J. G. W^sselhceft, »

BOOKSELLER AND IMPORTER

GERMAN BOOKS.

« No. 124, North Second Street,

g PHILADELPHIA.

BOSTON PUBLIC LIBRARY

The giß of

Samuel Perry May 1985.

» » «

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W^tr.-

0

DER

PHILOSOPH

FÜR DIE WEL T.

HERAUSGEGEBEN

VON

J. J. ENGEL.

ERSTER THEIL. Neue vermehrte und verbesserte Ausgabe.

BERLIN, ißoi.

Ix DER MyliUSSISCHEN BUCHHANDLUNG,

PTie5S,.£TP5 m hccSt-~\lHC\'

HERRN ASSESSOR

DAVID FRIEDLÄNDER

IN BERLIN

MEINEM EDLEN FREUNDE

GEWIDMET

edel im Buche der

Grofsen Götter , bhglcich nicht auf der Rolle dei

Censor». a- ,*» _

Ramler.

NACHRICHT DER VERLAGSHANDLUNG.

J.n der ersten Aussähe, erschien der Erste Theil des Philosophen für die Welt im J. 1775, und der Zweite 1777. Die zweite Auflage dieser bei- den Theile erfolgte 1787. Der Dritte Theil kam 1800 heraus. Die gegenwärtige Ausgabe von zwei Bänden begreift was jene drei Theile enthielten: aber in einer etwas andern Folge, und nicht blofs verbessert, sondern auch mit ei- nem neuen Aufsatze (dem vorletzten) vermehrt; wogegen das von einem Ungenannten frei be- arbeitete Stück: »Der arme Jakob, der genug hat,« weggelassen ist, weil es anitzt, und voll- Ständiger, in Franklins Kleinen Schriften über- setzt steht.

INHALT DES ERSTEN BANDES.

Erstes Stück: Die Göttinnen. . . Seite 3

Zweites Stück: Aus einem Briefe, über die Leiden des jungen Werther, Von Hrn Professor Gan>e. ... 26

Drittes Stück: Die Höhle auf Antiparos. Von der Gefahr gewisser Lectu- ren für gewisse Leser ^i

Viertes Stück: Bayle an Shaftesbury,

Von Hrn Professor Elferhard. . . 67

Fünftes Stück : Shaftesbury an Bayle.

Von Hm Professor Eberhard. , Seite 74

Sechstes Stück: Tobias Witt 87

Siebentes Stück : Die Elche und die Ei- chel. Ein Gpspriich über Hrn Du- tens Buch wVon dem Ursprünge M der Entdeckungen die den Neu- n ein zugeschrieben werden. « , . gg

Achtes Stück: Erster Brief an Hrn Bu- tens. ..,,...... ii5

Neuntes Stück: Zweiter Brief an Hrn

Dutens 126

Zehntes Stück': Utier EmiHa Galotti ;

erster Brief. 137

Eilftes Stück: Zweiter Brief. .... i5l

Zwöh\es Stück: Dritter Brief. ... 166

Dreizehntes Stück: Vierter Brief. . . 173

vierzehntes Stück: Hylas und Philonous.

Von Hrn Moses Mendelssohn, . Seite 2o5

Fünfzehntes Stück: Der Bienenkorb. . üi^

Sechzehntes Stück: Traum des Galllei, Oder: von den Freuden der Er- kenntnifs ßSg

Siebzehntes Stück: Das Weihnachtge- schenk. Von Hrn Professor Garve, aSg

Achtzehntes Stück : Der Habicht. Ein Gespräch über die Einführung der Raubthlere in die Natur. . . , a66

Neunzehntes Stück : Proben Rabbini- scher Weisheit. Von Hrn Moses Mendelssohn 29*5

Zwanzigstes Stück: Fortsetzung der Pro- ben Rabbinischer Weisheit. Von Hrn Assessor Friedländer. , , . 5l5

^in und zwanzigstes Stück : Die Bild- säule Seite 335

Zwei und zwanzigstes Stückt Die Cur-

methoden 356

Zusatö des Herausgebers. ..... 365

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DER

P H I I. O S O P H

FÜPt DIE WEL1\

ERSTER T H E I L.

Engels Philosoph, I.

C»OiO»C»0<OOlOiO>0«300000»aOOOOCii

ERSTES STUCK.

DIE GÖTTINNEN.

JL/ie Göttinnen der Weisheit und der Liebe lebten in steter Uneinigkeit. Beide wünschten ihre Herrschaft über den gan- zen Erdboden auszubreiten: aber wer der einen opferte, kam nicht leicht zu den Altären der andern; erst mufste er des Dienstes der Venus überdrüfsig seyn, ehe er sie verliefs und sich dem Dienste Mi- nervens weihte. Nur hie und da fand sich ein Sterblicher, der seine Opfer un- parteiisch zwischen beiden theilte: und dieser war immer, nach dem eignen ge»

4 DIE GOTTINNEN,

heimen Urtheile Minervens , der weiseste. Jede der Göttinnen hatte Hoffnung ihn ganz zu gewinnen, und jede überschüttete ihn daher mit ihren süfsesten Wohlthaten und ihrem schönsten Segen.

Indessen kam die Eifersucht beider Göttinnen nur selten zum Ausbruch. Sie fürchteten, Vater Jupitern zu beleidigen, der immer zu ihren Streitigkeiten seine ehrwürdige Stirne runzelte. Anf der ei- nen Seite war Minerva die Tochter sei- nes Hauptes, und gegen solche Kinder ist die Li-ebe sehr zärtli<;h; auf der an- dern, hatte er auch der Yenus grofse Verbindlichkeiten. Sie hatte ihm so man- che selige Schäferstunde verschafft, worin er seiner Majestät vergafs, und sich für die vielen Sorgen seiner Regierung eben so belohnte, wie sich noch unter uns die Götter der Erde belohnen. Was für ei-

DIE GOTTINNEN. ~ 5

nein erhabnem Beispiele könnten sie aiicii folgen^ als dem Beispiele Jupiters?

Gemeiniglich blieb es also zwischen beiden Göttinnen bei Blicken ;, bei Iro- nieen^ bei Anspielungen; kurz ^ bei dem ganzen kleinen Nadelgefechte;, womit sich die Damen oft schmerzhaftere Wunden zu ritzen pflegen^ als die Männer sich schlagen. Die Göttinn von Cythere fuhr dabei noch am besten, Minerva vrar zu ernsthaft^ um nicht bald aus dem mun- tern in den philosophirenden Ton zu fal- len: und wenn dann über ihre Soriten Apollo gähnte^ dafs ihm von der Be- wegung der Lorbeer um seine Schläfe rauschte; wenn Bacchus, zurück gelehnt an einer der Säulen des Göttersaals, mit vorgestrecktem Bauch und beide Arme herabhangend, über das ganze Gemach liinwegschnarchte ; wenn selbst der Adler

6 DIE GOTTINNEIV.

Jupiters, auf der Spitze des göttlichen Zepters in jener süfsen und malerischen Stellung schlummerte, worin ihn Pindar beschreibt: so fmg auf einmal die sorg- lose Venus an, mit ihrem Buben zu tän- deln, oder warf sich wohl gar auf ihren berufsten Vulkan, an den sie so viel Liebkosungen verschwendete, ihm so viel süfse Thorheiten vorsagte, so oft den ambrosischen Kufs auf seine Wangen und Lippen drückte, dafs Alles wieder leben- dig Ward, und vollends kein Gott mehr auf die Weisheit Minervens hörte. Oft wollten Alle vor Lachen über den guten Ehemann ersticken, der alle diese Schmei- cheleien für baare Münze nahm, und sich vor Freude und Zärtlichkeit nicht zu las- sen wufste. Auftritte dieser Art gin- gen immer der guten Minerva bis an die Seele; und nur gar zu gern hätte sie

DIE Gt)TTINNEN.

oft die gröfsten Bitterkeiten ausgeströmt^ wenn sie nicht noch zu rechter Zeit sich erinnert hätte dafs sie die Göttinn der .Weisheit wäre.

Liebes Kind^ zischelte oft Jupiter sei- ner Tochter ins Ohr: ich dächte^ es soll- te dein Vortheil seyn, wenn du mit der von Cythere Freundschaft hieltest. Mi- nerva selbst sah das ein; aber sie war auf. einer zu empfindlichen Seite ange- griffen, und ward es noch täglich. Die Eifersucht war eine unheilbare Wimde ihres Herzens geworden. Alle Welt dräng- te sich in lautem Getümmel- zu den Al- tären der Venus; ihr wurden immer die ersten, die schönsten Früchte geopfert: zu den Altären Minervens kamen nur die, die nicht genug mehr übrig hatten um sich der Venus Gunst zu versprechen; und so bekam die gute Tochter Jupiters

8 DIE GOTTINNEN.

nur das, was übrig blieb und was abfiel. Um jene Altäre sah man dichte Gruppen blühender Jünglinge und lächelnder Mäd- chen: es war an ihren Festen das leben- digste Gewühl um sie her ; im Heilig- thume Minervens standen nur sparsame Gruppen kraftloser Greise und welker Matronen, die mühsam an ihren Stäben herzuschlichen, statt Opfer Weihrauch brachten, und ihrem Reiche nur noch wenig Dienste versprachen. Selten fand sich ein Jüngling, und noch weit seltner ein Mädchen. Kam einst von der Liebe, aus Verdrufs nicht erhört zu seyn, ein Mann oder ein Jüngling zu der Weis- heit herüber; so war es mit unwillig lang- samen Schritt, und immer den Blick mehr hinterwärts als vorwärts gerichtet. Auch fehlte es selten, dals er nicht., auf halbem Wege wieder umgekehrt wäre. Nur ein

DIE GOTTINNEN. ^

einziges flüchtiges Lächeln, das die Göt- tinn ihm nachschickte; so war aller Un- wille aus seiner Brust verschwunden, und er eilte nur desto brunstiger wieder zu- rück. Ja selbst unter den abgelebtesten Greisen waren nur wenige, die der Mi- nerva von Grund ihres Heizens dienten. •Die meisten forderten ihre Gunstbezeu- gungen nur, um doch Etwas zu haben, da sie das nicht mehr haben konnten was sie sonst freilich am liebsten gehabt hätten.

Einst, da sich Minerva, beim einsa- men Schimmer des Mondes, zu dem ge- liebtesten ihrer Lieblinge herabliefs, um ihn piit ihren geheimen Einflüssen zu be- günstigen, tmd sein innres Auge zum se- ligen Anschauen der intellectuellen Schön- heit zu öffnen, fand sie ihren Platz schon von der Göttinn der Liebe eingenom-'

IQ DIE GOTTINNEN.

raenf und den ernsthaften Weisen mitten in dem noch seligem Anschauen einer sinnlichen Schönheit begriffen. Dieser neue Triumph ihrer Feindinn war allzu kränkend, als dafs sie ihn so im Stillen hätte verschmerzen sollen. Sie verfolgte von diesem Augenblick an die gute Ve- nus mit den kränkendsten Anmerkungen, und fand bei den entferntesten Veranlas- sungen Übergänge zu Bitterkeiten.

Jupiter, auf den Frieden in seinem Olymp bedacht^ glaubte Minerva durch einen zornigen Blick zu zugein, den er unter einer gerunzelten Stirne und schrecklich zusammengezogenen Augen- braunen hervorschofs ; aber umsonst l Endlich warf er in einem unwilligen To- ne die Anmerkung hin, die er für eine Göttinn der Weisheit hinlänglich glaubte, dafs Neckereien dieser Art einer Gottheit nicht anständig wären.

DIE GÖTTINNEN. ii

O Jupiter ! rief Minerva aus, indem sie mit dem Gespräche zur Seite ab- sprang; sage mir; was ist eine Gottheit? Ich bin schon längst in meinem Begriff davon irre geworden. Es giebt ihrer, deren Tempel bis an die Wolken rei- chen, deren Altäre von einer Sonne zur andern nicht aufhören zu glühen, vor deren Bildsäulen die Nationen gebückt liegen, und denen doch gerade das erste Kennzeichen der Gottheit fehlt. Ein bedeutender Blick, auf die Göttinn der Liebe geworfen, verpflichtete diese, zu antworten.

Das erste Kennzeichen der Gottheit? Ich habe nie tief gedacht, Madame. ,Was ist das?

Wie ! was das ist ? Wenn der Mensch fragt: wer bin ich? so behauptet er »einen Vorzug über den Wurm. Wenn

12 DIE GOTTINNEN.

e^e Göitinn so fragt, so sinkt sie zur Menschheit hinab. Die Wohlthätigkeit ist es. Die Sorge für das Heil der Sterb- lichen, die wir beherrschen.

Und die Gottheit, der dies Kennzei- cheji fehlt? Darf ich bitten?

Sehr gerne ! Eine beschämende Ant- wort gehört auf eine vorwitzige Frage. Diese Gottheit sind Sie.

Ich? lächelte Venus, und sah mit der freien Miene eines reinen Gewissens durch den ganzen Zirkel umher.

Wer sonst, Madame ? Wenn die Stimme des Jammers die zum Olymp dringt,, die Stimme des Jubels so w^eit übertönt, dafs oft Jupiter selbst in sei- nem innersten Gemache nicht ruhen kann, und den Himmel mitten in seinem Him- mel vermXst: wer sonst ist Ursache, als Sie? Es ist die Stimme derer, die Sie imglücklich machten.

DIE GOTTINNEN. 15

Wie, Madame ? wofür nehmen Sie doch die Seufzer der Liebhaber! Glau- ben Sie mir : in den klagendsten Sätzen eines Adagio liegt oft mehr und tiefer gefühlte Wollust;, als in den feurigsten eines Allegro. Ich; ich sollte unglück- lich machen? Fragen Sie doch meine Freunde, die Dichter !

Ihre Freunde, die Dichter ^ was darf ich Ihnen mehr sagen ? sind Dichter.

Ai-raer Apoll! lispelte Venus.

W^rum das? Ihr Kunstgriff sich eine Partei zu machen, ist sehr unglück- lich, Madame; Wenn die hohe, edle Be- geisterung Apolls einen Dichter hebt, dann tönt sein Gesang von Göttern und Weisen' und Helden; aber die Sänger der Liebe sind auch diö Sänger des Weins, und schöpfen ihre Begeisterung aus dem Kelche des Bacchus,

14 DIE GOTTINNEN,

Ha! rief der sorglose Bacchus^ und reichte seinen Becher dem Ganymed, ihn noch einmal zu füllen.

Aber Venus stand auf^ und hüpfte ge- rade zum Jupiter. Lieber Vater! fing sie an, mit jener freundlichen Holdselig- keit, die jeden Verdrufs verscheucht und jede Sorge hinwegschm.elzt ; und dann streichelte sie seine Wangen, dafs die kleinste Runzel von seiner Stirne schwand, und die ernsthafte Juno vor eifersüchti-. gem Zorne glühte. Lieber Vater! rief sie noch einmal: du mufst es wissen; du kennst mich. Ist es wahr, dafs ich un- glücklich mache?

Die Verlegenheit des guten Gottes war unbeschreiblich, mid Juno knirschte vor Wuth. Demi so feind sie auch den Ausschweifungen ihres Gemahls war, so sehr hafste sie doch alle Anspielungen

DIE GÖTTINNEN, i^

darauf; sie mufsten denn von ihr selbst, zwischen den stummen Vorhängen ihres geheiligten Torus, kommen.

Aber, fing endlich nach einigem Stot- tern der Vater der Götter an: vyas zankt Ihr denn immer^ Ihr Kinder? Wenn Wohlthätigkeit, wie Minerva sagte, das Kennzeichen der Gottheit ist, so dürft Ihr euch nur versöhnen, um beide mehr Gottheiten zu seyn. Apoll hat euch das so oft schon gerathen, und ich so oft eücK befohlen. Macht einen ewigen Bund mit einander! und die Sterblichen werden nicht erst über den Kocyt dür- fen um ein Elysium zu finden; es wird ihnen an seinen beiden Ufern blühen. Pu, Minerv^a, bist allzustrenge, und du, Venus, zu leichtsinnig.

Allzustrenge? sagte Minerva-; und bat die Juno lim ihre Iris, die ihr gerne be-

i6 DIE GOTTINNEN.

williget waifd. Sie sagte ihr einige Wor- te ins Ohr^ und Iris schofs auf ihrem far^ bigen Bogen zur Erde. Ich erbiete mich zu jenem ewigen Bunde > Jupiter, den du mir anträgst; aber nur Geduld! und du selbst magst dann richten»

In wenig Augenblicken kam Iris zu* rück_, und brachte eine Gestalt mit sich, die den ganzen Himmel in Erstaunen setzte. Es war kein Mensch mehr; es War nur die unvollkommne Idee eines Menschen: ein abgelebter, bleicher, zit- ternder Greis, in den Jahren der Jugend. Seine Augen, worin der letzte Funke Feuers erloschen war, lagen tief in ihren Höhlen; sein Nacken war krumm und gebückt, und seine Stimme keuchend, wie eines Nestor.

Da seht! rief Minerva. Seht die Won- ne, die Glückseligkeit, womit die Göttinn

von

DIE GÖTTINNEN. 17

von Cythere ihren Anbetern lohnt ! Und solcher Elenden ist der ganze Erdboden voll. Ihr haltet sie für die Göttinn des Lebens? Ihr irrt euch. Sie steht mit den Göttern des Todes in Bundnifs. Und wenn oft die unerbittlichen Parcen, we- niger grausam als sie^ den Faden des Lebens noch kaum zur Hälfte vollendet haben," so ist sie es^ die mit der tödtli- chen Scheere hinzutritt und ihn lächajüid zerschneidet.

Alle Götter und Göttinnen .denn allen liegt die Wohlfahrt der Menschen am Herzen wurden über diesen An- blick erbittert. Jupiter schüttelte sein Haupt_, dafs der himmlische Pallast durch alle Gemächer erbebte. Es war kein Mund, der nicht Tadel murmelte^ und selbst der menschenwürgende Mars fluch- te in seiner Wuth alle Ströme der Hölle

Engels Philosoph, I. ^

iS DIE GOTTINNEN.

zusammen. Indefs safs die Göttinn von Cythere da, als wollte sie durch den krystallnen Boden des Himmels bis hin- ab in die tiefsten Abgründe am Kauka- sus sinken: nur dann und wann erhob sie ein schüchternes Auge, das Verzei- hung zu fordern und Besserung zu gelo- ben schien.

Aber schon hatte sie heimlich, sobald silw*Minervens Absicht errieth, dem Mer- cur einen Wink gegeben, der ihn augen- blicklich verstand, und schnell, als ob er vom ersten der Götter käme, zu voll- strecken eilte. Es war bewundernswür- dig, aber der ganze Himmel stand der kleinen süfslächelnden Cytherea zu Ge- bote. Sie war mehr Königinn des Olymps, als Jupiter selbst. Alles liebte sie, und alles richtete ihr gern einen Gefallen aus; die Götter offenbar, und die Göttinnen heimlich.

DIE GOTTINNEN. 19

Jetzt hatte Minerva wieder das Wort genommen^ und stand eben in der Mitte einer der gründlichsten Abhandlungen gründlicher, als sie je ein Mitglied vor der französischen Akademie eines deut- schen Königs verlas worin sie mit gröfster Scharfsinnigkeit zeigte, was wah- re Freude und wahre Glückseligkeit sei? und mit den triftigsten Beweisgründen darthat, dafs alles was die Göttinn der Liebe den Sterblichen anböte, nichts als Scheingüter wären, nichts, als eitle, hin- fällige, sinnliche, thierische, thörichte

Und hier kam Mercur wieder zurück, Ein neues Gespenst? riefen die Göt- ter. Hatten wir nicht schon an dem An- blick des Einen zu viel? Schafft sie hin- aus! schafft sie hinaus! oder wollt Ihr den Himmel zu einem Orcus machen?

O Mercur! seufzte Venus, als ob sie

20 DIE GÖTTINNEN.

ihre Beschämung nicht länger ertragen könnte: mufst denn auch du_, Mercur Wie^ Madame? Was, tun aller Götter willen! geht dies Gerippe hier Sie an? Schämen Sie Sich_, wenn Sie wollen, für jenes! Für dieses hier lassen Sie sich Mi- nerva schämen !

Minerva? fuhr Venus auf, ihre ganze Heiterkeit wieder auf ihren Wangen, in- defs der Göttinn der Weisheit die Worte im Munde erstarben. Aber beim Ju- piter, ja! das ist kein Liebhaber; das ist ein Weiser. Armes Geschöpf! Lafs mich dich ansehn! Du blinzeist? Kann dich dieses sanfte, reine, liebliche Licht des Himmels blenden? Sind deine Seh- nerven so schwach?

O Göttinn ! Und meme Gehörnerven noch schwächer. Rede leiser mit mir! denn deine Stimme ertönt mir, gleich der Donnerstimme des Jupitex,

DIE GOTTINNEN.

211

Ist es möglich? Und doch ist meine Stimme^, wie alle Götter sagen, die sanf- teste im Olympus. Du zitterst P Dich schaudert? Fühlst du denn nicht den Ein- flufs dieses holden^ ewigen Frühlings?

Wie könnt' Ich, Göttinn? Der erwär- mende Saft des Lebens ist in allen mei- nen Gefäfsen vertrocknet.

Unbegreifliche Schwäche! Reich ihm doch einen Becher -Weins, Ganymed!

O nein, Göttinn I nein! Auf die Stär- kung eines Augenblicks w^ürde nur eine desto tödtlichere Mattigkeit folgen.

Nun, Madame? indem sich Venus wieder zu der ganz verwirrten Minerva #andte: jene Farbe, und diese Farbe; jene Wangen, -und diese Wangen ; jene Ohnmacht, und diese Ohnmacht

Ist's denn meine Schuld, rief Minerva mit höhnischaufgezogener Oberlippe, dafs

22 DIE GÖTTINNEN.

dieser Thor sich mit meinen Wohlthaten überfüllt hat?

Und ist es meine, erwiederte Venus, wenn auch jener, im Genüsse der meini- gen, keine Gränzen kannte?

Schamlose Vergleichung I sagte Mi- nerva.

Warum das?

Wenn es um und um kommt, so hat doch der meinige zu dem edelsten End- zwecke gearbeitet. Er hat gesucht, die Menschen zm- Weisheit und Tugend zu bilden.

Und der meinige, die Menschen selbst in bilden, die jener

Ein plötzlicher Aufruhr im Olymp ufi* terbrach sie. Alle weibliche Gottheiten, selbst die alte grofsmutterliclre Ceres, ver- steckten das Gesicht hinter den Händen, und murmelten einander ihren Unwillen

DIE GOTTINNEN. 23

über die Schamlosigkeit ihr^r Mitgöttinn zu. Aber Jupiter befahl dem Mercur, beide Gerippe hinauszuschaffen, deren Anblick ihm die Freude seines Himmels verderbte. Nimm sie nur gleich mit zum Styx, sprach er: denn warum willst du dir einen doppelten Gang machen? Pluto nimmt sie sicher für Schatten!

Und dann wandte er sich mit folgen- der Rede an die Göttinnen der Weisheit und der Liebe: Sehet da die Folgen eu- rer Uneinigkeit ! Sehet da die Früchte €iu*er ausschliefsenden Herrschsucht! Wir alle, so viel unser sind, sollten billig nur Einen Tempel und nur Einen Altar ha- ben. Denn weder für die Wollüste des Geistes, noch für die Wollüste des Kör- pers ist der Mensch allein geschaffen; in beiden stürzt Übermaals ihn ins Elend. So wie der äufsere Mensch ohne unsre

24 DIE GÖTTINNEN.

vereinigten Wohlthaten , ohne meinen Äther, und ohne deine Luft, o Juno, und ohne deine Wasser, Neptun, und ohne deine Garben, o Ceres, und ohne dein Feuer, Vulcan

Und ohne meinen Wein, redete Bac- chus dazwischen, mit emporgehobenem Becher .

Nicht l^estehen kann : so kann auch der innre Mensch ohne eure vereinigten Gaben, ohne deine Weisheit, Minerva, ohne deine Triebe, o Venus, ohne deine Musen, Apoll, zu keiner Vollkomnjenheit aufblühen; und der ganze Mensch kann ohne uns alle

* * *

O verzweifelt, mein Leser! Indem ich eine der treflichsten philosophischen De- ductionen aus dem Aichiv des Himmels, wovon Mercur einige Blätter für mich

DIE GOTTINNEN. 25

entwandt hat^ dir abschreiben will; so fährt durch meine einsame Sommerlaube ein Zepbj'r^ und führt mir meine Blätter weg in die Luft. Begnüge dich also mit dem was du hast_, und gedulde dich^ bis ich das Verlorne wiederfinde; denn eben jetzt bin ich hinterdrein es zu suchen.

2b

ZV/EITES STUCK.

ÜBER DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHER.

AUS EINEM BRIEl F..

Auch für mich ist der Charakter des jungen Wertke?^ äufserst interessant ge- Wesen. Ich sympalhisire sehr mit seinen Empfindungen über das Schicksal der Menschheit^ über das Leben und den im- merwährenden Tod der Natur^ über die Dunkelheit und den Reichthum in den. Vorstellungen der Zukunft und der Fer- ne^ um derentwillen beide uns so reizend scheinen, dahingegen sie bei der Nähe dem Gewohnten ganz gleich sind, weil

ÜB. WERTHERS LEIDEN. 27

unsre Eingeschränktheit dieselbe bleibt, und wir nicht das Alte und das Gegen- wärtige zugleich umfassen, sondern im- mer in einem gleich engen Kreise ste- hen. — Sonst sind Werthers Empfmdun- gen allerdings überspannt : er verachtet einen niedrigem Grad von Empfindlich- keit, die dabei wirklich sehr weit und richtig seyn kann, mit eben dem tadel- haften Stolze, womit der grofse Gelehrte den minder Belesenen 2;u verachten pflegt. Er hat nicht allgemeines Menschengefühl, Das eine sind ihm Schurken tind Teufel: das andere, Engel. Aber, wenn ich ihm auch nicht in Empfindungen folgen kann, die von einem Temperamente abhangen das dem meinigen durchaus entgegen ist: so kann ich doch begreifen, wie das in so einer Seele Statt gefunden hat, und ich sehe die wahren, mir auch bekann-

28 ÜBER

ten Eindrücke der Natur, nur mit dem mir fremden Gepräge einer andern Or^ ganisation und anderer Sinne.

Die Leiden des jungen Werther ha- ben mich auf den Verfasser viel auf- merksamer gemacht, als alles was er vor- her geschrieben. Das ist, glaube ich, einer der Schriftsteller, die auf unsre Zeitgenossen viel EinHufs haben werden. Er hat Herz, Verstand, und Dreistigkeit; Gunst beim Publikum, und Begierde zu herrschen.

Es webt und regt sich jetzt mehr in allen menschlichen Köpfen, als sonst, Wird dadurch das Loos unsrer Nachkom- men besser werden? Werden die Men- schen endlich zu dejn System von Ideen und Empfindungen gelangen, das nach ihrer N'alur mit der Wahrheit und der Beschaffenheit des Ganzen am genaue-

WERTHERS LEIDEN. 29

sten übereinkömmt? Wird alsdann ein- mal Einheit und Gleichförmigkeit in, den Grundbegriffen^ und dadurch gegenseiti- ge Liebe, Achtung und Eintracht entste- hen? Wird einmal eine Zeit kommen, wo die immer abwechselnde , immer gleich eingeschränkte Sinnlichkeit durch den immer gleich grofsen, unendlich wei- ten Verstand, der vom Anfang bis zum Ende alle Orter und alle Einwohner und Begebenheiten urafafst, wird überwogen, und dadurch die Ruhe des Geistes und

Herzens festgestellt werden?

Sie befragen mich wegen meiner Ge- danken über den Selbstmord. Nach mei- ner Einsicht, kommt dabei alles auf die eine Betrachtung an ; dafs der Mensch in wichtigen Dingen , die nicht von ihm herkommen, nicht durch ihn geordnet und erhalten werden, ihm nicht einmal

'^o ÜBER

recht bekannt sind, den Lauf der Natuif durch unwiederbringliche Veränderungen so wenig als möglich stören müsse. Die- se Betrachtung wird noch stärker für den, der eben diesen nicht von ihm herkom- menden , von ihm nicht eingerichteten Dingen den verständigsten, gröfsten, mäch- tigsten, besten Geist zum Urheber, An- ordner und Aufseher giebt. Indem er sich dem Lauf der Natur überläfst, ver- traut er sein Schicksal der höchsten Ein- sicht an; indem er diesen Lauf stört, bringt er Wirkungen hervor, die zunächst von seiner Blindheit und Unwissenheit abhangen. Ich weifs nicht, sagt Tferther selbst, was das heifst : Leben, Ster- ben. Ich weifs es, bei Gott! auch nicht. Aber wie kann ich es also wagen, meine Hand in diese Dunkelheit auszustrecken^ und dort Streiche zu versetzen, die mein Auge nicht absieht?

WERTHERS LEIDEN. 31

Ich Aveifs, dafs man diesen Satz zu weit ausdehnen, und auch die Aufopfe- rung eines Gliedes, die Vernichtung ir- gend eines aiidern Theils der Natur, für unerlaubt halten könnte. Aber der ge- sunde Verstand findet die Unterschiede den Augenblick, die durch Phiiosophiren nur schwer und langsam entwickelt werden.

Ich sehe nehmlich in dem grofsen Universum, iii dem ich bin und fortlebe, eine Sphäre, die für meine Erkenntnifs^, Beurtheilung und Activität bestimmt ist. Da fmdet Kirnst, Wissenschaft, Erfahrung der Folgen, Verbesserung der Mittel ; mit Einem Worte, eine Absicht und ein Ent- wurf, Statt. So weit als diese Erkennt- nifs der Folgen reicht, so weit d^rf ich auch eigne Einrichtungen und Verände- rungen in der Natur machen. Ich sehe ab, wo das hinauslaufen wird wenn ich

32 ÜBER

mir den Arm glücklicli ablösen lasse; icli werde mit Einem Arme fortleben, und im Zustande und Genüsse der Mensch- heit, obgleich mit Unbequemlichkeit und Schmerzen, verharren. Aber wenn ich mich umbringe! Ja, da weifs ich nichts mehr von meinem Selbst; ich weifs keine der Folgen, die der Schufs ins Gehirn auf mein denkendes und wollendes We- sen hervorbringen wird. Leben und Tod kann also nicht zu meiner Sphäre gehö- ren. Es ist die höhere Sphäre des Gei- stes, der mich geboren werden, wachsen, leben, und sterben läfst; der alles weifs was vor mir war, weifs, was nach mir seyn wird; der einen Plan und Hülfsmit- tel hat, die eher anfangen und weiter reichen, als mein Leben.

Doch, etwas anders ist, untersuchen: ob es der Natur des Menschen und der

Din-

WERTHERS LEIDEN. 55

Dinge gemäfs, das heifst^ erlaubt sei, sich zu ermorden; etwas anders die Frage: wie ein Mensch, der durch Unglück und Leidenschaft dazu getrieben wird, abge- halten ; wie der noch nicht unglückliche, aber sehr empfindliche und schwermüthi- ge Mensch davor bewahret werden soll? Chne Zweifel nur durch Verhütung der Leidenschaft selbst.

Und das ist ein neuer Grund \Tldcr den Selbstmord. Der Zustand der Seele, in welchem man dazu fähig ist, ist alle- mal ein zerrütteter, verdorbener Zustand. Keine Wahrheit in dem Anblick der Din- ge ; keine R.ichtigkeit in der Schätzung derselben; keine Voraussehung einer oft nahen Zukunft; kein Nebenblick auf das Umstehende : eine unglückliche Vereini- gung aller Seelenkräfte auf einen einzi- gen schwarzen Punct!

Engels Philosoph, I, . . ^

34 ÜBER

Dies macht bei Werthern einen Theil seiner Schuld aus, dafs er diese Ein- schränkung und Concentration seiner gan- zen grofsen Empfindsamkeit auf jeden klei- nen Gegenstand für ein Verdienst hält, sich darin mehr imd mehr übt, und al- les was seine Aufmerksamkeit auf mehr wichtige Objecte ziehen könnte, für Zer- streuung, für Abhaltung von dem Streben nach Vollkommenheit ansieht. Daher auch sein Stolz; der sonst mit der Liebe gegen die geringsten Menschen, imd selbst gegen Pflanzen und Insecten, die er zu seiner vorzüglichsten Eigenschaft macht, so wenig bestehen kann. Wenn er einsam die Natur betrachtet, so denkt er an sein Selbst nur in so ferne als er Ähnlichkeit damit gewahr "wird ; diese findet er auch in den imbeträchtlichsten Dingen, imd fällt auf sie mit der vollen

WERTHERS LEIDEN. 35

Denkungs - und Empfindungskraft seiner Seele. Tritt er aber in die menschliche Gesellschaft ein ; ja so kömmt die un- endlich stärkere Vorstellung seines Selbst zurück, und er empfindet nur die Unter- schiede, nicht mehr die Ähnlichkeiten der Andern, besonders je näher ihm die- se Andern an Stande und äufsern Tor-' zügen sind. Hat er einen oder wenige Menschen gefunden, die diese Schwie- rigkeit in sein Herz zu dringen, über- winden imd ihm schätzbar werden; so häuft er auf diese in seiner Einbildung alle Vollkommenheiten zusammen, die er den übrigen Menschen entzieht. Er verachtet und meidet diese übrigen so sehr, dafs es ihm unmöglich wird, das Gute und Schätzbare, welches er bei nä- herer Bekanntschaft gewifs an ihnen ün- den würde, zu entdecken.

ÜBER

Indem er also auf der einen Seite die Natur im Ganzen^ und bis in ihre gemei- niglich von uns völlig vergessenen und vernachlässigten Werke, lebendig, schön und interessant findet; so findet er auf der andern Seite, gerade in dem wich- tigsten Tlieil der Schöpfung, unter den Menschen, sehr wenige seiner Achtung unid Liebe würdig. Hier sind ihm Alle unter seiner Vorstellung und Erwartung, so wie jene Dinge seine Vorstellung über- treffen. Aus dieser Lage des Gemüihs entsteht zuerst Hang zur Einsamkeit und zu blofsem ungeselligen Nachdenken ; zweite?is Mangel an öftern angenehmen und das Gemüth erheiternden Eindrük- ken, die aus der Achtung und Liebe ge- gen Andre entspringen ; drittens Hafs und Widerwillen dieser Andern g'^^Q'i^. den, von dem sie sich so unbillig verachtet

ö7

sehn, ohne clafs sie seine gi'öfsern Voll- kommenheiten kennten oder Genufs da- von hätten; viertens gegenseitiger ver- stärkter Abscheu auf Seiten des Stolzen. Und nun lassen Sie so ein Herz^, das ge- gen die todte Natur empfindlich, gegen die Menschen erbittert, gleichgültig oder stolz ist ; lassen Sie es nun noch von einer heftigen Liebe angegriffen werden, und darin unglücklich seyn: was bleibt wohl übrig ? Einen einzigen Menschen hatte der Unglückliche nun gefunden, der ihm recht werth war; dieser Mensch ist dahin. Unter dem übrigen großen Haufen besinnt er sich auf nichts so Schätzbares, das ihm diesen Verlust er- träglich machen konnte. Er weifs, er wird nicht von ihnen geliebt. Die ein- same, todte, stille Ü^atur scheint ihm viel edler und gröfser. So wird also die

38 ÜBER

V

ganze Empfindlichkeit des Herzens dar- auf gespannt^ das menschliche Leben^ so wie wir es jetzt haben;, zu hassen^ und nur die Existenz der Katur zu lieben, mit der wir uns im Tode zu vereinigen

scheinen.

Man hat die Leiden Werthers hie und da für ein gefährliches Buch gehalten, das zum Selbstmord verführte. IJire Ge- danken hierüber sind richtig. Zum Selbst- mord wird man schwerlich verführt. Aber dennoch kann es nie ganz gleichgültig seyn, was für Meinungen über diesen Punct der Mensch bei sich festgesetzt hat; ob solche, die die Leidenschaft be- günstigen, oder solche die sich ihr ent- gegensetzen, und sie, wo nicht ersticken, doch aufhalten. Und wenn dieses ist, so war es freilich Unrecht, die spitzfindig- sten Scheingründe für die That mit aller

WERTHERS LEIDEN. 59

Stärke der Beredtsamkeit vorzutragen, in- defs die wahren Gründe dawider über- gangen oder ungeschickt verfochten wur- den. Jede That ist aus einem doppelten Gesichtspuncte zu betrachten : aus dem einen, wenn sie begangen worden ist; aus dem andern , wenn sie begangen werden soll. Beide Gesichtspuncte sind wichtig. ,Wer mir die ganze Entstehungs- art einer verwerflichen Handlung zeigt; wer mir aus dem Charakter, aus der ^^^'^ des Menschen die Gründe dersel- ben entwickelt; wer mir die Fehlschlüsse, die irrigen Grundsätze aufdeckt, denen gemäfs er verfahren ist: der verdient mei- nen aufrichtigsten Dank ; denn er beför- dert meine Kenntnifs des Menschen, mei- ne Liebe des Menschen, meine Duldsam- keit, meine Klugheit. Aber nie mufs er dabei den andern Gesichtspunct verges-

4o ÜBER WEP1.THERS LEIDEN.

sen ; das heifst^ er mufs mir die Fehl- schlüsse als Fehlschlüsse, die irrigen Be- griffe als irrig, die falschen Gründe als falsch y und die daher entspringenden verwerflichen Handlungen als wirklich verwerflich zeigen. Dieses nicht gethan oder nicht genug gelhan zu haben ^ ist v*'ohl der gröfste Vorwurf^ den man dem Verfasser der Leiden AVerthers machen kann, und gegen den er sich vielleicht am v/enigsten rechtfertigen liefse.

Chr. Garve.

4i

DRITTES STÜCK.

DIE HÖHLE AUF ANTIPAROS.

irlerr von Millwitz war einer der lie- benswürdigsten jungen Edclleute in Lief- land. Da er sich den Wissenschaften mit eben so viel Fleifs, als Talenten gewid- met hatte^ so war er ein Mann von aus- nehmender Geschicklichkeit geworden : gleichwohl war er in jedem Ansuchen um eine bürgerliche Bedienung unglück- lich. Er fafste endlich^ theils aus Un- muth, theils um sich zu empfehlen, einen kurzen Entschlufs, und nahm Dienste auf der russischen Flotte, die eben damals i'i den Archipelagus segeln wollte. Die- ser Entschlufs kostete ihm um so weni- ger, da er bei grofsem natürlichen Mu-

42 DIE HOHLE

die, ein brennendes Verlangen hatte die Welt zu sehen.

Seine unaufhörliche Unpäfslichkeit, und der Rath der Arzte die ihm die See- luft nicht zuträglich fanden, nöthigten ihn bald, wieder umzukehren. Er ging auf seine Güter nach Liefland, und be- suchte hier oft den Baron von jB**, des- sen Rittersitz nur einige Meilen von dem seinigen lag. Das Bedürfnifs des Um- gangs machte zwei Menschen auf dem Lande zu Freimden, die es in einer Hauptstadt nie würden geworden seyn.

Einst, da Millwitz zu dem Baron uji- vermuthet hereintrat, warf dieser, im Ent- gegeneilen, ein Buch aus der Hand, wor- in er eben gelesen hatte. Etwas Neues? fragte ihn Millwitz, der jetzt auf d".^ Leetüre um so begieriger war, da es ihm an allem guten Um gange fehlte.

AUF ANTIPAROS. 43

Neu oder alt! wie Sie wollen! Für mich freilich noch neu ; aber für einen so grofsen Leser wie Sie^, vermuthlich schon alt. Eben wollte es Millwitz aufheben,, als es der Baron ihm mit einer lustigen Miene wegrifs, und ihn mit vie- ler Selbstzufriedenheit fragte^ für Avas für ein Buch er's wohl halte ?

Ich wette, Baron, dafs es ein verlieb- ter Roman ist.

Ei denkt doch! weil ich es lese. Aber, mein Herr Gelehrter; dasmal irren Sie Sich. Rathen Sie besser!

Eine Reisebeschreibung? und schon wollte Millwitz begierig zugreifen oder wohl gar Doch nein! das darf man bei Ihnen wohl nicht erwarten.

Was nicht ? AVas darf man bei mir nicht erwarteil? Sie bilden Sich doch nicht ein, dais Sie der einzige denkende 'Mann hier in Liefland sind?

44 DIE HÖHLE

Da war' ich sehr unverschämt. Bin ich denn nicht bei Ihnen?

Spöttereil Spötterei! Ich verstehe. Aber^ was man nicht ist, kann man wer- den^ imd ich dächte immer ^ ich wäre auf gutem Wege dazu. Philosophie^ Freund! Philosophie! indem er ihm das Buch mit triumphirender Miene vor- hielt. — Und das wahrhaftig nicht von der Oberfläche! Aus der tiefsten Meta- physik !

Wie? Das sollte mir leid thun, Baron. Das wäre ein Zeichen vor Ihrem Tode. Er nahm es ihm ab_^ und erstaunte nicht wenig, als es das berufne Systöuie de la nature war.

Ist es möglich? Sie lesen ein Werk wie dieses?

Also kennen Sie's doch?

Von Livorno her ! Ein Engelländer lieh es mir, da ich krank war.

AUF ANTIPAROS. 45

l^un? und fanden Sie's nicht wirklich vortreHich ?

Vortreflich ? Ein Buch von solchen Grundsätzen^ vortreflich!

Ich meine^ in der Schreibart^ im Yor- tfag.

Was thut der Vortrag, Baron? . Ein Gift, das durch seine Süfsigkeit den Ge- schmack reizt^ ist nicht weniger Gift, und man mufs nur um desto mehr davor warnen. In aller Welt! wie sind Sie auf dieses Buch verfallen?,

Je nun, wie? Sehr natürlich! Man machte viel Aufhebens, davon. Ich fragte von ungefähr darnach , und da war's nicht zu haben. Das machte mich hitzig darauf. Endlich, da es sich fand, liefs man mich's theuer bezahlen. Es kostet mich, wie es da ist, sechs Rubel.

46 DIE HÖHLE

Nun> beim Himmel, Baron! ch woll- te^ Sie hätten Ihre sechs Rubel einem Armen, oder —. hätten sie einem Mäd- chen gegeben. Eins ist nicht so schlimm, als das andre.

Pfui, Millwitz! pfui! Sie reden ja, wie ein Pfaffe und machen's auch, wie ain Pfaffe. Erst genielsen die Herren selbst, und nachher, wenn wir armen Laien nun auch geniefsen wollen, sind •wir verdammt. AVarum denn nicht lesen? Haben doch Sie es gelesen!

Guter Baron! Ich und Sie, ist ein Un- terschied. — Hätt' ich nie trockne deut- sche Metaphysik gelesen, so würd' ich mich vor der beredten französischen fürchten. Sagen Sie mir; wie konn- ten Sie, bei Ihrem Abscheu vor aller An- strengung, bei Ihrer Unlust zu allem tie- feren Nachdenken, bei Ihrem wirklichen

AUF ANTIPAROS. 47

Mange,l an den vielen Kenntnissen die so ein Buch voraussetzt : vrie konnten Sie auf den Gedanken kommen

Je nun die Wahrheit zu sagen - man sitzt in Gesellschaft von euch Her- fien immer da, wie ein Ölgötze. Man mufs doch einmal mitsprechen können.

Mitsprechen, Baron ! Für das was Si aus diesem Buche mitsprechen kön- nen, wäre Zuhören besser. Und lei- der! — auf Gegenstände dieser Art fällt die Rede so selten.

So mufs man sie darauf bringen, zum Henker!

Um sich ein Ansehn zu geben I Nicht wahr ?

Nun ja! Warum nicht? Sie stellen Sich, als ob ich Wunder was für Gefahr liefe. Ich sehe da keine. Man amü- sirt sich, man lies't, man denkt nach

48 DIE HOHLE

Wenn man kann, guter Baron, -r- ünd wenn man's nicht recht kann; so wkd man ungewifs, läfst sich hinreifsun, giebt Beifall ; verliert seinen Glauben an Gott, seine Beruhigung, seine Tugend vielleicht: und das alles ist Kleinig- keit. Nicht? Hören Sie, Freund!

Das Feuer in Ihrem Kamine v/I]l aus- gehn, und mich friert hier bei Ihnen. Ich dächte, wir vermehrten die Flamme.

Wetter! schrie der Baron, der noch zu rechter Zeit zugriff; sind Sie bei Sin- nen? — Verzeihen Sie, Millwitz! in- dem er sich ein wenig wieder erhohlte aber man heizt eben nicht mit sechs Rubeln, wenn man's mit einer Kopeke kann; und das Buch das Buch ist nun einmal mein! Ich will's lesen.

Zu Ihrem Verderben vielleicht!

Ach Possen! Possen! Gesetzt nun

auch.

AUF ANTIPAPvOS. 49

aücliv ich werde ein Atheist; was ist's mehr? Wenn icli's bin, so lasse ich meinen Pfarrer rufen; der widerlegt mich aus Gottes Wort, und ich werde wie.dec zum Christen. Kommen Siel Kom- men Sie! Wir setzen uns hier an den Kamin; ich mache Ihnen, weil Sie doch frostig sind, Feuer; lind friert Sie dann noch nun gut! Er i^lingelte, und befahl eine Flasche Burgunder.

O liebster Freund ! fing er dann wie- der mit einem Seufzer an: Sie sind ge* reis't; Sie haben die Welt gesehen. Was War ich doch für ein Thor, dafs ich nicht mitging! Tausendmal habe ich's schon seit Ihrem letzten Besuche mir selbst gesagt; denn was Sie mir da er- zählt haben die ganze Zeit ist's mir nicht aus dem Sinn gekommen. Ihre ganze Fahrt habe ich mitgemacht; alle

Engels Philosoph, J, /

50 DIE HOHLE

Abende wenn ich zu Bette gehe^ schiffe ich mich im Hafen von Livorno ein, und wache Morgens im Archipelagus wieder auf. Guter, bester Millwitz ! Noch mehr solche Geschichtchen! Noch mehr!

Aber ich weifs keine mehr.

Ei was? Sie müssen noch wissen. Da! frischen Sie Ihr Gedächtnifs auf! denn eben war der Burgunder gekom- men. Auf der See, glaube ich, wa- ren wir fertig; die Türkische Flotte hat- ten wir zu Pulver verbrannt : nunmehr, dächte ich, sähen wir uns im Lande um. Ein herrliches Land vermuthlich-?

Gewesen, Baron! als noch Freiheit und Wissenschaft darin wohnten. Aber

auch jetzt Doch was soll ich Ihnen

erzählen, da wir gar nicht hineingekom- men? — ,

Nicht hineingekommen I Sie haben doch etwas gesehen.

AUF ANTIPAROS. 5i

Nicht viel mehr, als die Insehi.

Nun? Und die Insehi? indem er seinen Stuhl naher an den Tisch rückte, und sich begierig hinüberbeugte.

Die enthalten so viel Merkwürdiges eben nicht. Denn die Menschen

Ach, die Menschen! die Menschen! die werden die Köpfe oben und die Füfse unten haben. Nicht wahr ? Er be- lohnte sich für seinen Witz durch ein Glas Burgunder und ein lautes Geläch- ter. — Nein, etwas anders, Freund! et- was anders! So etwas, wie jüngst! von Attaken, von Meerstrudeln, von feiaer- «peienden Bergen! So etwas, das grauen macht ! In der Welt hör' ich nichts lieber.

Ein Beweis, dafs Sie Herz haben, Ba- ron! — Er lächelte. Aber wirklich; ich wüfste doch etwas. Sie haben ver-

6a DIE HOHLE

muthlicli von einer Insel Antiparos ge- hört?

Ich werde doch! Von so einer be- rühmten Insel!

Nein^ wenn Sie schon allzuviel davon gehört haben, so komm' ich zu spät. Denn so werden Sie auch schon wissen^ was die JNatur dort für eine Hohle ge- baut hat.

Eine Höhle? Hat die Natur dort eine Höhle gebaut? Nein, btd meiner Seele! davon weifs ich noch nichts. Man lebt ja hier auf dem Lande. Was weifs man da von der Welt? Gütiger Gott! was erfährt ein Landjunker Neu^s?

Nun nun, Baron! So gar neu ist nun diese Neuigkeit eben nicht. JVlillwitz fing hierauf an, und führte den Baron in einer weitläuftigen Beschreibung durch die prächtige^ mit Pfeilern unterstützte

AUF ANTIPAROS. 53

und mit Inschriften versehene. Höhle die- ser Insel, bis zum Durchgang zu der merkwürdigen Grotte, in die einst Noin- tel und nachher Tourneforb mit so viel Gefahr hinabstiegen. Der Baron horchte ihm jedes Wort von den Lippen, mit al- ler der Begierde, w^omit er in seiner Kindheit auf die Gespenstergeschichtchen seiner Amme mogte gehorcht haben.

Nun, Millwitz? Nun?

Der Boden, auf dem wir gingen, ward nun immer abschüssiger und abschüssi- ger. Endlich kamen wir an ein finstres Loch, wodurch wir nicht anders als ge- bückt, und bei dem Scheine der Fackeln, kommen konnten. Bereiten Sie Sich, eine der gefährlichsten Unternehmungen zu hören, die ich mir weniger zur Ehre als zum Vorwurf inache, und an die ich nie ohne Schaudern zurückdenken kann.

54 DIE HÖHLE

Der gute Baron war schon mehr als EU sehr bereitet. Er safs mit offnem Munde da^ und fühlte schon alles Grauen des Schreckens in seinen Haaren.

Wir hatten^ sogleich an dem Eingan- ge, ein Seil befestigt, und stiegen durch Hülfe desselben in die erste Tiefe, die schon schrecklich genug war. Aber wie weit schrecklicher war noch die zweite, in die wir halbliegend gleichsam hinab- rutschen mufsten ! Ein Mensch von nur etwas schwächern Nerven als ich, würde durch Einen Gedanken an die Untiefen, die zu meiner Linken lagen und vor de- nen ich so nahe vorbei mufste, drehend geworden seyn, und gelegen haben.

Der Baron hielt die Hand vor die AUgen.

Und was meinen Sie, Freund? Eben auf den Hand dieser Abgründe , der

AUF ANTIPAROS. 55

schlüpfrig wie Eis, und also äufserst ge- fährlich war, setzten wir eine Leiter an, auf der wir einen völlig senkrechten Fel- sen hinankletterten freilich mit ein wenig Angst und Herzklopfen; das kön- nen Sie denken.

Der Baron sprang auf, setzte sich aber jogleich wieder nieder.

Was ist Ihnen, Baron?

Nichts, Millwitzl nichts! Blofs mein elender Kopf Soll mich Gott ver- dammen , lag ich nicht in Gedanken schon unten! Nur w^eiterl

Ich rutschte hierauf, mit etwas weni- ger Gefahr, weiter fort; aber, da ich nun eben glaubte sicher auftreten zu können, kam die schrecklichste Stelle, und ohne das Zurufen meiner Wegweiser hätt' ich unfehlbar den Hals gebrochen.

Hier hielt der Baron wieder ganz

56 DIE HÖHLE

sichtbar clen Odem an^ und alle Muskela seines Gesichts waren in Arbeit.

"Wir fanden eine Leiter, die aber schon so alt und morsch war_, dafs sie bei dem ersten Tritt darauf würde zer- brochen seyn. Wir bedienten uns daher einer neuen, die wir eben zu diesen. Ende mit uns genommen hatten. Dam mufsten wir uns wieder an ein neues Seil hängen, und dann, nachdem wir noch eine Zeit lang, bald auf dem Bauche, bald auf dem Rücken fortgeglitten wa- ren, sah ich mich endlich zu meinem gröfsten Vergnügen in der Grotte, um die ich so vieles gewagt hatte.

Endlich! Nun, Gott sei gelobt! Und was fanden Sie denn in der Grotte? Je nun sie war denn doch immer ganz artig.

Aber zum Henker ! ^was gab es denn mitzunehmen?

AUF ANTIPAROS. 57

Wie Sie fragen ! Gar nichts !

Gar nichts ? mit einem Ton der Verwunderung. Und kamen Sie denn glücklich wieder heraus?

Ich mufs doch! Sonst tränk' ich hier schwerlich Burgunder.

Nun, das ist wahr! das ist wahr! Aber wenn Sie denn nun gestürzt wären? wie da?

So hätt' ich mir einen Arzt rufen lassen.

Ja, der würde Ihnen nachkriechen, zum Teufel ! Es -*nag auf Antiparos tref- liche Ärzte geben. Und wenn Sie nun gar den Hals darüber gebrochen hätten? In so einer Tiefe!

Millwitz lachte. Über die grofse Gefahr! Gleichwohl, Baron; beim Wie- derheraufsteigen gings ärger, als beim Hinuntersteigen. Da hätte Rath dazu wer-

58 DIE HÖHLE

den können. Mehr als einmal glitt

ich auf den schlüpfrigsten Felsenstücken, und gerade an den gefährlichsten Stellen hintenaus; doch war dies alles noch nichts gegen das, was mir auf der Leiter wie- derfuhr. — Sie erinnern Sich doch? auf der Leiter, die wir an den senkrech- ten Felsen lehnten! Denn hier *—

Der Baron hatte von neuem Schwin- del. Er kroch, mit zusammengebissenen Lippen und zurückgehaltenem Odem, ganz in sich selbst zusammen ,* gleich ei- nem Menschen, der von einer Höhe her- abstürzt —

Hier brach mir zu meinem gröfsten Schrecken die eine Sprosse, und wenn ich mich an den obern nicht noch gehal- ten hätte

Gott und Vater ! schrie der Baron, indem er ihn hitzig beim Arm ergriff, als

AUF ANTIPAROS. 59

ob er den Fall hätte verhindern wol- len. — Millwitz lachte, fuhr noch eine Zeitlang fort, und endigte dann seine Er- zählung mit den Worten: Ich bin oben, mein Freund.

Der Baron fuhr auf, dafs die Gläser tanzten^ und stürzte fast, vor Freuden^ den Tisch über den Haufen.

Sind Sie ? sind Sie wirklich wieder oben ? wieder auf festem Erdboden, Freund? Nun, dem Himmel sei Dank! indem er ihn hitzig umarmte. O, bleiben Sie immer oben, und hole der Henker alle unterirdische Klüfte! Blei- ben Sie oben, Freund! oben!

Ihre Freude macht Sie mir liebens- würdig, Baron !

Ja, beim Himmel ! ich liebe Sie. Ich liebe Sie, wie ich mein Leben liebe; und wissen Sie, dafs ich Ihnen vor lauter

So DIE HOHLE

Liebe gram bin, weil Sie ^nir in die ver- dammte Höhle stiegen ? In ein Loch, worin Sie alles verlieren and nichts ge- winnen konnten ! Welcher Teufel niuls- te Sie denn hmtunführen?

Die Neugier, Baron. Man lebt ja in der Welt, um sich umzusehen

Aber nicht mit so viel Gefahr! Se- hen Sie Sich sonst wo um! Warum eben auf Antiparos ?

Es giebt ein Ansehen. Man schliefst auf Herz, lieber Baron. ~ Und was ist's denn nun endlich? Man befriediget seine Neugier, man steigt hinab, sieht die Grot- te ein wenig an

Und bricht den Hals! W^eiter nichts!

AJso , Baron Avenn Sie wären zuge- gen gewesen ; Sie hätten mich wohl schwerlich hineingelassen?

Ich Sie? Bei den Haaren hätte ich Si©

AUF ANTIPAROS. 6i

zurückgehalten. Er stand auf, und gab ihm die Hand. Ja, beim Himmel/ JMiil- witz! und wenn ich mich hätte mit Ihnen sc' iel'sen sollen! Bei den Haaren hätte ich Sie zurückgehalten.

Wahrhaftig? Dann mufs ich mich schämen, dal's Sie mehr Liebe gegen mich, hätten beweisen wollen, als ich gegen Sie bewiesen. Sie haben einen schwachen Köpf, wie Sie sagten?

Den hab' ichl Warum?

Sie haben Anwandlungen vom Schwin- del?

Dann und wanni Es erinnert mich meiner Jugendsünden.

Nun gut! Und wenn ich mich mit Ihnen schiefsen sollte, Baron! Er stand auf, kam zurück, und das Systeme de l(t Natiire lag im Feuer.

Der Baron war zu sehr erstaunt, als

62 DIE HOHLE

dafs er sich sogleich hätte fassen können. Endlich griff er in die Flamme; aber zu spät. Das Buch war schon zur Hälfte verzehrt. Herr ! fing er darauf nach einigem Stillschweigen und voll Erbitte- rung an : Lehrt Sie das ein guter Geist, oder der Teufel?

Der Geist der Freundschaft_, Baron, ist ein guter Geist. Sie waren für meine Erhaltung besorgt; es ist Pflicht, dafs ich's für die Ihrige sei.

Was wollen Sie aber? Sie in ihrer verdammten Höhle konnten den Hai« brechen; und ich

Und Sie ? Sie konnten noch weit etwas Ärgers. Zweifelmüthig an einem Gott und einer Vorsehung werden; ei- ner Tugend, die ohnedies schon auf schwachen Füfs^en steht verzeihen Sie, Freund! noch vollends alle Festigkeit

AUF ANTiPÄRÖS. 63

nehmen; die Gründe seiner Beruhigung im Unglücke und im Tode verheren; kurz^ alles verlieren, was für ein denken- des und hinfälliges Geschöpf, wie der Mensch, das Gröfste und Wichtigste ist: das, Baron das nenne ich mehr, als den Hals brechen!

Sie schwärmen. Verlier' ich's denn schon?

Sie könntens verlieren. Sie klagten, über Schwachheiten des Kopfs, über Schwindel. Für so einen Kopf ist das Systeme de la Natiwe nicht geschiieben. Es verlangt feste Nerven, und einen drei- sten Blick in die Tiefe. Wem der fehlt, der mögte so leicht nicht wieder heraus- kommen. Der Fall hat viel Ähn-

lichs, Baron. In meiner Höhle, wie Sie sagten, war nichts zu gewinnen, aber al- les zu verlieren ; in den Speculationen

64 DIE HOHLE

dieses Buchs ist für Sie auch nichts zu gewinnen, aber alles zu verlieren. Und um die Ähnlichkeit auch bis auf den Scherz auszudehnen: Kein Arzt, glau- ben Sie, würde mir nachgekrochen seyn mir zu helfen; und Ihnen Ihr Pfarrer? Ah der ehrliche Mann ! Der würde Ihre verunglückte Seele Gott , befehlen, vor Ihrer Höhle ein Kreuz schlagen, und gehn, dafs er fortkäme.

Der Baron mufste nachdenkend ge- worden seyn, denn er blieb ernsthaft, ob es gleich über sein Lieblingsthema, den Pfarrer, herging. Herr von Millwitz reichte ihjn mit aller AVärme der Freund- schaft die Hand:

Sie erkennen, dafs ich Sie liebe?

Mein Freund ! und die Thränen standen dem Baron in den Augen.

Nuji; so hören Sie mich! Sie beschwo- ren

AUF ANTIPAROS. 65

ren mich mit der edelsten Hitze, nie wie- der in eine Höhle zu steigen, und 'hier meine Hand! ich will folgen. Aber nun mufs ich auch Sie bescijwören; Be- mengen Sie Sich nie wieder mit Büchern^ die Gott und Vorsehung vom Throne stürzen. Bleiben Sie immer, statt Sich in jene trübe Dunkelheiten zu vertiefen, an dem hellen Tageslicht des allgemeinen Menschenverstandes, und statt Sich an einem morschen Seil über Abgründe hin- zuhängen, auf dem festen, sichern Boden der Empfindung und des Gewissens!

Der Baron umarmte ihn, und ver- sprach es. Aber, fuhr er fort: meine besten Jahre habe ich nun einmal ver- träumt. Ich bin ein Dummkopf in- dem er sich vor die Stirne schlug und es ärgert mich, dals ich's bm ! Soll ich denn immeriort einer bleiben? Mngels Philosoph, I. 5

66 DIE HOHLE AUF ANTIPAROS.

Sie sollen lesen, Baron. Es giebt der Kenntnisse viel^ die einen achtungs- würdigen Mann machen ; aber freilich^ ist die eine mehr als die andere werth. Ihre Begierde nach Wissenschaft^ wenn es wirklich diese Begierde war, hat keine üble Pachtung genommen, und es ist mei-* ne PHicht, dafs ich Sie unterstütze.

Er schickte ihm den Tag darauf den Keimarus.

67

VIERTES STÜCK.

BAYLE AN SHAFTESBURY *).

Mylord^

iLiS geht noch immer nicht besser mit meiner Gesundheit: der trockne Husten^ der sich schon seit geraumer Zeit bei mir eingefunden, und der in meiner Fa- milie beinaiie erblich ist, hat wirklich meine Brust angegriffen. Ich liege nun hier auf meinem Lager, und leide von Mattigkeit, Schmerzen und Schlaflosig- keit; vorzüglich aber von der ünthätig-

•) Dieser und der folgende Brief sind an die wirk- liche Gorrespomlenz zwischen iiea beiden be- rühmten Schriftstellern angehängt. Man sehe Lettrus de Mr. Bayle^ t. III, am Ende. Anm. d. H.

68 B A Y L E

keit^ deren ich so gar nicht gewohnt bin.

Dafs ich mein Lebensende als nahe und gewifs ansehen mufs, das beunruhigt mich wenig. Da ich einmal aufser Stan- de bin zu arbeiten, so kann mir das blofse Leben so viel nicht werth seyn. Nur Einen Kummer hab' ich noch auf dem Herzen, und diesen kann ich allein in IJirejt Schoofs ausschütten. Ich sehe nun gewifs voraus, dafs ich die Welt werde verlassen müssen, ohne dasjenige gefunden zu haben, was ich mein ganzes Leben hindurch so eifrig gesucht habe. Ich darf Ihnen wohl nicht erst sagen, Mylord, dafs es die Wahrheit war die ich suchte, und von deren weitern Er- forschung ich nun abstehen mufs.

Wenn ein Gott ist; woher rührt denn das Übel in der Welt '> Welches ist

AN SHAFTE^BURY. 69

das unsichtbare und unbegreifliche Band zwischen Körper und Seele? Welches sind die allgemeinen Gesetze der Körper- welt, und wie hangen sie mit den Welt- begebenheiten zusammen? Sehen Sie: so schwere und so wichtige Fragen blei- ben mir noch zurück; und ich habe kei- ne Zeit mehr, sie zu beantworten.

Verzeihen Sie, Mylord, den Klagen eines Sterbenden, der sich noch glück- lich glaubte, so lange er hoffen durfte. Ich befinde mich jetzt an der Scene mei- nes Lebens, wo ich das ganze Schauspiel desselben übersehen kann. Es hat die Entwickelung nicht gehabt, auf die ich gehofft hatte, und deren Erwartung mich unter Sorgen und Kummer zu trösten und hinzuhalten pflegte. Ich muis also urtheilen, dafs ich vielleicht meinen gan- zen Lebensplan übel angelegt habe. Ich

^o ' B A Y L E

hätte vielleicht gleich Anfangs wissen sol- len , dafs die Wahrheit eine erträum- te Göttinn ist, die von den Opfern wel- che wir ihr bringen, nichts weifs, sie nicht belohnt, nicht verdient. Dann hät- te ich mich nicht so, wie ich gethan, vor der Knechtschaft des Geistes gescheut, meine Gedanken in die Fesseln eines Glaubenssystems schmieden zu lassen; ich hätte, um die Unabhängigkeit meines Verstandes zu bewahren, die mir so kost- bar und zur Untersuchung der Wahrheit so unentbehrlich schien, nicht mein er- stes Vaterland, das Vergnügen unter mei- nen nächsten Verwandten und Freunden zu leben, nicht alle häusliche Glückselig- keit aufgeopfert, und ein mühseliges, ab- hängiges, einsames und sorgenvolles Le- ben einem bequemen, ruhigen, sorgen- losen und geselligen vorgezogen : ich wä-

AN SHAFTESBURY. 71

re in Frankreich ein Katholik, in Holland ein Prädestinatianer, und überall der Mei- nung der Mächtigen und Grofsen gewe- sen; ich hätte mich als jedermanns Freund, und jedermann sich als den meinigen er- wiesen...

Doch vielleicht ist es meine eigne Schuld, dafs ich die Gewifsheit nicht ge- funden, die mich jetzt beruhigen würde. Vielleicht hab' ich mich nicht gehörig gestellt, um das Licht zu sehen, das so viele Andre zu sehen vorgeben; vielleicht hab' ich mich selbst muthwillig verblen- det. — Muthwillig ! Ich hoffe, Mylord, dafs ich mich über meine Ehrlichkeit bei Ihnen nicht werde rechtfertigen dürfen. Sie kennen mich, und Sie haben ein Herz, das die Verlegenheiten eines Untersuchers, der keinen festen Grund findet wo er ausruhen kann, mitzufühlen weifs. Wie

y2 B A Y L E

wohl ist dem undenkenden Nachbeter, der des Glücks seiner Überzeugung un- gestört geniefst! Wie oft bin ich in der Versuchung gewesen, ihn wegen seiner Selbstzufriedenheit zu beneiden^ wenn mich ein Zweifel ergriffen hatte, der rnir spät die Ruhe der JMacht raubte, des Morgens mich frühe weckte, mich in der Einsamkeit nagte, und in der Gesellschaft mir die Miene eines Träumers oder eines Dummkopfes gab ! ^

Wenn der Zweifel eine Folge von der Art meines Studirens war, so weifs ich nicht, wie ich demselben hätte entgehen, können. Noch bis jetzt bin ich über- zeugt, dafs ein Forscher der Wahrheit alle Parteien anhören, dafs er auf kein Herkommen und Ansehen der Lehrer achten, dafs er sich in alle Gesichtspunete stellen mufs, um einen Gegenstand recht

AN SHAFTESBUPtY. 75

kennen zu lernen^ und sich einer ver- nünftigen Überzeugung zu versichern. Diese Methode kann allerdings alte Lehr- gebäude^ worin wir so bequem wohnten^ wankend machen, das Gemüth zwischen Meinungen hin und her.- werfen, und so die Gewifsheit die man gesucht hat, ent- fernen; allein welchen andern Weg soll der Forscher betreten? was soll er thun, um gewifb zu werden, als lernen und vergleichen? Ich habe gelernt und ver- glichen; ich habe mein ganzes Leben da- zu angewandt, und Sie sehen, \^ie weit ich bin. O Mylord ! versöhnen Sie mich, wenn Sie können, mit mir selber! Theilen Sie mir einen Funken von dem himmlischen Lichte Ihrer seligen Gewifs- heit mit, das ich so oft ach! vielleicht zu voreilig mit dem Namen einer ed- len Schwärmerei belegte.

/. ^. Eberhard,

^4

FÜNFTES STÜCK.

SHAFTESBURY AN BÄ.YLE.

Mein theurer Sir^

Wie gerne mögte ich Ihnen erst von Ihrem . Lager aufhelfen, und dann, wie wir ehemals pflegten _, ruhig mit Ihnen fortphilosophiren ! Doch lassen Sie uns thun was wir können, wenn wir nicht können was wir wollen. Wie? Ein Leben wie das Ihrige , zugebracht in der Untersuchung der Wahrheit ; das sollte nicht die beste Vorbereitung zu einem ruhigen Tode seyn? Was Sie Ihr ganzes Leben hindurch so edel beschäftiget hat, das sollten Sie sterbend bereuen müssen? Welches sind denn die Fragen, die Ihnen noch zurück bleiben; die Sie Sich

SHAFTESBURY AN BAYLE. 75

noch nicht haben beantworten können? Sind es Fragen, von deren Beantwortung die Einrichtung unsers Lebens abhängt? ob Gott mächtig, weise, gut sey? ob wir ewig dauren werden? ob in der Tugend das höchste Gut bestehe? Ich würde begreifen, wie Sie unruhig seyn könnten, wenn Sie mit diesen Untersuchungen noch nicht ferlij; w^ären. Aber müssen wir, um sie zu unsrer Zufriedenheit zu endigen, erst in alle Staatsgeheimnisse der göttlichen Ptegierung dringen? Mufs Gott erst alle seine Alaafsregeln durch den Ausgang gerechtfertiget haben, ehe wir glauben dürfen dals er ein gute^' Pie- gent sei? Ich meines Theils traue es so- gleich seinem Charakter zu, dafs Alles in seinem Reiche gut seyn müsse, und halte alles Böse nur für Schein, der bald ver- schwinden würde, wenn wir seinen gan-

76 SHAFTESBURY

zen Regierungsplan übersähen. Sie, mein Freund, dachten nicht weniger gut von Gott; Sie betrachteten das Böse, das Sie in der Welt wahrzunehmen glaubten, als Unkraut, welches von eineui übelgesinn- ten Feinde ausgestreuet worden, indefs Gott an der Einschränkung und Ausrot- tung desselben arbeite. Sie sehen, dafs wir Beide uns die Zwsifel, die uns in dieser wichtigen Untersuchung beunru- higten, aufgelös't haben; nur jeder auf eine andere Art: die Wahrheit, die wir zu unsrer Ftuhe bedurften, ist uns Bei- den geblieben. Wenn das aber ist, so können wir viele verwickelte Erscheinun- gen im Reiche der Natur und der Gnade unerklärt lassen; wir können die ganze Welt als den Brief eines weisen Mannes in geheimer Schrift ansehen, wozu wir den Schlüssel errathen müssen. Der Eine,

AN BAYLE. 77

indem er in dem Buche der Natur lles't und auf die Erscheinungen in unserm Sonnensysteme kommt^ nimmt die Bewe- ^ gnng der Erde^ der Andere die Bewegung der Sonne zum Schlüssel; und ein jeder meint die Schrift zur Ehre ihres Urhe- bers entziffert zu haben. Wir wissen im Allgemeinen ; wozu der Weltplan an- gelegt ist; wie aber die Ausführung dem Zwecke zustimme? das ist uns oft eiii ^Geheimnifs. Das Erste lesen wir in der Ideenwelt^ die uns näher liegt ^ weil wir sie in unserm eigenen Busen finden; das Andere in der sinnlichen Welt, wovon uns nur einzelne Anblicke der äufsersten Schale vergönnt sind. Es ist das Bestre- ben des Untersuchers, beide Fäden seiner Erkenntnifs zusammen zu biingen, und sich aus der einen Welt in die andere einen Übergang zu verschaffen. WenA

78 SHAFTESBURY

er hier Schwierigkeiten findet, die ihm unubersteiglich scheinen : wird er nicht wohl thun, wenn er sich an das hält was er als gewifs erkennt, und wegen des Übrigen sich nicht bennruhiget?

Ich weifs wohl, dal's nicht Alle die sich mit dem Philosophiren abgeben, so bescheiden denken ; dafs vielmehr sehr Viele sich's zur Schande rechnen wür- den, auch bei den schwersten Fragen ver- legen zu scheinen. Diese Art Menschen hüten sich sorgfältig, mit den Gedanken Anderer bekannt zu werden; sie müfsten denn schon zum voraus wissen, dais es die ihrigen sind. Es kommt ihnen mehr auf ihren Ruhm oder ihr zeitliches Glück, als auf das Interesse der Wahrheit selbst an; die Wissenschaft, wie die Tugend, ist ihnen, was den Kindern eine bittere Arzenei ist, von der äie nicht begreifen.

AN BAYLE. 79

wie man sie ohne die Ruilie oder ohne etwas Zucker nehmen könne. Liebt man aber die Wahrheit um ihrer selbst wil- len, so wird man Alles heizlich umar- men, was uns zu ihr zu rühren verspricht; gesetzt, dafs wir auch eine Meinung, bei der wir uns wohl befanden, auf ewig darüber einbüfsen sollten.

Lassen Sie uns indefs nicht erschrek- ken, wenn uns dies in tausend Sachen, worüber Andre entscheidend urrheilen,

uncrewifs macht; haben wir doch die o

Hauptsache, alle Wahrheit wovon die Einrichtung unsers Lebens abhängt, in Sicherheit. Nun können wir's ruhig an- sehen, wenn sich die Meinungen der Dog- matiker über Gegenstände der j\'eubegier auf tausendfältige Art durchkreuzen, es gelassen abwarten, für welche Seite der Streitenden sich der Sieg erklären wird.

öo SHAFTESBURY

und allenfalls, so wie es uns unsre Ein- sicht räth, bald zu dieser bald zu jener Partei übergehen. Ich glaube, dafs, wenn es so mit uns steht, die skeptische Laune uns gerade in die behaglichste Lage ver- setzt. Was wir durch unser ernstliches Forschen herausgebracht haben, wird zwar wenig, aber es wird das Nöthigste seyn, und wir werden es sic/ier -besitzen: in allem Übrigen werden wir auf einer brei- ten bequemen Bahn wandeln, worauf wir, so weit es nöthig ist, zur Re.chten und zur Linken ausbengen können.

Hören Sie also' auf, mein th eurer Sk, Sich über eine. Gemüthsfassung Vorwürfe zu machen, welche die einzige gute ist, worin sich der Weltweise gegen die Wahr- heit befinden kann. W^ehe ihm, wenn sein Kopf so voll Lehrsätze und Meinun- gen steckt, dafs nicht noch ein Fleckchen

für

AN BAYLE. 8i

für den Zweifel übrig gelassen ist! Oder glauben Sie, dafs der in der That und gründlich überzeugt sei, der sich vor dem geringsten Zweifel fürchtet? Die Meisten verbieten sich alles Zweifeln recht geflis- sentlich; sie besorgen zu ertrinken, wenn sie sich einmal dem Strom der Vernunft überhefsen. Lieber halten sie sich an je- den Zweig schwacher Hypothesen, ehe sie es wagen, sich durch ihre eigene Kraft über der Fluth zu erhalten. Das ist die Denkungsart des eifrigsten Rechtgläubi- gen, wie des entschlossensten Freigeistes. Beide fürchten sich, durch den gering- sten Zweifel ihr System gleichsam anzu- brechen, um nicht am Ende die Krän- kung zu haben, es gänzlich verzehrt zu sehen. Der Eine bleibt also durchgängig gläubig, der Andere durchgängig ungläu- big. — Wenn Sie das die Wahrheit Ica-

Engels Philosoph, I. ß

Sa SHAFTESBURY

ben nennen, nun so kann ich Sie nicht bedauren, dafs Sie sie nicht haben.

Aber Sie haben sie, die Wahrheit, die dem Menschen erreichbar ist. Nicht die, die bei dem Allwissenden wohnt; denn ihren Glanz könneli sterbliche Augen nicht fassen. Ihr schwacher falber Schim- mer, der aus unermefslicher Ferne unsre Tritte in den Gefilden der Nacht nur kümmerlich erleuchtet, ist Alles, was wir von ihr vertragen können ; Alles, was uns von ihr vergönnt ist. Sollen wir uns wundern; sollen wir uns betrüben, wenn bei so zweifelhaftem Lichte unser Fufs- tritt irrt, oder wir des rechten Weges nicht gewifs sind?

Die Wahrheit ist kein nahes Ziel^ das man erreichen soll, um dann ewig dabei auszuruhen. Sie ist für Menschen nichts, als vollkommnere Erkenntnils. Sobald

AN BAYLE. 83

sich das Bedürfnifs des Wissens in unsrer Seele fühlen läfst, sobald wir die Sehn- sucht in xms wahrnehmen^ von den un- zählbaren Problemen, die uns die Natur bei jedem Anblick vorlegt, das aufzulö- sen was uns am nächsten liegt; so spornt die Unruhe unsers Geistes alle Kräfte der Seele an, uns durch die Schwierigkeiten der Untersuchung durchzuarbeiten, in der Hoffnung, jenseit dieser Dunkelheiten das volle Licht und unaufhörliche R.uhe zu linden. Vergebliche Hoffnung! Neue Zweifel verwirren uns , neue Aufgaben reizen unsern immer regen Trieb nach Wissen. Und so werden wir von einem Ziele zum andern gelockt ; mit stets neuer Sehnsucht, die nie ganz betrogen und nie ganz befriediget wird, bis wir uns unver- muthet am Ende unsers Lebens, nicht aber unsrer Untersuchung, befinden. Das

84 SHAFTESBURY

ist das allgemeine Schicksal aller Wahr- heitsforscher ; und wollen Sie Sich be- klagen, th eurer Sir, dafs es auch das Ihrige ist? Wollen Sie mit dem Allerhöch- sten rechten, dafs er Ihnen einen Wahr- heitstrieb gegeben, der Sie elend mache, weil Sie ihn nicht befriedigen können? Sie werden besser von Gott denken, wenn Sie besser von Sich Selbst denken werden. Ist denn mein Freund. Bayle nicht ein edleres Wesen, als der MatrO' se, der sich durch das Weltmeer von sei- nem Schiffe mit forttragen läfst, ohne sich je beunruhigt zu haben, nach wel- chen Gesetzen es über die Fluthen hin- gleitet? wie die grqfse Weltuhr im unbe- gränzten Oceane ihm seine Stunden schlägt, und wie ein Fernrohr am Him- mel die Stral'se findet^ die sein Schiff auf den Gewässern der Erde durchlaufen

AN BAYLE. 85

soll? Sehen Sie da die Auflösung des ganzen Räthsels! Die wonnevoHe Aussicht auf Ruhe und Zufriedenheit ;, wohin uns die enthüllte Wahrheit zu führen ver- heifst^ lockt aus einer schweren Untersu- chung in die andere. Wir sehen uns endlich am Ziel unsers Lebens^ ohne vielleicht diese Ruhe gefunden zu haben; was wir aber gewifs gefunden haben, ist die Erhöhung und Veredelung unsers Wesens^ durch Erweiterung unsrer Kräfte und unsrer Erkenntnifs.

Gönnen Sie Sich diesen Trost, auf den Sie so gerechten Anspruch haben! Sie werden mit Sich Selbst ausgesöhnt seyn, sobald Sie Muth haben werden Sich nach Ihrem Werthe zu schätzen. Em- pfangen Sie noch zum Schliffs die theu- resten Versicherungen meiner gefuhlte- sten Hochachtung; und wenn es die letz-

86 SHAFTESBURY AN BAYLE.

ten seyn sollen die Sie hienieden von mir annehmen können, wenn Sie mir dies- seit des Grabes keine Zeugnisse Ihrer Freundschaft mehr geben sollen: so sey dies noch mein letzter irdischer Wunsch für Sie, dafs Sie die Ruhe schon hier ganz fmden mögen, die Sie in jenem Leben gewifs erwartet.

/. A. Eberhard,

67

SECHSTES STUCK.

TOBIAS WITT.

JTerr Tobias Witt war aus einer nur mäfsigen Stadt gebürtig, und nie weit über die nächsten Dörfer gekommen. Dennoch hatte er mehr von der Welt ge- sehen, als mancher der sein Erbtheil in Paris oder Neapel verzehrt hat. Er er- zählte gern allerhand kleine Geschicht- chen, die er sich hie und da aus eigner Erfahrung gesammelt hatte. Poetisches Verdienst hatten sie wenig, aber desto aiehr praktisches, und das Besonderste m ihnen war, dafs ihrer je zwei und zwei zusammengehörten.

Einmal lobte ihn ein junger Bekann- tei, Herr Till, seiner Klugheit wegen.

SS TOBIAS WITT.

Ei! Fmg der alte J^itt an und schmun- zelte: war' ich denn wirklich so klug?

Die ganze Welt sagts, Herr Witt. Und weil ich es auch gern würde

Je nun ! wenn Er das werden will, das ist leicht. Er mufs nur fleil'sig Acht geben, Herr Till, wie es die Narren ma- chen.

Was! wie es die Narren machen?

Ja, Herr Till ! Und mufs es denn an." ders machen, wie die.

Als zuni Exempel ?

Als zum Exempel, Herr Till: So lebte da hier in meiner Jugend ein alter Arith- metikus ; ein dürres, grämliches Männ- chen, Herr ^eit mit Namen. Der gin^ immer herum und murmelte vor siel selbst; in seinem Leben sprach er mt keinem Menschen. Und einem ii's Gesicht sehen; das -that er noch weniger:

TOBIAS WITT. S9

immer guckt' er ganz finster in sich hin- ein. — Wie meint Er nun wohl^ Herr Till, dafs die Leute den hiefsen?

\Yie? Einen tiefsinnigen Kopf.

Ja, es hat sich wohl ! Einen Narren! Hui! dacht' ich da bei mir selbst denn der .Titel stand mir nicht an wie der Herr Veit mufs man's nicht machen. Das ist nicht fein. In sich selbst hin- ein sehen: das taugt nicht; Sieh du den Leuten dreist in's Gesicht! Oder gar mit sich selbst sprechen; pfui! Sprich du lie- ber mit andern I Kun, was dunkt Ihm, Herr Till? Hatt' ich da Recht. ^ ^

Ei ja wohl! Allerdings!

Aber ich weils nicht. So ganz doch wohl nicht. Denn da lief noch ein andrer herum; das war der Tanzmeister, Herr Flink: der guckte aller Welt in's Gesicht, und plauderte mit Allem was

go TOBIAS WITT.

nur ein Ohr hatte, immer die Reihe her- um. Und den, Herr Till wie meint Er wohl , dafs die Leute den wieder hiefsen?

Einen lustigen Kopf?

Beinahe ! Sie hiefsen ihn auch einen Nai-ren. Hui, dacht' ich da wieder; das ist doch drollig! Wie mufst du's denn machen, um klug zu heifsen? Weder ganz, wie der Herr ^elt, noch ganz, wie der Herr Flink. Erst siehst du den Leu- ten hübsch dreist in's Gesicht, wie der eine, und dann siehst du hübsch bedäch- tig in dich hinein, wie der andre. Erst sprichst du laut mit den Leuten, wie der Herr Flink, und dann insgeheim mit dir selbst, wie der Herr Veit. Sieht Er, Herr Till? So hab' ich's gemacht, und das ist das ganze Geheimnifs.

Ein andermal besuchte ihn ein junger

TOBIAS WITT. 91

Kaufmann, Herr Flau, der gar sehr über sein Unglück klagte. Ei was? fing der alte JVitt an und schüttelte ihn : Er mufs das Glück nur suchen, Herr Flau; Er mufs darnach aus seyn.

Das bin ich ja lange; aber was hilfts? Immer kommt ein Streich über den andern! Künftig leg' ich die Hände lie- ber gar in den Schoofs, und bleibe z^i Hause.

Ach nicht doch ! nicht doch , Herr Flau ! Gehn mufs Er immer darnach, aber sich nur hübsch in Acht nehmen, wie Er s Gesicht trägt.

Was? Wie ich's Gesicht trage?

Ja, Herr Flau! Wie Er's Gesicht trägt. Ich will's Ihm erklären. Als da mein Nachbar zur Linken sein Haus baute ; so lag einst die ganze Strafse voll Balken und Steine und Sparren : und da kam

92

TOBIAS WITT.

unser' Bürgermeister gegangen, Herr Trick; damals noch ein blutjunger Raths' herr: der rannte, mit von sich geworfnen Armen, ins Gelag hinein, und hielt den Nacken so steif, dafs die Nase mit den Wölken so ziemlich gleich war. Pump! lag er da, brach ein Bein, und hinkt -noch heutiges Tages davon. Was will ich nun damit sagen, lieber Herr Flau?

Ei die alte Lehre! Du sollst die Nase nicht allzuhoch trägen.

Ja sieht Er? Aber auch nicht allzu- niedrig. — Denn nicht lange darnach kam noch ein andrer gegangen; das war der Stadtpoete, Herr Schall: der mufste entweder Verse oder Haussorgen im Kopfe haben; denn er schlich ganz trüb- sinnig einher, und guckte in den Erdbo- den, als ob er hineinsinken wollte. Krach! rifs ein Seil; der Balken herunter.

TOBIAS WITT. 93

und wie der Blitz vor ihm nieder. Vor Schrecken fiel der arme Teufel in Ohnmacht^ ward krank^ und mufste gan- ze Wochen lang aushalten. Merkt Er nun wohl, was ich meine, Herr Flau? Wie man's Gesicht tragen mufs?

Sie meinen, so hübsch in der Mitte. Ja freilich! dafs man weder zu keck in di^e Wolken, noch zu scheu in den Erdboden sieht. Wenn man so die Augen fein ruhig, nach oben und unten und nach beiden Seiten umheirwirft: so kommt man in der Welt schon vor- wärts, und mir dem Unglück hat's so leicht nichts zu sagen.

Noch ein andermal besuchte den Herrn Witt ein junger Anfänger, Herr Wills; der wollte zu einer kleinen Speculation Geld von ihm borgen. Viel, fing er an, wird dabei nicht herauskommen; das

94 TOBIAS WITT.

seh* ich vorher : aber es rennt mir so von selbst in die Hände. Da will ich's doch mitnehmen.

Dieser Ton stand dem Herrn Witt gar nicht an. Und wie viel, meint Er denn wohl, lieber Herr Wills, dafs Er braucht?

Ach nicht viel! Eine Kleinigkeit! Ein hundert Thälerchen etwa.

Wenn's nicht mehr ist; die will ich Ihm geben. Recht gern! Und damit Er sieht dafs ich Ihm gut bin, so will ich Ihm obendrein noch etwas anders geben, das unter Brüdern seine tausend Reichsthaler werth ist. Er kann reich damit werden.

Aber wie, lieber Herr Witt? Oben- drein! —

Es ist nichts. Es ist ein blofses Hi- störchen. — Ich hatte hier in meiner

TOBIAS WITT. 95

Jugend einen Weinhändler zum Nachbar, ein gar drolliges Männchen, Herr Grell mit Namen : der hatte sich eine einzige Redensart angewöhnt; die bracht' ihn zum Thore hinaus.

Ei, das wäre! Die hiefs?

Wenn man ihn manchmal fragte: Wie stehts, Herr Grell? Was haben Sie bei dem Handel gewonnen? Eine Kleinig- keit^ fing er an. Ein fünfzig Thälerchen etwa. Was will das machen? Oder wenn man ihn anredte: Nun, Herr Grell? Sie haben ja auch bei dem Biuikerutte verloren? Ach was? sagte er wieder. Es ist der Rede nicht werth. Eine Klei- nigkeit von ein hunderter fünfe. Er safs in schönen Umständen, der Mann; aber wie gesagt! die einzige verdammte Redensart hob ihn glatt aus dem Sattel. Er mufste zum Thore damit hinaus.

<jQ :rOBIAS WITT.

Wie viel war es doch, Herr Wills, das Er wollte?

Ich? ich bat um hundert Reichs- thaler, lieber Herr Witt.

Ja recht! Mein Gedächtnifs verläfst mich. Aber ich hatte da noch einen andern Nachbar; das war der Kornhänd- ler, Herr Tomm: der baute von einer andern Redensart das ganze grofse Haus auf, mit Hintergebäude und Waarenla- ger. Was dünkt Ihmi dazu?

Ei, ums Himmels willen! Die mögt' ich wissen, Die hiefs?

Wenn man ihn manchmal fragte: Wie steht's, Herr Tonnn? Was haben Sie bei dem Handel v^erdient? Ach viel Geld! fing er an, viel Geld! und da sah man wie ihm das Herz im Leibe lachte; ganzer hundert Reichsthaler ! Oder wenn man ihn anredte: Was ist Ihnen?

War-

I

TOBIAS WITT.

97

Warum so mürrisch, Herr Toinm? Ach! sagte er wieder: ich habe viel Geld verloren, viel Geld ! Ganzer fünfzig Reichs- thaler. Er hatte klein angefangen, der Mann; aber, wie gesagt,, das ganze grofse Haus baute er auf, mit Hintergebäude und Waarenlager. :- Nun, Herr Wills? Welche Redensart gefällt Ihm nun bes- ser ?

Ei, das versteht sich. Die letzte !

Aber so ganz war er mir doch nicht recht, der Herr Toimn. Denn er sragte auch: viel Geld! wenn er den Ar- men oder der Obrigkeit gab ; und da hätt' er nur immer sprechen mögen, wie der Herr Gre//, mein anderer Nachbar. Ich, Herr Wilh, der» ich zwischen den beiden Redensarten mitten inne wohnte; ich habe mir beide gemerkt : und da Sprech' ich nun, nach Zeit und Gelegen-

Engels Philosoph^ I. 7

98 TOBIAS WITT.

heit^ bald wie der Herr Grell, und bald wie der Herr Tonnn,

Nein, bei meiner Seele ! Ich halt's mit Herrn Tonnn. Das Haus und das Waa- renlager gefällt mir.

Er wollte also?

Vi«! Geld ! viel Geld , lieber Herr Witt! Ganzer hundert Reichsthaler!

Sieht Er, Herr Wills? Er wird schon werden. Das War ganz recht. Wenn man von einem Freunde borgt, so mufs man sprechen, wie der Herr Tormn; und wenn man einem Freunde aus der Noth hilft, so mufs man sprechen, wie der Herr Grell

99

SIEBENTES STUCK.

DIE EICHE UND DIE EICHEL*).

JN icht lange nach der Herausgabe des Buchs^ worin Herr Dute?is die sammtli- chen Entdeckungen der neuern Weltvvei- sen schon in den Alten fand, besuchte er seinen Freund, den Marchese Gemelli , auf dessen unweit Turin gelegenem Land- gute. Er traf ihn im Park, und das Ge-

•) Plato schrieb Sokratische Gfespräclie , noch bei Lebzeiten des Sokrates. »Was hat dieser jun- ge Mensch mich nicht alles plaudern lassen ! «« sagte einst Sokrates, da er eins dieser Gesprä» che lesen hörte. Wenn Hejr Dutens diesen Aufsatz sehen und das Nehuiliche sagen sollte, so mag der Verfasset es haben. Das wird jener «chwerlich zu ihm sagen: Du bist nicht Plato j denn er wiirde sich der Antwort aussetzen; Du bist nicht Sokrates.

100 DIE EICHE

sprach fiel, sogleich nach den ersten Be- willkommungen, auf das Buch des Herrn Dutens.

In der That, Herr Dutens ; ich bin mit Ihnen mehr, als mit Ihren Vorgän- gern, zufrieden. Es fehlte /ast allen, die sich an diese Untersuchung wagten, an hinlänglicher Einsicht und Unparteilich- keit. — Wer die Alten genugsam kann- te, der kannte die Neuern zu wenig; wer mit den Neuern vertraut war, der war es nicht mit den Alten. Jener wollte sich für seine gelehrten Nachtwachen durch den unmäfsigen Werth belohnen, den er den Gegenständen seines Fleifses gab; dieser wollte sich, wegen seines Mangels an Gelehrsamkeit, eben durch seine Ver- achtung der Alten, rechtfertigen. Sie wissen, wie das ist, liebster Freund. Man ergötzt sich über das was man hat, durch

UND DIE EICHEL. loi

den Werth den man ihm giebt, und trö- stet sich über das was man nicht hat, durch den eingebildeten Unwerth.

Sie glauben also, dafs ich beide Ab- wege vermieden habe? So ziemlich !

Dafs ich gleiche Unparteilichkeit ge- gen Alte und Neue bewiesen?

Gleiche wohl nicht. Aber doch mehr, als andre, Herr Dutens. Auch verei- nigten Sie mehr, als andrer, jene zwie- fache Kenntnifs, die zu so einer Verglei- chung nothwendig ist.

Sie schmeicheln mir sehr, Herr Mar- chese. Aber wenn ich Sie kenne, so ist eben Ihr Lob schon die Vorbereitung zu Ihrem Tadel. Lassen Sie weiter hören!

Etwas hätte ich in der That zu erin- nern.

I02 DIE EICHE

Das ist?

Treten Sie zu mir;, Herr Dutens ! Be- trachten Sie mir jene herrliche Eiche, die schönste und grölseste dieser Gegend. -^ Wie weit hat sie ihre Wurzeln verbrei- tet! wie tief in den Boden geschlagen! Der Orcan kann sie nicht stürzen, ohne das ganze Land umher aufzuwühlen. -^ Und weich ein Stamm ! Welche Pracht ihrer Krone! Wie herrlich sie ihre Zwei- ge umherträgt ! Wie viel Land sie be ■■ schattet! Nicht wahr? Sie sind ent- zückt über den Anblick?

Ich bin verlegen über die Antwort. Wie gehört das hieher, Herr Marchese?

Betrachten Sie mir jetzt diese Eichel ! Uniäugbar schliefst sie doch die gan- ze Anlage zu einem gleich herrlichen Bau- me in sich? enthält doch, in ihrer klei- nen unentwickelten Pflanze, alle Haupt- theile der Eiche?

1

UND DIE EICHEL. io5

Allerdings ! Aber weiter?

Ich frage Sie nun : Ist darum die Ei- ehel eins mit der Eiche? Ist dieses hin- gestreute, dem Zufall überlafsne, viel- leicht zum Vermodern bestimmte Saa- menkorn^ das dem Auge noch keinen Anblick,, dem Müden noch keinen Schat- ten, den Vögeln des Himmels noch kei- ne Freistatt giebt; ist es jenem prächti- gen, tiefgewurzelten, weit umher schat- tenden Baum, zu vergleichen, der aus der unansehnlichen Eichel hervorkeimte, und langsam, in ganzen Jahrhunderten, zu dieser Höhe, dieser Stärke und Majestät empor wuchs?

Aber wer behauptet das auch?

Sie, mein Freund! Sie!

Und wo?

Eben in dem Werke, von dem wir sprachen. Der erste Keim eines Sy-

io4 DIE EICHE

Sterns ist Ihnen gleich das System; das erste Element eines Gedankens, gleich der Gedanke. Ob ein Satz von den Alten nur gleichsam gewagt; eine Wahr- heit nur von ferne, nur aus Vermurhungs- gründen erkannt, ohne alle Bestimmun- gen hingeworfen, ohne alle Untersuchung ihrer Folgen, ihrer Verbindung mit an- dern wichtigen Wahrheiten , verlassen worden? oder ob sie von den Neuern in. ihrem Zusammenhange mit andern Wahr- heiten gedacht, in den ersten Begriffen fest gegründet, bis in alle ihre wichtigen Folgen entwickelt worden? das alles ist Ihnen eins wie das andre. Sie sehen schon immer in einem einzelnen Gedan- ken ein ganzes System, und geben dem alle Ehre, der die erste flüchtige Idee hatte.

Darf ich um Beweis dieser Behaup- tung bitten?

UND DIE EICHEL. 105

Ich habe zu wählen, Herr Dutens. Wenn das was ich Ihnen vorwerfe, ein Fehler ist, so begehen Sie ihn fast in je- dem Capitel. Doch ich will diejenige Stelle vorziehn, die mir gleich Anfangs am meisten auffiel. Sie läugnen den Neuern die Erfindung des Systems ab, das seinen Namen vom Copernicus führt; den Anfang dieses Absatzes machen Sie mit einer ernstlichen Klage über die Ei- telkeit der Neuern. Schon Pythagoras, sagen Sie, hielt die Erde für beweglich; er schrieb ihr, weit entfernt sie für den Mittelpunct der Welt zu halten, einen kreisförmigen Lauf um das Feuer (die Sonne) zu. Also, schliefsen Sie, kannte schon Pythagoras das System des Coper- nicus. So auch Ariatarch von Samos; auch Timäus vonLokris: denn beide be- haupteten, dafs die Erde beweglich sei, und ei^en kreisförmigen Lauf halte.

io6 DIE EICHE

Die Stellen sind in den Alten da, Herr Marchese,

Das sind die alle, die Sie uns anfüh- ren; — ob ich gleich in manchen etwas ganz anders sehe, als Sie. Auch hier vielleicht in der angeführten Stelle vom Pylhagoras *).

Aber was ist denn das Wesentliche im System des Copernicus ? das Erste? Doch unstreitig die Voraussetzung: dals die Sonne der Mittelpunct, und die Erde beweglich sei

Das will ich zugeben, Herr Dutens. Aber welcher Unterschied zwischen jenen hinge vvorfnen, mit Irrthümern vermisch- ten , mehr errathenen als bewiesenen Sätzen; und zwischen dem so richtig be- stimmten, so wohl in Ordnung gebrach-

*) Man sehe das itzt erschienene Werk von Hm Tiedeiuaiin : Erste Philosophen Griechenlands.

. UND DIE EICHEL. 107

ten, durch so viele zusammenstimmende Beobachtungen festgegrundeten Systeme der Neuern! Ich hoffe, Sie räumen mir diesen Unterschied ein?

Allerdings, Herr Marchese. Aber be- denken Sie auch, dafs von den Werken der Alten so vieles verloren ging? Dafs vielleicht eben in dem was verloren ging

Genug, Herr Dutens! Bis in diesen Schlupfwinkel kann ich Sie unmöglich verfolgen. •— Doch was hilft Ihnen auch, bei unserm jetzigen Streite, dieses so un- widerlegliche, obgleich 50 unvs'ahrschein- liehe, Vielleicht? Aus Quellen die nicht vorhanden sind, haben doch die Neuern nicht schöpfen können? Räumen Sie mir also immer ein, dafs jener Unterschied vollkommen so grofs ist, wie ich ihn an- gab I -:^

io8 DIE EICHE

Gut dann! Er soll es seyn^ Herr Mar- chese.

Und um mich erkenntlich zu zeigen; so sollen Sie wieder in allem Recht ha- ben, was Sie behaupten. Die Alten sollen sich selbst so verstanden haben^ wie Sie sie verstehen ; die angeführten Stellen sollen wirklich die Quellen seyn, aus welchen die Neuem schöpften ; ich frage noch immer: was folgt daraus zum Vortheil der Alten? was zum Nachtheil der Neuern? Und von dieser Seite ha- ben Sie doch wirklich die Sache genom- men.

Das thut jedermann^ Herr Marchese. Der erste Erfinder hat immer die Ehre.

Verzeihen Sie mir! Wenn das jeder- mann thut, so hat jedermann Unrecht. Und ein Philosoph sollte nie etwas aus dem Grunde thim , weil es jedermann thut.

UND DIE EICHEL. 109

Also schätzen Sie Genie nicht höher, als Fleifs?

Allerdings schätze ich's höher.

Und ist denn nicht Erfinden das Werk des Genies ? Ausbilden das Werk des Fleifs es ?

Da liegt der Fehler. Sie haben mir einen z^u engen Begriff von dem Erfinder.

Dürfte ich um den Ihrigen bitten? -^

Sie sagen so, liebster Freund: Diese Eichel schliefst die ganze Anlage der Ei- che in sich. Die Eiche ist nichts, als die Entwickelung dieser Eichel.

Nun ja! Werden Sie anders sagen?

Nein! Aber fortfahren werd'ich; Die- se Eichel ist wiederum nichts, als die Entwickelung eines frühern Urstoffs. Die Natur war nichts thätiger, da sie die Ei- chel aus ihrem Urstoffe, als da sie die Eiche aus der Eichel entwickelte : die

ILO DIE EICHE

Elemente mufsten ihre ganze Kraft zu dem letzten Endzwecke, wie zu dem er- sten, vereinigen. Luft und Erde, und Feuer und Wasser, mufsten das eine mal so wirksam seyn, wie das andere mal. Die Natur hat von der einen Wirkung so viel Ehre, als von der andern.

Aber wer nun den ersten Urstoff her- gab —

Verzeihen Sie! Das war nicht die Na- tur; das war Gott. Die Natur kann nur entwickeln, aber Gott hat geschaffen.

Und die Anwendung auf unsern Streit?

Die ist so leicht, sollt' ich meinen. Die Gegenstände der Philosophie waren von jeher vorhanden. Die Keime aller philosophischen Wahrheiten lagen in je^ der menschlichen Seele. Was der den- kende Geist von jeher gethan hat und

UND DIE EICHEL. m

thun konnte, bestand blofs in der Ent- wicklung dieser Keime, in der Aufklä- rung^ Auseinandersetzung, mannichf alti- gen Verbindung und Trennung der Ideen. Es ist eben die Kraft, die eine dunkle Idee zur ersten Klarheit, und die sie zur Deutlichkeit, zur Vollständigkeit bringt. Ich denke, das werden Sie mir einräu- men, Herr Dutens.

Eben die Kraft; allerdings! Aber ich frage noch immer; in w^elchem Fall ist mehr Anstrengung der Kraft?

Und glauben Sie denn, dafs sich diese Frage so im Allgemeinen beantworten läfst? Es kommt alles auf die Beschaf- fenheit der Idee, auf die Fassung des Geistes, auf die schon vorhergegangenen EntWickelungen anderer Ideen an , die die jetzige mehr oder weniger erleich- tern. — Die erste Idee haben, heifst oft

112 DIE EICHE

nichts ; sie schätzen^ verfolgen, ausbilden, oft alles. Sie bewundern den Shakes- pear, Herr Dutens?

Wie billig!

Aber nach Ihren Grundsätzen müfsten Sie meine Landsleute mehr, als den Ihri- gen, bewundern. Shakespear hat viele seiner vortreflichsten Stücke aus italiäni- schen Novellen geschöpft, die nichts we- niger , als vortreflich waren. Sagen Sie mir: wollten Sie wohl den gan:^en Reich- thum von Gemälden, von Charakterschil- derungen, von eignen, fruchtbaren, er- staunenswürdigen Gedanken, die er aus der Fülle seines originellen Genies hin- zuthat, wollten Sie wohl die ganze Aus- bildung, die er dem ersten unbedeuten- den Stoff gab, geringer achten, als die- sen Stoff? Den Geist, den er der todten Materie einhauchte, geringer, als die Ma- terie?

UND DIE EICHEL. 115

terie? Shakespear geringer^ als den No- vell ens ehr ei b er?

Aber ein Dichter und ein Philosoph, Herr Marchese

Mögen so verschieden seyn_, als sie wollen: in unserm Fall sind sie's nicht. Wenn bei einem Alten eine nur halbe schwebende Idee _, oft kaum kenntlich, unter der dichten Hülle einer Metapher verborgen lag; der Neuere sie auffafste, richtig bestimmte, in vollem Lichte vor- trug; wenn jener eine Wahrheit nur ganz dunkel in einem einzelnen Falle dachte, der Neuere sie von den einzelnen Fällen rein absonderte, und in voller Allgemein- heit zum Grundsatz eines Systems erhob ; wenn ein Alter eine gewagte Lehrmei- nung aus ganz falschen Gründen durch sophistische Schlulsreihen herleitete, ein Neuerer sie aus ihren wahren Erkennt-

Engels Philosoph, I. 3

ii4 DIE EICHE UND DIE EICHEL.

nifsgründen durch richtige Schlufsketten erwies: wollten Sie da so ganz ohne Be- denken dem Alten vor dem Neuern den Vorzug geben? Sollte nichts wenigstens dann und w^ann^ der Neuere ein eben so grofses f oder gröfseres Genie seyn , als jener ? Doch ich sehe , dafs ich Ihnen zur Last bin, Herr Dutens. Wir haben hier reizendere Gegenstände der Unterhaltung vor uns. Erlauben Sie mir, dafs ich Ihnen in einem oder zwei Brie- fen mittheile, was ich etwa sonst über Ihr Buch noch gedacht haben kann.

ti5

ACHTES STÜCK.

ERSTER BRIEF AN HERRN DUTENS.

JN ur noch Eine Frage, Herr Dutens, die zur Vollendung unsers neulichen Ge- sprächs gehört, und die sich blofs einem denkenden Kopfe thun läfst! Sollte es Ihnen nicht oft wiederfahren seyn, dafs Sie durch eigenes Nachsinnen auf Ideen, Grundsätze, Hypothesen, Auflösungen ge- rathen, die Sie nachher, zu Ihrem gröfs- ten Befremden, schon bei Andern gefun- den? Wenn das ist; so darf ich um desto dreister die Voraussetzung zurück- nehmen: dafs die Neuern wirklich alle angegebene Ideen aus den Alten ge- schöpft haben; und dann fällt auf ein-

n6 ERSTER BRIEF

mal der grofse Vorzug der AZten hin- weg. — Cartesius^ sagen Sie oft^ hat die und die Lehre vom Epikur entlehnt^ Locke die und die Wahrheit im Aristo- teles gefunden, Leibnitz die und die Idee aus dem Plato genommen; aber wie in aller Welt können Sie das beweisen? War' es denn nicht möglich, dafs zwei verschiedne Genies, die einerlei Seelen- kräfte auf einerlei Gegenstände anwen- den, auch einerlei Ideen daraus entwik- kelten? Oder ist es nicht in manchen Fällen ganz sichtbar, dafs jeder zu dem gemeinschaftlichen Resultat auf seinem eignen Wege gekommen ? Und hängt nicht oft der ganze Werth^ die ganze Fruchtbarkeit einer Idee, von dem einzi- gen .Umstände ab: ob sie sich an diese oder jene Gedankenreihe hängte? von diesen oder jenen Gründen das Resultat

AN HERRN DUTENS. 117

war? Freilich können Sie nun die

Alten noch immer Erfinder nennen: aber nur im vorzüglichen, nicht im ausschlie- fsenden Verstände; insoferne sie nehm- lich die ersten waren, die gewisse Ideen hatten oder vortrugen : aber das Ver- dienst dabei fällt nun weg, und wird Glück. Leibnitz, Locke, Cartesius, ste- hen nun jenen Alten nicht weiter nach, als insoferne sie später geboren wurden. Ich klagte Sie neulich an, Herr Du- tens, dafs Sie in dem ersten Keim eines Systems sogleich das System, in dem Ele- ment eines Gedankens sogleich den Ge- danken fänden. Sehen Sie jetzt, wie ich Sie rechtfertige! Herr Dutens, setze ich voraus, hatte die Werke der Neuern eher, als die der Alten, gelesen. . In je- nen hatte er alles das weiter ausgeführt, näher bestimmt, richtig bewiesen gefim-

ii8 ERSTER BRIEF

den, was in diesen nur noch roh, dun- kel und unbewiesen angegeben war. Er hatte sich durch eine vertraute Bekannt- schaft mit den Neuern gewöhnt, zu je- dem Begriff seine Bestimmung, zu jedem Satz seine Einschränkung, zu den Folgen die Grunde, und zu den Gründen die Folgen hinzuzudenken. Ihm hatte diese von Andern geschehene Entwickeiung kein eigenes Nachsinnen, nur Aufmerk- samkeit auf den Vortrag seiner Lehrer, gekostet. Er konnte sich also keiner Mühe und Schwierigkeiten dabei bewufst seyn; vielmehr war es ihm völlig habi- tuell geworden, jede verworrne Idee zur Deutlichkeit zu erheben, jede irrige zu berichtigen, von den Folgen zu den Grün- den, und von den Gründen zu den Fol- gen mit gröfster Leichtigkeit auf - und abzusteigen. So unterrichtet und so ge-

AN HERRN DUTEJNS. 119

wohnt, ging er an die Werke der Alten: und was war nun natürlicher, als dafs er gleich in ]eder dunklen Vermuthung die helle Wahrheit, in jeder einzelnen Idee die Reihe hinzugehöriger Ideen, in jeder abgerissenen Trümmer das Gebäude ei- nes Systems; kurz, dafs er in der Eichel die Eiche sah ? die er gewifs nicht er- kannt haben würde, wenn nie eine ge- wachsen wäre. ^>Wie!« rief noch neu- lich ein Freund, dem ich von den elek- trischen Versuchen Neutons sagte: ^^INeu- ton keinen Funken gesehen? Sie scher- zen. Er fährt ja so sichtbar heraus!« Ich komme wieder zu Ihrem Buche, Herr Dutens. So lange es bei der ei- gentlichen Philosophie bleibt, geht es mit Ihrer Erklärungsart noch so ziemlich von stalten; aber in Physik, Mathematik, und andern ähnlichen Wissenschaften^ haben

I20 ERSTER BRIEF

die Neuern zu viel Eignes, als dafs man so leicht mit ihnen fertig würde. Hier, hätte ich geglaubt, würden Sie den Vor- zug derselben offenherzig gestanden^ und ihrem Genie wenigstens eben so viel als dem Zuiall eingeräumt haben; aber ein- mal hatten Sie Sich bei Gelegenheit der philosophischen Materien zum Vortheil der Alten erwärmt, und so rifs Sie denn, der Enthusiasmus unvermerkt mit sich fort. Der Mensch hat in seiner Natur einen gewissen Trieb zur Vollendung, ver- möge dessen er nichts gerne halb läfst. Kommt er einmal ins Erheben oder Ver- achten, so kommt er nicht so leicht wie- der heraus. Um mich nicht in einzel- ne Capitel einzulassen; will ich Sie nur an Ihre Vorrede erinnern. :»)In der Ver- gleichung, sagen Sie, die man gemeinig- lich über die Verdienste der Alten und

AN HERRN DUTENS. 121

der Neuern anstellt/ mufs man vornehm- lich diejenigen Künste und Wissenschaf- ten, die vorzüglich eine lange Erfahrung und Ausübung erfordern^ Vi^enn sie zur Vollkommenheit gedeihen sollen, von de- nen unterscheiden, die allein von- Genie und Talenten abhängen. . . . Man mufs auch das nicht aus der Acht lassen, dafs die mehresten der so bewundernswürdi- gen und nützlichen Entdeckungen, deren sich unser Zeitalter berühmt, als z. B. I das Pulver, der Compafs, die Ferngläser, u. s. w. nicht das Werk philosophischer Genies, sondern die Wirkung des blofsen Ungefährs oder die Versuche unwissen- der Künstler gewesen sind.«

Der kurze Inhalt dieser ganzen Stelle ist der: Was von langer Erfahrung und Ausübung ab hing, das haben die Neuern immer mehr und mehr erweitert und fast

122 ERSTER BRIEF

zu dem höchsten Grade der Vollkom- menheit gebracht ; was von Genie und Talenten abhing, das haben die Alten schon alles weggenommen. Also blofs der Fleil's, blofs das Sammeln und Beob- achten, macht den Vorzug der Neuern aus? Blofs in Botanik und Anatomie und Chirurgie und andern von Ihnen ange- führten Wissenschaften die denn doch immer auch Genie erfordern sind sie weiter gekommen? Sie haben gleichsam nur unter den Augen der Alten nach Maafsgabe der Ideen, die diese alleinige Genies ihnen angegeben, jmechanisch fort- gearbeitet? Und der Fortgang, den sie in der Schiffahrt, in der Astronomie, in allen Theilen der Physik gemacht, der hinge blofs von der Erfindung des Com- passes, der Ferngläser, der Vergröfse- rüngsgläser und anderer Werkzeuge ; die-

AN HERRN DUTENS. 123

se Erfindung wieder vom Zufalle , und also am Ende Alles vom Zufalle ab? Wahr ist es^ der Zufall hat dabei sehr viel gethan, aber doch nimmermehr Al- les. Viele der wichtigsten Erfindungen, die uns grofse Aufschlüsse in der Natur gegeben, sind nichts weniger als zufällige Entdeckungen; es sind wahre, mit Ab- sicht gesuchte Erfindungen gewesen» zu denen aber freilich die Data erst mufs- ten vorhanden seyn. Und dann hat auch der Zufall zu jenen glücklichen Entdek- kungen nur denAnlafs geliefert, den erst das arbeitende Genie der Entdecker, oder derer die ihre Entdeckungen auf- fingen, zu seiner völligen zweckmäfsigen Vollkommenheit ausbildete. Eine Ausbil- dung, die nicht selten die künstlichsten Ideenverbindungen und eine sehr lange Reihe von Reflexionen erforderte.

124 ERSTER BRIEF

Sonach dächte ich immer, Herr Du- tens, dalis Sie zwar dem Zufalle liefsen was ihm gebührt, aber auch gegen die Ver- dienste der Neuern gerecht blieben. Wir haben eben sowohl unsere Genies, und haben gewifs eben so grolse Genies ge- habt, als die Alten; auch wäre es in der That sehr sonderbar, wenn es anders wäre. Warum sollte denn nur die gei- stige Natur an Kräften erschöpft seyn, da die körperliche noch immer eben so wacker und eben so voll Zeugungskraft ist, als vordem? Die Neuern haben nicht blofs Erfahrungen angestellt, sie haben auch vorlreilich darüber gedacht; sie haben nicht blofs entdeckt, sie haben auch wirklich erfunden; sie haben es in ihren Entdeckungen nicht blofs bei dem bewenden lassen was der Zufall that; sie haben diese auch mit grofsem Verstände

AN HERRN DUTENS. 125

vervollkommnet, mit grolsem Verstände die Beobachtungen verglichen, mit gro- fsem Verstände Grundsätze heraus gezo- gen, und zur Erweiterung und Bereiche- rung der Wissenschaften angewandt. Ich bin u. s. f.

120

NEUNTES STÜCK.

ZWEITER BRIEF AN HERRN DUTENS.

öie scheinen mich wegen der Erinne- rungen, die ich Ihnen entgegengesetzt, einigermafsen in Verdacht zu haben, als ob ich ein Verächter der Alten wäre. Sie thun mir Unrecht, Herr Dutens. Man darf ja denjenigen nicht gleich verachten, den man nicht ganz allein und ausschlie-» fsungs weise hochachten kann. In der That gehöre ich zu den gröfsten Vereh- rern der Alten, der ihnen nicht nur "viele der Vorzüge und Verdienste, die Sie ihnen beilegen , sondern überdas noch manche andre des Vortrages und des schriftstellerischen Charakters zugesteht.

AN HERRN DUTENS. 127

die schon allein zu ihrer eifrigsten Le- sung ermuntern raüfstenr Nur das konn- te ich nicht zugeben, dafs Sie die Genies der Alten auf eine ungerechte Art, und die zugleich den Muth des Philosophen eher niederschlagen, als zu weiterm For- sctien beseelen mufs, über alle n^uern Genies hinausheben wollten. Der Rang- streit ist, wie überall, so auch hier, ein sehr unnützer Streit; und hier noch um desto unnützer, da es in dieser Materie der Zweifel und Dunkelheiten, der Viel- leicht und der Vermuthlich so viele giebt, dafs man nie eine sichre endliche Ent- scheidung zu hoffen hat. Überdies, wenn es ungereimt wäre, das Genie nur dem einen Theile ausschliefsungsweise vor dem andern beizulegen; so würde die ganze Untersuchung zuletzt auf die Frage an- kommen: welcher von beiden Th eilen

128 ZWEITER BRIEF

mehr, weldier. weniger Gtiiiien giejzeigt? Aber wer hat' noch je einen richiigen Maafsstab für die Genies erfmiden, oder wer wird ihn erfinden?

Sie, mein Freund, vvaren bei Ihrein Kenntnissen unstreitig au einem weit wich- tigern und originalem Werke fähig» Ebteu darum verdri eist 'es mich, dafs Sie jeneil alten fast vergefsnen Rangstreit . wieder: hervorgesucht haben: Die Auffeehrift Ih- res Buchs: eine Untersuchung über den Ursprung der' Elitdeckungen der Neuern, versprach mir so viel! Ich erwartete von dem Verfasser der Monadologie ujid dem verdienstvollen Herausgeber der Leibnit^i- schen Werke nichts Geringers >ials. ^afs er den Systemen der Neuern bis zti den ersten unvollkoramnen, zerstreuteil Ideen, woraus sie geworden sindf nachspür ert^ dafs er mich voix' den vollen und tiefen

Strö-

j

AN HERRN DUTENS.

129

Strömen, die sich jetzt mit solcher Pracht in 'das -allgemeine Meer der Erkenntnifs erglefsen, bis zu den ersten nnansehnli- chen Quellen hinaufbegleiten, und mir während seines Ganges zeigen würde, wie sie durch allmähliche Aufnahme einzelner Zuflüsse bis zu ihrer jetzigen Fülle und Herrlichkeit angewachsen. Kurz, ich er- wartete ein Werk, worin nicht sowohl die Philosophen, als die Ideen der Philo*- sophen verglichen, und das allmähliche- Wachsthum der menschlichen Erkennt- nifs, w^enn auch nur zum Theil, wenn auch nur in einigen Puncten, entwickelt würde. Und in der That, liebstei* Freund, hätten Sie die Schwierigkeiten, die sich freilich bei so einem Werke finden, nur mit einigem Glück überwunden; hätten Sie die Ausführung nur einjgermafsen zu den philosophischen Absichten hingelenkt,

r.ngels Philosopli, T. q

150 ZWEITER BRIEJP

um derentwillen so ein Werk eigentlich gewünscht wird: was für Dank würden Sie Sich nicht bei der gelehrten Welt er- worben, und was für Erbauung bjei dem Gelehrten sowohl als dem Denker gestif- tet haben!

Lassen Sie mich hier einen der Ge- sichtspuncte angeben , aus welchem ich so eine Geschichte geschrieben wünsch- te. — Wir sind unläugbar seit den Zei- ten der Griechen und Römer weiter ge- kommen: nicht blofs in solchen Wissen- schaften > die sich unmittelbar auf Erfah- rung und Beobachtung gründen, oder wo erst ein glückliches Ungefähr neue Werk- zeuge der Erfindung hergeben mufs; son- dern auch in den höhern metaphysischen Wissenschaften, auch in den abstractern Speculationen über Gott und Welt und Natur der Seele u. s. f. Wir finden über-

AN HERRN DUTENS. 131

all mehr Licht _, mehr Ordnung, mehr Wahrheit und Evidenz in den neuern, als in den altern Zeiten. Aber eben so unläugbar ist's, dafs wir in andern wich- tigen Stücken der Erkenntiüfs, trotz den fortgesetzten unablässigen Bemühungen der gröfsten Köpfe, noch immer eben so unwissend sind, wie die Alten. Wenn wir ja weiter gekommen ; so ist es nur darin, dafs wir unser Unvermögen zu wissen besser einsehen: denn auch dieses heifst weiter kommen. Wir haben auf dem Felde der Wissenschaften einige nie- drige Hügel, auch einige ansehnlichere Höhen gewonnen, von denen herab wir das alte Gebiet erweitert und reizende Aussichten in neue Gegenden erhalten; aber die wichtigsten Höhen, von denen die weitesten Aussichten 2u hoffen waren^ und hinter denen es eine unermefsiiche

IS2

ZWEITER BRIEF

Beute von Erkenntnifs geben mui's : diese haben wir noch immer , eben wie die Alten, unerstiegen gelassen. Der ganze Unterschied zwischen uns und ihnen mögte der seyn : Die Alten suchten zu dem unersteiglichen Gipfel nur auf eini- gen Wegen zu gelangen; der Versuch war umsonst: aber immer blieb noch die Hoffnung, dais ein kühnes Genie von ir- gend einer andern £eite glücklicher seyn wurde. Wir hingegen haben, in der Fol- ge der Zeit, nicht nur die alten Wege von neuem betreten, und jede Ausbeu- gung, jede Krümmung versucht, wo der gerade Pfad zu steil war; wir sind auch den ganzen Fufs der Höhe, so weit er sich umgehen liefs, wirklich umgangen, haben von jeder Seite den Versuch er- neuert, und haben ihn von jeder vergeb- lieh efunden. Wir haben also vor den

AN HERRN DUTENS. 155

Alten den Vortheil^ oder sollten ihn we- nigstens haben : dafs wir alle Absichten auf diese fruchtlosen Unternehmungen aufgegeben, und nun unsre sämmtlichen Kräfte dran setzen, um in den vor uns liegenden ebenern Gegenden, wo die Schwierigkeiten für .menschliche Kraft überwindlich sind, immer mehr und mehr wüstes Land zu gewinnen ujid ur- bar zu machen.

Dieses, was ich hier nur im Allgemei- nen angab, durch die einzelnen Materien durchzuführen, nicht blofs in leeren Ti- raden über das Unvermögen des mensch- lichen Geistes zu declamiren, sondern die wohlgefafsten Schwierigkeiten in den ein- zelnen Fragen zu vergleichen, um die allgemeinern herauszuziehen ; die so ge- fundenen unauflöslichen Probleme unsrer Erkenntnils in deutli(ihen S.irzen anziige-

134 ZWEITER BRIEF

ben, damit der Philosoph jede einzelne Materie auf sie zurückführen, und wie weit er sich einlassen dürfe, vorhersehen könne: das, liebster Freund, wäre eine der wichtigen, wahrhaftig philosophischen Absichten , die der pragmatische Ge- schieh tschreiber der Philosophie vor Au- gen haben müfste, und die seinem Wer- ke einen unsterblichen Werth geben wür- den. Wenn die philosophische Geschich- te, ihrem gröfsten Theil nach, eine Ge- schichte der Verirrungen unsers Geistes und seiner verschwendeten Kräfte ist: zu welchem Endzwecke sollte) sie dann eher hingerichtet werden, als dafs wir künftig vor gleichen Verirrungen oder vor glei- cher Verschwendung unsrer Kräfte be- wahrt würden ? In der That wird noch immer so viel Vergebliches unter uns geschrieben : Akademieen werfen Fra-

AN HERRN DUTENS. 155

gen auf^ und philosophische Köpfe stren« gen ihren Scharfsinn an, sie zu beant- worten; Fragen, worin sich der wesent- liche Punct sogleich als unerklärlich zei- gen würde, weim man sie auf eins von jenen Problemen zurückbrächte.

Aber könnten Sie sagen gehört nicht vielleicht diese ganze Idee in die Zahl jener süfsen Träume, die so leicht erdacht und so schwer realisirt sind? Ich fürchte das nicht, liebster Freund. Denn, wie Sie wissen, so ist in manchen schätz- baren Werken schon vieles geschrieben worden, woraus sich die Möglichkeit ei- nes solchen Werkes begreifen läfst. Wä- re dies nicht, so würde ich die ganze Idee, ai.ch gegen Sie, unterdrückt haben; denn ich hasse von ganzem Herzen die schwindelnden Planmacher, die immer so stolze und so unmöglich auszuführende

136 AN HERRN DUTENS.

Entwürfe mit einer Miene hinwerfen^ als ob es nur auf ihren Willen ankäme, sie auszuführen. Leider ist die Miene an diesen Herren das Beste, wo nicht gar Alles, Sollte es vom Reden zur That kommen ; so mögten sie oft gegen die getadelten und gehohnneckten Autoren, denen sie von der Höhe ihrer Ideale her- ab so verächtliche Blicke geben, nicht viel besser, als Marsyas gegen den Apoll, bestehen.

Ich bin u. s. w.

15'

^' ' ZEHNTES STÜCK.

ijfBER EMILIA GALOTTI.

ERSTER BRIEF.

Oie haben Recht, liebster Freund: wenn auch Einilia Qalotti alle die Fehler hätte, die verschiedne Kunstrichter darin haben finden wollen ; so würde man sie doch alle über den einzigen Marinelli vergessen. So sehr ich auch die Charak- tere des Odoardo und der Orsinay we- nigstens von gewissen Seiten und in ge- wissen Situationen, bewundre; so bewun- dre ich doch noch mehr den in allen seinen kleinsten Theilen so wahren, so ausgeführten, von Anfang bis zu Ende so wohl erhaltnen Charakter des Marinelli, Von der moralischen Seite betrachtet,

138 ÜBER

sei er so schwarz als er wolle ; ich bin der erste, ihn zu verwünschen: aber von der poetischen, ist er einer der schön- sten und ausgeführtesten, die nur je auf der Bühne erschienen sind.

Gleich zu Anfange erscheint Marinel- li als der gewandte und verschlagene Höf- ling, als der niederträchtige und durch lange Übung im Laster ausgelernte Ver- führer, der er das ganze Stück, hindurch bleiben wird. Das Empressement, wo- mit er zum Dienst eilt; die leichte Art, womit er dem Fürsten Schmeicheleien sagt; die Geschwindigkeit, womit er sich nach jedem Winde dreht, und Alles wird was sein Vortheil in jeder Situation aus ihm haben will; der leichtsinnige, hämi- sche, persiffürende Witz, womit er über Appiajii und Orsiiia herfährt; die Vor- urtheile von Geburt, von Ehrenstelle]\.

EMILIA GALOTTI. 139

von ersten Häusern ; die vollkommne Einsicht, die er sich in den Charakter des Fürsten erworben, und vennöge de- ren er so vortreflich weifs, wie weit er jedesmal gehen oder nicht gehen darf, wie er ihn zu dem Puncte wo er ihn haben will, hinbringen, oder wenn er ihm abspringt, ihn wieder zurückholen soll ; die meisterhaften Wendungen, wo- mit er dem Härtesten was er zuweilen sagen zu müssen glaubt, das Allzuauffal- lende zu benehmen, und indem er es wieder gut macht, es zu seinem gröfsten Vortheil zu nutzen weifs ; die allertiefste Vei'stellungskunst, womit er sich aus den schlimmsten Händeln herauszureden und seiae wahren Absichten gegen jedermann zu verhüllen weifs ; die unbegreifliche Kälte und Gleichmüthigkeit, die ihm im- mer völlige Besonnenheit läfst , neue

i4o ÜBER

Hiilfsquellen zn erofnen und neue Räder in die Maschine einzusetzen^ wenn es mit den alten nicht mehr fort will; das krie- chende Wesen, womit er wahre Grob- heiten vom Prinzen hinnimmt, und ohne böse zu werden, sich Thor und Narr

schelten läfst Doch wie kann ich

alle die einzelnen Zuge herzählen, die so wohl zusammen geordnet, so fein in ein- ander verflöfst, ein so lebendiges und vollendetes Ganze geben, dafs ich nie müde werde, es zu betrachten und zu bewundern? Wenn ja der eine oder der andre dieser Züge in einzelnen Stellen weniger getroffen scheint ( welches doch vielleicht nur im fünften Act der Fall ist, wo Marinelli dem Prinzen eine für ihn nicht schickliche Rolle aufträgt), so liegt die Schuld wohl uns^reitig an dem we- niger richtigen Charakter des Prinzen,

EMILIA GALOTTI. 141

der, wie Sie Selbst schon bemerkt ha- ben, auch auf den Charakter des Mari- nelli ein falsches Licht wirft. , Aber, sagen Sie am Ende Ihres Brie- fes^ ist nicht Marinelli vielleicht ein zu schwarzer, zu rucjhloser Charakter? Bricht nicht seine nichtswürdige Denkungsart in allzuimgeheure , allzuschändliche Hand- lungen aus? Sollte es je in der Natur ei- nen Marinelli gegeben haben?

Herr Lesshig hat selbst so viel Wah- res und Gutes gegen die grundlose Bos- heit geschrieben, dafs es sonderbar wäre, wenn er sich diesen Fehler in seinen eig- nen Werken zu Schulden kommen liefse. Aber Marinelli, deucht mir, hat zu seinen Bosheiten Gründe, die nach seinem Cha- rakter, seinen Umstünden, seinen \^orur- theilen, entscheidend genug sind :"' nur das könnte etwa beleidigen, dafs er diese

i4a ÜBER

Bosheiten mit so grofser Kälte und Ruh* ausführt ; allein auch davon zeigt sich der hinlängliche Grund in seiner langen Gewohnheit des Lasters. Er hat es dar- in zu einer Art mechanischer Fertigkeit gebracht; sein Bubenstück geht ihm, wie einem geübten Künstler sein Werk von Händen, ohne dafs er oft selbst mehr weifs, was und wie er es macht.

Die ehrloseste seiner Unthaten ist oh- ne Zweifel der Meuchelmord des Appia- ni. Aber schwerlich würde er so* weit gegangen seyn , wenn ihn nicht seine äufserste Feigheit, seine Furcht vor einem imverm eidlichen Zweikampf, gleichsam dazu gezwungen hätte ; wenigstens hat Herr Lessing diecäen Umstand mit grofser Kunst im Dunkeln gelassen. Nächst die- sem Morde, erscheint er am häfsJichsten, als ich will es mit dem Worte der

EMILIA GALOTTI. 145

Cl.Tudia sagen als der Kuppler des Prinzen. Und zwar als ein so nieder- trächtiger Kuppler^ dem der Schändlich- ste Lug imd Trug^ dem das äufserste Verderben einer achtungswurdigen Fami- lie nichts ist, wenn er nur dem Prinzen zu seinem Zwecke verhelfen kann. Die- se Nichtswürdigkeit zu erklären, mufs man sich in die ganze Situation eines Mannes , wie Marinelli , hineindenken- Lieblinge seiner Art verüben solche Schandthaten, weil es die einzigen Mit- tel zur Befriedigung ihrer eignen heifse- sten Begierden sind; weil sie durch an- ders nichts zu dem zu gelangen wissen, was für sie die höchste, ja die einzige Seligkeit des Lebens ist. Denken Sie Sich diese Unglücklichen mit ihren jäm- merlichen kleinen Vorurtheilen, die sie 7um Theil schon durch die ersten Ein-

i44 ÜBER

drücke ihrer Kindheit erhalten; mit ih^ ren so eingeschränkten, aber eben des^ wegen nur fester gegründeten Begriffen von Hofleben, von Gnade, von der Per- son des Prinzen, von Piang, von Einfiufs, von Reich thum , von Ehrentiteln, von Ordensbändern, von Schlüsseln. Der ge- wöhnliche Gesellschafter des ^Prinzen zu seyn, unangemeldet zu ihm hineintreten zu dürfen, mit ihm zu fahren, bei der Cour des gnädigsten Lächelns gewürdigt zu werden, wohl gar in einem Winkel mit ihm zu flüstern, seine eigne Anti- chambre zu halten^ Aufwartungen von den Vornehmsten zu bekommen : das sind für sie die höchsten Seligkeiten des Lebens, ohne die sie ihr Dasein hassen würden, und auch Ursache hätten es zu hassen. Denn was können doch diese Armseligen, deren ganze Kenntnifs sich

auf

EMILIA GALOTTI. «45

auf Etikette und Ränke eins ehr änlct; was können sie doch mit ihrem Leben noch anfangen^ wenn für sie keine Coui-^ kei- ne Tafel ^ keine Galla mehr ist ? Was bleibt ihnen übrige als sich vor Langer- weile den Tod zu wünschen und zu sterben? Dazu kommt noch die unend- liche Verachtung,, die sie dann um desto empfindlicher treffen mufs^ je mehr sie sich in ihrem blühenden Glücksstande Feinde und Neider zugezogen haben. Mit welcher Begierde müssen sie also jenes Glück nicht suchen > und wenn sie es einmal erlangt^ mit welcher Inbrunst es festhalten!.

Ihre ganze Wohlfahrt hängt an der Gnade des Prinzen; und diese zu erwer- ben^ was giebt es für Mittel? Verdienste um den Stadt; oder Verdienste um sei^e Pez-jo/z. Zu jenen^ die noch üb er-

Engels Philosoph^ L Iq

i\6 ÜBER

dles^ wenri der Prinz ein Wollüstling oder ein Mufsiggänger ist_, am wenigsten geschätzt und belohnt werden^ haben sie die Fähigkeiten; die Kenntnisse nicht ^ die haben nur die würdigern Männer, die CarniÜo Rota; also bleibt ihnen nichts übrig; als sich um die Person des Prinzen verdient zu machen. Und wie das? Indem sie siclf aus dem Charakter des Prinzen ihr höchstes Studium ma- chen, alle seine kleinsten Keigungen, Schwächen, Eigensinnigkeiten ausforschen, sich in allem darnach bequemen, ihnen alle Mittel ziu* Befriedigung ihrer Begier- den herbeischaffen, ihnen darin zuvor- kommen. Das führt sie dann oft zu Nie- derträchtigkeiten, die ihnen anfangs, eh* sie noch in die Gewohnheit kommen, sehr unangenehm seyn können: aber was in aller Welt sollen sie machen ? Der

EMILIA GALOTTL 147

nichtswürdigen Seelen giebt es überall^ und nirgend mehr als in der Gegend der Höfe: was also sie nicht thäten, würde ein Anderer thun; dieser Andere würde sie wegdrängen ^ würde an ihre Stelle treten; wüxde sie um alle Wonne des Hofes^ um aUe Seligkeiten des Lebens bringen. Von diesem kleinen Anfan- ge geht dann die Bosheit schrittweise weiter. Dem alten ausgelernten Höfling genügt es nun nicht mehr^ den Neigun- gen seines Prinzen vxvc riachzugehn ; er sucht auch ausdrücklich sie zu erwecken: er giebt sich die äufserste Mühe^ beson- ders wenn der Prinz noch jung ist^ sei- nen Charakter zu verderben^ seilte Be- gierden zu reizen^ seine Lüste anzufa- chen, damit er ihm zu ihrer Befriedigung nothwendig werde. Zu dem allen gesellt sich daxm noch die Cabale, der- Neid;

i48 ÜBER

die Lust an der Intrigue^ das Vergnügen, die Kräfte seines Oeistes an der Ausfüh- rung niifslicber Projecte zu üben.

So ^ liebster Freund.^ erkläre ich mir den niederträchtigen Charakter d.es Ma- rinelji und aller ihm ähnlichen Günsthn- ge. Ich weifs nicht^ wie Sie oder an- dere denken; aber ich meines Orts bin einem Dichter für einen wohlgezeichne- ten bösen Charakter eben so $ehr und oft mehr^ als für den bestgezeichneten guten verbunden. Gemeiniglich lerne ich daraus mehr in Absicht der Kenntnifs des Menschen^ mehr m Absicht der Klugheit des Lebens, mehr in Absicht der drama- tischen Kunst. Auch haben dergleichen Schiiderungen unmoralischer Charaktere auf den Zuschauer eine sehr moralische _Wirkung. Der Dichter, dei' das Laster in seiner natürlichen Häfslichkeit darstellt^

EMILIA GALOTTI. 149

bessert oft mehr als ein andrer _, der nur immer rühren, immer zärtliche Thränen hervorlocken, immer dmxh Aufstellung sanfter, unschuldiger, grofsmüthiger Ge- mälde für die Tugend einnehmen Avill. Es ist wahr, man darf die Tugend nur kennen, um sie zu lieben; aber um sie recht feurig zu lieben, mufs man noch mehr, mufs man auch noch das Laster kennen.

Ich hatte anfangs die Idee, eine klei- ne Geschichte von dem Leben des Ma- rinclli zu entwerfen, und Sie von der Wahrheit dieses Charakters eben dadurch zu überführen, dafs ich Ihnen die Art seiner Bildung zeigte. Nachher ward ich irme, dafs eine solche Ai'beit für meine Kräfte vielleicht zu schwer und gewifs für meine Zeit zu weitläuftig w\äre. Aber warum nehmen doch unsre Romandich-

i5o ÜBER EMILU GALOTTI.

ter die Ideen zu ihren Werken nicht dann und wann von der Bühne ^ und su- chen vortrefiiche Charaktere, die der dramatische Dichter nur in einzelnen Si- tuationen bearbeiten konnte, weiter zu entwickehi und bis zu ihrer ersten Ent- stehung zu verfolgen? Durch nichts könn- ten sie mehr Kenntnifs der Welt und des Mensclien zeigen ; durch nichts mehr unterrichten und bessern, als durch Wer- ke dieser Art, die das in Absicht ganzer Charaktere thäten, was Shakespears beste Schauspiele in Absicht einzelner Leiden- schaften thim : dafs sie ihnen nehmlich von ihrer ersten Anlage bis zu ihrer letz- ten völligen Ausbildung schrittweise nach- gingen. -^

i5i

EILFTES STÜCK.

ZWEITER BRIEF.

XTLUch Über den Charakter des jf4ppiajii bin ich im Ganzen mit Iluien einig ; er enthält etwas aulTallcnd Sonderbares. Der Mann hat alle mögliche Ursachen zum Vei'gnügen ; er hat die liebenswür- digste und geliebteste Braut; tritt in Ver- bindung mit der achtungswerthesten Fa- milie; wird der Sohn eines Vaters, der seine ganze Bewunderung, seine zärtlich- ste Ehrerbietung hat : und bei alle dem ist er nicht nm' ernst, er ist tiefsinnig, mürrisch. Wenn die Ursache davon nicht in einem natürlichen Hange zur Melan- cholie oder in einem Fehler des Charak-

i53 ÜBER

ters liegt und das scheint hier nach allen Umständen der Fall nicht zu seyn: so mufs sie nothwendig in seiner jetzi- gen besondern Verfassung liegen ; aber was wir da sehen, ist eine wirkliche Klei- nigkeit. Es kann ihm ärgerlich seyn^, dafs er bei dem Prinzen noch vorfahren und ihm seine Vermählung kundmachen soll; aber unmöglich kann so ein einziger klei- ner Umstand ihn so völlig aus seiner Fassung heben. Der wahre Hauptgrund ' seines Verdrusses liegt also in jenen ge- heimnifsvollen Ahmuigeii, deren er ge- gen Emilie und ihre Mutter erwähnt; aber blofs erwähnt ;, ohne auch nur die mindeste Veranlassung dazu zu zeigen.

Ich will nicht läugnen,, dafs derglei- chen Ahnungen wirklich in der Natur sind ; sie mögen _, wie der Verfasser der \ Träume eines Geistersehers will;, aus ei-

EMILIA GALOTTI. 155

nem geheimen Commercinm der Seelen entstellen : so viel aber weifs icli^ dafs icli auf der Bühne noch immer lieber Träume ;, als Ahnungen haben mögte'. Jene sind gewöhnlicher^ und werden im Schlafe^ wo die Seele vor den Eincb^ük- ken der Wirklichkeit völlig verschlossen ist_, durch eine freie umherschwärmende Phantasie erzeugt; sie erlangen oft den äufsersten Grad der Lebhaftigkeit^ imd setzen dann das Blut in eine Wallung, die Nerven in eine Erschütterung, die oft lange nach dem Erwachen noch fort- dauren und Bänglichkeit luid Schwer- muth hervorbringen. Diese hingegen wenn ich sie auch nicht völlig von der Bühne wegwünschte, so mögte ich sie doch niemals imter solchen Umständen und mit so au (seror deutlichen Wirkun- gen, wie hier. Alle Gründe znm Ver-

154 ÜBER

c^ nugen sind hier so grofs^ so mannich- altig, so in die Augen leuchtend ; der einzige klar erkannte Grimd zum Verdnis- se ist so nichtig, so unbedeutend, dafs er das Züngelchen in der Wage kaum um eine Linie verrücken sollte; und was hält denn nun jenen Gründen das Gleich- gewicht ? was giebt der Wage an der entgegengesetzten Seite den Ausschlag? was reifst sie so ganz auf den Boden herunter? Eine Ahnung, wovon nie- mand, Appiani selbst nicht, weifs wo sie herkommt ; ein gewisses unnennbares Et- was, das sich vielleicht eben defs wegen nicht nennen lafst, weil es ein blofses Nichts ist.

Wie aber der Dichter auf diesen Zug im Charakter gerathen sei? Ob er durch dieses Mittel blolis. den Eindruck schwä- chen wollen, den der nachj^erige Tod

EMILIA GxVLOTTI. 155

des Appiani macht, damit er uns nicht zu sehr ivider den Endzweck des Stücks interessire? oder ob er den Charakter des Grafen^ den er so wenig Ptanm zu entwickeln hatte, durch diesen frappan- ten Zug nui' mehr herausheben wollen? oder ob er vielleicht diesen Zusatz nö- thig fand, -um zu einem gewissen Ziele, zu dem er nothwendig hin mufste, desto leichter und kiarzer hinzukommen: dar- über mögte sich ohne seine eigne Erldä- riuig schwerlich entscheiden lassen. Ich, liebster Freund, vermuthe das Letz- tere, und ich will Ihnen hier die Gründe dieser Yermuthung vorlegen, damit Sie urtheilen können. Ist meine Hypothese falsch ; nun so kann doch auch die Aus- führung falscher Hj^DOthesen noch immer Tiel Wahres imd Lehrreiches enthalten. Das Ziel wo der Dichter zunächst

156 ÜBER

hin müfste^ war der Tod des Appiani. Wäre der Graf beim Leben geblieben, so sieht man nicht ab_, wie das Stuck so bald hätte ausspielen können. Aber wenn nun Marinelli diesen Tod gleich anfangs und ohne allen weitern Bewegungsgrund bey dem Angelo ausgemacht hätte ; so wäre der ohnedies schon so schwarze Günstling vollends zum Ungeheuer ge- worden^ und der allzugrofse Abscheu hät- te uns unser' ganzes Vergnügen an dem Charakter verderbt. So aber hat Mari- nelli anfangs noch keinen vollständigen Plan: er will nur für's erste die Vermäh- lung hindern und die Braut haben ; dafs er nachher dem Angelo einknupft^ den Grafen nicht blofs zu verwunden, son- dern niederzuschiefsen: davon liegt der wahre Grimd in seiner Furcht vor dem Zweikampfe. Wie sollte nun aber der.

EMILIA GALOTTI. 157

Dichter zu diesem Zweikampfe hin? Bei- de mufsten sich schon grofse Beleidigun- gen sagen;, eh' es bis zur Ausfarderung kam; es niufste geschimpft werden^ und Appiani schimpft denn auch wirklich. Nehmen Sie jetzt diesen Appiani in einer völlig heitern Gemüthsfassung an ; über- legen Sie dabei den ganzen Charakter des Marinelli : und dann sagen Sie mir, wi-e der Dichter dieses Ziel, ohne einen unnatürlichen Sprimg zu thun, so leicht hätte erreichen sollen?

Ich will mich über diese Schwierig- keit etwas näher erklären. MarinelK ist ein Hofmann, und ist, wie alle Bösewich- ter seiner Art, feigherzig. Als jener, sagt er schwerlich Grobheiten, auch nicht ge- gen Personen die er auf's tödtlichste hafst ; er hat bei seinen Hofsitten auch Hofton: Honig auf der Zunge, bei der

158 ÜB E R

bittersten Galle im Herzen. Wenn ein feinerer Weltmann, und besonders so ein abgescliliffner, versteckter, geschmeidiger Höfling, wie Marinelli, der sich so ganz in seiner Gewalt hat, beleidigt ; so ist es weniger dmxh das was er sagt, als durch die Ai^t, wie er es sagt; so ist es meh- rentheils nur von ferne, nm- mit einer heimlichen Wendung, mit einem bedeu-» tenden Tone, mit einem flüchtigen Ach- selzucken, mit einem spitzfindigen Lä- cheln, mit einem höhnischen vor sich Nie- dersehön, mit einem vornehmen Wieder- aufblicken. Vollkommen so erscheint auch hier Marinelli, der überhaupt vor- trefiich geschildert ist : anfangs nichts als Höflichkeiten, als Freundschaftsversiche- rujigen, und auch da wo er das Härtest© sagt, das ihm Appiani so hoch anrechnet^ noch immer Mäfsigung ' und Zuruckhal-

EMILIA GALOTTI.

159

tung! Ja^ es scheint^ dafs er nach seiner Hofart und bei seiner Feigheit auch die« sen Ausfall nicht einmal würde gewagt^ aiich diesen Ton der Spötterei sich nicht würde erlaubt haben ^ wenn ihm nicht Appiani schon so lange Dinge gesagt hät- te, die ein Mann von weniger Verstel- lungskunst und reizbarerer Galle nimmer- mehr hätte anhören können. Wirklich ist Appiani gleich anfangs beleidigend; er sagt ihm alles was er denkt^ so rund ins Gesicht; und doch isi. er auch Welt- mann; obgleich von der rechtschaffnem^ edelgesinntem Art. Und y\^ie in aller Welt kommt denn dieser feine und ge- sittete Mann zu so einer Begegnung? Empfände er das ganze Glück seiner Si- tuation ; verlöre sich sein wollüstiger Blick in den reizenden Aussichten, die vor ihm liegen: so würde bei dieser gu-

i6o ÜBER

teiii Laune das Gespräch nach aller Wahr- scheiiJichkeit anders fallen.

Der Graf, werden Sie mir vielleicht einwenden^ kennt den Marinelli und ver- achtet ihn. Gut ! das kann ein Mann^ wie Appiani , nicht anders. Aber die Verachtung hat ja so manche Miene, so manchen Ton; warum mufs sie sich eben so bitter äufsern? Maringlli^ werden Sie fortfahren, steht dem Grafen entge- gen; blofs um dieses Günstlings willen^ hat der Graf nicht aufkommen können. Aber bedenken Sie auch, dafs gerade Ap- piani der Mann ist, dem an diesem eit- len Glücke wenig gelegen scheint? dem es vielmehr lieb seyn kann, daran ver- hindert zu seyn? der ein für allemal den seligen Entschlufs gefalist hat, in seinen väterlichen Thälern sich selbst zu leb§n? Sehr leicht muCs iHm alsQ Appia^i.jdiese

i Be-

EMILIA GALOTTI. i6i

Beleidigimg, die für ihn eigentlich keine istf verzeihen können ; der Hafs fällt weg, lind es bleibt also nichts als Verachtung übrig. Nun sieht man freilich den Manu nicht gerne kommen, den man verach* tet; Appiani kann verdrüfslich seyn, von angenehmem Unterhaltungen dadmxh ab- gerufen zu werden : aber dieser* kleine flüchtige Verdrufs, sollte der Einflufs ge- nug haben, ihn so auf einmal und so ganz aus seiner Lage herauszusetzen? So- nach bliebe Appiani in seiner völligen Heiterkeit : und wie würde er da den Marinelli empfangen ? welchen Ton ge- gen ihn annehmen? Keinen vertraulichen, aber auch keinen auffahrenden ; keinen verbindlichen, abef auch keinen bittern; keinen scherzhaften, aber auch keinen mürrischen. Er würde den verächtlichen Menschen^ wenn er sich zu nahe an ihn

Engels Philosoph, I. H

i6a ÜBER

machte^ mit einem sanften Drucke in der gehörigen Entfernung halten , nicht auf eine so rauhe gewaltsame Weise von sich stofsen ; er würde ^ wenn er in ihm nicht den Kammerherrn schonte^ wenig- stens den Abgeordneten des Prinzen scho- nen _, gegen den er doch immer Ach- tung und Mäfsigimg zeigt. Finge dann Marinelli aus muthwilligem Kitzel, oder aus Verdrufs über seine fehlgeschlagenen. Entwürfe an, über des Grafen Verbin- dung zu spötteln ; was meinen Sie wohl, dafs bei dem entzückten Liebhaber, bei dem ruhigen gesetzten Manne , dieser Spott eines Menschen, den er so herz- lich verachtet, über den er sich so weit hinausfühlt, für Wirkung thun könnte? Sollt' er ihn aufbringen? in Harnisch ja- gen? zu Anzüglichkeiten, zu Schimpfre* den reizen? Nein, liebster Freimd: dann

EMILIA GALOTTI. 163

sollte der Graf Emilia Galotti nicht ha- ben, nicht der Sohn eines Mannes wie Odoardo werden. Wen er nicht werth hält, dafs er mit ihm scherze, den soll er nach weniger werth halten, dafs er sich mit ihm schimpfe. Lächeln müfste «r über die armseligen Vorurtheile die- ses engen Kopfes und noch engern Her- zens, ihm einen der mitleidigen Blicke geben, womit der edle Mann auf ein In- sect wie Marinelli herabblickt , dessen Gift er nicht fürchtet, imd an dem er nichts als seine verächtliche Kleinheit ge- wahr wird ; ihn noch einmal mit einer kategorischen Antwort abfertigen und ihn laufen lassen. So, denke ich, wür- de das Gespräch in so einer Situation und zwischen solchen Charakteren aus- fallen müssen, wenn nicht irgend ein an- drer Umstand hinzukäme.

i64 ÜBER

Aber wie gar anders^ wenn nun die- ser hinzukömmt ! Nehmen Sie den Ap- plani gleich zu Anfange so an^, wie ihn der Dichter vorstellt: mürrisch _, tiefsin- nig, ärgerlich; so wird nun die ganze Scene nicht nur richtig imd wahr _, sie wird auch eine der Meisterscenen in der Emilie. Denn nun ist Appiani geneigt, nicht sowohl die verächtliche als die has- senswürdige Seite des Marinelli zu sehen; nun wird er nicht blofs in seinem Ver- gnügen, er wird in etwas weit anderm unterbrochen, das die Seele weit mehr interessirt, worauf sie ihren Blick weit starrer hinheftet, in seinen trüben schwer- müthigen Reverieen; nun ist er vorberei- tet, alles hoch aufzunehmen, sich bei dem ersten besten Anlasse zu erbittern; sedner Würde uneingedenk sich mit ei- nem Menschen zu zanken, den er ledig-

EMILIA GALOTTL 165

lieh verachten sollte^ sich den überlästi- gen Besuch auf jede Art^ höflich oder unliöflicH;» vom Halse zu schaffen. Und dann spielt nun die ganze Scene natür- lich w^eiter^ bis zui' Ausforderung;, und bis zum Meuchelmorde des Appiani.

Ich bek'^nne Ihnen noch einmal_, mein Freund: es ist sehr mifslich^ eines An- dern bestimmte Absicht zu e'rrathen, wo er ihrer mehrere haben komite ; und \wenn ich also geträumt habe^ so verzei- hen Sie mir ! Ich erwache wieder aus meinem Traume. Aber so viel, den- ke ich^ ist doch immer ausgemacht: dafs, wenn auch der Dichter bei der Schwer- muth des Appiani nicht eigentlich auf die- sen Endzweck gearbeitet, ihm wenigstens diese Schwermuth zur Erreichung dieses Endzwecks gute Dienste geleistet hat.

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ZWÖLFTES STÜCK.

DRITTER BRIEF.

JL)er Widerspruch^ den Sie in dem Cha- rakter der Emilie glauben bemerkt zu haben^ liegt meines Erachtens nicht in den ersten Grundzügen des Charakters; er entsteht nur durch die Art, wie die letzten Scenen ausgeführt worden. Eben das Mädchen^ sagen Sie y das wir im Anfange so ängstlich, so furchtsam^ so schüchtern sehen ; eben das Mädchen kann nachher so herzhaft den Tod for- dern? ihn so willig erdulden? Ist hier nicht ein gröliserer Widerspruch, als in dem Charakter der Iphigenia, den Ari- stoteles um einer ähnlichen Ungleichheit iler Sitten willen tadelt? Nein^ mein

ÜBER EMILIA GALOTTI. 167

Freund _, nicht einmal ein eben so gro- fser; und sobald Sie den Gang der Ideen in Etniliens letzter Scene nur ein wenig ändern wollen^ ganz und gar keiner.

Es giebt unter den Menschen viel© solcher Charaktere^, in denen sich zwei entgegengesetzte Eigenschaften vereini- gen; und diese sind allemal^ wenn sie wohl ausgeführt werden, nicht nur die lehrreichsten, sondern auch wegen des Wunderbaren das ihnen anhängt, die in« teressantesten. Der Dichter muTs nur nicht vergessen, zu zeigen, Wie sie mög- lich sind; das heifst, er mufs uns den GiTindzug im Charakter angeben, der den scheinbaren Widerspruch aufhebt, und die beiden so unverträglich scheinenden Eigenschaften in Harmonie bringt. In dem Charakter der Emilie findet sich die- ser Grundzug wirklich. Sie ist weder

i68 ÜBER

«»US blofsem Temperament so fm-chtsam, noch aus blofsem Temperament so ent- schlossen den Tod zu leiden; sie ist bei- des aus herrschender^ beinahe schwärme- rischer Liebe zu ihrer Religion. Bei ihrem Anfalle von Furcht, hat der Dich- ter diesen Zug unvergleichlich herausge- hoben; aber nicht eben sowohl bei ihrer nachmaligen Herzhaftigkeit. Denn hier äufsert Emilie in allem was . sie sagt und thut^ mehr stoische räsonnirte Tugend^ als christliche Furcht vor der Sünde. Fast das einzige Wort, das ganz ihrem Cha- rakter entspricht, ist das : » Nichts Schlim- »mers zu vermelden, sprangen Tausende «in die Fluthen, und sind Heilige ; « aber der Zug steht zu abgerissen;, zu einzeln da: wir werden weder vor- noch nach- her an die Religion weiter erinnert. Ja selbst bei ihrem endlichen Hinsinken, bei

EMILIA GALOTTl. 169

dem letzten Zuschliefsen ihrer brechen- den Auuen^ hören wir keinen Laut^ kei^ jien Seufzer _, der an Gott oder an ihre Heilige geriehtet vräre. Was aber das Schlimmste ist, so rüiü t uns der Dichter selbst irre^ und scheint seinen, ganzen Vorthell freiwillig aus den Händen zu geben. :»Du kennst sieget iäfst er die Mutter zu Odoardo sagen: «sie ist die »Furchtsamste und Entschlossenste im- «sers Geschlechts. Ihrer ersten Eindi^ük- »ke nie mächtig; aber nach der gering- »sten Überlegung, in alles sich findend, 55 auf alles gefalst. Sie hält den Prinzen w in einer Entfemimg ; sie spricht mit ihm 5) in einem Tone u. s. w. a Scheint es nicht, als wenn der Dichter in dieser Stelle, die doch, immer die Schwierigkeit nur angeben würde statt sie aufzidösen, als wenn er uns hier zu dem Folgenden

ijo ÜBER

vorbereiten^ als wenn er den Charakter durch eine künstliche Wendung zum Ziel herumlenken wolle? Gleichwohl brauchte er das so wenig, wenrt er nur Emiliens endliche Herzhaftigkeit aus eben der Quelle entspringen liefs, woraus ihre an- fängliche Furcht entstand.

Ich habe gegen die Ausführung der letzten Scene noch eine andere Erinne- rung zu machen, von der ich mich wun- dre dafs sie noch sonst niemand gemacht hat. Sie betrifft die an sich so vortref- liche Stelle, worin Emilie über Gewalt und Verführung philosophirt. Wenn ich sie sagen höre : -»Ich habe Blut, mein Vater; so jugendliches, so warmes Blut, » als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. »Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts « gut. Ich kenne das Haus der Grimaldi. «Es ist das Haus der Freude u. s. f.;cc so

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weifs ich iii der Tliat nicht, was aus dem Mädchen geworden ist. Ich mögte fast argwöhnen, dafs ihre Liebe .zu Appiani blofse Coketterie gewesen. Denn sagen Sie selbst, mein Freund; wie kann sich Emilie, in ihrer jetzigen Lage, vor Ver- führung fürchten ? und vor Verführung vom Prinzen? Sie weils, wie sie selbst gesteht, warum Appiani todt ist, dieser ihr theuxer, geliebter Appiani, dessen Tod ihr, wo sie nicht das nichtswürdig- ste Mädchen ist, an die innerste Seele gehen muls ; sie sieht gleichsam sein Blut noch an den Händen des Prinzen kleben: und wäre nun dieser Prinz ein Adonis, wäre er der Liebenswürdigste aller Sterb- lichen; so müfste er ihr doch um dieses Blutes willen, in diesem ersten Augen- blicke der empörten Leidenschaft, das grälislichste , verabscheuungswürdigste Un-

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geheuer dünken, das je die Erde getra- gen. Dazu kommt noch, dafs sie den ganzen Plan durchsieht, den er gegen ihre Tugend gemacht_, diesen ehrlosen, schändlichen Plan : und wie sehr mufs nicht das, bei einem so frommen, so ehr- liebenden , für ihre Seele so besorgten Mädchen, den vorigen Abscheu noch ver- stärken! Immer mag ihre Religion ihr sa- gen^ dafs bei der Verderbnifs des mensch- lichen Herzens kein Verbrechen immög- lich sei; in der jetzigen Verfassung kann ihre Seele auf keinen Gedanken achten, keinen Gedanken annehmen, als der ih- rem äufsersten ^bscheue gegen den Prin- zen gemäfs ist, ihn verstärkt, ihn bestä-* tigt. Wenn sie sich also nicht vor Ge- walt fürchtet, vor eben der Gewalt, die eben jene Heiligen vermeiden wollten, da sie sich in die Fluthen stürzten: vor

EMILIA GALOTTI.

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was sonst kann sie sich fürchten? Davor nimmermehr, dafs je der Prinz ihr gefal- len, dafs ie ihr Bhit iur ihn wallen, dafs je ihre Sinne an ihm. Gefallen finden soll- ten; oder ich gestehe gern, dafs ich kei- nen Begriff von dem habe, was mensch- liches Herz ist. Erklären Sie mich aber nicht unrecht, mein Freund. Ich behaup- te nicht, dafs Emilie ihren Appiani nicht wirklich vergessen, nicht vielleicht schon in einem Monate von dem Prinzen ver- führt seyn könne; das kann sie sehr leicht, imd sie wäre wohl nicht das erste Mäd- chen. Ich sage nur, dafs sie jetzt^ ver- möge ihres Charakters, vermöge der er- sten Täuschung ihrer aufgebrachten Lei- denschaft, das was an sich sehr möglich ist , gar nicht für möglich erkennen müsse.

Wie ? wenn also der Dichter diese

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ganze Philosophie über Gewalt und Ver- führuug^ so richtig und vortrei^lich sie an sich selbst ist_, aufgeopfert^ und dafür fol- gende Pteihe von Ideen gewählt hätte: Der Prinz liebt mich ; er hat mir's er- klärt; er wird nichts unversucht lassen;, mich zu seinem Willen zu bewegen. Er wird am Ende Gewalt brauchen; denn kein Frevel in der Welt kann für den noch zu grofs seyn^, der den liebenswür- digsten aller Menschen ermorden konnte. Er wird auch der Mörder meiner Seele werden^ nachdem e^^ der Mörder meines Geliebten geworden. Und diese Schande kann mein Vater nicht zugeben; nimmer- mehr^, oder er ist nicht mein Vater. Gott und Natur haben mich an ihn als meinen Beschützer gewiesen, und ich habe aulser ihm keinen Retter. . . . Wie? wenn dann der verwirrte^ in Wuth gesetzte^ erschüt-

EMILIA GALOTTI. 175

terte Vater^ der eben so sehr als Emili» vorbereitet ist von dem Prinzen das Al- lerärgste zu denken; wenn er ihr dann den Dolch mit den Worten zeigte, dafs er für sie keine andre Rettung sähe, als durch den Tod; wenn Emilie ihm ant- wortete, dafs, nichts Gering ers zu ver- meiden. Tausende in die Fluthen spran- gen und Heilige sind ; wenn dann der Vater den Prinzen mit Marinelli zurück- kommen hörte, und kaum seiner Sinnen mächtig, indem ihn Wuth, Zärtlichkeit und Ehrliebe gleich heftig bestürmten, den tödtlichen Streich vollführte? Sollte nicht durch so eine Wendung die Kata- strophe weit natürlicher und den beiden Charakteren, des Vaters sowohl als der Emilie , weit angemefsner werden ? Freilich verlören wir dann manche un- vergleichliche Züge ; aber die ersetzte ge-

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\yifs der reiche Geist des Dichters durch aiidre^ die uns jene vergessen machten. Für Sie, wcifs ich^ wäre schon das Er- satzes genug, dafs Sie nun keiner Haar- nadel erwähnen hörten^ die Sie ich- weifs nicht, mit welchem Rechte? so anstöfsig linden; dafs Sie nun keine Rose mit einem Affecte zerpflücken sähen^ der freilich für eine so gewaltsame Situation ein wenig zu ruhig ist; dafs Sie nicht an die Geschichte der Virgiiiie erinnert wür- den, deren Katastrophe hier allerdings unter sehr verschiednen Umständen zu ähnlich nachgeahmt , worden ; und dafs Emilie nicht mit einer Allegorie im Mun- de stürbe.

Über das^ was ich hier von der Ge- schichte der Virginie gesagt, erkläre ich mich in meinem künftigen Briefe näher.

Ich

EMILIA GALOTTI. 177

Ich will darin von dem Charakter des Odoardo reden;, der^ bis aul" die letzte Scene mit seiner Tochter;» meine ganze ßewiinderung^ hat.

liri'^ttls h'hilosoph , l. \ j,

»7S

DRElZlillNTES STÜCK.

VIERTER BRIEF.

Der Plan der Emilia Galotti isl^ deucht iiiir^ ganz sichtbar ans der Geschichte der T^irginie entstanden. Sie wissen^ mein Freund^ dafs es in Italien eine fürstliche Familie Gonzaga gab^ deren jüngere Li- nie sich von Guastalla schrieb ; aber wüfsten Sie von irgend einem Gojizaga eine Anekdote, ans der sich ein Trauer- sjiiel, wie Kniilie, hätte machen lassen? Ich wenigstens der ich zwar freilich in der Geschichte der kleinen italiäni- schen Häuser wenig bewandert bin wüfste keine ; und da auch sonst, in der Ausführung der letzten Scenen, offenbare Rücksicht auf die Geschichte J^irgUiiens

VBER ExMILIA GALOTTI. 179

genommen worden; so setze ich um so zuversichtlicher voraus^ dafs der Dichter die so interessante Katastrophe jener Ge- schichte genommen^ und seinen übrigen Plan ausdrücklich dazu erfunden habe.

Die grolse Schwierigkeit eines solchen Unternehmens darf ich Ihnen wohl nicht erst erklären; Sie werden sie fühlen. Es scheint mir schon immer nicht die leich- tere Arbeit des Genies^ von einigen ein- zelnen unbestimmten Ideen anziüangen imd ihnen diuxh nähere ßestimmimg das Leben und die Wirklichkeit erst zu ge- ben^ die sie in ihrer dürftigen Allgemein- heit nicht hatten. Auch zweifle ich sehr ob jemals ein episches Gedicht so ge- macht worden^ wie der ehrliche Le Bos- SU es geträumt hat. Das Genie ^ so viel ich weifs^ arbeitet leichter aus der Wirk- lichkeit heraus ; als in die Wirklichkeit

i8o ÜBER

hinein; es gelingt ihm besser^ dem schon gefundenen Golde Glanz und Form zu geben^ als das Gold selbst durch alchy- mistischen Procels erst hervorzubring'en. Je mehr schon die Natur , diese beste Werkmeisterinn, ihm in die Hände gear- beitet: desto bündiger _, fester^ gleicher wird das Gewebe seines Plans ; desto voller^ blühender ;, lebendiger ,wird sein Werk in der Ausführmig. Glückliche Su- jets^ worin das Wesentliche schon mei- stens beisammen ist^ aus der wirklichen selbstbeobachteten Welt gerissen, geben daher immer die Meisterstücke der Dich- ter. Sie haben hier weiter nichts zu thun;, als dals sie den schon v^orhandenen Stoff von allen anklebenden Schlacken reinigen;, alle unwesentlichen Theile da- von abschneiden, oder wenn ihn die Kunst auch in wesentlichen Theilen nicht

EMIJCIA GALOTTL i^i

brauchen kann^ ihn ans der Füllf eben der nahe umgebenden Namr, wo sie ihn heraushoben , zu ergänzen und zu ver- schönern suchen.

Noch schwieriger ward ^ in unserm Falle_, das Unternehmen dadurch, dafs der Dichter aus der Geschichte der Virginie gerade das Letzte^ die Katastrophe, her- aushob. Es scheint mir ausnehmend mils- lich^ eine so bestimmte Katastrophe von der Pieihe von Ursachen^ woran sie in der ]\atur hing, loszureißen ^ und' sie an eine ganz verschiedene zu knüpfen. Auf was für eine Verbindung von Umständen man auch verfallen^ was für eine Gesell- schaft von Charaktei'en man auch versam- meln mag, so wird man immer ^ wenn man sich dem natürlichen Gange ^.Qr - Handlimg überläfst^, auf ein etwas ande- res Ende damit hinauskommen. Verschie-

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denheit in den Ursachen wird Verschie- denheit in die Wirkungen bringen; und nachdem sie dort wesentlich oder zufäl- lig ist, wird sie's auch hier seyn. Am gtöPsten aber scheint mir diese Schwie- rigkeit dann', wenn die Katastrophe so aufs er ordentlich, so ungewöhnlich, wie hier ist. Ein rechtschaffener Vater durch- bohrt seinem einzigen würdigen Kinde das Herz, weil er sonst kein Mittel hat es von der Schande zu retten. Wie ent- setzlich, wie einzig ist diese That ! Wer sollte nicht glauben, da ('s sie nur in ei- nem eben so einzigen Falle, unter einer eben so einzigen Verknüpfung von Um- ständen, habe geschehen können? Und wie kühn mufs also nicht der Dichter scheinen, der damit ganz aus jener Re- gierujigs Verfassung , jenen Verhältnissen und Sitten des alten Roms herausgeht,

EMILIA GALOTTI. iS5

der sich dazu in einer völlig verschiede- nen Welt gleich wahre Veranlassungen auFsucht;, sich einen gleich bündigen Zu- sammenhang von Begebenheiten und Um- ständen, erdichten will, worin die Kata- strophe eben so tief und augenscheinlich gegründet sei, wie in jenen! Wenn ich bedenke^ dafs Herr Lessiiig so sicher der Mann war, der alle diese Schwierig- keiten iühlte, so erstaune ich über den Muth, womit er sich ihnen unterzog ; und wenn ich dann sehe, bis zu welchem Grade er sie überwunden hat, so erstau- ne ich noch mehr über die Gröfse der Kraft , die er dazu anwenden mufste. Doch zugleich werde ich unwillig, dvifs der Mann, der so sicher Genie hat, uns bereden will er habe keines; wenn an- dere, die so sicher keines haben, uns durchaus wollen glauben machen, sie hät- ten wplrhes.

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Um den Ausspruch in meinem letzten Briefe zu rechtfertigen^ werde ich die Geschichte der Virginie mit der Ge- schichte der Galotti vergleichen müssen. Die letztere haben ^\^ gevvifs,, und ver- muthlich auch die erstere, im Gedächt- nifs; oder wo nicht^, so haben Sie Ihren Livius bei der Hand^ um sie nachzuschla- gen. Ich kann ako der Mühe^ sie zu wiederholen^ entübriget seyn.

Livius sieht in dieser ganzen Geschich- te mu' Eine Schwierigkeit ; er begreift nichts mit welchem erträglichen Vorwan- de Appins sein gesetzwidriges Urtheil beschöniget habe. Niiduin, sagt er_, ui" äetur proponendujn : decresse uindi- das secunduin Servitut ein. Das kann nun freilich wohl der Geschichtschreiber^ aber nicht der dramatische Dichter s*a- gen; und doch mögt' es dem letztern

EMILIA GALOTTL i85

schwer werden, in der Aiifsuchang eines solchen Vorwandes glücklicher als jener zu seyn. Wenn indefs der Dichter nur diese einzige Schwierigkeit überwunden hat wozu ihm vielleicht 'Dio?iys voti Halikarjiafs behülflich seyn könnte so hat er sie auch alle überwunden; nur noch diejenigen ausgenommen^ die sich in Ansehung der dramatischen Form^ bei Verth eilung der Handlung, Verbindung der Auftritte u. s. w. ereignen mögten. Der Zusammenhang der Geschichte selbst ist so inni£f, als man ihn wünschen kann; die historische Wahrheit hat alle poeti- sche Wahrscheinlichkeit; jede Verbesse- rung, die man anbringen w^ollte, wairde Verschlimmerung werden. Es ist nichts zu ergänzen, nichts umzuändern; die gan- ze Arbeit besteht blofs in der Entwicke- hmg der angegebenen Charaktere und Situationen.

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Vergleiche ich diese Geschichte mit dem Plan der Emilie^ so fällt mir nichts so schnell in die Augen ^ als dafs dort der Bewegungsgrund zu der schreckli- chen That des Vaters zwiefach, hier nur einfach^ ist. Dort will nicht .nur der ehr- liebende Mann von strengen Grundsätzen und rauher Tugend sein Kind vor der Entehrung sichern; der freie Römer^ dem Sclaverei verhafster als Tod ist^ will es auch d^m Elend der Knechtschaft ent- reifsen. In den Yv^orten^ die ihm Livius^ eben da er die schrecklicjie That voll- bringt^ in den Mund legt, wird dieses letzten Bewegungsgrundes allein erwähnt: hoc te uno f quo possmii, modo , filia, in libcrtateiTi vindico; und bei Andern, so Vvie auch nachher bei ihm selbst, steht

^ er vor: iXsvB-S^Jtv cre koh tvtr^^uova,, tckvov, UTTOTzXXu TOii X.CCTCC y>jv 7r^eyövo<5. «^^ llbe-

EMILIA GALOTTL 187

rae ac pudlcae vii'ere licUuni fuissct, etc. . . . Für Emilia Galotti darf ihr Va- ter nicht beides, 'Sclaverei und Enieh- rung; er darf nur Eins, nur das Letztere, fürchten; und so hat jene Geschichte der Virginie vor dieser der Emüie scJiun ei- nen nicht verächthchen Vortheil ; denn je mehr zu einer so schrecklichen That der Bewegungsgründe sind, und je drin- gender jeder an sich, desto besser. Doch so sehr wichtig ist dieser erste Vorzug noch nicht ; denn allerdings kann schon der einfaclie Bewegungsgrund, nach- dem die Situation imd der Charakter ist, auf den er wirkt, völlig entscheidend werden: und ist er das wirklich, so hat man dem Dichter weiter nichts vorzu- werfen.

Aber hier zeigt sich nun, meines Er- achtens, der zweite, der grofse Vorzug

i8S ÜBER

der Geschichte des Livius: der Vater der Virginie hat einen völlig entscheidenden Bewegiingsgrund; der Vater der Galotti hingegen nicht. Sie werden mir das zugeben, hoff ich, sobald Sie nur die beiden Situationen, der Virginie und der Emilie, recht scharf in die Augen fassen» Über Virginien ist der letzte richter- liche Ausspruch von eben dem Manne ergangen, der die hödiste obrigkeitliche Gewalt in Ptom hat; es ist nicht blofs mehr zu fürchten, nicht blofs mehr wahr- scheinlich, dafs sie werde zur Sclavinn erklärt werden: sie ist es schon wirklich. Ihre Freiheit ist ohne Ptettmig dahin; und in Absicht aui' ihre Ehre, läfst sich nicht die geringste Schonung ^^^^i^. eine Scla- vinn, niciit die geringste Mäfsigung von einem Manne erwarten, der sich im An- eesichte des ganzen Roms mit so erofser

EMILIA GALOTTI. 189 ^

Unverschämtheit betragen hatte. - Das Volk, das natürlicher Weise auf Seiten des Beleidigten und des Mitbürgers war, ist auf die Drohungen des Appius schüch- tern zurück gewichen: allein und verlas- sen steht mm auf der einen Seite Virgi- nie mit ihren wenigen Freunden (deser- ta praeda injuriae) ; auf der andern^ der mächtige Decemvir, den sein Anse- hen im Staat und seine Lictoren schüz- zen. Schon tritt man hinzu, Virginien ihrem Tyrannen imd Ehrenschänder in die Hände zu liefern : es ist der letzte entscheidende Augenblick ; nur noch zwei gewaltsame Mittel, dem Spiel ein Ende zu machen, sind übrig. Der Vater mufs den Dolch entweder ^Q^^^n Claudius und den Decemvir, oder gegen das Herz sei- nes eigenen Kindes zücken. Welches von beiden Mittdn würde ef wählen,

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wenn die Wahl ihm frei stände ? Und welches ist er gezwungen zu wählen? Das Erstere, deucht mir^ beantwortet sich gleich von selbst; denngewifs ist es natürlicher^ dafs der Hirt den Woif^ als dafs er das Lanun erschlage. Die Hand des Vaters wird wider eben denjenigen gerichtet seyn^ wider den sclion sein Mund getobt hat; er wird lieber frem- des^ als eigenes Blut vergielsen ; lieber den Schuldigen^ als die Unschuldige, den Bösewicht, als die Tugendhafte ermor- den. Aber dieses natürlichste Rettungs- mittel, auf das ihn Noth und Leidenschaft gleich zuerst führen müssen , wird ihm diurch die Beschaffenheit seiner Lage un- möglich gemacht. Der Decemvir, der sich, auf den Fall eines Tumults, gegen ein ganzes Volk gerüstet hatte, ist ^^^^n die Tapferkeit eines Einzelnen aHzuwohl

EJMILIA GALOTTI. 191

gesichert; Virginius könnte den ersten ;, zweiten^ dritten Lictor niederstofisen: im- ter den Streichen des vierten würde er dennoch erliegen müssen. Diese seine Aufopferung aber^ was für Nutzen würde sie für Yirginien haben? Würde die Un- glückliche weniger in Sclaverei gerathen? weniger ein Raub der zügellosen Begier- den des Decemvirs werden ? Es würde* nicht echte Tapferkeit einer wahrhaft grofsen Seele ; blinde tollkühne Wuth würde es seyn^ einen so äufserst gefahr- vollen und für Yiiginien so fruchtlosen Versuch zu wagen.

Sie erkennen also^ mein Freund^ dafs von den beiden gewaltthätigen Mitteln^ die hier noch übrig waren ^ das erste^ das an sich natürlichste^ unmöglich ge- macht wird : und eben daduich wird nun das zweite^ das an sich unnatürlich-

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ste^ natürlich. Das Leben seines Kindes ist dem Vater niehr^ als sein eigenes^ wcrth: er würde^ wenn er nicht zu ihrer Piache Jeljte, das Messer aus ihrer Brust nur herausreifsen, um es in seine eigene zu stürzen; nur ein Einziges ist ihm mehr werth^ als alles: ihre Freiheit und ihre Ehre; es ist besser^ deucht ihm^ dafs er sein Kind durch den Tod^ als dafs ei^'s durch die Schande verliere. Also mit der Fassung einer wahrhaft grofsen Seele, die sich auch mitten in der schrecklich- sten SiLuation noch besitzt^ wird er auf einmal ruhig; verlangt nur, um sich von der Wahrheit der vorgegebenen Geschicli- te zu überzeugen, eine augenblickliche Unterredung mit Tochter und Amme, führt beide, nach erhaltener Erlaubnifs vom Decemvir, seitwärts, und durchbohrt der erstem, mit einem Messer, das er

von

EMILIA GALOTTI. 195

von der nächsten Schlachtbank ergreift^ das Herz. Den vornehmsten Antrieb zu dies.er That giebt ihm seine römische Vaterliebe ^ so grofs und so echt_, als ^le je in der Brust des kühnsten und stolze- sten Mannes gew^ohnt hat; mitwirkende Ursache bei dieser Tliat ist seine Wuth gegen den Appius^ den er nun eben da- dm ch elend macht^ dafs er ihm den Ge- genstand seiner heifsesten Begierde ent- rückt : imd die Zeit^ die zwischen That und Gedanken verstreicht^ ist ein einzi- ger dringender Augenblick^ über den hin- aus vielleicht auch die grölste Menschen- seele diese äufserste Spannung nicht wür- de aushalten können.

Halten 3ie nun die Situation ^ worin der Vater der Emilie ist^ g^g^i^ diese so gewaltsame^ zwingende, worin Virginius war. Zugegeben für's erste^ die Schande

Enar's Philosoph, I. I i)

i9i ÜBER

Emiliens sei vollkommen so entschieden^ als Virginiens Schicksal, und es bliebe dem Vater zu ihrer Ptettung nichts, als rlie Wahl zwischen jenen gewaltsamen Mitteln übrig: warum mufs er denn ge- rade das unnatürlichste wählen? warum den Dolch nicht ins Herz des Ptäubers und seines nichtswürdigen Gehülfen, son- dern ins Herz seines eigenen Kindes sto- Isen? Freilich ist der Mann, den er dann umbringen würde, der Prinz; aber die er jetzt umbringt, ist seine Tochter: und wenn sich alle Umstände vereinigen, jene Betrachtung zu schwächen, so kom- men dagegen alle zusammen, dieser den gröfsten Nachdruck zu geben. Moralisch unmöglich, scheint es, mufste die Ermor- dung seines Kindes dem Väter noch eher seyn, als die Ermordung des Prinzen: und ' äufserlich möglich ist, iiac4i allen

EMILIA GALOTTI. 195

Umständen, das eine so gnt_, wie das anr dre. Auch Appiiis war die höchste Obrigkeit Roms, und Virginiiis gewifs ein eben so edeldenkender Mann, wie Odoar- do: gleichwohl stand er keinen Augen- blick an, das Volk g^gen den Tyrannen aufzuwiegeln, imd würde eben so wenig angestanden seyn, wenn es ihnÄjjj^onst wäre möglich gewesen, ihn zu ermorden. Aber ist denn in der That das Schick- sal Emiliens so entschieden, dafs weder dem Vater noch ihr selbst irgend ein an- drer Weg zu ihrer Ptettiirig übrig bliebe? Läfst nicht Odoardo zu schnell alle Hoff- nung fahren^ gleichsam um dem Dichter zu Ende zu helfen? Kahn er aiicht Be- denldiehkeiten gegen den Auf ienthalt Emi- liens im Hause der Grimaldi äufsern? Kann er nicht darauf dringen, dafs sie der Aufsicht des Camillo Rota^- oder ir-

19Ö U B E H

gend eines ändern rechtschaffnen Mannes, deren es in Guastalla noch geben wird^ anvertraut werde? Bleibt er selbst nicht frei^ uin Erkundigungen einzuziehn^ und ist keine Möglichkeit mehr^ dafs noch in der Zukunft für Emilien etwas geschehen könne? Läfst sich nichts von dem Cha- rakter eines Prinzen hoffen^ der doch noch Gefühl von Ehre hat, und Wendim- gen und Bemäntelungen sucht? Läfst sich, was noch mehr ist;, von Emiliens Charak- ter nichts hoffen? Müssen nicht alle die Reden die sie führt, selbst ihre äulserste Furcht vor ihrem Falle ^ den Vater weni- ger besorgt, als sicher machen ? Mufs nicht in seiner Seele, sobald er den fürch- terlichen Gedanken fafst , den er ganz durchzudenken so Viel Zeit hat, jeder noch so schwache Anlafs zur Hoffnung wichtig, jedes noch so unwahrscheinliche Mittel

EMILIA GALOTTI. 197

z\x anderweitiger Retumg wahrscheinlich werden? Mtifs ihm nicht der Dolch^ d«n er im ersten Augenblicke der Wuth ge- zückt hatte ^ im zweiten Augenblicke der Überlegung wieder entsinken?

Ohne auf irgend eine dieser Fragen bestimmt zu antworten^ wende ich mich z,u dem dritten^ sehr wesentlichen^ Vor- züge der Geschichte des Livius: und die- ser besteht darin: dafs der Bewegirngs- grimd^ der den Vater ziu Ermordimg sei- nes eigenen Kindes treibt^ einen so aus- nehmenden Grad von Evidenz hat. Man darf nur wissen^ was für ein elen- des hülfloses Geschöpf^ ohne Recht und ohne Schutz^ eine römische Sclavinn war; darf denLictor nur hinzutreten sehn^ um die Unglückliche ihrem Räuber^ zu jedem beliebigen Mifsbrauch_, in die Hände zu liefern; darf nur Einen Blick auf den

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wehrlosen verlafsnen Virginius und dann auf den so wohl hewafneten uneiTeich- baren Decemvir werfen: und man sieht schlechterdings keine Möglichkeit zu Vir- giniens Rettung, als dmxh den Tod. Man erwartet schon die schreckliche That des Vaters^ indem man ihn das Werkzeug dar z,u ergreifen sielit^ und man billiget und bewundert sie^ in dem Augenblick selbst, da man davor erzittert. Wie ganz an- ders verhält sich dies in der letzten Si- tuation der Erailie ! Wenn ich auch zu- gebe, dafs der Dichter das ganze Stück hindiu'ch eine Menge Züge hingestreut habe, die man nur alle zusammen neh- men, alle wohl erwägen und beherzigen- dürfe, um Emiliens Schande eben so ent- schieden, als Virginiens Schicksal zu fin- '' den; wenn ich sogar einräume, dafs auch kinlänglicher Griuid vorhanden sei, wai'-

EMILIA GALOTTI. 1519

um der Streich nicht den Prinzen^ son- dern Emilien trift: so wird schon durch das Einzige, dafs beides nicht unmittel- bar in die Augen leoclitet, dafs man erst Zweifel und Einwürfe heben;, sich erin- nern, nachdenken niufs; schon dmxh die- ses Einzige, sag' ich, wird die ganze Wir- kiuig der Katastrophe vernichtet. Der Streich ist geschehen, ehe man zur Illu- sion gehörig vorbereitet war; und es hilft nichts, dafs man hinterher nach gesche- hener Untersuchimg einsieht, er sei den- noch mit Recht geschehen.

Wie aber, wenn ich bisher in der gan- zen Beurth eilung dieser Situation, durch die beständige Piücksicht auf den Virgi- nius, wäre irre gefüiirt worden? Wie, wenn ich den Italiäner tu selir mit deut- schen Augen betrachtet, und ihm einen ßewcgungsgrund, den er nicht hatte, ge-

20O ÜBER

liehen hätte? Die wirkliche Entehrung Emiliens^ köniuen Sie sagen _, mag noch immer unentschieden seyn; so ist doch der Verlust ihres guten Namens entschie- den. Entfernung von der Welt, wie ihr Vater ganz recht sagt, ist das Einzige, was ihr in ihren jetzigen Umständen ge- ziemen würde. Sobald sie nach Guastal- la in das Haus der Grimaldi gebracht tind in gerichtliche Untersuchung gezogen wird, so wird das Gerücht, als ob der Graf durch einen begünstigten Nebenbuh- ler aus dem Wege geräumt worden, be- stätigt; und um Emiliens guten Ruf, so wie um die Ehre ihrer Familie, ist es ge- schehen. — Ich will nicht untersuchen, mein Freund, welcher Bewegungsgrund der bessere, edlere sei? ob es dem Odo- ardo nicht mehr geziemen würde, seine Tochter wegen der befürchteten wirkli-

EMILIA GALOTTI. 201

chen Erniedrigung und Verderbnifs ihres Charakters aufzuopfern, als weil es ihn yerdreufst dafs die Welt so und so von ihr urth eilen werde ? Ich will nicht -an- führen, dafs die That um desto mehr in- teressiren mufs, je einer gröfsern richti- gem Absicht gemäfs sie erfolgt; ich will blofs fragen: ob wohl der Dichter selbst diese Erklärung könne gewollt haben? ob er durch irgend eine Rede in den letzten Scenen nur mit einiger Deutlich- keit darauf hinführe? ob nicht immer von wirklicher Entehrung und Verführung die Rede sei, ohne dafs der Schande vor der Welt nur mit Einer, Silbe erwähnt wer- de? Gleichwohl denke ich, wenn der Dichter gewollt hätte, dafs Odoardo die Lage seiner Tochter so vorzüglich aus diesem Gesichtspuncte nehmen sollte; er würde mehr Sorge getragen haben, dafs

203 ÜBER.

auch wir in eben diesen Gesichtspuiict getreten ^ären. Er würde den Italiäner eben hier^ und auf eine nicht verkenn- bare Art^ zuvor als ItaHäner haben reden lassen, ehe er als ein solcher gehandelt hätte.

Wegen des zweiten Puncts, dafs der Streich nicht den Prinzen, sondern Eini- lien trift, könnten Sie sagen: dafs auch hier Odoardo als ein echter Italiäner handle. Was wäre es, wenn er i die Schande, die der Prinz auf sein Haus bringen wollte, nur dadiu-ch zu rächen suchte, dafs er ihn niederstiefse? Besser^ dafs er ihm sein ganzes künftiges Leben verbittre, dafs er ihm diejenige, die ihm so viel Trug und Verrath ja selbst einen Meuchelmord werth war, in deni Augen- blicke selbst entreifse, da er sie am sicher- sten zu besitzen glaubt; dafs er ihm ci-

EMILIA GALOTTL 203

nen Gedanken in die Seele grabe, der ihn wachend und träumend martrc. und nach einem Leben voll Angst noch die Schrecknisse seiner Todesstiuide vermeh- re. — Ich will glauben^ mein Freund, dafs eine Rachsucht niöglici^ ist, die für ihre BefTiedigung alles, selbst ein ein- ziges Kind, dahingiebt; aber gewifs ist der Mensch der ihrer fähig ist, einer der schwärzesten, verhafstesten Menschen: und doch ist es deutlich, dafs der Dich- ter den Odoardo vielmehr als einen ed- len und hochachtungswürdigen habe schil- dern wollen. Wie einen ganz falschen Eindruck würde auch nun Emiliens Tod auf uns machen, wenn wir wirklich diesen Bewegungsgrund dabei erkennten, oder auch nur muthmafsen könnten! Statt des waln^en tragischen Schreckens, womit uns die That des Virginius erfüllt, würde uns

2o4 ÜBER EMILIA GALOTTI.

diese des Odoardo mit Abscheu und Ent- setzen erfüllen. Erst müfsten wir^ wie in der Geschichte beim Livius^ die völli- ge Unmöglichli.eit erkennen,, dal's Emilie anders als dmxh ihren eigenen Tod soll- te gerettet werden; und dann mögte sich die Wutli gegen den Verführer ^ eben hiedurch erst auf's höchste getrieben^ mit der väterlichen Liebe vereinigen^ um den Streich zu vollführen: aber^ dal's bei der Möglichkeit^ den Verführer selbst zu töd- ten^ die Wuth oder vielmelir das schreck- lichste Rafhnement der Rachsucht^ die väterliche Liebe ersticken und den Dolch freiwillig gegen die Tochter zücken soll- te ; das sqheint mir viel zu scheuslich und ungeheuer^ als dafs es Herr Lessing gewollt haben sollte^ bei dem icli auch in der That nicht die mindeste Spur da- von finde.

205

VIERZEHNTES STUCK.

HYLAS UND PHILONOUS.

W enn auch die Materie, sagt nian_, ih- rer Natur nach des Denkens unfähig ist: kann ihr der Allmächtige nicht diese Ei- genschaft mittheilen?

Dieser Einwurf wider die Immateria- lität der Seele pflegt durch das Ansehen eines grofsen Namens unterstutzt zu wer- den. Locke hat ihn irgendwo *in seinen Schriften vorgebracht; imd seit der Zeit ist er von so manchem Schriftsteller mit einem Triumphe wiederholt worden^ als wenn nichts darauf zu antworten wäre. Allein ich glaube^ der Engländer selbst hat seinen Einfall für so unüberwindlich nicht gehalten.

soG H Y L A S

Die Cartesianer lehrten: Wenn der Körper des Denkens fähi^ sejTi sollte^ so jnüfste sich durch Ausdehnung und Be- wegung die Natur der Gedanken begreif- lich machen lassen. Nun sind aber^ sag- ten sie^ Gedanken und Ausdehnung^ Be- wegung und Wahrnehmen oder inneres Bewufstseyn der Bewegung^ von unglei- cher Natur^ von disparaten Eigenschaften: denn man mag die Theilchen der Mate- rie versetzen und verbinden^ wie man will ; so entsteht daraus noch kein Be- griff> keine Vorstellung von dieser Ver- setzung;, kein Wahrnehmen der dadurch erzeugten Veränderung. Das Ausgedehn- te, schlössen sie, muls also blofs beweg- lich seyn, das Denken hingegen einer nicht ausgedehnten Substanz, die der Be- wegung unfähig ist, zukommeni

Da man durch diese Gründe nur zu

UND PHIL ONO US. 207

beweisen schien^ dafs die Gedanken der Materie nicht nattirlicii sind ; so fragte Locke mit Recht: ob nicht die Allmacht der Materie eine Kraft verleihen könne, die sie von selbst nicht haben würde?

So, wie andere Weltweise den Be- weis für die Immaterialität der Seele ge- führt haben, ist diese Frage gar nicht mehr möglich. Wenn ziün Denken viele Substanzen in einer Einzigeii (durch die Vorstellung) zusammenkommen müssen; die Materie hingegen niemals aufhört, aus vielen zu bestehen : so läfst sich eine denkende Materie eben so wenig ohne Widerspruch einnehmen, als ein vierecki- ger Kreis»

Aber auch selbst nach der anc^eführ- tcn Cartesianischeii Beweisart, läfst sich der Zweifel des Engländers auf eine sehr einleuchtende Weise heben. Man kann

208 H Y L A S

zeigen, daPs die Eigenschaften sich nicht mittheilen lassen, und dafs die Allmacht selbst keinem Wesen eine Kraft zufegen kann, die ihm seiner Natur nach nicht zukommt. Man sehe hier ein Gespräch^ das über diesen Punct zwischen zwei Weltweisen vorgefallen ist, die ich Hylas und Philonous nennen will.

Hylas. Und wenn auch die Materie an und für sich nicht denken kann; wird ihr die Allmacht Gottes nicht die Kraft zu denken mittheilen können?

Philoiioiis. Wir wollen sehen, mein Freund. Wie fängt es die Allmacht an, dafs sie am Dorne Rosen wachsen Jäfst? Erschaft sie etwa jährlich in der Rosenzeit frische Knospen aus dem Nichts, und befestiget sie an den Strauch?

Hylas. Das nicht. Vielmehr hat sie in den Dorn selbst den Saamen gelegt,

aus

UND PHILONOUS. 209

aus welchem zu ihrer Zeit die Rosen hervorsprossen.

Philoiious. Also^ wer den Rosensaa- men zergliedern^ und seinen innern Bau mit mikroskopischen Augen betrachten kann; der wird deutlich einsehen, wie aus dem fein organisirten Saamen, durch die Entwickelung , Rosen aufblühen kön- nen?

Hylas. Allerdings ! Wenn nur seine Sinne zart genug sind, oder die Instru- mente genug vergröfsern.

Philoiioiis. Gesetzt aber, die Allmacht wollte am Rosenstocke, der nur Rosen- saamen führt, Citronen wachsen lassen; würde sie nicht diese dem Strauch un- natürlichen Früchte besonders erschlaffen, und an den Stengeln befestigen müssen?

Hylas. Nicht anders ! Aber alsdann würden die Früchte am Rosenstocke nur

Engels Philosoph, I. l4

2IO H Y L A S

zu wachsen scheinen, nicht whklich wachsen.

Philojious. Mehr aber als diesen blo- fsen Sehern^ dankt mich, kann selbst die Allmacht in diesem Fall nicht erhalten;- sie müfste denn den Rosendorn in einen Citronenbaum iwrwandebi: das heifst nach der Sprache einer gesunden Philo- sophie — den Rosendorn uernichteii, und einen Citronenbaum an die Stelle setzen,

Hylas. Das wäre dann aber nicht das, was wir verlangten.

Philo7ious. Freilich nicht ! Und es bliebe also bei dem Vorigen : die All- macht wurde die Citronen besonders er- schaffen, imd mit dem Rosenstrauche ver- binden müssen. Wie aber? Der Stamm führt ja keine Citronensäfte. Woher wer- den denn die Früchte ihj-e Nahrung neh-

UND PHILONOU^ 2n

Hylas. Diese wird ihnen die Allmacht aus der Luft oder sonst woher zuführen müssen.

Fhilonous. Und wenn nun der Stock vergeht ; haben die Citronen mehr als ihre Stütze verloren ?

Hylas. Sicherlich nicht. Da derStamm^ an dem sie hingen, sie weder hervorge- bracht noch genährt hatte.

Philojious. Nimm ehr wieder zu uns- rer Haviptfrage! Sie haben mir einge- räumt, dafs die Materie an und für sich nicht denken könne; das heifst, dafs sie^ vermöge ihier innern Strüctur, luiendli- cher Gestalten, Farben und Bewegungen, aber keiner Gedanken, fähig sei.

Hylas. Ich gebe zu, dafs Cartesius dieses so gut als erwiesen hat.

Philo 71 aus. Der Grund zu den Ge- danken liegt also aiicht in der Materie,

2iz HYLAS

so wenig als Citronensaamen im Rosen- dorn. Aber Gott soll der Materie die Kraft zu denken mittheilen. Muß er nicht diese Kraft besonders erschaffen^ und mit der Materie verbinden?

Hylas. Allerdings ! so wie wir an unserm Beispiele gesehen haben.

Thilonous. Dadurch aber erlangt die Materie niu^ dem Scheine nach die Kraft zudenken; diese kann ihr in derThat so wenig eigenthümlich werden^ als am Ro- senstocke wirklich Citronen wachsen kön- nen?

Hylas. Auch das mufs ich zugeben.

Philonous. Die Frage war also nicht : ob die Allmacht der Materie die Kraft zu denken mittheilen könne? denn dies ist unmöglich; sondern: ob sie nicht eine Kraft zu denken erschaffen und mit der Materie verbinden könne ? und siehe !

UND PHILONOUS. 213

dies hat sie wirklich gethan. Sie hat mit gewissen Portionen organisirter Materie eine besonders erschaffene Kraft zu den- ken verbmiden_, imd beide zusammen ma- chen das lebendige Tider aus. Wie die Früchte zum fremden Stamme^ so verhält sich die Kraft zu denken zur organisir- ten Materie. Am Ende kann diese ver- gehen^ ohne dafs jene mehr als ihre Stütze verlöre.

Moses Mejidelssohn.

2l4

FÜNFZEHNTES STUCK.

DER BIENENKORB,

Aber um's Himmels willen! sagte ein jünger Deutscher^ Herr uoit Bertlieiuiy zu Monsieur Le Grand, einem Pariser grofsen Geist nach der Mode und einem eifrigen Apostel des Atheismus -^ durch was für eine andere Idee^ mein Herr, wollen Sie mir diejenige, die Sie mir zu nehmen suchen, ersetzen ? Ich erkenne die Abhängigkeit meiner selbst und aller mich umgebenden Pinge; ich suche, ver- möge einer Noth wendigkeit meiner Ver- nunft, wovon nichts mich entbinden kann, eine ^rste, eine Grundursache der Dinge: und diese Ursache

DER BIENENKORB. 215

Werden Sie auf Ihrem Wege nie fin- den.

Nie finden? Hab' ich sie nicht schon in dem Gedanken von einem Gott ge- funden ?

Wie.^ Die Ursache von Wirklichkeiten in einem Gedanken? die Quelle von Rea- litäten in einem Namen? in einem Schal- le? — Sie wollen begreifen durch's Un- begreifliche? wollen aufklären diurch Fin- sternisse ?

Wenn das Ideen sincl^ was Sie da sa-

^en, nicht Worte

Eben Worte verwerf' ich ! Nun, so würdigen Sie einen Irrenden Ihier Leitung ! Fuhren Sie mich zu eben der Quelle der Weisheit, aus welcher Sie Selbt mit so tiefen Zügen Gewifsheit schöpften! Ich wiederhole Ihnen: icli Gliche eine erste Ursache der Dinge; ich

2i6 DER BIENENKORB.

bin durch eine Nothwendigkeit meiner Vernunft gezwungen^ dafs ich sie suche; diejenige^ welche ich in dem Gedanker von einer Gottheit glaubte gefunden zu haben, erklären Sie mir für 'l'raum,, für Unwesen, für Nichts. Hoffentlich wer- den Sie doch nun ein Wesen, ein Etwas, eine Realität, an die Stelle setzen?

Wie sonst ? Das erste und einzi- ge Wesen, welches die aufgeklärte Ver- nunft erkennt; die Quelle alles Gedenk- baren, alles Wirklichen, alles, was Hirn' mel und Erde, was Vergangenheit unl Zukunft befassen!

Nun? mid diese Quelle wäre nLht Gott?

Aberglaube ! Eindrücke von dej er- sten Erziehung her! Diese Quele ist allein die Natur.

So hör' ich und so les' ich j'tzt oft.

DEZI BIENENKORB. 217

Aber wenn ich doch von dieser Na- tur '.

Er wollte sagen : wenn ich doch ei- nen Begriff von ihr hätte! Allein es v»^ir nicht möglich^, zum Wort zu kommen. Die Lunge aes Monsieur Le Grand hat- te nun einmal Athem geschöpft ; vuid sicher war' er der Erste aller Philoso- phen gewesen^ wenn die Lunge und nicht der Kopf den Philosophen machte. Er setzte es als die erste ^ evidenteste^ un- umstöfslichste Wahrheit fest : dafs Alles in der Natm^ seinen Grund habe, imd dafs es irgend etwas Nothwendiges und Ewiges gebe, woraus sich Dasein und Be- schaffenheit jedes Dinges begreifen lasse; er fand dieses Nothwendige, dieses Ewi- ge, in nichts anderm als in den beiden allein reellen Ideen: Materie und Bewe- gung; er liefs aus dieser Materie und Be-

218 DER BIENENKORB.

wegung Alles ^ was im Himmel und auf Erden entstanden war, allein entstanden seyn, spottete der trügerischen Idee ei- nes freien, aus eigner Kraft wirkenden Geistes, weil nichts selbstthätig sei, nichts sich aus seiner eignen Kraft bewege, son- dern AUes seine Bewegung von aulsen erhalte ; er machte zur ersten und einzi- gen Quelle dieser Bewegung, und also aller durch sie entstandenen Dinge, die Natui'; und erklärte dann doch diese Na- tur eben durch den Zusammenflufs der Materie und der mannichf altigen Bewe- gungen der Materie. Er zeigte das Lä- cherliche, das Ungereimte in dem Gedan- ken eines ersten Bewegers, eines unsicht- baren, nach keiner seiner Eigenschaften zu begreifenden, nicht einmal zu denken- den Gottes, schilderte mit schwarzen, fürchterlichen Farben das Elend, welches

1

DER BIENENKORB. 219

Aberglaube und Pfaffenbetrug über die Erde gebracht *) ; und lief diesen engen^ armseligen Kreis von Ideen so oft,, mit so mannichfaltigen Wendungen^ wieder durchs dafs Herr "vojt Bertheim alle Lust ihn zu widerlegen verlor^ und nur auf Mittel sann wie er sich losreifsen könn- te. Er fand das Genie des Monsieur Le Grand zu bewimderns würdige, als dafs er's wagen dürfte^ sich mit ihm einzulas- sen; er begriff nicht^ wie so viel Tiefsinn sich mit so viel Wohlredenheit vereini- gen liefse^ und bat um Zeit, alles das Schöne und Grofse, was er gehört hätte, zu fassen und zu durchdenken. Monsieur Le Grand;, ohne den mindesten Ai^gwohn von Ironie, die ihm für einen Deutschen eine viel zu kühne Figur schien, schmei- chelte sich mit der Ehre, Herrn von *) Man sehe das Systdnie de la Nature.

220 DER BIENENKORB.

Bertheiin noch öfter zu unterhalten; und die atheistische Declamation hatte ein Ende.

Die Scene dieser Unterredung war ein G-arten auf dem Landgute der Marquise 'von Vaillac ^ einer erklärten Gönnerinn und Beschützerinn des Monsieur Le Grand, den sie, als einen vortreflichen Kopf, zu allen ihren Soupers und Landpartieen zog. Die gute Dame war nicht mehr jung ge- nug für die Liebe, und noch nicht alt genug für die Andacht : sie hatte sich, um in der Zwischenzeit glänzen zu kön- nen, in die Metaphysik geworfen, sam- melte sich, durch witzigen Spott über Himmel und Hölle, reichen Stoff für die künftige Bufse, und arbeitete jetzt mit an der Bekehrung des jungen Deutschen, um dessen vortheilhaftes Aulsere ihr es wehe that^ das Innere noch so verfinstert 7n Rnden.

DER BIENENKORB. 221

Indem unsre Weltweisen um eine Ecke der hintersten grofsen Allee des Gartens beugten^ fanden sie sich plötzlich vor ei- nem wilden unbebauten Platze^ der mit dem zu gekünstelten, in zu regelmäfsige Form gezwungenen^, Garten einen nicht unangenehmen Absatz machte. Sie tra- ten hinaus^, und stajiden hier bald vor einer Reihe Bienenkörbe stille^ deren kleine Bewohner die Nahnmg/ die ihnen der Garten so reichlich darbot^ mit em- sigem Fleifs in die Zellen '.rügen.

Wie, im endlich viel angenehmer^ fing Herr von Bertheim an^ ist doch der An- blick des Lebens^ als aller, auch der rei- zendsten^ leblosen Schönheit! Wie weit mehr^ als alle die Gänge und Blumen- beete des Gartens^ den wir verlassen ha- ben^ ergötzt mich die Betrachtung dieser glücklichen Bürger eines so ordnungs-

222 DER BIENENKORB.

vollen^ so freien^ so ruhigen kleinen Sr.aats !

Und der Anblick ihres Fleifses, ihrer Geschäftigkeit, setzte Monsieur Le Grand sehr richtig hinzu: denn sehen Sie^ wie das unablässig kommt und geht; wie das eilt und wimmelt; wie das keinen Augen- blick rastet !

Ja wohl! Und vollends erst der Zweck dieses Fleifses ! die Auferziehung einer hpffnungsvollen Nachwelt! die Ernährung der kleinen künftigen Burger !

Die denn doch aber nicht Haupt-, nicht einziger Zweck ist.

Ich weifs. Und wenn auch nicht ein- ziger, da freilich diese Arbeiter auch für das eigne künftige Bedürfnifs sammeln; so ist sie doch immer Mitzweck : und Jungenpflege , wo ich sie in der Natur nur gewahr werde^ ist mir yberall so an-

DER BIENENKORB. 225

ziehend, so rührend! Jedes, auch das verächtlichste Thier, sobald es mir als aufmerksame liebende Mutter erscheint, ist mir gleich so achtungswürdig, so un- verletzlich, so heilig!

Aber, mein Herr dafs Sie von Jun- genpflege sprechen, das ist schon recht; allein Sie sprechen nun auch von Müt- tern. Sie sollten noch nie gehört ha- ben — ? indem er einhielt.

Noch nie gehört haben? Was? Es läfst sich nicht sagen, mit welchem grofsen Auge und welchem Blick voll Er- staunens Monsieur Le Grand zurück trat. Dafs man unfähig seyn könne, eine et- was verwickelte Kette abstracter tiefsin- niger Wahrheiten zu fassen, begriff er; denn nur zu oft war ihm die grofsmüthi- ge Absicht, Andre bis zu sich selbst zu erheben, verunglückt: aber eine so tiefe

224 ^^^^ BIEJNENKOIIB,

Unwissenheit^ als Herr von Bertheim in der gemeinsten Naturgeschichte zu ver- rathen scl:)ien^ war ihm bis itzt nicht vor- pfekommen. Dennoch befand es sich bei der Nachfrage nicht anders ; Herr von B^rtheim;, so viel Bienenzucht er auf sei- nen eignen Gütern trieb, hörte jetzt zum erstenmale in seinem Leben, dafs alle die kleinen Fliegen, die er so fleifsig ar- beiten sähe, ohne Geschlecht und ohne Zeugungskraft wären ; er fand es zwar unglaublich und wider alle Analogie der Natur ; allein er niufst' es endlich für Wahrheit nehmen, da Monsieur Le Grand ihm auf Ehre versicherte, dafs es so wäre. Gestehn Sie indessen^ fing er nach mehrern Ausdrücken seines gröfsten Er- staunens an, dafs die Sache nicht wenig sonderbar ist. Denn die hier arbeiten- den Bienen sind doch wohl nimmerniehr

so

DER BIENENKORB. 225

so alt^ als die Welt? sind doch wohl auch^ wie alle andi'en irdischen Wesen, sterblich? Gleichwohl^ wenn sie ohne Zeugungskraft sind

Nun?

Wie soll ich da immer und ewig ih- ren Ursprung begreifen? Woher^ soll ich denken^ dafs nach dem Tode der alten Schwärme die neuen kommen?

Woher ? sagte Monsieur Le Grand^ und konnte unmöglich ein kleines spöt- tisches Lächeln lassen. Sind denn die hier sichtbaren arbeitenden Bienen die einzigen in der Natiu: ? Müssen denn nothwendig alle Bienen ausfliegen imd Honig machen ? Lassen Sie Sich sa- gen^ mein Herr! indem er in selbst- zufriedner Stellung^ mit ausgestrecktem Finger und weit gesperrten Füfsen, vor ihn hintrat Dort innerhalb dieses Kor-

Engnis Philosoph, I. j^

22(i DER BIENENKORB.

bes y und so innerhalb jedes andern^ wohnt eine kleine Königinn^ die von ih- rem männlichen Serail^ wie ein Sultan von seinem weiblichen^ umgeben^ in gnnz eigentlichem Sinne das ist^ was sich uns- re Königinnen nur nennen : Landesmut- ter; eine Gottheit^ an deren Dasein die- ses ganze System^ diese ganze kleine Welt hängt, imd die in ihrer stolzen se- ligen Unthätigkeit

Eine Gottheit? fiel ihm Herr von Bert- heim ins Wort, und schlug, nach einem kleinen flüchtigen Lächeln, den Blick wie beschämt zur Erde nieder.

O, Sie verstehen mich, hoff ich. Ei- ne Gottheit, wie eine Königiim: nur der Ähnlichkeit wegen! nm- weil diese innre verborgne Biene die erste Person ihres Staats ist; weil sie allein ihn zusammen- hält; weil ohne sie sich alles zerstreuen^ ajles verlieren wurde.

DER BIENENKORB. 227

Ja dann wenn Sie Sich so erklä- ren — Aber nach Ihrer Beschreibuno^ von

o

dieser Biene, von dieser innern ver-borg- nen Biene, wie Sie sie nennen, mufs sie wohl auch eine ganz andi'e Beschaffen- heit, eine ganz andre Natur haben, als die bisher mir bekannten Bienen?

Wenigstens ist sie gröfser, hat einen andern Bau, eine andre Lebensart^ andre Instincte.

Dafs ich also noch gar keinen Begriff von ihr habe? dafs sie für mich im Grun- de so viel wie nichts ist?

So viel wie Nichts? Ist denn gleich Alles nichts, wovon Sie nicht den hellen, den vollen Begriff der Anschauung ha- ben? Alufs denn Alles was für Sie etwas seyn soll, mit Augen können gesehn oder mit Händen gegriffen werden ? Ein- mal sind doch diese Bienen in der Na-

238 DER BIIlNENKORB.

tur; Sie sehen sie, hören sie; Sie dürf- ten sie nur reizen^ um auch ihren Sta- chel zu fühlen: und so denk' ich wenn diese Wesen nicht aus dem Nichts haben hervorspringen sollen ich denke ;, Sie werden mir meine Mutterbiene schon müssen gelten lassen.

Verzeihn Sie ! Ich hätte doch Lust^, sie zu läugnen.

Wie ! sie zu läugnen ? Wemi Sie mir gleichwohl eingestehen, dafs diese sichtbaren^ arbeitenden Bienen ohne Ge- schlecht sind?

Wenn ich dieses auch eingestehe. Das thut liier nichts.

Thut hier nichts ? Nun beim Him- mel! — imd er lachte^ dafs die Thränen ihm aus den Augen liefen Sie sind von einer Naivetät zum Erstaimeil. Wie in aller Welt wollen Sie denn nun den

DER BIENENKORB,

239

Ursprung der Bienen begreifen? Wo glau- ben Sie, dafs die neuen Schwärme her- kommen sollen? Oder sind Sie etwa schon wieder in Ihrem Schöpfungssystem? haben Sie schon wieder Ihre erste Grund- quelle der Wesen im Sinne ?

O Monsieur Le Grand! mit einer Miene, als ob er im Ernst empfindlich wäre ein Mann, wie Sie^ könnte spot- ten, wo er Gelegenheit zu belehren hät- te? Ich bin ja einmal Ihr Schüler.

Doch, Sie wollten auch v/ohl nicht spot- ten, sondern nur meinen Scharfsinn wek- ken. Sie wollten versuchen, ob ich aus den Principien, die Sie mir so grofsmü- thig mitgetheilt , das Räthsel nicht von selbst würde lösen können. Und wirk- lich — je mehr ich der Aufgabe nach- sinne es ist mir, als ob ich schon

einen Schimmer von etwas sehr Schönem^, sehr Bündigem sähe.

23© DER BIENENKORB.

Worauf ich unendlich neugierig bin; ich versichere Sie.

Wenigstens ist es ganz nach Ihi^em eignen Muster.

Schön! Um so lieber werde ich's mir gefallen lassen.

Vielleicht. Doch uiu^ als Anfänger im Denken^ nicht etwa Fehler zu ma- chen: erlauben Sie^ dafs ich mein Muster noch einmal vor mir aufstelle und Ihr ganzes Räsonnement wiederhole ! Be» haupteten Sie nicht als denkender Atheist^ der sich von den Vorurtheilen der Erzie- hung losgerissen^ dafs die Idee einer un- sichtbaren^ verborgnen^ nach keiner ihrer Eigenschaften begriffenen Gottheit eine hirnlose Idee^ und dafs es der wahnsin- nigste aller Einfälle sei^ durch so eine Gottheit die Entstehung einer Welt zu erklären?

DER BIENENKORB. ^31

Nun ja! Und die Anwendung?

Behaupteten Sie nicht ferner als gründ- licher Materialist _, der sich durch keine Schattenbilder der Einbildung täuschen läfst_, dafs die Idee eines sich selbst be- stimmenden,, aus eigner Kraft handelnden Wesens thöricht sei, und dafs, eigentlich zu reden, alle Bestimmung, alle Bewe- gung von aufsen komme?

Das behauptete ich; allerdings!

Wohl! Sagten Sie nicht, dafs alle Dinge nur dmxh Bewegung der Materie entstanden wären? und müssen Sie also, wenn alle Bewegimg von aufsen kommt, nicht zugeben^ dafs bei keinem Dinge der Grund seines Daseins und seiner Einrich- tung in ihm selbst liege?

Freilich! Haben Sie Zweifel dagegen?

Ich würde sie anführen. Heifst Ih- nen das: Kein Ding hat den Grund sei-

23'i DER BIENENKORB.

ner Entstehung und Einrichtung in sich selbst;, etwas anders^ als: Der Griuid sei- ner Entstehung und Einrichtung, insofern er in ihm selbst liegt, ist nichts?

Wenn Sie's so lieber hören Was liegt am Ausdruck^ mein Herr?

Dann und wann viel. Behaupteten Sie nicht ^ dafs die Natur allein die ge- suchte, noth wendige, ewige Ursache, die einzige Quelle der Bewegung sei, die Al- les wirke, hervorbringe, bilde?

Sehr richtig !

Und erklärten Sie nicht diese Natur duixh den Zusammenilufs, die Summe, die Verbindimg aller Dinge und aller Be- wegungen, deren abei» keine ihren Ur spnmg in den einzelnen Dingen selbst habe, sondern nm: in der Kette des Gan- zen ?

Wiederum richtig! Aber ich sehe

DER BIENENKORB. 255

nichts wo Sie mit diesen Fragen hinaus wollen?

Dahinaus^ wo ich schon bin. Denn nur des grofsen^ Ihrem Systeme so eig- nen _, mir noch so neuen Grundsatzes wollt' ich gewifs sejn: dafs unzählig viel Nichtgrunde in der Verbindung Grund, unzählig viele Nichtbewegungen in der Summe Bewegung geben, und dafs also Nichts , zu Nichts hinzugethan , Etwas werde. Mit diesem Axiom gerüstet, geh' ich nun muthig an meine Aufgabe, und bin gewifs, sie zu lösen. Meine Ge- dankenfolge ist diese: Ich sehe hi^er Bie- nen arbeiten , die ohne Zeugungskraft sind; ich spüre Eindrücke von ihnen auf inein Gesicht, mein Gehör, meinen Gau- men, auch, wenn ich sie reize, auf uiein Gefühl: ich kann ihr Dasein nicht läug- nen. Gleichwohl begreife ich auch, dafs

234 ^^^ BIENENKORB.

sie den Grund ihrer Entstehung aufs er sich haben; dals sie nicht von sich selbst sind^ nicht ewig. Wo soll ich denn aber sonst ihren Ursprung suchen? In andern ihnen ähnlichen Bienen? Denen fehlt, so gut wie ihnen selbst, die erzeugende Kraft. Also etwa in einer Mutterbie- jie, die eher als sie und von ihnen ver- schiedner Natur sei? Aber wo wäre denn die ? Und was sollte ich mir für ei- nen Begriff von ihrer Beschaffenheit ma chen? Nein, das wäre sehr thöricht, wenn ich nach leeren Unwesen haschte, und Wirklichkeiten durch Namen, durch Schall erklärte! Besser, ich fasse die sämmtlichen Bienen, die hier und anders- wo arbeiten, in den allgemeinen Begriff: Bienen -All; ihre sämmtlichen Zeugimgs- kräfle in den allgemeinen Begriff : Bie- nen-Natur. Nun ist zwar freilich, ein-

DER BIENENKORB. 235

zeln genommen^ jede dieser Zeugiings- kräfte^ ein blofses Unding, ein Nichts ; aber wenn gleich! Unendlich viel Nichts, hab' ich gelernt, giebt in der Summe all- wirkendes Etwas; und so werden unzäh^ lig viel Unmöglichkeiten zu zeugen, in Einen Begriff verbunden, zu Möglichkeit, zu mehr als Möglichkeit werden, zu wirk- lich zeugender Kraft. So also, durch ei- ^ne aus Nichts zusammengeflossene zeu- gende Kraft, kamen diese Bienen zum Vorschein; so entstand, was den Grund seines Daseins nicht in sich selbst, nicht in Dingen seiner eigenen Art haben konn- te , und ihn doch auch in nichts Ver- schiedenem hatte. Nun, Monsieur

Le Grand ? Sehen Sie, dafs ich Ihre Schlulskette gefafst habe, und dafs ich ohne Mutterbiene davon komme ? dafs ich dieses verborgene, ungesehene, so

236 DER BIENENKORB.

wenig von mir begriffene Wesen nicht brauche ? dafs ich mich nm^ lächerlich würde gemacht haben , wenn ich mich so leicht hätte fangen lassen ? Oder fmden Sie etwa meine Erklärung nicht genugthuend? nicht für den gemeinsten Verstand evident?

O ausnehmend genugthuend, ausneh- mend evident! sagte Monsieur Le Grand, und zuckte voll Bedaurens die Achseln. Theilen Sie Ihre Ideen dem Publicum mit! Es wäre Jammer, wenn sie verloren gingen.

Wenn Sie so meinen

Ich versichere Ihnen: Sie werden da- von Ehre haben, alle ersinnliche Ehre! Die ich demjenigen zui'ückgeben wer- de, dem sie gebührt. Mit diesem küh- len Tone verlop sich die Unterredung, und beide gingen nun schweigend neben einander her an die Tafek

DER BIENENKORB. 2'^

Monsieur Le Grand konnte die Zeit nicht erwarten ;, wo er mit der Marquis e und der übrigen Gesellschaft allein wäre^ um ihnen von dem Vorgefallnen Bericht zu geben. Doch versteht sich^ dais er alles verschwieg, was seinem System oder ihm selbst zum Nachtheil gereichte. So eine Unwissenheit, und so eine Al- bernheit, wie die: durch lauter zeugungs- unfähige Wesen Zeugung erklären zu wol- len, konnte nicht fehlen, Gelächter, Ver- achtung, Mitleiden, Spott, eins um's An- dere zu erwecken. Aber, sagte zukizt die Marquise : gestehen Sie mir, meine Herren, dafs eine so ungeheure Stupidi- tät doch nirgend als jenseit des B.heins erhört ist. Demi hier in Frankreich, dem Himmel sei Dank ! sind wir doch eine ganz andere Menschenart ; haben doch ganz anders organisirte Gehirne. Ja

238 DER BIENENKORB.

wohl! ja wohl! riefen Alle; und dann er- hob sich ein lebhafter Streit: ob die Ur- sache dieser Stupidität mehr im Klima, oder im Gouvernement, oder in der Er- ziehung, oder in irgend sonst etwas läge? Indessen, über die Sache selbst war man einig; und Herr von Bertheim, so viel Hoffnung Anfangs die Marquis e von ihm geschöpft hatte, sank auf einmal in eine tiefe Verachtung.

239

SECHZEHNTES STLrCK,

TRAUM DES GALILEI *),

KjTalilei, der sich um die Wissenschaften so unsterblich verdient gemacht hatte^ lebte jetzt in einem ruhigen und ruhm-

") Galilei ward zweimal vor die Inquisition in Rom geladen , weil er das System des Coper- nicus vertheidigte, das der heiligen Schrift ent- gegen schien. Das zweitemal safs er lange gefangen, und in gröfster Ungewilsheit wegen «eines Schicksals ; endlich gab man ihn unter der Bedingung frei, dafs er nicht aus dera Herzogthume Florenz weichen sollte. Seine wichtigsten astronomischen Entdeckungen, die er theils allein , theils mit Andern zugleich machte , sind diejenigen ,. deren in diesem Traume erwähnt wird. Er lebte nach seiner letzten Gefangenschaft auf seinem Landhause zu Arceiri, verlor sein Gesicht, und genofs in den letzten Jahren bis an seinen Tod der Ge- sellschaft des Viviani, der nachher sein Leben beschrieb , und seinen Namen nie anders als

24o T R A ü M

vollen Alter, zu Arcetri im Florentini- schen. Er war bereits seines edelsten Sinnes beraubt, aber er freute sich den- noch des Frühlings : theils um der wie- derkehrenden Nachtigall und der duften- den Blüthen willen, theils um der leb- haftem Erinnerung willen, die er an ehe- malige Freuden hatte.

Einst, in seinem letzten Frühling, liefs er sich von Viviaiii, seinem jüngsten und dankbarsten Schüler, in das Feld um Ar- cetri führen. Er merkte, dals er sich für

sei-

jiiit dem Zusätze zu unterzeiclinen pflegte: Schüler des Galilei. Mit diesen wenigen An- merkungen wird in dem nachlblgenden Auf- satze liofTeatlicli nichts mehr dunkel «eyn. Umständlichere Nachrichten findet man in MonLucla Histoire des Math^matir/ues , Heu- manns Actis Fhil. , und andern bekannten Büchern. (Man s. vor allen die jetzt er- schienene Lebeusbesclueibung des Galilei von Herrn Jagemann, )

DES GALILEI. 241

seine Kräfte zu weit entfernte, und bat daher im Scherz seinen Führer, ihn nicht über das Gebiet von Florenz zu bringen. Du weifst, sagte er, was ich dem heili- gen Gericht habe geloben müssen. Viviaiii setzte ihn, zum Ausruhen, auf eine kleine Erhebimg des Erdreichs nie- der; und da er hier, den Blumen und Kräutern näher, gleichsam in einer Wol- ke von Wohlgeruch safs, erinnerte er sich der heifsen Sehnsucht nach Freiheit, die ihn einst zu Pvom, bei Annäherung des Frühlings, befallen hatte. Er wollte jetzt eben den letzten Tropfen Bitterkeit, der ihm noch übrig war, gegen seine grausamen Verfolger ausschütten, als er schnell wieder einhielt, und sich selbst mit den Worten bestrafte : Der Geist des Copernicus nixjgte zürjie?i.

Viviani, der noch von dem Trauai

Engels Phi/osoph, T. l(^

^242 TRAUM

nicht wufste^ auf den sich Galilei bezog, bat ihn um Erläuterung dieser Worte. Aber der Greis^ dem der Abend zu kühl und für seine kranken Nerven zu feucht ward^ wollte erst zurückgeführt seyn^ eh' er sie gäbe.

Du weifst^ fing er dann nach einer kurzen Erholung an^ wie hart mein Schick- sal in Rom war^ und wie lange sich mei- ne Befreiung verzögerte. Als ich fand, dafs auch die kräftigste Fürsprache mei- ner Beschützer, der Medici, und selbst der Widerruf, zu dem ich mich herab- liefs, noch ohne Wirkung blieben, warf ich mich einst, voll feindseliger Betrach- tungen über mein Schicksal und voll inn- rer Empörung gegen die Vorsehung, auf mein Lager nieder. So weit du nur denken kannst, rief ich aus, wie untadel- haft ist dein Leben gewesen I Wie müh-

DES GALILEI. 243

sam bist du , im Eifer für deinen Be- ruf^ die Irrgänge einer falschen Weisheit durchwandert, um das Licht zu suchen, das du nicht finden konntest ! Wie hast du alle Kraft deiner Seele dran gesetzt, um hindurch zur Wahrheit zu brechen, und sie alle vor dir zu Boden zu käm- pfen, die verjährten mächtigen Vorur- theile, die dir den Weg vertraten I Wie karg gegen dich selbst hast du oft die Tafel geflohn, nach der dich gelüstete, und den Becher den du ausleeren woll- test, von deinen Lippen gezogen, um nicht träge zu den Arbeiten des Geistes zu werden! Wie hast du mit den Stun- den des Schlafs gedarbt, um sie der Weis- heit zu schenken! Wie oft, wenn alles um dich her in sorgloser Ruhe lag und den ermüdeten Leib zu neuen Wollüsten stärkte; wie oft hast du vor Frost gezit-

:a44 TRAUM

tert^ um die Wunder des Firmaments zu betrachten i oder in trüben umwölkten Nächten beim Schimmer der Lampe ge- wacht, um die Ehre der Gottheit zu ver- kündigen tmd die Welt zu erleuchten! Elender! Und was ist nun die Frucht dei- ner Arbeit? Was für Gewinn hast du nun für alle Verherrlichung deines Schöpfers und alle Aufklärung der Menschheit? Dafs der Gram über dein Schicksal die Säfte aus deinen Augen trocknet ; dafs sie dir täglich mehr absterben_, diese treu- sten Gehülfen der Seele; dafs nun bald diese Thränen, die du nicht halten kannst^ ihr dürftiges Licht auf ewig vertilgen werden !

So sprach ich zu mir selbst, Viviani, und dann warf ich einen Blick voll Neids auf meine Verfolger. Diese Unwürdi- gen^ rief ich, die in geh eimnifsr eiche For-

DES GALILEI. »45

mein ihren Aberwitz und in ehrwürdiges Gewand ihre Laster hüllen, die zur schnö- den Ruhe für ihre Trägheit sich mensch- liche Lügen zu Aussprüchen Gottes hei- ligten, und den Weisen, der die Fackel der Wahrheit empor hält, wüthend zu Boden schlagen, dafs nicht sein Licht sie in ihrem wollüstigen Schlummer störe; diese Niederträchtigen^ die nur thätig für ihre Lüste und das Verderben der Welt sind: wie lachen sie, in ihren Pallästen, des Kummers! wie geniefsen sie, in un- aufhörlichem Taumel, des iTebens ! wie haben sie dem Verdienste alles geraubt; auch das heiligste seiner Güter, die Ehre! wie stürzt vor ihnen andächtig das Volk hin, das sie um die Frucht seiner Acker betrügen, und sich Freudenmahle von dem Fett seiner Heerden imd dem Most sei- ner Trauben bereiten I Und du, Vn-

246 TRAUM

glücklicher ! der du nur Gott und dei- nem Berufe lebtest; der du nie in dei- ner Seele eine Leidenschaft aufkommen liefsest^ als die reinste luid heiligste, für die Wahrheit; der du, ein besserer Prie- ster Gottes, seine Wunder im Weltsy- stem, seine Wunder im Wurm offenbar- test: mufst du jetzt auch das Einzige mis- sen, wornach du schmachtest? das Einzi- ge, was selbst den Thieren des Waldes und den Vögeln des Himmels gegeben ist— Freiheit? Welches Auge wacht über die Schicksale der Menschen? Welche ge- rechte unparteiische Hand theilt die Gü- ter des Lebens aus ? Den Unwürdigen lälst sie alles an sich reifsen; dem Wür-, digen alles entziehen!

Ich klagte fort, bis ich einschlief; und alsbald kam es mir vor, als ob ein ehr- würdiger Greis an mein Lager träte. Er

DES GALILEI. 247

stand, und betraclitete mich mit still- schweigendem Wohlgefallen^ indefs mein Auge voll Verwundrung auf seiner den- kenden Stirne und den silbernen Locken seines Haupthaars ruhte. Galilei! sag- te er endlich: was du jetzt leidest_, das leidest du um Wahrheiten^ die ich dich lehrte ; und eben der Aberglaube^ der dich verfolgt, wurde auch mich verfol- gen, hätte nicht der Tod mich in jene ewige Freiheit gerettet. Du bist Co- pemicusl rief ich, und schlofs ihn, noch eh' er mir antworten konnte, in meine Arme. O sie sind suis, Viviani, die Verwandtschaften des Bluts, die schon selbst die Natm- stiftet ; aber wie viel süfser noch sind Verwandtschaften der Seele ! Wie viel th eurer und inniger, als selbst die Bande der Bruderliebe, sind die Bande der Wahrheit! Mit wie seli-

248 TRAUM

gen Vorgefühlen des erweiterten Wir- kungskreis es ;, der erhöheten Seelenkraft, der freien Mittheilung aller Schätze der Erkenntnifs, eilt man dem Freund entge- gen, der an der Hand der Weisheit her- eintritt !

Siehe ! sprach nach erAviederter Um- armung der Greis : ich habe diese Hülle zurückgenommen, die mich ehemals ein- schlofs, und will dir schon itzt seyn, was ich dir künftig seyn werde dein Füh- rer. Denn dort, wo der entfesselte Geist in rastloser Thätigkeit unermüdet fort- wirkt; dort ist die Huhe nur Tausch der Arbeit; eignes Forschen in den Tiefen der Gottheit wechselt nur mit dem Un- terricht, den wir den spätem Ankömm- lingen der Erde geben ; und der Erste, der einst deine Seele in die Erkenntnifs des Unendlichen leitet, bin IcJl. Er

DES GALILEI. 249

führte mich bei der Hand zu einer nie- dergesunkenen Wolke, und wir nahmen unsern Fing in die unermefsliche Weite des Himmels. Ich sah hier den Mond^, Viviani, mit seinen Anhöhen und Thä- lern; ich sah die Gestirne der Milchstra- fse, der Plejaden, und des Orion; ich sah die Flecken der Sonne, und die Monden des Jupiter: alles, was ich hienieden zu- erst sah, das sah ich dort besser mit un- bewaffnetem Auge, und w^andelte am Him- mel, voll Entzückens über mich selbst, unter meinen Entdeckungen, wie auf Er- den ein Menschenfreund unter seinen Wohlthaten wandelt. Jede hier durchar- beitete müh volle Stunde ward dort frucht- bar an Glückseligkeit, an einer Glückse- ligkeit, die der nie fühlen kann, der leer an Erkenntnifs in jene Welt tritt. Und darum will ich nie, Viviani, auch nicht

250 T R A U M

in diesem zitternden Alter, aufhören nach Wahrheit zu forschen: denn wer sie hier suchte, dem blüht dort Freude hervor, wo er nur hinblickt; aus jeder bestätig- ten Einsicht, aus jedem vernichteten Zwei- fel, aus jedem enthüllten Geheimnifs, aus jedem verschwindenden Irrthum. Siehe! ich fühlte dies alles in jenen Augenblik- ken der Wonne; aber auch nur dies Ein- zige, dqfs ich es fühlte, ist mir geblie- ben; denn meine zu überhäufte Seele ver- lor jede einzelne Glückseligkeit in dem Meer ihrer aller.

Indem ich so sah und staunte, und mich in Dessen Gröfse verlor, der dies alles voll allmächtiger Weisheit schuf, u^d diu-ch seine ewigwirksame Liebe trägt und erhält, erhob mich das Gespräch meines Führers zu noch höhern Begrif- fen. — Nicht die Gränzen deiner Sinne,

DES GALILEI. 251

sagte er^ sind auch die Gränzen des Welt-. alls^ obgleich aus undenkliclien Fernen ein Heer von Sonnen zu dir herQber- schiininert: noch viele tausende leuchten, deinem Blick unbemerkbar, im endlosen Äther; und jede Sonne, wie jede sie um- kreisende Sphäre, ist mit empfindenden Wesen, ist mit denkenden Seelen bevöl- kert. Wo mu: Bahnen möglich waren, da rollen Weltkörper, und wo niu: We- sen sich glücklich fühlen konnten, da v/al- len Wesen ! Nicht Eine Spanne blieb in der ganzen Unermefslichkeit des Unend- lichen, wo der sparsame Schöpfer nicht Leben hinschuf, oder dienstbaren Stoff für das Leben ; und diurch diese ganze zahllose Mannichfaltigkeit von Wesen hin- durch herrscht, bis zum kleinsten Atom herab, imverbrächliche Ordnung: ewige Gesetze stimmen Alles von Himmel zu

232 TRAUM

Himmel, und von Sonne zu Sonne, unä von Erde zu Erde in entzückende Har- monie. Unergründlich ist für den un- sterblichen Weisen in die Ewigkeit aller Ewigkeiten der Stoff zur Betrachtung, und im erschöpf lieh der Quell seiner Seligkei- ten. — Zwar, was sag' ich dir das schon itzt, Galilei? Denn diese Seligkeiten fafst doch ein Geist nicht, der, noch gefesselt an einen trägen Gefährten, in seiner Ar- beit nicht weiter kann, als der Gefährte init ausdauert, und sich schon zum Stau- be zurückgerissen fühlt, wenn er kaum anfing sich zu erheben!

Er m.ag sie nicht fassen, rief ich, die- se Seligkeiten, nach ihrer ganzen göttli- chen Fülle ; aber gewifs, er kennt sie, Copernicus, nach ihrer Natur, ihrem We- sen.. Denn welche Freuden schafft nicht, schon in diesem irdischen Leben, die

DES GALILEI. ;253

Weisheit ! Welche Wonne fühlt nichts schon in diesen sterblichen Gliedern_, ein Geist, wenn es nnn anfängt in der un- gewissen Dämmerung seiner Begriffe zu tagen, imd sich immer weiter mid wei- ter der holde Schimmer verbreitet, bis endlich das volle Licht der Erkenntnifs aufgeht, das dem entzückten Auge Ge- genden zeigt, voll unendlicher Schönheit! Erinnre dich, der du selbst so tief In die Geheimnisse Gottes schautest und den Plan seiner Schöpfung enthrUltest ; erinn- re dich jenes Augenblicks, als der erste kühne Gedanke in. dir- heraufstieg, und sich freudig alle Kräfte deiner Seele hin- zudrängten, ihn zu fassen, zu bilden, zu ordnen ; erinnre dich, als nun alles in heri'- licher Übereinstimmung vollendet stand^ mit wie trunkner Liebe du noch einmal das schöne Werk deiner Seele überschau-

254 .TRAUM

test^ und deine Ähnlichkeit mit dem Un- endlichen fühltest^ dem du nachdenken konntest! O ja, mein Führer! Auch schon hienieden ist die Weisheit an himm- lischen Freuden reich ; und wäre sie's nicht: warum sahn wir aus ihrem Schoo- fse so ruhig allen Eitelkeiten der Welt

zu?

Die Wolke, die uns trug, war zurück zur Erde gesunken^ und liefs sich jetzt, wie es mir däuchte, auf einen der Hügel vor Rom nieder. Die Hauptstadt der Welt lag vor uns; aber voll tiefer Ver- achtung streckt' ich aus meiner Höhe die Hand hin, und sprach: Sie mögen sich grofs dünken, die stolzen Bewohner die- ser, Palläste ! weil Purpur ihre Glieder umhüllt, und Gold und Silber auf ihren Tafeln das Kostbarste beut, was Europa und Indien tragen! Aber, wie der Adler

DES GALILEI. 255

auf die Raujoe im Seidengespinnst ^ so sieht auf diese Blöden der Weise herab ; denn sie sind Gefangne an ihrer Seele^ die über das Blatt nicht hinaus können, an dem sie kleben: indefs der freie Wei- se auf seine Höhen tritt und die Welt überschaut, oder sich auf Flügeln der Be- trachtung hinauf zu Gott schwingt, und unter Sternen einhergeht.

Da ich so sprach, Viviani, da umwölk- te sich mit feierlichem Ernst die Stirn meines Führers ; sein brüderlicher Arm sank von meinen Schultern herab, und sein Auge schofs einen drohenden Blick bis ins Innerste meiner Seele. Unwür- diger! rief er: so hast du sie schon auf Erden gefühlt, jene Freuden des Himmels? hast deinen Namen herrlich gemacht vor den Weisen der Nationen? hast sie alle erhöht, deine Seelenkräfte, dafs sie bald

356 TRAUM

freier und mächtiger fortwirken im Er- kenntnifs der Wahrheit , eine Ewigkeit durch? Und nun dich Gott würdigt^ Ver- folgiuig zu leiden, nun dir deine Weis- heit Verdienst werden soll, und dein Herz sich mit Tugenden schmücken, wie dein Geist mit Erkenntnifs: nun ist es ohne Spur vertilgt , das Gedächtnifs des Gu- ten, und deine Seele empöret sich wider Gott ? Hier erwacht' ich von mei- nem Traum, sah mich aus aller Herrlich- keit des Himmels in mein ödes Gefäng- nifs zurück geworfen, vmd überschwemm- te mit einer Fluth von Thränen mein Lager. Dann erhob ich, mitten durch die Schatten der Nacht, mein Auge, und sprach: O Gott voll Liebe! Hat das Nichts, das durch dich Etwas ward, deine Wege getadelt? Hat der Staub, dem du Seele gabst, hat er auf die Rechnimg seiner

Veri«

DES GALILEI. 257

Verdienste geschrieben^ was Geschenke deiner Erbarmung waren? Hat der Unr würdige^ den da in deinem Busen^ an deinem Herzen nährtest, dem du so man- chen Tropfen Seligkeit reichtest aus dei- nem eigenen Becher; hat er deiner Gna- den und seiner Vorzuge vergessen ? Schlage sein Auge mit Blindheit! lafs ihn nie wieder die Stimme der Freundschaft hören! lafs ihn grau werden im Kerker! Mit willigem Geist soll er's tragen, dank- bar gegen die Erinnerung seiner genofs- nen Freuden, und selig in Erwartung der Zukunft !

Es war meine ganze Seele, Viviani, die ich in diesem Gebete hingofs ; aber nicht das Murren des Unzufriednen, nur die willige Ergebung des Dankbaren, hat- te der Gott vernommen, der mich zu so viel Seligkeit schuf! Denn siehe! ich lebe

Enfrels Philoso f>h, I. j'j

v58 TRAUM DES GALILEI.

hier frei zu Arcetri^ und nur heute noch hat mich mein Freund unter die Blumen des Frühlings geführt.

Er tappte nach der Hand seines Schü- lers^ um sie dankbar zu drücken; aber Viviani ergriff die seinige^ und führte sie ehrerbietig att seine Lippen.

2-59

SIEBZEHNTES STÜCK.

DAS WEIHNACHTGESCHENK.

Ich nahm von der Toilette eines jungen Frauenzimmers ein Buch auf, imd begrifF nicht warum sie es so eilfertig wegrifs. Sie erröthete über den Yerdacht_, den sie zu erwecken schien ^ und las mir^ zu ih- rer Pvechtfertigung, die ersten Seiten vor^ die von der Hand ihres Vaters waren. Ich bat sie um eine Abschrift^ vmd sie war gütig genüge mir eine zu geben. Hier ist sie:

■>^So ein unbedeutendes Geschenk ei^ nige leere Blätter scheinen mögten: so sind doch gewifs an dem heutigen Tage^ an dem selbst der Geiz und die Armuth freigebig werden ; wenige mit so gutem

26o DAS WEIHNACHT-

Herzen gemacht worden ; und vielleicht keines^ das dem Beschenkten so nützlich wäre^ als du dieses dir machen kannst.« wich habe es dir schon mehrmal ge- sagt : Ein wenig Athem oder ein paar Federstriche, die wir für unsre Gedan- ken aufwenden _, so schwer uns auch manchmal beides ankommen mag, wer- den reichlich wieder durch die Deutlich- keit, die Ordnung, und das Leben ein- gebracht, das eben diese Gedanken da- durch erhalten. Es ist seltsam, dafs man von ei4ner so kleinen Ursache so grofse Wirkungen verspricht; aber es ist wahr. Solange der Mensch nicht reden konnte, so sah, hörte, fühlte und schmeckte er blofs ; aber er dachte nicht. Solange der Mensch nicht schreiben konnte, dachte er wenig, und redte schlecht. Die Zun- ge und der Griffel machten endlich den

GESCHENK. 261

Menschen zu dem^ was er werden sollte. Seine Begriffe wurden hell^ indem er sie mitzutheilen suchte ; sie wurden metho- disch^ indem er ihnen eine gewisse Fort- dauer gab^ die sie der Verbesserung und Ausbildung fähig machte. Und dieser Weg_, den das ganze menschliche Ge- schlecht nahm um klüger zu werden^ ist auch immer noch der einzige für den einzelnen Menschen, cc

55 Du^ mein Kind^ hast schon den ei- nen grofsen Schritt zur Weisheit gethan. Du hast Weise reden hören^ oder hast das gelesen, was du von ihnen gewünscht hättest zu hören. Wenn es heutiges Ta- ges kein grofser Ruhm mehr für ein Frauenzimmer ist, dafs es lies't; so ist es noch immer einer, dafs es aus Lehrbe- gierde lies't, um vernünftiger imd besser zu werden. Die Eitelkeil, die sich jetzt

262 DAS WEIHKAGHT-

auf diese Seite gelenkt hat^ vernichtet den Werth des Lesens, indem sie den Endzweck desselben verkehrt, und ver- wandelt die Weisheit in einen blofsen Putz. Hunderte empfinden, indem sie ein Buch lesen, kein Vergnügen stärker, als dafs sie den Augenblick voraussehen, wo sie werden sagen können; ich hab^ es gelesen ! Du, mein Kind, kennst die Absicht des Lesens besser, und es fehlt dir nur noch etwas Muth und Übung, um sie ganz zu erreichen.«

iiUnsre Seele ist ein Maler, der ent- weder Originale nach der Natur, oder Copieen von guten Originalen malt. Jene sind ihre eignen Empfindungen, ihre eig- nen Beobachtimgen und Schlüsse ; diese sind alle die Begriffe, die wir durch Un- terricht und Leetüre erhalten. Gute Mei- ster verfertigen die Copieen nur als Schu-

GESCHENK. 263

len so nennen sie ihre Übungsstücke um ein richtiges Auge und eine feste Hand zu bekommen ; Sclilechte bleiben dabei stehen^ und gründen darauf ihren ganzen Ruhm, a

»Es kommt also alles darauf an^ das was Andre aus ihren Erfahrungen durch eine lange oder duixh eine kurze Reihe von Schlüssen gefolgert haben denn auf Erfahrungen läfst sich doch am Ende alles zurückbringen so anzusehen^ als ob wir es aus unsern eignen gezogen hät- ten. Ehe wir selbst denken, müssen wir erst einem andern nachdenken lernen. Das ist also der zweite Schritt, den du zwar auch schon versucht hast, den du aber nun noch beherzter thun mufst: Wer- de aus einer Leserinn zu einer Schrift- stellerinn! Wenn du liesest, so sondi'e den Gedanken vom Ausdiaicke ab : nimm

a64 E)AS WEIHNACHT-

ihm seinen Putz^ und unterbrich zuwei- len das Vergnügen^ womit bei jedem Menschen die Neugierde das Weiterge- hen verknüpft^ so lange, bis du dir mit ein paar Worten das denken kannst, was der Verfasser vielleicht auf Seiten gesagt hat. Diese paar Worte schreibe nieder; sie sind alsdann dein, so wie der Gedan- ke, den sie ausdrücken. Grolse Bücher können auf diese Art in Blätter verwan- delt werden, die für uns mehr werth sind als die Bücher, und die uns schon der Fähigkeit, selbst etwas Lesenswerthes zu schreiben, einen Schritt naher bringen, cc «Aber nicht lange werden diese Aus- züge blofs abgekürzte fremde Gedanken seyn ; du wirst in kurzem deine eignen in ihnen entwickeln. Die Ideen entzün- den einander, wie die electrischen Fun- ken. Wenn die Seele einmal in Arbeit

GESCHENK. 265

und in Bewegung ist ; wenn sie einmal den Faden des Denkens in der Hand hat: so geht sie geschwinde von der Nachbil- dung fremder begriffe zur Hervorbringung eigner über. Ehe man sich's versieht, kommt aus dem eignen Schatz unsrer Empfindimgen ein Gedanke hervor _, der lür sich selbst zu schwach war emporzu- kommenj jetzt aber^ weil er dem Gedan- ken des Verfassers nahe liegt ^ von die- sem aufgeweckt und gehoben wird. Versuch' es, mein Kind ; denn ich bin bei deinen Fähigkeiten gewifs^ dafs es dir glücken mufs: und ist es dir nur ein- mal geglückt, so bin ich eben so gewifs_, dafs du fortfahren wirst. Das Denken giebt uns ein so reines und ein so leb- haftes Vergnügen, dafs, wer es nur ein- mal in seinem Leben gekostet hat, es nie wieder entbehren kann, «

Chr. Garv0,

266

ACHTZEHNTES STUCK.

DER HABICHT.

«Verdammter Dieb.'cc schrie der hy. pochondrische Tuff, als vor unoern Au- gen ein Habicht auf ein Küchlein herab- schofs und es erwürgte. Sein äufserst ängstlicher Ton machte mich lachen. Es war^ als ob er die diebische Kla.ue an sei- nem eigenen Herzen fühlte.

Freund ! fing ich an^ wenn Sie auf al- les was junge Hühner stiehlt^ so ergrimmt sind^ so mögt' ich wissen, wie Sie Sich Selbst ertragen. Denn wohl bedach t_, sind Sie der schlimmste Habicht im Lande, Tuffy wie man wissen mufs, lebte bei seiner Brunnencur_, wie ein anderer Law oder NeiUori, von nichts als Hühnern.

DER HABICHT. 267

Alles andere Fleisch^ sagte sein Arzt^ wä- re zu schwer^ vmd Gemüse wäi'en zu blä- hend.

Er fand, dafs ich Recht hatte ^ iind ward noch ängstlicher als zuvor. Schlimm genug, sagte er endlich, dafs ich armer schwächlicher Mann ohne Huh- ner nicht leben kann l

Das kann der Habicht auch nicht, mein lieber Tuff. Was Ihnen der Arzt verbeut, das hat ihm selbst die Natur verboten. Ihm bekommt kein Gemüse.

Dieser Grund war zu einleuchtend, und setzte den Habicht zu genau in den eignen Fall unsers Tuff, als dafs er noch hätte weiter können. Er sah sich aus- drücklich nach der Stelle inu, wo der Fang geschehen war, und that dem Räu- ber eine Ehrenerklärung, r— Aber, hng er nun an: die Natur! die Natiur! Und

26S DER HABICHT.

dann rechnete er mir mit einer wun^ derns würdigen Fertigkeit des Gedächt- jiisses ob er gleich alles Gedächtnifs glaubte verloren zu haben eine Men- ge von Raubthieren her^ die er aus alleii Elementen und allen Himmelsstrichen zu- sammen brachte. Ist nicht die Natur, schlofs er endlich _, eine grausame Mut- ter? Zeigt sich nicht ein offenbarer Wi- derspruch in ihren Werken und Anstal- ten?

Ein Widerspruch^ lieber Tuff? Sie bedenken nur nicht ^ was dann folgen würde. Mit Widersprüchen könnte ja die Natur nicht bestehen.

Warum nicht? Sie besteht, wie trotz allen seinen Krankheiten mein Kör- per besteht; und Krankheiten sind ja auch nichts anders, als Widerspruch« in der Maschine.

DER HABICHT. 2G9

Aber Ihr Körper vergeht auch^ indefs die Natur

Der Mann war zu krank_, um mir Recht zu lassen. Er kehrte von einem Wege^ auf dem er kein Fortkommens sah^ plötz- lich zurück^ und Hng von vorn wieder an. Wozu denn nun^ fragte er^ die- ser liebreiche Instinct der Henne ^ ihr Ei zu bebrüten^ das herausgebrütete Küch- lein zu wärmen^ zu füttern^ zu locken^ zu schützen; wenn da oben in seiner Höhe ein gieriger Räuber lauert^ es mit seinen durchdringenden Augen ausspäht_, und auf pfeilschnellen Flügeln her ab schiefst^ es zu erwürgen ? Wenn das nicht Wider* Spruch in der Natur ist!

Nun es sei einer! Ich gebe nach_, lie- ber Tuff. Aber wenn Sie manchmal die unangenehme Empfindung haben _, als ob Sie läuten hörten: wo vermuthen Sie

-#

270 DER HABICHT.

dann> dafs dies Läuten ist? Auf dem Thurme^ oder in Ihrem Kopfe ?

Sonderbar! Es ist freilich in meinem Kopfe.

Und woher^ glauben Sie ^ dafs es kommt ?

Von der Schwäche meiner IVerven ver- muthlich.

Nun also! die Anwendung gemacht! ' Audi jene Widersprüche sind einzig in Ihrem Kopfe ^ und entstehn von der Schwäche Ihrer Vernunft*

Das kann seyn^ sagte Tuff; ich will's glauben. Aber wahrlich^ mein Freund! und er holte aus voller Brust einen Seufzer bei so schwachen Nerven^, wie ich sie habe_, war' es besser^ lieber gar nicht zu leben. Alan wird sein Leben nur durch widrige Empfindungen inne. Und bei so ohnmächtigen Kräften unsrer

DER HABICHT. 271

Vernunft ; war' es da nicht auch besser^ lieber keine zu haben? Man merkt ja kaum dafs man sie hat^ als durch Zwei- fel und Unruhen.

Wie spricht denn aber Ihr Arzt_, wenn Sie ihm Ihre Zufälle klagen ? /

Muth! Muth! spricht er imiuer.

Sehr recht! Denn auf Muth kommt's nur an. Mit etwas mehr Vertrauen zu Ihren Kräften^ und einem etwas fieifsi- gern Gebrauch dieser Kräfte, wurden Sie bald ai.icht zu einem völlig gesunden^ aber doch zu einem ganz erträglichen Leben kommen. Mit der Vernunft, lie- ber Tuff, ist's das Gleiche. Sie darf ih- ren Ki'äften nur trauen^ und darf sie nur unermudet gebrauchen ; so wird sie ge- wifs nicJit zu einer ganz zweifelfreien, aber doch zu einer ganz beiTihigenden Einsicht kommen. Um mit dem vor-

s

272 DER HABICHT.

habenden Fall einen Versuch zu machen; tragen Sie Ihren Widerspruch einmal vor! Braucht es das noch? Ist es nicht klar^ was ich will? Wenn ich von der Ei- nen Seite die Natur betrachte; o da ist alles so mütterlich^ so weise ^ so gütig! Ich finde die vortrefflichsten Anstalten zur Erhaltung ihrer Geschöpfe^ die sorgsam- ste Verwahrimg der Innern Quellen des Lebens^ die schicklichsten Werkzeuge zum Ausspähen luid zum Ergreifen der Nah- nmg^ unaufhörliche Thätigkeit aller Ele- mente Nahrimg hervorzubringen^ uner- schöpflichreiche Werkstätten der Erzeu- gung^ mächtige Instincte ^ den Müttern und Jimgen zur Erhaltung der Gattung eingeprägt. Aber von der andern Seite? Oj da ist alles wieder so wild^ so fürchterlich^ so tyrannisch ! Ich sehe so viel mördrische, nach Blute lechzende;,

zum

DER HABICHT.

275

ziun Blutvergiefsen gerüstete Thiere; sehe so viel Rachen und Klauen gewaffnet^ so viel Gewebe und Gruben bereitet^ so viel Stachel und Zangen vergiftet: dafs meine ganze Vernunft daran irre wird^ und mein ganzes Herz nicht weilis;, soll es mehr Ver-* gnügen oder mehr Abscheu empfinden.

Versteh' ich Sie, lieber Tuff? Sie wol- len sagen, dafs es die JVatiur fast so arg macht, als der Herr dieses Landcruts. Die Gegend mnher war ihm zu offen, zu öde; erwünschte den Prospect durch ein schattiges Wäldchen zu schliefsen, mafs ein unfruchtbares Stück Land ab , und säte Fichten darauf. Jetzt, da die jungen Bäume pfeilgerade neben einander aufge- schossen sind und den lieblichsten Schat- ten bieten; was thut er? Er schickt Ar* heiter di'über, legt allenthalben eine un- barmherzige Axt an, imd läTst weit über

Eneeh PJiilnsoph , T. l8

^74 I>ER HABICHT.

die Hälfte des Waldes niederhauen. Eben so nun, glauben Sie

Nicht doch! nicht doch! rief Tuff. Je- ner Aushau war nothwendig, selbst zur Erhaltung des Waldes. Wenn alles so in's Wilde hineinwüchse, so würde bald nichts mehr wachsen ; denn Eins würde das Andre ersticken. Wir würden am Ende ein weit kleineres Wäldchen ha- ben,- und dieses Wäldchen weit unvoll- kommner.

Meinen Sie doch.^ Nun, so wäre ja eben dies ein Beweis, dafs oft ein Zweck durch Mittel erreicht wird, die ihm An- fangs durchaus entgegen schienen. Las- sen Sie uns jetzt vor allen Dingen den Zweck der Schöpfung suchen! Worin setzen Sie ihn ? In ihre todten oder in ihre lebendigen Werke?

In die letztern, versteht sich.

DER HABICHT. 275

Also, wenn eben die Erhaltung des Lebens, die Stärke des Lebens, die Fülle des Lebens, jene Aufopfeiimgen nothwen- dig machte; so wäre die Natur völlig ge- rechtfertiget? Nicht? Denn Sie wollen doch so viel Leben, als nur bestehen kann? Und wollen doch dieses Leben so gesund, so blühend, als möglich?

Wie anders? Wenn ich das Leben als Zweck will, so mufs ich auch viel Le- ben wollen, und glückliches Leben.

Gut, lieber Tuff ! Wir bevölkern also alle Himmelsstriche , alle Elemente mit Leben. Wo wir nur irgend ein Nahrungs,- mittel in der leblosen Natur finden, da setzen wir eine Thierart hin, die es ge- ni eise. Nicht wahr?

Allerdings!

Mithin behalten wir alle die Thierar- ten bei, die sich von Gras, von Krau-

2-6 DER HABICHT.

»

tern^ von Wurzeln^ von Hölzern^ von Blu- men^ von Blättern^ von Moos^ allenfalls anch von den überfiüfsigen Säften der andern Thiere nähren. Meinen Sie nicht?

Ohne Zweifel !

Hingegen alle Raubthiere schaffen wir fort; alle blutgierigen Tieger verbannen wir; alle Gruben der Ameislöwen schüt- ten wir zu; alle hinterlistigen S25innewe- ben stäuben wir aus allen Winkeln der Natur rein heraus?

Ganz recht! Rein heraus! rief er freu- dig.

Aber die Habichte^ Tuff? Die lui- gefiederten wenigstens !

Nein^ auch damit fort! lafs sie Gemü- se essen! Auch mit den Iltissen fort! Aus jedem Eie mufs nun ein Küchlein^ und aus jedem Küchlein ein Huhn wer- den. —

DER HABICHT. 277

Recht! Und dann und wann auch ein. Hahn ! Damit wir noch mehr Leben be- kommen^ und glückliches Leben.

IViui ja wohl ! Auch ein Halm. Das versteht sich. O ich fange an^ mich in die Natur ^ wie sie jetzt wird_, zu ver- lieben. Dieses ungestörte Glück aller Ge- schöpfe^ diese holdselige Einti'acht, die- ser tiefe ^ unschuldige, allgemeine Frie- den

Schön! Allerdings ! Aber wir wollen doch mit der Vernunft einmal zusehn, was wir hier mit der Einbildung gemacht haben. War' es Ihnen denn recht, lie- ber Tuff, dafs kein andrer lebendiger Laut in der ganzen Natur erschallte, als Hahnengekräh und Hühnergeschrei ? Denn wenn alle die Hähne der ersten' Generation zum Buhlen und alle die Hüh- ner zum Brüten kommen, so sehen Sie

278 DER HABICHT.

wohl^ dafs schon bei der zehnten dieses eine Geschlecht viele andern verdrängt haben mufs. Oder sähen Sie's lieber, dafs ohne Unterlafs' eine allgemeine Seu- che einbräche, die jede Thierart auf das rechte Verhältnifs zurücksetzte, wobei je- de bestehen könnte?

Warum das? Ich sehe die Nothwen- digkeit nicht. Schränken Sie nur die gar zu grofse Vermehrbarkeit der Thiere ein, und die Sch-wierigkeit ist gehoben.

Gehoben? So, dafs sieben andre ent- stehen. — Denn mit jener Vermehrbar- keit, Freund; w^ie viel Thätigkeit, Ver- gnügen, Geselligkeit hört da auf! Und wenn nun Krankheiten kommen; wenn Revolutionen der leblosen Natur die Ge- schlechter verwüsten: soll es Jahrhunder- te dauren, ehe die Lücke sich wieder ausfüllt ? ehe der Abgang des Lebens und

DER HABICHT. z-jg

.der Glückseligkeit in der Sciiöpfung wie- der ersetzt wird?

Krankheiten? Revolutionen? sagte er nachdenkend.

Sie stocken schon, seh' ich. Doch gesetzt, dafs Sie auch hiewider noch Mit- tel fänden: die Thiere können doch nicht ewig so fortleben? Die Kräfte der Natur müssen sich doch endlich erschöpfen?

Nun ja! erschöpfen freilich; niu- nicht gewaltsam in der besten Blüthe vertilgt werden.

Aber wenn sie sich nun erschöpfen? Wir bekommen da eine unendliche Menge von Leichnamen; denn, wie wir wissen, ist die Natur einer unbegreifli- chen Menge Lebens fähig, luid so viel Leben soll doch da seyn als nur immer bestehen kann. Was fangen wir mit diesen Leichnamen an?

380 PER HABICHT,

Was die Natur damit anfängt! ..-«. Wir fibergeben sie der Verwesung^ lassen die zerstörten organischen Theile sich in ih- re Elemente auflösen^ befruchten damit den entkräfteten Erdboden^ treiben neue Früchte und Nahrungsmittel zur Erlial- tung jeder Nachwelt heraus; und so im Kreisläufe fort !

Wenn nur das nicht Zeit brauchte, mein Freund ! Wenn nur diese Auflösung das Werk eines Augenblicks wäre ! -^ Erinnern Sie Sich^ wie es mis neulich dicht am Fichtenwäldchen erging ? was für schnelle Beine Sie da bekamen ?

O ums Himmels willen! rief Tuff^ in- dem er mit abgewandtem und vor Ekel ganz verzerrtem Gesichte zurücktrat: an was erinnern Sie mich? Wissen Sie, dafs mir das scheusliche Bild noch jetzt den Athem versetzt? da(is ich die ganze Nacht durch

DER HABICHT, 281

Stille! stille davon! Wo ich Sie in*s Erzählen Ihrer Zufälle lasse ^ so ist's um unser Gespräch gethan, und das wäre doch Schade. Sie sehn also nun;, dafs nnsre zu weichherzige Güte Grausamkeit wird ; dafs "war den Thieren die Luft^ die sie einathmeU;, verpesten^ sie tausend un- angenehmen und schmerzhaften Empfin- dungen aussetzen, und ihnen endlich ein frühes Grab bereiten. Sie sehen, daTs wir über dem gar zu ängstlichen Schonen des Lebens zu wirklichen Verschwendern des Lebens werden, und die Welt, die wir zum Paradiese verschönern w^ollten, zu einem Kerker von Calcnta *) ver^ schlimmem. Sehen Sie's nicht, lieber Tuff ? —,

•) Wo die eingesperrten Engländer in ihren eig- nen Dünsten ersticken mufsten. Man ä. Ives Reisen.

282 DER HABICHT,

Nicht so recht ! Sie überschleichen inich_, deucht mir. Ich habe Ihnen nur so viel Leben eingeräumt, als zusammen bestehen könnte. Setzen Sie also gleich Anfangs nicht mehr, als dafs keine Fäul- nifs_, keine Verpestung der Luft zu be- sorgen stehe.

Aber wenn ich das setze können Sie wissen, auf welche geringe Anzahl Sie das Leben nun einschränken.^ Oder ist es nicht blofser Eigensinn , zur Verhütung alles Mordes, die Zahl der Wesen, die sich ihres Daseins freuen und glücklich seyn können, so sehr vermindern zu wol- len .^ : Sterben müssen sie doch, die Thiere ; und wer sagt Ihnen denn, dafs der gewaltsame Tod nicht, eben so wie er der kürzeste ist, auch der leichteste sei ?

Der leichteste? Man stirbt noch leich-

DER HABICHT. 283

ter^ denk' ich, vor Alter_, wo Sterben nur Einschlummern heifst. Und kcmmt's denn nur darauf an, leicht zu sterben? Nicht auch, glücklich zu leben? Werden die Thiere denn nicht zum 'Leben, nur zum Tode geboren?

Aber sie dürfen nicht alle sterben. Das heifst, den Tod der Natur nicht. Wir sind schon einig über den Pimct.

Er stand stille, und überlegte ein we- nig. — Schon einig ? Wir sind's noch nicht! rief er aus. Wie, wenn selbst der Anblick beim Wäldchen mir hier zu statten käme? Wie, wenn die Natur ihre Anstalten wider die Verpestung bereits gemacht hätte?

Die mögt' ich kennen. Die wären?

O erimiern Sie Sich! Jene zahmem Ptaubthiere , die sich aus der Luft, aus den Wäldern, aus dem Staube herzu finr

284 I^ER HABICHT.

den^ die aus den Ruinen der todten Kör per selbst zu Legionen geboren werden^ ^ ihre in Fäulnifs übergehenden Säfte so- gleich wieder in frische verwandeln^ und der Erde kaum andre Befruchtungstheile lassen^ als die reinem^ gesundem, die von ihnen selbst, als lebendigen Thieren, abgetrieben und ausgedunstet werden. Sollten nicht diese Thiere zur Reinigung der Luft, und mithin zur Erhaltung des Lebens vmd der Gesundheit, hinlänglich seyn?

Nein! Denn auch sie werden Leichen. Es ist kein Grund vorhanden, warum wir nur sie von der Begnadigung ausnehmen wollten. Und wenn also auch sie sterben, so kommt ja das Übel, das wir vermeiden wollten, zurück, obgleich frei- lich ein wenig später.

Sei es! Es kommt zurück: aber ver-

DER HABICHT. 285

mindert. D.is Tljier hat bei seinem Le- ben mehr körperliche Theile verzehrt, als es bei seinem Tode zm^iickläfst. Und eben darum, dächt' ich, wenn wir für jene Schwärme andre und wieder an- dre ersännen, und wieder: endlich iviü[s~ ten wir dann so weit kommen, dafs der eigentlichen unmittelbaren Verwesimg nur wenig, ganz wenig bliebe.

Sehr fein! In der That! Nur mögt* ich dann einsehen, warum wir neulich davon liefen? Jene Thiere, die der Ver- pestung vorbeugen sollen, waren doch so zahlreich vorhanden!

Ja! Aber der scheusliche Anblick O nicht doch ! Seyn Sie aufrichtig, Freund ! Wenn der Anblick scheuslich war, so war er's nur, weil er an die At- mosphäre erimierte. Das Gesicht an sich ist nicht ekel. Und wo mir recht ist,

286 DER HABICHT.

so fuhren wir mit der Hand nach der Nase^ nicht nach den Augen?

Er ward auf einmal stille^ und blickte nieder. Sie sehen, sagte er, wie er- staunlich schwach jetzt mein Kopf ist.

Verzeihen Sie ! Nur die Sache war schwach. Wer klüger als die Natur seyn will, der zieht freilich den Kürzern. Sie geben mir also zu, dafs wir die Welt durch unsre Einrichtung unendlich ver- s chlimm er t . h ab en ?

Es scheint wohl nicht anders.

Nun wohl denn! So müssen wir sehn, wie wir helfen. Ich wüfste hier frei- lich ein Mittel , ein meines Bedünkens sehr heilsames Mittel : allein ob 5ie's billigen werden?

Lassen Sie hören! Warum nicht?

Die Vortheile zwar, die wir erhielten, wären unendlich. Wir liefsen nicht nur

DER HABICHT. t.^-j

unsern fruchtfressenden Thieren ihre gan- ze Vermehrbarkeit^ liefsen nicht nur Mil- lionen^ die nach unserm ersten Plan wür- den gefehlt haben^ geboren werden^, und doch alle ihr Dasein geniefsen^ alle Freu- de empfinden und Freude hervorbringen: wir brächten auch noch mehr Leben, noch mannichfaltigeres, höheres^ -wirksa- meres Leben in die Natur^ das ohne die- ses Mittel durchaus nicht da sejTi würde.

Und wie das? Wodmch das ? rief er ganz ungeduldig.

Durch durch eben das_, was die ganze Natur erhält; durch Kräfte^ die einander entgegenkämpfen, einander das Gleichgewicht halten, in richtigem Ver- hältnisse neben einander fortdauren, und immer kämpfen und sich immer das Gleichgewicht halten.

Durch Einführung der Raubthiere, wol- len Sie sagen.

2S3 . D Eli HABICHT.

Wie anders ? Sollte wohl ein so schwaches und kurzsichtiges Geschöpf^ wie der IVIensch^ auf wahrhaft weise Mit- tel gerathen können;, die der alisehende Schöpfer nicht schon lange vor ihm ge- kannt und angewandt hätte ? Ist auch nur der schwächste Schimmer von Licht in unsrer Seele ^ den nicht unsre Finster- nifs von ihm^ als der einzigen Quelle des Lichtes, aufgefangen hätte ? Kann unser Verstand etwas anders, als seiner Herr- lichkeit nachsehn? Kurz, wir setzen

den Menschen in die Natur, dals er täg- lich Millionen Leben zerstöre imd so- gleich wieder in Lebenssäfte verv,^andle; wir lassen für jede fruchtfressende Thier- art auf Erden, in der Luft, in Flüssen, im Meer, im Staube, in allen bewohnten Elementen und Himmelsstrichen, Piäuber zu, die immer für tausend und mehr Lei- chen

DER HABICHT. 2Sg

chen nur Eine geben ;, ja zum Theil wie- der andern zur Nahrung dienen _, ehe sie selbst noch zu Leichen werden. Was dann übrig bleibt^ das geben wir jenen Thieren und Würmerri^ die von gefalle- nen Körpern leben^ zum Raube. Der Mensch _, so wie er das Haupt der thieri- schen Schöpfung ist_, so ist er auch das wichtigste Mittel ihrer Erhaltung ; denn sein Geschlecht ist sehr zahlreich^ er bringt sein Leben sehr hoch^ er raubt durch alle Gattungen duixh ^ er hat die Vernunft seine Todten zu verbrennen, oder in die Erde zu scharren, und wenn ihm der Lei- chen von andern Thieren zu viel werden, auch diese. So und nicht anders, mein Freund .

Ich seh' es; Sie haben R.echt ! fiel er mir ein. Der Schöpfer hat wahrlich wohl gethan ' und er lächelte dafs er seine

Engels Philosoph, I. 19

290 DER HABICHT.

Welt schuf, ohne meinen Rath zu erwar- ten. Die Vortheile einer solchen Ein- richtung sind in der That ganz unend- lich. — Wir bringen nun alle die zahl- losen Geschlechter der Raubthiere in die Ntltur ; erlauben den fruchtfressenden Thieren mehr Vergnügen der Liebe_, der Begattung, der Jungenpflege; ziehen im- mer neuen Anwach s zum schnellen Er- satz des Verlorenen an; bringen mehr Ge- selligkeit, mehr Thätigkeit in die Welt; erhalten die Thiere bei einer reinem Luft gesünder, fröhlicher, muntrer; gebenden Raubthieren diese schärferen Sinne, die- ses wärmere Blut, diese höhere Wirk- samkeit, die ihr Leben um so viel Stu- fen höher setzt, als das Leben der an- dern Thiere. In diesem Tone fuhr er fort , und sprach mit einer Wärme, mit einer Beredtsamkeit ! dafs ich auf- merksam, ward und ihn ansah.

DER HABICHT. 291

Ihre Cur^ rief ich, hat Wirkung ge- than. Wie hält's um die Kxaiikheit_, mein Freund ?

Sie war im Nu wieder da. Der Kopf sank ihm matt auf die Schulter; die Füfse erschleppten ihn kaum; es war der elen- deste Mann, Einbildung! Einbildung! rief ich. Und ob er dem gleich aus al- ler Macht widerstz'itt^ so gab ihm doch die Erfahrung, die er so unvermuthet von seinen Kräften gemacht, imd mein vortheilhaftes Zeugnifs darüber, einen sichtbaren Trost. Ich hoffe ^ der gute Mann soll nc^ch werden.

Hätte ihm der Arzt nicht alle Beschäf- tigung untersagt, so würde ich ihm ein Büchlein empfoiden haben, das diese Ma- terie mit viel Gründlichkeit abhandelt und eine der vortrefflichsten Apologieen der Vorsehung ist. Meinen nicht hypochou-

293 DEPt HABICHT.

drischen Lesern will ich's doch nennen; es sind die Philosophischen Betrachtung gen über die ihierische Schöpfung *). Eine Schrift^ die eben so unterhaltend durch die gewähltesten Beobachtungen^ als unterrichtend durch die wichtigen Ge- sichtspuncte ist^ worein dieselben gestellt werden. Auf allen Seiten wird Gott ver- herrlicht _, die Vorsehung gerechtfertigt, das Herz beruhigt. Um die_, die es noch nicht kennen mogten^ zu reizen, will ich eine Stelle hersetzen^ die unge- fähr das Resultat von den Untersuchun- gen des Verfassers enthält.

i:> Leben ^ sagt er, ist eine Glückselig- keit ; und der Wille des Schöpfers ist, dafs unzählige Schaaren dieser Glückse- ligkeit geniefsen sollen. Unter einer Men- ge von Welten hat er auch diejenige er- *) Aus dem Englischen, Leipzig, 1769.

DER HABICHT. ^ 295

schaffen^ die wir bewohnen: eine Welt^ die mit Bergen und Ebnen abwechselt, diu-ch Flusse und Seen erfrischt, dmxh Pflanzen und Bäume geschmückt, durch die Strahlen der Sonne erleuchtet und er- wärmt wird ; eine Welt, wo unsichtbare Ursachen die lElemente, die niit allen Prin- cipien des Lebens geschwängert sind, in beständigem Umlauf erhalten ; wo die Pflanzen, durch geheime noch wunderba- rere Kräfte, die reichen Schätze der Ele- mente an sich ziehen, aufsammeln, und sie zur Erhaltung der thierischen Schö- pfung zubereiten ; eine Welt denn so unendlich grofs ist die Mannichfaltigkeit und die Anzahl der Gattungen wo jedes Ding in eine lebendige Substanz gleichsam verwandelt , xmd alle natürli- chen Kräfte, jede Begebenheit imd jedes Wesen, durch ewige und unveränderliche

294 I^ER HABICHT.

<*resetre;, zur Hervotbringnllg und Erhal- tung des Lebens nutzbar gemacht wird; eine Welt_, wo, wenn die Arten sich ver- vielfältigen, es dazu geschieht^ den Ver- lust leicht wieder zu fersetzen^ dem ihre Hinfälligkeit sie blofsstellt^ und wenn sie sich einander aufreiben^ wenn ihr Dasein in gewisse Gränzen eingeschränkt ist, die- ses geschieht , das Übermaafs in ihrem Anwachse zu verhüten. Die grofse Ab- sicht, auf die der ganze Plan der Schö- pfung gerichtet ist, besteht in der Voll- ständigkeit imd Erhaltung des thierischen Systems. Es giebt allgemeine Gesetze, die jede Classe der Geschöpfe antreiben, diese Absicht zu befördern j und diese Gefetze sind so genau mit einander ver- knüpft , dafs sie noth wendig einander wechselsweise voraussetzen und nach sich ziehen, a

^95

NEUNZEHNTES STUCK.

PROBEN RABBINISCHER WEISHEIT *).

I. »Wer sich der Gerechtigkeit an- nimmt, richtet das Land auf; wer sich ihr entzieht, ist Schuld an seinem Verderben, cc

Jtlabbi Assi war krank^ lag auf dem Bet- te, von seinen Schülern umgeben^ und bereitete sich zum Tode. Sein Neffe trat zu ihm herein, und fand dafs er weinte. Was weinst du, Rabbi ? fragte er.

') Aus dem TaJmud und dem Midrasch gezogen. Die Erzählungen beziehen sich auf Sprüche der Schrift, die eben darum voranstehen.

296 P Pl O B E N

Mufs nicht jeder Blick in dein vollbrach- tes Leben dir Freude bringen? Hast du etwa das heilige Gesetz nicht genug ge- lernt^ nicht genug gelehrt? Siehe, deine Schüler hier sind Beweise vom Gegen- theiL Hast du etw^ versäumt, Werke der Gottseligkeit auszuüben? Jedermann ist eines Bessern überführt. Und die De- muth war die Krone aller deiner Tugen- den! Niemals wolltest du erlauben, dafs man dich zum Richter der Gemeinde wählte, so sehr auch die Gemeinde es wünschte.

Eben das, mein Sohn, antwortete Rab- bi Assi, betrübt mich jetzt. Ich konnte Recht und Gerechtigkeit unter den Men- schenkindern handhaben, und aus mifs- verstandener Demutb hab' ich es unter- lassen. »Wer sich der Gerechtigkeit ent- zieht, ist Schuld an dem Verderben des l>ndes. «

RABBINISCHER WEISHEIT. 29-

51 Den Menschen und dem Viehe y^ /. hilft der Herr.«

Auf seinein Zuge^ die Welt zu be- zwingen, kam Alexander , der Macedo- nier, zu einem Volke in Africa, das in einem abgesonderten Winkel in friedli- chen Hütten wohnte, und weder Krieg noch Eroberer kannte. Man führte ihn in die Hütte des Beherrschers, um ihn zu bewirthen. Dieser setzte ihm goldene Datteln, goldene Feigen, und goldnes Brot vor. Esset Ihr das Gold hier? fragte Alexander. Ich stelle rnir vor, antwortete der Beherrscher: geniefsbare Speisen hättest du in deinem Lande wohl auch finden können. Warum bist du denn zu uns gekommen? Euer Gold hat mich nicht hieher gelockt, sprach

293 PROBEN

Alexander; aber eure Sitten mögte ich kennen lernen. Nun wohl^ erwieder- te jener, so weile denn bei unS;, so lange es dir gefällt.

Indem sie sich unterhielten, kamen zwei Bürger vor Gericht. Der Kläger sprach: Ich habe von diesem Manne ein Grundstück gekauft, und als ich den Bo- den durchgrub, fand ich einen Schatz. Dieser ist nicht mein: denn ich habe nur das Grundstück erstanden, nicht den da- rin verborgenen Schatz ; und gleichwohl will ihn der Verkäufer nicht wiederneh- inen. Der Beklagte antwortete : Ich bin eben so gewissenhaft, als mein Mit- bürger. Ich habe ihm das Gut, sammt allem was darin verborgen war, verkauft, und also auch den Scliatz.

Der Richter wiederholte ihre Worte, damit sie sähen, ob er sie recht verstan-

JEIABBINISCHER WEISHEIT. 299

den hätte; und nach einiger Überlegung sprach er: Du hast einen Sohn_, Freund? Nicht? Ja! Und du eine Tochter?

Ja! Nun wohl! dein Sohn soll dei- ne Tochter heirathen^ und das Ehepaar den Schatz zum Heirathsgute bekommen.

Alexander schien betroffen. Ist etwa mein Ausspruch ungerecht ? fragte der Beherrscher. O nein_, ferwiederte Ale- xander, aber er befremdet mich. Wie würde denn die Sache in eui-em Lande ausgefallen seyn ? fragte jener. Die Wahrheit zu gestehen_, antwortete Ale- xander, wir würden beide Männer in Ver- wahrung gehalten, und den Schatz für den König in Besitz genommen haben. Für den König? fragte der Beherrscher voller Verwimdrung . . . Scheinet auch die Sonne auf jene Erde? O ja! Regnet es dort? Allerdings ! Son-

300 PROBEN

derbar! Giebt es auch zahme_, krautfressen- de Thiere dort? Von mancherlei Art. Nun^ sprach der Beherrscher, so wkd wohl das allgütige Wesen_, um dieser un- schuldigen Thiere willen _, in eurem Lan- de die Sonne scheinen und regnen las- sen. Ihr verdientet es nicht.

Das erste Weib.

Gott schuf der Weiber Erste Nicht aus des Mannes Scheitel^ Dafs sie nicht eitel würde; Nicht aus des Mannes Augen, Das sie nicht lüstern würde; Nicht aus des Mannes Zimge^ Dafs sie nicht schwatzhaft würde; Nicht aus des Mannes Ohren, Sie horchte sonst nach allem;

RABBINISCHER WEISHEIT. 301

Nicht aus des Mannes Händen, Sie griffe sonst nach allem; Nicht aus des Mannes Füfsen, Sie liefe sonst nach allem. Er schuf sie aus der Ribbe, Der unbescholtnen Ribbe; Doch haben ihre Töchter Von jedes Gliedes Fehler Ein kleines Theil bekommen.

>) Wer ein tugendhaft Weib ge- y.\ fanden , hat einen gröfsern Schatz , denn köstliche Per- len, cc

Einen solchen Schatz hatte Rabbi Meir , der grofse Lehrer ;, gefunden. Er safs am Sabbat in der LehrschiUe, und

302 PROBEN

unterwies das Volk. Unterdefs starben seine beiden Söhne : beide schön von Wuchs ^ und erleuchtet im Gesetz. Sei- ne Hausfrau nahm sie^ trug sie auf den Söller^ legte sie auf ihr Ehebette^ und breitete ein weifses Gewand über ihre Leichname. Abends kam Rabbi Meir nach Haufe. Wo sind meine Söhne, fragte er, dafs ich ihnen den Segen gebe? Sie sind in die Lehrschule gegangen, war ihre Antwort. Ich habe mich um- gesehen, erwiederte er^ imd bin sie nicht gewahr worden. Sie reichte ihm einen Becher ; er lobte den Herrn zum Ausgange des Sabbats ^) ^ trank und frag- te abern^ial: Wo sind meine Söhne, dafs sie auch trinken vom Wein des Se-

•) Eine Ceremonle der Juden beim Ein- und Aus- gange eines Festtages, und vornelimlich des Sabbats.

RABBINISCHER WEISHEIT. 305

gens ? Sie werden nicht weit sejn, sprach sie^ und setzte ihm vor zu essen. Er war guter Dinge^, und als er nach der Mahlzeit gedankt hatte ;, sprach sie: Rab- bi^ erlaube mir eine Frage! So sprich nur, meine Liebe! antwortete er. - Vor wenig Tagen, sprach sie, gab mir jemand Kleinodien in Verwahrung, und jetzt for- dert er sie zurück. Soll ich sie ihm wie- dergeben ? Dies sollte meine Frau nicht erst fragen, sprach Rabbi Meir. Wolltest du Anstand nehmen, einem je- den das Seine wiederzugeben? O nein! versetzte sie ; aber auch wiedergeben >v^ollte ich, ohne dein Vorwissen nicht. Bald darauf führte sie ihn auf den Söller, trat hin, und nahm das Gewand von den Leichnamen. Ach meine Söhne! jam- merte der Vater; meine Söhne . . . und meine Lehrer ! Ich habe euch gezeugt,

So4 PROBEN

aber Ihr habt mir die Angen erleuchtet im Gesetze. Sie wendete sich hinweg und weinte. Endlich ergriff sie ihn bei der Hand tmd sprach : Piabbi^ hast du mich nicht gelehrt^ man itlüsse sich nicht weigern wiederzugeben was uns zur Ver- wahrung vertraut Ward? Siehe^ der Herr hat's gegeben^ der Herr hat's genommen; der Namen des Herrn sei gelobet I Der Namen^des Herrn sei gelobet! stimm- te Rabbi Meir mit ein. Wohl heifst es: »Wer ein tugendhaft 'Weib gefunden, hat einen gröfsern Schatz^ denn köstliche Perlen. Sie thut ihren Mund auf mit Weisheit, und auf ihrer Zunge ist hold- selige Lehre. »

RABBIMSCHER WEISHEIT. 505

5..

Unterredung eines Weltweisen mit

einem Rabbi.

Ein Weltweiser sprach zu einem Rab- bi: Euer Gott nennet sich in seiner Schrift einen Eiferer , der keinen andern Gott neben sich dulden kann^ und giebt bei allen Gelegenheiten seinen Abscheu wi- der den Götzendienst zu erkennen. Wie kommt es aber^ dals er mehr die Anbe- ter der Götzen^ als die Götzen selbst^ zu hassen scheint ? Ein gewisser Fürst^ antwortete der Rabbi, soll einen tmge- horsamen Sohn haben. Unter andern nichtswürdigen Streichen mancherlei Art^ hat er die Niedetträchtigkeit, seinen Hun- den des Vaters Namen und Titel zu ge- ben. Soll der Fürst auf den Prinzen^, oder soll er auf die Hunde zürnen?

Engels Philosoph, I. 20

5o6 PROBEN

Wenn aber Gott die Götzen ausrot- tete^ erwiederte jener^ so würde weniger Gelegenheit zur Verführung seyn. Ja, versetzte der Rabbi, wenn die Thoren blofs Dinge anbeteten, an welchen wei- ter nichts gelegen wäre. Allein sie be- ten auch Sonne, Mond, Gestirne, Flüsse, Feuer, Luft, u. d. gl. an. Soll der Schö- pfer, um dieser Thoren willen, seine Welt zu Grunde richten? Wenn jemand Getreide stiehlt und es einsäet ; soll das Getreide nicht aufschiefsen, weil es ge- stohlen ist? Soll eine sündliche Beiwoh- nung darum nicht fruchtbar sejii, weil sie sündlich ist? O nein! der weise Schö- pfer läfst der von ihm selbst so wohl ge- ordneten Natur ihren Lauf. Der Unver- nünftige, der sie mifsbraucht, wird schon zur Rechenschaft gefordert werden.

Wider die Vergelti:ng nach dem Tode

RABBINISCHER WEISHEIT. 507

machte ihm der Weltweise folgenden Ein- wurf. Wenn Leib und Seele getrennt sind^ wem wird die Schidd der begange- nen Sünden zugerechnet ? Dem Leibe wahrlich nicht ; denn dieser liegt ^ wenn die Seele Abschied nimmt ^ wie ein Erd- klos da;, und würde^, ohne die Seele,, auch nie haben sündigen können. Und die Seele? Ohne das Fleisch würde sie sich eben so wenig mit der Sünde befleckt haben. Sie schwebt in der reinsten äthe- rischen Luft^ sobald sie durch den Leib nicht mehr an die Erde gefesselt ist. Welches von beiden soll also der Gegen- stand der göttlichen Gerechtigkeit seyn? Die Weisheit Gottes, antwortete der Rabbi, kennet zwar allein die Wege sei- ner Gerechtigkeit. Indefs ist dem Sterb- lichen zuweilen vergönnt, auf die Spur davon zu kommen. Jener HausheiT hat-

5o8 PROBEN

te in seinem Obstgarten zwei Sklaven, wovon der eine lahm und der andere blind war. Dort sehe ich köstliche Früch- te, sprach der Lahme zum Blinden, an den Bäumen hangen. Nimm mich auf deine Schulter ; wir wollen davon bre- chen. Dies thaten sie, und bestahlen ih- ren Wohlthäter, der sie, als unbrauchba- re Knechte, blofs aus Mitleiden ernährte. Er kam, und stellte die Undankbaren zur Rede. Jeder schob die Schuld von sich, indem der Eine sein Unvermögen die Früchte zu sehen, der Andere sein Un- vermögen, zu ihnen hinanzukommen, vor- schützte. Was that aber der Hausherr ? Er setzte den Lahmen auf den Blinden, und strafte sie in der Lage ab, in wel- cher sie gesündiget hatten. So auch der Richter der Welt mit des Menschen Leib und Seele.

RABBINISCHER WEISHEIT. 509

6. Der Lehrer und der Schüler. X

Der LeJirer. Du willst die Bufse ver- schieben? — Wohl! So lange es dir ge- fällt. Nur befsre dich Eiiieii Tag vor deinem Tode!

Der Schüler. Weifs ich den Tag wann ich sterben werde?

Der LeJirer. Wenn du diesen nicht weifst, so ist kein andrer Rath, als heute noch anzufangen.

3iö PROBEN

7- 5) Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Vermögen, cc

Wer seinen Gott so liebet, wird die Schuldigkeit einsehen, ihm für das Böse das er uns widerfahren läfst, eben so in- brünstig TU danken, als für das Gute. - Unter der tyrannischen Regierung der Griechen, ward einst den Israeliten bei Lebensstrafe verboten, in ihrem Gesetze zu lesen. Rabbi Akiba hielt gleichwohl öffentliche Versammlung, und unterwies im Gesetze. Ihn fand Pappus, der Sohn Juda, und sprach: Akiba I fürchtest du nicht die Drohungen dieser Grausamen? Ich will dir" eine Fabel erzählen, sprach

RABBINISCHER WEISHEIT. 511

Rabbi Akiba^ die mit unsern Umständen viel Aiinliches hat. Der Fuchs ging einst am Ufer des Fluss^es auf und nieder, und sah die Fische bald hier bald dort sich zusammendrängen. Was lauft Ihr da so ängstlich umher? fragte der Fuchs. Die Menschenkinder werfen dort ihre Netze aus_, antworteten die Fische _, und wir suchen ihnen zu entkommen. Wifst Ihr was? erwiederte der Fuchs. Kommt zu mir auf's Trockne! Wir wollen an ei- nen sichern Ort ziehen, wo euch kein Fischer nachstellen soll. Bist du der Fuchs, war ihre Antwort, den man sonst für das klügste unter den Thieren hält? Du mufst das einfältigste seyn, wenn du ims diesen Rath im Ernste ertheilest. Siehe! hier ist für uns das Element des Lebens. Weil wir hier unsicher sind, räthst du uns, in das Element des Todes

312 PROBEN

zu fliehen? r— Die Anwendung, Sohn luda! ist leicht. Die Lehre Gottes ist für uns Element des Lebens; denn so stehet von ihr geschrieben : Sie ist dir Leben und Länge der Tage, Werden wir gleich in diesem Elemente verfolgt_, so müssen wir es darum nicht verlassen und ins Ele- ment des Todes flüphten,

Nicht lange, so ward Rabbi Akiba ver- rathen, in Verhaft geiiommen und in ei- nen Kerker gesperrt. Aber Pappus, der Sohn Juda, ward auch verläumdet, ein- gezogen, und in dasselbe Gefängnifs ge- setzt. — Was hat dich hieb ergebrach r, Pappus ? fragte Rabbi Akiba. O wohl dir, Rabbi Akiba ! antwortete Pappus, der du leidest, weil du dich der Lehre Got- tes angenommen hast ; aber wehe dem Pappus, der leiden mufs, weil er sie ver- nachläfsiget hat!

RABBINISCHER WEISHEIT. 51 ->

Rabbi Akiba ward zum Tode gefiihi t. Unter den entsetzlichsten Martern^ wo- mit sie ihn hinrichteten^ kam die Stunde, das: Höre Israel! zu lesen. :»Höre^ Is- rael! der Herr, unser Gott, ist ein eini- ger Gott. Und du sollst den Herrn, dei- nen Gott, lieb haben von ganzem Her- zen, von ganzer Seele, von ganzem Ver- mögen *).cc In der Vorbereitimgsan- dacht, unterwarf sich Rabbi Akiba der göttlichen Regierung mit Freude und kindlicher Ergebenheit. Seine Schüler verwunderten sich über diese Fassung seines Gemüths luiter solchen Qualen. O meine Lieben! sprach ihr Lehrer: zeit- lebens habe ich nach der Gelegenheit ge- banget, dieses göttliche Gebot halten zu

•) Dieses Capital der Schrift wiederholt jeder Jude zweimal des Tages , nachdem er sich durcli Vorbereltuiigsgebete dazu angeschickt hat.

5i4 PROBEN RABBÜnF. WEISHEIT.

können^ den Herrn^ meinen Golt^ von ganzem Herzen und von ganzer Seele zu lieben. Jetzt^ da sie mir geworden^ mufs ich sie nicht vernachläfsigen. Er weilte so lange bei den Worten : ein einiger Gott ! bis sein Geist ihn verliels. Und eine Stimme liefs sich vom Himmel ver- nehmen: Wohl dir^ Akiba_, dessen Geist sich ujiter solchen Worten emporschwang! Gehe ein zu der ewigen Seligkeit, die hier dein Lohn ist !

Moses Mendelssohtt.

3i5

ZWAiVfZiGSTES STÜCK.

PROBEN RABBINISCHER WEISHEIT.

(FORTSETZUNG.)

Der Segen des Gastfreundes.

J_Jer alte B.abbi Isaak besuchte seinen Freund, Piabbi Nachman. Mehrere Wo- chen blieb er gastfreundlich in seinem Hause, und die ganze Zeit über unter- hielten sie sich vom Gesetz^ tauschten Meinungen und Gründe^ und belehrten sich gegenseitig. Die Stmide des Schei- dens rückte heran. Rabbi Nachman war gerührt. Der Gedanke^ dafs er seinen bejahrten Freund wahrscheinlich nie wie-

5i6 PROBE N

dersähe, befeuchtete seine Augen. End^ licli sagte er zu ihm: Segne mich, ehr- würdiger Freund, ehe du von dannen scheidest! Ich dich segnen? Dich, du Vortrefflicher ? Bist du doch jenem Pahnbaume so ähnlich ! Welchem Palmbaume, Rabbi? Sieh, mein Lie- ber l Einst gerieth ein Wandrer in ei- ne Wüste. Er war ermüdet. Hunger und Durst überfielen ihn ; er verlechzte schier. Auf einmal erspäht sein Auge am Ufer eines kleinen Bachs einen schönbe- laubten Palmbaum , voll reifer Datteln. Er eilt in dessen Schatten, lagert sich hinein, stillt den Hunger mit den Früch^ ten des Baumes, und sättigt seinen bren- nenden Durst aus dem Bache, wird er- quickt und neu belebt. Nun steht er auf, und blickt dankbar, beide Hände auf den Wanderstab gestützt, in die Schatten.

RABBINISCHER WKISHEIT, 517

Wohlthätiger Bamn^ spricht er^ ich sollte dich segnen. Aber womit kann ich dich segnen? Sollen deine Früchte gedeihen? O wie sind sie so süfs und würzhaft! Sollen deine Zweige sich verbreiten ? O wie schön wölbt sich deine Krone ^ wie kühlend ist dein Schatten! Soll ein Bach sich zu deinen Füfsen schlängeln? Fliefst doch schon der klarste, hellste Krystall neben dir hin! Dennoch, dennoch segne ich dich, edler Baum : mögen alle deine Spröfslinge dir gleichen! So auch ich, redlicher Gastfreund ! Siehe, du hast gro- fse Kenntnisse erworben; Rang und Ver- mögen ist dir zu Theil worden; das Be- wufstsein eigener Würde, das Glück des Hausvaters, die Achtung der Tugendhaf- ten, besitzest du in seltner Fülle. Mögen dann deine Kinder dir gleichen! Möge ihr Loos wie das d einige seyn !

5i8 PROBEN

2.

Äufsrer Feind und innrer Ver- räther.

Aus einer Eisensclimiede fuhr ein mit neugehämmerten Äxten beladen er Wagen durch den nahe gelegenen Wald. Die Sonne glänzte auf den Stahl^ und die Bäume des Waldes erzitterten ob der Erscheinung. Wer wird vor ihnen be- stehen? Diese Eisen fällen uns alle'. So klagte ihr Angstgeräusch. Aber eine be- jahrte Eiche rief ihnen zu : Fürchtet nichts ! Solange keiner von euch diesen Äxten Stiele leiht, kann euch ihre Schärfe nicht schaden

RABBINISCHER WEISHEIT. 319

Die Schöpfung des Weibes. /

Jene Matrone sagte zu Rabbi Josse: In der Schöpfungsgeschichte der Eva er- scheint euer Gott nicht in dem schön- sten Lichte. Warum mufste er dem Adam die Ribbe entwenden ? warum sie ihm in tiefem Schlaf gleichsam rauben ? Vater ! sagte Ptabbi Josse's anwesende Tochter : lafs inich ihr antworten ! Weifst du schon ^ edle Frau^ dafs diese Nacht Diebe bei uns eingebrochen sind? dafs sie uns eine Silberstange geraubt^ und ein goldnes schöngeärbeitetes Pracht- gefäfs dafür hingesetzt haben? Sage^ was däucht dir zu diesem Frevel ? Du scherzest^ Mädchen^ erwiederte die Ma- trone : kannst du das Rauben nennen? Kann eine solche Handlung dir Frevel

i20 PROBE N

scheinen ? Nicht ? sagte die Jun»- flau. So klage auch du unsern Gott nicht 3Y\, dafs er eine entbehrliche Pubbe nahm^ und statt ihrer eine unschätzbare Gehul- hnn baute.

Der Wein in irdnen Geftifsen.

Je mehr die Kaisertochter *) mit dem Rabbi Josucij dem Sohn Ananias ^ sich unterhielt, desto mehr ergötzte sie sein Scharfsinn, erfreuten sie seine Kenntnisse/ erbauten sie seine Tugendlehren. Doch entschlüpfte ihr einst, gleichsam unwill- kürlich, das Wort: Welche schöne Seele und welche widrige Hülle! Konnten so

lieb-

•) Vermuthlich die Tochter Antonin$ des Froin- mer.

RABBINISCHER WEISHEIT. 321

liebliche Tugenden nicht in einem schö- neren Körper wohnen? Sage mir^ gro- fse Fürstentochter^ fragte sie der Rab- bi nach einer Weile: worin wird der ed- le Piebensaft deines erhabnen Vaters auf- bewahrt ? In irdenen Gefäfsen. - Unmöglich ! Darin bewahrt ja den sei- nigen jeder Bürger. Man sollte doch des Kaisers Weine in goldenen und silbernen aufbehalten. Da hast nicht Unrecht^ erwiederte die Fürstinn: das wäre schick- licher^ und das soll von nun an gesche- hen. — Der Wein verdarb ; sein Geist entfloh. Du hast mich übel berathen^ sagte nach einiger Zeit die Fürstentoch- ter. In den Prachtgefäfsen ist der Wein meines Vaters verdorben. Sehr mög- lich ! erwiederte Josua : auch Tugend und Kenntnisse gedeihen am besten in wenig glänzenden Körpern.

Engels Philosopli, I, 2 t

322 PROBEN

\^ Die Reue des Frommen.

Ein alter Diener des Hauses Ainram bracht' ein Mädchen aus der Gefangen- schaft zurück. Räuber hatten sie den Eltern entführt ; Rabbi Amram liefs sie auslösen. Das Mädchen war in ihrer blü- hendsten Jugend^ und von blendender Schönheit. Das Haus des Frommen ist der Zufluchtsort der Tugend. Führt sie auf den Söller des Seitengebäudes, sagte der Rabbi _, und nehmt die Leiter weg die hinaufführt. Dort weile sie bis morgen, wo ich sie dem weinenden Va- ter überantworten will. Aber kaum war der Rabbi in sein Haus getreten, als das Herz des Frommen von unlautrer Be- gierde entbrannte. Das dankbare aus der

KABBINISCHER WEISHEIT. 523

Sclaverei losgekaufte Mädchen hatte ihn liebevoll angeblickt, und das Feuer der Leidenschaft in seinem Lmern entzündet. Er kämpft, aber umsonst; das Herz wird des Kopfes Meister. Er eilt in den Hof^ ergreift die beiseite gestelJte Leiter, er- greift sie mit einer Kraft die nur heftige Leidenschaft giebt, legt sie an, und be- steigt sie. Das Mädchen tritt schüchtern vor die Öfnung des Eintritts. Tugend und Begier erneuern den Streit bei ihrer Erscheinung. Endlich, auf halbem Wege, ermannt sich Amram, erhebt plötzlich die Stimme, und ruft, auf der Leiter stehend: Feuer! es brennt ! Im Hause Amrams brennt's ! Auf sein durchdringendes Geschrei eilen Hausgenossen, Nachbarn, die ganze Schaar seiner Schüler herbei. Der Fromme bleibt mit Feuerglulh im Gesicht luid mit niedergeschlagenen Au-

524 P H O ß E N

gen stehen. Die Anwesenden schweigen erstaunt ; aber ihr Blick irrt von dem Leh- rer auf das Mädchen^ von dem Mcädchen auf den Lehrer^ und sie verstehen den Ausruf. Endlich öffnet er den Mund^ und mit bewegter Stimme sagt er: Besser, ich stehe jetzt beschämt vor euch in die- ser Welt, als 'einst beschämt vor dem ewigen Weltrichter in icner.

^* Besclieidenlieit.

Rabbi E!fleser, der Sohn Simons^ reis'- te von der hohen Schule Migdal eder nach dem Orte, wohin man ihn zum Leh- rer berufen hatte. Er ritt auf einem Esel, war sehr heitern Gemuths, und überhob sich innerlich der groisen Kenntnisse, die schon im Jünglingsalter ilin zu ansehnli-

RABBINISCHER WEISHEIT. 325

chen Amtern führten. Ein Wandrer zu Fufs holte ihn ein. Der JMann war un- gestaltet und von schwärzlicher Farbe. Friede sei mit dir^ grolser Piabbi ! rief dieser ihm zu. Jener erwiedert den Grufs nicht^ sondern sagt spöttisch zum Wan- drer : Mensch I wie bist du so itngestal- tet ! Sind alle Bewohner deines Geburts- ortes so ? , Ich weifs nicht, antwor- tet der Mann beleidigt. Aber geh zum Meister, der mich schuf und erhält, imd frag' ihn, warmn er eintm solchen Un- wesen das Dasein verlieh. Rabbi Elieser fühlte alsbald die Übereilung, zu der ihn jugendlicher Übermuth verleitet hatte; er w'arf sich vom Esel herab und vor dem Wandrer auf die Pvniee : Ich habe dich beleidigt ; vergieb mir ! Nein ! nein ! Hin zum INIeister, und frag' ihn, warum er eine solche Mifsgestalt

526 PROBEN

schuf. Er setzt seinen Wanderstab weiter; der Rabbi folgt ihm, zerknirscht von Reue. Unfern der Stadt strömen ih- nen die Bürger entgegen. Friede sei mit dir, Rabbi ! Grofser Lehrer, sei uns gesegnet ! Wem gilt dieser Grufs, dieser Zuruf? fragt hier der Wandrer.

.Wem axiders, als dem Manne, der dir nachtritt? Wie? den nennt Ihr Rabbi! den begriifst Ihr, als Lehrer? Mög- te seines Gleichen keiner in Israel seyn!

Warum? Was sprichst du? Der Ungestaltete erzählt ; der Rabbi bekennt durch Stillschweigen die Übereilung. Ach vergieb ihm, Fremdling , den ju- gendlichen Unbedaclit ; vergieb ihm um seiner Gelehrsamkeit willen ! Ich ver- geh' ihm um Euretwillen ; nur mag er nicht wieder fehlen!

Rabbi Elieser bestieg den folgenden

RABBINISCHER WEISHEIT. 327

Tag den Lehrstuhl mit dem Spruche: «Im- mer sei der Mensch nachgebend wie das Rohr, nicht unbiegsam, wie die Ceder. «

- 7- Der weise Richter und die zärt- liche Gattinn.

Einst führte ein Mann sein Eheweib nach Sidon vor den Rabbi Shneon, den Sohn Jochai. Grofser Lehrer ! sagte er zu ihm, mit dieser Frau leb' ich nun zehn voUe Jahre in Eintracht und Frieden ; aber unsre Ehe ist kinderlos. Aus Ehrfurcht für die Gesetze will ich ihr den Scheide- brief geben. Das Weib stand scham- roth da wegen ihrer Unfruchtbarkeit, und heifse Thränen flössen von ihren schönen Augen. Gerührt wendete sich der Ehe- mann zu ihr. O weine nicht, sprach er.

32S PROBEN

nimm was du willst_, nimm das Schätzbar- ste aus dem Hause mit dir; ich gestatt^ es dir gerne: nur kehre ohne Unmuth in das väterliche Haus zurück! Die Trost- lose schwieg, weinte bitterlich, und blick- te auf den Ptichter. Freund der Ge- setze, sagte endlich der Rabbi ; als du das Eheband knüpftest, nicht wahr? da feiertest du ein Fest ? -— Freilich ! und ein grofses und frohes, So gehe hin, und feire ein gleiches wieder, ehe du es lösest.

Die Eheleute entfernten sich ehrerbie- tig: er heitern Sinns, sie mit einem Strahl von Hoffnung in der Seele.

Das Mahl wird bereitet. Das Fest be- ginnt. Des Weines ist vollauf. Die Frau hat Alles angeordnet. Der Becher krei- set, die Freunde trinken. Der Ehemann wird heiter und fröhlich, zecht, leert Be-

RABBINISCHER WEISHEIT. 529

eher auf Becher^ und fällt endlich in tie- fen Schlaf. Kaum sind die Gäste ver- schwunden; so winkt die wachsame Frau den wartenden Sclavinnen. Diese tragen leise und sorgfältig den Berauschten ins schwiegerelterliche Haus. Um Mitternacht erwacht er. Wo bin ich ? Wie komm' ich in dieses Haus ? Mein Lieber ! antwortet mit sanftem Tone die Frau, ihn umarmend ; sagtest du nicht in Ge- genwart des grofsen Lehrers: Nimm, was du willst, nimm das Schätzbarste, und kehre heim in's väterliche Haus ? Warst nicht du das Schätzbarste in unserm Hau- se? Zürnest du mir, dafs ich's nahm? Der Vorhang ßel. Der heilige Segen der Ehe blieb nicht aus.

330 P K O B E IN

8. Rabbi Elieser und seine Gegner.

Dafs Wunder keine Beweismittel für Wahrheit sind_, ist eine unterscheidende Lehre des Judenthums^ und wohl unmög- lich konnte diese Lehre stärker vorgetra- gen werden^ als in folgender so ganz orientalisch gedichteten Erzählung des Talmud^ worin besonders der letzte Zug von der Freude der Gottheit über das Festhalten an befsrer Einsicht jedem auf- fallen wird.

In der Lehrschule entstand ein hefti- ger Streit zwischen Rabbi Elieser und andern Gesetzlehrern. Der Streit betraf eine gewisse Anwendung der Lehre vom Reinen und Um einen. Rabbi Elieser^ um seine Meinung geltend zu machen^ brach- te alle nur mögliche Gründe vor; aber

RABBINISGHER WEISHEIT. 331

jMan fand sie nicht überzeugend. Ob mein Ausspruch gegründet sei;, rief end- lich Rabbi Elieser> mag dieser Bochs- horn *) bezeugen! Auf dieses Wort reifst sich der Baum von seiner Stelle^ und wird auf eine weite Strecke fortge- führt. — Gut ! entgegnen die Mitstrei- ter ; aber was beweis't man mit ent- wurzelten Bochshornbäumen ? Nun, fährt Rabbi Elieser fort, so mag denn dieses vorbeifiiefsende Wasser die Wahr- heit meines Ausspruchs bezeugen. Und siehe! das abwärts strömende Wasser än- dert seinen Lauf, und fliefst aufwärts. Die Gegner erwiedern : Was beweis't zurückströmendes Wasser ? So mö- gen denn die Wände dieses Lehrsaals zeugen, sagt Rabbi Elieser, ob nicht das

•) Johannisbrot -Baum.

533 PROBEN

Recht auf meiner Seite sei ! Was ge- schieilt? Die Ecksteine des Hauses treten aus^ und die Mauern neigen sich zum Einsturz. Aber Rabbi Josua ruft ihnen zu; Mauern! Mauern! Wenn Schüler der Weisen mit einander wetteifern; was mischt Ihr euch iia den Streit? Und nun fallen sie nicht^ aus Ehrfurcht für den ei- nen Lehrer^ richten sich auch nicht auf, aus Ehrfurcht für den andern: überhan- gend bleiben sie stehen.-

So entscheide denn die Stimme Got- tes ! ruft endlich Rabbi Elieser aus. Und fürwahr! eine Stimme vom Himmel er- schallt und ruft : Was streitet Ilir mit Rabbi Elieser? Sein Ausspruch entschei- det. — Aber Rabbi Josua fährt auf, und ruft der Stimme entgegen : Es ist nicht im Hiimuell *) *) Ein Halbrers aus folgender Stelle des 5. B.

flAßßJUN'lSCHEIl VVlilöHElT.

Ojj

Rabbi Jeremia deutete diese Gegen- rede ; Vf'^i?^ achten auf keine Stimme des Himmels ; denn in deinem Gesetz- buch^ auf dem Berge Sinai hast du^ Gott_, selbst gelehrt : IVach der Stimmenmehr- heit^ nach der Menge sollst du dich neigen.

Als nun Ptabbi Nathan den Elia *) fand^ und diesen fragte: Lieber! was sagte um diese Stiuide die Gottheit? da

Mose, Cap. 3o, V. n, 12t »Denn dies Gebot, das icb dir jetzt gebe, ist dir nicht verborgen, aucb nicht ferne. Es ist nicht im Himmel, dafs du etwa sagen mögtesl : wer steigt für uns in den Himmel hinauf, um es herunterzu-

•) Der Prophet Elia aus Tisbi spielt im Talmud eine sehr wichtige Rolle. Als Vorläufer des Messias nicht allein; sondern immer , wenn der Wahrheit einer Sache durch Autorität noch ein Siegel aufgedrückt werden soll, läfst der Talmud ihn erscheinen und wieder verschwin- den.

534 PROBEN RABBIN. WEISHEIT.

erwiederte der Prophet: Die Gottheit lä- chelte zufrieden , und spracli : Meine Kindfer haben obgesiegt ! Meine Kinder haben obgesiegt !

D. Friedländer.

335

EIN UND ZWANZIGSTES STUCK.

DIE BILDSÄULE.

\\ie traurig, rief ein jimger Schüler Bonnets ^ dafs ich immer nur die Eigen- schaften der Seele erforschen, immer nur in der Entwickelung ihrer Kräfte fortfah- ren, aber nie bis zur Erkenn tnifs ihres eigentlichen Wesens gelangen soll! Die ausdruckliche Erklärung meines Lehrers benimmt mir alle Hoffnung dazu; die Mystiker, die mir ein näheres Licht ver- sprechen, führen anich in ein noch tiefe- res Dimkel ; und alle meine eignen Be- mühungen, bis zum Grundwesen meiner Seele hindurchzudringen, sind fruchtlos. Der Mensch, sagt man, ist nicht für diese Erkenntnifs gemacht. Das fühl'

53Ö DIE 13ILD8AULE.

lieh leider; aber woher denn in mir die- ser lebendige^ ungeduldige Trieb, sie zu haben? Woher 'in einer sonst so weislich eingerichteten JVatur, wie die meinige, dieser Durst, wenn nirgend eine Quelle Hiefst^ die ihn löschen könnte? Mag mir doch die Antwort ausbleiben, wie lange «ie wolle ; ich werde nicht aufhören kön- nen, mich selbst zu fragen: Wer bin ich? J'.ch empfindende , denkende , wollende vSeele; was für ein Wesen hab' ich? Was ist in mir das Unbekannte, dem jene mir bekannten Eigenschaften beiwohnen? dem sie anhangen? in dem sie sind?

Einst, im Morgenschlummer, bemäch- tigte sich bei unserm jungen Denker die Phantasie dieser Grübeleien seiner Ver- nunft, und webte aus dem luftigen Ge- spinnst derselben eine ganze Folge von Phänomenen. Er sah die philosophische

Dich-

DIE BILDSÄULE. 337

Dichtung seines Lehrers realisirt : eine belebte menschliche Bildsäule y die also mehr als Bildsäule, die ein Mittelding zwischen der vollkommensten Pflanze und dem unvollkommensten Thier war. Ihre Sinne waren noch alle gebunden; sie er- warteten noch alle die erste üühining, den ersten Eindruck eines Objects: sonst waren die Nerven gespannt, die Saite in Umlauf; der Puls schlug, und sämmtlicüe Verrichtungen des animalischen Lebens gingen von Statten» Man weifs^ zu welchem Endzweck Bonnet und sein Vor- ganger Condillac eine solche Bildsäule erdichteten» Sie glaubten dadurch die Untersuchung zu simplihciren und zu er- leichtern, wie bei Gelegenheit der sinn- lichen Eindrücke sich nach und nach die Kräfte unsrer Seele, entwickeln.

Die lebhafte Freude des jungen Man-

Engels Philosoph, I. 22

55S I>IE BILDSÄULE-

nes,, der auf einmal Hoffnung zur Beant- wortung der liefsinnigsten Fragen der Weltweisheit fafste^ läfst sich nur den- ken. Auch jene berühmte Frage des Mo- lyneux, die Ähnlichkeit zwischen Gefühls- und Gesichtseindrücken betreffend^ sah tr nun im Geist schon entschieden. 0_, rief er aus^ wenn ich doch von der Göttinn der Weisheit eine ähnliche Gna- de erbitten könnte^ wie sich einst Pyg- malion von der Göttinn der Liebe er- bat ! Wenn sie doch die versclilofsnen gefesselten Sinne dieser wunderbaren Bild- säule entlösen wollte ! .... Aber das müfste nicht zugleich^ nicht zu plötzlich seyn, theure Göttinn^ damit ich Raum zum Beobachten hätte. Erst müfsten die gröbern^ dann die feinern Sinne^ und nur allmählich ^ nur langsam ^ immer einer nach dem andern^ entbunden werden.

DIE BILDSÄULE. 539

Kaum war der Wunsch vollendet; so hör- te er schon den schnaubenden AtJiein der Bildsäule, und sah entzückt wie sie beide Nasenflügel bewegte. Er sprang mit der höchsten Ungeduld eines Beob- achters in's Feilster, und pflückte aus ei- nem kleinen dort aufgestellten Blumen- garten eine Rose^ die noch spät neben einer frühzeitigen Nelke blühte.

Er bot der Bildsäiüe die Rose, und sie zog mit sicjitbarem Vergnügen den sanften Wohlgeruch ein. Er bot ihr die Nelke, und mit noch sichtbarerm Ver- gnügen schlürfte sie den erquickenden aromatischen Aushauch in sich. Him- mel ! wenn sie doch auch nur spräche! rief er. Denn was hilft's mir, dafs ich ihre innern Veränderungen iiur so im Allgemeinen erkenne .^ Das ganz Eigne der Empfindungen ^ der Modißcationen

34o DIE BILDSÄULE.

ihrer Seele^ mögt' ich erfahren. . . . Aber wie sie wohl alle Gebehrden verstellen mögte, wenn ich plötzlich ihre Empfin- dungen abänderte und widrigen Duft auf Wohlgeruch folgen liefse? ,In demsel- bigen Nu sprang er wieder ins Fenster^ um eine Todtenblume^ die er ihrer Ge- stalt wegen gepflegt hatte, zu brechen. Die Bildsäule, die in Erwartung neuen Vergnügens noch immer den Athem an sich zog, fand sich trefiich betrogen. Sie ward nicht sobald den widrigen Eindruck inne, als sie mit geki'äuster Nase zurück fuhr, und aus aller Kraft ihrer Lungen den Duft hinwegblies.

Der junge Mann war jetzt in der un- geduldigsten Erwartung, ob nicht bald ein neuer Sinn sich entwickeln würde. Aber welch ein weit gröfseres und uner- wartetes Vergnügen stand ihm bevor !

DIE BILDSÄULE. 34i

Die Bildsäule warf plötzlich ernsthafte Falten^ wie von einem tiefen Nachden- ken^ auf die Stirne^ und siehe! sie konn- te reden und räsonniren. Das waren zwei Eindi'ücke, rief sie^ von ganz ver- schiedner Natur. Die eine Blume dufte- te lieblich, die andre widrig; aber ich^ die ich beide Eindrücke empfand_, ich die Riechende, bin von beiden verschieden,, und bin nur Eins. War' es sonst mög- lich, dafs ich diese Eindrücke verglichen, sie einander entgegengesetzt, geurtheilc hätte? Wenn ich denn aber etwas An- ders, etwas, für mich Bestehendes bin; was bin ich ? was für ein Wesen hab*^^ ich? . . . Wie jene Blumen dufteten, weifs ich; aber wie mag wohl ich, die empfin- dende, die geniefs ende Blume, duften? Die Frage war eben so drollicht als unerwartet, imd unser Träumer lachte

34a DIE BILDSÄULE.

laut auf. Gute Bildsäule ! dacht' er, lafs nur erst deine feinern Sinne in's Spiel kommen^ und du wirst das Alberne dei- ner Frage schon inne werden. Genie hast du wirklich^ und das recht viel: denn in so kurzer Zeit und über blolse Gegen- stände des Geruchs eine so /metaphysi- sche Frage zu thun; beim Piaton! das ist mehr^ als ich hoffen durfte. Aber sich die Seele wie eine Blume^ ihr Wesen wie einen Duft zu denken; das ist denn doch immer sehr lächerlich! sehr possierlich! das schmeckt noch gar sehr nach der Bild- säule! — Während dafs er nocla sprach, fmg eine Nachtigall;, die schon seit Wo- chen geschwiegen hatte, noch einmal zu schlagen an ; und ihre Töne waren so süfs, so hinreifsend, so schmelzend. Die Bildsäule horchte hoch auf ; denn nun hatte sich in ihr auch der Sinn des Ge-

DIE BILDSÄULE. 343

liörs entwickelt. Alle ihre Mienen zeig- ten Ausdruck des innigsten Wohlgefal- lens^ lind sie rief einmal über das andere dem kleinen Virtuosen ein Bravo ! Die Nachtigall schwieg ; und nun kam ein Rabe mit gelähmtem Flügel, den unser Philosoph zu seinem Vergnügen unter- hielt, krächzend herbei "gehüpft, als ob er sich auch ein Bravo hätte verdienen wollen. Die Bildsäiüe schüttelte mifsfäl- lig den Kopf, und schien zu wünschen dafs der heisre widerwärtige Schreier ein Ende machte. Dann warf sie wieder ei- ne ernste tiefe Falte -auf ihre Stirne, imd fing von neuem an zu vernünfteln. Das "Waren neue und abermals sehr verschie- dene Eindrücke, sprach sie; aber ich, die ich sie hatte, ich blieb dieselbige, und bin noch jetzt dieselbige, welche die ver- schieden en Gerüche einsog. Auch bin

544 I>IE BILDSÄULE,

ich Empfindende von dem ' Empfundnen verschieden^ bin ein Wesen für mich, und bin Eins. Aber was ich bm, und was für eine Natur ich iiabe ; das ist mir noch immer ein Räthsel. Sollt' ich vielleicht ganz unrecht gefragt haben : wie duft' ich? und sollte vielleicht die Frage so müssen gefafst werden: wie tön' ich? Herrlich verbessert ! rief unser junge Weltweise spöttisch. Wemi sich Abge* schmacktheit gegen Abgeschmacktheit mes- sen liefse; so mögt' ich sagen, dafs dieso hier noch ärger als jene wäre. Denn Duft ist bei alle dem doch noch etwas Reelles_, etwas für sich Bestehendes; aber ein Ton! was ist der mehr, als blofse Veränderung, blolse Bewegmig ? In, diesem Augenblick iing die Bildsäule an, auch die Finger zu rühren, den Arm zu bewegen, mit der Hand um sich her zu

DIE BILDSÄULE. 545

greifen. Sie konnte nunmehr auch filJv Icn. Der Piniosoph, der ich weifs nicht, ob Im Cicero oder selbst im Pia- ton — gelesen hatte, dafs unter allen Fi- guren die Sphäre die schönste sei, legte schnell in die offne Hand der Bildsäule eine kleine elfenbeinerne Kugel, und es schien als ob sie die sanften Ujnrisse mit Wohlgefallen betastete. Er sah sich eben nach einem eckigen unregelmäfsigen Kör- per um, der dem Gefühle unangenehm wäre, als er für diesmal den zweiten wi- drigen Eindiuck unnöthig fand; denn die Bildsäule, ohne denselben abzuwarten, fing von neuem ihr P».äsonnement an. Sie lachte nun selbst der Albernheit ihrer vo- rigen Fragen. Nicht, wie ich duftQ^ oder wie ich töne, sagte sie, mufs ich fragen: denn das sind nur Eigenschaften, nicht Wesen. Jetzt endlich bin ich so

346 DIE BILDSÄULE.

glücklich^ dafs ich Wesen erkenne; und die einzige Frage^ sehe ich wohl^ die ich mit Verstände über mich aufwerfen kann^ ist die: welche Figur icii habe? Meine Eigenschaft ist weder Duften noch Tö- nen, sondern Empfinden ; aber welchem Wesen, von weicher Figur, wohnt diese Eigenschaft bei?

Hier erwachte der Träumer, noch eh' er das Vergnügen genossen hatte, Ge- sichts - mit Gefühlseindrücken vergleichen zu hören. Er wufste erst nicht, da er seinem Traume nachdachte, ob er mehr lachen oder sich ärgern sollte. Wie muth- willig, sagte er endlich, spielt doch im Traume die Phantasie mit der Vernunft! Welch eine schale Dichterinn ist sie, wenn sie nicht von der letztern geführt wird, und welch eine noch schalere Philoso- phinn! Sprache, noch vor geöfnetem Ohr!

DIE BILDSAULE. 547

Bewufstsein gleich auf^die erste Rührung eines der dunkelsten Sinne! Fertigkeit in Räsonnement und Rede, noch ehe die mindeste Übung da war ! Bildliche Aus- drücke von Sinnen her _, die noch aller Empfindung verschlossen waren ! Tiefe Metaphysik über ein paar verworrne_, armselige Geruchsideen ; . . . welch ein Haufen von Abgeschmacktheiten, wovon gleich die erste mich hätte wecken sol- len! Und kann ich denn die eben so gro- fse Abgeschmacktheit der Fragen verges- sen, die sie über sich selbst, über ihre Natur, ihr Wesen aufwarf? Eine Seele, die sich fühlen, betasten läfst; eine Seele, die eine Figur hat; wie widersinnig! . . . obgleich immer noch weniger widersin- nig, als eine Seele, die sich hören, die sich durch den Geruch erkennen läfst, die tönt imd duftet ! Denn Figur

548 1>IE .BILDSÄULE.

Hier hielt er inne, bis er nach langem Nachsinnen fortfuhr: Nun? und was ist denn Figur? Was hat die Frage von der Figur der Seele für einen begreiflichen Vorzug vor der Frage von dem Ton oder dem Duft der Seele ? In jeder derselben liegt die Abgeschmacktheit, das Unnsimi- liche sinnlich erkennen, das was nur durch inneres Bewulstsein gefatst werden kann, der äufsern Empfindung unterwerfen zu wollen. ist weiter unter jenen Fragen ein Unteischied, als dafs in der einen ge- forscht wird, wie die Seele den feinern; jn der andern, wie sie den, gröbern Sin- nen erscheinen würde ? Und ist das Eine zu fragen, im Grunde nicht eben so ab- geschmackt, als das Andre zu fragen? Aber woher rührte es denn, dafs es mir gleichwohl auf den ersten flüchtigen Anblick weniger abgeschmackt schien?

DIE BILDSÄULE. 549

Daher vermuthlich : weil wir unter den sinnlichen Empfindungen immer die der dunklen Sinne auf die der klarem zu- rückzuführen, jene an diese zu knüpfen, sie nur in diesen, als ihnen einwohnend, als von ilmen abhängig, zu denken pfle- gen. An Figur und Solidität, diese Phä- nomene für Gefühl und Auge, schliefst sich nach unsrer Vorstellungsart, alles An- dere an, was wir von Körpern kennen. Was tönt ? was duftet ? was schmeckt ? So fragt alle Welt; und alle Welt glaubt diese Fragen beantwortet, wenn eben da, wo das Ohr hört, die Nase riecht, die Zunge schmeckt, wenn eben da auch die Augen sehn und die Finger tasten kön- nen. An die sichtbare Erscheinmig des Honigs binden wir seinen Duft, seinen Geschmack; und die sanfte Runde seiner Bestandtheile, die mit so leichter Beruh-

550 DIE BILDSAULE.

rung über die Nervenspitzen des Gau- mens hinwegrollen ^ mufs für Erklärung seiner Süfsigkeit gelten. Der Sehende will alles auf Gesichts -, der Blinde auf Gefühlsideen zurückbringen : und war es denn von meiner Bildsäule so abge- schmackt, wenn sie^ mit noch verschlofs- nem Auge: und noch fühlloser Hand^, auf den klarsten Sinn^ womit sie bis dahin empfunden hatte, auf den Sinn des Ge- liörs, zurückging?

Dennoch; dafs sie die Innern Modifi- cationen ihres eigentlichen Selbst, Den- ken und Empfinden, an die Idee eines Tons knüpfen wollte nun freilich ! wenn diese Ungereimheit ihr zu verzei- hen war, so ist und bleibt sie doch Un- gereimtheit. ^ Indessen keine gröfsre, als die : jene Modificationen an eine Figur

DIE BILDSAULE. 5oi

knüpfen^ sie als dieser einwohnend und von ihr unzertrennlich denken zu wollen.- Wenn es schon in der B.egion äufserer Empfindungen Täuschung ist^ die Ideen des einen Sinns so an die des andern zu bangen^ und die einen als raehr substan- tiell, mehr für sich bestehend wie die andern zu denken; so ist es vollends gro- be Täuschung, die Innern Wahrnehmun- gen des unsinnlichen Selbst auf ähnliche Art an irgend eine äufsere Wahrnehmung gleichsam anhängen, sie in diese, als in ihr Grundwesen, gleichsam hineinbilden

zu wollen.

Wornach aber frage denn ich, v;"enh ich, nach erkannten Eigenschaften und Kräften der Seele, noch immer fortfahre nach ihrem VTesefi zu forschen? Nicht nach ihrer Figur : das wäre zu unphilo-

35a DIE BILDSÄULE.

sophisch^ zu abgeschmackt; sondern . . . Hier hielt er abermals iime^ schärfte den Innern Blick^ was er konnte^ und erstaun- te am Ende^ sich mit einer Antwort ge- martert zu haben ^ eh' er sich noch der Frage bewufst war. Sollt' es denn möglich seyn^ rief er^ dals ich im Grunde eben so abgeschmackt und noch ein we- nig abgeschmackter^ als meine Bildsäule^ erschiene? Denn diese, so wunderlich ihre Fragen auch klingen mogten, wufs- te denn doch, was sie wollte. Sollt' ich wirklich mit diesem mir angebornen Trie- be, alle meine andern Empfindungen auf die klarsten zurückzuführen, sie an diese zu knüpfen und von ihnen abhängig zu machen; sollt' ich mit, diesem Triebe, ohne mir's zu gestehen und ohne viel- leicht es zu muthmafsen^ auch die Er-

schei-

DIE BILDSAULE. 353

scheinungen meines Innern Selbst^ Den- ken;, Wollen;, Empfinden^ an die klarste meiner Vorstellungsaiten^ an die des Ge- sichts tmd Gefühls^, haben anknüpfen Wol- len ? Sollt' ich eben so unphilosophisch sinnlich, als irgend einer aus dem gemei- nen Haufen, gleichsam gefragt haben; wie wohl meine Seele, Wenn sie sichtbar wäre, dem Auge erscheinen wurde? . . * Fast mufs ich fürchten, so ist's! Denn setzte ich nicht die Erkenntnifs des We-* sens meiner Seele der Erkenntnifs ihrer Eigenschaften und Kräfte entgegen? Und was für Ursache dazu ? Was trieb mich> aufser dieser letztern Erkenntnifs, noch jene andre zu suchen? Warum liefs ich die ganze Summe aller ihrer Eigenschaf- ten und Kräfte nicht für die ganze Seele gelten? Wahrlich, ich fürchte: meine

Engels Philosoph, L 23

554 DIE BILDSÄULE.

1

träumende Phantasie hat meine wachen- de Vernunft beschämt ; aber dann hätte sie ihr zugleich einen wichtigen Dienst gethan: sie hätte sie vor einem schimpf- lichen Irrwege gewarnet.

Doch ich will mich nicht übereilen. Für künftige Mufse will ich es aufsparen, die Richtigkeit dieses Gedankens zu prü- fen. Was mir jetzt wahr scheint, ist dies: So weit ich in der Entwickelung der Kräf- te und Eigenschaften der Seele kam ; eben so weit kam ich in der Erkenntnils von ihrem Wesen. Ich kenne noch nicht ihr Wesen; was heifst das? Ich habe von je- ner Entwickelung nur noch einen so dürf- tigen Anfang gemacht. Schaute ich alle ihre Eigenschaften luid Kräfte in ihrem in- nigsten Zusanunenhange durch und durch, so würde ich eben damit ihr Wesen ken-

DIE BILDSÄULE. 355

nen; denn die eine Erkenntnifs ist auch die andre : also will ich fleifsig in der Erforschung von jenen fortfahren^ und eben damit werd' ich zu einer hellem Erkenntnifs von diesem kommen.

j5b

ZWEI UND ZWANZIGSTES STÜCK.

DIE GURMETHODEN.

JJer Mensch ist von Grund aus verderbt sagte Diumnler, mein stiller Nachbar^, und schlug die Augen gen Himmel. Da ist nichts übrige als dafs er sich selbst ertödte ; dafs er ganz neu werde ^ eine ganz andere Creatur.

Und was denn für eine? schrie Drajigsturrn, mein wilder Nachbar^ und stemmte seine Fäuste in beide Seiten. Der Mensch ist gut^ wie er ist, nur dafs er zu zahm geworden: Kopfhangen, Herr, zeigt ein mattes Herz an, und je muthi- ger und je unbändiger, desto gesünder!

Der stille Nachbar gab mir einen weh- müthig freundlichöJi Blick, und der wildi^

DIE CURMETHODEN. 357

schlug mich mit der Faust auf die Schul- ter. Beide forderten mich auf zu ent scheiden. Der eine^ merkt man wohl, war ein Frömmler, der sich über den Menschen härmt , dafs er kein reiner Geist ist; der andre ein Kraftgenie, das in seiner Einfalt den leidenscliaftlichsten Menschen, dieses Ideal der Dichtkunst, für das Ideal des wirklichen Charakters ansieht, und uns nun im ganzen Ernst darnach umbilden mögte.

Sie beide, fing ich an, halten den Menschen für krank, meine Herren, und ich denke, Sie haben Recht; aber über die Art der Krankheit und über die Me- thode der Cur sind Sie nicht eiiüg, und da kann nur Einer von Ihnen Piecht ha- ben, oder auch alle beide Unrecht. Ihr Streit erinnert mich an eine Geschich- te, die ich Ihnen erzählen könnte, wenn

358 DIE CURMETHODEN.

Sie Lust hätten mich anzuhören. Sie waren's beide zufrieden.

In einer Stadt also in welcher des lieben Vaterlandes? gilt gleich lebten einst drei vornehnre Herren, alle drei gl^-"ch schwach und gleich krank. Ob sie der Ceres oder dem Bacchus oder irgend sonst einer Gottheit zu viel geopfert hat- ten, oder ob auch das Gift schon aus dem Blute ihrer edlen Ahnen in sie über- gegangen war? kann ich nicht sagen. Ge- nug, es waren blofse Gestalten von Men- schen. Herr von Schlaff sah aus , wie das Fieber; Herr voti Quöch, wie die Auszehrung; und Herr von Hemm , wie die Schwindsucht.

In eben dieser Stadt lebten drei vor- züglich berühmte Arzte : Doctor Si'ifs, Doctor Mark, Doctor SijtTt. Die beiden erstem waren nicht viel mehr als Empi-

DIE CURMETHODEN. 359

riker oder Arzte von Hörensagen _, und hatten sehr viel zu thim ; der letztere war ein Mann voller Einsicht, aber es fehlte an Praxis. Doctor Si/Js galt bei dem schönen Geschlecht und bei den Liebhabern der alten Leier ; Doctor Mark machte sein Gluck bei der Jugend und bei den Bewunderern des Neuen; Doctor Si/i7i ward von den Klugen ge- braucht, imd ging zu Fufse ; die andern beiden aber fuhren in Kutschen.

Herr von ScJdaff fiel durch den Rath seiner Tanten in die Hände des Doctors SVifs. Doctor Süfs fand in seinem Kran- ken nichts, als scharfgewordne Säfte, die er versüfsen, schleimichte, die er verdün- nen, und überhaupt nichts als verdorbne, die er früh oder spät herausschaffen müfste. Er griff also frisch zum Werke, versüfste, verdünnte, führte ab und aus

36p die CURMETHODEN.

durch alle Wege und Öfnungen der Na- tur, Morgens nahm Herr von Schlaff, auf Verordnung, eine gute Portion Man- na; Mittags sah man ihn bei einem Töpf- phen voll Tamarindenmufs^ und vor Schla- fengehen nahm er Cremor mit Zucker. Sein gewöhnliche? Getränke war Mandel- milch, und besonders Tisane von süfsen Hölzern. Um die heilsame Ausdünstung zu befördern, lag er wohl zugedeckt zwi- schen Flanmbetten ; und aus dem Zim- mer zu kommen, war ihm bei Strafe der Apoplexie verboten. Ein paar Wo- chen vergingen, so war von dem ganzen Herrn von Schlaff nichts mehr auszufüh- ren, als seine Seele: und auch die schick- te der Doctor Süfs mit dem letzten Man- natränkchen gen Himmel.

Herr von Quöch, der nun awch an- fing auf seine Cur zu denken, liefs sich

DIE CURMETHODEN. Z^x

durch dieses Beispiel warnen^ luid setzte sein Vertrauen auf die Methode des Doc- tors Mark. Doctor Mark dachte an kei- ne Reinigung seines Kranken; er schüt- telte nur den Kopf über die Schwachheit des Pulses^ und verordnete Stärkungsmit- tel. Alle Morgen tauchte er ihn bis über den Kopf in ein Stahlbad ; Quassia mit spanischem Weine trat an die Stelle des Thees^ und roher Schinken mit einem Schnitte Pumpernickel an die Stelle des Frühstücks. Hart vor dem Essen ward ein Schluck bittrer Magenessenz genom- men, und vor Schlafengehen verschlang Herr von Quöch noch eine derbe Portion China, nicht in Extract_, sondern in Sub- stanz. Das Lager war eine harte Matraz- ze, mit Pferdehaaren gestopft, und das Oberbette eine ganz leichte dünne Decke, mit Baumwolle durchnäht. Auf diese Art.

563 DIE CÜRMETHODEN.

glaubte Doctor Mark^, müfste aus seinem Kranken^ so schwach er jetzt wäre^ noch ein Mann wie ein Herkules werden. So etwas ward denn auch wirklich aus ihm; aber ein Herkules auf dem Oeta: denn der zu gestärkte Herr von Quöch fiel plötzlich in eine Ptaserei, worin er ein geladenes Pistol erhaschte,, und sich über dem rechten Auge eine Kugel durch den Kopf schofs. Seine China hatt' er noch eingenommen; Emilia Galotti lag auf dem Pulte aufgeschlagen.

Durch beide Beispiele gewitzigt^ wand- te sich nun Herr von Hemm an den de- müthigen Fufsgänger^ den Doctor Sinji. Doctor Sinn sah gar bald^ wo es fehlte. Die festen Theile^, sagte er^, sind ge- schwächt, und die Säfte übel gemischt: Herr von Hemm hat nur immer genos- sen und nichts gethan ; er hat gewisse

DIE GURMETHODEN. 363

Kräfte der Natur zu viel und andre zu wenig geübt. Ihn so auf einmal reini- gen wollen, das hiefse bei seiner Schwach- heit ihn über den Haufen werfen ; und ihn unmittelbar stärken wollen^ das hiefse bei der schlechten Beschaffenheit seiner Säfte, das Übel noch fester binden. Ich sehe wohl, ich mufs auf beides zugleich bedacht seyn, und vor Allem mufs mein Kranker sich gelinde Bewegung machen und gute Diät halten. Jenes wird nach und nach den geschwächten Fibern ihren Ton, und dieses den verderbten Säften ihre gehörige Mischung wiedergeben. Zum guten Glück war Herr von Hemm seinem Arzte folgsam; er hielt die ihm vorgeschriebene Diät, machte sich die ihm empfohlne Bewegung : und so lebt er noch jetzt; nicht zwai' von allen An- fällen frei, aber im Ganzen denn doch gesund und zufrieden. - »-

564 DIE CURiVIETHODEJV.

Da sieht man Gottes Gnade ! sagte der stille Nachbar; denn der mufste doch allein das Gedeihen geben. Ja, das gab er auch, sagte der välde; denn er gab dem Doctor Verstand ins Hirn, dal's er von keiner Ertödtung und keiner neuen Creatur phantasirte. So ging der alte Streit wieder an: der eine behauptete, dafs die Natur grund verderbt, der andre, dafs sie sehr gut sei : jener wollte sie nichts als reiner, dieser sie nichts als stär- ker haben. An die Anwendung meines Geschichtchens ward nicht gedacht; und ich sah zu spät, dafs es gleich vergebli- che Arbeit ist, Mohren zu waschen, und Leute die einmal Partei genommen, auf andre Gedanken zu bringen.

ZUSATZ.

VV as sich die Verfasser dieser Schrift bei der Wahl des Titels gedacht haben, das wird sich durch die Schrift selbst am besten zeigen. Unter einem Fhiloso^ pheriy scheinen sie überhaupt einen Mann zu verstehen, der irgend eine zur Philo- sophie gehörige oder philosophisch be- handelte Wahrheit vorträgt : gleichviel welche? oder in welcher Gestalt ? und imter der TVelt, das ganze gemengte Pu- blicum, wo der Eine mehr für diese, der Andre mehr für jene Gegenstände ist, der £ine mehr diesen, der Andre mehr jenen Ton liebt. Das Einzige war da- bei zu beobachten, dafs nichts mit unter- liefe, was für irgend einen der schon, zu

566 Z U S A T Z.

dem feinern gebildetem Theile des Pu- blicums gehört, ganz unverständlich oder ganz ohne Reiz wäre.

Wenn jede bessere Kritik über thea- tralische Werke Philosophie über den Menschen enthalten muls, so konnten die Briefe über Eniilia Galotti hier nicht am unrechten Platze stehen, sobald sie nur sonst ihres Platzes werth waren. Dieses aber schienen sie doch immer zu seyn, und werden es vielleicht in der Folge noch mehr scheinen, so viel auch noch Erinnerungen und Einwendungen Statt finden mügten. Gegen den dritten Brief habe ich selbst eine auf meinem Herzen , die ich mich nicht enthalten kann herzusetzen.

Es ist offenbar, dünkt mich, dafs der Verfasser in dem Charakter der Emilie einen sehr wesentlichen Zug übersehen

ZUSATZ. 3Ö7

habe. Er scheint ihre ganze anfängliche Schüchternheit aus dem Umstände herzu- leiten: dafs sie an heiliger Stätte in den Verrichtungen ihrer Andacht durch etwas so Ungeziemendes, als ein Liebesantrag, gestört worden; und das zwar von einem Manne, der so viel zu bedeuten hat, und wenn er Ernst macht, so gefährlich ist, als der Prinz. Aber eigentlich entsteht wohl diese so grofse Schüchternheit aus dem Bewufstsein, wie wenig sie sich selbst bei dem Prinzen zu trauen habe. Dieses erklärt sich schon Anfangs, ehe sie es in der letzten Scene mit ihrem Vater ziem- lich deutlich sagt, dmxh einige Züge, die zwar freilich, weil sie in Emiliens eignen Reden liegen, sehr fein sind; besonders aber erklärt es sich, wenn man Acht giebt, durch ihr Verhalten nach dem Tode des Grafen, Immer ist ihr erster Gedanke

SbS ZUSATZ.

auf ihre Mutter^ der zweite auf den Gra- fen gerichtet. Was sie für diesen em- pfindet^ scheint mehr Hochachtung und Freundschaft zu seyn; als Liebe; sie scheint ihm mehr aus Gehorsam gegen den Wil- len ihres Vaters^ als aus eigner Wahl ihre Hand zu geben. Ihr Herz hat heimlich der Prinz; aber sie wagt es bei ihrer Tu- gend imd Frömmigkeit nicht, diese straf- bare Neigung zu nähren; sie kämpft ihr vielmehr aus allen Kräften entgegen,, und fürchtet und vermeidet den Anblick des- sen, der diese Neigung in ihr erweckt hat. Eben hieraus mm erklärt sich die Furcht vor Verführung, die Emilie in der letzten Scene mit ihrem Vater äufsert. Es ist völlig eben die Furcht, die sie An- fangs, da sie den Prinzen in der Messe sprach, luid nachher da sie ihn in Dosa-

lo

ZUSATZ. 369

lo nnvermuthet wiedersah, 50 schüchtern^ so ängstlich machte.

Um dem Verfasser der Briefe nicht Unrecht zu thun, will ich auch das hier anfuhren^ was ihm zu seiner Entschuldi- gung übrig bleibt. Die Worte der Clau- dia im vierten Act *), kann er sagen, haben mich bei der Beurtheilung dieses Charakters irre geführt. Auch ist keine Rede der Emilie, die sich nicht so ver- stehen liefse wie ich sie verstanden habe. Die Züge wodurch sie ihr Herz verräth, sind zu fein, und werden zum Theil da- durch noch zweideutiger, weil der Lieb- haber ein Prinz ist, gegen den sie sich aus einem weit allgemeinern Grunde so schüchtern zeigen könnte, als weil sie ihn liebt. Gleichwohl ist dieser Umstand im Charakter so wichtig, und hat auf die

•) M an s. oben S. i5g. Engels Philosohpf I. 24

S70 Z U S A T Z.

Hauptscene des Stucks einen so grofsen Einflufs^ dafs er wohl durch mehr und durch bestimmtere Züge hätte sollen her- ausgehoben werden. In Nebensachen er- läfst man dem Dichter eine zu ängstliche Vorbereitung, eine zu umständliche Ent- wickelung gern ; aber über einen so we- sentlichen und zur Einsicht ins Ganze so unentbehrlichen Punct, sollte er völlig bestimmt seyn. Man bedenke ferner, dafs Emilie ihren Grafen ^ als einen sehr wür- digen Mann und als den Liebling ilires Vaters, doch immer sehr hochachtet; dafs er als Freund und als künftiger Gemahl, gegen den sie wenigstens nicht den min- desten Widerwillen, vielmehr das Gegen- theil zu erkennen giebt, auch Antheil an ihrer Zärtlichkeit haben mufs; dafs ihre Liebe gegen den Prinzen eine noch ganz unentwickelte, noch gar nicht zur Reife

ZUSATZ. 371

gediehene Leidenschaft ist ; dafs die That, derentwegen sie ihn in Verdacht hat, auch wenn sie einen gleichgültigem Mann be- träfe, ihn äufserst verabscheuungs würdig zeigt; dafs endlich die Absicht bei dieser That, die sie nur allzuwohl verr.iuthet, ihr die schändlichste Art von Liebe zu erkennen giebt, die ein so frommes und sittsames Mädchen eher empören, als ein- nehmen kann. Sollte nicht immer der Einwurf noch gültig bleiben, dals Emilie, so frisch nach der Entdeckung dieser That, an keine Möglichkeit der Verführung den- ken dürfe? Ich überlasse die Entschei- dung dem Leser, wer bei diesen Grün- den und Gegengründen das meiste Recht haben mag; ob der Verfasser der Briefe oder der Dichter?

n. H,

ENDE DES ERSTEN BANDES,

Berlin. Gedruckt bei Johann Friedrich Unger.

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