseln.

Den Holländern folgen auf dem Fuße die Engländer, die ihnen einen Teil ihrer Beute abjagen: New York, Ceylon, das Kapland; während sie den Spaniern mehrere der westindischen Inseln, den Franzosen Kanada und Vorderindien Wegnahmen, um dann als die letzten auf ihrer reichen Beute sitzen zu bleiben.

In langwierigen, harten und erbarmungslosen Kämpfen sind die Kolonien von jedem Staate erworben: sie sind erobert worden.

Erobert worden sind die Kolonien im Kampfe mit den Eingeborenen, erobert im Kampfe mit den eifersüchtigen, um die Wette streitenden europäischen Nationen. Gewiß mag hier und da das diplomatische Geschick mitgeholfen haben, um einem Lande Vorteile im Handel mit einem fremden Volke zu verschaffen; wir kennen zahlreiche Verträge, die mit den eingeborenen Fürsten abgeschlossen wurden, und in denen die europäische Nation Privilegien aller Art zugesichert bekam. Be¬ sonders in den Levantekolonien, wo man es mit halb- und ganzzivili¬ sierten Völkern zu tun hatte, waren Vertragsschließungen häufig. Und auch in den asiatisch- amerikanischen Gebieten kamen sie vor. Fran¬ zösisch hießen solche Verträge „Firman“, in denen (wie beispielsweise in dem Firman aus dem Jahre 1692, den Destandes für die französische Comp, des J. 0. in Chandemagor vom Mogul erwirkt) etwa folgendes vereinbart wurde: Die Kompagnie zahlt dem Mogul 40 000 Kop., 10 000 sofort, 5000 in Jahresraten; die Franzosen erhalten das Recht, frei zu handeln in den Provinzen Bengalen, Orissa und Behar ; mit den¬ selben Privilegien und auch denselben Gewohnheiten wie die Holländer; sie zahlen wie diese 3 x/s °/o Douane.

Aber so vortrefflich derartige Abmachungen waren, getan war es mit ihnen gewiß nicht. Schon daß sie von den Eingeborenen gehalten wurden, setzte eine Machtentfaltung des vertragschließenden Landes

438

Zweiter Abschnitt: Der Staat

voraus, die dem Fürsten drüben genügende Achtung einflößte. Und dann blieb ja immer noch der rivalisierende europäische Staat, der jeden Augenblick bereit war, mit dem Schwert in der Hand sich seinen Platz zu erkämpfen.

So ist schon die Kolonialgeschichte der Genuesen und Venetianer eine Geschichte von ewigen Kriegen. Ein großer Teil des Buches von H e y d ist der Aufzählung solcher Kämpfe gewidmet. Auch hier schon bekamen gute Verträge diejenigen Staaten, die am trutzigsten auf¬ traten: „Während dieser Kämpfe beschränkte sich die Republik (Venedig) im wesentlichen darauf, ihr Quartier in der Stadt Negrepont in guten Verteidigungszustand zu setzen. Wahrscheinlich trug dies dazu bei, daß sie im Jahre 1272, als abermals ein Vertrag auf zwei Jahre mit Michael Paläologus abgeschlossen wurde, günstigere Be¬ dingungen erlangte.“ (He yd.) Und nicht minder die der westeuropä¬ ischen Nationen seit dem 16. Jahrhundert: Machtentfaltung durch kriegerisches Auftreten blieb auch hier die Losung: „11 faudrait en- voyer des vaisseaux du Roi afin de les faire voir sur les cötes et surtout n’epargner ni poudre ni boulets , et c’est d’une grande con- sequence afin d’abattre l’orgueil des Hollandais . . . , fomenter la guerre entre Anglais et Hollandais et secourir toujours le plus faible . . . ; la Comp, etant etablie une fois, il ne tiendra qu’au Roi d’etre le maitre des Indes“ . . . heißt es in einer Denkschrift der Direktoren der fran¬ zösisch-ostindischen Kompagnie aus dem Jahre 1668. V. Kaeppelin, La compagnie des Indes orientales (1908), 322.

Man weiß, daß seit dem 17. Jahrhundert es üblich wurde, die staatlichen 'Hoheitsrechte, vor allem auch die Kriegsmittel, den privi¬ legierten Handelsgesellschaften zu übertragen, denen dadurch recht eigentlich die Eroberung der Kolonien als Aufgabe anheimfiel, und zwischen denen der Kampf um den Futterplatz (soweit er außerhalb Europas entschieden wurde) zum Austrag kam. Daß in diesem Kampfe die Größe der staatlichen Machtmittel letzten Endes die Entscheidung gab, und daß der Sieg nicht von friedlichen Kaufleuten, sondern von gewandten Geschäftsleuten und brutalen Seehelden erfochten wurde, liegt auf der Hand.

„L’on connaitra par qu’il faut que les personnes qui sont ä la tete des Compagnies dans les Indes, aient d’autres qualites que celle qui regarde la fonction simplement d’un habile marchand: c’est un Service mele, il est necessaire de savoir un peu de tout“ berichtet der immer klar schauende F. Martin nach Hause. Kaeppelin, 63. Und das hat für alle Nationen gegolten: die brutalsten, die rücksichts¬ losesten haben in dem Kampfe zuletzt den Sieg davongetragen.

Wie der Hergang bei dem Erwerbe kolonialen Besitzes war, dafür liefert die Geschichte der afrikanischen Handelsgesellschaften ein be¬ sonders gutes, weil außerordentlich durchsichtiges Beispiel:

Zunächst wird Afrika von den Portugiesen besetzt. Daneben fassen auch die Engländer festen Fuß : die Königin Elisabeth privilegiert eine Gesellschaft. Die Engländer bauen nun ihr erstes Fort an der Gold¬ küste, dann am River Gambia, zur Zeit der Stuarts. 1621 wird die holländisch-westindische Kompagnie errichtet, mit dem Rechte, alles

Siebemindzwanzigstes Kapitel: Die Kolonialpolitik

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Land an der afrikanischen West- und amerikanischen Ostküste in Besitz zu nehmen; sowie mit dem alleinigen Recht, daselbst Handel zu treiben. Da die Portugiesen die Plätze , die für die Gesellschaft wichtig waren, schon in Besitz genommen hatten, so waren Zusammen¬ stöße unvermeidlich, und sie traten auch bald genug ein : 1637 erobern die Holländer das erste portugiesische Fort in Afrika, bald alle andern, die ihnen im Vertrage von 1641 formell zugesprochen wurden. Nun sind aber die Engländer noch im Wege, und die Holländer beanspruchen jetzt das Recht des Alleinhandels auch ihnen gegenüber: sie lassen beständig zwei Kriegsschiffe an der Küste kreuzen, die auf ankommende englische Handelsschiffe Jagd machen sollen: die Namen der gekaperten Schiffe bei Postlethwayt, Dict. 1, 927. Es war nun klar geworden:

1. daß englische Privatkaufleute nicht gegen die vereinigte Macht der holländisch -westindischen Gesellschaft aufkommen konnten;

2. daß auf einen Vertrag zwischen den beteiligten Staaten wenig Wert zu legen war (ostindische Erfahrung!);

3. daß es nur ein Mittel gebe, gegen einen solchen Gegner wie die holländisch- westindische Kompagnie zu bestehen: auch die eng¬ lischen Kaufleute gleicherweise zu einer Gesellschaft zusammenzu¬ schließen und dieser alle Machtbefugnisse und Privilegien zu geben, deren sie bedürfte.

Das Ergebnis dieser Erwägungen war die Gründung der „Company of Royal Adventurers of English trading into Africa“ im Jahre 1662.

Nun beginnt ein wohlgeordneter Kampf zwischen beiden Gesell¬ schaften : die Engländer legen nun auch Forts an, rüsten auch Kriegs¬ schiffe aus usw. Welcher Aufwand dabei in Frage kam, zeigen folgende Ziffern: für Erbauung und Erhaltung der Forts an der afrikanischen Küste verausgabte die Gesellschaft von 1672 1678 390 000 von 1678—1712 206 000 von 1712—1729 255 000 £, zusammen also 851000 £ in diesen 57 Jahren! Aber die Engländer wurden nun auch in ihrem Besitze nicht mehr gestört. Postlethwayt, der nach guten zeitgenössischen Quellen diesen Bericht gibt, fügt hinzu (Dict. 1, 725): „For 250 years past, it has been the constant policy of all such European nations ... die fremde Länder entdeckt haben . . . to build and maintain forts and castles; and in virtue of such possessions to claim a right to whole Kingdoms and to tracts of land of a vaste extent and to exclude all other nations from trading into or from them.“

Erst im Verlaufe unserer Epoche, im 18. Jahrhundert, fängt der Vertrag“ mehr und mehr an Bedeutung als Machtmittel zu gewinnen: die Gewalt weicht der List als vorherrschende Kategorie der Unter¬ werfung, und es sind wohl vornehmlich die Engländer, die diese neue Form entwickeln. Aber für den größten Teil des frühkapitalistischen Zeitalters gilt doch, daß die Gewalt der Waffen das Schicksal der Staaten in Europa und in den Kolonien entschied ; gilt also der Satz :

Im Anfang war die Armee. .

Die Geschichte der Kolonien ist daher großenteils Kriegs- geschichte, und die meisten Geschichtsschreiber sind sogar der Meinung, daß es nur Kriegsgeschichte sei: daher man in den all¬ gemeinen kolonialgeschichtlichen Werken meist eine ausgiebige Dar-

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Zweiter Abschnitt: Der Staat

Stellung der Eroberungskriege findet. Zur Ergänzung füge ich noch folgende Schriften hinzu, die sich ganz besonders mit den Kämpfen um die Kolonien beschäftigen: vor allem ist für die Levantekolonie hier das Buch von W. Heyd, Geschichte des Levantehandels. 2 Bde., 1879, zu nennen, das sich fast ganz in der Aufzählung diplomatischer und kriegerischer Aktionen erschöpft.

Ganz besonders dornenvoll waren in der weiteren Zeit naturgemäß die Pfade der Bahnbrecher, also im Osten der Portugiesen. Über ihre Erlebnisse berichtet treuherzig E. Saalfeld, Geschichte des portu¬ giesischen Kolonialwesens in Ostindien (1810). Eine sehr eingehende Darstellung der Kämpfe der Portugiesen in Ostindien liefert neuerdings H. Bokemeyer, Die Molukken, 45 79. Von älteren Beschreibungen ist noch zu vergleichen de Veer, Heinrich der Seefahrer (1864), 86 ff.

Die spanische Kolonisationsgeschichte (als Eroberungsgeschichte) hat in unübertroffener Weise dargestellt W. H. Prescott in seinen beiden Werken: History of the Conquest of Mexico. 3 Bde, zuerst 1843, und History of the Conquest of Peru. 3 Bde,' zuerst 1847. Ein sehr brauchbares Buch ist noch heute Arth. Helps, The Spanish Conquest in America etc. 4 Vol., 1855 61. Von neueren Bearbei¬ tungen seien hervorgehoben die Werke von K. Häbler: Amerika, in Helmolts Weltgeschichte Bd. I, 1899, und Geschichte Spaniens unter den Habsburgern Bd. I, 1907.

Die Kämpfe der Holländer behandelt wiederum eingehend P. Saal- feld in seiner Geschichte des holländischen Kolonialwesens, 1812, ohne jedoch (sehr zum vorteilhaften Unterschiede zu den meisten andern Kolonialschriftstellern) die wirtschaftliche Seite unberücksichtigt zu lassen. Eine ausführliche Kriegsgeschichte der holländischen Kolonien findet man bei G. C. Klerk de Heus, Geschichtlicher Überblick der . . . niederl.-ostind. Komp. (1894), S. XI XLVI. Zu vergleichen: J. P. J. Dubois, Vie des gouverneurs generaux etc., 1763.

Über die Kämpfe der Franzosen enthält viel Material das öfters zitierte Buch von Kaeppelin.

Die letzten Entscheidungskäxapfe wurden aber noch nicht einmal in den überseeischen Gewässern, sondern wurden in Europa ausgefochten. Ganz deutlich haben die meisten der zahllosen Kriege, die das 17. und 18/ Jahrhundert erfüllen, handeis- oder kolonialpolitische Veranlassungen, die, namentlich seit England bestimmenden Einfluß gewinnt, immer ausschließlicher werden: „Der heroische religiöse Befreiungskrieg der Niederländer vom spanischen Joche ist bei Lichte besehen ein fast hundertjähriger Kolonieeroberungskrieg in Ostindien und ein ebenso langer Kaperkrieg gegenüber der spanischen Silberflotte und dem spanisch - amerikanischen Kolonialhandel“ (S c h m o 1 1 e r). / Der Krieg, den die Vereinigten Provinzen 1652 bis 1654 mit England führten, war veranlaßt worden durch die Navigationsakte Crom- wells ; als umgekehrt England im Jahre 1664 den Holländern den

Siebenundzwanzigstes Kapitel: Die Kolonialpolitik

441

Krieg erklärte, war dies die Antwort auf das feindselige Verhalten der holländisch-westindischen Kompagnie in Afrika. Louis XIV., dessen Kriege im allgemeinen freilich tiefer begründet waren als in bloßen Handelsinteressen, fiel doch. 1672 in Holland ein, um die Holländer für ihre maßlosen Repressalien zu strafen, die sie gegen die Colbertschen Zolltarife ergriffen batten. Der spanische Erbfolgekrieg war ebenso wie der große Koalitionskrieg von 1689 bis 1697 in erster Linie ein Kampf Englands und Hollands gegen die Gefahr, die von Frankreich her und von der Ver¬ einigung des französischen Handels mit der spanischen Kolonial¬ macht drohte. Endlich fochten im 18. Jahrhundert wiederholt, zuletzt und mit entscheidendem Erfolge einen Zweikampf aus die beiden großen Kolonialmächte England und Frankreich. Daß England in den Kriegen von 1756 1763 Sieger blieb, entschied seine Vormachtstellung im Welthandel und im Kolonialbesitze.

TTb Die Nutzung der Kolonien

Verschieden gestaltete sich natürlich die Nutzung, je nachdem es sich um die bloße Anlage von Faktoreien oder um Plantagen¬ betrieb oder um Ansiedlung handelte. Ansiedlung kam ja damals im wesentlichen nur in den nördlichen der nordamerikanischen Kolonien in Frage, während alle übrigen: sowohl die levanti- nischen wie die späteren überseeischen Kolonien „Handels-6 oder „Pflanzungs-“Kolonien waren. Deren Nutzung (die uns allein hier angeht) erfolgte abermals in verschiedener Weise, je nach dem Verwaltungssysteme, das die Staaten zur Anwendung brachten. Wir unterscheiden deren zwei: die direkte staatliche Verwaltung und die Vergebung an Kolonisationskompagnien. Jene finden wir bei den venetianischen und später bei den spanisch-portugiesischen, diese bei den genuesischen und dann bei den Kolonien der Niederländer, der Franzosen und der Engländer.

Die früheste Form der Kolonisationskompagnien ist die genuesische Maona. Die berühmteste Mao na ist die von Chios, die im Jahre 1347 wie folgt zustande kam: eine zu andern Zwecken von Privat¬ reedern ausgerüstete Flotte hatte Chios erobert. Bei ihrer Rückkehr verlangten sie, wie ausbedungen war, von der Regierung 203 000 Lire Ersatz. Da die Regierung nicht zahlen konnte, so wurde am 26. Februar 1347 diese Schuld in die Compera oder Maona Chii verwandelt. Zur Sicherheit und zur Verzinsung der Schuld wurden die Gläubiger mit Chios und Phokäa belehnt. Zwei Jahrhunderte hindurch ist dann die Maona im Besitz des dominium utile nicht nur von Chios und Phokäa,

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Zweiter Abschnitt: Der Staat

sondern auch der Inseln Samos, Nikäa, Önussa und Sa. Panagia ge¬ wesen, und lange hat sie das Monopol des Mastixhandels von Chios und des Alaunhandels von Phokäa besessen. Art. Giustiniani, bei Ersch und Gruber, 316 ff., 327 ff. 1374 wird die Maona Cipri, 1403 die Maona nuova Cipri begründet; 1378 wird Korsika einer Maona über¬ tragen; später auch die Krim. Vgl. Sieveking, Genues. Finanz¬ wesen 1, 177 ff; 2, 99 ff.

Seit dem 16. Jahrhundert tritt dann die große Handelskompagnie auf, der wir in anderem Zusammenhänge schon begegnet sind und in abermals anderem begegnen werden.

Aber im Kern ist das Kolonialsystem doch in all den Jahr¬ hunderten, seit die Italiener in der Levante festen Fuß faßten, bis zum Untergang der großen Handelskompagnien und bis zur Aufhebung der Sklaverei dasselbe gewesen, weil es auf folgenden Grundlagen ruhte :

1. der Privilegierung, die hier in den Kolonien ihre höchste Ausbildung erfahren hat. Wenn einer Handelsgesell¬ schaft die alleinige Ausnutzung einer Kolonie zugesprochen wurde, so liegt die Form des Privilegs deutlich zutage. Aber auch dort, wo wir keinen privilegierten Kompagnien begegnen, finden wir das Privilegierungssystem in Anwendung. In den Anfängen der italienischen Kolonisation, aber auch der spanisch¬ portugiesischen wird sogar das alte Feudalsystem ohne weiteres verwendet, um einzelne Personen mit Vorrechten auszustatten: es finden gleichsam „Belehnungen“ mit bestimmten Gebietsteilen der Kolonie statt. Später tritt die .Regalisierung an die Stelle, und einzelne Personen erhalten gegen Erstattung einer bestimmten Pachtsumme das Recht zur Ausbeutung der Regale.

Über die feudalartigen Verteilungen in der Levante: Beugnot, Mein, sur le regime des terres dans les principautes fondees en Syrie par les Francs (Bibliotheque de l’ecole des chartes 3 ser. t. 5 [1854]); H. Noiret, Doc. inedits pour servir ä l’kist. de la domin. venetienne ä Crete (Bibi, des ecoles fran^. d’Athenes et de Rome 21 [1892]); Heyd, a. a. 0. Vgl. 1. Aufl. 1, 336 ff.

Im spanischen Amerika heißen die „Lehen“ encomiendas , die zu¬ gehörige Bevölkerung repartiementos. Am ausführlichsten handelt über die Encomiendas Arth. Helps, The Spanish conquest in America 3 (1857), 99 ff. ; daselbst (S. 135) findet sich auch die berühmte Definition des repartiemento nach Ant. de Leon (Confirmaciones reales parte I cap. I).

In den ■portugiesischen Kolonien sprach man von Kapitanien und Sesmarias: H. Handelmann, Gesch. von Brasilien (1860), 47.

Eine besondere Art der persönlichen Verleihung von Vorrechten waren die sog. Entdeckungsverträge. Solche Entdeckungsverträg» schlossen die Fugger, die Welser, die Ehinger u. a. häufig ab. Eine

Siebemmdzwanzigstes Kapitel: Die Kolomalpolitik

443

ausführliche Wiedergabe eines derartigen Vertrages findet sich bei K. Häbler, Geschichte der .Fuggers chen Handlung, 56 ff. Vgl. ferner Herrn. A. Schuhmacher, Die Unternehmungen der Augsburg. Welser in Venezuela usw., in der Hamburger Festschrift zur Erinnerung an die Entdeckung Amerikas Bd. II, 1892, und K. Häbler, Welser und Ehinger in Venezuela, in der Zeitschr. des Histor. Ver. für Schwaben und Neuburg, 1895, S. 66 ff., und von demselben, Die überseeischen Unternehmungen der Welser und ihrer Gesellschafter, 1903. Dazu die Kritik von Franz Eulenburg in der Historischen Zeitschrift 1904, S. 104 ff. Die reiche Literatur über die Beziehungen der Welser zu Venezuela ist zusammengestellt von Victor Hantsch, Deutsche Reisende des 16. Jahrhunderts, im 4. Hefte des I. Bandes der Leipz. Studien aus dem Gebiet der Geschichte (1898), 17/18.

Ganz moderne Privilegierungen weist die Verwaltung der venetia- nisclien Kolonien im 15. Jahrhundert schon in großer Fülle auf. 16. März 1429 wird dem Petrus Quirino das ausschließliche Recht der Alaungewinnung auf der Insel Kreta auf zehn Jahre übertragen. Noiret, Doc. ined., 327/28; 20. Juni 1465 desgl. zur Anlage eines Bergwerks auf Kupfer, Silber oder Golderze dem Nicolao Genus. Noiret, 495/96; 3. April 1480 desgl. zur Gewinnung von Nitrium unter Gewährung eines Kredits von 300 Duk., ib. 547 ; 16. März 1445 findet eine Versteigerung des zehnjährigen Monopols für die Gewinnung von Alaun statt, ib. 410; 31. Juli 1442 wird dem Thomas Quirino und seinen Associes das Privilegium zur Einführung des Mastixbaums nach Kreta erteilt, gleichzeitig wird ihm für die nächsten 20 Jahre das alleinige Recht zum Anbau von Mastixbäxxmen zugesprochen, ib. 402 24. Juli 1428 wird dem Marcus de Zanono für die nächsten zehn Jahre das alleinige Recht zuerkannt, Zuckerrohr auf der Insel Kreta zu pflanzen, ib. 324/25, usw.

2. Die zweite staatliche Maßnahme, die aller Kolonialpolitik der früheren Zeit ihr eigentümliches Gepräge verlieh, war die Ausrüstung der Kolonisten es mochten Einzelpersonen oder Korporationen sein mit einem außerordentlich starken militärischen Apparat. Wir müssen uns alle kolonialen Ansiedlungen jener Jahrhunderte mit Festungen besetzt vor¬ stellen, in denen meist eine starke Mannschaft mit reichlicher Munition ihren ständigen Aufenthalt hatte, soweit nicht etwa die Kaufleute oder Farmer selber die Verteidigung des Forts, das sie allein schützte, unterhielten.

Das gilt wiederum gleichermaßen von den italienischen Kolo¬ nien in der Levante wie von denen der späteren Zeit. Um nur ein paar beliebig ausgewählte Beispiele herauszugreifen: „Als sehr bedeutend müssen wir uns nach der Schilderung Giov. Bembos die venetianischen Befestigungen in Tana denken. Es war nämlich nicht bloß das von den Venetianern bewohnte Quartier in der Stadt selbst mit Mauern und Türmen umgeben,

444

Zweiter Abschnitt: Der Staat

sondern die Yenetianer besaßen aucb ein eigenes Kastell mit zwei Türmen nnd von einem großen Graben umgeben, außerhalb der Stadt auf einer Anhöhe, wohin sie sich, wenn die Stadt von einem Feinde angegriffen wurde, mit ihrer Habe zurückziehen konnten.“ 1 Und : Die holländische Faktorei in Bengalen „looks more like a castle, being incompassed with deep ditches, full of water, high stone walls and bastions faced with stone and mounted with canon. Their spacious warehouses are also of stone and apartments for the officers and merchants are large and com- modious“ 2.

Die holländisch - ostindische Kompagnie hielt an ständigen Truppen (Anfang des 18. Jahrhunderts) 12000/ Mann in ihren indischen Besitzungen, während 100000 Einheimische für die Waffe ausgebildet waren, um gelegentliche Verwendung zw. finden. Regelmäßig mußten die großen Kompagnien auch ihre Kauffahrtei¬ schiffe in Kriegszustand halten, da sie ebenso oft als Kriegs¬ schiffe zu dienen hatten. Die Flotte der holländisch - indischen Kompagnie bestand aus etwa 60 Seglern, „fit for Service“, mit je 30 60 Geschützen ausgerüstet3 4 *.

Die Ausgaben der englisch- ostindischen Kompagnie für Zivil- und hauptsächlich! Militärverwaltung einschließlich Festungsbauten in der Provinz Bengalen beliefen sich beispiels¬ weise in den sechs Jahren von 1765 1771 auf 9 027 609

Die Stärke der militärischen Besatzung in den englischen Kolonien während des 18. Jahrhunderts ist aus folgenden Ziffern ersichtlich 6 :

Jamaica (1734): 7644 weiße Bevölkerung, davon 3000 Mann Be¬ satzung; 6 Forts;

Barbados (1734): 18295 weiße Bevölkerung, davon 4812 Mann Besatzung; 21 Forts; 26 Batterien mit 463 Kanonen; Leeward Islands (1734): 10262 weiße Bevölkerung, davon

militia 3772.

1 Heyd, 2, 376. 2 P o s tle thway t , Dict. 1, 241.

8 Ohslow Burrish, Batavia illustrata (1728), 327. Vgl. das

Kapitel „Seeschiffahrt“ im 2. Bande.

4 Fourth Report . . . on Administration of Justice in India, 1773,

p. 535, bei Dult, Econ. Hist, of India 3. ed., 1908, p. 46.

6 Bericht des Lord Comm. of Trade and Plantat. bei Anderson, 3, 203; Im Dict. des Postlethwayt (1, 728) findet sich eine ge¬ naue Übersicht über den Bestand an Forts, Ausrüstung, Munition, Besatzung usw. an der afrikanischen Küste.

Siebenundzwanzigstes Kapitel: Die Kolonialpolitik

445

3. Die Hauptsache war aber doch, daß die Staaten, die Kolonien gründeten, ihre Machtmittel dafür einsetzten, daß die Arbeit, die in diesen Kolonien von einheimischen oder fremden Arbeitern zu verrichten war , und auf deren Ausnutzung , wie Colon sehr richtig erkannte, als er Amerika entdeckt hatte, aller Wert der Kolonien beruhte1: daß die Arbeit in der Form der Zwangsarbeit vom Gesletze anerkannt wurde, das heißt also, daß die Sklaverei in irgendeiner Gestalt als Arbeitssystem zu¬ gelassen war. Auf Sklaverei (oder Hörigkeit) ruhte die Kolonial¬ wirtschaft der Italiener in der Levante ebenso wie die der Spanier, Portugiesen, Franzosen, Holländer und Engländer in Afrika, Amerika und Asien. Über diese ist das nötige zu sagen in dem 47. Kapitel,' das von der Kolonial Wirtschaft handelt und als eine Ergänzung der hier gemachten Ausführungen anzu¬ sehen ist.

1 „Los Indias desta isla espaäola eran y son la riqueza della“ : Memorial aus dem Jahre 1505.

446

Achtundzwanzig’stes Kapitel

Staat und Kirche

Vorbemerkung. Literatur

Durch das jeweils verschiedene Verhalten der Staatsgewalt den Religionsgemeinschaften und Religionsbekenntnissen gegenüber sind eigenartige Bedingungen für die Entfaltung des kapitalistischen Wbsens geschaffen worden, weshalb es notwendig wird, die Beziehungen zwischen Kirche und Staat, wie sie seit dem Ausgange des Mittelalters bis zum Ende des 18. Jahrhunderts oder zum Beginn des 19. Jahrhunderts sich gestaltet haben, in den Grundzügen hier darzulegen. (Die Bedeutung der religiösen Überzeugung für das Wirtschaftsleben ist dagegen in einem ganz andern Zusammenhänge zu würdigen. Siehe die ein¬ schlägigen Kapitel in meinem „Bourgeois“, wo ich eine solche Würdigung versucht habe.) Die Beziehungen des Staates zur Kirche üben nun aber, zumal in der von uns überblickten Zeitspanne, auf die Gestaltung des Wirtschaftslebens vor allem dadurch einen bestimmenden Einfluß aus, daß sie über die Duldung oder Ausschließung der verschiedenen Re¬ ligionsgemeinschaften innerhalb des Staatsgebietes entscheiden. Was wir also hauptsächlich zu verfolgen haben , ist , abgesehen von der tatsächlichen Verbreitung der verschiedenen Religionssysteme über die , Kulturvölker, die Herrschaft des Toleranz- oder Intoleranz prinzips in den einzelnen Ländern zu den verschiedenen Zeiten. Unter diesem Gesichtspunkt wähle ich aus der großen Literatur auch die wich¬ tigsten Werke aus.

Das Problem der religiösen Toleranz unter geschichtlichem Gesichtspunkte versuchen in ganz allgemeinem Zusammenhänge zu be¬ handeln die Bücher von Franc. Ruff in i, La libertä religiosa. Vol. I. Storia dell’ idea. 1901, und von Amadee Matagrin, Histoire de la tolerance religieuse, 1905 ; beides gute Arbeiten, die aber doch das Thema -keineswegs erschöpfen : dazu ist die Fragestellung eine zu vor¬ wiegend literarische. Eine Skizze ist die Darstellung bei Jules Simon, La liberte. 2 ed. 1859. partie. In mehr philosophierender und räsonierender Weise behandelt das Problem W. E. H. Lecky, History of the rise and influence of the spirit of Rationalism in Europe. Deutsch. 2 Bde. 1868. Mehr vom dogmatischen als vom historischen Standpunkt aus erörtert das Problem Ernst TroeltscÜ, Die Sozial¬ lehren der christlichen Gruppen und Kirchen. 1912. Einen Überblick geben die Art. „Toleranz“ in der Prot. Real.-Enc. (Verf. Friedberg) und in Wetz er s und Weltes Kirchenlexikon. Bd. 11. (Katholisch.)

Für das Studium des wirklichen Verlaufs der Dinge ist man immer noch auf die monographischen Bearbeitungen des Gegenstandes

Achtundzwanzigstes Kapitel: Staat und Kirche

447

für die einzelnen Länder angewiesen. Diese findet man in jedem all¬ gemeinen Geschichtswerke sowie in jeder Kirchengeschichte. Aus der Spezialliteratur seien folgende Schriften genannt:

Frankreich: Gottl. von Pole nz, Geschichte des französischen Calvinismus. 5 Bde. 1857 ff. (nur bis 1629 geführt). Theod. Schott, Die Aufhebung des Edikts von Nantes usw. 1885. Th. Buckle, Hist, of Civil. 1. Vol. Ch. 8 14; das Werk von Matagrin.

Spanien: E. Schäfer, Beiträge zur Geschichte des Protestantis¬ mus und der Inquisition im 16. Jahrhundert. 3 Bde. (Bd. II u. III Urkunden). 1902. Das vortreffliche Werk, das auf gründlichen Quellen¬ studien beruht, enthält in der Einleitung einen kritischen Überblick über die einschlägige Literatur. In ihr hat jahrzehntelang eine herrschende Stellung eingenommen Don Juan Ant. Llorentes Historia critica de la Inquisicion de Espafia, die zuerst 1817 in französischer Sprache erschien und dann oft aufgelegt und in viele fremde Sprachen übersetzt ist: deutsch 1820 22. 4 Bde. Das Werk hat lange Zeit als eine objektiv quellenmäßige Darstellung gegolten, ist aber heute doch als stark tendenziös erkannt: siehe darüber Schäfer, a. a. 0. 1, 24 ff. Zu vergleichen aus der nicht-zünftigen Literatur ist noch Th. Buckle, 1. c. 2. Vol., Ch. I.

Encßand und die englischen Kolonien: Th. Buckle, 1. c. 1. Vol. Ch. 7 und 2. Vol. Ch. II VI (Schottland). James S. M. Ander¬ son, The History of the Church of England in the Colonies. 2. ed. 3 Vol. 1856 (sehr brauchbar). Zur Ergänzung dient Sanford H. Cobb, The rise of religious liberty in America. 1902- Über den Puritanismus insbes. Dougl. Campbell, The Puritan in Holland, England and America. 2 Vol. 1892. Ezra Hoyt Byington, The Puritan in England and New England. 1906: beides in ihrer Art vor¬ treffliche Darstellungen. Oft ist man aber doch noch heute genötigt, zurückzugreifen auf das Werk von Neal, History of the Puritan. 5 Vol. 1822. Einen guten Gesamtüberblick gibt jetzt Henry W. Clark, Hist, of Engl, nonconformity. 2 Vol. 1911/13.

Holland: Dougl. Campbell, 1. c. L o uis Ulb a c h, La Hollande et la liberte de penser aux XVII et XVIII sc. 1884. Der Band enthält drei Preisschriften, die alle drei ziemlich dürftig und phrasenhaft sind.

Deutschland: H. Landwehr, Die Kirchenpolitik Friedrich Wil¬ helms, des Großen Kurfürsten. Auf Grund archivalischer Quellen. 1894. L. Keller, Der Große Kurfürst und die Begründung des modernen Toleranzstaates. 1901, in dem Sammelwerk: Der Protestantismus am Ende des 19. Jahrh., hrsg. von Pastor C. Werckskagen. Bd. I, S. 229 ff. (eine vorzügliche Arbeit). G. Pariset, L’Etat et les Eglises en Prusse sous Frederic Guillaume I (1713—1740). 1897

(behandelt hauptsächlich die kirchliche Organisation). C. F. Arnold, Die Ausrottung des Protestantismus in Salzburg unter Erzbischof Firmian und seinen Nachfolgern. 2 Bde. 1900 1901 (Schriften zur Keformationsgeschichte Schrift 67 und 69). Vgl. auch O. Hintze, Die Epochen des evangelischen Kirchenregiments in Preußen. Hist. Zeitschr. Bd. 97 (1906, S. 67 ff.

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Zweiter Abschnitt: Der Staat

Ferner gehört hierher die Sektengeschichte und die Lite¬ ratur über die Emigranten, die ich aber in anderm Zusammen¬ hänge anführe.

Die Stellung der Juden ist in meinem Buche : Die Juden und das Wirtschaftsleben (1911) erörtert.

I. Die Steigerung der Intoleranz

Der Geist der Duldsamkeit, der uns aus den Sitten der Re¬ naissance entgegenweht, hatte doch nur die wenigen feinen und gebildeten Geister gestreift: er war nicht eingedrungen in die Massen, er hatte aber auch diejenigen Mächte noch nicht er¬ griffen, von denen die äußeren Formen des menschlichen Zu¬ sammenlebens geschaffen werden. Er verflog wie ein Hauch, er zerfloß wie eine Wolke am Himmel.

Die Zeit des Toleranzgedankens war noch nicht erfüllt. Es war als sollte sich der Geist der Unduldsamkeit erst noch einmal recht ausleben, ehe er aus der Geschichte verschwände. Die Entwicklung der Staaten gerade auch durch das Walten der Kräfte, die in der Renaissance zum Leben erwacht waren, drängte zunächst noch auf die Verschärfung der religiösen Intoleranz hin. Die Anfänge dieser Entwicklung liegen schon in den Jahr¬ hunderten des Spätmittelalters: die Reformation brachte dann alle Keime zur vollen Entfaltung.

Was den Grund für die zunehmende Intoleranz abgeben mußte, war zunächst das, was wir als die Verweltlichung der Staaten bezeichnen können, die logischerweise zur Aufrichtung eines Staatskirchentums führen mußte. „Das frühere Ver¬ hältnis zwischen der Kirche und dem weltlichen Arm verkehrte sich ins Gegenteil; die Religion hatte als wertvolles instrumentum regni ihre Kräfte in den Dienst der Politik zu stellen“ : das war die einfache Konsequenz der Idee von der Absolutheit der Fürstengewalt: wenn einmal die ganze Ordnung dem Landes¬ herrn anvertraut war, so konnte ihm die Ordnung der kirchlichen Angelegenheiten nicht vorenthalten werden. Kirchengebiet und Staatsgebiet fielen nun zusammen, ebenso wde Kirchengewalt und Staatsgewalt, wie das Kirchliche und Politische sich in dem Begriff einer christlichen Gesellschaft vereinigte.

Es ist bekannt, daß diese Bewegung etwa seit dem zweiten Drittel des 14. Jahrhunderts zunächst in Spanien und Frankreich sowie in einigen städtischen Territorien Deutschlands eingesetzt hatte. Und man weiß ebenso, daß sie außerordentlich verstärkt

Achtundzwanzigstes Kapitel: Staat und Kirche 449

und belebt und recht eigentlich erst zum Ziele geführt wurde durch die Vorgänge der kirchlichen Reformation : das Luthertum drängte mit innerer Notwendigkeit zum Landeskirchentum hin1.

Aus dem Kirchentypus, der die Luthersohe Lehre kennzeichnet, ergao sich die Uniformität/» Einheit /und allgemeine Herrschaft dei Kirche , die bei der Unmöglichkeit einer europäischen oder deutschen Gesamtreform schließlich in die Aufrichtung einheit¬ licher Landeskirchen ausmündete. „Sein des Luthertums Fundament ist überall der Gedanke einer kirchlichen, von reli¬ giösen Ideen zwangsmäßig beherrschten Kultur ... So bleibt das Zentrum seiner Soziallehren doch überall der Begriff der Staatskirche.“

Trägt nun alles Landeskirchentum an sich schon den Keim zur Intoleranz in sich 2, so wurde diese zu rascher Entwicklung gebracht durch die Gestaltung, die die religiösen An¬ schauungen selber während des 16. und 17. Jahr¬ hunderts erfuhren. Was da an neuen Glaubensgemeinschaften erwachsen war, war von einer harten Unduldsamkeit erfüllt : eine mehr wie die andere. Und im Kampf mit den Häretikern gewann der Katholizismus natürlich auch wieder an Unversöhnlichkeit und Sprödigkeit : Calvin und Ignatius von Loyola stellen zwei Seiten derselben Sache dar.

Dem Luthertum hatte vielleicht in seinen Anfängen, seinem innern Wesen entsprechend, eine Tendenz zur Toleranz inne¬ gewohnt: Luther erwartete, daß die Macht des Wortes die Universalität des Bekenntnisses herbeiführen werde. Da diese Hoffnung aber getäuscht wurde, so mußte auch er zu Zwangs¬ maßregeln greifen, die er, wie die katholische Kirche, nicht durch die Kirche, sondern durch den Staat ausüben ließ. Die Kultur des Protestantismus wurde ebenso eine „Zwangskultur“ (E. Troeltsch) wie die mittelalterliche. Und so forderte Luther schließlich die Beseitigung aller die Ordnung des christlichen Gemeinwesens störenden Häresien mit Gewalt durch die Obrig¬ keit. „Was den Rebellen bestraft und gewaltsam beseitigt, ist nicht die Kirche als solche, sondern das aus ihr folgende Ideal einer universalen Herrschaft der absoluten und allein selig-

1 Das ist unlängst wieder mit feinem Verständnis aus dem Wesen der Lutherschen Lehre abgeleitet worden von E. Troeltsch/ a. a. 0. S. 516 f. und öfters.

2 Siehe die feinsinnigen Bemerkungen von C. B. Hundeshagen, a. a. 0.

Sombart, Der moderne Kapitalismus. I.

Zweiter Abschnitt: t)er Staat

machenden Wahrheit über die Gesellschaft, der absolutistisch- objektive Wahrheitsbegriff und die von ihm getragene allgemeine

christliche Gesellschaftsidee.“1 2 . . ,

Diese selben Anschauungen, nur um einige Nuancen dusteiei, finden wir dann bei den übrigen protestantischen Glaubens¬ gemeinschaften wieder: mit fürchterlichem Ernst vertritt die Idee der Strenggläubigkeit und damit der völligen Unduidsa keit Calvin. Nachdem er Mich. Servet wegen dogmatischei Drtt renzen hatte verbrennen lassen, verteidigte _ er sein Vorgehen m einer Schrift ' (1 554) : „ubi ostenditur haereticos jure gladn coei

Und Calvinscher Geist lebte ja dann in den Puritanern weiter . sie lehnen jedes Entgegenkommen gegen Andersgläubige grün - sätzlich ab: „A toleration is the grand design of the devil, his master piece and chief engine he works by at this time to up- hold his tottering Kingdome ; the most compendious, ready, suie way to destroy all religion lay all waste and m bring all evi . . .

Ebenso ist für John Knox die Ketzerei em mit der Todes¬ strafe zu belegendes Verbrechen.

Wie dann auch der staatlich approbierte Protestantismus m England um jene Zeit durch seine offiziellen Vertreter die Un¬ duldsamkeit verfechten ließ: „Liberty of conscience heißt es m einer Streitschrift eines Hochkirchlers aus dem Jahre 1081, „is an instrument of mischief and dissettlement . to stnve tor toleration is to contend against all government.

Diese letzten Worte weisen uns aber noch auf einen andern Umstand hin, der die schroffe Unduldsamkeit dieses Zeitalters uns erklärlich macht. Es scheint fast, als ob die Glaubensgegen¬ sätze allein, so sehr wir verstehen, wie ihr Austrag die Geis er zum Fanatismus aufstacheln mußte, doch nicht stark genug ge¬ wesen wären, um die langen und erbitterten Kämpfe herbeizu¬ führen, von denen alle Länder im 16. und 17. Jahrhundert eifia t sind. Als ob erst die Verschlingung der religiösen mit den politischen Interessen jene ungeheure dynamische Wirkung hätte ausüben können. Denn das ist ja jedenfalls das Kennzeichen dieser Jahrhunderte: daß sich m den Keligionskampfen auch immer erbitterte politische Gegner gegenüberstehen; wie denn auch umgekehrt alle großen politischen Bewegungen jener Zeit

1 E. Troeltscli, a. a. 0. S. 472. ,1ß.rv

2 Aus der bekannten Streitschrift Edwards: Gangraena (164u),

121; zit. bei Anderson, Ckurch 2, 233.

Achtundzwanzigstes Kapitel: Staat und Kirche 451

einen religiösen oder kirchlichen Charakter tragen h Wir können uns gar nicht vorstellen, daß ein Mann wie Richelieu soviel Feindschaft gegen eine reine Religionsgemeinschaft gehabt haben sollte, wie er in der Niederwerfung der Hugenotten offenbarte, hätte er in diesen nicht vor allem die aufrührerische, in starken Plätzen zum Widerstand vereinigte politische Partei bekäiüpft: „ce furent les citadelles de cet Etat dans l’Etat que redoutait Richelieu.“

Wie denn gleicherweise die Spannungen zwischen Protestanten und Katholiken in Deutschland, zwischen Episkopalen und Pres¬ byterianern in England niemals jene Stärke hätten annehmen können, wären die Parteien nicht ebenso sehr nach politischen wie nach religiösen Anschauungen gebildet worden.

Aber wo die Intoleranz ihre Wurzeln hatte, war am Ende für die Wirklichkeit des Lebens gleichgültig : für diese war ent¬ scheidend, daß zwei Jahrhunderte lang die Politik der Staaten darauf eingestellt war: eine Religionsgemeinschaft die an¬ erkannte Staatskirche zur alleinherrschenden zu machen und demgemäß allen Häretizismus zu unterdrücken und die Häre¬ tiker, wenn nicht zu verbrennen, so doch zur Auswanderung zu zwingen.

So lautete das Programm der katholischen, so das der pro¬ testantischen Staaten.

Spanien war mit dieser Politik vorangegangen : hier hatte das Inquisitionstribunal zuerst seine Wirksamkeit entfaltet; hier war die Ausschließung der Andersgläubigen am rücksichtslosesten erfolgt: im Mutterlande, wie auch vor allem in den nieder¬ ländischen Besitzungen.

In Frankreich beginnt die Gegnerschaft gegen die Protestanten unter Franz I., der anfangs unter dem Einfluß seiner Schwester Katharina von Navarra mit den Reformatoren sympathisiert hatte. Aber seit 1535 wird die Ära der Verfolgungen eröffnet, die sich nun anderthalb Jahrhunderte mit kurzen Unterbrechungen fort¬ setzen; noch unter Franz I. werden im Kampf mit den Vaudois 3000 Menschen getötet, Städte und Dörfer verbrannt, so daß Voltaire seine Schilderung mit den Worten schließen konnte: „la contree demeura deserte et la terre, arrosee de sang, - reste sans culture.“ Dann kam (unter Heinrich II.) die Inquisition

1 H. Delbrück, Über den politischen Charakter der englischen Kirchenspaltung im 17. Jahrhundert, in der Histor Zeitschr. Bd. 36; wieder abgedruckt in den „Aufsätzen“ 1887. '

Z9*

Zweiter Abschnitt: Der Staat

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ins Land; 1548 eröffnet die Chambre ardente ihre Sitzungen; 1559 ergeht das Edikt von Ecouen, das die Richter zwingt, jeden Lutheraner wegen seines bloßen Bekenntnisses zum Tode zu verurteilen. Die Zeit Heinrichs IV. bedeutet nichts als einen kurzen Waffenstillstand in diesem Kampf auf Leben und Tod, der unter Richelieu und Ludwig XIV. , nicht zuletzt aus poli¬ tischen Gründen : innerpolitischen, wie wir sahen, aber auch aus kirchenpolitischen Gründen1, seinen Höhepunkt erreicht: 1681 beginnen die Dragonaden, die Aufhebung des Edikts von Nantes (1685) schließt die Reihe der Maßregeln, die den Protestantismus

in Frankreich ausrotten sollen, ab.

In j England, wo die Reformation seit 1582 ihren Einzug ge¬ halten hatte, sind die A^ts of Supremacy and Conformity (1558/59) und die 39 Artikel (1562) die ersten Schritte zur Konsolidierung der Staatskirche, gegen die sich alsobald die Dissenters erheben: in die Jahre 1563/64 müssen wir die Entstehung der Puritaner ansetzen (von denen sich Ende der 1570 er Jahre die später Independents genannten Brownists ablösen); in das Jahr 1567 fällt das erste Vorgehen gegen die Non-Conformists 2 *, als mehr als 200 Personen während des Gottesdienstes in Plumners Hall verhaftet werden. Die Exkommunikation der Elisabeth (1569) gibt andererseits Anlaß zu scharfen Gesetzen gegen die Katho¬ liken8. Die Gegensätze zwischen der Hochkirche und den Dis¬ senters spitzen sich nun, wie bekannt, unter den Stuaits immei mehr zu: die Wirksamkeit der Westminster Assembly of Divines (seit 1643) 4 ist ein deutlicher Ausdruck ihrer Schärfe ; . steigern sich während der Zeit des Commonwealth noch weiter und bleiben dieselben während der Restauration: 1664 wird noch ein Gesetz erlassen, das alle über 16 Jahre alten Personen mit Ge¬ fängnis oder Verbannung bestraft, die einem andern als dem hoch¬ kirchlichen Gottesdienste beiwohnten5 *.

Mit Verbannung werden die Ketzer bestraft: mit Verbannung

i C’est moins peut-etre par le fanatisme de la cour de Louis XIV que par les scrupules du roi , luttant alors contre la papaute pour PEglise gallicane, qu’il faut expliquer le paroxisme de persecutions qui preceda la revocation de l’edit de Nantes.“ Michele t, Hist.de

France t. XII p. 245.

a Hallarn, Const. Hist. 1 (1827), 246.

8 Abgedruckt ebenda 1, 185 seq.

4 Anderson, Church 1, 425 428.

5 Vgl. noch H. Levy, Die Grundlagen d. ökon. Liberalismus, in

der Gesch. der engl. Volkswirtschaft (1912), 8 ff.

Achtundzwanzigstes Kapitel: Staat und Kirche 453

in die Kolonien, in denen teilweise wenigstens die Non- Conformisten Buhe fanden: 1617/1019 waren die nach Holland geflüchteten Puritaner nach Amerika gekommen und hatten hier, auf Grund einer von der Virginia Co. ihnen gewährten Charter, die Kolonie Massachusetts gegründet, nach deren Muster dann später Connecticut, Long Island und andere „Neu -England-“ Staaten sich bildeten. Hier also fanden die aus England ver¬ triebenen Ketzer Unterkunft, und hier konnten sie nun selbst all die Intoleranz ausüben, unter der sie vorher gelitten hatten : die Neu-Englandstaaten wurden die unduldsamsten Staaten, die es gegeben hat. Mit grausamer Härte wurden alle Bichtungen verfolgt, die nicht den Presbyterianismus vertraten. So ver¬ bannen die Gesetze von 1652 und 1657 die Quaker: diese Cursed- sect, deren Anhänger, wo sie betroffen werden, mit dem Tode zu bestrafen sind 1.

In andern englischen Kolonien, in denen die Hochkirche die anerkannte Staatskirche war, wurden ebenso wie im Mutterlande die Dissenters verfolgt. So in Virginia, wo im Jahre 1631 ein Act der General Assembly verfügt: „that theire bee a uniformitie throughout this colony both in substance and circumstances to the canons and Constitution of the Church of England as neare as may bee“ 2, daher Feindschaft gegen die Puritaner, die an¬ fangs freundlich aufgenommen werden, und schließlich ein Gesetz, das die Ausweisung aller Non-Conformists verfügt3.

In Deutschland erleben wir dasselbe Schauspiel. Hier gehen die Städte mit scharfen Erlassen gegen die Unkirchlichkeit und Häresie voran: eine unmittelbare Wirkung des immer mehr um sich greifenden Gedankens des Landeskirchentums.

Schon 1531 wird im Vorwort zu der 0. für das lübeckische Landgebiet als Pflicht der Obrigkeit, deren Versäumnis göttliche Strafgerichte über sie herabziehen müsse, die Sorge für die Reinheit der Lehre und des Kultus hingestellt. Ae in. L. Richter, Die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts (2 ßde. 1846) 1, 149 ff. Im gleichen Jahre geht die Kirchen-O. der Stadt Goslar mit der Strafe der Landesverweisung gegen Zwinglische und wieder- täuferische Lehren im Namen von „Bürgermeister, Rathmannen, Gilden und Gemeinde“ vor. Richter 1, 154. Nach der Straßburger Kirchen- 0. von 1534 haben die „Kirchspielpfleger“ im Namen des Magistrats Wachsamkeit zu üben gegen Abweichungen von der Augsburgischen Konfession, ferner über Kirchenbesuch und Teilnahme am Abendmahle.

1 Anderson, Church 2, 211 seq. Vgl. 2, 157 ff. 175 ff. 210 ff.

2 Anderson, 1. c. 1, 462. 3 Anderson, 1. c, 2, 7 ff.

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Zweiter Abschnitt: Der Staat

A. a. 0. 1, 231. 237. Ebenso lauten die Bestimmungen in andern städtischen Kirchenordnungen.

Aber auch die Fürstentümer blieben nicht zurück.

Bereits 1527 sieht es der Herzog von Liegnitz als seine Ver¬ pflichtung, und zwar bei Vermeidung des göttlichen Zorns, an, „in dem was das Seelenheil anbetrifft, allen Fleiss fürzuwenden, dass seine Untertanen mit dem reinen, klaren Worte des heiligen Evan¬ geliums . . . versorget werden“. A. a. 0. 1, 247 f. Ähnliche Worte enthalten die Kirchenordnungen von Hessen, Württemberg, Braun¬ schweig u. a. A. a. 0. Bd. II. Im Chursächsischen Generalartikel von 1557 heißt es: „wo einer oder mehr anders lehren . . . der oder dieselbigen sollen in seiner Churf. Gn. Landen länger nicht geduldet, sondern nach Gelegenheit des Irrtums, Verführung und Verwirkung in gebührliche Strafe genommen werden.“ Vgl. auch noch C. B. Hundeshagen a. a. 0.

Im engen Zusammenhänge mit der Steigerung des religiösen Empfindens in der Christenheit steht die feindselige Behandlung, die seit dem Ende des 15. Jahrhunderts die Juden in ver¬ schiedenen Ländern wieder einmal zu erdulden haben. Sie werden aus Spanien (1492 ff.), Portugal (1497), aus verschiedenen deutschen und italienischen Städten (im 15. und 16. Jahrhundert) vertrieben.

Daß diese Politik der Unduldsamkeit und der Verfolgung, wie wir sie alle Staaten während der Zeit der Gegenreformation, in der der Kapitalismus in starker Entwicklung sich befand, be¬ folgen sehen, auf die Gestaltung des Wirtschaftslebens einen bestimmenden Einfluß ausüben mußte, läßt sich von vornherein annehmen und wird von mir im weiteren Verlauf dieser Darstellung je an der geeigneten Stelle nachgewiesen werden. Hier will ich nur die Richtungen andeuten, in denen wir vornehmlich die Wirkungen der Litoleranz suchen müssen. Ich denke, diese Wirkungen sind :

1. innerlicher Natur: das religiöse Empfinden wird auf das äußerste gesteigert; der religiöse Fanatismus erlebt seine vielleicht stärkste Ausbildung. Im Gegensatz der verschiedenen Dogmen untereinander schärft sich aber auch der Sinn für die

o

feinerenNuancen des religiösen Erlebnisses: wir beobachten nament¬ lich in England eine wucherische Entfaltung der Sektenbildung : zum Teil als unmittelbare Folge des äußeren Kampfes der ver¬ schiedenen Religionsgemeinschaften. Die englischen Sekten sind vornehmlich in den Anfängen des Bürgerkrieges entstanden, als Reaktion gegen das Verhalten des Langen Parlaments und der Assembly of Divines : als der alte Kultus beiseite geschoben, ein neuer aber noch nicht fertig war: „during which time, no wonder

*

Achtmi (Zwanzigstes Kapitel: Staat und Kirche 455

sects and divisions arrived to such a pitch that it was not in their power afterwards to destroy them.“ 1

Die Wirkungen der Intoleranz sind:

2. äußerlicher Natur. Solcher können wir allgemeiner Natur vornehmlich drei verfolgen, die von allergrößter Be¬ deutung für die Entwicklung des Kapitalismus geworden sind :

a) das Ketzertum als soziale Erscheinung;

b) die Wanderungen von Land zu Land, zu denen die Ketzer gezwungen wurden ;

c) die Kriege, zu denen die Religionsstreitigkeiten während des 16. und 17. Jahrhunderts in allen Ländern den Anlaß boten.

Zu ihnen gesellt sich ein für England besonders wichtiges Ereignis :

d) die Aufhebung der Klöster und die Einziehung des Kirchen¬ gutes unter Heinrich VIII.

H. Die Entwicklung des Toleranzgedankens

In derselben Zeit, in der die Menschen sich wegen nichtiger Unterschiede im Bekenntnis zu Gott zerfleischten, glomm der Gedanke der Toleranz unter der Asche weiter, bis er end¬ lich zur Flamme emporschlug.

Die Gründe, die den einzelnen zur Duldung fremder Mei¬ nungen, insonderheit eines fremden Glaubens veranlassen, können mannigfaltiger Natur sein und sind offenbar auch mannigfaltiger Natur gewesen, als sich in unserer Geschichtsepoche der Gedanke Bahn brach. Wenn Ficinus oder Montaigne religiöse In¬ differenz zu toleranten Männern machte, so war es bei vielen gerade die religiöse Überzeugung selbst, die sie zur Tolerierung anderer Religionen führte: wie im 17. Jahrhundert etwa Balzac oder Milton oder Jeremy Taylor oder William Penn. Andere, wie Bayle, gelangten auf dem Wege logischer Deduk¬ tionen zu einer weitherzigeren Auffassung. Männer wie der Kanzler L’Hopital, wie die „Politiker“ in Frankreich wünschten eine Politik der Duldsamkeit herbei, weil sie die schweren poli¬ tischen Schäden wahrnahmen, die aus der Entzweiung der Na¬ tionen erwachsen. Noch andere stellten die wirtschaftlichen Gesichtspunkte in den Vordergrund, wenn sie für die Duldung der verschiedenen Religionsgemeinschaften eintraten: ich denke

1 Neal, Hist, of the Puritans 2, 271.

450

Zweiter Abschnitt: Der Staat

an Männer wieVauban oder Willem IY. von Holland, aber auch an Cromwell, als er die Juden hereinließ, oder an Jakob II., der in seiner Indulgenzerklärung (1687) meinte : „persecution was unfavourable to population and to trade , oder an die allei katholischste österreichische Kaiserin, die verfugte, den Alt¬ katholiken, die sich im Lande nicht ansässig machen konnten, sei „der Weeg zu eröffnen, sich in erbländische Handelssocie- täten einzulassen, solchenfalls aber, . . . ihnen der jeweilige Aufenthalt ihrer Handelsgeschäfte wegen ... zu gestatten“ h Oder das allgemeine Staatsinteresse gab den Ausschlag, wie bei Friedrich Wilhelm I., als er den Salzburgern Zuflucht ge¬ währte 1 2.

Wir können an der Art und Weise, wie gerade der Toleranz¬ gedanke sich im Leben Geltung verschafft, deutlich wahrnehmen, welche Mächte letzten Endes über die Gestaltung dieser Menschen¬ welt entscheiden; wir können ganz genau verfolgen, wie dieser Gedanke solange ohne Wirkung bleibt, als er nur in den Köpfen und Herzen wohlwollender Menschenfreunde lebt, wie er sich erst Bahn bricht in dem Augenblick, da er von starken Inter¬ essen, sei es staatlichen, sei es wirtschaftlichen, unterstützt und befördert wird; in dem Augenblicke aber auch, wo er als Not¬ wendigkeit sich aus den Widersprüchen ergibt, in die sich die Politik der Intoleranz verwickelt hatte.

Hier ist nicht der Ort, die Genesis des Toleranzgedankens und seines Eindringens in die Politik der modernen Staaten zu verfolgen. Es muß genügen, wenn wir uns die wichtigsten Etappen ins Gedächtnis rufen, die seinen Siegeszug bezeichnen.

Man wird nicht irre gehen, wenn man Wilhelm v on Oranien den ersten Fürsten nennt, der das Toleranzprinzip grundsätzlich vertritt, und die Sieben Provinzen als den ersten Staat bezeichnet, in dem die religiöse Duldung einen wesentlichen* Bestandteil der Politik gebildet habe. Mit vollem Rechte konnte Willem IY. in seiner Propositie ter Generaliteit erklären3: Toleranz sei gewesen

1 Ptibram, Österr. Gewerbepol. 1, 146.

2 Bekanntlich besteht seit Menschengedenken ein heftiger Streit über die Motive, die Friedrich Wilhelm I. zu jenem Schritte veranlaßt haben sollen: ob berechnende Politik oder religiöses Mitgefühl. Noch jetzt wieder polemisiert Arnold gegen Pariset. Mir scheint Paris et für diesen Fall das richtige zu treffen, wenn er schreibt: bei dem preußischen Könige habe gewiß „une intime Union des sentiments religieux et des interets materiels“ bestanden: P ar i s e t , 1. c. p. 797.

3 Zit. bei Koenen, Geschiedenes der Joden in Ned. (1843), 156/5/.

Achtundzwanzigstes Kapitel: Staat und Kirche 457

von Anbeginn an „de standvastige Staatkunde van de Republiek, oni deze landen te maken tot eene veilige en altoos verzekerde vnjplaats voor alle vervolgde en verdrukte vreemdelingen“. So wurde, wie Bayle es ausdrückte, Holland zu einer Arche,’ die die allerorts Schiffbrüchigen aufnahm. Und kaum hundert Jahre nach der Utrechter Union, zu einer Zeit, als das übrige Europa noch von den Flammen der Religionskriege blutrot beschienen war, schildert uns ein helläugiger Beobachter die Zustände in den Niederlanden wie folgt*: . . . les Juifs ont leurs Sinagogues a Amsterdam et ä Rotterdam, il n’y a point de secte qui soit connue parmy les Chrestiens qui n’ait ses Assemblees publiques , ans la premiere de ces deux places . . . „L’on a de la peine a s imaginer comment cette violence et cette aigreur , qui est comme mseparable de la diversite des Religions dans les autres pais, semble estre appaissee et adoucie en celuy-cy, ä cause de la liberte generale , dont tont le monde joüit ou par adveu ou par connivence.“ „II se peut que la Religion fasse plus de bien

en d autre pays ; mais c’est en celuicy eile fait le moins de mal.“

A on dem Mutterlande aus ist dann die Idee der Toleranz auch in die holländischen Kolonien übertragen worden: das erste Abkommen mit einer kolonialen Bevölkerung, in dem neben dem Monopol des Gewürzbezuges freie Religionsausübung aus¬ drücklich ausbedungen wurde, ist der Vertrag mit der kleinen Republik auf Banda vom Jahre 1602 2.

Aber an einer andern Stelle brach, ohne Zusammenhang mit dem Vorgehen der Holländer, eine zweite Quelle der Toleranz auf: m den englischen Kolonien , zunächst denen in Nordamerika.

Diese weisen neben .den Typen unduldsamer Puritanerstaaten und ebenso unduldsamer Hochkirchstaaten einen dritten Typus: den der religionsparitätischen oder wenigstens religiös-duldsamen Staaten auf. Die erste Kolonie, die das Prinzip der Toleranz in Gesetzgebung und Verwaltung aufnahm, war wohl das von dem katholischen Lord Baltimore gegründete Maryland , dessen Assembly (zwischen 1637 und 1657) für Governor und Council folgende Eidesformel beschließt: „I will not, by myself or any othei , directly or indirectly trouble , molest or discountenance any person professing t’o believe in Jesus Christ, for or in respect

1 "William Temple in seinen Remarques sur l’estat des pro- vmees unies des Pai's-bas, faites en Pan 1672 (1674), 263. 270.

J. L. Motley, Hist, of the United Netherlands 4 (1867), 109.

458

Zweiter Abschnitt: Der Staat

of religion.“ 1 Ein Akt von 1649 bestätigt diese Auffassung, der zufolge sich nun ähnlich wie in Holland in dieser Kolonie ein buntes Gemisch von Sekten aller Art ansammelt2.

Ebenso enthält die erste Charte für Carolina vom Jahre 1662/63 in Art. 18 die Zusicherung von „indulgences and dispensations“ für Nicht -Konformisten 3 , und die Const. 97 der zweiten Charte (von 1669) (als deren Verfasser -bekanntlich Locke angesehen wird) bestimmt: „Any seven or more persons agreeing any reli¬ gion shall constitute a church or profession, to which they shall give some name, to distinguisli it from others.“4 Auf durchaus toleranter Basis ruht von vornherein die Verfassung der An¬ siedlung William Penns: Pennsylvania5.

Dann endlich greift der Toleranzgedanke auf das Mutterland, England, hinüber, in dem das Jahr 1689 den Toleration Act bringt. Dieser enthält zwar noch keineswegs eine grundsätzliche An¬ erkennung der nicht - konformistischen Religionsgemeinschaften (behielt vielmehr die „persecution“ als Regel bei), legt doch aber den offenen Kampf gegen die Dissenters bei : er läßt die Sekten unter bestimmten Bedingungen (Unterschreibung bestimmter Glaubensartikel, Ableistung des Treueides usw.) ihren Gottes¬ dienst’ halten. (In Irland dauern die Verfolgungen und Be¬ drängungen der Non-Conformists das ganze 18. Jahrhundert hin¬ durch noch an: erst im Jahre 1782 wird ein irischer Toleration Act Gesetz.)

Ein gewisses Maß von Duldung übte von den größeren Staaten während des 17. Jahrhunderts nur noch Brandenburg - Preußen unter der Regierung des Großen Kurfürsten, dessen Idee stark unter oranischem Einflüsse sich gebildet hatte 6. Hier öffnete das

1 Bei Anderson, Church 1, 488.. In einer einzelnen Stadt (Providence) war schon kurz vorher (1636), von dem aus Massachusetts vertriebenen Independenten Rogers Williams gepredigt, in dem grund¬ legenden Vertrag der Sezessionisten die unbeschränkte Freiheit der religiösen Überzeugung anerkannt dadurch , daß die Gründer dieser Stadt Gehorsam den Gesetzen „only in civil things“ versprachen. S. Green Arnold, History of the State of Rhode Island 1 (1859),

103, zitiert bei G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1895), 35.

3 Anderson, 1. c. 2, 29.

8 Anderson, 1. c. 2, 317 ff.

4 Anderson, 1. c. 2, 324.

5 Anderson, 1. c. 2, 423 ff.

8 Das weist mit guten Gründen L. Keller a. a. 0. nach.

Aclitundzwanzigstes Kapitel: Staat und Kirche 459

Edikt von Potsdam (8. Nov. 1685) den flüchtigen französischen Reformierten die Tore der kurfürstlichen Lande; am 2. Febr. 1732 wurde das Patent zugunsten der Salzburger erlassen.

Die allgemeine Anerkenntnis der Toleranzidee als eines wesent¬ lichen Bestandteils der Staatsverfassung fällt erst in das Ende des 18. Jahrhunderts, als die Josefinischen Reformen, die ameri¬ kanischen und französischen Menschenrechtserklärungen kurz auf- einander folgen. Damit wird die hochkapitalistische Epoche ein- geleitet, mit der wir es hier noch nicht zu tun haben.

Hier muß mit einem Worte nur wieder der staatsrechtlichen Sonderstellung der Juden Erwähnung geschehen.

Die Juden werden geduldet und genießen weiter Rechte in Holland seit der Unabhängigkeitserklärung, in England seit 1654, in einigen amerikanischen Staaten und einigen deutschen Städten seit dem Ende des 16. bzw. dem 17. Jahrhundert. Aber auch in denjenigen Ländern, in denen die Juden erst viel später zu¬ gelassen wurden, fanden die Fürsten Auswege, um den Juden wenigstens den reichen unter ihnen die Ausübung der wirt¬ schaftlichen Tätigkeit zu ermöglichen : durch das System der Privilegierungen und namentlich durch die Ausbildung der In¬ stitution des Hofjudentums l.

Worin die große Bedeutung des wenigstens vereinzelten Durchdringens des Toleranzgedankens für das Wirtschaftsleben beruht, bedarf nicht erst besonderer Hervorhebung : die Duldung der verschiedenen Religionsgemeinschaften in einem Lande übt denselben Einfluß auf die Wanderungsbewegung (im umgekehrten Sinne), wie die Verfolgungen ihn ausgeübt hatten: Anhänger bestimmter Religionsgemeinschaften werden in den toleranten Ländern zurückgehalten , die sonst auswandern würden , oder werden nach ihnen hingezogen, wenn sie aus andern Ländern wegzuwandern gezwungen werden. Was L. Keller2 von den Wirkungen des Edikts von Potsdam sagt: daß es „Wanderungen und Wandelungen einleitete, die die Machtverhältnisse und die Kulturzustände Mitteleuropas dauernd beeinflussen sollten“ : das gilt von den kirchenpolitischen Maßnahmen jener Tage überhaupt.

1 Näheres über diese Dinge in meinem Judenbuclie.

2 L. Keller, Der Große Kurfürst und die Begründung des mo¬ dernen Toleranzstaates, a. a. 0. S. 251.

460

Zweiter Abschnitt: Der Staat

Anhang: Die Ordnung des Privatrechts

Die entscheidenden und grundsätzlichen Wandlungen des Privatrechts sowohl in formaler wie materialer Beziehung fallen in die folgende Epoche oder doch an das Ende des früh- kapitalistischen Zeitalters.

Unter der Herrschaft des absoluten Fürstentums vollziehen sich nur diese Neugestaltungen :

1. Das Handelsrecht, das bis zum 17. Jahrhundert über¬ wiegend auf Gewohnheitsrecht beruht hatte, fängt an, kodifiziert zu werden. Die ersten staatlichen Kodifikationen sind die fran¬ zösische Ord. de commerce (1673) und die Ord. touch. la marine (1681). In Deutschland werden durch Landesgesetze bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nur einzelne handelsrechtliche In¬ stitute geregelt1, während die erste größere Kodifikation durch das Preußische Landrecht von 1794 erfolgt.

2. Das Wechselrecht insbesondere wurde in zahlreichen staatlichen und städtischen Wechselordnungen während des 17. Jahrhunderts festgelegt und inhaltlich den Anforderungen der Zeit angepaßt. Mitte des 18. Jahrhunderts gab es 48 Wechsel¬ ordnungen 2 * * *.

Dei entscheidende Schritt, den das neue Wechselrecht tat, wai der Übergang zu einem allgemeinen , nicht mehr standes- mäßig gesonderten Recht.

bestimmt z. B. das Branderiburgische Wechselrecht Art. 4 :

Alle diejenigen, so sich unternehmen einen Wechselbrief auszustellen sie seyn gleich männlichen oder weiblichen Geschlechts, Pürsten’ Grafen, Freyherrn, Hofbediente, Adeliche , Gelehrte oder Militair- Personen , wes Condition , Standeswürde und Bedienung sie immer wollen, sollen ebenso fest als die Handelsleute an die Wechsel- oidnung, ohne Unterschied und Exception verbunden seyn . .

Will man das, was sich hier zum ersten Male in dem Gebiete der Rechtsbildung vollzog, in seiner grundsätzlichen Bedeutung

1 Siehe die Zusammenstellung bei K. Co sack, Lehrb. d. H.R

§ 4 n 2 a- DJ® Edikte der französischen Könige im 16. Jahrhundert (z. B. das Ed. Karls IX. von 1563, durch welches das Pariser Handels¬ gericht geregelt wurde), haben einen verwaltungsreehtlichen Inhalt, während die Regelung des privaten Handelsrechts erst durch die ge¬ nannte Kodifikation erfolgte. 6

2 sinc* gesammelt in D. Siegels Corp. jur. cambialis. 1742.

2 Ile., nebst Uhls zwei Fortsetzungen, 1758 u. 1764 Vgl noch

L*d°vici Kmfm, Syst. (1768) § 889, und Siegels Einleitung

zum Wechselrechte, 1751. B

Achtundzwanzigstes Kapitel: Staat und Kirche

461

richtig erfassen, so muß man in den neuen Gesetzen eine Ent¬ persönlichung auch des Rechts Erkennen. Aber wie ge sagt : gleichwie auf vielen andern Gebieten der Kulturentwicklung beobachten wir während der frühkapitalistischen Epoche erst die ersten Anfänge der neuen Bildungen.

3. Eine nicht imwesentliche Umbildung, die den kapitalistischen Interessen zu dienen bestimmt war, erfuhr schon während des frühkapitalistischen Zeitalters die Rechtsordnung auf prozes¬ sualem Gebiet. Die Hauptpunkte waren folgende: a) den kaufmännischen Urkunden wird eine möglichst feste Beweiskraft und eine möglichst feste Obligationswirkung zugeteilt (Ent¬ persönlichung !) ; b) der Exekutivprozeß oder die exekutive Kraft der Schuldurkunde wird ausgebildet. Natürlich im Interesse vor¬ nehmlich des Handels, für den die Ordinarprozedur unerträglich war. Für ihn bedeutet es die größte Wohltat, wenn er auf klare Darlegung der Schuld hin wenigstens vorläufig die Voll¬ streckung gegen den Schuldner erreicht. Die Exekutivkraft der Schuldurkunde dehnt sich von den Handelsstädten Toskanas und der Lombardei über ganz Italien und weiter seit dem 15. Jahr¬ hundert aus. Damit entwickelt sich auch das Exekutiv verfahren 1 .

4. Daß die Rezeption des römischen Rechts in Deutschland nicht im „kapitalistischen“ Interesse erfolgt ist, ja wahrscheinlich überhaupt wenig mit wirtschaftlichen Vorgängen und Forderungen im Zusammenhänge steht, scheint jetzt mehr und mehr die Ansicht der Rechtshistoriker zu werden 2. In der Tat: warum hätte gerade Deutschland diesen Wandel aus öko¬ nomischen Gründen vollziehen sollen, nicht Frankl eich, nicht Holland, nicht England, die doch damals ein viel höher ent¬ wickeltes Wirtschaftsleben hatten. Auch ist zu erwägen, daß die -der kapitalistischen Entwicklung hauptsächlich dienenden Rechtsgebiete: Seerecht, Handels- und Wechselrecht, insbesondere Gesellschaftsrecht, nur in sehr geringem Umfange aus römisch-

1 Siehe z. B. W. En de mann, Beiträge zur Kenntniss des Handelsrechts im M.A. , in der Zeitschr. f. d. ges. HR. 5 (1862), 333 ff., nam. 393 ff. Vgl. Marquardns, De jure merc. Cap. VII ff. des III. Buches.

2 Siehe die Übersicht über die bisherige Literatur bei v. Below, Die Ursachen der Rezeption des 'römischen Rechts. 1905. v. B. selbst lehnt mit Entschiedenheit die Ansicht ab, wonach das römische Recht in Deutschland eingeführt sei, um den „Anforderungen des Verkehrs“ zu genügen, die angeblich das deutsche Recht nicht zu befriedigen vermocht habe.

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Zweiter Abschnitt: Der Staat

rechtlichen Quellen stammten, jedenfalls ihre Entstehung nicht einer „Rezeption des römischen Rechts“ verdankten, sondern höchstens allmählich römisch-rechtliche Gedanken aufnahmen.

Auch für Italien sucht man jetzt den Nachweis zu führen, daß die neue (römische) Rechtsschule die längste Zeit eine rein wissenschaftliche Bewegung gewesen sei : von der Rechtswissen¬ schaft sei im 12. Jahrhundert aus rein wissenschaftlichem Inter¬ esse die Wiederbelebung der Antike begonnen , die nach der Rechtswissenschaft die Scholastik auf philosophischem Gebiete dann fortsetzte b

1 Walter Goetze, Das Wiederaufleben des römischen Rechts im 12. Jahrhundert, im Archiv f. Kulturgesch. 10 (1912), 25 ff.

DATE DUE

0

TRENT UNI VERS

64 0230736

HB501

. S67 1919 Bd.l

pt . 1

UTLAS

Sombart, Werner, 1863-1941 Der moderne Kapitalismus;

historisch-systematische Darstel¬ lung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens ~

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