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BUCi-IHANDLUNG
OSKAR BECK /AUfScWEN
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C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck in München.
Handbuch
des deutschen Unterrichts
an den höheren Schulen.
In Verbindung mit einer Anzahl Gelehrter und praktischer Schulmänner
herausgegeben von
Dr. Adolf Matthias,
Geh. Ober-Reg.-Rat und vortragendem Rat im k. preuß. Kultusministerium.
Das Werk ist vollständig in 6 Bänden, die in etwa 14 Teilen zur Ausgabe gelangen werden. Jeder Teil wird ein abgeschlossenes Ganzes bilden und auch einzeln abgegeben werden.
Prospekt.
Bis in die siebenziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts bildeten die alten Sprachen den Mittelpunkt des gymnasialen Unterrichts und ihre Kenntnis in gewissem Sinne die Vorbedingung für alle höheren Berufsarten. Seit Beginn der achtziger Jahre ist ein Wandel auf diesem Gebiete ein- getreten. Wohl sind seitdem die alten Sprachen noch bestimmend für die Eigenart und auch für gewisse Vorrechte der Gymnasien, sie bilden aber nicht mehr den Kern oder Mittelpunkt des gesamten Gymnasialunterrichts und des gesamten höheren Unterrichts überhaupt. Unsere höheren Schulen haben mehr und mehr den Charakter von Gelehrtenschulen abgestreift und sich verwandelt in Pflegestätten höherer Allgemeinbildung. So sehr man das in gewisser Hinsicht bedauern mag, so sehr man wünschen muß, daß die klassische Bildung, dieses wertvolle Erbteil unserer Väter, der modernen Bildung zuliebe nicht Schaden leide, und man verlangen muß, daß nicht noch mehr Luft und Licht dem Studium der Antike entzogen werde, ebenso unumwunden soll man der neuen Zeit ihr Recht geben und die bedeut- same Verschiebung in der Wertung der Unterrichtsgegenstände an den deutschen höheren Lehranstalten als etwas Berechtigtes anerkennen, das mit geschichtlicher Notwendigkeit aus dem Geiste der Zeit und dem Werde- gange unseres deutschen Volkes erwachsen ist. In dieser Verschiebung der Werte ist bemerkenswert das wachsende Ansehen, dessen sich der deutsche Unterricht mehr und mehr zu erfreuen hat. Wer aufmerksam die Geistes- entwickelung unseres Volkes in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahr- hundertsbeobachtet hat, wird zugeben müssen, daß die Achtung des deutschen Unterrichts mit dem Wachsen der Sehnsucht unseres Volkes nach einheit- licher Gestaltung und mit der Kräftigung des nationalen Gedankens mehr und mehr sich bemerkbar gemacht hat und nach der Aufrichtung des Deutschen Reiches so in den Vordergrund getreten ist, daß die Zeit der Erfüllung für diesen Unterrichtsgegenstand nunmehr gekommen war. Es war deshalb ein geschichtlich begründeter Ausdruck gesunder Zeitrichtung
und Zeitstimmung, wenn von der höchsten Stelle im Reich im Jahre 1891 die Forderung nach höherer Wertschätzung des deutschen Unterrichts ge- stellt wurde. Für deutsche Schulen hätte solche Anschauung stets als selbst- verständlich angesehen werden und nicht erst solch nachdrucksvoller Betonung von autoritativer Seite bedürfen sollen. Aber wer die geschichtliche Entwicke- lung dieses Lehrgegenstandes kennt, weiß, daß es vor 40 oder 50 Jahren geradezu ein Wagnis gewesen wäre, dem Gedanken Ausdruck zu geben, der deutsche Unterricht solle der Schwerpunkt des gesamten Unterrichts werden; man würde bei den Verfechtern des Gelehrtenideals unserer Schulen als ein sonderbarer Schwärmer mitleidigem Lächeln begegnet sein und die Abweisung erfahren haben, man fordere von diesem Unterricht, was er weder leisten könne noch solle. Heute haben sich die Rollen verschoben; heute stehen diejenigen, die nicht von der hohen Bedeutung des deutschen Unterrichts überzeugt sind, als Sonderlinge da. Denn es erscheint heut- zutage einfach als eine nationale Pflicht und eine pädagogische Forderung ersten Ranges, daß unsere Jugend ein Anrecht darauf habe, in das Verständnis ihrerMuttersprache undderenGeschichte, in des eigenen Volkes Literatur und Geistesleben eingeführt und so der Pflege heimischer Empfindungen und vaterländischen Sin- nes in vollem Umfange teilhaftig zu werden.
Dieser Pflicht will das Handbuch des deutschen Unterrichts ge- recht werden, das, hervorgegangen aus dem engsten Einvernehmen des Veriegers und des Herausgebers, durch lebendige Zusammenarbeit mit be- deutenden Männern auf dem Gebiet der germanistischen Wissenschaft und des deutschen Unterrichts geschaffen werden soll. Es will allen Lehrern und Lehrerinnen (denn die höheren Mädchenschulen haben auf diesem Unterrichtsgebiete gleiche Rechte und Pflichten), insbesondere aber denen, welchen der deutsche Unterricht anvertraut ist, die Möglichkeit bieten, ein tieferes Verständnis unserer Sprache und ihrer Geschichte zu gewinnen und ihr Urteil und ihren Geschmack für logische, sittliche und ästhetische Fragen, die mit dem deutschen Unterricht zusammenhängen, fortwährend zu bilden und zu vervollkommnen. Kein Unterricht kommt so leicht in Gefahr, der Oberflächlichkeit und der Phrase, diesem gefährlichsten Gift aller gesunden Erziehung, zum Opfer zu werden. Kein Lehrgegenstand sollte aber sorgfältiger und gewissenhafter vor dieser Gefahr geschützt werden als dieser, abgesehen vom Religionsunterricht, ethisch bedeutsamste Teil des Lehrplans unserer höheren Schulen. Ein sicheres Gegengemcht gegen alle Phrase ist nun zweifellos gediegenes Wissen, festes Können und Vertiefung in das durch die schöne Literatur vermittelte Geistesleben unseres Volkes.
Noch eins kommt hinzu. Wir Deutsche haben lange Zeit einen wenig lebendigen Formsinn gehabt, dagegen ein starkes Gefühl der Unab- hängigkeit auch unserer Sprache gegenüber. So sehr wir zu Zeiten geneigt gewesen sind, uns in fremdländischen, besonders altsprachlichen Regeln zu tummeln und heimisch zu machen, so schwer ist es uns vielfach geworden, uns in unserer eigenen Sprache Gesetzen und Regeln zu fügen. Lessings
beschämendes Wort, der Charakter des deutschen Volkes bestehe darin, keinen Nationalcharakter zu besitzen, gilt in gewissem Sinne auch auf dem Gebiete des deutschen Unterrichts. Während wir auf fremdsprach- lichem Gebiete in unseren Schulen Hervorragendes geleistet haben und dort fremdem Geiste und fremder Form so zugetan waren, daß uns viel- fach das Fremde zur anderen Natur geworden ist, waren wir zu deutschem Geist und deutscher Form in ein Verhältnis der Entfremdung geraten und sind erst spät zu der Erkenntnis gekommen, daß wir den eigenen Sprach- charakter fast verloren haben. Mehr und mehr aber hat sich in den letzten Jahrzehnten die Anschauung Bahn gebrochen, daß die Zeiten vorüber sind, wo allein der Mann zu den Gebildeten gerechnet wurde und sich den höchsten Aufgaben und Berufen gewachsen glauben durfte, der sich die aus dem Alter- tum geretteten Wissensschätze angeeignet und dazu die Kunst gelernt hatte, sich in gutem und gewandten Latein auszudrücken. Aber auch die Zeit ist für immer vorüber, wo Sprache und Geistesbildung unserer westlichen Nachbarn als unübertreffliche Muster hingestellt wurden, und französische Eleganz allein als Zeichen höherer Bildung angesehen wurde. Wer heute als ein wahrhaft gebildeter Mann in seinem Vaterlande gelten will, der wird nicht mehr ungestraft vaterländische Bildung vernachlässigen dürfen, und es wird ihm als ein bedenklicher Mangel anhaften, wenn er seines Vaterlandes Sprache, Literatur und Geistesschätzen nicht den Haupt- und Ehrenplatz in seiner Bildung einräumt.
Das Handbuch wird im ersten Bande die geschichtliche Entwicke- lung des deutschen Unterrichtes, die Behandlung des deutschen Lese- stoffes und des deutschen Aufsatzes bringen. Der zweite, dritte und vierte Band haben den Bestand und das Werden der deutschen Sprache darzustellen. Neben der Grammatik der neuhochdeutschen Sprache bietet zunächst der zweite Band kurzgefaßte Grundrisse des Gotischen, Althoch- deutschen und Mittelhochdeutschen, verbunden mit der Erklärung ausge- wählter Texte. Der dritte Band enhält die deutsche Stilistik, Metrik und Poetik, also die künstlerische Tätigkeit des Sprachgeistes, wie sie sich zum Zwecke mehr bewußter Wirkungen vollzieht. Der vierte Band bietet die Ge- schichte der deutschen Sprache, die Etymologie und die Sprichwörter, also das Werden und Sein unserer Sprache, bei dem das Schaffen des Volksgeistes in mehr unbewußter Empfänglichkeit und Darstellungskraft mitwirkend tätig ist. Der fünfte Band wird einen Einblick in die deutsche Altertumskunde, die deutsche Religion, Mythologie und Heldensage bieten, die aufs engste ver- bunden sind mit dem Leben unserer Sprache und die ohne die Erkenntnis der mitbestimmenden sprachlichen Kräfte zum vollen Verständnis nicht ge- langen können. Der sechste Band wird die deutsche Literaturgeschichte enthalten, die alles das aus den fünf ersten Bänden gleichsam zusammenfaßt, was an literarischen Werten sich im Laufe der Geschichte abgeklärt und befestigt hat.
Dr. Adolf Matthias, C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung
Geh. Oberregierungsrat und vertragender Rat Oskar Beck.
im l<. preuss. Kultusministerium.
Inhalt des Gesamtwerkes:
Erster Band:
1. Die geschichtliche Entwickelung des deutschen Unterrichts von Dr. Adolf Matthias, Geh. Ober-Reg.-Rat und Vortrag. Rat im k. preuß.
Kultusministerium. (Erscheint im Laufe des Jahres 1906. 1
2. Der deutsche Aufsatz von Prof. Dr. Paul Geyer, Oberlehrer am Gym- nasium zu Brieg. 21 Bog. Lex. 8". Geheftete Mk., geb. 7 Mk. (Erschienen!)
3. Die Behandlung der Lesestücke und Schriftwerke von Dr. Paul
Goldscheider, Gymnasialdirektor in Mülheim a. Rh. 32 Bog.
Lex.8". Geheftet 8 Mtl., gebunden 9 Mk. lErsanenem) Zweiter Band:
/. Einführung in das Gotische, Althochdeutsche und Mittelhoch- deutsche an der Hand der Erklärung ausgewählter Texte, nebst Wörter- verzeichnissen von Dr. Friedrich von der Leyen, Privatdozent an der Universität München.
2. Grammatik der neuhochdeutschen Sprache. Von Dr. Ludwig Sätterlin, a.o. Professor an der Universität Heidelberg. Mit Anhang: Die deutsche Au\ssprache auf phonetischer Grundlage. Von Dr. Theodor Siebs, ord. Professor an der Universität Breslau.
Dritter Band:
/. Deutsche Stilistik. Von Dr. Richard M. Meyer, a.o. Professor an der Uni- versität Berlin. 15^12 Bog. Lex. 8^. Geheftet 5 Mk., geb. 6 Mk. (Erschienen!)
2. Deutsche Poetik. Von Prof. Dr. Rudolf Lehmann, Oberlehrer am
Luisenstädt. Gymnasium und Dozent an der Universität in Berlin.
I, Erscheint im Herbst 1906.)
3. Deutsche Verslehre. Von Dr. Franz Saran, a.o. Professor an der
Universität Halle. (Erscheint im Sommer I906.I
Vierter Band:
/. Geschichte der deutschen Sprache von Dr. Viktor Michels, ord. Pro- fessor an der Universität Jena.
2. Etymologie der neuhochdeutschen Sprache. Eine Darstellung des
deutschen Wortschatzes in seiner geschichtlichen Entwick- lung. Mit Index. Von Dr. Herman Hirt, a.o. Professor an der Universität Leipzig.
3. Sprichwörter, sprichwörtliche Redensarten, geflügelte Worte.
Fünfter Band:
/. Deutsche Altertumskunde, Religion und Mythologie. Von Dr. Fried- rich Kauffmann, ord. Professor an der Universität Kiel.
2. Deutsche Heldensage. Von Dr. Friedrich Panzer, Professor an der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften in Frankfurt a. M.
Seclister Band:
Deutsche Literaturgeschichte. Von Dr. Ernst Elster, ord. Professor an der Universität Marburg a. L.
HANDBUCH
DES
DEUTSCHEN UNTERRICHTS
AN HÖHEREN SCHULEN
In Verbindung mit Prof. Dr. Ernst Elster (Marburg), Gymn.Prof. Dr. Paul Geyer (Brieg), Gymn.Dir. Dr. Paul Goldscheider (Mülheim a. Rh.), Prof. Dr. Hermann Hirt (Leipzig), Prof. Dr. Friedrich Kauff- mann CKiei), Gymn.Prot. Dr. Rudolf Lehmann (Berlin^, Priv. Dozent Dr. Friedrich von der Leyen (München), Prof. Dr. Richard M. Meyer (Berlin), Prof. Dr. Viktor Michels (Jena), Prof. Dr. Friedrich Panzer CFrankfurt a. M.), Prof. Dr. Franz Saran (Halle), Prof. Dr. Theodor Siebs (Breslau), Prof. Dr. Ludwig Sütterlin (Heidelberg)
HERAUSGEGEBEN VON
DR. ADOLF MATTHIAS
GEH. OBER-REG.-RAT UNO VORTR.\GENDEM R.\T IM K. PREUSS. KLLTUS.MLNTSTERIU.H
DRITTER BAND, ERSTER TEIL DEUTSCHE STILISTIK
MUENCHEN 1906
C. H. BECK'SCHE VERL.^GSBUCHH.\NDLUNG OSKAR BECK
r\(o\^^a
DEUTSCHE
STILISTIK
Von
DR. RICHARD M. MEYER
PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT BERLIN
Und geht es noch so rüstig Hin über Stein und Steg, Es ist eine Stelle im Wege, Du kommst darüber nicht weg.
Th. Storm.
MUENCHEN 1906
C. H. BECK'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
OSKAR BECK
C. H. Beck 'sehe Buchdruckerei in Nördliagen.
KONRAD BURDACH
UND
ERNST ELSTER
IN FREUNDSCHAFT ZUGEEIGNET
Inhaltsverzeichnis.
Einleitung. Seite
§ 1. Theoretische und praktische Aufgabe 1
§ 2. Bedenl<en 1
§ 3. Abgrenzung 1
§ 4. Absicht 2
§ 5. Literatur 2
Stilistik.
Erstes Kapitel. Allgemeines.
§ 6. Literatur 3
§ 7. Definitionen 3
§ 8. Erläuterung 3
§ 9. Auffassung 4
§ 10. Verhältnis zur Rhetorik 4
§ 11. Geschichte 4
§ 12. Grundlage 4
§ 13. Einteilung 5
§ 14. Elemente der Rede 5
§ 15. Rekapitulation 5
Zweites Kapitel. Die Worte in formeller Hinsicht.
§ 16. Gemeinverständlichkeit 5
§ 17. Barbarismus 6
§ 18. Soloecismus 6
§ 19. Archaismus 7
§ 20. Neologismus 9
§ 21. Modewörter 12
§22. Idiotismus 15
§ 23. Provinzialismus 16
§24. Kunstwörter 17
§ 25. Fremdwörter 18
§ 26. Niedere Worte 21
§ 27. Rekapitulation 22
Drittes Kapitel. Die Worte in inhaltlicher Hinsicht.
§ 28. Wortwahl • 22
§29. Genauigkeit 24
§30. Amphibolie 25
§ 31. Anschaulichkeit 26
VIII Inhaltsverzeichnis.
Seite
§ 32. Mittel der Wortwahl 27
§ 33. Assoziationen 28
Viertes Kapitel. Die Wortverbindung in formeller Hinsicht.
§ 34. Wortverbindung 31
§ 35. Satzteile 32
§ 36. Sandhi oder Satzphonetik 32
§ 37. Hiatus und Euphonie 33
§ 38. Störende Lautähnlichkeit 35
§ 39. Formelbruch 35
§ 40. Polyptoton 36
§ 41. Annominatio 36
Fünftes Kapitel. Die Wortverbindung in inhaltlicher Hinsicht.
§ 42. Allgemeine Wortbeziehungen 37
§ 43. Anteil am Satz 37
§ 44. Wortwiederholung 37
§ 45. Flektierte Wortwiederholung 38
§46. Häufung 39
§ 47. Oxymoron 40
§ 48. Spezielle Wortbeziehungen 42
§ 49. Eigenart des Adjektivs 42
§ 50. Prädikativer und attributiver Gebrauch 43
§ 51. Das Attribut 43
§52. Tautologie 43
§ 53. Figura etymologica 44
§54. Epitheton: Definition 45
§55. Epitheton: Eigenart 46
§ 56. Entwicklung des Epithetons 47
§ 57. Aufgabe des Epithetons 51
§ 58. Anwendung des Epithetons 52
§ 59. Steigerung 53
§ 60. Subjekt und Prädikat 54
§61. Constructio kata synesin 54
§ 62. Eigentliches Zeugma 55
§ 63. Uneigentliches Zeugma 55
§ 64. Prädikat und Objekt 55
§ 65. Rückblick 56
Sechstes Kapitel. Der Satz in formeller Hinsicht.
§ 66. Definition des Satzes 56
§ 67. Syntax und Stilistik 56
§68. Wortstellung 56
§ 69. Allgemeines zur Prosarhythmik 58
§ 70. Numerus und Rhythmus 60
§71. Rhythmus 61
§ 72. Klausel 61
§73. Melodie 63
§ 74. Tempo 63
§ 75. Ausdehnung 64
§ 76. Numerus im engern Sinn 65
§77. Regeln 69
Inhaltsverzeichnis. IX
Seite Siebentes Kapitel. Der Satz in inhaltlicher Hinsicht.
§ 78. Forderungen an den Satz 70
§ 79. Einheit 70
. § 80. Parataxe und Hypotaxe 72
§ 81. Störungen der Einheitlichl<eit 73
§ 82. Parenthese 73
, § 83. Ellipse 74
§ 84. Aposiopese 75
§ 85. Anakoluth 76
§ 86. Störungen der Vollständigkeit 77
§ 87. Mehrdeutigkeit 77
§ 88. Undeutlichkeit 78
§ 89. Anmerkung 79
§ 90. Exkurs 80
§ 91. Nachtrag 81
§ 92. Interpunktion 81
§ 93. Typographische Hilfsmittel 83
Achtes Kapitel. Arten des Satzes.
§ 94. Arten des Satzes 84
§ 95. Satz- und Stilarten 84
§ 96. Ausruf 84
§ 97. Aussage 86
§ 98. Zusammengesetzter Satz 86
§ 99. Frage 87
§ 100. Symbolische Sätze 87
§ 101. Heischesätze 89
Neuntes Kapitel. Die Satzverbindung in formeller Hinsicht.
§ 102. Arten der Satzverbindung 89
§ 103. Normale Satzverbindung 90
§ 104. Asyndeton 90
§ 105. Polysyndeton 90
§ 106. Bindung durch betonte Worte. Anaphora 91
§ 107. Epiphora 93
§ 108. Symploke 94
§ 109. Epanodos 95
§ 110. Epanalepsis 95
§111. Wortaufnahme 95
§ 112. Refrain ' 96
§ 113. Gegenrefrain 97
§ 114. Responsionen 97
§115. Kontinuität 98
§ 116. Variation des Subjekts 98
§ 117. Tropen 99
§ 118. Einteilung der Tropen 100
§119. iVlietonymie 102
§ 120. Umschreibung 105
§ 121. Euphemismus 107
§ 122. Grenzfälle der Umschreibung 107
§ 123. Synekdoche 108
§124. Metapher HO
§ 125. Variation und Wiederholung 112
X Inhaltsverzeichnis.
Seite
Andere Satzbindemittel 113
Parallelismus • 113'
Inversion 114
Reim 114
Zählung ■ 115
Rückblick 115
Zehntes Kapitel. Die Satzverbindung in inhaltlicher Hinsicht.
Einheit der Rede 115
Analysen 116
Entwicklung der Rede 117
Formen der Entwicklung 118
Geradlinige Entwicklung 118
Akkumulation 119
Amplifikation 119
Gewundene Entwicklung 120
Zweiteilung 121
Antithese 122
Chiasmus 125
Klimax 127
Kette 128
Wortspiel 129
Verweisung 130
Hysterologie 131
Periodenbau 131
Satzschluß • 132
Elftes Kapitel. Aufiere Hilfen.
Äußere Beziehungen 133
Apostrophe 133
Inhaltliche Hilfen von außen her 134
Sprichwort 134
Zitat 135
Parodie 137
Anspielung 137
Reminiszenz 138
Sentenz 138
Gleichnis 139
Katachrese 141
Parabel 143
Beispiel 143
Anekdote 144
Zwölftes Kapitel. Innere Hilfen.
Beste Hilfe 145
Disposition 146
Lektüre 148
Feilen 149
Abschluß 151
Dreizehntes Kapitel. Arten der Prosa.
Recht der Einteilung 152
Einteilung der Prosa 152
§ |
126 |
§ |
127 |
§ |
128 |
§ |
129 |
§ |
130 |
§ |
131 |
§ |
132 |
§ |
133 |
§ |
134. |
§ |
135. |
§ |
136 |
§ |
137. |
§ |
138. |
§ |
139. |
§ |
140. |
§ |
141. |
§ |
142 |
§ |
143. |
§ |
144. |
§ |
145 |
§ |
146. |
§ |
147. |
§ |
148. |
§ |
149 |
§ |
150. |
§ |
151. |
§ |
152. |
§ |
153. |
§ |
154. |
§ |
155. |
§ |
156. |
§ |
157. |
§ |
158. |
§ |
159 |
§ |
160 |
§ |
161 |
§ |
162 |
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163 |
§ |
164 |
§ |
165 |
§ |
166 |
§ |
167 |
§ |
168 |
§ |
169 |
§ |
170 |
Inhaltsverzeichnis. XI
Seite
§ 171. Monologische Prosa 155
§ 172. Aphorismus 155
§ 173. Essay 158
§ 174. Tagebuch 159
§ 175. Erzählende Prosa 160
§ 176. Arten der erzählenden Prosa 165
§ 177. Novelle 168
§ 178. Literarisches Porträt 168
§ 179. Schwank 170
§ 180. Rätsel 171
§ 181. Märchen 172
§ 182. Roman 174
§ 183. Wissenschaftliche Darstellung 179
§ 184. Bericht 182
§ 185. Inschrift 183
§ 186. Brief 184
§ 187. Zeitung 188
§ 188. Mitteilende Prosa 194
§ 189. Dialog 195
§ 190. Wissenschaftliche Untersuchung 196
§ 191. Rede . . •» 197
§ 192. Flugschrift 199
§ 193. Rückblick 200
Vierzehntes Kapitel. Umgestaltende Faktoren. ^
§ 194. Norm und Umgestaltung 201
§ 195. Moment 201
§ 196. Zeit 203
§ 197. Umgebung 205
§ 198. Thema 206
§ 199. Temperament 207
§ 200. Bildungsstufe 215
§ 201. Weltanschauung 216
§202. Individualität 217
§203. Rückblick 219
Anhang. Rhetorik.
§204. Definition 221
§ 205. Literatur • 221
§ 206. Geschichte der deutschen Beredsamkeit 223
§ 207. Art der deutschen Beredsamkeit 224
§ 208. Eigentümliche Momente der Rede 226
§ 209. Wirkung der unmittelbaren Absicht 226
§ 210. Wirkung des mündlichen Vortrags 229
§211. Wert der Redekunst 230
§ 212. Gesellige Unterhaltung 231
Alphabetisches Register 233
Einleitung.
§ 1. Theoretische und praktische Aufgabe. Die Stilistik wird insgemein als eine Art Geheimmittellehre aufgefaßt, die allerlei Kunstgriffe zur Erzielung ästhetischer Wirkungen an die Hand geben soll. Davon kann im Ernst nicht die Rede sein; vielmehr ist sie eine wissenschaftliche Disziplin, die als solche das Verständnis vorhandener Erscheinungen zu fördern und zu verbreiten sucht. In diesem Sinn behandeln wir die Stilistik in dem fol- genden Abriß als ein System theoretischer Erkenntnisse, das sich selbst- verständlich praktisch verwerten läßt, gerade wie die Grammatik (im Sprach- unterricht) oder jede andere Wissenschaft.
Die Rhetorik ist dagegen nach ihrer Eigenart wirklich immer vorzugs- weise praktisch gewesen. Die mündliche Beredsamkeit, die ihren eigent- lichen Stoff bildet, läßt sich nicht in der Weise beobachten, wie Leistungen, die in Schrift oder Druck vorliegen: die Gelegenheit zum Studium ist un- gleich seltener und dauert kürzer. Und ferner ist bei der Beredsamkeit das Ziel überwiegend selbst ein praktisches: sie ist auf eine bestimmte Wirkung, Überredung, Gemütsbestimmung gerichtet, während die sonstige Prosa und Poesie dergleichen mindestens nicht so unmittelbar anstreben.
§ 2. Bedenken. Es ist daher nicht zu leugnen, daß die herkömmliche Verkuppelung „Stilistik und Rhetorik" eine gewisse Schiefe in sich birgt. Stellt man, wie es so oft geschieht, noch drittens die Poetik hinzu, so wird die Kluft einigermaßen überdeckt, da die Poetik zwischen den theoretischen Aufgaben der Stilistik und den praktischen der Rhetorik vermitteln kann; obwohl sie in neuerer Zeit die praktischen Tendenzen immer mehr ab- geschüttelt hat, die die Lehrbücher früherer Zeiten (man denke nur an den berühmten „Poetischen Trichter" von Nürnberg 1647!) beherrschten.
Wir suchen der Ungleichmäßigkeit dadurch Herr zu werden, daß wir auch die Rhetorik rein theoretisch behandeln und nur eben hier, wie übrigens bei der Stilistik auch, Folgerungen, die sich aus den Tatsachen unmittelbar ergeben, nicht verschweigen.
§ 3. Abgrenzung. Auf diese Weise erhalten wir zwei Disziplinen, deren Abgrenzung untereinander und gegen die Poetik von der Definition ab- Handbuch des deutschen Unterrichts. Bd. UI, Teil 1. 1
Einleitung.
hängig ist, die wir von beiden und vor allem von der Stilistik geben. An dieser Stelle mag nur bemerkt werden, daß in der Stilistik und Rhetorik stärker als in der Poetik solche Formen zu behandeln sind, die mit bewußter Absicht verwandt werden; doch handelt es sich, wie schon angeführt, nur um eine Verschiedenheit des Grades. Ein Amerikaner, Dobell, hat definiert: „Poesie ist der Ausdruck einer Gemütsstimmung nach ihren eigenen Ge- setzen; Rhetorik nach den Gesetzen der Hörer." Das deutet, in pointierter Übertreibung, auf eine wirkliche Verschiedenheit. Die Stilistik gehört dabei mit der Rhetorik insofern zusammen, als es sich bei beiden vorzugsweise um Regeln handelt, die durch die spezifische Anwendung vorgeschrieben werden.
§ 4. Absicht. Wir werden, wo es irgend angezeigt scheint, den Stoff in dreifacher Gliederung geordnet zeigen: die anzugebenden Tatsachen sollen psychologisch eriäutert, historisch eingereiht, normativ ver- wertet werden. Der Tatbestand selbst bleibt aber die Hauptsache und die historischen Zusammenhänge werden wir, dem Zweck dieses Lehrbuches entsprechend, am wenigsten betonen. — In Literaturangaben sparsam, beschränken wir uns auf die Angabe solcher Bücher, aus denen unsere Leser einen unmittelbaren Vorteil ziehen können; und da in Hinsicht auf die Beobachtung des Tatsächlichen die alte Tradition der Franzosen und die neue Tendenz der Amerikaner unsere deutsche, auf die spekulative Ergründung gerichtete Art vielfach übertreffen, habe ich verhältnismäßig häufig auf lehneiche fremdsprachliche Arbeiten hinweisen müssen.
§5. Literatur. Von allgemeinen Darstellungen, die Stilistik und Rhetorik umfassen, nenne ich hier nur zwei deutsche Bücher. Das bekannte Werk von W. Wackernagel, Poetik, Rhetorik und Stilistik (Akademische Vorlesungen, herausgegeben von L Sieber, Halle 1873, Waisenhaus) verdankt seine Beliebtheit der geschickten Auswahl deutscher Beispiele; übrigens bleibt es völlig von der antiken Theorie abhängig, außer in der Dis- position, die aber keineswegs glücklich heißen kann. Das Büchlein von A. Philippi, Die Kunst der Rede. Eine deutsche Rhetorik (Leipzig 1896, Grunowi sucht dagegen mit Ent- schiedenheit einen modernen Standpunkt einzunehmen, den es mit Geschmack, doch ohne systematische Vollständigkeit durchführt — Einzelne Literatur habe ich überall soweit angezogen, daß die mir besonders förderlich scheinenden Schriften dem zur Hand sind, der auf dem betreffenden Gebiet weiter arbeiten möchte, daß aber für andere die Einsicht- nahme in die angeführten Bücher entbehrlich ist.
Zur Erläuterung der gefundenen Regeln, Empfehlungen und Bedenken geben »ir möglichst kurze Beispiele; wo solche bei geringem Nachdenken jedem zu Gebote stehen, haben wir den Raum gespart. Reichliche Beispiele findet man insbesondere bei Wacker- nagel (s. o.) und bei G. Gerber, Die Sprache als Kunst (Bromberg 1871 f. : weniger zu empfehlen ist das Büchlein von O. Weise, Stilistische Musterbeispiele ileipzig 1902, Teub- ner). Im übrigen scheint uns efwa für Paradigmata von Stilrichtungen oder Gebrauchsarten bei den Lesern, für die dies Buch berechnet ist, die Aufforderung zum eigenen Suchen in den Werken unserer besten Schriftsteller passender als das Herausklauben von .schönen Stellen-!
Stilistik.
Erstes Kapitel. Allgemeines.
§ 6. Literatur. Geistreich, aber schematisch und gewaltsam hat K. F. Becker (Der deutsche Stil, Frankfurt a. M. 1848, Kettembeil) die deutsche Stilistik auf Logik und Grammatik aufgebaut und damit auf lange Zeit die ruhigere historische Betrachtung verdrängt, die sich etwa bei Theodor MuNDT (Die Kunst der deutschen Prosa, Berlin 1837, Veit) in Kraft findet. Weiterhin hat man fast immer nur versucht, die griechisch-römische Stilistik auf die deutsche Sprache anzuwenden (so auch W. Wackernagel, s. o.). Von neueren Darstellungen ist die wichtigste die von K. Wunderlich (Der deutsche Satzbau, Stuttgart 1901, Cotta), die sich freilich mehr als eine Darstellung der Syntax unter stilistischen Gesichtspunkten gibt (vgl. auch desselben Deutsche Umgangssprache, Weimar und Berlin 1894, Felber).
§ 7. Definitionen. Die üblichen Definitionen pflegen die Stilistik völlig aus dem Zusammenhang der grammatischen Disziplinen herauszureißen, in den sie doch durchaus gehört (wie zuerst K. F. Becker, freilich über das Ziel hinausschießend, betonte). Sie findet aber dort ihren guten Platz. Die herkömmliche Einteilung der Grammatik folgt dem Aufbau der Sprache. Kann man „Grammatik" überhaupt definieren als die Lehre von den Ele- menten und (was meist fortgelassen wird!) den umgestaltenden Faktoren einer Sprache, so ist im einzelnen die Lautlehre die Wissenschaft von den Elementen und den umgestaltenden Faktoren der Silbe; die Formenlehre von denen des Wortes; die Syntax von denen der fertigen "Rede; die Be- deutungslehre von denen der sprachschaffenden Anschauung. Jede dieser beschreibenden Disziplinen hat nun eine vergleichende Disziplin zur Seite; so zeigt die Lautphysiologie Elemente und umgestaltende Faktoren der Laut- lehre in allgemeinerer Beleuchtung, die Etymologie die der Formenlehre, die Stilistik die der Syntax, die Sprachphilosophie die der Bedeutungslehre.
§ 8. Erläuterung. Die Stilistik ist also im letzten Sinne nichts anderes als eine vergleichende Syntax, d. h. Lehre von den normalen Gestaltungen der syntaktischen Möglichkeiten. Tatsächlich kommen zwar alle Möglich- keiten syntaktischer Fügung in der menschlichen Rede und Schrift auch wirklich vor; die Lehre aber bezieht sich nur auf die normalen Fälle, das
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4 Stilistik.
sind diejenigen, die unter bestimmten Gesichtspunkten als allein zweck- mäßig und berechtigt erscheinen. Herrschend ist dabei also der Gesichts- punkt der kunstmäßigen Anwendung; und insofern kann man die Stilistik mit der Sprachphilosophie vergleichen, die die tatsächlichen Wortschöpfungen und Sprachschöpfungen an der Idee eines vollkommenen Ausdrucks der Gedanken und Anschauungen mißt. Die kunstmäßige Anwendung selbst aber muß im einzelnen erläutert werden, so daß die Stilistik psycho- logisch für die Ausdrucksformen zu leisten hat, was die Lautphysiologie physiologisch für die Lautiehre vollbringt; und so daß sie historisch für die Figuren und sonstigen Ausdrucksmittel anstreben muß, was die Etymo- logie für die Wurzeln und Suffixe leistet.
§ 9. Auffassung. Die Stilistik ist also, prägnant ausgedrückt, die Lehre von der kunstmäßigen Anwendung der fertigen Rede (ihrer Elemente und ihrer umgestaltenden Faktoren), und die deutsche Stilistik ist die Lehre von der kunstmäßigen Anwendung der deutschen Sprache.
§ 10. Verhältnis zur Rhetorik. Das Wort „Stilistik" ist von ^stilus" (lat. für griech. „Stylus") „Schreibgriffel" abgeleitet und bezeichnet dementspre- chend vorzugsweise die Lehre von der schriftmäßigen Sprachkunst, der die Rhetorik als Lehre von der mündlichen Redekunst gegenübersteht. Es ist aber klar, daß beide sich vielfach berühren und sogar decken müssen, und so läßt sich denn die Unterscheidung höchstens soweit streng durch- führen, als die Stilistik die spezifischen Erfordernisse der mündhchen Be- redsamkeit der Rhetorik übedäßt. Die Rhetorik setzt also die Stilistik voraus. — Auf andere Definitionen und Einteilungen gehen wir nicht ein.
§ 11. Geschichte. Die Geschichte der wissenschaftlichen Stilistik geht auf die Griechen zurück, bei denen sie sich aber mit Rhetorik und Poetik immer in engster Fühlung befand. Auch bildete sich schon im hellenischen Altertum der Gegensatz zwischen theoretischem und praktischem Betrieb heraus (vgl. z. B. Böckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, S. 602). Vom modernen Standpunkt aus wird die Entsvicke- lung der theoretischen Stilistik kurz beleuchtet von W. Scherer (Poetik S. 35 f.) und Philippi (a. a. O. S. 245 f.). Die neueren Theorien werden im allgemeineren Zusammenhang nur gestreift von H. Lotze (Geschichte der Ästhetik in Deutschland, bes. S. 441 f., 619 f.) und in den zahlreichen ge- schichtiichen Darstellungen der Poetik (bes. K. Borinski, Poetik der Re- naissance in Deutschland, 1886). Was wir vor allem brauchten, wäre eine Geschichte der wichtigsten Einzelformen in ihrer praktischen und theoretischen Entwickelung: Evolution der Epitheta, des Chiasmus u. dgl. Wir besitzen solche Arbeiten beinahe nur für die Metapher und die ihr nächstverwandten Figuren.
§ 12. Grundlage. Die historischen Betrachtungen haben sich dabei fast durchweg zu viel auf die Lehrbücher und zu wenig auf die Literatur selbst gestützt. Vor allem aber ist die breite Grundlage, die der kunstmäßige
Zweites Kapitel. Die Worte in formeller Hinsicht.
Betrieb in der naiven alltäglichen Übung besitzt, nur gelegentlich beachtet worden. Was den Theoretikern künstlich erdachte Hilfsmittel der Rede schien, stellt sich bei näherer Prüfung fast stets als volkstümlich selbst- verständliches Ausdrucksmittel dar; nur daß eben die Kunst und die be- wußte Technik die zufällige Anwendung zu zweckmäßigem Gebrauch zu veredeln wußten. Daher entstand denn auch wieder durch eine andere Verwechslung der Irrtum, als sei alle älteste Rede „Poesie", d. h. kunst- mäßige Anwendung der Sprache zum Ausdruck von Stimmungen und An- schauungen gewesen: in Wirklichkeit wurden eben die Mittel, die uns jetzt spezifisch „poetisch" scheinen, damals allgemein und auch ohne poetische Absicht (und Wirkung) verwandt. — Wir werden uns besonders bemühen, auf den volkstümlichen Hintergrund selbst der scheinbar ausgeklügeltsten stilistischen Tropen und Figuren hinzuweisen.
§ 13. Einteilung. Hieraus geht auch gleich hervor, daß wir uns an die überkommenen künstlichen Einteilungen nicht halten können; ebenso- wenig an neuere Versuche, die (wie Wackernagels Gruppierung) lediglich von der kunstmäßigen Verwendung ausgehen. Vielmehr folgen wir dem Aufbau der Sprache selbst und tragen der syntaktischen Grundlage der Stilistik Rechnung, indem wir von den Worten zum Satz, zum Perioden- bau, zum Gesamtcharakter der Rede stufenweise aufsteigen, bis wir in dem individuellen Stil den Gipfel erreichen, der von der volkstümlichen Basis am weitesten abliegt — und sie am besten überblicken läßt.
§ 14. Elemente der Rede. Analysieren wir die „fertige Rede", d.h. die- jenigen Anwendungen der menschlichen Sprache, die an sich zum Ver- ständnis zwischen Angehörigen des gleichen Sprachgebiets (und der gleichen Kulturstufe!) genügen, so finden wir als letzte Elemente die Worte. Eine Silbe oder ein einzelner Laut können solche Dienste nur dann tun, wenn sie eben selbst die Geltung von Worten haben. Dies ist der Fall bei Inter- jektionen (wie „oh!") oder ähnlichen Bildungen. Ein Wort aber kann un- zähligemal allein vollkommen zum Ausdruck selbst langer Gedankenreihen genügen; wenn z. B. mit einem einzigen „Nein!" ausgedrückt wird, daß ich eine ganze mir vorgetragene und ausführlich begründete Meinung ablehne, oder wenn ich mit einem hinweisenden „Da!" eine zusammengesetzte Menge von Gegenständen der Anschauung des Angeredeten zugänglich mache.
§ 15. Rekapitulation. Die Stilistik hat also mit der kunstmäßigen Be- handlung der Worte zu beginnen, und zwar hat sie diese (wie die anderen Elemente) zunächst in formeller, dann in inhaltlicher Hinsicht zu prüfen.
Zweites Kapitel.
Die Worte in formeller Hinsicht.
§ 16. Gemeinverständlichkeit. Formell gilt allgemein die Bestimmung, daß die Worte, die wir anwenden, gemeinverständlich sein müssen. Denn da wir die Stilistik als die Lehre von der kunstmäßigen Anwendung der
Stilistik.
Rede auffassen, diese selbst aber als an sich verständliche (d. h. ohne Hilfe von Gebärden und andern Verdeutlichungen verständliche) Anwendung der Sprache, so folgt für die kunstmäßige Rede um so mehr, daß ihre Ele- mente ohne weiteres verständlich sein müssen. Auf diese durchaus be- rechtigte Forderung gehen zunächst mehrere negative Vorschriften zurück.
§ 17. Barbarismus. Die Rede wendet sich an die Angehörigen eines bestimmten Sprachgebiets. Verpönt sind deshalb alle Verstöße gegen den hier henschenden Wortgebrauch. Eine Verstümmelung oder Entstellung der Wortformen nennt man Barbarismus, und wer sich ihrer schuldig macht, steUt sich damit aus dem Kreis der Sprachgenossen heraus. Ein Deutsch, wie es etwa Riccaut de la Marliniere in „Minna von Bamhelm" radebricht, würde uns auf die Dauer unerträglich sein, schon weil es über- flüssige Mühe beim Verständnis erfordert. Wir empfinden es aber auch mit Mißbehagen als eine Verleugnung unserer Muttersprache, wenn ein Deutscher sie wie eine fremde Sprache behandelt. Die Art, wie noch Friedrich der Große das Deutsch mißhandelte, würde heute als Barbarismus unerträglich sein. (Vgl. über den Barbarismus Wackernagel S. 333.)
König Friedrich gibt z. B. auf eine Beschwerde der Stadt Frankfurt a. d. O. über Ein- quartierungslast (1763) den Randbescheid: .Das kan ja nicht anders Seindt, ich kan das Regiment nicht in der Tasche stechen." Oder auf die Bitte dreier Husarenoffiziere um Heiratserlaubnis (1765): .Wann Huzaren Weiber nehmen, So Seindt Sie Selten noch dan ein Schus pulver wert; aber Wen er meinte, daß Sie doch guht Würden, So Weite ich es erlauben.' (Zurbonsen, Quellenbuch zur brandenburgisch-preußischen Geschichte. S. 238.)
§ 18. Soloecismus. Macht der Barbarismus den Eindruck, als sei der Sprechende der deutschen Rede gar nicht mächtig, so kann doch auch schon bloße Nachlässigkeit im Wortgebrauch das Verständnis erschweren. In ge- pflegter Rede wächst sich dies zu dem Kunstfehler des Soloecismus (von der Stadt Soli in Cilicien, deren Griechisch schlecht gewesen sein soll) aus.
Beweglich klagt über die Nachlässigkeit im Sprechen, die unter Gebildeten nirgends so häufig ist als in Deutschland, schon Fr. L. Jahn (Deutsches Volkstum, Neue Ausgabe 1817, S. 203): .Deutsche Mädchen! Warum ist euch solche Muttersprache Tand? Reden ist Euch doch Bedürfnis? Warum keine Ordnung in eurer Sprachlehre, da Ihr sie doch sonst so sehr liebt und befördert? Sprachfehler sind freilich nicht Fehler des Herzens, Mangel einer Kenntnis ist nicht Geistesmangel. Aber wie kommt es, daß ihr euch die gröbsten Fehler und Sinnenentstellungen in der Muttersprache nicht übel nehmt und sogar zu Gute haltet? Ihr rügt doch sonst die kleinsten Verstöße gegen Übereinkommnisse der Gesellschaft, und richtet strenge über Abweichungen? Die Sprache ist die uralte Ge- sellschaftsstifterin und der Sprachgebrauch eine nie aus der Mode kommende Mode. Glaubt Ihr etwa, die deutsche Sprache sei eine so schmutzige Beschäftigung, wenn man nicht damit zu tun habe, müsse man die Schmutzflecke auf der Arbeitsschürze nachsehen? Ihr irrt, wenn Ihr meint: aus einem hübschen Munde klinge alles schön. Ein hübscher Mund wird durch ungewaschenes Zeug häßlich und ekelhaft."
Wie die andern hier zu erörternden Fehler (Archaismus u. s. w.) kann auch der Soloecismus sich auf die Verbindung mehrerer Worte beziehen, findet aber doch schließlich immer im Gebrauch unrichtiger Worte oder Wortformen seinen Ausdruck. Hierher gehört also die Anwendung falscher
Zweites Kapitel. Die Worte in formeller Hinsicht.
Ausdrücke, z. B. die Verwechselung von Präpositionen (das vulgäre „bei Müllers gehen" statt „zu Müllers gehen") oder ihre ungenaue Anwendung.
So haben Lassalle und Bucher in ihrer Flugschrift gegen Julian Schmidt (.Herr Julian Schmidt der Literarhistoriker" S. 28) diesem einen Soloecismus vorgehalten: ,es entsteht eine immer größere Spaltung zwischen den einzelnen und zwischen der Totalität der Nation". .Nach Herrn Julian Schmidt", sagen sie, „fließt der Rhein nicht zwischen Deutschland und Frankreich, sondern zwischen Deutschland und zwischen Frankreich!" Doch gehört gerade diese lässige Doppelsetzung von „zwischen" zu den häufigsten Soloecismen; selbst im Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller begegnet sie uns.
Hierher gehört überhaupt sehr viel von dem, was Wustmann in seinen bekannten „Sprachdummheiten" anstreicht, z. B. die Verwendung des Ad- verbs als Adjektiv: „die bruchstückweise Veröffentlichung" (a. a. O. S. 212; doch vgl. Ph. Bohner, Zeitschrift f. deutsche Wortforschung 5, 237).
In manchen Fällen kann auch der Sorgfältige schwanken; als Hilfe für solche unsichere Momente bietet sich D. Sanders' Wörterbuch der Hauptschwierigkeiten in der deutschen Sprache an. Doch ist gegenüber seinen Angaben (und noch mehr gegenüber den dogmatischen Willkürlich- keiten WusTM-ANNS; vgl. z. B. Minor, Allerlei Sprachgrobheiten, 1892) daran zu erinnern, daß sich die Sprache in beständigem Fluß befindet. Es kann deshalb etwas, was früher Soloecismus war, binnen kurzem dem Sprach- gebrauch entsprechen ; wie sich denn z. B. die Verbindung der Präposition trotz mit dem Genetiv (statt Dativ) schon beinah eingebürgert hat. Oder umgekehrt, wie etwa die ursprünglich allein berechtigte Präteritalform „er stund" heut gegenüber der Form „er stand" als „falsch" empfunden wird. Vor allem ist aber zu bedenken — was Rudolf Hildebrand nicht müde wurde zu betonen — , daß wegen jener beständigen Veränderungen der Sprache und des Sprachgefühls auch mehrere Formen gleichzeitig erlaubt sein können: weil „silberne HochzeW richtig ist, ist „Silberhochzeit'' (schon bei Jean Paul!) noch nicht falsch.
§ 19. Archaismus. Der unaufhörliche Fluß der sprachlichen Entwickelung läßt also früher geltende Formen veralten; wer sie doch anwendet, macht sich des Archaismus (vgl. Wackern aoel S. 329, Raleigh, On style, London 1898 S. 32) schuldig. Dahin gehört also ein eigensinniges Festhalten an nicht mehr gebräuchlichen Wortformen oder Worten, wie wenn z. B. der Ger- manist Karl Weinhold lange „Grätz" für die Universitätsstadt „Graz" schrieb und bis zuletzt „stund" statt „stand", oder wenn man „itzt" oder „jetzo", „zween" und „zwo" für „jezt" und „zwei" gebraucht.
Wenn aber die beiden vorher genannten Fehlerquellen nur selten eine andere als eben diese Beurteilung leiden, gilt das nicht ebensosehr vom Archaismus. Barbarismen und Soloecismen können natüriich einmal berechtigt sein, wo eine Figur zu charakterisieren ist, wie eben Lessings Riccaut oder Grillparzers Galomir (in „Weh dem der lügt"):
Uf — heiß — Und mild — da.' ach, dort Schatten — Baum. Ruh aus, Mann, ruh. dann weiter. Heiß die Haube. Noch einmal rufen — Hupf — Ah! — niemand hören!
8 Stilistik.
Aber selbst dann muß die Entstellung der Rede mit Maß gebraucht werden; daß die Leser des 18. Jahrhunderts dicke Bände des „Deutsch- franzosen"" Trömer („Ehn Curieuse Brief von Lustbarkeit in Dress als Krosse Potentat an diese Ortt kewess . ." 1728)i) als lustigen Spaß ge- nießen konnten, beweist uns heut nur die Stumpfheit ihres Geschmacks und Sprachgefühls. Schon das „Messingsch" Fritz Reuters wird uns leicht zu viel, wo nicht die prächtige Gestalt des Inspektors Bräsig uns mit seiner Redeweise versöhnt. — Aber das Rückgreifen auf ältere Sprach- formen ist von anderer Art, weil diese doch immerhin echt deutsch sind und einmal in voller Geltung blühten. Deshalb haben gerade Schriftsteller, die zu der Sprache ein inneres herzliches Verhältnis hatten, gern zu Ar- chaismen gegriffen. Das pflegt damit zu beginnen, daß mit altfränkischen Worten auch zuerst nur wieder altfränkische Art gezeichnet werden soll wie bei Uhland („Klein Roland"):
Ich hab bezwungen der Knaben acht. Von jedem Viertel der Stadt: Die haben mir als Zins gebracht Vierfältig Tuch zur Wat —
WO „Wat", ein 1808 ganz unverständliches Wort für „Kleidung", wie eine Nachahmung alter Prunkmöbel oder Waffenstücke wirkt. So oft in älteren Übersetzungen, die Bruchstücke des alten Baus in den neuen einmauern, wie Simrock es gern tut:
Aber der Jötun, wie immer trotzig
Mit Thor um die Stärke stritt er aufs neu
(Hymiskwidha Str. 28),
wo das altgermanische Wort für „Riese" gleichsam die unmögliche Figur wahrscheinlicher machen soll. Ihren Hauptplatz aber finden solche „archäo- logische Archaismen" in historischen Romanen und Dichtungen; besonders die Anfangsbände von Freytags „Ahnen" haben durch ihr Übermaß sogar den Spott herausgefordert, vor allem freilich durch die Wortstellung: „Ich trage Kunde, die das Herz der Männer bewegt, nicht weiß ich, ob sie euch Freude bereitet oder Trauer" (Werke 8, 13). Oder archaisierende Wort- stellung mit älterer Wortwahl vereint: „Spende wegemüdem Mann den Trunk aus deinem Born" (ebd.). Hier liegt natürlich die Absicht vor, durch die fremdartige Sprache uns sofort aus der gewohnten Atmosphäre herauszuheben.-)
Aber sobald sich der Sinn erst einmal liebevoll in die Sprechweise der Vorzeit versenkt hat, gewinnt deren Ton auch an sich Gewalt über uns. Alle Perioden, die sich besonders dem MittelaUer mit neuenvachtem ästhetischem, religiös-politischem, historisch-politischem Interesse zuwandten.
') Vgl. GOEDEKE, Grundriß zur Ge- ») Vgl. W. ScHERER, Vorträge und Auf-
schichte der deutschen Dichtung, 2. Aus- Sätze S. 1 f. gäbe, 4, 25.
Zweites Kapitel. Die Worte in formeller Hinsicht.
hat es gereizt, auch an ihrer Redeweise zu lernen. So im „Sturm und Drang", „im ,Götz' ist manches der alten Sprache entlehnt; im ,Werther' findet sich das Luthersche Adjektiv: ,hänn'\ ,in Krieg' wie ,ln Turn' („Götz") für ,/ff den',, (Erich Schmidt, Richardson, Rousseau und Goethe S. 257). Oder in andern Schriften Goethes die Fortlassung des Artikels: „Was brauchts dir Denkmal!" „Säule ist mit nichten ein Bestandteil un- serer Wohnungen" („Von deutscher Baukunst"). Noch stärker pflegte die Romantik diesen Ton und ließ oft keine Zeile ohne „Maid", „Recke", „Minne" — Worte, die sie doch unserm Sprachgebrauch fast völlig wieder- gewonnen hat. So schloß selbst H. Heine eines seiner frühesten Ge- dichte:
Fromme Minne mag es sein.
Was mir drang ins Herz hinein,
Als ich weiland schaute dein,
Wunnevolles Magedein!
Am wenigsten ist solches Eintauchen in die Redeweise früherer Zeiten da zu tadeln, wo es zur Erweckung neuer triebkräftiger Fortsetzungen der alten Sprache führt, wie bei Fr. L. Jahn (a. a. O. S. 263):
„Wem das Leben nur ein Kerbstock bleibt, zum Alltage zusammenzurechnen, wer aus diesen Zeitmerken nichts weiter herausbringt als eine große Zahl, der hat sich die Mühe vergeblich gemacht, der hat in den Tag und die Welt hineingelebt, als ein groß- städtischer Morgenverschläfer, so die Sonne in ihrer Schönheit und Pracht niemals auf- gehen sah."
Archaismen und Neologismen gehen also gern zusammen — natur- gemäß, da beide der Abneigung gegen die abgebrauchte Alltagssprache ihre kunstmäßige Verwendung (freiHch nicht schon ihren Ursprung!) ver- danken. Deshalb ist jetzt sogar in dem Land der konservativsten Rede- gewohnheit, in Frankreich, eine Dichterschule bemüht, sprachliche Anlehen bei Ronsard und andern Dichtern des ausgehenden Mittelalters mit sprach- lichen Neuschöpfungen zu verbinden, i)
§ 20. Neologismus. Neologismen also, die Wackernagel (S. 338) als „das fehlerhafte Widerspiel des Archaismus" bezeichnet, sind von vorn- herein so wenig fehlerhaft wie Archaismen; denn wie jede „vox obsoleta" einmal frisch und kräftig war, so war jedes geltende Wort eipmal ein Neo- logismus. Vollends ist es seltsam, in beiden ein „Auflehnen gegen die Selbstkräftigkeit der Sprache", ein Erzeugnis „dünkelhaften Wahns" zu sehen; denn in wem wirkt denn die „Selbstkräftigkeit der Sprache", wenn nicht in denen, die sie bereichern, sei es durch Auffischen und Auffrischen gestrandeten Sprachgutes, sei es durch Weiterbildung des Erhaltenen?
Gerade kräftige Naturen, die die Sprache lieben, pflegen zu neuern. Das gilt überall, auch bei den konservativeren Romanen, 2) vor allem aber
') Geistreich spricht über berechtigte de mots nouveaux dans la langue fran^aise Archaismen W. Raleigh, On Style S. 33 f. , et des lois qui la regissent; Paris 1877 — '') J. Darmesteter, De la creation actuelle ! sehr lehrreich.
10 Stilistik.
bei den germanischen Individualisten. Historisch stehts ähnHch wie bei dem Spiegelbild Archaismus: auch hier ist die sprachliche „Mode" ein Symptom völkerpsychologischer Zustände. Wie rückwärtsgewandte Zeiten auch in der Sprache gern archaisieren (Romantik!), so neuern fortschritt- lich denkende gern auch hier (Aufklärung!). Perioden der Sprachneuerung pflegen vorsichtig mit Übersetzung fremder Ausdrücke anzuheben — wie denn die „Puristen" allezeit die kühnsten, freilich seltener die glücklichsten Wortschöpfer gewesen sind. So schafft sich die ^Aufklärung'' zwar dies bezeichnende Wort selbst, bildet aber „Fortschritt" im politisch-welthisto- rischen Sinn, „Entwickelung", ^Gemeingeist" französischen und englischen Schlagworten nach; und ebenso werden literarische Tendenzen durch die (von Lessing nicht gebildete, aber durchgesetzte) Übersetzung von ^senti- mental" mittelst „empfindsam" und (später) von „volkstümlich" für „populär" bezeichnet. Als die Romantik eine politisch-erneuernde Richtung einschlägt, beginnen wieder Jahn und die „Alldeutschen" mit der Wiedergabe fremder Worte, worin ihnen denn im großen der Aufklärer Campe vorangegangen war; und auch sie schreiten bald zu echten Neologismen fort. Es ist be- kannt, daß wir diesen Übersetzern so hübsche Nachbildungen wie „Stell- dichein" {„rendez-vous"), besonders aber so kräftige, unentbehrlich ge- wordene Neubildungen wie „Volkstum" und „Landwehr" verdanken. „Schlagwörter" sind in ihrem Aufkommen natürlich überhaupt vorzugsweise charakteristische Neubildungen (vgl. mehrere Aufsätze in der Zeitschrift für deutsche Wortforschung; O. Ladendorf, Historisches Schlagwörterbuch, Straßburg 1906).
Neben jenen beiden berühmtesten Neologen der letzten Zeit, Campe und Jahn, sind als glückliche Bildner neuer Worte vor allem Herder und Nietzsche zu nennen, jener mit neuen Ableitungen, dieser mit Zusammen- setzungen (wie „überdeutsch", „überhistorisch"; den „Übermenschen" hat er dagegen von Goethe übernommen). Goethe ist sparsamer in Neu- bildungen, führt sie vorsichtig ein („Melina war, was ich mit einem Worte eine Anempfinderin nennen möchte"; „Wilhelm Meisters Lehrjahre") und häuft sie erst in der Ahersdichtung, besonders im , Faust'; doch sind ge- rade von diesen letzten Neologismen wenige durchgedrungen (.buschen sich zur Schattenruh" , Faust' II Ak-t 1 v. 4655, von Fr. Th. Vischer heftig angegriffen: wenn ich sagen dürfe, der Berg buscht sich, d. h. bedecke sich mit Gebüsch, dürfe ich auch sagen „der Tisch löffelt sich": bedeckt sich mit Löffeln . . .). — Später blühte eine eigentliche Wortfabrikation um 1848 auf und Johannes Scherr war nur ihr lautester Vertreter, wenn er etwa von Napoleons III. „erdezemberter Kaiserkrone" sprach. Die Witz- blätter haben einen großen Anteil an dieser neologischen Scheinblüte, ebenso die Flugschriften und umlaufenden Gedichte, von denen z. B. „Atten- täter" und wahrscheinlich auch „Krawall" dem allgemeinen Sprachschatz zugeführt wurden.
Zweites Kapitel. Die Worte in formeller Hinsicht. 1 1
Die häufigsten Mittel der Neubildung sind in grammatischer Hinsicht die Ableitung und die Zusammensetzung. Die Ableitung besteht darin, daß im Gebrauch befindliche Wurzeln oder Stämme mit neuen, d. h. bisher nicht mit ihnen verbundenen Suffixen ausgestattet werden. Diese Suffixe selbst aber sind ihrerseits ebenfalls längst im Gebrauch; nur häufige Ableitungssilben sind „produktiv".') Produktiv sind jetzt besonders -er für Nomina agentis, -ung für Nomina actionis. Mit ihnen werden täglich neue Worte gebildet, die gar nicht als solche auffallen, Nomina agentis besonders in Zusammensetzungen: „Streikbrecher"', „Rohrleger", „Arbeit- nehmer'', Nomina actionis von einfachen und zusammengesetzten Verbis: „Lagerung'', „Durchbrechung"; auch mit fremdsprachlichem Kern: „Kar- tellierung", „Vertrustung" (von französisch Kartell und englisch Trust). — Die Zusammensetzung besteht im Verschmelzen selbständiger Worte und ist imDeutschen von unbegrenzter Ausdehnungsfähigkeit: „Bildungsphilister" , „Zuchtwahl"; auch neuerdings gern und zu gern mit Eigennamen: „Kneipp- kur", „Ibsendrama" — überflüssige Anstrengungen, um eine Präposition auf Kosten des Atems und des Wohlklangs zu ersparen.
„Die Leichtigkeit des Zusammensetzens im Deutschen hat man ohne hinreichenden Grund zu der Fülle griechischer Zusammensetzungen gehalten. Schlechte ungebärdige Zusammensetzungen leimen ist keine besondere Kunst, in tüchtigen müssen die einzelnen Wörter besser gelötet und aneinander geschweißt sein. Eine echte Zusammensetzung ist erst dann vorhanden, wenn sich zwei Wörter gesellen, die los und ungebunden im Satz nicht nebeneinander stehn würden; wir Deutschen haben aber eine Unzahl sogenannter Komposita, die für sich konstruierte Wörter bloß etwas enger aneinander schieben und dadurch nur schärfer und unbeholfener machen; die Wörter fangen zuletzt gleichsam selbst an, sich für zusammengefügt zu halten und wollen nicht mehr getrennt auftreten. Solcher Zusammenschiebung ungemeine Tunlichkeit im Deutschen verführt ohne alle Not nichts- sagende Wörter zu häufen und den Begriff des einfachen Ausdrucks nur dadurch zu schwächen. Wenn hier in Berlin jemand hingerichtet worden ist, liest man an den Straßen- ecken eine „Warnungsanzeige" angeheftet. Nun will warnen sagen: Gefahr weisen, an Gefahr mahnen; in jener Zusammensetzung steckt also unnützer Pleonasmus . . . ein bloßes .Warnung' oder „Verwarnung" wäre nicht allein sprachgemäßer, sondern auch kräftiger .. .
Man sollte meinen, eine ganze Zahl deutscher Zusammensetzungen seien bloß aus Trägheit entsprungen oder in der Verlegenheit, für einen neuen, ungewohnten Begriff den rechten Ausdruck zu finden. Da wo unsere alte Sprache einfache Namen hatte, suchte die neuere immer die gröberen Zusammensetzungen unterzuschieben, wie a. B. die deutschen Monatsnamen lehren, und schon Karl der Große stellte mit seinen Vorschlägen kein Meister- stück auf. Die Komposition ist alsdann schön und vorteilhaft, wenn zwei verschiedene Begriffe kühn, gleichsam in ein Bild gebracht werden (Grammatik 2, 965), nicht aber, wenn ein völlig einfacher Begriff, in zwei Wörter verschleppt wird. Unser „himmelblau" oder „engelrein" ist allerdings schöner als das französische Meu comme le ciel', ,pur comme un ange'; aber ich stehe ebensowenig an, dem lateinischen malus, pomus, dem französischen pommier den Vorzug vor unserem Apfelbaum zu geben. ..." J. Gri.m.m, Über das Pedantische. Kleine Schriften 1,346. Vgl. V. Hehn, Italien, Petersburg 1867, S. 183 f., der die romanischen Simplicia wie guanto italienisch, bücher französisch gegen Handschuh, Scheiterhaufen u. dergl. lobt und den Verlust einfacher mittelhochdeutscher Worte für Johanniswürmchen oder Zahnfleisch beklagt.
') Vgl. Kluge, Stammbildungslehre der germanischen Dialekte.
12 Stilistik.
Die englische und französische Art, Eigennamen gewissermaßen zur Taufe eines Einzelfalls zu benutzen — the Tichborne case, le cos Clemen- ceau — wirkt hier neben der Neigung zur telegrammfähigen Konzentration.
Die glücklichsten Neubildungen sind die, die entweder eine neue „Wurzel" schaffen oder durch Benutzung seltenerer Suffixe dem Eindruck des „eben frischen Fabrikats" entgehen. Daß eigentlich neue „Wurzeln" gebildet werden, wird zwar noch bestritten,') aber doch sind zwei Gruppen nicht anzuzweifeln: onomatopoetische und eponymische. Mag J'öff-töfp für ^ Automobil auch wegen seiner Geschmacklosigkeit zur Unfruchtbarkeit verurteilt sein — Worte wie ^piepen'" und „piepsen" dringen unaufhörlich selbst in die Schriftsprache und bringen Weiterbildungen wie ^piepsig' (kränklich, schwächlich) mit. Aus Eigennamen bildet man besonders Verba, die zuweilen mit der Erinnerung an den Eponymus absterben (wie das 1848 beliebte „abwrangeln" , still machen, vom General Wrangel), ihn aber auch übedeben können, wie das etwa beim „Boykottieren" (aller Hilf- leistung berauben, wie es dem von den Iren geächteten englischen Guts- verwalter Oberst Boykott geschah) oder ^Zillmem'^ (einer nach Dr. Zillmer benannten Art der Lebensversicherung) der Fall sein mag. Doch auch Substantiva (wie das lateinische „Patavinitas": die Art der Stadt Padua, der Heimat des Livius) kommen vor. — Mit seltenerem Suffix ist z. B. das gute „Überlebsel" (Wiedergabe vom englischen „sur\'ival", Überrest früherer Kulturstufen) gebildet, oder schon jenes „empfindsam'" .
Die Anwendung von Neologismen wird tatsächlich zum Fehler, so- bald sie der Verständlichkeit Eintrag tut — wie z. B. bei den zahllosen Kunstwörtern des Philosophen Krause („Orwesen, Malwesen, Omwesen, Satzheit, Nichtheit, Vereinselbstganzweseninnesein": Pr.\ntl, .allgemeine deutsche Biographie 17, 79) oder selbst den wohlüberiegten Terminis tech- nicis des Philosophen Avenarius — oder sobald sie durch Häufung stört, wie besonders bei übertreibenden Puristen.
§ 21. Modewörter. Neologismen gehören aber nicht immer dem ein- zelnen an: sie kommen zuweilen in engeren Kreisen auf und werden von diesen mit einem gewissen Stolz als eigene Schöpfung und eigener Besitz gepflegt. Das sind dann die Modewörter, — neben den Nachlässig- keiten der Schriftsprache der zweite Lieblingsgegenstand der .Angriffe Wust- manns. *) Sie tauchen in irgend einer Gruppe von Personen, die ein ge- meinschaftliches Interesse verbindet, plötzlich auf, werden gleichsam zum Schibboleth des Kreises und gehen dann in weitere Bezirke über. Dahin gehören insbesondere Urteils w orte wie „anregend", „tiefgründig', „neuartig", „einzigartig", „großzügig" oder gar das furchtbare „erst- klassig" — großenteils unerfreuliche Bildungen, aber doch einem be-
') Vgl. aber Pall, Prinzipien der Sprach- *) \'gl. R.\LEIGH, On snle S. 29 f., doch
geschichte. 2. Aufl. S. 141. auch S. 27 f. on good slang.
Zweites Kapitel. Die Worte in formeller Hinsicht. 13
rechtigten Gefühl entsprungen.') Unsere Kritik besaß nur dürftige Aus- drucksmittel; sie erfuhr einige Bereicherung in kennzeichnenden Urteils- worten erst dann, als eine lebhaftere und verständnisvollere Kritik der bil- denden Kunst in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahr- hunderts erwachte. Freilich führte auch dort das Bestreben, sich die Technik des Urteilens schnell anzueignen, zu dilettantischem Mißbrauch. 2) Gerade wie heut waren deshalb auch damals aus der Kritik von tjemälden und Skulpturen entlehnte Urteilsworte für die Literatur besonders beliebt: ein Dichter „malt mit glühenden Farben" u. dgl. — Wenn man in unseren Tagen von neuem das Bedürfnis nach bezeichnenderen Adjektiven (denn um diese handelt es sich hier ganz vorzugsweise) empfindet, so verrät das wieder zunächst nur ein erfreuliches Streben nach tiefergehender und in- dividuellerer Erfassung. Schlimm ist es nur, daß auch die bezeichnendsten Worte bald ohne anschauliches Verständnis nachgesprochen werden, was aber das Los aller sprachlichen Neuschöpfungen ist — man denke nur an den greulichen Mißbrauch gewisser Schillerzitate! Wie viel aber ein glückHch gefundenes Urteilswort bedeuten kann, hat Goethe mit freudiger Dankbarkeit bezeugt, s)
Aus Kennerkreisen geht auch eine zweite Gruppe von Modewörtern hervor: wissenschaftliche Kunstausdrücke, die von der „allgemeinen Bildung" aufgenommen werden. Sie sind gefährlich, weil der nur allgemein Gebildete mit „Kampf ums Dasein'', „Suggestion", „Immunität" nicht immer eine deutliche Vorstellung verbindet; und sie sind bedenklich, weil gerade der oberflächlich Gebildete sich unermüdlich dadurch, daß er „Mi- lieu" und „Bacillus" im Munde führt, den Anschein, auf der Höhe zu stehen, gibt. Dennoch wird man natürlich auch die wissenschaftlichen Modewörter nicht einfach in Acht und Bann tun dürfen. Oft leihen sie ja bestimmten Tendenzen der Zeit Ausdruck und oft veranschaulichen sie die Anschauungs- oder Erklärungsweise, die nun einmal gestern oder heute überall als die allein berechtigte gilt, am knappsten. (Dies gilt z. B. von dem Wort „physiologisch", das W. Scherer ebensosehr liebte, als R. Hildebrand es bekämpfte.)
Kenner anderer Art spritzen sozusagen die Sportwörter aus, die in unserer sportfreudigen Zeit besondern Anklang finden. Es sind, dem Ursprung der meisten Sports entsprechend, zumeist englische Kunstausdrücke: „Rekord" (mit der jetzt leider schon völlig eingebürgerten Wendung: „den Rekord schlagen"), „Match" \iAg\.m. Doch sind auch einheimische Sport-
') Über die Armut unserer kritischen Kunst, in drei Stunden ein Kenner zu wer-
Charakteristiken klagten schon Goetlie (vgl. den", 1839.
seine „Urteilswortc französischer Kritiker"; ') „Bedeutende Fordernis durch ein
Hempels Ausgabe 29,736) und Jean Paul einziges geistreiches Wort" Hempcl XXVII
(Vorschule der Ästhetik § 37). ; 1, 351 : der Anthropolog Heinroth hatte das
ä) Detmold geißelte ihn in seiner lusti- i Denken unseres größten Dichters als „gegan- gen „Anleitung zur Kunstkennerschaft oder ' ständlich" bezeichnet.
14 Stilistik.
Wörter nicht selten; sie entstehen meist, indem die natürlichen Ausdrücke eines Sports auf den andern übertragen werden: „ein Pferd steuern".^) Auch hier liegt eine nicht zu tadelnde Tendenz zu Grunde: eine Neigung, der Schulstube zu entrinnen (welche Losung Thomas Abbt zuerst mit Energie bei uns vertrat), eine Freude am Mitedeben modemer Wettkämpfe, die man mit vorschneller Übertreibung „olympisch" genannt hat. Maß wird doch zu empfehlen sein, damit unsere Literatur, lange allzu schul- fuchsig, nicht mit einem Mal zu jockeimäßig auftrete (D. von Liliencron, H. von Ompteda).
Zwischen den wissenschaftlichen und den sportmäßigen Modeworten stehen die Lieblingsausdrücke des öffentlichen Lebens. Den ersten Rang nehmen die politischen ein und hier vor allem empfindet man es, wie rasch gute Worte totgehetzt werden. Kein Minister hält mehr eine Schutzrede für angegriffene Beamte, ohne die „ Beruf sfreudigkeit" an- zubringen, kein liberaler Redner spricht, ohne ^Ostelbier" und „Scharf- macher'' zu rügen, kein Konservativer, ohne irgend welche „Verwcihr- losung'' aufzudecken. Diese Redewendungen werden dann vollends in den Zeitungen breitgetreten und bilden in Gemeinschaft mit trivialen Metaphern {„in Angriff nehmen,'' „eine Lanze einlegen" oder gar „in die Wege leiten") die charakteristische Blüte des sogenannten Zeitungs- stils. 2)
Darauf folgen die Leitworte aus Handel und Verkehr: „Trust', „Kartell", „Ring" (mit „Ringbildung"), oder „Streik" bezw. „Ausstand", „Aussperrung" u. s. w. Im eigentlichen Sinn unentbehrlich, werden sie gern auch metaphorisch gebraucht. Gegenwärtig henschen die elektrischen Termini: „ausschalten" ist schon gar nicht mehr zu entbehren. — Eine besondere Gruppe bilden, den Kreis abschließend, die geschäftlichen Urteilsworte: Reklameworte wie „tadellos" oder das schon angeführte „erstklassig" , Wendungen wie „ausgeschlossen!" („Wenn die Handschuhe aber nicht halten?" „„Ausgeschlossen!"") dringen in den Roman und die wissenschaftliche Darstellung.
Allgemein ist zu den Modewörtern also zu bemerken, daß man sich vor ihrem Mißbrauch hüten muß. Wie ein geschmackvoller Mensch nicht gern auffällig neumodische Krawatten und Kragen trägt, wird er auch hier sich vor der Livree des Tages hüten. Ein Wort aber zu verfluchen, nur weil es Mode ist, scheint so töricht, wie wenn man Böcklin nicht mehr loben will, weil jetzt hohe Preise für seine Bilder bezahlt werden. Ein gutes Wort behält immer ein Restchen seiner ursprünglichen Trefflichkeit. Hegel brachte die Wendung „von Haus aus" in Mode und Fr. Th. Vischer hatte
') Vgl. WiLKE, Schriftdeutsch und Volks- K. F. Becker, Der Stil S. 83: F. KCrnberger,
spräche, Leipzig 1903, S. 88 f. Literarische Herzenssachen, Wien 1877, S. 1 f.;
') Über ihn klagen schon unsere Klassiker R. Hildebrand in all seinen Schriften. und die Romantiker; ferner z. B. mit Belegen
Zweites Kapitel. Die Worte in formeller Hinsicht. 15
es schon zu beklagen, wie gefühllos sie verallgemeinert werde; aber sie ist „von Haus aus" schön und auch heut noch besser als das kalte „von vornherein'' , das überdies zu berühmten Mißverständnissen (über Goethes Faustplan) 1) Anlaß gibt. Wustmann ereifert sich gegen das beliebte „einsetzen'': „die Feindseligkeiten setzten damit ein . . ."; aber diese vom Spielen der Instrumente im Konzert hergenommene Metapher hat genau dieselbe Berechtigung wie die hunderttausend andern, durch die sich die Sprache unaufhörHch selbst auffrischt: der Verfasser der „Sprachdummheiten" hätte dann auch nicht erlauben dürfen, daß „Spannung" anders als vom Bogen gebraucht würde!
Es gibt aber neben den positiven auch sozusagen negative Mode- wörter: Ausdrücke, die von einem bestimmten Mittelpunkt aus bekämpft und dann von allen, die modern oder doch wenigstens zeitgemäß sein wollen, geächtet und geflohen werden. Otto Schroeder hat in seinem prächtigen Buch „Vom papiernen Stil", das so viel zur Wiederbelebung des Sprachgefühls beigetragen hat, den steifleinenen Rückverweiser „derselbe" aufs Korn genommen; Wustmann ist ihm mit wahrem Fanatismus gefolgt und hat ohne jede Unterscheidung das Wort in den Bann getan, das doch auch (z.B. in der Tiroler Mundart: „seil is wohr!") volkstümlich und manchmal der bezeichnendste Ausdruck ist. Nun gibt es aber jetzt schon Leute, die den Stil eines Buches lediglich danach beurteilen, ob „derselbe" vorkommt. Freilich ist es leichter, sich unter dies Joch zu beugen, als mit sorgfältiger Überlegung jedesmal zu prüfen; wie es leichter ist, alle vorgeschriebenen Riten einer Religion gehorsam zu befolgen, als den sittlichen Wandel zu führen, den sie vorschreibt. So hat denn J. Minor („Allerhand Sprachgrobheiten") mit Recht bezweifelt, ob in den Wustmannischen „Grenzboten" jetzt ein besserer Stil geschrieben werde, als zur Zeit, da noch G. Freytag dort „welcherte"; denn das Relativpronomen „welcher" ist ein zweiter Stein des Anstoßes. Ich denke, ein selbständiger Schriftsteller wird der verbietenden Mode ebenso unabhängig gegenüberstehen wie der befehlenden; und scheint ihm das Wort, welches die Sprachinquisitoren gerade am heftigsten verketzern, an- gebracht, so schreibt er dasselbe. Natürlich wird er aber schauderhafte, eben glücklich überwundene Bildungen wie das berüchtigte „-Jetztzeit" nicht aus bloßem Eigensinn, weils verboten ist, gebrauchen!
§ 22. Idiotismus. Modewörter gehen aus engeren Kreisen hervor und nach deren Art sind sie selbst geartet; weshalb solche aus den Gruppen künstlerischer oder wissenschaftlicher oder selbst politischer Kenner von vornherein größeres Zutrauen verdienen als die der Sportleute. Verengt sich der Kreis noch weiter, so kommen wir zu den Idiotismen oder Lieblings- ausdrücken einzelner oder engster Bezirke. In vielen Familien herrscht
') Vgl. Fresenius, Goethe-Jahrbuch 15, ersten Teilen deutlich; es wurde dann zeit- 251 f. Goethe hatte das Wort räumlich ver- lieh verstanden: „von allem Anfang an deut- sfanden: „von vornherein klar", in seinen Meli".
15 Stilistik.
eine Art Geheimsprache,') wie sie z.B. Helene Böhlau („Verspielte Leute") oder Berta von Suttner („Es Löwos") lustig geschildert haben; die ge- hört aber nur in die Familie und es ist anspruchsvoll, von Ferneren für sie Verständnis zu verlangen. Noch weniger darf der einzelne seine Lieb- habereien durchsetzen wollen, Bürger den Barbarismus „or" für die ihm zu lange Konjunktion „oder"". Lessing sein „betauern'' (statt „bedauern"), Schopenhauer sein „ahnden" für „ahnen''.
Es gibt aber doch auch berechtigtere Idiotismen. Wenn ein Mann in langer Hebevoller Beschäftigung allbekannten Dingen eine neue Seite abgewonnen hat, mag er bei persönlichster Benennung verharren in der Erwartung, daß sein Idiotismus sich zum allgemeiner angewandten Neo- logismus und schließlich zur üblichen Ausdrucksweise auswächst wie jenes Hegelische „von Haus aus". Gewisse immer wiederkehrende Lieblings- wendungen wie Rankes Einführung allgemeiner Betrachtungen: „denn anders ist es nicht — " oder Nietzsches Einleitung ironischer Abwehr „wie als ob — " erhöhen das Gefühl einer vertraulichen Bekanntschaft zwischen Autor und Leser, so lange sie nicht durch übermäßige Häufigkeit veriet^en.
§ 23. Provinzialismus. Idiotismen, Ausdrücke, die engeren Kreisen ge- mein bleiben, sind auch die Provinzialismen (vgl. Wackernagel S. 331); bloß ist hier der Kreis nicht beruflich oder kulturell, sondern landschaftlich begrenzt. Provinzielle Ausdrücke sind an sich meist entweder Archaismen oder (seltener) Neologismen, können aber auch ganz isoliert dastehen, sei es daß es nur an einzelnen Plätzen aufgenommene Fremdwörter (wie frankfurtisch „Schawell" Fußbank, gern bei Bettine) oder nur dort auf- gekommene Neubildungen sind. (Dies gilt insbesondere von Bezeichnungen lokaler Festlichkeiten, Kleidungsstücke, Gerichte, Getränke und Gebäck.*)
Provinzialismen sind also landschaftliche Idiotismen und ein Stamm, eine Stadt, ein Dialekt hat gewiß ein größeres Recht auf Festhalten seiner sprachlichen Eigenheiten als ein beliebiger einzelner. Die lebende Volkssprache bewahrt oft köstliches Gut, das dann aus den Dialekten und den lokalen Redegewohnheiten der Gesamtsprache zugeführt werden kann. Ursprünglich besteht ja die Rede sozusagen nur aus Provinzialismen, bis eine Schrift- sprache sich durchsetzt und überall (zumal an Orten, die von ihrem Herd weit abliegen) Ausdrücke als „nicht schriftgemäß " ausmerzt. (Worauf diese Auswahl etwa beruht, wird bald zu erörtern sein.) Je stärker eine Sprache zentralisiert ist, desto strenger ist sie gegen Provinzialismen. Die .Academie frangaise" betrachtet sich in erster Linie als Hort der Pariser Wohlredenheit gegen die „Provinz"; und nach ihrem Vorbild haben Gottsched und Adelung zum letztenmal in Deutschland die despotische Vorherrschaft
') Vgl. Indogermanische Forscliungen 12, : ein Buch, das die .Bubenschenliel* und
42 f. I .Bauerhasen' Deutschlands in leckerer Fülle
') Vgl. für die letzteren Kleinpaul, Qa- aufzählt, stronomische Märchen, Leipzig ohne Jahr,
Zweites Kapitel. Die Worte in formeller Hinsicht. 17
einer Mundart, der „Meissenischen" oder obersächsischen (die jetzt wieder Wustmann zum Postament seines Idealbildes von der reinen deutschen Sprache macht), aufgerichtet. Dann erschütterten zuerst die Schweizer durch Hallers Erfolge das Leipziger Sprachmonopol, obwohl der Dichter selbst seine Helvetismen ängstlich entschuldigt und gebessert hat. Später hat noch über des jungen Goethe ^Klatscherei" u. dgl. Lichtenberg ge- spottet: „Selbst draußen in Böotien [der Göttinger vergaß, daß er selbst in Darmstadt geboren war!] stand ein Shakespeare auf, der wie Nebukad- nezar Gras statt Frank-furter Milchbrot aß und durch Prunkschnitzer die Sprache originell machte. "•) Aber es war nicht mehr zu verhindern, daß der Ostpreuße Herder, der Franke Goethe, der Schwabe Schiller Eigen- heiten ihrer angestammten Redeweise in ihre Schriften aufnahmen.^)
Aber nicht nur aus der Literatur, sondern auch aus der mündlichen Rede werden vielfach Provinzialismen übernommen. So sind in neuerer Zeit viele niederdeutsche Worte hochdeutsch geworden, z. B. „albern", „Deich", „dreist", „fett", „Kahn", „Klepper", „plump", „sacht", „Teer" und gar so unentbehriiche wie „fühlen" und „Lippe".^) Neuerdings hat noch Fritz Reuter einigen plattdeutschen Wendungen zu weiter Gastfreund- schaft verholfen.
Zweifelhaft bleibt es doch, wie weit eine Bereicherung der Schrift- sprache aus den Dialekten systematisch anzustreben ist. Dafür trat jeder- zeit R. HiLDEBR.\ND mit Feuereifer ein,*) und als sein Schüler hat Edwin WiLKE in seinem guten Buch^) den Mundarten im deutschen Sprachunter- richt breiten Raum gewähren wollen, was naturgemäß zu einer Ausdehnung der Provinzialismen in der Schriftsprache führen muß.") Aber die berech- tigten Wünsche für eine Auffrischung der Sprache haben ihre Grenze an jener Grundforderung der Gemeinverständlichkeit. Bürger hat sein nieder- deutsches „Lork" (in dem Epigramm „Adler und Lork", Kröte) so wenig durchsetzen können wie sein „or" für „oder", obwohl sonst gerade Schelt- worte gern von allen Seiten empfangen werden („Cujon", „Philister", jetzt „Snob" u. V. a.); und die Überfüllung mit landschaftlichen Eigenheiten („vergessen auf", „über Vorschlag") hat manchem österreichischen Autor das Publikum unnötig verengt.
§ 24. Kunstwörter. Wie die Provinzialismen sind auch die Kunst- wörter (Fachausdrücke, Termini technici) in einen engem Kreis ge-
') Vgl. Erich SchjVUDT, Richardson, buch, 5. Aufl., S. 440.
Rousseau und Goethe S. 278. ■") Vgl. R. Laube, R. Hildebrand und
*) Beispiele für die Bereicherung der j seine Schule, Leipzig 1903, besonders S. 80 f. Schriftsprache aus den Mundarten bei Wilke, i ') Edwtn Wike, Schriftdeutsch und Schriftdeutsch und Volkssprache S. 63. Da- Volkssprache, Leipzig 1903. hin gehören z. B. oberdeutsch Firn, Lawine, *) Über beider Verhältnis in historischer Heimu'eh,niedtrdtntsch Bord, Wrack, Moor; Hinsicht A. SociN, Schriftsprache und Dia- oder Odem neben oberdeutsch Atem. lekte im Deutschen, Heilbronn 1888.
') Vgl. Kluges Etymologisches Wörter- ,
Handbuch des deutscben Unterrichts. Bd. m, Teil 1. 2
18 Stilistik.
bannt; überschreiten sie ihn, so werden sie (wie wir gesehen haben) Mode- wörter oder gehen als Metaphern in die allgemeine Rede über, wie etwa aus der Schiffersprache y^olldarnpf" oder schon „Anker werfen", „Segel reffen". Solang sie aber als spezifische Fachausdrücke empfunden werden, vereinen sie die Gefahren der Modewörter, anspruchsvoll und heraus- fordernd zu wirken, mit denen der Archaismen und Provinzialismen, das Verständnis zu beeinträchtigen. In gehobener Sprache verderben sie voll- ends durch ihren Stubengeruch die Atmosphäre.')
„Wenn man in dem zwar talentverworrenen, doch talentreichen Trauerspiele Cadutti aus der höheren Region des Allgemeinen plötzlich durch die Worte: ,Und was sich mildem läßt, soll in der Appellationsinstanz gemildert werden' in die juristische Region herab- stürzt, so ist die ganze Szene getötet; denn man lacht bis zur nächsten' (J. Paul, Ästhetik § 18). „Geistreiche Gedanken eines Schulpedanten.' Idee 1. Er hat sich die Lehre gemerkt, dafi ein Dichter alles individualisieren muß. Schlägt daher vor, eine Stelle in Schillers „Wilhelm Teil' zu verbessern oder eigentlich zu bereichern. Monolog in der hohlen Gasse. Stelle:
.Sonst wenn der Vater auszog, liebe Kinder,
Da war's ein Freuen, wenn er wieder kam.
Denn niemals kehrt' er heim, er bracht' euch etwas.
War's eine selt'ne Alpenblume, war's
Ein seltner Vogel oder Ammonshorn — '
Hier einzufügen:
.War's Terebratel oder Belemnit.'
(Fr. Th. Vischer, Auch Einer, Tagebuch.)
§ 25. Fremdwörter. Kunstwörter sind dem Ursprung nach diejenigen Worte, über deren Zulässigkeit am heftigsten gestritten wird: die Fremd- wörter. Mit ihnen rundet sich der Kreis; wir kehren zu den Barbarismen zurück.
Und doch steht die Sache hier ganz anders. Wer die deutsche Sprache radebrecht, ist uns ein „Barbar", ein „Stummer", „Redeunfähiger"; Fremd- wörter werden aber nach historischer Erfahrung gerade vorzugsweise von den kulturell höher stehenden Nationen entlehnt: in der germanischen Urzeit von den Kelten (während die Slaven bei uns borgten), dann von den Römern (und mittelbar den Griechen); im 17. Jahrhundert von den da- mals unzweifelhaft „an der Spitze der Zivilisation marschierenden" Fran- zosen.*) Oder mindestens deutet die Einführung fremder Termini auf eine Überlegenheit des Fremden auf bestimmten Gebieten: von den Engländern (und Amerikanern) entlehnen wir vorzugsweise einerseits Ausdrücke für Handel und Gewerbe {Jrust", „strike"; Benennungen von Maschinen u. dgl.), andererseits solche aus dem geselligen Leben der „oberen Stände" und dem Sport {„comfort", „gentleman" , dazu auch .'\usdrucke wie Jair",
') Über die wissenschaftliche und stili- Einleitung zu seinem Etymologischen Wörter-
stische Bedeutung des Kunstwortes handelt buch; Fr. Seiler, Die deutsche Kultur im
geistreich Bernhardi, Sprachlehre 2, 212. Spiegel des Lehnworts, Halle 1895 und 1900.
') Vgl. über diese Entwickelung Kluges
Zweites Kapitel. Die Worte in formeller Hinsicht. 19
anständig im gesellschaftlichen Sinn; „lawn tennis", „skip" u. s. w.') So wären denn wir hier die Barbaren, die die Sprache überlegener Nationen stammeln.
Für die bösen Zeiten eigentlicher „Fremdwörterei" trifft dies Urteil unzweifelhaft zu. Die Deutschen nach dem dreißigjährigen Kriege waren wirklich Barbaren, deren alamodischer Prunkmantel von französischen, ita- lienischen, lateinischen, ja spanischen Fetzen doch nur die^ eigene Armut verdecken sollte. Man hat die Lächerlichkeit dieses hilflosen Zustandes oft an Beispielen aufgezeigt, ohne dem tieftraurigen Untergrund gerecht zu werden.
Da wir von den melancholisch-lustigen Sünden der „alamodischen" Sprachmengerei im 17. und 18. Jahrhundert wohl doch geheilt sind, verweise ich für die moderne Form der Fremdwörterei nur auf den „Anhang" in R. Hildebrands „Deutschem Sprachunterricht". Die gegenwärtige Schwäche besteht einerseits in der Beibehaltung solcher .SpezialWörter", die leicht zu ersetzen sind, wie „Streik' (Ausstand), „Verdikt' (Urteil), teils in der Neu- einführung von „Gefühls- und Stimmungsworten" besonders aus dem Umkreis der wirk- lichen oder vermeintlichen Bildungsaristokratie; so las ich neulich bei einem Kunsthistori- ker, dem „Verkäufe" nicht fein genug war, das Wort „Venten", das ihm vermutlich den Dunstkreis der Pariser Versteigerungshäuser zutrug. Bei den Mindergebildeten wird die Lächerlichkeit überflüssiger Fremdwörter durch falsche Verdoppelung {„Morgenserenade' , „Unantastbarkeit der Integrität') oft gesteigert. Im ganzen ist eine Besserung, an der der „Sprachverein" einen schönen Anteil des Verdienstes hat, nicht zu bezweifeln.
Daß also ein solches Häufen fremdsprachlicher Ausdrücke barbarisch ist wie die Tracht eines mit Zylinder, Kotillonorden und Sporenstiefeln aus- gestatteten nackten Negers, darüber kann kein Zweifel herrschen, und also auch nicht, daß wir den patriotischen Männern Dank schulden, die sich dagegen erhoben, den Moscherosch, den Christian Weise, den Campe, Jahn, Sanders, neuerdings den Führern des Deutschen Sprachvereins.
Die Frage ist nur, ob ein fanatisches Ausrotten nicht auch barbarisch ist. Diesen Standpunkt vertritt z. B. Rümelin,^) der die Vorteile einer ge- mäßigten Einschmelzung fremder Ausdrücke am umsichtigsten vertritt; oder die bekannte Berliner Erklärung gegen den Sprachverein vom 28. Februar 1889,^) die vor allem die individuelle Sprachfreiheit betont.*) Neuerdings hat H. Wernike in einem kurzen wirksamen Schriftchen^) gerade vom deutsch- sprachlichen Standpunkte aus das Recht auf Lehnwörter hervorgehoben, die den lautlichen und syntaktischen Mängeln unserer Muttersprache teilweise abhelfen; besonders (was schon V. Hehn betonte) jenem Überschuß schwer- fälliger Zusammensetzungen statt einfacher Worte {„Handschuh" gegen
1) Vgl. Dunger, Wider die Engländerei in der deutschen Sprache. 1899.
'-) RüMELiN, Die Berechtigung der Fremd-
lin 1892, S. 303, und, den Puristen weiter entgegenkommend, O. Gildemeister, Essays
1,211.
Wörter. Freiburg i. Br. 1887. . ^) H. Wernike, Versuch einer formalen
') Wider sie R. Hildebrand, Beiträge Kritik des deutschen Wortschatzes. Essen
zum deutschen Unterricht. S. 59. 1903.
*) Ebenso H. Homberger, Essays, Ber- j
2*
20 Stilistik.
„ganf" französisch und „glove" englisch) und der Armut an vollen Vo- kalen (die auch für H. Grimm ein Hauptgrund gegen die Abschaffung der Fremdwörter war).
Es wird doch zugestanden werden müssen, daß einem Jahrhundert eifriger Sprachreinigung nicht nur die Ausmerzung, sondern auch die Er- setzung zahlreicher Lehnworte mißlungen ist. Die mühsamen Übersetzungen sind im Grund schlimmer als die fremden Worte: sie verbinden entlehnte Anschauung mit unbequemer Aussprache. Man muß da immer wieder sich auf den König unserer Sprachmeister berufen, auf J. Grlm.m:')
Deutschland pflegt einen Schwärm von Puristen zu erzeugen, die sich gleich Fliegen an den Rand unserer Sprache setzen und mit dünnen Fühlhörnern sie betasten. Ginge es ihnen nach, die nichts von der Sprache gelernt haben und am wenigsten die Kraft und Keuschheit ihrer alten Ableitungen kennen, so würde unsere Rede bald von schauderhaften Zusammensetzungen für einfache und natürliche fremde Wörter wimmeln; das wohllautende Omnibus muß ihnen jetzt unerträglich scheinen, und statt auf die nah- liegende Verdeutschung durch den Dativ Pluralis .allen' zu geraten, wird ein steifstelliges allwagen, gemeinwagen, allheitfuhrwerk oder was weiß ich sonst für ein geradbrechtes Wort vorgefahren werden.
Selbst der Ausdruck, dessen ich hier nicht entraten kann, ich meine das Wort Zu- sammensetzung, ist schlecht geschmiedet und aus dem losen zi samana sezzunga ent- sprungen. Welcher Franzose würde ensembleposition dem natürlichen composition vor- ziehen? Genug hiervon ist gesagt, um allen, die meines Glaubens sind, Enthaltsamkeit im Anwenden der Zusammensetzungen (durch welche Campe sein Wörterbuch ohne tiefere Sprachkenntnis anschwellte) und Eifer für den erneuten Gebrauch guter und alter Derivative anzuempfehlen. -)
Am meisten scheint die erbarmungslose Ausrottung der Fremdwörter in wissenschaftlichen Werken zu widerraten. Ein so vortreffliches Buch wie L. SüTTERLiNS Deutsche Sprache der Gegenwart (Leipzig 1900) erschwert uns das Verständnis und sich die Verbreitung, wenn wir uns „Wessen/all" und „Wenfall" immer erst wieder in die besser gebildeten, leichter ver- wendbaren (denn wir können auch „genetivische Konstruktion" sagen, aber nicht „wessenfällige Verbindung") und weniger leicht mißzuverstehenden („Wemfall" und „Wenfall"!) Lehnwörter „Genetiv" und „Dativ" übersetzen müssen. So hat der Engländer Wells geradezu in gewissen Triumphen unseres sprachlichen Chauvinismus frohlockend eine Besserung der Aus- sichten für Englisch als Weltsprache erblickt! Und haben diese Fremd- linge in zwei Jahrtausenden wirklich nicht so viel Bürgerrecht erworben als die neueste Erfindung eines Grammatikers („Nichtzeitwort" für „Nomen"!) beanspruchen kann?
Man wird sich auf der „mittleren Linie" des Sprachvereins verstän- digen können: kein Fremdwort, wo ebensogut (und deshalb besser) ein deutsches Wort stehen könnte, aber freies Recht des Abwägens und Ent- scheidung für das Fremdwort, wo es (inhaltlich oder formell) besser paßt.
■) J. Grimm, Über das Pedantische in ■) Vgl. auch Jean Paul, Vorschule der
der deutschen Sprache. Kl. Sehr. 1,348. Ästhetik §83.
Zweites Kapitel. Die Worte in formeller Hinsicht. 21
Auch die Wohltat der Abwechselung im Ausdruck darf nicht ganz ver- kümmert werden.
§ 26. Niedere Worte. Und über einen so allgemeinen Rat kommen wir auch bei der letzten formellen Kategorie der stilistisch besonders zu beachtenden Wörter nicht heraus: bei den sogenannten „niederen Worten" (Becker S. 148 f., mit guten Beispielen). Sie können oft der Anschau- lichkeit hervorragend nützlich sein, öfter noch der Charakteristik dienen; dennoch besteht die allgemeine Überzeugung, daß gewisse Worte schlecht- weg nicht schriftgemäß sind. Es brauchen gar nicht Ausdrücke zu sein, deren Bedeutung zu euphemistischer Umschreibung zwingt, wie die für die niedersten körperlichen Verrichtungen (die aber z. B. Sterne in der Empfindsamen Reise, Schiller in der Anthologie, in Zusammensetzung Goethe im „Götz" anwendet). Es genügt schon, daß die Worte allzu „vulgär" sind. Oft vereinigt sich das mit dem Gepräge eines auffälligen Provinzialismus, z. B. bei unsern norddeutschen „quasseln" (Unsinn reden) und „Strippe'' (Schnur) oder dem häßlichen sächsischen „feichsen" (grin- send lächeln). Hierher gehört ein stattlicher Teil der im Deutschen nicht eben kümmerlichen Flora und Fauna der Schimpfworte; ferner aber auch lässige Umgestaltungen üblicher Worte: „Abitur" für „Abiturientenexamen", „Direx" für „Direktor" u. dgi., was sich wieder den Idiotismen nähert.
Die verschiedenen Literaturen sind bekanntlich in der Verschanzung gegen die „mots vilains et bas" (wie sie in Molieres „Precieuses ridicules" ironisch benannt werden) von sehr ungleicher Strenge. Die französische duldete früher kaum eine irgendwie über das „Allgemeine" herausgehende Wendung, so daß Boileau sich schon rühmen durfte, wenn er ein einziges Mal eine Katze eine Katze nannte und Victor Hugo von neuem mit ein- fachen Worten statt hochtrabender Umschreibungen revolutionär wirkte. Zu genaue Bezeichnungen fallen aber unter unsere Bemerkungen über die Fachausdrücke. Jean Paul geht wohl etwas zu weit, aber doch gewiß in der rechten Richtung (Vorschule der Ästhetik § 18):
Die Poesie fordert überall (ausgenommen die komische aus künftigen Gründen) das Allgemeinste der Menschheit; das Ackergerät z. B. ist edel, aber nicht das Backgerät, die ewigen Teile der Natur sind edler als die des Zufalls und des bürgerlichen Verhält- nisses, z. B. Tigerflecke sind edel, Fettflecke nicht; — der Teil wieder in Unterteile zerlegt, ist weniger edel, z. B. Kniescheibe statt Knie; — so sind die ausländischen Wörter, als mehr eingeschränkt, nicht so edel als das inländische Wort, das für uns als solches alle Fremde der Menschheit umschließt und darbietet; z. B. das Epos kann sagen: „die Befehle des Gewissens", aber nicht die Dekrete, Ukasen u. s. w. desselben.
Wir können also nur sagen: Ausdrücke, die durch ihren vulgären Beigeschmack verletzen, sind zu vermeiden; ob sie aber verletzen, hängt von der Natur der Stelle ab, an der sie stehen. Man kann den radikalen Naturalismus der Ausdrucksweise in G. Büchners Drama „Wozzeck" ver- werfen; gibt man ihn aber überhaupt zu, so fällt eben auch das niedrigste Wort, das der unglückliche Füsilier anwendet, nicht aus der Stimmung.
22 Stu,istik.
§ 27. Rekapitulation. Daraus geht denn schon hervor, daß die ver- schiedenen Epochen ebenfalls in ihrem Urteil weit auseinander gehen. Die mittelhochdeutsche Poesie scheidet „höfische" und „unhöfische" Worte zum Teil so streng, daß gute Worte wie „recke" oder „degen" lediglich des- halb, weil das Volksepos sie liebt, von der Poesie der Bildungsaristokratie verschmäht werden; Sturm und Drang macht sich umgekehrt eine Freude daraus, möglichst oft „Kerl" und „Maul" zu sagen, was zuweilen geradezu lächerlich wirkt.
So heißt es in einem jugendlichen Romanversuch Jean Pauls (J. Schneider, Jean Pauls Jugend S. 208) in der Schilderung verhebter Stimmung: .Dies Weib raubt mir alle Besonnenheit — fesselt alle meine Tätigkeit, entnervt meinen Geist! Ich mag kaum 's Maul auftun, ich mag nichts reden, als von ihr und da möcht' ich nie aufhören" ....
Damit haben wir aber schon die Grenze erreicht, wo die formellen Momente den inhaltlichen weichen.
Drittes Kapitel. Die Worte in inhaltlicher Hinsicht.
§ 28. Wortwahl. In der Wahl der Worte zum genauen Ausdruck der Gedanken ist man nirgends weniger sorgfältig als in Deutschland.') Gerade hier können wir außerordentlich viel von den Franzosen lernen; heut auch von den Engländern, die vor hundert Jahren hierin am weitesten zurück waren.*)
Die Franzosen behaupten, es gebe für jeden Gedanken nur einen vollkommen zutreffenden Ausdruck, — und man müsse also so lange suchen, bis man „le mot propre" gefunden habe.') Gegen diese Lehre hat der Engländer R.a.leigh (On style S. 61) sich mit geistreichen Argu- menten gewandt, und doch, wie ich glaube, den Kernpunkt verfehlt. Frei- lich ist es nicht so einfach, wie Albalat („L'art d'ecrire enseignee en vingt leQons" S. 65) es darstellt: „Die wahren Worte, das sind die richtigen, die natürlichen, die unersetzlichen Worte". Aber die höchst lehrreichen Bei- spiele, die er (S. 66 f.; vgl. S. 40 f.) gibt, beweisen doch, daß oft wirklich statt eines banalen oder unbestimmten Ausdrucks ein bestimmter, kräftiger als geboten, fast als selbstverständlich erscheint. Jeder wird schon die Erfahrung gemacht haben, daß er für einen einzelnen Satz ein Wort lange suchte und das von einem Freund ihm vorgeschlagene sofort als das ver- mißte empfand. Oder man sehe die Verbesserungen großer Autoren durch. ^) L. Uhland, der freilich auch den kleinsten Brief erst entwarf, ehe er ihn ins reine schrieb, hat die berühmte Einleitung zu seiner Abhand- lung über die Volkslieder (Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage
») Vgl. Phiuppi a. a. O. S. 200. Le travail du stjle, z. B. S. 95 ein Manuskript
2) DE QuiNCEY, Stjle, Writings ed. by von H.Heine. Allgemeineres bei G. .\BEL,
D. Masson 10, 136 f. Le labeur de la prose, Paris 1902, z. B. für
») Vgl. z. B. Catulle Mendes, La \i- Flaubert, den Fanatiker des , mot propre*,
gende du Parnasse contemporain S. 116. S. 23 f., für Alph. Daudet S. 65.
*) Vorzügliche Beispiele bei A. Albaiat, i
Drittes Kapitel. Die Worte in inhaltlicher Hinsicht. 23
Bd. III) mehr als viermal angegriffen und umgearbeitet, bis „ein kleines Meisterwerk nach Inhalt und Form" (Fr. Pfeiffer in der Vorrede zu Uhlands Abhandlung S. X) zustande kam. Unaufhörlich hat z. B. auch Schopenhauer an seinen Aufsätzen gefeilt. Von Dichtern nenne ich neben Uhland und Heine (dessen Varianten, in Elsters Ausgabe bequem ersichtlich, vielleicht die lehrreichsten sind) besonders Wieland und Platen und vor allem C. F. Meyer. ') Als ein kleineres Beispiel, wie ein immer- hin berühmter Ausspruch in langsamer Arbeit herausgefeilt wurde, verweise ich auf Eberhards Bericht über die Entstehung von Tiedges Spruch:
Geteilte Freud' ist doppelt Freude, Geteilter Setimerz ist halber Setimerz
(vgl. Büchmann, Geflügelte Worte 21. Aufl. S. 200) — der doch beim Zitieren immer noch verbessert wird („doppelte Freude"). Überhaupt lehren die „falschen Zitate" manchmal, was der Verfasser hätte sagen sollen. Min- destens für den allgemeinen Gebrauch ist es wirklich besser, zu sagen: Man merltt die Absicht und man wird verstimmt,
als
So fühlt man Absicht, und man ist verstimmt,
(Tasso 2, 1 Vers 969),
denn die prosaische zweite Hälfte des Goethischen Verses fordert zur Pro- saisierung des ersten fast heraus.
Es gibt also Fälle, wo „das eigentliche Wort" sich fast unvermeidlich bietet; aber oft ist das doch nicht so einfach, wie man nach Theorie und Kritik der Franzosen meinen sollte. Denn diese schalten, nach ihrer Ge- wohnheit, den subjektiven Faktor ganz aus. Rechnen wir den aber, wie billig, ein, so dürfen wir sagen: es gibt nicht überall einen allein richtigen Ausdruck; aber es gibt überall für jeden Schriftsteller nur Einen ganz richtigen Ausdruck. Um ein Beispiel großen Stils zu nehmen: in der Lehre vom Abendmahl konnte natürlich nicht das gleiche Wort für Luther und für Zwingli in Frage kommen; aber für jenen war „das ist" ebenso unersetzlich wie für diesen: „das bedeutet".
Eine gute Übung im genauen Ausdrucl< gibt das Übersetzen, besonders auch von kurzen Sätzen (Epigrammen, Sentenzen), ja Büchertiteln, wo besondere Prägnanz gefordert wird. ,Les femmes celebres dans la revotution" heißt natürhch nicht (wie man es übersetzt hat): „Die berühmten Frauen in der Revolution", sondern: „Berühmte Frauen der Re- volutionszeit". „Josephine repudiee' heißt nicht ,Die verstoßene Josephine " (was wie ein Operettentitel klingt), sondern: „Josephine" (oder, für uns, noch besser: „Kaiserin Josephine", „Josephine Beauharnais") „nach ihrer Verstoßung". Sudermanns „Heimat" er- hielt im Italienischen sehr gut den engeren Namen ,Casa paterna' , das bei einer Rücküber- setzung wieder nicht genau ebenso, sondern „Im Vaterhause' lauten müßte. Oder des be- rühmten amerikanischen „Milliardärs" Carnegie Ausspruch: ,Who dies rieh, dies dishonoured', heißt nicht mit sklavisch treuer Wiedergabe: „Wer reich stirbt, stirbt entehrt", sondern: „Im Reichtum sterben ist eine Schande" (die alten Deutschen hätten etwa gesagt: „Wer auf
') Vgl. Moser, Wandlungen der Ge- I Quellen und Wandlungen der Gedichte C. F. dichte C. F. Meyers, Leipzig 1900; KräGER, | Meyers, Berlin 1901.
24 Stilistik.
dem Qeldsack stirbt, den soll man in der Schinderkarre zu Grabe fahren").') Über die Übersetzung des Titels von Molieres .Malade imaginaire' hat L. Fulda (Aus der Werk- statt, Stuttgart und Berlin 1904, S. 184) eine ganze Abhandlung geschrieben. „Der ein- gebildete Kranke?" „Der Kranke in der Einbildung?' .Der Hypochonder?" .Krankheit und Einbildung?" Man suche das Wort, das den Nagel auf den Kopf trifft; ich meiner- seits würde für .Herrn Argans Krankheiten" stimmen.
Diese Übung am Übersetzen fremder Gedanken, die an andern leicht nachgeprüft werden kann, ist eine gute Gymnastik für die Übersetzung unserer eigenen Gedanken in gemeinverständliche und doch individuelle Sprache.
Es fragt sich nun, unter welchen Gesichtspunkten die Wahl des jedes- mal allein berechtigten Wortes zu vollziehen ist.
§ 29. Genauigkeit. Die Franzosen haben bei ihrer Betonung des „mot propre" fast ausschließhch die Genauigkeit im Auge, die ja auch in den meisten Fällen, vor allem für die Prosa, die wichtigste Seite der Wortwahl darstellt.
Nach der herkömmlichen Meinung — deren Richtigkeit übrigens keineswegs selbstverständlich oder zweifellos ist — gab es in der Urzeit Synonyma, d. h. für denselben Begriff oder dieselbe Anschauung mehrere Ausdrücke. Im Lauf der sprachlichen Entwickelung differenzierten sich diese immer mehr, so daß es heut eigentliche Synonyma oder Worte mit völlig gleicher Bedeutung nicht mehr gibt; es gih also, jedesmal die Nuance zu treffen, die dem Sinn der einzelnen Stelle am genauesten entspricht. — Jene Meinung ist weder für den Anfang noch für das Ende unbedenklich. Die schärfere Anschauung der Naturvölker unterscheidet das, was sie über- haupt bemerkt, vielleicht genauer als unsere abgestumpfteren Sinne; und ich z. B. glaube nicht daran, daß es in der indogermanischen Ursprache eine größere Zahl von „Wurzeln" mit der gemeinsamen Bedeutung „tragen" gab. Vielmehr wird ein Verb „auf der Schulter tragen", eines „tragen, wie der Baum seine Früchte trägt", ein drittes etu-a „zu einem Ziel schleppen" bedeutet haben. Sicher aber gibt es auf der andern Seite heute noch wirkliche Synonyma, wenigstens im lebendigen Sprachgebrauch, mag auch eine tüftelnde Synonymik überall Verschiedenheiten aufspüren wollen. „Laufen'' und „rennen" sind nur mit dem Mikroskop zu unter- scheiden, „Straße" und „Gasse" sind erst durch die Grammatiker aus- einandergeschoben, „Junge" und „Bube" nur dialektisch verschieden, „Backe" und „Wange" nur nach der Anwendung in alltäglicher oder ge- hobener Sprache, „Speer" und „Lanze" sind es überhaupt nicht. Wieviel vergebüche Mühe verwendet man auf die Zirkelquadratur, „Romanze" und „Ballade" genau zu unterscheiden! — Worauf es aber eigentlich ankommt, ist dies, daß auch wirklich vorhandene Unterschiede keineswegs immer be- tont oder auch nur empfunden werden. Zwei Worte sind also vielleicht
') Vgl. allgemein U. von Wilamowitz- nik des Übersetzens lateinischer Prosa, Berlin .MöLLENDORFF, Was ist übersetzen? (in seinen 1904, Teubner. „Reden und Vorträgen"), C. Bardt, Zur Tech-
Drittes Kapitel. Die Worte in inhaltlicher Hinsicht. 25
nicht völlig synonym; aber an der betreffenden Stelle kommt derjenige Teil ihrer Gebrauchsphäre in Betracht, den sie gemein haben. Es gibt also mindestens relative Synonyma, zwischen denen metrische, eupho- nische, stilistische Rücksichten entscheiden können; wie das oft die Varianten auch solcher Schriftsteller zeigen, die im Ausdruck sorgfältig sind.i)
Aber mögen die Unterscheidungen oft auch künstlich und gemacht sein — wie die von R. Hildebrand verspottete orthographische von „wider" und „wieder'' — , in der ungeheuren Überzahl der Fälle ist aller- dings eine wirkliche, dem lebendigen Sprachgefühl unbedingt verständliche Verschiedenheit vorhanden, und es geht nicht an, „Meer" und „See", „Fluß" und „Strom", „schlagen" und „hauen", „bedeutsam" und „wichtig" unter- schiedslos zu gebrauchen. Hier helfen die synonymischen Wörterbücher, von denen die bekannten von Eberhard und Sanders am häufigsten nach- geschlagen werden. Zur Schulung des Sprachgefühls ist gerade die Selbst- befragung über den Unterschied sogenannter Synonyma besonders zu em- pfehlen: man frage sich, weshalb Goethe schrieb „der König in Thule" und nicht „der König von Thule", weshalb er (in den „Wahlverwandt- schaften" I 15) gerade folgende Ausdrücke bei der Beschreibung eines Feuerwerks anwendet: „Raketen rauschten auf, Kanonenschläge donnerten, Leuchtkugeln stiegen, Schwärmer schlängelten und platzten, Räder gischten". Jedenfalls halte man sich mehr an Belegstellen (wie sie auch die besseren deutschen Wörterbücher bieten) als an theoretische Künsteleien; und natür- lich vor allem an die Prosa, da in der Poesie der Rhythmus, der Vers, namentlich aber der Reim gar zu oft der Genauigkeit in den Weg tritt. Der französische Schriftsteller Stendhal (Henri Beyle) pflegte sich deshalb auf sein Schreiben dadurch vorzubereiten, daß er ein paar Seiten des „Code Napoleon", des berühmten französischen Gesetzbuchs, las, um sich in nüchterner Klarheit und sorgfältiger Unterscheidung der Ausdrücke zu erhalten.
§ 30. Amphibolie. Gebraucht man lässig statt des eigentlichen Aus- drucks den uneigentlichen (vgl. Wackernaqel S. 341) — der natürlich oft selbst gefordert sein kann: wo unbestimmt musikalische Stimmung, Stili- sierung, selbst schon Variation nach ihm rufen — , so entsteht der Kunst- fehler der Amphibolie (vgl. ebd. S. 343). Sie führt entweder zu breiter Allgemeinheit, wie Wielands unbestimmtes Reden von „Tugend", über das der junge Goethe in „Götter, Helden und Wieland" lacht — „Hast du die Tugend gesehen? Wieland! Ich bin doch auch in der Welt herum- gekommen, und ist mir nichts so begegnet!" — oder zur Zweideutigkeit, wie in dem von Wackernaqel beigebrachten Beispiel: „Du sollst die Wahr- heit stets verfolgen [im Sinn von: angelegentlich betreiben: eine Sache mit Eifer verfolgen] und auch bei der Verwaltung mannigfaltiger Berufsgeschäfte
') Vgl. allgemein K. F. Becker, Der deutsche Stil S. 95 f., Raleigh, On Style S. 47 f.
26 Stilistik.
alles zu übersehen [im Sinn von: überblicken, nicht von: über etwas hin- wegsehen] suchen". Als absichtliche Doppelrede wird natürlich die Am- phibolie zum Kunstmittel, wie etwa in Goethes „Iphigenie" das „Bild der Schwester". Die Inder haben es bekanntlich in der Kunst, durch Anwen- dung mehrdeutiger Ausdrücke lange Perioden zu bauen, bei denen zwei völlig auseinandergehende Deutungen möglich sind, zu einer wahren Vir- tuosität gebracht.
Zu besonderer Aufmerksamkeit beim Gebrauch der oft mehrdeutigen Zusammensetzungen (Genetivus obiectivus und subiectivus können leicht verwechselt werden u. dgl.) ermahnt Becker (S. 445). Bei häufigerer Ver- wendung pflegt übrigens die eine Bedeutung ganz auszuscheiden: „Liebe des Vaterlands'' mit Vaterland als Subjekt, „Vaterlandsliebe" mit Vater- land als Objekt.
Zuweilen erhält auch eine undeutliche Bildung nachträglich einen bestimmten ihr ursprünglich fremden Sinn: so scheint .Wechselwirkung' ursprünglich .Bewirkung von Wechsel' und erst später .gegenseitige Beeinflussuung' bedeutet zu haben. Ist .himmel- anstrebend' mit .himmelan' oder mit .anstreben' gebildet? U. dgL m.
§31. Anschaulichkeit Aber schon jenes Beispiel des Stendhal beweist, daß Genauigkeit nicht alles tut. Man kann sehr sorgfältig das zutreffende Wort wählen — und eben deshalb den richtigen Ausdruck verfehlen. Ge- rade die Pedanterie, die jedes Mißverständnis ausschließen will, hat uns in neuester Zeit mit unbrauchbaren Neologismen — unbrauchbar, wenn sie auch alle Welt gebraucht — beschenkt. Die berüchtigte „Kleinkinderbewahr- anstalt" ist ein abschreckendes Muster. Und wenn man nun wirkUch dächte, große Kinder kämen auch noch herein? Und wenn man nun (wie vor- geschlagen wurde) einfach „Kinderhaus" sagte, und das „Bewahren" nicht gleich ausdrückte, das ja in „Kinderstube" auch nicht sozusagen in bar auf den Tisch gezähU wird? Oder: „rauchschwaches Pulver"; verlangt man denn von „rauchlosem Pulver" mehr destillierte Reinheit als von „staub- freier Luft"? Oder von „Minderbemittelten", „Minderbegabten" zu sprechen, mag human sein; ästhetisch ist es nicht. Nun gar „Hoch- und Unter- grundbahn" — das bringe mal einer in einen guten Satz! Ein Wunder, daß unsere Schulweisheit beim Kaiser Wilhelmskanal uns die Benennung „Nordsee-Ostsee-Kanal" statt „Nordostseekanal" erlassen hat.')
Was diesen mühsam tappenden Worten (und so auch besonders vielen juristischen Neubildungen) fehlt, ist die Anschaulichkeit. ^Da- tivus" ist der Fall, der eintritt, wenn ich jemandem etwas gebe — freilich nicht nur dann, aber nach diesem bezeichnenden Hauptbeispiel kann ich nun andere konstruieren. „Wemfall" ist der Kasus, der auf die Frage „wem?" antwortet; womit wir gar nicht gefördert sind, denn nun heißt es wieder: wann wird mit „wem?" gefragt? nun, z. B. bei „geben"!
Gegen die kahle „Richtigkeit" ohne Anschauung, ohne Sinnlichkeit hat sich gerade neuerdings eine höchst dankenswerte Opposition erhoben.
') Vgl. allgemein Lazarus, Leben der Seele, 2. Aufl., 2, 207 f.
Drittes Kapitel. Die Worte in inhaltlicher Hinsicht. 27
Zwar schon K. F. Becker (S. 74 f.) warnte vor einer „unnatürlichen Ver- geistigung des Stiles"; er stellte die abstrakten Wendungen der Mystiker („Schauung", „Darbung", „Anderheit", „Geschaffenheit" und gar der Philo- sophen aus Hegels Schule („Ganzheit", „Selbheit", „das Bei-sich-sein") kräftig sinnlichen Ausdrücken der Volkssprache gegenüber; wie denn auch Herbert Spencer in seinem berühmten Essay „The Philosophy of Style" (Essays 2, 40 f.) die kräftig anschaulichen „angelsächsischen" Worte den abstrakten Lehnworten vorzieht. Ebensowenig fehlt der Hinweis auf die Sinn- lichkeit der Worte etwa bei Wackernagel (S. 371), und gar Fr. Th. Vischer (Ästhetik 6, 1221 f.) hat mit aller Energie seiner daseinsfreudigen Seele die Anschaulichkeit des Ausdruckes gepredigt. Aber in breitere Kreise drang diese Forderung doch erst durch R. Hildebrands unvergleichliche Lehr- tätigkeit und die seiner Schüler Otto Schroeder („Vom papiernen Stil") und Wustmann („Sprachdummheiten"); im allgemeinen mag auch an „Rem- brandt als Erzieher" erinnert werden. Als 1873 Fr. Nietzsche seine Streit- schrift „David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller" ganz ausdrück- lich auch gegen die „austrocknende Öde und Verstaubtheit" seines Buches „Der alte und der neue Glaube" richtete (Werke I 257, vgl. 259 f.), verstand man noch kaum, was er wollte; aber sechs Jahre später schlug die grund- legende zweite Auflage von Hildebrands prächtiger Schrift „Vom deutschen Sprachunterricht in der Schule" durch.
§ 32. Mittel der Wortwahl. Über die allgemeinen Mittel, eine größere Anschaulichkeit zu erreichen, ist an anderer Stelle zu handeln. Hier ist nur zu fragen, welche Worte oder Wortklassen besonders geeignet sind, die Vorstellungskraft anzuregen. Da läßt sich zunächst allgemein sagen:')
1. Verba wirken anschaulicher als Substantiva, weil sie die Bewegung lebendig vorführen, die im Nomen erstarrt ist. Als Goethes „Mann von fünfzig Jahren" (Wilhelm Meisters Wanderjahre IL Buch 4. Kap., Hempel 15, 204) den Ovid übersetzt hat, ist er mit der Übertragung („mit diesem Übertragenen", sagt der Dichter) nicht („nur wenige Zeit") zufrieden; „er tadelte, daß er das schönflektierte Verbum fierent in ein traurig abstraktes Substantivum („das Machen") verändert habe". — Die Übermasse der No- mina gibt auch der altgermanischen Poesie ihren starren Charakter (vgl. meine Altgermanische Poesie S. 17).
2. Simplicia wirken anschaulicher als Komposita, weil sie den Be- wegungsinhalt einfacher, ursprünglicher hervortreten lassen. „Ich steige auf den Berg" läßt die Handlung deutlicher empfinden als „ich ersteige den Berg".
3. Konkreta wirken natürlich anschaulicher als Abstrakta:
„Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau"
ist ein nachzuschaffendes Bild;
1) Vgl. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik § 78; Scherer, Poetik S. 269.
28 Stilistik.
Denn wo das Strenge mit dem Zarten, Wo Starkes sich und Mildes paarten —
das ist abstrakt, unanschaulich, fast der Phrase benachbart.
4. Worte, deren Ursprung noch deutlich empfunden wird, wirken an- schaulicher als solche mit verdunkelter Etymologie; weshalb auch das Volk gern etymologische Zusammenhänge herstellt, wo sie verloren sind. „5/«^- flut" (von der gleichen Wurzel wie „Sinngrün'' , Immergrün: die große Flut) ist ein unanschauliches, „Sündflut", Flut zur Strafe der Sünden, ein anschauliches Wort.')
Deshalb sind einheimische Worte auch meist anschaulicher als Fremd- worte; nur werden Archaismen und Provinzialismen sowie Neubildungen von undurchsichtiger Art auch leicht als fremde Worte empfunden.
5. Der Singular wirkt anschaulicher als der immer schon etwas ab- strakte Plural:
Was ist des Deutschen Vaterland? —
6. Pronomina, weil sie jede charakterisierende Benennung ablehnen, wirken unanschaulich und werden deshalb gern durch variierte Nomina ersetzt; wie undeutlich der Anfang der „Nadowessischen Totenklage ":
Seht, da sitzt er auf der Matte, Aufrecht sitzt er da —
oder gar:
wie anschaulich:
Er stand auf seines Daches Zinnen, Er schaute mit vergnügten Sinnen Auf das beherrschte Samos hin —
Normannenherzog Wilhelm rief einmal
(Uhland, .Taillefer*). Wie denn überhaupt
7. Eigennamen rasch in die Nähe der Person bringen: Lenore fuhr ums Morgenrot Empor aus wilden Träumen.
Doch leitet dies schon zu den andern „Werten" des Wortes über: -zu denen, die durch Assoziation vermittelt werden. Das gilt auch für fast alle einzelnen Worte, die als besonders anschaulich (z. B. von R. Hilde- brand) empfohlen werden. „Sie ist die Güte selbst" ist freilich anschau- licher als „sie ist die verkörperte Güte" oder gar „die personifizierte Güte", weil der an sich abstrakte Ausdruck unmittelbarer mit der lebendigen Person verbunden wird, und weil der Beiklang gelehrter Kälte in den beiden wissen- schaftlichen Ausdrücken aus dem Spiel bleibt.
§ 33. Assoziationen. Die Worte wirken nämlich nicht bloß unmittel- bar, sondern auch durch Nebeneindrücke, die sie erwecken, durch Asso- ziationen. Hierüber ist nur das Allgemeinste festgestellt, zuerst von Fechner in seiner Vorschule der Ästhetik (S. 86 f., 136 f.).-)
') Zahlreiche Beispiele bei Andresen, ; -) Einige \'ersuche genauerer Ermittelung
Deutsche Volksetymologie. | bei Thü.mb und AUrbe, Experimentelle Unter-
Drittes Kapitel. Die Worte in inhaltlicher Hinsicht. 29
Hauptsächlich sind dreierlei Assoziationen zu unterscheiden, je nach- dem ob die Worte rein lautlich, durch den herrschenden Sprachgebrauch, oder historisch wirken.
A. Die lautsymbolische Wirkung der Worte ist in neueren Zeiten besonders eifrig gepflegt worden. Theoretisch wissen wir über ihre Be- dingungen auch nur das Allgemeinste:') helle Vokale wirken in Häufung oder geschickter Anordnung eben „hell", d. h. angenehme, freudige Ge- fühle erweckend; dunkele rufen leicht Grauen oder doch die Vorstellung trüber Stimmung her\'or. ^) — Die kunstvolle Venvendung des Lautwerts der Silben und Worte ist an anderm Ort (als Lautmalerei und Onoma- topoeie) zu besprechen; hier ist nur zu erwähnen, daß ihre feine Aus- bildung bei den neueren Franzosen (Mallarme, Verlaine, Rimbaud) und ihren deutschen Schülern, besonders Stephan George^) zu einer Wieder- aufnahme der Untersuchungen geführt hat, die aus gleichem Anlaß gerade ein Jahrhundert früher in der Zeit der Romantik zuerst gepflegt wurden.^)
Man wird in Bezug auf den Lautwert der Worte sich noch immer am besten dem eigenen Gefühl anvertrauen. Zur Beurteilung der laut- symbolischen Feinheit von Schriftstellern dient besonders deren Namen- wahl, d. h. die Wahl von Eigennamen für ihre Personen und Orte, und noch mehr ihre Namengebung, d. h. die Erfindung weiterer Namen in gleicher Absicht. Die treffliche Namengebung des Popularphilosophen J. J. Engel (z. B. in „Lorenz Stark") rühmte schon der Turnvater Jahn; andere Virtuosen der Kunst, durch frei gewählte Namen die Atmosphäre, die ihren Helden umgibt, zu bestimmen, sind z. B. G. Freytag, Fritz Reuter, Th. Storm, neuerdings Ricarda Huch.
B. Die sprachliche Wirkung der Worte hängt an bestimmten festen Formeln und Verbindungen. s) Die sogenannten „Zwillingsformeln" der deutschen Sprache«) sind wie zwei Guerickesche Halbkugeln aneinander geschmiedet: wir verbinden so oft „Feuer und Wasser", daß bei der Nen- nung des einen Elements sich leicht das andere in der Vorstellung ein-
suchungen über die psychologischen Grund- Poetik S. 275. — Vorzugsweise hierher ge-
lagen der sprachhchen Analogiebildung, Leip- hört, was Sherman, Analjiics of Literature
zig 1901, vgl. meine Besprechung, Anzeiger S. 12f., unter .Suggestive-words" anführt, für deutsches Altertum 28 (1902) S. 279. — ') Vgl. Zw\-.m.\nn, Das Georgesche Ge-
Zahlreiche Beispiele für das Englische bei dicht, Berlin 1902.
Bain a.a.O. 2, 70: „Vocabularj- of Strenghl", *) A. F. Ber.\'H.\RDI, Sprachlehre, Berlin
Aufzählung von Worten, die den Eindruck 1803, 2, 260 f. Von der romantischen Willkür
der Stärke erwecken; 2, 127: „Vocabularj' of noch gänzlich abhängig G. Gerber, Die
Feeling", von Worten, die das Gefühl er- Sprache als Kunst, Bromberg 1871, 2, 214 f. regen. Vgl. auch Sher>un, Analjlics of ') Vgl. Thu.mb und Marbe a. a. O., auch
Literature S. 30 f., 69. Merixger und Mayer, Vorsprechen und Vor-
') Vgl. meinen Aufsatz .Künstliche lesen, Stuttgart 1895. Sprachen", Indogermanische Forschungen 12, *) Vgl. meine Altgermanische Poesie
243 f. S. 240 f.
-) Eine künstliche Tabelle bei Viehoff, i
30 Stilistik.
findet. Das Wort „Pflicht" ruft „Recht" herbei und umgekehrt, nicht bloß aus begrifflicher Assoziation, sondern vorzugsweise, weil diese zu typischer Verkuppelung von „Recht" und „Pflicht" im Sprachgebrauch geführt hat Viele Chiasmen, zahllose Antithesen rollen in solchen Wortgeleisen. Daher erklingt leicht das eine, wo nur das andere genannt ist, leise mit und kann durch diesen Oberton die Wirkung des ausgesprochenen Zwillings fördern oder — häufiger — stören.
Ebendahin gehören typische Reime, selbst aus solcher Gewohnheit der Wortgesellschaftung entsprungen.') Die gewohnten Reime stellen sich ein, auch wo der Dichter sie vermied — eine häufige Fehlerquelle in Hand- schriften und Drucken. Oder umgekehrt ein gewohntes Wort verdirbt den Reim. Fontanes Puritanerlied „Die Stuarts" schließt:
Es kommt ein Wetter, es braust ein Strom,
Die Lüge muß verderben ,
Die Stuarts stehen all zu Rom
Und müssen alle sterben. Mir geriet beim Rezitieren statt „Strom'' fast immer „Sturm" auf die Zunge, weil es zu „Wetter'' in typischer Verbindung steht.
C. Aus beiden Elementen setzt sich die historische Wirkung der Worte zusammen. Ausdrücke, die die Poesie oft und mit Emphase an- wendet oder die bei wichtiger Gelegenheit gebraucht werden, erhalten einen besondern Glanz; sie nehmen auch in späterer Verwendung an dem Ein- druck teil, den sie früher in glücklicher Anwendung erweckten. Überhaupt aber trägt die ganze Vorgeschichte eines Wortes zu seiner gegenwärtigen Wirkung bei. Darauf hat Hildebrand oft und mit prächtigen Beispielen hingewiesen.-)
All diese Assoziationen also, rein lautlicher, sprachlicher, historischer Art wirken auf die Brauchbarkeit von Worten überhaupt und insbesondere die für bestimmte Zwecke ein.s) Ein allzu feiediches Wort paßt nicht für die leichte Erzählung. Den ernsten tiefen Klang des schönen Wortes „Vatertand", bei dem wir E. M. Arndts Lied hineintönen hören, wird man an vielen Stellen vermeiden, wo das gemütlichere „Heimat" noch paßt; und umgekehrt bei pathetischer Beschwörung ist jenes nicht zu umgehen:
Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an. Vernachlässigung der Assoziationen ist es vorzugsweise, die die Gedichte unlyrischer Lynker wie Immermann und Grillparzer so oft ihre Wirkung verfehlen läßt; um so mehr, als das unglücklich gewählte Wort leicht auch einen nicht passenden Rhythmus nach sich zieht und selbst das Metrum bestimmen kann. — Doch auch die „niederen Worte" (s. o. § 26) sind großenteils um ihrer Assoziationen willen (besonders auch der lautlichen; so
') Vgl. Erich Schmidt, Deutsche Reim- künde, 2. Aufl., Leipzig 1899, S. 209 f.
Studien, Sitzungsberichte der Berliner Aka- i ') Über die Vermeidung störender Asso-
demie 3. Mai 1900. ; ziationen Ratzel, Über Naturschilderung,
'-) Weiteres bei E. Wilke, Deutsche Wort- ' München i. B. 1904 S. 372.
Viertes Kapitel. Die Wortverbindung in formeller Hinsicht. 31
bei „schmeißen'', „packen'') verurteilt; und eben davon hängt es oft ab, ob Idiotismen, Archaismen u. s. w. uns erträglich scheinen oder nicht.
Wo man dem durch „niedere Worte" vermittelten Inhalt nicht aus- weichen kann, hilft man sich durch den Euphemismus (Wackernagel S. 404), d. h. eine andeutende Umschreibung mittelst erlaubter Worte, indem man etwa aus Prüderie „die Unaussprechlichen" sagt statt „die Hosen" oder mit berechtigterer Scheu die mehr animalischen Funktionen des Menschen nicht mit ihren volkstümlichen Namen benennt. Wie weit man hier zu gehen hat, hängt von Ton und Gelegenheit der ganzen Schrift ab.
Viertes Kapitel. Die Wortverbindung in formeller Hinsicht.
§ 34. Wortverbindung. Die Bedeutung der Wortwahl ist groß; hat doch die Assoziation so große Gewalt, daß nur um des dumpfen Tons willen die arme unschuldige Unke zu einem bösen Ungeheuer der Dichtung wurde. Dennoch fängt die eigentliche Pflege des Stils erst mit der Wortverbindung an: mit der sorgfältigen Anpassung eines Wortes an das andere, die erst jenem Wortgefüge, das wir menschliche Rede nennen, ihr eigentliches Ge- präge gibt. Und diese fällt, weil unmittelbarer vernehmlich, sogar mehr in das Ohr als der Satzbau. Mindestens für den weniger geschulten Hörer und Leser ist sie daher von den äußeren Mitteln des Stils vielleicht die wichtigste und in der Tat auch die, der die meisten Schriftsteller die größte Sorgfalt zuwenden. Daß dies freilich gerade bei uns noch keineswegs in genügendem Maß geschieht, hat der letzte große Meister deutscher Prosa, Fr. Nietzsche, in bewegten Worten beklagt, die von den vielseitigen Auf- gaben virtuoser Wortverbindung ein anschauliches Bild geben (Werke VII S. 214 N. 246):
Welche Marter sind deutsch geschriebene Bücher für ,'den, der das dritte Ohr hat: wie unwillig steht er neben dem langsam sich drehenden Sumpfe von Klängen ohne Klang, von Rhythmen ohne Tanz, welcher bei Deutschen ein Buch genannt wird! Und gar der Deutsche, der Bücher liest! Wie faul, wie widerwillig, wie schlecht liest er! Wie viele Deutsche wissen es und fordern es von sich zu wissen, daß Kunst in jedem guten Satz steckt, — Kunst, die erraten sein will, sofern der Satz verstanden sein will! Ein Miß- verständnis über sein Tempo zum Beispiel: und der Satz selbst ist mißverstanden! Daß man über die rhythmisch entscheidenden Silben nicht in Zweifel sein darf, daß man die Brechung der allzustrengen Symmetrie als gewollt und als Reiz fühlt, daß man jedem staccato, jedem rubato ein feines geduldiges Ohr hinhält, daß man den Sinn in der Folge der Vokale und Diphthonge rät, und wie zart und weich sie in ihrem Hintereinander sich färben und umfärben können: wer unter bücherlesenden Deutschen ist gutwillig genug, solchergestalt Pflichten und Forderungen anzuerkennen und auf so viel Kunst und Absicht in der Sprache hinzuhorchen? Man hat zuletzt eben „das Ohr nicht dafür": und so werden die stärksten Gegensätze des Stils nicht gehört und die feinste Künstlerschaft ist wie vor Tauben verschwendet. — Dies waren meine Gedanken, als ich merkte, wie man plump und ahnungslos zwei Meister in der Kunst der Prosa miteinander verwechselte, einen, dem die Worte zögernd und kalt herabtropfen, wie von der Decke einer feuchten Höhle — er rechnet auf ihren dumpfen Klang und Widerklang — und einen anderen, der seine Sprache
32 Stilistik.
wie einen biegsamen Degen handhabt und vom Arme bis zur Zehe hinab das gefährliche Glück der zitternden überscharfen Klinge fühlt, welche beißen, zischen, schneiden will.
Über die Grenzen der Euphonie vgl. z. B. Raleigh, Style S. 16.
§ 35. Satzteile. Unter „Wortverbindung" haben wir hier nur diejenigen Punkte zu behandeln, die sich auf die Verbindung einzelner Worte be- ziehen; die Anordnung der sämtlichen zusammengehörigen Worte gehört in das folgende Kapitel, da eben der Satz die höhere Einheit aller zu- sammengehörigen Worte bildet. Dorthin haben wir also auch schon Wort- stellung und Rhythmus zu verweisen. Doch muß auch an dieser Stelle auf sie hingewiesen werden, weil es Schriftsteller gibt, die zwar den Satz als Ganzes nicht beherrschen, in seinen einzelnen Teilen aber Wortstellung und Rhythmus künstlich zu verwenden wissen.
So setzt E. Th. A. Hoffmann in die Mitte schlecht gebauter Perioden musikalisch wirksame Klauseln, so daß rhythmisch und unrhythmisch geordnete Rede durcheinander fließt wie die Erzählungen vom Kapellmeister Kreisler und vom Kater Murr: .Zuweilen ließ sich Viktorins Jäger, als Bauer verkleidet, am Ende des Parks sehen, und ich versäumte nicht, insgeheim mit ihm zu sprechen, und ihn zu ermahnen, sich bereit zu halten, um mit mir fliehen zu können, wenn vielleicht ein böser Zufall mich in Ge- fahr bringen sollte." („Elixiere des Teufels', Grisebachs Ausgabe 2,60.)
Natürlich beruht aber dann die Wirksamkeit dieser Satzstücke — .Satzglieder' im syntaktischen Sinn werden es selten sein — auf den gleichen Regeln, die auch für den ganzen Satz Wohlklang und Übersichtlichkeit der sich folgenden Worte bestimmen. Man beachte etwa, wie die zuerst unterstrichenen Worte erst eilen, wie unser Blick durch die lange Allee des Gartens, um dann plötzlich mittelst der Konsonantenhäufung am Ende zum Verweilen gezwungen zu werden; , Parks sehen" schiebt sich vor wie das Gitter, hinter dem wir den Jäger erblicken. Und am Schluß des ganzen Satzes stehen Worte, deren Bau (Liquidalverbindung vor kurzem Vokal) ein nachklingendes Aushalten der angst- vollen Vorstellung erleichtert.
§ 36. Sandhi oder Satzphonetik. Der formellen Wortverbindung im engeren Sinn fällt zunächst die Sorge für die lautliche Verträglichkeit zweier be- nachbarter Worte zu.
Diese Kunst wurde viel sorgfältiger als heut in Zeiten gepflegt, die das einzelne Wort noch mit einem gewissen feierlichen Respekt umgaben, sobald sie es in gepflegter Rede verwandten. Die Indogermanen besaßen ausgedehnte Vorschriften hierüber, die wir nach dem Kunstausdruck der indischen Grammatiker — in deren Sprache sie am eifrigsten gepflegt und weitergeführt werden — Sandhi-Regeln nennen.') Innerhalb der deutschen Sprachgeschichte lassen sich Perioden unterscheiden, in denen das isolierte Wort, und solche, in denen der Satz doininiert; die letzteren zeigen Sandhi, die ersteren fast gar nicht. Wir treffen daher Regeln der „Satz- phonetik" im Althochdeutschen^) und zwar besonders am Ende dieser Periode, und fortdauernd durch die ganze mittelhochdeutsche Zeit; Ver- fall des Sandhi und Isolierung des Wortes in der neuhochdeutschen Zeit,
') Vgl. darüber Brugmann, Grundriß i =) Vgl. Brugavann a. a. O. S. 514 f.,
der vergleichenden Grammatik der indo- Paul, Grundriß der germanischen Philologie, germanischen Sprachen I S. 485 f. | 2. Aufl., I 677, 714 f.
Viertes Kapitel. Die Wortverbindung in formeller Hinsicht. 33
besonders stark an ihrem Anfang und in der nachklassischen Epoche; endlich gegenwärtig neue Ansätze der Satzphonetik. Wenn z. B. mittel- hochdeutsch zwar gesagt wird „der tac ist — ", aber „des tages", so entspricht diese Unterscheidung von k (geschrieben c) und g dem Be- dürfnis, das Wort dem Satzgefüge einzuordnen, wogegen in unserm gleich- mäßigen „der Tag ist — " und „des Tages" die Wortform als allein maß- gebend festgehalten wird. Wenn die frühneuhochdeutsche Zeit Worte, die mit leicht zu assimilierenden Konsonanten schlössen, mit solchen Lauten abriegelt, die eine Pause fordern, insbesondere dem dafür schon in ur- germanischer Zeit beliebten t, so ist das ein Triumph des Wortpartikularis- mus; mittelhochdeutsch „obez, wilen" fügt sich leicht an das folgende Wort, neuhochdeutsch „ Obst, weiland" steht in seiner Selbstherrlichkeit gepanzert da wie ein Reichsritter des 17. Jahrhunderts. — Doch ist zu beachten, daß die Schriftsprache die Tendenzen der lebenden Rede noch übertreibt und die Schreibung gern noch die der Schriftsprache. So unterscheiden wir Norddeutsche in der Aussprache tatsächlich den Auslaut von „Tag" von dem Inlaut in „Tages" und die Mundarten haben noch mehr Anpassungen;') so gewaltsame Absperrungen eines Wortes, wie sie das 17. und 18. Jahrhundert besonders in Eigennamen und Titeln liebte {„Bismarck" statt „Bismark", „Wurmb" statt „Wurm", „Königinn" statt „Königin") haben immer nur auf dem Papier gestanden.
§ 37. Hiatus und Euphonie. Gegenwärtig zeigen sich, wie bemerkt, An- fänge einer neuen Sorgfalt in Bezug auf die Wortnachbarschaft; zu Regeln haben sie sich aber in wenigen Fällen verdichtet. Augenfällig ist besonders eine zunehmende Abneigung gegen den Hiatus, d.h. den Zusammenstoß eines auslautenden mit einem anlautenden Vokal.-) Als vorzugsweise störend wird das so häufige stumpfe kurze e vor andern Vokalen empfunden, auf das viele überhaupt den Begriff des Hiatus im Deutschen einschränken. Ihm kann öfters durch die Wortstellung abgeholfen werden oder auch durch die Wortwahl: „erwiderte Franz" statt „erwiderte er". Vielfach ist doch das herbere Mittel der Wortverkürzung nötig, 3) insbesondere der Elision, d. h. des Abfalls eines Endvokals vor vokalischem Anlaut. So wird in der „Zeitschrift für deutsches Altertum" grundsätzlich: „meint ich"., nie „meinte ich" gesetzt. Doch läßt der Sprachgebrauch der Gegenwart die Elision nur bei Flexionssilben zu und auch hier nur beim Dat. Sing, der Maskulina und Neutra, wo die Form „dem Freund" sogar allgemein auch außerhalb der Hiatusfälle vor „dem Freunde" bevorzugt wird, und bei der 1. Sing. Praes. und 2. Sing. Imper.: „ich seh' es kommen", „vertrau auf Gott". Auch wird hier die Verkürzung oft auf Fälle vor Konsonanten und im
') Vgl. z. B. Behaghel in Pauls Grund- 2, 375 f., für Schiller Bellermann, Sciiillers
riß I 732. ' Dramen 2, 246.
2) Vgl. W. Scherer, Über den Hiatus ; ') Vgl. J. Minor, Neuhochdeutsche Me- in der neueren deutschen Metrik, Kl. Sehr. | trik S. 173 f., Wackernagel S. 433.
Handbuch des deutschen Unterrichts. Bd. III, Teil l. 3
34 Stilistik.
Satzschluß erstreckt. Eingebüßt haben wir leider die Möglichkeit der Krasis,») d. h. der Verschmelzung von aus- und anlautendem Vokal zum Diphthong (wie in mittelhochdeutsch „deist" für „daz ist" beziehungsweise „da' ist"). Ein absolutes Verbot auch nur des Hiatus mit e scheint dem Geist der deutschen Sprache nicht zu entsprechen: „da schlage ich ihn" läßt die entscheidende Handlung nachdrücklicher hervortreten als das glattere „da schlag ich ihn". Wo aber nicht besondere Gründe dagegen sind, wird man durch Vermeidung des Hiatus dem Wohlklang dienen und den gegen- wärtigen Sprachtendenzen entgegenkommen.
Konsonantische Zusammenstöße erträgt unsere Sprache mit wenig be- neidenswerter Gelassenheit. Früher gab es auch hier Verschmelzungen: „bist du" verband man ruhig zu „bistu"; da wir aber nicht schreiben, wie wir sprechen, sondern sprechen, wie wir schreiben, bemühen wir uns auch, das unmögliche „bist du" (in dem übrigens das Personalpronomen eigent- lich doppelt steht, da „bist" schon das enklitische „du" enthält) korrekt auszusprechen. „Hastu" für „hast du" käme uns chinesisch vor. Aber auch andere Mittel, den Zusammenstoß unverträglicher Konsonanten zu meiden, hat man verlernt. In mittelhochdeutscher Zeit trennte man sie im Verse durch die Cäsur;-) im 19. Jahrhundert beginnt ein Dichter vom Rang Grillparzers ein Bekenntnisgedicht („An Bauernfeld") gleich mit der Kako- phonie: „Was schiltst du mich" — in der Aussprache freilich zu „Was schilstu mich" zu vereinfachen. — Sorgfalt in diesen Dingen trägt besonders zu dem leichten Fluß der Rede bei, der berühmte Meister auch des Prosa- stils auszeichnet; vor allem aber Dichter: Wieland, Hölderlin, Heine. Doch fehlt es im einzelnen noch ganz an Beobachtungen. Im wesentlichen wird im Inlaut des Satzes für erlaubt gelten dürfen, was im Inlaut des Wortes geduldet wird. Insbesondere mildern 5 (beziehungsweise seh) und t als Vermittler Konflikte, die sonst unerträglich wären. s) So ward urgerma- nisch sr zu str (z. B. in Strom), so wird frühneuhochdeutsch eigenlich zu eigentlich; so wird eine auf dem Papier schlimme Konsonantenhäufung wie „sich an den Pult stellte" (am Ende von „Werthers Leiden") glatter ge- lesen als manche Verbindung, die sich dem Auge harmloser darstellt. — Als Mittel, schwer zu vermeidende Konsonantenhaufen zugänglicher zu machen, dient auch die Interpunktion, die aber nur selten in dieser be- stimmten Absicht gehandhabt wird.
Die beste Prüfung für die Lesbarkeit bildet das von R. Hildebrand mit Nachdruck immer wieder empfohlene laute Lesen; freilich werden kleinere Anstöße von unserer nur allzu gut geübten Zunge unmerklich überwunden.
') Doch vgl. Minor a. a. O. S. 182. ») Vgl. meinen Aufsatz Zeitschrift für
-1 Vgl. meine Grundlagen des mittel- d. Altertum 38,53.
hochdeutschen Strophenbaus S. 38 f.
Viertes Kapitel. Die Wortverbindung in formeller Hinsicht. 35
§ 38. Störende Lautähnlichkeit. Schwierigkeiten der Aussprache und Mißkiang können aber nicht nur auf zu großer Verschiedenheit, sondern auch auf zu großer Ähnlichkeit der sich folgenden Laute beruhen. Sie werden dann im sprachlichen Leben durch Dissimilation, d. h. Änderung des einen von zwei gleichen Lauten beseitigt, indem z. B. „Adjutant" allgemein „Aäjudant" ausgesprochen wird. Erstreckt sich eine solche un- bequeme Lautähnlichkeit auf mehrere Silben, so entstehen Wortbildungen wie der von Platen verspottete (und wohl auch erfundene) „Holzklotz- pflock", bei dem Konsonantenhäufung schlimmster Art und Assonanz zu ab- scheulicher Wirkung zusammenarbeiten. Geht das noch weiter auf ganze Worte, so erhalten wir jene scherzhaften Sprachübungen, wie z. B. das von MöRiKE im „Stuttgarter Hutzelmännlein" angebrachte „Es Zeit ein Klotzte Blei glei bei Blaubeure". Solche Stückchen ') kommen aber auch ohne scherzhafte Absicht bei nachlässigen Stilisten vor. Natürlich ist aber auch eine allzu glatte „singende" Wendung vom Übel, wie des Parlamentariers Beckerath berühmtes Bekenntnis: „Meine Wiege stand am Webstuhl meines Vaters ..."
§ 39. Formelbruch. Eine Unbequemlichkeit, die man nicht zu scheuen braucht, wird dem Leser zugemutet, wenn herkömmliche Wortgruppen durch neue ersetzt werden; der nachlässige Leser kommt dann unwillkürlich in die gebräuchliche Formel hinein (vgl. o. S. 14 f.), gerade wie in solchen Fällen die alten Schreiber den Text mittelhochdeutscher Dichter zu verball- hornen pflegten. Solche Störung der Leserbequemlichkeit werden erzählende Schriftsteller nicht ohne Not wagen; in wissenschaftlichen oder didaktischen Arbeiten dagegen wirken sie oft gerade anregend und der zum Nachdenken bereite Leser fühh sich angenehm geweckt. Es liegt hier ein Einzelfall jener Figur vor, die wir als Aprosdokese (Täuschung der Erwartung) später zu behandeln haben und wie diese überhaupt kann auch der Formel- bruch zu komischer Wirkung verwandt werden. So war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Formel „wie es ist" oder „wie es wirklich ist" eine beliebte Art der Bücherankündigung: Görres schrieb (1826) „Rom, wie es in Wahrheit ist", um Rom und den Kirchenstaat den herrschenden Angriffen gegenüber zu verherrlichen, der preußische Auditeur G. Nicolai (1835) „Italien, wie es wirklich ist", um die deutsche Begeisterung für Italien abzukühlen. Diese Redewendung parodiert nun Glassbrenner in den Titeln seiner humoristischen Hefte „Berlin, wie es ißt — und trinkt" (1832 — 50). Mit pathetischer Wirkung verwendet dagegen die aprosdoketische Formel z. B. Nietzsche oft; so wenn er etwa die herkömmliche Wendung: „sie liebten sich wie Brüder" auf zwei Philosophen anwendet in der Variation: „sie hassen sich, wie sich nur Brüder hassen!", oder wenn er den Schluß des „Faust" kühnlich parodiert: „Alles Unvergängliche, das ist uns nur ein Gleichnis".
') Über ihre psychologische Grundlage Groos, Spiele der Menschen, Jena 1899, S. 45.
3*
36 Stilistik.
§ 40. Polyptoton. Zwischen diesen beiden Erscheinungsgruppen, daß die aufeinanderfolgenden Worte allzu ähnlich oder auffallend verschieden sind — denn in dem Fall der gebrochenen Formel hört man das erwartete, aber nicht gesprochene zweite Wort mit dem geistigen Ohr und empfindet eben deshalb die Abweichung des tatsächlich gesprochenen: „hassen" statt des vorklingenden „lieben" — steht eine spezielle Figur der Wortverbin- dung, das sogenannte Polyptoton (Wackernagel S. 428). Es besteht in der gedrängten Anwendung mehrerer Formen desselben Wortstammes. „Eigentlich paßt der Name nur, wo vielerlei verschiedene Deklinations- formen vorkommen, da ptosis Fall, Kasus bedeutet; aber die Benennung gilt auch, wo es die wechselnde Konjugationsweise betrifft. Ein rechtes Beispiel bietet Homers Odyssee 19, 204 f." (a. a. O.); ein anderes in der Edda Hävamäl 57 (vgl. meine Altgerm. Poesie S. 235):
Von einem Scheit wird das andere entzündet.
Vom Feuer wird Feuer erzeugt:
Durch den Mund macht der Mann sich dem Manne bekannt —
Bedingung ist, daß die formelle Ähnlichkeit durch eine inhaltliche Verschiedenheit aufgehoben wird — wie beim „rührenden Reim"; psycho- logische Ursache, daß der Dichter sich von einem einzelnen Begriff gleich- sam hypnotisiert fühlt, so daß er von allen Seiten auf ihn hinstarrt und unter immer verändertem Winkel immer nur ihn erblickt. Berechtigt ist daher diese Art des Spielens mit dem Wort (die aber doch nicht zu den Formen des eigentlichen Wortspiels gehört, bei dem verschiedene Wort- inhalte tauschen und nicht bloß, wie beim Polyptoton, flexivische Nuancen) nur da, wo es sich um wirklich entscheidende Begriffe handelt. Nicolais flache Geschwätzigkeit soll in einem Xenion verspottet werden:
Seine Meinung sagt er von seinem Jahrhundert, er sagt sie.
Nochmals sagt er sie laut, hat sie gesagt und geht ab.
§ 41. Annominatio. Eine Erweiterung dieser Figur über die Grenzen des einzelnen Wortstammes hinaus bildet die Annominatio (a.a.O. S. 428). Der Wortkreis, d. h. die Summe der Ableitungen von einer Wurzel tritt hier an die Stelle des Wortstamms, d. h. der Ableitungen von einem aus Wurzel und stammbildenden Suffi.x bestehenden Gebilde. Für diese Figur gilt das Gleiche wie für das Polyptoton, von dem sie in der Tat nur in gramma- tischer Hinsicht unterschieden ist. Hierher gehören also die im Minnesang so beliebten Spiele mit dem Wort, nach dem auch wir diese Dichtung benennen, z.B. bei Heinrich von Ruqoe (Minnesangs Frühling 100, 34 f.: minne minnet staeten man. ob er üf minne minnen wil, so so! im minnen lön geschehen u. s. w.; andere Beispiele bei Wackernagel a. a. O.); oder das in der politischen (und überhaupt der polemischen) Auseinandersetzung beliebte Hinwerfen und Auf- fangen der Schlagworte. So ruft Robert Blum in der Paulskirche: „Diese Partei läßt sich den Vorwurf der Wühlerei gern gefallen ; sie hat gewühlt ein Menschenalter lang . . . und Sie säßen nicht hier, wenn nicht gewühlt worden
Fünftes Kapitel. Die Wortverbindung in inhaltlicher Hinsicht. 37
wäre." Schon zwei stammverwandte Worte können eine packende An- nominatio geben: „Was er webt, das weiß kein Weber''; oder, was König Ludwig I. von Cornelius sagte: „Ist das ein Maler, der nicht malen kann?" Schwächer als solche antithetische Annomination ist die bekräfti- gende oder steigernde: die Stille ward stiller'' (Klopstock) oder gar ge- waltsames Breittreten des in dem einen Wort schon liegenden Begriffs; wie bei J. H. Voss:
Was, ob fern ein Blaffer blafft.
Ob ein Flunkrer flunkert?
Was, ob fern ein Pfaffe pfafft.
Und ein Junker Junkert?
(Der gute Wirt, Werke 4, 321.)
Fünftes Kapitel. Die Wortverbindung in inhaltlicher Hinsicht.
§ 42. Allgemeine Wortbeziehungen. Damit sind wir schon den Grenzen der formellen Wortverbindung nahe gekommen und bei der inhaltlichen Seite angelangt, die, wie wir gesehen haben, immerhin auch schon bei der Nuancierung desselben Begriffs im Polyptoton und der Annominatio eine Rolle spielt. Es kommt jetzt aber darauf an, das inhaltliche Verhältnis der sich folgenden Worte zu betrachten — natürlich zunächst nur soweit, als sie noch nicht einen abgeschlossenen Sinn, einen Satz ergeben.
Selbstverständlich ist die erste Bedingung, daß die inhaltliche Wort- verbindung richtig sei, d. h. daß die Beziehungen zwischen Subjekt und Prädikat, Prädikat und Objekt, Substantiv und Adjektiv, Verb und Adverb, Konjunktion und Satz den Vorschriften der Syntax entsprechen. Auch hier können sich Schwierigkeiten ergeben, über die dann Sanders' „Haupt- schwierigkeiten", Wustmanns „Sprachdummheiten", Wunderlichs „Um- gangssprache" und „Satzbau" forthelfen mögen.')
§ 43. Anteil am Satz. Die Worte haben die Aufgabe, sich zu einem gemeinschaftlichen, in sich verständlichen Stück menschlicher Rede zu ver- einigen. Darin liegt schon, daß jedes nur einen bestimmten Anteil an dem Gesamtinhalt ausdrücken und mithin jedes nur einfach zu fungieren hat. Nicht also der Verständlichkeit, sondern psychologischen Ursachen und rhetori- schen Zwecken dient es, wenn ausnahmsweise ein Wort mehrmals gesetzt wird — nicht bloß, wie in den zuletzt besprochenen Figuren, ein Wort- stamm.
§ 44. Wortwiederholung. Dies kann in mehrfachem Sinn geschehen. Zunächst kann das Wort ganz genau, ohne jede Veränderung der Form
■) Lehrreiche Analogien, wie auch für Schönheit des Stils liegen kann, führt Herb,
die Synonymik, bei W. Hodgson, Errors in Spencer (The Philosophy of Style, Essays
the Use ofEnglish, Edinburgh, 7. Ausg. 1896. 2, 16 f.) aus; vgl. allgemein Becker, Der
Daß in dieser Richtigkeit schon viel von der Stil S. 157 f.
38 Stilistik.
oder des Sinnes, mehrfach auftreten: die Figur der Wiederholung.') Es gibt allerdings auch Wiederholungen, auf die unsere Definition nicht zu- trifft. Wenn es in Schillers Taucher heißt:
Und heller und heller, wie Sturmes Sausen, Hört man's näher und immer näher brausen —
SO bedeutet das zweite „näher'' eine Steigerung, die das immer bedroh- lichere Heranrücken ausdrückt, und ebenso (obwohl hier sogar das ver- deutlichende „immer'' fehlt) das zweite „heller" einen höheren Grad des lauten Geräusches. — Das sind aber Ausnahmen; zumeist wirkt in der Wiederholung das zweite Wort nur eben deshalb stärker, weil es nochmals dasselbe sagt. Diese Verdoppelung, besonders von Vokativen, Epithetis, aber auch ganzen Sätzen nennt man Epizeuxis (Wackernagel S. 427): „Gehet hin, gehet hin durch die Tore — ": ein wiederholter Anruf.
Besonders beliebt ist die Wiederholung in der pathetischen Lyrik, z. B. bei Brentano (Euphorion 5, 4); namentlich am Anfang oder Schluß
des Verses:
Treulieb, Treulieb ist verloren!
Ich sehnte mich nach dir, nach dir!
Ebenso aber auch in der pathetischen Prosa, von dem unendlich oft angewandten „Nein! nein!" angefangen bis zu einem fast lautmalenden „langsam, langsam verging die Zeit". Es ist ebenso auch eine dreimalige und noch häufigere Wiederholung möglich, aber doch fast nur bei Aus- rufen zulässig, wo die psychologische Ursache dieser Figur, der über- wältigende Eindruck, oder ihr rhetorischer Zweck, nachdrücklichst hinzu- weisen, unmittelbar hervortritt: „du, du, du bist der Schuldige".
Zumal bei häufigerer Wiederholung wird die einfache Wiederholung gern durch die intermittierende abgelöst: „du, du, und nur du", oder ähnlich, aber mit nachgesetzter Variation des dritten Gliedes: „du, du, du allein". Doch ist, schon aus der liedmäßigen Wiederholung {„Du, du. liegst mir am Herzen") die Häufung auch ohne Variation in Lyrik und Beredsamkeit nicht ganz selten.
§ 45. Flektierte Wortwiederholung. Von der einfachen Wortwieder- holung unterscheidet sich die uralte, altgermanisch -) ungemein beliebte Form der flektierten Wortwiederholung dadurch, daß erstens das Wort (wie beim Polyptoton und der Annominatio) in verschiedenen Formen auftritt, zweitens aber auch mit verschiedener Bedeutung, indem zwei ver- schiedene Exemplare derselben Gattung gemeint sind. So in der bekannten Vorschrift: „Aug um Aug, Zahn um Zahn" — nämlich für das von dir verletzte Auge sollst du eins deiner Augen hergeben.
') Vgl. über ihre Bedeutung schon in Literatur 30, 431 f. alter Kunst meine Altgermanische Poesie ') Vgl. meine Altgermanische Poesie
S. 227 f. und besonders Behaghel, Beiträge S. 230 f. zur Geschichte der deutschen Sprache und
Fünftes Kapitel. Die Wortverbindung in inhaltlicher Hinsicht. 39
Die ehrwürdige Formel reicht in Zeiten zurück, die die Stellung der Worte noch unmittelbar als symbolischen Akt empfinden konnten und hat deshalb ihren Sitz vor allem in Zauber- und Rechtsformeln: der Medizin- mann legt die gebrochenen Knochen aneinander und bildet diese Hand- lung mit der (schon indogermanischen und vielleicht noch älteren) Heil- formel nach: „Bein an Beine". Die Figur ist daher auch in neuerer Zeit verhältnismäßig selten. Wir variieren lieber; wo die Edda sagt: „Bein zeugte mit Beine einen Riesen", übersetzen wir: „ein Bein mit dem andern". Ebenso in Walthers von der Vogelweide berühmtestem Spruch: „Ich schlug ein Bein über das andere — " (zeremonielle, gleichsam hieratische Pose des Meditierenden).
Formell ist anzumerken, daß bei der flektierten Wortwiederholung das Substantiv (um dies allein handelt es sich) das erste Mal fast stets im Nominativ (selten im Akkusativ, wie bei Walther), das zweite Mal im Casus obliquus mit Präposition steht. Ohne Präposition wird nur der Genetiv Pluralis so angewandt. (In älterer Zeit genügte auch der bloße Dativ oder Akkusativ, der heut flexivisch zu undeutlich ist.) Doch ist diese letztere Konstruktion in der neueren deutschen Dichtung selten und dann meist orientalischen Beispielen („der Fürst der Fürsten") oder romanischen (Mar- schall Ney, Je brave des braves") nachgebildet. Auch mit Präposition verwenden wir die Figur heut fast nur in Sätzen allgemeinen Inhalts: „Opfer für Opfer", „Wo sich Herz zu Herzen find't".
§ 46. Häufung. Wird das Wort seinem Inhalt nach, aber nicht seiner Form nach wiederholt, so entsteht die germanische Lieblingsfigur der Häu- fung,') die zumal in der maßlosen Kraftfülle der vorreformatorischen und reformatorischen Periode (Fischart) sich bis zur Unerträglichkeit auswuchs und eigene Dichtformen (Priamel) zur Blüte brachte. Es kommt darauf an, einen Begriff durch möglichst viele Vertreter anschaulich zu machen; von vornherein also eine gesunde Tendenz, deren Übertreibung aber gerade die Anschaulichkeit zerstört. Eine uralte Priamel z. B.-') betrachtet den Be- griff: „unzuverlässige Dinge" von allen Seiten: ein Bogen darf nicht zer- brechlich sein; eine Krähe ist gefährlich, wenn sie schreit, ein Pfeil, wenn er fliegt; ein selbstwilliger Knecht oder eine schmeichelnde , Hexe können uns Verderben bringen. Dieser Aufzählung — die beliebig verkürzt oder ausgedehnt werden kann — folgt dann die zusammenfassende Klausel: „dem allen zu trauen, wäre eitel Torheit" ; und somit sagt das Ganze nur in belebter Form die Binsenwahrheit: „gefährliche Dinge soll man vorsichtig behandeln".
Die Häufung ist nur scheinbar, wenn sie eine vollständige Aufzählung bezweckt und also wirklich die verschiedenen Punkte sich ergänzen, wie in
') Vgl. meine Altgermanische Poesie Edda, Str. 84 f., in Gerings Übersetzung S. 433 f. S. 97.
-) HävamAl, Das große Lehrgedicht der |
40 Stilistik.
der berühmten Lobrede auf Hamlet oder ihrer Nachahmnng in Goethes
„Iphigenie" (Vers 1384 f.):
Er ist der Arm des Jünglings in der Schlacht, Des Greises leuchtend Aiig' in der Versammlung,
wie denn gerade der Panegyrikus diese Form liebt i) und ebenso natürlich das Scheltgedicht oder die Satire. Aber unsere Zeit liebt selbst bei dieser entwickelnden Häufung durch Verteilung auf verschiedene Sätze die Überlastung unserer Anschauung zu verhindern, ist aber der ruhenden Häufung (wie in den Priameln) ganz feind und duldet sie fast nur noch beim tobenden oder scheltenden Ausruf:
Der Schelm! der Dieb an seinen Kindern! (Faust Vers 2985).
Und selbst da teilen wir gern auf, formell durch die Interpunktion, inhalt- lich, indem wir etwa in diesem Beispiel die zweite Schelte als eine Be- gründung der allgemeineren ersten auffassen.
§ 47. Oxymoron. Die vorhandenen Worte können aber, wie nach der Seite der Identität, so auch umgekehrt nach der des Widerspruchs vom gewöhnlichen Wege abweichen. Die eigentümliche Verkoppelung zweier scheinbar sich aufhebender Worte ergibt das Oxymoron, wovon die contradictio in adiecto ein Spezialfall ist (Wackernagel S. 404).
„Oxymoron" heißt wörtlich „spitzige Torheit": ein aufregender, schein- bar ganz törichter Widersinn ist in dieser Figur enthalten. Wieder ist aber zweierlei zu scheiden.
I. Was ein Zusammenpassen widersprechender Begriffe zu sein scheint, kann zuweilen einfach eine seltene Tatsache ausdrücken. Ein „König" ist der Herrscher über ein Land: aber „Könige ohne Land" hat es zu allen Zeiten gegeben. Ebenso kommen weiße Neger (Albinos) und weiße Raben wirklich als „Naturspiele" vor, obgleich es uns geläufig ist, zu sagen: „schwarz wie ein Mohr", „rabenschwarz". In solchen Fällen also liegt nur das tatsächliche Fehlen eines Attributs vor, das in der ungeheuem Mehr- zahl der Fälle (bei fast allen Negern oder Raben) nicht nur selbstverständ- lich vorhanden, sondern in typischer Stärke ausgeprägt ist. Immerhin ist schon dies Fehlen der typischen Attribute auffallend genug, um pointiert vorgetragen werden zu können. Solche materiellen Oxymora bringt z. B. in den Eschatologien aller Völker die Aufzählung der dem „jüngsten Tage" voraufgehenden Zeichen. So in unserer altnordischen Voluspä (Gering, Edda S. 11, 45):
Es befehden sich Brüder und fällen einander. Die Bande des Bluts brechen Schwestersöhne.
Das feste Zusammenhalten der Gruppen erscheint als selbst\'erständlich ; deshalb ist „feindliche Brüder" für die Urzeit ein aufregend unglaublicher Begriff. Es wird aber doch oft Wahrheit und es bleibt dann in dem Unter- titel von Schillers „Braut von Messina" nur das zugespitzte Aussprechen
') Z.B. Hartmann von Aue, Der arme Heinrich, Vers 60 f.
Fünftes Kapitel. Die Wortverbindung in inhaltlicher Hinsicht. 41
einer unheimlichen Tatsache. Ebenso beruht das wilde Spiel, das in den Verfluchungen des Sophokleischen „Ödipus" mit den Verwandtschafts- begriffen getrieben wird — der Unglückliche ist der Gatte seiner Mutter, der Vater seiner Brüder — auf dem pointierten Aussprechen wirklicher, wenn auch unerhörter Dinge. Eine Häufung solcher tatsächlicher Oxymora bringt z. B. das bekannte, auf Jahns Veranlassung von August gedichtete Lied auf die Rückkehr des napoleonischen Heeres aus Rußland, das den Zustand eines vernichteten Heeres schildert, in dem die Soldaten keine Waffen und die Wagen keine Räder mehr haben.
II. Das eigentliche begriffliche Oxymoron dagegen setzt eine wirk- liche Unvereinbarkeit der verkoppelten Begriffe voraus. Ein „weiser Narr", ein „heroischer Feigling" — das scheint ein vollkommener Widerspruch und deshalb gleich geheimnisvoll für Weise wie für Toren. Wo es sich aber wirklich nur darum handelt, wie in den Kinderverschen vom kleinen Riesen und vom großen Zwerg, da ist eben allerdings eine pathologische, uns deshalb nicht berührende Erscheinung vorhanden. Sonst aber enthält das Oxymoron
a) entweder den Kontrast von Namen und Sache, oder
b) das Zusammendrängen wechselnder Zustände.
In beiden Fällen also ist es auf die Relativität unserer Begriffe aufgebaut. Lessings „Rafael ohne Hände" spielt mit dem Begriff des großen Malers : einmal wird so der wirkliche Meister bedeutender Gemälde genannt, das andere Mal der nur in großen Entwürfen schwelgende Nichtmaler. — Häufiger und psychologisch interessanter ist der andere Fall. Die zwei Seelen, von denen Goethes Faust spricht, wohnen in jeder Brust und auch der tapfere Held mag seine Furcht hegen, wie Wallenstein vor dem krähenden Hahn; auch der reichste Krösus ist in mancher Hinsicht zu arm: Der Reichste muß sich arm fühlen vor dieser Unersättlichkeit der Zeit
(Hebbel, Briefwechsel 1,90).
Besonders beliebt ist das Oxymoron deshalb in Perioden und bei Dichtern, denen die inneren Konflikte und Gegensätze der Zeiten und Seelen lebhaft aufgegangen sind, wie in der älteren Patristik und der Romantik, bei dem Dichter Seneca oder bei Hebbel. Ein zu starkes Betonen kann zur Manier werden, wie bei Victor Hugo — dessen Figuren alle leibhafte Oxymora sind: edle Verbrecher, fürstliche Lakaien, reine Dirnen — oder bei Bret Harte. Sehr wirksam kann dagegen ein einzelnes Oxymoron eine ganze Reihe wunderbarer psychologischer Gegensätze zusammenfassen,') oder ihre Häufung die Fülle innerer Widersprüche illustrieren, wie Fr. Th. ViscHERS Gedicht auf Jean Paul:
Du Kind, du Greis, du Kauz, Hanswurst und Engel!
Durchsicht' ger Seraph, breiter Erdenbengel,
Im Himmel Bürger und im Bayerland!
') Lat. Beispiele bei Landgraf, Figura j wendung stammverwandter Worte den Wider- etymologica 50 f. : Fälle, in denen die An- ' sprach unterstreicht wie concordia discors.
42 Stilistik.
(Lyrische Gänge S. 124) — wo allerdings der eigentlichen Figur des Oxy- morons formell ausgewichen ist.
§ 48. Spezielle Wortbeziehungen. Am prägnantesten kommt der Wider- spruch zweier verbundener, im gleichen Satz stehender Worte in der Form der contradictio in adiecto zur Geltung, d. h. desjenigen Oxymorons, das aus Substantiv und Adjektiv zusammengesetzt ist, wie schon oben unsere meisten Beispiele: ^ein armer Krösus". Dies beruht darauf, daß zwischen Haupt- und Eigenschaftswort an sich besonders enge Beziehungen bestehen, deren scheinbare Auflösung daher ungewöhnlich aufreizend wirkt. Wir kommen damit zu gewissen Figuren, die überhaupt in der Auflösung enger Wortbeziehungen ihre Eigenart haben.
Besonders eng sind im Satze verbunden 1. Subjekt und Prädikat, 2. Prädikat und Objekt, 3. Substantiv und Adjektiv, 4. Verb und Adverb. Die letzten beiden Fälle sind in stilistischer Hinsicht identisch; das Adverb ist das Adjektiv des Verbums: „die Sonne scheint hell" gibt dem Adverb „hell" ganz dieselbe Funktion wie „dies Licht ist hell" dem Adjektiv „hell". Wir behandein deshalb die seltenere und weniger wichtige Verwendung des Adverbs nicht besonders; für sie gilt, was für die des Adjektivs. Diese besprechen wir zuerst, weil sie einen aligemeineren Charakter hat als die Verbindung von Subjekt oder Objekt mit dem Prädikat.
§49. Eigenart des Adjektivs. Das Ad jektivum oder Eigenschaftswort ver- dankt seine flexivische Eigenart lediglich seiner Dienstbarkeit dem Substantivum oder Hauptwort gegenüber. Es hat grundsätzlich drei Genera, damit es dem Substantivum, ob dies nun Maskulinum, Femininum oder Neutrum sei, zur Verfügung stehen und dies Verhältnis markieren kann. Seiner syntaktischen Natur nach gehört es mit dem Verb fast so eng zusammen wie mit dem Nomen : denn während dies das Subjekt zu stellen hat, ist es die Aufgabe von Verb und Adj., das Prädikat herzugeben, nur daß das Verb dies allein, das Adj. in Gemeinschaft mit der „Kopula" tut. Es ist inhaltlich gleich, ob ich sage: „der Baum wird grün" (denn „werden" kann so gut wie „sein" die Kopula bilden) oder „der Baum grünt". Andererseits ist es aber auch inhaltlich gleich, ob ich sage: „Cato ist ein Greis" oder „Cato ist alt". Das Adjektiv steht somit zwischen Substantivum und Verbum und ist historisch so zu erklären: es ist ein zum Prädizieren bestimmtes Nomen und also für die Flexionslehre ein Nomen, für die Syntax ein Prädikatswort.
Deshalb teilt es mit dem Verbum die Notwendigkeit der Kongruenz, die nur bei ihm noch weiter geht. Das Verbum muß mit seinem Subjekt nur im Numerus, das geschmeidige Adjektiv aber in Numerus, Genus und Kasus mit seinem Substantiv übereinstimmen. Auch läßt die verbale Kon- gruenz Ausnahmen zu (siehe unten über die sogenannte constructio kata synesin), die adjektivische nicht; denn in unserm „unflektierten Adjekti\-um' {„dein Freund ist tot" gegen „amicus tuus mortuus est") liegt nur eine eigentümliche Umbiegung ursprünglich rein flexivischer Eigenheiten vor.
FüNFTFs Kapitel. Die Wortverbindung in inhaltlicher Hinsicht. 43
§ 50. Prädikativer und attributiver Gebrauch. Diese äußere Dienstbar- keit des Eigenschaftswortes — deren speziellere Formen die Syntax zu lehren hat — spiegelt nun bloß die innere wieder. Sie ist, da sich das Adjektiv zwischen Verb und Substantiv bewegt, am schwächsten, wo die prädikative Natur am deutlichsten hervortritt, am stärksten, wo die nomi- nale Natur betont wird. Mit andern Worten: beim prädikativen Gebrauch ist das Adjektiv unabhängiger als beim attributiven.
Attributiv wird das Adjektiv da gebraucht, wo es sich völlig um das Hauptwort schlingt. Historisch ist dieser Gebrauch wahrscheinlich als sekundäre Verkürzung des prädikativen aufzufassen. Die beiden Sätze „da steht ein Weib"" und „dies Weib ist schön'' werden verschlungen: „da steht ein — schönes — Weib"; das Attribut ist eigentlich eine Art Paren- these. „Der König war alt; er ist gestorben" ; kürzer: „der alte König ist gestorben".
Diese Ausführungen über die syntaktische Natur des Adjektivs gehen eigentlich über die Stilistik heraus. Sie sind aber zum Verständnis auch der stilistischen Bedeutung des Adjektivs unentbehrlich und mußten etwas breiter gegeben werden, weil — meinem Urteil nach — die in der Syntax herkömmliche Auffassung des Adjektivs unzureichend und besonders auch gerade für jene Frage unzulänglich ist.
§ 51. Das Attribut. Das Attribut hat die allgemeine Aufgabe, von im allgemeinen unveränderlich gedachten Personen oder Gegenständen (die syntaktisch „Hauptworte" sind) wechselnde, in dem Begriff jener Personen oder Gegenstände nicht enthaltene Eigenschaften oder Zustände auszusagen.
Es versteht sich von selbst, daß ein Mann zwei Beine hat; ist das einmal nicht der Fall, so sagen wir: „der einbeinige Mann" . Andererseits: nicht jedes Geschöpf hat zwei Beine; der Mensch ist daher nach jener Definition Piatons „ein zweibeiniges Geschöpf". Es ist dem Zucker wesentlich, daß er süß ist, nicht, daß er fest oder flüssig ist; wir betonen deshalb: „flüssiger Zucker", „würfelförmiger Zucker".
§ 52. Tautologie. Ausnahmsweise kann aber das Attribut doch wieder- holen, was eigentlich schon in dem Begriff des Substantivs steckt. Nur scheinbar ist dies der Fall, wo dieser Begriff so abgeschwächt ist, daß er der Auffrischung bedarf. Ein Berg ist an sich etwas Hohes; aber unsere erweiterte Kenntnis lehrt uns Berge so verschiedener Höhe kennen, daß „ein hoher Berg" keine Tautologie und „ein niedriger Berg" kein Oxymoron mehr ist.
Wirkliche Tautologie aber kommt lediglich dadurch zustande, daß ein nicht bezeichnendes Adjektiv zu einem Substantiv tritt. Was etwa Wackernagel (S. 415) unter diese Rubrik faßt, Substantivgruppen wie „Art and Weise", „nackt und bloß" ist vielmehr der Häufung zuzurechnen: dasselbe wird zweimal gesagt oder noch öfter; Tautologie aber haben wir nur dann, wenn zu dieser Wiederholung noch der Schein einer neuen Aus-
44 Stilistik.
sage tritt. Tautologisch (von griechisch to auto legein, dasselbe sagen) ist also eine Verbindung wie „der weiße Schimmel" : ein Schimmel kann nur weiß sein, das Attribut maßt sich also ein überflüssiges Amt an; oder: „süßer Zucker" , ferner auch Adverb-Verdoppelung wie das beHebte „schon bereits" u. dergl. Unter Umständen kann aber selbst die Tautologie logisch berechtigt sein; wenn ich z. B. den falschen Berlinern den „Beriiner aus Beriin" („aus Beriin" hier Stellvertretung für ein Adjektiv „echtberlinisch") gegenüberstelle.
§ 53. Figura etymologica. Zur unmittelbaren Vermeidung der Tautologie dient das Adjektiv bei der sogenannten figura etymologica. *) So heißen spezielle Fälle der Annominatio: diejenigen nämhch, in denen das mit einem stammverwandten Verb verbundene Nomen von einem Adjektiv be- gleitet ist. In den klassischen Sprachen wird auch die flektierte Wiederholung (s. 0. § 45) hierher gerechnet, sogar wenn das Substantiv ohne adjektivische Begleitung erscheint; dies gilt aber nur für feste Formeln wie amicus amico (Landgraf S. 43); doctor doctori, wie der damalige Kronprinz Friedrich Wilhelm als Dr. phil. von Königsberg an L. v. Ranke telegraphierte. Aber besser beschränken wir die Bezeichnung 1. auf die Verbindung eines Nomens mit dem stammverwandten Verbum, 2. auf die Fälle, in denen dies Nomen noch ein unterscheidendes Adjektiv mit sich bringt*)
Daß bei dieser Figur ein Epitheton erfordert wird, scheint zunächst bare Willkür. Aber wir werden gerade hier die Bedeutung des attributiven Adjektivs erkennen. Die menschlichen Handlungen und Zustände sind unendlicher Verschiedenheiten fähig, und diese Nuancen werden von uns aus unserer eigenen Erfahrung heraus noch stärker empfunden als die vielleicht nicht minder große Verschiedenheit der Gegenstände. Auf die Frage: „was hast du gesehen?" kann die Antwort: „ein Haus" sehr oft genügen, ob- wohl über Größe oder Kleinheit, Alter, Zweck, Aussehen des Hauses dabei unserer Vorstellung noch weiterer Spielraum bleibt. .Aber auf die Frage: „was hast du getan?" genügt selten eine Antwort wie: „ich habe gekämpft". Das ist leer; vollends leer ist ein Intransitivum ohne Objekt: „ich habe geschlagen" — unvollziehbare Vorstellung: ein Kind? ein Heer? den Takt?
Nun gibt es aber doch Fälle, in denen man auf dem allgemeinen Inhalt eines Verbalbegriffs so nachdrücklich verweilt, daß man ihn durch ein Objekt oder Adverb nicht einschränken will. Dann ver\'ollständigt man ihn durch das sogenannte „innere Objekt", d. h. aus dem Verbalbegriff zieht man seinen Inhalt zum zweiten Mal heraus, formt ihn zum Nomen
') Vgl. G. Landgraf, De figuris et\'- noch weiter auf die Fälle ein, in denen das
mologicis linguae latinae. Acta sem. Erl. II, Nomen im Objektsakkusativ steht. Sie sind
46 f. die häufigsten, doch ist für uns auch der
-) Für die romanischen Sprachen schränkt sogenannte Dativ des entfernteren Objekts
Leiffholdt, EtT,mologische Figuren im Ro- , zulässig,
manischen, Erlangen 1884, den Ausdruck ,
Fünftes Kapitel. Die Wortverbindung in inhaltlicher Hinsicht. 45
actionis und gibt ihn so dem Zeitwort bei, auch wenn es intransitiv ist: ein Leben leben, einen Kampf kämpfen. Das ist mehr als bloß „leben", „kämpfen" — und eigentlich doch nicht mehr; ja es ist eine Tautologie, denn wenn ich kämpfe, ist es eben ein Kampf. Um also die Nachdrück- lichkeit des vollen Verbalinhalts — den jedes spezielle Objekt oder Adverb einengt — zu wahren und dennoch die Leere der Tautologie zu vermeiden, wird ein Epitheton nötig: nomine insueto nominare, ein glückliches Leben leben, einen wackern Kampf kämpfen.
„Ein glückliches Leben leben" ist also etwas anders als „glücklich leben". Wenn ich das Adverb gebrauche, sehe ich von allen Seiten des Lebens ab, zu denen es nicht paßt. Wenn ich die figura etymologica an- wende, nehme ich diese alle mit und schließe sie, wie harmonisch aufgelöste Disharmonie, in den Gesamtbegriff ein.
Die Eigenheit dieser Figur besteht also darin, daß das Epitheton zu dem sich voll auslebenden Verbalbegriff tritt. Es ist die vollste Anwen- dung, die uns überhaupt gegönnt ist, und deshalb sehen wir hier am deut- lichsten die Aufgabe des attributiven Adjektivs überhaupt: es hat den leeren Raum, der durch die unentbehrliche Allgemeinheit der Verba und Nomina bleibt, auszufüllen (den der Nomina unmittelbar, den der Verba in seiner Anpassung als Adverb\ ')
§ 54. Epitheton: Definition. Wir kommen damit zu der Lehre vom Epitheton überhaupt. *) Nirgends empfinden wir den Mangel brauchbarer Vorarbeiten störender als hier. Die Stilistik unserer Lehrbücher hält sich an die alten Muster; und da die Wichtigkeit des Epithetons den Alten noch nicht aufgegangen war, noch nicht aufgegangen sein konnte, wird dieser licht- und lebensprühende Begriff in ein paar toten Zeilen (etwa W.-\CKERN.\GEL S. 385) abgefertigt. Fleißige Arbeiten stellen die Epitheta unserer Minnesänger mechanisch zusammen und wissen sie im besten Fall literarhistorisch, nie ästhetisch auszunutzen. Und dennoch ist es kaum übertrieben, wenn ich sage, eine wirklich moderne, praktische Stilistik müßte vor allem eine Technik des Epithetons geben. (Und daneben einer zweiten nicht minder vernachlässigten Seite:, der Prosa- Rhythmik.) Die Individualität unserer heutigen Stilisten zeigt sich tatsäch- lich nirgends handgreiflicher als in der Behandlung des Epithetons; die Charakteristik der Figuren so gut wie der ganze Ton sind hiervon in erster Linie bedingt. Und die Entwicklung, die dahin geführt hat, ist so lehr- reich, so interessant! Aber wir müssen uns hier an die Umrisse halten, teils, weil nicht viel mehr bekannt ist, teils, weil der Raum nicht viel mehr gestattet.
•) Über witzige Verwendungen der Fig. -) Mundt, Prosa S. 135, Vischer, Ästhe-
etymol. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik tik 6, 122 f., Albalat, Formation du style § 46. S. 250 f.
46 Stilistik.
Schon darüber herrscht, wie bei vielen stilistischen Terminis (z. B. Figura etymologica, Tautologie) Unsicherheit, was eigentlich ein Epitheton sei. Was wir in der alten und mittelalterlichen Philologie so nennen: das ständige Begleitwort einer Personenbezeichnung oder sonst eines Namens, liegt von dem berühmten „epithete rare", dem gerade durch seine Selten- heit gekennzeichneten Beiwort der Neuesten, weit ab. Sie gehören den- noch zusammen.
Am besten sagen wir: das Epitheton ist dasjenige attributive Ad- jektiv, das besonders nachdrücklich gebraucht wird. Der Nachdruck kann auf zweierlei Weise erreicht werden: entweder durch Häufigkeit, oder ge- rade umgekehrt durch auffällige Seltenheit. Wird in dem Refrain eines eddischen Gedichts, des Hyndla- Liedes, jedesmal wiederholt: „dies alles ist dein Geschlecht, Ottar du törichter!", so prägen die Hammerschläge uns die Charakteristik ein; wird ein rückgratloser Politiker plötzlich „der windel- weiche Herr Bürgermeister" genannt, so bringt dies unerwartete Signale- ment eine um so intensivere Wirkung hervor.
§ 55. Epitheton: Eigenart. Charakterisieren soll ja eigentlich jedes Eigenschaftswort. Darin liegt, wie wir sahen, die ganze Aufgabe des Ad- jektivs. Der unendlichen Fülle wirklicher Erscheinungen steht nur eine begrenzte Zahl von Appellativen und Verben gegenüber. Um der Wirk- lichkeit ein wenig nahe zu kommen, sind charakterisierende Hilfsworte da, die neben der (im Hauptwort gegebenen) dauernden Eigenart die wech- selnde angeben. „Was für ein Mann ist es?" „Ein tapferer Mann!" oder „ein schlauer Mann". Nun etwa weiter: „ein tapferer, aber auch ein schlauer Mann". Die psychologische Annäherungsmethode geht noch weiter: „ein tapferer, schlauer, aber abergläubischer Mann". Zwei gefährliche Eigenschaften be- sitzt er, doch eine dritte, eine Schwäche, gibt ihn mir vielleicht in die Hand. Mehr brauchte Napoleon von keinem feindlichen General zu wissen.
Das Epitheton ist also das Adjektiv in seiner eigentlichsten Funktion. Denn nicht jede Verwendung eines Eigenschaftswortes genügt jener Auf- gabe: zu charakterisieren. Vielmehr gehen mit der Zeit alle Adjektive feste Verbindungen ein, so daß sie dann zur individualisierenden Charakteristik nicht mehr genügen. Sie erschaffen neue Nomina, die dann an der All- gemeinheit der Appellativa teilhaben. „Der alte Mann" ist zunächst ein ganz bestimmter: unter den vier Gesandten des Nachbarstamms ist er durch sein Alter gekennzeichnet, wie ein anderer durch seine Körpergröße, der dritte durch das rote Haar, der vierte durch das Wolfsfell, das er trägt Nun aber wird „alter Mann" nach und nach ein fester Begriff, wie „Greis"; und der einzelne „alte Mann" wird also nur in eine etwas engere Kategorie einbegriffen, als wenn er einfach „der Mann" hieße.
Das Epitheton ist demnach das Adjektiv, das zu einem be- stimmten und individuellen Wesen oder Gegenstand in feste Be- ziehung tritt.
Fünftes Kapitel. Die Wortverbindung in inhaltlicher Hinsicht. 47
„Fest" muß die Beziehung in dem Sinn sein, daß sie sich für uns mit dem Begriff des betreffenden Wesens oder Gegenstandes unauflöslich verbindet. R. Wagner sagt von Robert Schumann, aus dem seine eigene bewegliche Redelust in stundenlangem Zusammensein kein Wort herauslocken kann: „ein unmöglicher Mensch!'' Damit ist er für ihn in seiner eigentüm- lichen Ungeselligkeit dauernd gekennzeichnet. Dagegen ist ein attributives Adjektiv, das nicht den Menschen, sondern lediglich einen Zustand des- selben kennzeichnet, noch kein Epitheton. „Du bist heute unausstehlich": das charakterisiert eben nur den Freund Franz in seiner momentanen Stim- mung; er soll deshalb noch nicht „der unausstehliche Franz" sein.
Hiermit glauben wir die Eigenart des Epithetons, die, wie man sieht, nicht ganz auf der Oberfläche liegt, ausreichend erfaßt zu haben.
§ 56. Entwickelung des Epithetons. Unsere Ausführungen zeigen nun schon den allgemeinen Entwickelungsgang des Epithetons. Er führt zu immer größerer Annäherung an das Individuelle, Einmalige, zu immer ge- nauerer Herausarbeitung des Charakteristischen. Dieser Gang führt in regel- rechter Evolution vom „Epitheton ornans" zum „epithete rare".
Das sogenannte „schmückende Beiwort", uns vor allem aus dem Homer geläufig, ist von vornherein natürlich auch zum Charakterisieren bestimmt. Der listenreiche oder vielgewandte Odysseus, die rosenfingerige Eos werden in ihrer Eigenart erfaßt; uns aber ist nun längst bekannt, worin diese besteht, und so erscheint uns die Angabe der Schlauheit bei dem sprichwörtlich schlauen Helden, die der rosenfarbenen Wölkchen bei der eben hieran zu erkennenden Morgenröte fast tautologisch. Es ist aber nicht zu verkennen, daß die epischen Epitheten oft auch von vornherein nur schwach charakterisieren. Jeder König ist für die idealisierende Poesie „edel"; „der edle König" heißt kaum mehr als bei uns „Seine Majestät": es ist Titel geworden. ') Etwas sollte es ja immerhin aussagen : daß dieser König seiner Aufgabe entsprach; aber das ist eben typisierende Charakte- ristik, nicht individualisierende.
Je stärker die Poesie diesen idealistischen Charakter trägt, desto all- gemeiner hält sie die Epitheta. Das ist ja im Leben nicht anders. Die alte stilisierende Geschichtschreibung operierte fast nur mit typischen Bei- worten: „der Große" vor allem; und dies Epitheton sinkt so sehr zum bloßen Schmuckwort herab, daß z. B. im 10. und 11. Jahrhundert vier ver- schiedene Fürsten desselben französischen Dynastengeschlechts so heißen: wer „Hugo" getauft ist, wird auch „der Große" genannt.'') „Magnus" ist, wie in Dänemark, einfach Name geworden. Und sogar die Römer, die im täglichen Leben so realistisch individuelle Beinamen geben — Cicero, Nasica — haben im Staatsleben nur einerseits jenes typische „der Große" — schon für Pompeius — , andererseits die Betitelung nach einem einzelnen
') Vgl. meine Altgermanische Poesie S. 491 f.
-) R. Holtzmann, Deutsche Literatur- zeitung 1904 S. 2484.
48 Stilistik.
historischen Moment: Sctpio Africanus. Aber beide Epitheta sind idea- listisch, nicht individualisierend. Später dagegen dringen die realistischen Epitheta auch in die Weltgeschichte: auf „Augustus" folgt „Caligula", wie auf „Karl den Großen" „Karl der Kahle". (Genau ebenso dringt ja auch die individualisierende Psychologie erst spät in die zunächst nur mit all- gemeinen Eigenschaftsworten arbeitende Historie.)
Dies also ist der Weg. „Ce qui differencie le plus radkalement la Utterature moderne de la litterature ancienne, c'est le remplacement de la generalite par la particularite" , sagen die Goncourt (Journal des Gon- court 2, 261).
Vielleicht zum erstenmal ward von der französischen „Plejade" systematisch auf die Notwendigkeit der „epithetes signiflcatifs et non oisifs", der bezeichnenden und nicht nur müßig dastehenden Beiworte, hingewiesen ') und zwar — charakteristisch genug — gerade mit Be- rufung auf die hellenische Poesie, die diesen patriotischen Humanisten des 16. Jahrhunderts das ewige Muster war. Aber sie übersetzen eigentlich nur epltheta ornantia wie etwa „das schnellfüßige Pferd": sie bleiben in der typischen Charakteristik stecken, kennzeichnen nur das ideale, nicht das einzelne, reale Roß.
Das wiederholen die Deutschen noch im 17. Jahrhundert. Sie for- dern, wie Ronsard und seine Genossen, wirksame Epitheta, bevor- zugen, wie jene, die zusammengesetzten und bleiben doch in dem vagen Idealismus der „galanten Beiwörter" (wie „sanft", „feurig", „stolz") stecken.2) Genies freilich kommen doch zu individueller Ausdrucksweise. Wie Larroumet von Racine ») rühmt, er tue es in „seltenen", indi- vidualisierenden Epithetis den Neuesten zuvor, so hat für Andreas Gryphius V. Manheimer (Die Lyrik des Andreas Gryphius S. 99) sehr lehrreich den Fortschritten von matten zu stärkeren Beiworten nachgewiesen: „den tollen Lauf" statt „den starken Lauf". Doch ist auch eine allgemeine Tendenz auf genauere adjektivische Erfassung nicht zu verkennen. So hat ViLMAR in seiner Literaturgeschichte über die „braune Nacht" gespottet, die allerdings bei uns nur eine Reminiszenz aus dem Italienischen ist.*) an sich aber gewisse Goldtöne einer herbstlichen Mondnacht poetisch wiedergibt.
Sobald das 18. Jahrhundert sich zu seinem großen Flug rüstet, werden wieder die gewählten Epitheta eine „ästhetische Forderung". s) Während bei den zurückbleibenden Italienern schon die Häufung der Beiworte deren bloßen Ziercharakter beweist,^) wissen die Deutschen hier mit individueller
') MORF, Geschichte der neueren fran- =•) C. Leptzmann in seiner Ausgabe von
zösischen Literatur 1, 149. LICHTENBERGS Aphorismen 1,220, der auch
-)M.v.Wai.dberg, Die galante LyrikS. 85. i auf Wenick, Gottsched S. 142 verweist.
•■"J Larroumet, Racine S. 192. «) Landau, Geschichte der italienischen
*)Lemcke, Von Opitz bis KlopstockS. 225. Literatur im 18. Jahrhundert S. 627.
Fünftes Kapitel. Die Wortverbindung in inhaltlicher Hinsicht. 49
Kunst einzusetzen. Wieland gibt das französische „charmant'' und „ai- mable" je nach der Situation mit sieben deutschen Worten wie „artig", „reizend", „hold" wieder;') Lavater wendet in seiner Physiognomik ganz modern anmutende Adjektiva an : „wahre, echte, genießende Aufmerksam- keit mit prüfender, sondernder Überlegung" (Physiognomische Fragmente, Verkürzte Ausgabe, Winterthur 1783; 1, 240). Goethe folgt beiden und bildet neue bezeichnende Epitheta von seltener Schönheit: „liebwirkende Seele" (Weimar. Ausgabe 37, 224), „unverwelkliche Bäume" (ebendaselbst 256). Glückliche Neologismen wie „empfindsam" für englisch „sentimen- tal", oder das neu eingeführte „schöne Seele"-) werden Staatsangelegen- heiten in der „Gelehrtenrepublik". Natürlich fehlt auch nicht die Oppo- sition: wie Schönaich in seinem Neologischen Wörterbuchs) sich über Klopstocks und seiner Freunde „hungrige Jahre" (a. a. O. S. 199) und „schwindlige Tiefe" (S. 328) lustig macht, so schreibt Lichtenberg in dem berühmten „Fragment von Schwänzen" (Werke 4, 113) lavaterisierend : „kraftherbergendes Hinstarren" , „unschlüssige Horizontalität" .
Bei den Romantikern geht das Epitheton wieder, wie schon bei den Klassikern in ihrer Reifezeit, zurück. Fr. Schlegel oder Novalis suchen allerdings sehr stark durch unerwartete Epitheta zu wirken; aber nicht so, daß sie zu einem Nomen ein ganz neues Adjektiv setzen, sondern in der Weise, daß sie übliche Termini an allen Appellativen und Abstrakten durch- probieren. So sagt Novalis etwa: „Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem." ■*) Die Romantik als fortschreitende Universalpoesie geht eben, trotz allen kritischen „Charakteristiken" mehr auf Stilisierung des Ganzen als auf Erfassung des einzelnen aus. Wie Goethe in der „Iphigenie" „ehern" schon fast zum bloßen Epitheton ornans macht, so müssen auch z. B. bei Novalis die Beiwörter mehr die allgemeine Stimmung als den spezifischen Charakter wiedergeben.^)
Und wieder mit dem neuen Jahrhundert setzt ein neuer Kultus des Epithetons ein. Vor allem von Byron beeinflußt, doch auch von Jean Paul bedingt, macht Heinrich Heine Schule mit dem „unerwarteten Beiwort"."^) Nun kommen seine scheinbar unsinnigen, aber auf lebhaftester Beobachtung beruhenden Epitheta zu allgemeiner Geltung. • „Der Wirt trug einen hastig grünen Leibrock". Ich habe das schon früher') kom- mentiert: „Die auffallende Farbe läßt die raschen eiligen Bewegungen des
') F. Pomezny, Grazie und Grazien in ■*) A. W. Schlegel nannte dergleiciien
der deutschen Literatur des 18. Jatirhunderts, Hamburg 1900, S. 190.
=) Vgl. Erich Schmidt, Richardson, Rousseau und Goethe S. 318 f., Ladendorf, Historisches Schlagwörterbuch S. 280. .
') Lehrreiche Ausgabe von Köster, Leip- zig 1899 — 1900 in den literarischen Denk-
.ein Würfelspiel, ein Kartenlegen mit hypo- stasierten Begriffen, die in allen möglichen Anordnungen wiederkehren", Werke 8, 287.
*) Heilborn, Novalis der Romantiker S. 194.
') Ebert, Heines Jugendprosa S. 33.
') In meiner Deutschen Literaturge-
mälern N. 70 f. schichte des 19. Jahrhunderts, 3. Aufl. S. 144.
Handbuch des deutschen Unterrichts. Bd. 111, Teil 1. 4
50 Stilistik.
hin- und herspringenden Wirtes doppelt auffallen; das ,hastig' gehört wirklich nicht bloß zum , Leibrock', sondern zur Farbe." (Wir erinnern noch- mals daran, daß für das Adverb, nur in geringerem Grade, alles gilt, was wir hier für das Adjektiv ausführen.) Ihm folgt z. B. Wienbarg mit seinen „leibgrimmigen Gesichtern""^) oder selbst Strachwitz mit seinem „grünen Einerlei".'^) Unter seinem Einfluß steht noch Bismarck, wenn er schreibt: „die Idee, daß ich an einem Hoffest ebensoviel kühle Rücken um mich her sehe, als jetzt freundliche Gesichter";^) diese Art bildet Nietzsche noch höher und poetischer aus: „Ein Pfad, der trotzig durchs Geröll stieg, ein boshafter, einsamer Pfad".*)
Aber Nietzsche war auch durch die Franzosen beeinflußt. Denn auf die jungdeutsche Freude am verblüffenden Epitheton war wiederum eine Erstarrung gefolgt, die G. Freytags mühsame Verwendung oder Bildung neuer Beiwörter^) oder gar Fr. Th. Vischers Häufung der Ad- jektiva«) nicht lösen konnten. Auch Mörikes an sich schöne Neubildungen wie „zauberbang", „weihrauchblumig" '') blieben romantisch, dienten der Stimmung mehr als der Charakteristik. In Frankreich aber war die Sorge für das Epitheton nie ausgestorben und gerade in den achtziger Jahren zu einem neuen Kultus erwachsen. Man lese nur das Journal des Goncourt oder Daudets „Notes sur la vie"; etwa wie Edmond de Gon- court (Journal 6, 289) einzelne Epitheta als wahre Meisterstücke preist und erklärt, vor allem am Epitheton erkenne man den großen Schriftsteller! Auch in England ward damals der berühmte Staatsmann und Redner D Is- raeli als „the master of the adjective" gefeiert. Gewiß hat auf ihn auch die Tradition Byrons, sicherer noch auf Flaubert und die Goncourt das Beispiel Heines gewirkt; im wesentlichen war es aber doch eine ein- heimische und den Zeittendenzen entspringende Bewegung, eine Reaktion gegen die auch hier eingetretene Häufung der Adjektiva,*>) die in den vier- ziger Jahren auch bei den Franzosen Intensität durch Masse hatte ersetzen wollen. — Jetzt ist auch die Jagd auf das „epithete rare" eine Mode ge- worden, deren Übertreibung selbst in den Zeitungsstil eingedrungen ist*i Aber es war einmal eine gesunde und starke Richtung, die denn auch auf
') V. Schweizer, L. Wienbarg S. 98, Dutzend Adjektivtrabanten', VnXERS, Briefe S. 38. eines Unbel^annten 1, 300; vgl. oben Landau,
') TiELO, Die Gedictite des Gr. Strach- witz S. 63.
') Th. Matthias, Bismarck als Künstler,
Zur italienischen Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts.
') Maync, Ed. Mörike, Stuttgart und
Leipzig 1902, S. 73. Leipzig 1902. S. 257.
*) H. Landsberg, Fr. Nietzsche und die *) Vgl. Hillebrand, Geschichte Frank- deutsche Literatur, Leipzig 1902, S. 111. reichs 2,70.
^) A. ScHÖNBACH, Gesammelte Aufsätze, ') Witzige Parodie, die auch auf deutsche
Graz 1900, S. 65. I Verhältnisse paßt, bei Loyson-Bridel, Moeurs
«) .Kein Substantiv getraut sich auf die j des Diumales, Paris 1903, Mercure de France
Straße ohne die Begleitung von einem halben S. 99 f.
Fünftes Kapitel. Die Wortverbindung in inhaltlicher Hinsicht. 51
das so gern von Frankreich lernende Deutschland, nicht etwa nur bei und durch Nietzsche, übergriff.
Diese summarische Geschichte des Epithetons — von der ich nur wünschen kann, daß sie möglichst bald durch eingehende Sprachstudien unbrauchbar gemacht wird — zeigt jedenfalls dies mit voller Deutlichkeit: jede neuere literarische Richtung setzt mit einer frischen Pflege des Epi- thetons ein, die nach einiger Zeit wieder einem gewissen Erstarren weichen muß. Denn jede neue Richtung beginnt individualistisch, weil sie von selbstbewußten Männern gemacht wird, und realistisch, weil die neue Er- fassung der Wirklichkeit eine neue Freude an der bunten Fülle der Dinge bringt; deshalb treffen wir als Exponenten dieser Richtungen das gewählte Epitheton bei Gryphius wie bei Klopstock, bei Stürmern und Drängern wie bei Jungdeutschen, im Naturalismus und der Neuromantik.
Gleichzeitig aber sehen wir auch die vielberufene „Spirale der Ent- wickelung". Jede folgende Epitheton-Periode bringt das charakterisierende Beiwort weiter. Im 17. Jahrhundert nur Steigerung der herkömmlichen Attribute; im 18. Suchen nach neuen, die zugleich stilisieren und charak- terisieren sollen; um 1820 subjektiv ganz individuelle Worte, die aber dem bezeichneten Gegenstand gerade wegen zu starker Subjektivität des Be- obachters noch nicht gerecht werden; neuerdings Epitheta, die für den Be- obachter und seinen Gegenstand und somit für sein Verhältnis zu diesem bezeichnend sind.
§ 57. Aufgabe des Epithetons. Damit ist denn zugleich schon angedeutet, was sich über den Gebrauch des Epithetons etwa lehren läßt. Die Epitheta sollen charakterisieren, sie drücken aber selbst, „wie alle Worte überhaupt, Begriffe aus, welche feste und bestimmte Grenzen haben, da ihre Objekte, vermöge der unauflöslichen Verbindung, in welcher alle Teile der mora- lischen Welt untereinanderstehen, ohne alle eigentlich bemerklichen Grenzen ineinander überfheßen".i) Deshalb kann auch das am besten gewählte Ad- jektiv an sich nicht genügen, wenn ihm nicht aus der speziellen Verbin- dung mit gerade diesem Nomen eine spezifische Nuance der Bedeutung zufließt. Um es paradox auszudrücken: ein „P/arf" kann nicht „boshaft" sein — denn die eigentümlichen Bestandteile der Bosheit setzen ja be- wußten Willen voraus — aber „ein boshafter Pfad'' kann er trotzdem sein. Substantiv und Adjektiv bildet einen bestimmten Winkel und auf diesen kommt es an; nicht auf die Länge der ihn bildenden Linien. A. W. Schlegel rühmt von Goethes „Hermann und Dorothea" (Werke 11, 213): „die Bei- wörter sind bei ihm nicht allgemeine Erweiterung, sondern an ihrem be- stimmten Platze bedeutend". „An ihrem bestimmten Platze bedeu- tend" — darauf kommt es an. Man muß das Gefühl haben, daß hierher nur dies Wort paßt. Das wird man aber um so eher haben, je einfacher
') W. VON Humboldt, Schriften, herausgegeben von der preußischen Akademie, 2, 73.
4*
52 Stilistik.
und anschaulicher das Beiwort an sich ist; weshalb denn auch der be- rühmte Kritiker gleich fortfährt: „er hat sich weit häufiger der einfachen als der zusammengesetzten bedient". Ein einfaches Adjektiv in blitzartig neuer Verwendung setzt sein Hauptwort in viel helleres Licht als jene mühsamen Komposita der Ronsard, Hoffmannswaldau, J. H. Voss, Mörike, die schon durch ihre Schwere stilisierend wirken und deshalb die Eigenart haben, bald zu reinen Schmuckworten zu werden.
Das Höchste wird freilich bei den Beiwörtern erreicht, „die zugleich Neuheit und Schönheit auszeichnet", wie W. v. Humboldt') an Schillers „Elegie" rühmt. In ihr begegnen auch wirklich so modern klingende Epitheta wie „das energische Lichi". Ebenso rühmt z. B. K. O. Örtel^) an Alexander v. Humboldt: „Er griff oft zu Eigenschaftswörtern, aber fast nie waren sie ein leerer Schmuck der Rede; er wollte wesenthche Merk- male bezeichnen, und seine glückliche Hand gab ihm oft den schönsten und klarsten Ausdruck zugleich." Doch schien seinen Zeitgenossen Hum- boldts Rede schon zu blumig und gerade seine Adjektiva hat Immermann in der Prärieschilderung am Eingang des „Münchhausen" parodiert.
§ 58. Anwendung des Epithetons. Diesen allgemeinen Empfehlungen läßt sich schwer ein knapperer Ausdruck geben als im Sinn der berühmten Formel des französischen Philosophen Taine: bezeichne durch das gewählte Epitheton so kurz und schlagend als möglich ein Stückchen Wirklichkeit im Licht deines Temperaments. Alles Charakterisieren ist ein Abmessen von einem bestimmten Standpunkt aus; er darf aber nur als Fußpunkt dienen. Zu vermeiden ist natürlich jedes trübe, nichtssagend gewordene Beiwort; zu vermeiden ist aber auch das Schwelgen in Lieblingsausdrücken, weil es die Individualität des Angeschauten in der Stimmung des Betrach- ters ertränkt. Das ist z. B. bei dem „heiter" des alten Goethe der Fall. 3) — Man soll aber auch drittens nicht allzu fürwitzig in die fremde Eigenart eintauchen wollen. Dahin neigen die Neuesten z. B. in der allzu genauen Nuancierung der Farbworte. Der immer genauere Gebrauch wirklicher Farbworte ist übrigens für den zunehmenden Realismus der Be- obachtung bezeichnend: die alten Lieblingsfarben grün, weiß, rot, schwarz werden schon am Ende der altgermanischen Zeit'') und ebenso wieder am Ende des Minnesangs gern durch realistische Angaben seltener Farben be- einträchtigt. Aber diese Farbenspezifikation hat doch ihre Grenzen an unserer Aufnahmefähigkeit. Vollends bei der jetzt beliebten symbolischen Verwendung der Farbenadjektiva sollte man Maß halten. Wenn Heine
') Briefwechsel zwischen Schiller und 1899 S. 73.
W. von Humboldt, herausgegeben von A. ') Einige andere Beispiele bei Balden-
Leitzmann, Stuttgart 1900, S. 173. j sperger, Gottfried Keller, Paris 1899, S. 473.
=) K. O. Oertel, Die Naturschilderung ' ■•) V'gl. meine Altgermanische Poesie
bei dem deutschen geographischen Reise- S. 201 f. beschreiben des 18. Jahrhunderts, Leipzig
Fünftes Kapitel. Die Wortverbindung in inhaltlicher Hinsicht. 53
„ein Meer von blauen Gedanken" sein Herz überfluten läßt, verstehen wir noch die subjektive Assoziation; aber die berühmte „blaue Stunde" der neueren Franzosen und Stefan Georges appelliert schon an ein sehr williges und vorgebildetes Aufnahmevermögen!
Im übrigen gilt hier mehr als irgendwo, daß Vorschriften dem Genius wenig helfen! Das betont auch Jean Paul in einer schönen und lehr- reichen Stelle (Vorschule der Ästhetik § 78):
.Die Beiwörter, die rechten und sinnlictien, sind Gaben des Genius; nur in dessen Geisterstunde und Geistertage fället ihre Säe- und Blütezeit. Wer ein solches Wort erst sucht, findet es schwerlich. Hier stehen Goethe und Herder voran, auch den Deutschen, nicht nur den Engländern, welche jede Sonne mit einem Umhange von beiwörtlichen Nebensonnen und Sonnenhöfen verstärken. Herder sagt: das dicke Theben — der gebückte Sklave — das dunkle Getümmel ziehender Barbaren u. s. w. Goethe sagt; die Liebesaugen der Blumen — der silberprangende Fluß — der Liebe stockende Schmerzen zu Tränen lösen — vom Morgenwind umflügelt u. s. w. Besonders winden die Goethischen (auch seine unbildlichen) gleichsam die tiefste Welt der Gefühle aus dem Herzen empor; z. B. ,wie greift's auf einmal durch die Freuden, durch diese offne Wonne mit entsetzlichen Schmerzen, mit eisernen Händen der Hölle durch.' Wie wird man dadurch dem gemeinen Gepränge britischer Dicht- Vornlinge noch mehr gram! — So ergrauen auch Gesners ver- wässerte Farben gegen die festern heilern im Frühling von Kleist. — Manchem Kose- gartischen Gemälde geht oft zu einem dichterischen nichts ab als ein langer Strich durch alle Beiwörter.'
Lehrreiche Beispiele für die Wahl der Epitheta gibt Albalat, Formation du style S. 280 f.
§ 59. Steigerung. Wir sahen die Bestimmung des Adjektivs vor allem in seiner Anpassungsfähigkeit vorgezeichnet; der Gebrauch des Epithetons — freilich auch die Sinecure des müssig „schmückenden" Beiworts — fließt aus seiner Dreigeschlechtigkeit. Das Adjektiv hat aber noch eine andere Form der Veränderhchkeit vor dem Substantiv voraus: die Steigerung. Zwar kann die Zusammensetzung etwas Ähnliches beim Appellativum geben: Herrscher — Oberherrscher; Verbrecher — Hauptverbrecher; und gar in der Hierarchie der Titel haben wir Deutschen es ja zu einer unvergleich- lichen Steigerungsfähigkeit gebracht: Unterarzt — Arzt — Oberarzt — Generaloberarzt — Generalarzt. — Indessen wird hierbei doch nur eine äußerliche Überordnung gemeint, während die adjektivische Komparation eine Steigerung im Wesen selbst ausdrückt. (Ausnahmsweise' kommt zwar auch das bei Appellativen vor: ein „Erzhallunke" ist noch mehr Hallunke als ein einfacher; aber Substantiv und Adjektiv berühren sich eben überall.)
Das Wesen der Steigerung beruht also, wie auch der lateinische Aus- druck sagt, auf der Vergleichung. Es soll behauptet werden, daß eine bestimmte „Eigenschaft" einem Gegenstand mehr als einem einzelnen andern (Komparativ) oder mehr als irgend einem andern (Superlativ) zu- komme. Gewissermaßen ist also jeder Positiv an sich schon ein Steige- rungsgrad: ich spreche heut vom „blauen Himmel", weil er bisher nicht so blau war; ich nenne einen Soldaten „tapfer", weil er das mehr ist als alle die andern, von denen ich doch immerhin schon Tapferkeit voraussetze.
54 Stilistik.
Daraus folgt das stilistische Gebot, die Steigerungsgrade nicht ohne Not anzuwenden, weil wir sonst den Positiv, der viel unentbehrlicher ist, entwerten. Dies gilt vor allem von dem Superlativ. Er war bei uns teils durch Nachahmung des lateinischen (lediglich verstärkenden; „Elativus" {„dux optimus", ein sehr guter Feldherr), teils aus dem gegenseitigen Überbieten in der politischen und wissenschaftlichen Polemik sehr häufig geworden. Goethe hat sogar den Elativ mit dem unbestimmten Pro- nomen im Alter besonders geliebt: ^eine schönste Gabe", was das ein- zelne Geschenk sofort in das Reich der Ideale heraufstilisiert. Aber gegen diese Neigung zum Superlativ — die bei den rhetorischen Romanen wirk- lich viele Positive nahezu wertlos gemacht hat — ist eine berechtigte Re- aktion eingetreten. Es kommt noch ein praktisch-psychologisches Moment hinzu, das Bismarck einmal dem Historiker H. v. Sybel gegenüber be- tonte: der Superlativ reizt zum Widerspruch. Treitschke hat Mettemich „den Eitelsten der Sterblichen" genannt, den gleichen Superiativ aber, wenn ich nicht irre, auch auf Heine angewandt; das bewiese denn an sich schon, wie berechtigt ein Protest gegen solche Superiative sein kann.
Der Komparativ wird naturgemäß seltener gemißbraucht. Bekanntlich besitzen wir auch einen „abschwächenden Komparativ": ein ^älterer Mann" ist noch kein „alter Mann", nur etwas älter als der Durchschnitt; „eine Frau aus den besseren Ständen" gehört nur gerade eben noch dem An- fang der „guten" an. Mißverständnisse werden daraus selten entstehen; doch ist auch hier ein positiver Ausdruck vorzuziehen: „ein nicht mehr junger Mann", „ein Mann von gewissem Alter". ^)
§ 60. Subjekt und Prädikat. Wir kommen zu den speziellen Bezie- hungen von Verb und Nomen; und zwar zunächst derjenigen zwischen Subjekt und Prädikat.
Hier herrscht wieder das Gesetz der Kongruenz; doch nicht so streng wie beim Adjektiv.
§ 61. Constructio kata synesin. Ein Verstoß im Numerus (oder seltener Genus) ergibt die sog. Constructio kata synesin; schön erklärt von M. Haupt: *) „die Begriffssphäre bleibt, aber die Wortform ändert sich". So siegt oft das „natüriiche Geschlecht" über das „grammatische", in der naiveren Sprache früherer Zeiten 3) häufiger als in modemer Pedanterie. Beim Nu- merus gelten noch Speziairegeln.*) Eigentliches Veriassen der Kongruenz zu Gunsten einer sinnlicheren Auffassung begegnet heut kaum noch und schon bei den Klassikern nur, wenn mancherlei zusammentrifft, wie im „Faust" Vers 214 (Vorspiel auf dem Theater):
') Klopstock bevorzugte den Kom- Lehrer, Berlin 1879, S. 152. parativ gerade wegen seiner idealisierenden 1 Z.B. mittelhochdeutsch: Paul, Mittel- Gestaltlosigkeit, vgl. Jean Palx, Vorschule hochdeutsche Grammatik, 2. Aufl., § 2^. der Ästhetik § 78. *) \'gl. Me.\sing-Erd.mann, Grundzüge
«) Belger, M. Haupt als akademischer der deutschen S>Titax 2, 39 f.
FÜNFTES Kapitel. Die Wortverbindung in inhaltlicher Hinsicht. 55
Der Worte sind genug gewechselt — WO die Constructio kata synesin — Plur. bei dem koilektivischen „genug"
— noch durch die Wortstellung erleichtert wird.
§ 62. Eigentliches Zeugma. Ein Verstoß in den begrifflichen Be- ziehungen — sonach ein Gegenstück zu dieser formellen Lizenz — bildet das Zeugma, wobei innerhalb der festgehaltenen Begriffssphäre leise Ver- schiebungen eintreten.') Ein Zeugma ist nach der herkömmlichen Definition „die Verbindung oder Vereinigung zweier Sätze oder auch Hauptwörter durch ein Zeitwort, das sich nur zu einem schickt". So bei Goethe: „Entzahnte Kiefern schnattern und das schlotternde Gebein (bebt)". Doch ebenso auch bei der Verbindung mehrerer Hauptwörter durch ein anderes, das nur zu dem einen paßt: „Mitten im Getümmel mancher Freuden, mancher Sorgen, mancher Herzensnot" (Goethe). 2)
§ 63. Uneigentliches Zeugma. Findet bei dem gewöhnlichen Zeugma die ungenaue Bezeichnung des Inhalts zumeist noch einen formellen Aus- druck, so daß eine Verletzung der Konstruktion eintritt, so gibt es doch auch eine Figur, die man „inhaltliches Zeugma'' oder auf deutsch Miß- verbindung nennen könnte. Sie ist als beabsichtigter Witz bei den älteren Humoristen sehr beliebt, z. B. bei dem Engländer Sterne: „Er hob seine Augen und ein Bein gegen Himmet'. J. Czerny^) bezeichnet dies als „syntaktische Zusammenstellungen abstrakter Begriffe und real-konkreter Dinge", und namentlich im letztern Sinn ist die Mißverbindung zweier Nomina bei Lichtenberg, Heine und dessen Nachahmern sehr beliebt. Heines oft zitierter Anfang der „Harzreise" {„die Stadt Göttingen, berühmt durch ihre Würste und Universität") hat seine eigene Geschichte.*) Natür- lich begegnen solche Verkoppelungen aber auch ohne spassige Absicht und wirken dann verletzend: man hat das (formell zu beiden Teilen passende) Prädikat in einer gewissen geistigen Höhe eingestellt und plumpt nun un- sanft herab.
Als Zeugma empfindet ein feineres Ohr auch schon die Verbindung desselben Verbs einmal als Hilfsverbum und einmal in eigentlicher Be- deutung:'') „Er hat kein Geld und doch ein Haus kaufen wollen"; ja selbst die Verbindung des Hilfsverbs mit Intransitiv und Transitiv: „Die Nacht ist gekommen und der Himmel mit Sternen besäet". Die unsinnliche, die Anschauung verletzende Bequemlichkeit ist es, die hier störend wirkt.
§ 64. Prädiliat und Objel<t. Weitergehende Störungen in den Bezie- hungen zwischen Subjekt und Prädikat — Ellipse, Anakoluth, Aposiopese
— gehören schon dem Satz an. Für die Verbindung aber zwischen Ver- bum und Objekt ist nur nochmals an die figura etymologica zu erinnern :
1) Vgl. M. Haupt a. a. O. S. 151. ' Paul, Berlin 1904, S. 73.
-) Vgl. Gerber, Die Sprache als Kunst 1, 507.
^) J. Czerny, Sterne, Hippel und Jean
<) Vgl. Euphorion 8, 706.
5) Vgl. Kiesel, Deutsche Stilistik S. 163.
56 Stilistik.
das Verbot, durch die unausgestattete Verbindung eines Verbs mit seinem „innern Objekt" eine anspruchsvolle und doch leere Wortverbindung vor- zuführen.
§ 65. Röckblick. Zusammenfassend können wir über die Wortver- bindung bemerken: die Anordnung der zusammengehörigen Worte ist bei uns fast überall syntaktisch festgelegt; insbesondere können wir nicht wie die Franzosen durch die Umstellung des Attributs Eindruck machen: „un necessalre travail" (M. Breal) statt „un travail necessaire" . Da bei uns somit die Sorge für die Wortverbindung beinah ausschließlich durch die Wahl der Worte geleistet wird, kann diese nicht sorgfältig genug sein.
Sechstes Kapitel. Der Satz in formeller Hinsicht.
§ 66. Definition des Satzes. Unter Satz verstehen wir ein an sich (d. h. ohne alle weitere Beihilfe verdeutlichender Mittel) vollkommen verständ- liches Stück menschlicher Rede. Wir stellen an den Satz keinerlei spezielle syntaktische Forderungen: ein bloßer Ausruf wie „Feuer!", ein eingliedriger Fragesatz wie „tot?", eine „unvollständige" oder „verstümmelte" Androhung wie „Euch werde ich — " genügt vollkommen den Ansprüchen an Gemein- verständlichkeit. Wir gehen deshalb auf die Diskussionen und Definitionen der Synta.x und der Logik ') nicht erst ein.
§ 67. Syntax und Stilistik. Der Syntax fällt auch die Belehrung über die verschiedenen Satzformen, ihre Ausdrucks- und Verbindungsmittel zu, wie sie z. B. Kiesel in seiner sehr brauchbaren „Stilistik", auf höherer Stufe Wunderlich in seinen beiden Büchern („Satzbau" und „Umgangs- sprache") gibt. Die richtige Verwendung der syntaktischen Mittel ist für die Stilistik so gut wie die richtige Verwendung der flexivischen Mittel be- reits Voraussetzung: weder über Deklination und Konjugation noch über Konjunktionen und Modi oder Tempora im allgemeinen hat die Stilistik zu unterrichten. Nur über die kunstmäßige Verwendung dieser Dinge ist hier zu sprechen.*)
§ 68. Wortstellung. Allerdings aber kann gerade eine Abweichung von der normalen Wortstellung kunstmäßig gerechtfertigt sein.'^ Eine un- gewöhnliche Anordnung kann die Aufmerksamkeit auf ein sonst nicht be-
') Vgl. WuNDT, Völkerpsychologie I, 2, Schiebungen überhaupt findet man bei Kiesel
222 f. a. a. O. S. 164 f., vortreffliche Studien beson-
'-) Über die geschichtliche Entwick- ders zu H. von Kleists Wortstellung bei A.
hing und normale Handhabung dagegen haben Fries in den .Studien zur vergleichenden Lite-
Lelirbücher der Syntax wie besonders das- raturgeschichte" 4, 440 f.: englische Beispiele
jenige von Erd.mann-Mensing (Qrundzüge mit Kommentar bei Herbert Spe.\cer, StT,le
der deutschen Syntax, Stuttgart, I 1887, 11 S. 20 f. und bei Bain, Rhetoric and Com-
1898) zu belehren. Position 1, 19 f.
') Eine lehrreiche Übersicht solcher \'er-
Sechstes Kapitel. Der Satz in formeller Hinsicht. 57
tontes Wort lenken und überhaupt — namentlich mit Hilfe des Rhythmus — eine ganz individuelle Abstufung der Akzente ermöglichen:
Das eben ist der Fluch der bösen Tat,
Daß sie fortzeugend Böses muß gebären.
Prosaisch, etwa im Stil der Düntzerschen Umschreibungen klassi- scher Verse, würden eben diese Worte etwa so zu ordnen sein: „Das ist eben der Fluch der bösen Tat — ". Man sieht, wie die kleine Umstellung wirkt. Bei der zweiten Stellung betonen wir „ist"; bei der Schillers wird der Akzent, der sonst auf die zweite Stelle fiele, erspart, an dritter geht nun auch „ist" seiner verlustig und diese ganze Akzentersparnis kommt dem Hauptwort „Fluch" zugute.
Jeder Satz enthält nämlich nur ein bestimmtes Quantum von Akzenten und jede Verstärkung oder Abschwächung an einer Stelle führt zur Aus- gleichung an der anderen. Dies ist besonders für den Gebrauch der kon- trahierten Adjekte am, beim, im, vom, zum (für an dem, bei dem, in dem, von dem, zu dem) zu beachten. Nur für die grobe Vernachlässigung feinerer sprachlicher Nuancen sind die kontrahierte und die ursprüngliche Form gleichwertig, so daß man zur Abkürzung und Bequemlichkeit überall „im" oder „vom" setzen dürfte.') In Wirklichkeit wächst der unterdrückte, wenn auch an sich geringe Ton des Artikels dem unmittelbar folgenden betonten Worte zu. Also: „das habe ich von dem guten Väter"; aber „vom guten Sohn" (im Gegensatz zum schlechten) „erhielt er andere Nachricht". Nur bei geographischen Namen ist die kontrahierte Form fast allein üblich, weil sie eben gewöhnlich betont werden: „Bonn am Rhein", aber auch: „wir gehen am schönen Rhein spazieren". — In dieser Akzent- übertragung liegt das Hauptgeheimnis der Wirkung veränderter Wortstellung.
Es versteht sich aber von selbst, daß der rhetorischen oder rhyth- mischen Wirkung niemals die Deutlichkeit geopfert werden darf. Ist diese doch schon durch die normale Wortstellung in längeren Perioden gefährdet, und nicht mit Unrecht hat der Amerikaner Mark Twain jene deutschen Satzungeheuer verspottet, bei denen man lange Zeit mit dem Verständnis in der Luft schwebt, bis endlich das erlösende Wort ankommt (Beispiele von Übersichtlichkeit und Unübersichtlichkeit bei Kiesel S. 192 f.;
z. B.:
Es ist bekannt, daß Gott, sobald er die Welt erschaffen hatte, so daß das Erd- reich trocken war und das Gebirge mächtig und herrlich dastand, die Pflanzen aus der Erde sprießen ließ.)
Auch darf die Absicht der Rhythmisierung (eher schon die der rheto- rischen Wirkung) nicht zu stark hervortreten, weil sonst der Stilfehler einer zwischen poetischem und prosaischem „Numerus" (s. u.) schwankenden Rede eintritt. Es ist wohl gestattet, daß die Prosa eines Dramas in pathe- tischen Momenten in wirkliche Verse übergehe — wie in den letzten Worten
') Vgl. meine Grundlagen des mittelliochdeutschen Strophenbaus S. 34 f.
58 Stilistik.
Clavigos — , nicht aber, daß in wissenschaftlich berichtende Prosa sich plötzlich regelmäßige fünfhebige Jamben mischen. Selbst die rhythmische Anordnung sentenziöser Elemente in dichterischer Prosa, wie sie der alte Goethe liebt, ist schwerlich nachzuahmen, ob nun die Auffassung, daß hier eingearbeitete Verse voriiegen, richtig sei oder nicht. Anders steht es natürlich bei selbständigen, als Prosa geschriebenen Sprüchen: Der Schmutz ist glänzend, wenn die Sonne scheinen mag
(Sprüche in Prosa Nr. 13).')
Für die Grenzen zwischen prosaischer und poetischer Rhythmisierung findet man einige Winke bei Holz, „Revolution der Lyrik" (Beriin 1899).
Ausnahmsweise fügen wir noch eine syntaktische Bemerkung bei. Eine einzelne Form der Wortumstellung, die speziell sogenannte Inver- sion, ist von Wustmann (Allerhand Sprachdummheiten S. 294 f.) leiden- schaftlich angegriffen worden. Es ist die Stellung des Prädikats vor dem Subjekt in Hauptsätzen mit „und'': „Der Austernfang ist in letzter Zeit sehr ergiebig gewesen und werden am Dienstag wieder 10000 Stück in die Stadt gebracht". An sich ist die Inversion nichts Uneriaubtes und Herder ist gegenüber der trockenen Korrektheit seiner Zeit sogar lebhaft für sie eingetreten. Diese Anwendung aber, die sich besonders auch in die weibliche Briefstellerei eingefressen hat, ist häßlich, weil sie geschäfts- mäßigen Anstrich hat und weil sie grundlos den Parallelismus beigeord- neter Sätze (und damit die Einheit der ganzen Periode) zeneißt. Wust- mann führt noch weiter aus:
.Das Widerwärtige der Inversion liegt nicht bloß in dem grammatischen \'ersto8, sondern vor allem auch in der logischen Lüge: Die Inversion sucht den Schein engerer, ja engster Gedankenverbindung zu erwecken, und doch haben gewöhnlich die beiden Sätze, die so verbunden werden, inhaltlich nicht das mindeste miteinander zu tun! Darum ist auch die Inversion nur selten dadurch zu verbessern, daß man die beiden Hauptsätze in Haupt- und Nebensatz verwandelt, noch seltener dadurch, daß man Subjekt und Prädikat hinter und in die richtige Stellung bringt, sondern meist dadurch, daß man den Rat befolgt, den schon der junge Leipziger Student Goethe seiner Schwester Cornelia gab, wenn sie in ihren Briefen Inversionen geschrieben hatte: einen Punkt zu setzen, das ,und' zu streichen und mit einem großen Anfangsbuchstaben fortzufahren.'
In der Poesie beruht übrigens die Inversion zumeist (z.B. bei Martin Greif un- endlich oft) einfach auf der Reimnot:
Der lichte Hirt am Stabe Voran der Herde zieht . . .
§69. Allgemeines zur Prosarhythmik. Über die Rhythmen der Prosa überhaupt fehlt es noch völlig an zuveriässigen Arbeiten. Mehr als die allgemeinsten Wendungen etwa über das zerhackle Taciteische Deutsch des Johannes von Müller, die prachtvolle faltenreiche Diktion Schillers, das leidenschaftliche Pathos Treitschkes u. dgl. findet man über diese Frage selbst nicht in eingehenden Würdigungen großer Stilisten. Hat man sich doch auch in der so viel älteren und im Formellen unendlich sorgfältigeren
M Vgl. BODE, Stunden mit Goethe 2, 73.
Sechstes Kapitel. Der Satz in formeller Hinsicht. 59
klassischen Philologie erst neuerdings der wirklichen Feststellung des Prosa- rhythmus genähert. Schon Böckh (Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften S. 247) verlangt eine historische Stilistik; aber er ruft dann selbst: „Dabei wird nun die Beobachtung des Numerus ein Hauptmoment sein. Aber wer hat davon einen wahren Begriff? Wer ist imstande zu bestimmen, welchen Eindruck dieser oder jener Rhythmus in der Prosa hervorbringt? Die ganze auf den Numerus bezügliche Gat- tungskritik liegt in den ersten Anfängen." Aber erst ein Menschenalter später kam sie durch zwei große Werke darüber heraus: E. Norden, Die antike Kunstprosa vom 6. Jahrhundert v. Chr. bis in die Zeit der Renais- sance (Leipzig 1898) und Fr. Blass, Die Rhythmen der attischen Kunstprosa (ebendaselbst 1901). Für die neueren Literaturen aber haben wir nur ganz fragmentarische Ansätze. Aus der normalen Wortstellung suchten Pierson, Metrique naturelle du langage (Paris 1883, Bibliotheque de l'ecole des hautes etudes) und ich (Grundlagen des mittelhochdeutschen Strophenbaus S. 22 f.) die Grundzüge der nationalen Prosarhythmik zu gewinnen. Von noch allgemeineren Gesichtspunkten geht Wundt (Völkerpsychologie II 2, 375 f.) aus; vgl. auch Vischer, Ästhetik 5, 1235 f. Eine größere Fülle indi- vidueller Beobachtungen brachte für die mittelhochdeutsche Umgangsprache Reichel in mehreren Schriften, besonders seinen Sprachpsychologischen Studien (Halle 1897, Niemeyer), während K. Marbe, Über den Rhythmus der Prosa (Gießen 1904) nur schematisch-statistische Feststellungen zu Goethe und Heine gab. Für Goethe hat auch Henkel (Goethe-Jahr- buch 21, 265) wenigstens rhythmisch besonders klare Stellen gesammelt.
Aber überall fehlt es, selbst wo für den Autor ein Anfang indivi- dualisierender Betrachtung gemacht wird, an eindringender Individuali- sierung des Numerus selbst. Nur A. Fries, Stilistische und vergleichende Forschungen zu H. von Kleist, Berlin 1906, S. 44 f. bietet auch hierfür wichtige Ansätze. Und doch wissen wir, daß Schleiermacher seine „Mono- logen" rhythmisch individuell komponierte (Henkel a. a. O. S. 266 Anm.: „Ich wollte ein bestimmtes Silbenmaß überall durchkUngen lassen, im 2. und 4. Monolog den lamben allein, im 5. den Daktylus und Anapäst, im 1. und 3. hatte ich mir etwas Zusammengesetztes gedacht); daß Fr. v. Gentz an einzelnen seiner eigenen Arbeiten die innere Gliederung als besonders gelungen empfand (Guqlia, Fr. Gentz S. 191: „Gedanken, Nu- merus, Cadence — alles fließt von selbst"). Von solchen Selbstzeugnissen (und von den wenigen eingehenden Untersuchungen wie der von Pailhes, Du Nouveau sur Joubert, Paris 1900, Garnier, oder denen von Fries) wäre einerseits auszugehen, andererseits von allgemeinen Erörterungen über rhyth- mische Gebilde der Sprache (wie bei R. Hildebrand, Rhythmische Bewegung in der Prosa, in seinen „Beiträgen" S. 386 f.; J. Minor, Metrik S. 103 f.).
Schönheit der Prosa beruht so gut auf rhythmischen Gesetzen, wie die Schönheit des Versbaues. Können wir über eine prosaische Rede, um die Länge und Kürze der
60 Stilistik.
darin gebrauchten Worte zu bezeichnen, häufige lambenzeichen ( - - ), Tribrachyszeichen ( -j w ^ ), Päonquartuszeichen ( w >j v. _ ) und wohl gar das Zeichen des Proceleus- maticus ( ^ ^ ^ ^) setzen, so fehh jede schöne Kontinuität, die Sätze zerbröckeln in ein loses Geröll und von angenehmer Klangwirkung ist nicht die Rede. Die Schönheit der Prosa beruht auf einer durchgehend anapästischen Bewegung, zwei Kürzen als Auftakt, dann eine Länge ( w w _ ) zwischendurch wenig lamben und viel Choriamben ( - ^ w _ ). Man vergleiche nur den Rhj-thmus der Prosa, die man schreibt, mit dem Rhj-thmus der- jenigen, die man diktiert. In letzterer zeigt sich, daß wir, wenn wir sprechen, von selbst dem Genius der Sprache huldigen, der für ein wohllautendes Abwechseln zwischen langen und kurzen Silben einen uns ganz unbewußten Trieb hat (Gutzkow, Vom Baum der Er- kenntnis, Jena 1892, S. 201).
Setzt man so die Zange kräftig in Bewegung, so gelingt es vielleicht, den rätselhaften , Numerus' zu packen und durch seine proteusartigen Wandlungen und Verwandlungen zu verfolgen. Ob das von Sievers neu entdeckte Hilfsmittel der „Sprachmelodie" dabei große Dienste leisten wird, muß der Erfahrung vorbehalten bleiben.
§ 70. Numerus und Rhythmus. Der Numerus ^ entspricht in der Prosa dem Metrum und hängt in der Poesie, wie die gesamte äußere Form, von der inneren Form und der Gedankenverknüpfung ab (Böckh a. a. O. S. 244) — viel- mehr er ist selbst schon „innere Form", geheimes Gesetz der Regelung. Wie er sich zum Rhythmus verhalte, wird aus den Erklärungen der älteren und neueren Theoretiker nicht völlig klar.^) Wir glauben die beiden Begriffe so scheiden zu sollen, daß wir unter „Rhythmus" die Verteilung der Akzente im einzelnen Satz, unter „Numerus" dagegen den durchgehenden Charakter der Struktur verstehen. Der Rhythmus ist also der Poesie und Prosa gemein, und „rhythmische Stellen" im engem Sinne sind diejenigen, in denen die regelmäßige AkzenU'erteilung Abschnitte der Prosarede Versen (etwa iam- bischen oder daktylischen) annähert; so die von Henkel a. a. O. zusammen- gestellten. Der Numerus dagegen ist der Prosa so eigentümlich wie das Metrum der Poesie, weil für seine Bestimmung die Sätze dieselbe Rolle spielen wie für die gebundene Rede die Verse. Dabei ist jedoch noch das Tempo der Rede abzutrennen, das durch die vorzugsweise kurzen oder langen Sätze wenigstens hauptsächlich bestimmt wird. Demnach bleibt für den Numerus im engeren Sinne übrig: die Gliederung der Sätze (ein- fach oder verwickelt, gleichmäßig oder unsymmetrisch und im zweiten Fall steigend oder fallend), das Wortmaterial (lange oder kurze Worte, regel- mäßige oder unregelmäßige Verteilung der schweren und leichten Worte, vorzugsweise trochäischer oder iambischer Bau der betonteren Worte) und die Pausen (Zahl, Länge, Verteilung der durch Interpunktionszeichen mar- kierten lautleeren Abschnitte), s)
') Börne (Briefwechsel des jungen Börne dell, Introduction to the scientific study of
und der Henriette Herz, Oldenburg und Leip- English Poetr)- S. 223 ff. zig 1905, S. 169) hat dafür den hübschen ') \"gl. über die Bedeutung der Pausen
empfehlenswerten Ausdruck , Silbenfall". — allerdings im Vers — z. B. Bain, Rhetoric
) Interessante Untersuchungen bei Lid- 1,300.
Sechstes Kapitel. Der Satz in formeller Hinsicht.
61
Prägnanter gefaßt: der Rhythmus beruht auf der Verteilung der Ak- zente, der Numerus auf Wahl und Verteilung des gesamten Sprachstoffs im Satze und vor allem der betonten Worte.
§ 71. Rhythmus. Über den Rhythmus also in diesem Sinn') ist all- gemein nur zu bemerken, daß es sich selbstverständlich um losere Fügung handelt als in gebundener Rede; denn läge ein fester Rhythmus vor, so hätten wir eben Verse oder mindestens jene allerdings schwer zu fassenden Gebilde, die wir „freie Rhythmen" nennen. 2)
Diese größere Unbestimmtheit wird schon durch das Fehlen regel- mäßiger Absätze gegeben: auf Verse müssen eben so und so viel Akzente gelegt werden, auf Sätze nicht. Dennoch ist Liddell») zuzugeben, daß in normalen Fällen jeder, der der betreffenden Sprache mächtig ist, ungefähr gleich betonen wird.
Eine zu große Verschiedenheit des rhythmischen Flusses im Satz (wie etwa bei E. Th. A. Hoff mann, s. 0. § 35) zerstört die Einheitlichkeit; eine zu große Gleichartigkeit nähert den Satzbau den Versen in einer Weise, die nur an pathetischen Stellen erlaubt ist. Die Prosa darf sich dem Vers da nähern, wo der reimlose Vers in Reime, wo die gesprochene Poesie in Musik aufzugehen liebt; besonders also auch an Szenen- oder Aktschlüssen und ähnlichen „Abgängen"; in kleineren Stücken auch sonst.*)
§ 72. Klausel. Der Rhythmus darf und soll also vorzugsweise am Satzschluß — der ja immer ein ;, Abgang" ist — bemerkbar werden; ge- rade wie auch für den Versschluß im Hexameter oder bei den mittelhoch- deutschen Epikern besonders strenge Gesetze gelten. Daraus entwickelt sich das erst in neuester Zeit sorgfältig studierte Gesetz der Klausel. s) Die individuelle Eigenart des Satzbaus verrät sich nämlich in gewissen austönenden Rhythmen, wie denn Ciceros „esse videatar" durch alle Zeiten berühmt blieb. Die Franzosen haben den Kadenzen ebenfalls stets Auf- merksamkeit zugewandt; so findet man wieder im Journal des Goncourt Ausrufe des Entzückens, die lediglich durch die Schlußrhythmen einzelner Sätze Chateaubriands veranlaßt sind. Aber bei uns hat fast einzig Jean Paul (Vorschule der Ästhetik, § 86) wirkliche Beobachtungen gesammelt. Er spricht allgemeiner vom Rhythmus der Prosa: „Der große -Haller ent-
') Vgl. allgemein Vischer, Ästhetik 6 S. 1238 f., Minor, Metrik S. 1 f.
2) Vgl. darüber Goldbeck-Löwe, Zur Geschichte der freien Verse in der deutschen Dichtung von Klopstock bis Goethe, Kiel 1891 , und besonders Benoist-Hanappier, Die freien Rhythmen in der deutschen Lyrik, Halle 1905, Minor, Metrik S. 315 f.
') Liddell, An Indroduction to the scien- tific study of English Poetry, New-York 1902 S. 223, vgl. S. 185.
') Gute Beispiele bei Gerber, Die Sprache als Kunst 2, 1, 165, R. Hildebrand, Rhyth- mische Bewegung in der Prosa, Beiträge zum deutschen Unterricht S. 386; parodistische Beispiele bei Knigge, Über Schriftsteller und Schriftsteller, Hannover 1793 S. 195 f.
^) Für die lateinische Prosa: J. Wolfe, De Clausulis Ciceronianis, Th. Zielinski, Das Klauselgesetz bei Cicero, Qrundzüge einer oratorischen Rhythmik, Leipzig 1904.
62 Stilistik.
zückt in seinen Romanen durch den häufigen Gebrauch des Daktylus', während Klinger oder Goethe im „Egmont" (wenn ich Jean Pauls etwas dunkelen Ausdruck richtig verstehe: „läßt immer mit langer und kurzer Silbe tönen") Trochäen bevorzugen. Hier fügt er nun bei:
Lessings Prosa tönt uns mit eigentümlichen Reizen an, zumal in den Schlußfällen. Wieland befriedigt meist durch schönen Schlußaushalt
Er gibt aber auch allgemeine Regeln über die Klausel:
Wenige haben so wie Lessing die Tonfälle der Periodenschlüsse berechnet und gesucht. So will das Ohr gern auf einer langen Endsilbe ruhen und wie in einem Hafen ankommen. Ferner hat das Ohr nicht sowohl Einen Schluß-Trochäus als mehre einander entsprechende Trochäen lieb. Erfreulich sind die Trochäen, durch welche die fünf Sinne das .zu" verwerfen in .kommen sehen, kommen hören, kommen fühlen'. Kommen schmecken und kommen riechen sagt man wenigstens richtiger als kommen zu schmecken etc. .Dürfen, sollen, lassen, mögen, können, lernen, lehren, heißen, bleiben' beschließen den zu kurzen Zug. Noch könnte man .gehen, führen, laufen, legen, finden, haben, spüren* gelten lassen (z. B. betteln gehen oder laufen, spazieren führen, schlafen legen, einen essen finden, auf Zinsen stehen haben, es kommen spüren).
Gruber findet den ersten und zweiten Päon (-www, w_v^v^), den Kretikus ( _ ^ _ ), den Anapäst { ^ ^ - ) und den lambus für die Prosa am schönsten. Longin verwirft häufige Pyrrhichien ( ^-' >-/ ), aber mit weniger Recht auch viele Daktjien und Diachoreen (- ^ - -^ ). Die letzteren gebrauchte Lessing am Schlüsse mit Reiz: z.B. ,die Goldkörner bleiben dir unverloren'; so das Tonwort , auserkoren'.
\m Schlüsse hört man, ist sonst alles gleich, gern die lange Silbe, also den Ana- päst, Spondeus, lambus, Diiambus ( ^> - v, _ ), den Choriambus ( - ^ ^ - ). Dem bösen ,zu sein scheint" — gerade kein Nach-, sondern ein AUßhall des esse \ideatur — sollte man wenigstens das .sein' grammatisch oder sonst beschneiden.
Mehre Spondeen, welche in der Prosa reiner auftreten als in der Poesie, femer mehre Molossen im Wechsel hintereinander sind dem Ohr ein schwerer Steig bergauf. Um so schöner wird es gehoben und wie ein Auge gefüllt, wenn es nach einem dunkeln Ahnungschluß aus einer schweren hartsilbigen Konstruktion auf ein mühsames Fort- und Durchwinden — und das Ohr ahnet immer fort — sich auf einmal wie von Lüften leicht hinuntergewehet empfindet, wenn z. B. nach einsilbigen Längen der lambe des Zeir*'orts, oder der Bacchius, oder auch der Amphibrachys beschließen.
Ich füge einige Beobachtungen über vier große Meister deutscher Prosa hinzu.')
Lessing schließt gern mit zwei starken Worten ohne Pause. So in der „Erziehung des Menschengeschlechts", der höchsten Blüte seiner nach Luther und vor Nietzsche von keinem Deutschen sonst erreichten Prosa:
,!{> 53. Ein besserer Pädagog muß kommen und dem Kinde das erschöpfte Elementar- buch aus den Händen reißen. — Christus kam.
iV 100. Oder, weil so zu viel Zeit für mich verloren gehen würde? — Verloren? — Und was habe ich denn zu versäumen? /st nicht die ganze Ewigkeit mein?
Goethe dagegen läßt gern dem letzten betonten Wort ein melo- disches, aber tonschwaches Wort folgen, das den Nachhall trägt. So in den „Wahlverwandtschaften" (Weimarer Ausgabe 20,305): .einen Sternen- himmel iUfer die Erde bilden"; (ebenda S. 367, eine Kardinalstelle Goethe-
') Gute Studien zu H. von Kleists den Literaturgeschichte 4, 458. Klausel bei Fries, Studien zur vergleichen-
Sechstes Kapitel. Der Satz in formeller Hinsicht. 63
scher Prosa überhaupt): „An mich darf in diesem Augenblicke nicht ge- dacht werden", (S. 380): sie gab Charlotten das Wort, das sie sich schon selbst gegeben hatte", (S. 382): „es war nichts zu besorgen".
Schiller stellt das höchstbetoiite Wort gern nach längerer Vorberei- tung allein auf den Gipfel. Beispiele aus „Anmut und Würde" (Goedekes Ausgabe S. 10): „die schöne Seele geht ins Heroische über und erhebt sich zur reinen Intelligenz" (S. 110), „angezogen als Geister, zurück- gelassen als sinnliche Naturen (S. 118), „und empfinden nichts als die schwere Bürde unsers eignen Daseins" (S. 122).
Nietzsche schließt am liebsten, wie Lessing, mit zwei hochbetonten Worten, die er aber im Gegensatz zu diesem gern durch ein tonloses trennt. („Also sprach Zarathustra", Werke 6, 259):
Ungeduldig warte ich da, daß mir endlich der lichte Himmel aufgehe, der schnee- bärtige Winter-Himmel, der Greis und Weißkopf.
(S. 286) aber doch ein großer Trost für verschlagene Seh iffe rund Seh iffb riich ige.
Häufig daher satzschließende Formeln wie: „der Ring der Wieder- kunft" (S. 337), „die Rache am Zeugen".
Die Unterschiede sind wohl charakteristisch für den Syllogisten, der sein Gewölbe mit zusammengeschobenen Schlußsteinen deckt; den Lyriker, der auch seine Dramen gern harmonisch austönen läßt (der Schluß des „Egmont" ist nur Eine große „Klausel" dieser Art); den pathetischen Drama- tiker, den ein wohl vorbereiteter Effekt beglückt; den philosophischen Künstler, der sich im Abwägen gefällt. Aber wie so ganz stehen wir noch in den Anfängen einer Kenntnis der Kunstmittel unserer Prosa!
§73. Melodie. Am Satzende kommt ebenfalls die Melodie des Satzes vorzugsweise zur Geltung. Sie wird vor allem durch die Vokale der letzten Silben bedingt; so gibt es schon im Minnesang Dichter, die helle, und andere, die dunkle Endvokale im Reim begünstigen. Von hier ist dann Sievers zu seinen aufregenden Beobachtungen und Behauptungen über Sprachmelodie überhaupt aufgestiegen, i) deren weitere Bewährung zu er- warten ist. Im allgemeinen Sinne übrigens fällt die Melodie mit dem Rhyth- mus für die Prosa nahezu zusammen.
§74. Tempo. Über das Tempo hat am besten Mündt („Kunstjder deutschen Prosa", S. 105) gehandelt:
.Die innere Tonart einer jeden Darstellung, die aus der melodiegebenden Seele des Inhaltes entspringt, muß vornehmlich die Satzbildung als das Notwendige bedingen. Es gibt langsame und schnelle Tonarten des Gedankens. Im ersteren Falle finden sich ge- haltene, künstlichere und verschlungene Periodenreihen ein, das Epische und Pathetische herrscht vor; im anderen kürzere, gedrängte, schlagfertige mit wenigstem Zwischensatz, ein drastischer Effekt wird erstrebt. Beiderlei Tonarten werden sich fast in jeder Dar- stellung nebeneinander geltend machen, obwohl von der organischen Verschiedenheit der Sprachen abhängig und bedingt. Der gesellschaftliche Charakter der französischen Sprache,
') Sievers, Über Sprachmelodisches in über Melodie in gefügter Sprache z. B. bei der deutschen Dichtung, Rektoratsprogramm, Raleigh, Style S. 14. Leipzig 1901. — Allgemeinere Betrachtungen
64 Stilistik.
ihre praktische Lebendigkeit haben darin vornehmlich die kürzere, im raschen Moment wirkende Satzbildung begünstigt, weitumsehende Periodenverwickelung duldet der ge- sprochene Ausdruck der ganzen Darstellung nicht. Die deutsche Sprache, weil sie mehr eine geschriebene ist, neigt schon dadurch zu einer größeren Verschlungenheit, einer über- legten und planmäßigen Periodisierung hin. Ist der französische Satz ein leichtgebildeter Weltmann, so ist der deutsche Periodenbau ein geistreicher Sonderling, dem auf seinem Gesicht ein einsames und vielfältiges Brüten steht. In demjenigen Stil aber, der nur vom Gedanken beherrscht wird, kann die allzu komplizierte und gelehrte Periodenlagerung, der auch auf der gegenwärtigen Stufe der deutschen Sprache viel organisch Hinderliches entgegensteht, fortan kein gültiger Schematismus mehr sein, eben weil sie nichts ist als ein Schematismus. Einige Worte des Grafen Schlabrendorf, in seinen Bemerkungen über die Sprache, bezeichnen den allgemeinen Unterschied zwischen französischer und deutscher Satzbildung sehr treffend auf folgende Weise: .Die Kürze der französischen Perioden hat den Vorteil, daß sie die Aufmerksamkeit des Lesers oder Hörers, ohne ihn lange warten zu lassen, fast ebenso schnell befriedigt als erregt. Der Franzose fordert Klarheit. Da sich ihm ein größeres Ganzes nicht überschaulich darbietet, ein zu mächtiger Bissen seine Ungeduld reizt, hilft ihm die Sprache und gibt ihm die Sache teelöffelweis. Die längeren deutschen Perioden fügen sich der Wißbegier des Hörers nicht so gefällig; aber sie haben den Vorteil, indem sie die Aufmerksamkeit festhalten, das Nachdenken zu vergrößern, und im gleichzeitigen Zusammenfall mehrerer Gedanken einen Gesamtgedanken zu erzeugen, dessen der Franzose entbehrt. Ich möchte sagen, im Genius der deutschen Sprache waltet, um ein Bild von der Musik zu entlehnen, mehr die Harmonie vorwaltend; im Genius der französischen die Melodie.'
§ 75. Ausdehnung. Das Tempo verrät sich äußerlich in der Länge der Sätze. Freilich nicht allein; die schweren, gedankenvollen kurzen Sätze eines Tacitus sind sicherlich langsam zu lesen, die hastig hervorgespru- delten Perioden etwa des Riccaut de la Marliniere in Lessings „Minna" wollen rasch vorgetragen sein. Immerhin werden aber im allgemeinen kürzere Sätze rascher gelesen werden als verwickelte Perioden.
In der Ausdehnung der Sätze (B.mn, Rhetoric I, 84) wechseln die Moden. Nachdem Lessing die kurzen, prägnanten Sätze französischer Art an Stelle der labyrinthischen Gebäude deutscher Gelehrter gesetzt hat, bil- deten unsere Klassiker ein schönes Gleichmaß aus. Je.\.\ Paul (Vorschule § 85) empfahl wieder die Ausdehnung:
„Zur Achtung gegen den Leser gehört ferner weit mehr Ein langer Periode als zwanzig kurze. Den letztern muß er zuletzt doch selber zu Einem umschaffen durch Wiederlesen und Wiederholen. Der Schreiber ist kein Sprecher, und der Leser kein Zu- hörer; und deshalb darf der langsame Schreiber schon dem langsamen Leser so aus- gedehnte Perioden vorgeben als Cicero der Feuerredner einem Feuer\'olke: und ich führe von ihm nur den seitenlangen und doch lichtvollen Perioden aus der Rede für den Archias von sed ne cui vestnim bis genere dicendi an, dessen auch im Ramlerschen Batteux ge- dacht wird. Die Alten, die Engländer, die früheren Deutschen ließen großgebaute Perioden wachsen, nur die Zeiten fallenden Geschmacks (z. B. unter den Römern) und die des kleinlichen unter den Franzosen und den Gellerte-Rabenern verästelten den erhabenen Stamm in Weidenrütchen. Was ist ein Rabenersches Perioden-hach6 gegen einen Liskov- schen roast-beef?"
Aber Jean Paul kämpfte bereits gegen seine Zeit. In der Idee der „Behaglichkeit" sah Wienbarq (Ästhetische Feldzüge S. 297) das Merk- mal, das die neuere deutsche Prosa seit Heine von der älteren unterscheide;
Sechstes Kapitel. Der Satz in formeller Hinsicht. 65
und erst seit mit Heine sich „die neueste Lyrik dem Numerus der Prosa angenähert habe", schien seinem jungdeutschen Genossen Th. Mundt (Kunst der deutschen Prosa S. 49 f.) die Emanzipation der deutschen Prosa im Durchbrechen begriffen. Denn die Annäherung der Lyrii< und der Prosa an die ]<urzatmige Alitagrede hat wirklich als ein Mittel zu gelten, durch das beide sich verjüngt haben: von hier aus fand das Gedicht einen neuen Anschluß an die Musik, die Prosa an die mündliche Beredsamkeit. Der Einfluß der nach den Freiheitskriegen wieder neu erwachenden, durch Schleiermacher, Fichte, Arndt in die Prosa eingeführten Beredsamkeit hat zur Verkürzung der Sätze vielleicht noch mehr beigetragen als das Feuille- ton, das man dafür allein verantwortlich zu machen pflegt. Rasch sprechen, rasch lesen ward die Losung. Daher die neue Vorliebe für kurze Sätze.
Doch ist das zugleich ein typisches Zeichen der Entwicklung. Der Amerikaner Sherman (Analytics of Literature, Boston 1901) hat mit unglaub- lichem Fleiß eine Statistik über englische Satzlängen aufgemacht. Er stellt (S. 263 f.) eine bedeutende Abnahme derselben fest. In der englischen Renaissance stehen 60 — 70 Worte in einem Satz, dagegen bei Macaulay 20, bei Emerson 11 (S. 259). Durchschnittlich enthält die „History of England", Macaulays berühmtes Hauptwerk, 23,43 (also zwischen 23 und 24) Worte in einem Satz (S. 261 Anm.). Sätze, die im 16. oder 17. Jahr- hundert durch „und" verknüpft werden (S. 269 L), werden später neben- einandergestellt (S. 279); ganze Sätze, wie „nachdem ich zurückgekehrt war*", zu den Worten „nach meiner Rückkehr" verdichtet (S. 299). Natür- lich bleiben Unterschiede, selbst bei demselben Autor, z. B. zwischen ver- schiedenen Essays Macaulays (S. 298, anschauliche graphische Tabellen S. 284, 285, 288); aber die Tendenz zur Satzverkürzung bleibt unzweifelhaft bestehen.
Fraglich ist nur, ob diese Tendenz bei uns nicht schon ihren Höhe- punkt überschritten hat. Um sich von den starken Tradition des „Buches" zu befreien, mußte die Prosa, wie die Lyrik, sich wieder der mündlichen Rede nähern; nun aber, befreit, darf sie sich wieder freierer Entfaltung ihrer eignen Art freuen. Wilhelm Scherer schulte seinen Stil an Macaulays kurzen Sätzen, die Historiker seiner Zeit an Rankes einfachem Satzbau; heut wird aber Nietzsche mit seinen oft weiträumigen, aber hellen Perioden, und daneben auch wieder die etwas kunstvolle Technik Goethes als Muster dienen. In den affektierten Extraktsätzchen eines Peter Altenberg hat die übertriebene Satzverengung sich ad absurdum getrieben; und Redner von rascher Schlagkraft wie Fürst Bismarck haben wir nicht mehr: die Prosa ist „emanzipiert" und kann einer großen Entwicklung entgegen- hoffen. (Über den Wert der Perioden lateinischen Stils spricht geistreich Th. Zielinski, Die Antike und "wir, Leipzig 1905 S. 41.)
§ 76. Numerus im engern Sinn. Wir kommen endlich zu dem Numerus selbst. Ausführlicher hat ihn — unter der Benennung „Rhythmus" freilich
Handbuch des deutschen Unterrichts. Bd. III, Teil 1. 5
66 Stilistik.
— der Romantiker Bernhardi am Schluß seiner „Sprachlehre" (2, 438) er- örtert. Sehr treffend hebt er hervor, daß der „Rhythmus der Periode" nicht, wie der der Verse, die einzelnen Worte zerstören, den Abschnitt hinter jedem von ihnen aufheben dürfe; „sondern ein jedes einzelne Wort muß, als den Satz bildend, als wesentlicher Teil der Verstandesdarstellung rein und klar hervortreten". Das Element der Periode „ist nicht die Silbe, sondern das einzelne Wort". Wenn aber Bernhardi nun mit der unter den Romantikern herrschenden Analogiespielerei das Subjekt für die Arsis, seinen Artikel für den Auftakt, das Prädikat für die Thesis und die Kopula für die — Cäsur der Periode erklärt (S. 439, vgl. 442; besser Wackernagel S. 366: Vordersatz Hebung, Nachsatz Senkung, was doch aber auch nicht immer stimmt), so ist mit diesen Tüfteleien wenig anzufangen. Das Er- gebnis aber, das er daraus zieht, ist an sich nicht unrichtig: die Hauptteile des Satzes müssen in einem ungefähren Gleichgewicht stehen.
Das ist die allgemeine Forderung. Für ihre spezielle Durchführung bleiben hundert Möglichkeiten. Die Amerikaner sind uns hier wieder in dem Studium der Morphologie voraus. Ewald A. Boucke hat') inter- essante „types of sentence structure" gegeben und diese Typen des Satz- baus durch Satzbilder (S. 393 f.) illustriert, die die Verteilung des Gedanken- inhalts auf die Periode andeuten; doch sind auch die viel einfacheren Satz- bilder in Kerns Grundriß der deutschen Satzlehre (2. Aufl. Berlin 1885, S. 30 f.) geeignet, von der Verschiedenheit des Numerus selbst im einfachen Satz eine Anschauung zu geben. — Die genauen Analysen englischer Rhythmen bei LiDDEL (a. a. O. S. 239 f. ) können auch für die Anatomie des Numerus propädeutisch benutzt werden.
Allgemeine Charakteristiken, wie sie etwa Philippi (Kunst der Rede S. 215 f.) von der lateinischen, französischen und deutschen Satzbildung, Wienbaro (Ästhetische Feldzüge S. 292 f.) von dem Satzbau Goethes, Jean Pauls, Börnes, Heines bietet, geben doch immer mehr von dem gesamten Eindruck des Stils jener Sprachen und Schriftsteller als speziell von ihrem Numerus eine Vorstellung. Eher führen schon die Betrachtungen über die Klausel dahin: wir deuteten es schon an, daß an dieser empfindlichsten Stelle die Eigenheit des Satzbaues überhaupt sich gleichsam konzentriert zeigen wird.
So ist es denn wohl auch. Gliederung der Sätze, Wortmaterial und Pausen erklärten wir für die Fakioren des Numerus. Wir fanden bei den vier Schriftstellern, deren Kadenzen wir — freihch nicht auf Grund statistischer Prüfung, sondern lediglich nach subjektivem Ermessen — heraus- griffen und analysierten, verschiedene Behandlung der Pause: Lessing stellt die Schlußworte gern unmittelbar nebeneinander, Nietzsche trennt sie durch ein schwaches Glied. Wir finden verschiedene Handhabung des
') Journal of Germanic Philology 4, 389 f.
Sechstes Kapitel. Der Satz in formeller Hinsicht. 67
Wortvorrats: Schiller schließt gern mit abstrai<ten Substantiven, Goethe mit konkreten Verben, Nietzsche mit symbolischen, aber konkreten Sub- stantiven. Wir sehen schon damit die Klausel individuell gegliedert — was hier eng mit der Behandlung der Pause zusammenhängt: bei Lessing Gleichgewicht, bei G o e t h e Aufsteigen mit schwächerem Abstieg, bei S c h ill e r steiler Aufstieg, bei Nietzsche wieder Gleichgewicht, doch so, daß sich die Klausel selbst bei Lessing stärker als bei ihm abhebt. Also: alle Fak- toren des Numerus sind bei der Klausel am Werk. Mit geringem Fehler können wir diese als das verkleinerte Abbild und Modell der ganzen Periode, als den Schlüssel des Numerus ansehen. Wie die Klausel, so der Satz.
Und so verhält es sich im wesentlichen. Bei Lessing leichte Vor- bereitung auf eine blitzartig hervorschießende, in schöner, gleichmäßig auf- geteilter Kurve abrollende Kadenz. Leichte Vorbereitung: kurze Sätze; einfache Worte; übersichtlich gliedernde, nicht sparsam verteilte Inter- punktion; die einzelnen Satzteile in wohlberechnetem Gleichgewicht, damit keiner die Wirkung voraus nimmt, alle sie tragen. Blitzartig hervor- schießende Kadenz — deshalb der Schluß nie schwer, aber gern mit einem auffallenden, sich einprägenden, sich abhebenden, aufleuchtenden Wort. Gleichmäßig aufgeteilte Kadenz: deshalb immer mit zwei hochbetonten Worten in naher Gesellschaft.
Fünfter Anti-Goeze, Anfang (Ausgabe von Fr. Muncker 18, 167): „O glückliche Zeiten, da die Geistlichkeit noch alles in allem war, — für uns dachte und für uns aß! Wie gern brächte euch der Herr Hauptpastor im Triumphe wieder zurück! Wie gern möchte er. daß sich Deutschlands Regenten zu dieser heilsamen Absicht mit ihm ver- einigten! Er predigt ihnen süß und sauer, er stellt ihnen Himmel und Hölle vor. Nun, wenn sie nicht hören wollen: so mögen sie fühlen. Witz und Landessprache sind die Mistbeete, in welchen der Same der Rebellion so gern und so geschwind reiffet. Heute ein Dichter: morgen ein Königsmörder. Clement, Ravaillac, Damiens sind nicht in den Beichtstühlen, sind auf dem Parnasse gebildet."
Ähnlich, wenn auch nicht ganz so ausgeprägt, in mehr lehrhafter Prosa:
Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger (ebenda S. 255). Nun wird nicht schwer sein, den wahren Verstand der Taufformel einzusehen, wenn ja die Proselyti des Messias der Juden auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes haben sollen getauft werden.
Bei Goethe der ganze Satz durchkomponiert zu schönem Gleichmaß, jeder Teil mit seiner ausgebildeten Klausel, in der Mitte des Satzes eine sanfte Anhöhe. Durchkomponiert: deshalb verschlungenere Perioden mit sorgfältiger Verteilung der Worte. In schönem Gleichmaß gebildet: deshalb gleichmäßige Wahl der Worte durch den ganzen Satz, alle in mittlerer Entfernung von dem Trivialen und von dem Gesuchten. In der Mitte eine sanfte Anhöhe: der Klausel selbst also nicht, wie bei Lessing und Schiller, das eigentliche Kleinod anvertraut, sondern nur die Wiederordnung des erregten Gemüts.
5*
68 Stilistik.
Leiden des jungen Werthers (Weimar. Ausgabe 19, 121): .Man möchte rasend werden. Wilhelm, daß es Menschen geben soll ohne Sinn und Gefühl an dem wenigen, was auf Erden noch einen Wert hat. Du kennst die Nußbäume, unter denen ich bei dem ehrlichen Pfarrer zu St. mit Lotten gesessen, die herrlichen Nußbäume! die mich Gott weiß, immer mit dem größten Seelenvergnügen füllten.'
Ähnlich, nur weniger ausgeprägt, in lehrhafter Prosa:
Zur Farbenlehre. Historischer Teil (ebenda II. Abt., 3, 141): .Plato verhält sich zu der Welt, wie ein seliger Geist, dem es beliebt, einige Zeit auf ihr zu herbergen. Es ist ihm nicht sowohl darum zu tun, sie kennen zu lernen, weil er sie schon voraussetzt als ihr dasjenige, was er mitbringt und was ihr so not tut, freundlich mitzuteilen. Er dringt in die Tiefen, mehr um sie mit seinem Wesen auszufüllen, als um sie zu er- forschen. Er bewegt sich nach der Höhe, mit Sehnsucht, seines Ursprungs wieder teil- haft zu werden. Alles was er äußert, bezieht sich auf ein ewig Ganzes, Gutes, Wahres, Schönes, dessen Forderung er in jedem Busen aufzuregen strebt. Was er sich im ein- zelnen von irdischem Wissen zueignet, schmilzt, ja man kann sagen verdampft in seiner Methode, in seinem Vortrag."
Bei Schiller dramatisch bewegte Vorbereitung auf einen starken Schluß; Aufsteigen, das kurz vor dem Gipfel durch eine Retardation noch in seiner Wirksamkeit gesteigert wird. Dramatisch bewegt: deshalb jeder Satzteil aufsteigend. Vorbereitung auf den Schluß: gleichmäßige Haltung des Wortvorrats, die aber doch das dem Sinn oder Laut nach stärkste Wort aufspart. Aufsteigen: lange Sätze wie große Schritte, nicht allzu viel Inter- punktion, gleichsam nur eben zum Atemholen.
Kabale und Liebe 2. Akt 2. Szene (Qoedekes Ausgabe 3, 393) : .Es traten wohl so etliche vorlaute Bursch vor die Front heraus, und fragten den Obersten, wie teuer der Fürst das Joch Menschen verkaufe? — aber unser gnädigster Landesherr ließ alle Re- gimenter auf dem Paradeplatz aufmarschieren, und die Maulaffen niederschießen. Wir hörten die Büchsen knallen, sahen ihr Gehirn auf das Pflaster spritzen, und die ganze Armee schrie: Juchhe nach Amerika!'
Bei mehr lehrhafter Prosa ähnlich, nur der Schluß leichter abgehoben. In rhetorisch bewegten Partien die kühnsten Verschlingungen zu einem dramatisch wirkenden Aufstieg:
Antrittsrede in Jena (ebenda 9, 88): .Wie viele Schöpfungen der Kunst, wie viele Wunder des Fleißes, welches Licht in allen Feldern des Wissens, seitdem der Mensch in der traurigen Selbstverteidigung seine Kräfte nicht mehr unnütz verzehrt, seitdem es in seine Willkür gestellt worden, sich mit der Not abzufinden, der er nie ganz entfliehen soll, seitdem er das kostbare Vorrecht errungen hat, über seine Fähigkeit frei zu ge- bieten, und dem Ruf seines Genius zu folgen!'
Satzbild:
Die drei ersten Sätzchen gleichsam E.xposition; dann durch zwei Ak-te vorbereitet ein starkes Aufsteigen: „der er nie ganz entfliehen soll' — Abstrakta am Schluß; nochmals ein vierter Akt vorbereitend und ein letztes höheres Steigen zum Gipfel: „dem Ruf seines Genius zu folgen" (ab- straktes Substantiv mit Schleppe).
Sechstes Kapitel. Der Satz in formeller Hinsicht. 69
Bei Nietzsche die harmonische Durchbildung Goethes mit dem starken Schluß Lessings vereint: kunstvolle Perioden, jeder Satzteil mit Abklang; Interpunktion nicht so häufig wie bei Lessing, nicht so sparsam wie bei Schiller; unmerklicher Aufstieg zu einem breiten Aussichtsplateau.
. Morgenröte ■ (Werke 4, 245): .Es waren Fremde, aber sie haben aufgehört, es zu sein, und sie knüpften von beiden Seiten zugleich ihre Freundschaft an, der eine, weil er sich zu sehr verkannt glaubte, der andere, weil er sich zu sehr erkannt glaubte — und beide haben sich dabei getäuscht — denn jeder von ihnen kannte sich selber nicht genug.'
Satzbild:
Exposition — erster Akt in zwei Satzteilchen, zweiter etwas größer, zwei parallele aufsteigende Sätzchen, Abklang, neuer stärker aufsteigender Satz mit Pause zwischen den Gipfelworten; ziemhch gleichmäßiges Niveau: der Aufstieg nicht steil wie bei Schiller.
In mehr lyrischer Prosa ähnlich, aber in kürzeren, vers-ähnlicheren Gebilden:
Zarathustia (Werke 6, 255): .Daß mir niemand in meinen Grund und letzten Willen hinabsehe — dazu erfand ich mir das lange lichte Schweigen.'
Besonders bezeichnend also für Nietzsches Numerus: erstens Inder Periode zwei Höhepunkte: der erste in der Mitte, der andere am Schluß; zweitens die breite ausladende Kadenz mit zwei (oder wie im obigen Bei- spiel gar drei) Hochtonworten.
Dies sind freilich zunächst nur Winke, Andeutungen für genaueres Studium.!)
§ 77. Regeln. Da wir über den Numerus, die eigentliche Kernfrage der Stillehre, noch so wenig wissen, lassen sich Regeln über den Satzbau kaum geben. Versucht hat es der geschickte Empiriker Albalat (L'art d'ecrire S. 139 f.) und ein Jahrhundert vor ihm in einer Fülle einzelner Vorschriften (z. B. über die Behandlung der Relativpronomina u. dgl.) der geistreiche Schotte Blair (Lectures on rhetoric and belles lettres; London, 8 ed., 1801, Bl. 237 f.); aber schließlich wird jede Stilistik wie Raleiohs anregendes Buch (Style S. 124 f.) in das Bekenntnis auslaufen: „Stil kann nicht gelehrt werden. Nachahmung der Meister, oder eines erwählten Meisters, und das beständige Durchsieben der Sprache in strenger Selbstkritik leisten Dienste, und nicht gering zu schätzende; aber Gefahren hat das auch. Der zweite Teil von allem, was „stilistischer Unterricht" heißt, muß immer
M Für solche Analysen findet man wieder Bain, Rhetoric and Composition 1, 55 f.
die beste Anleitung in englisch geschriebenen Weniger geben gerade hierfür deutsche Lehr-
Büchem, vor allem bei Brewster, Studies bücher; zu empfehlen ist noch am ersten
instructureandstjle(New-Yorkl903,S. 188f.l, V'OCKERADT, Das Studium des deutschen
und in den .Suggestion to the teacher' der Stils an stilistischen Musterstücken, Pader-
Anmerkungen bei Sher.>\an. Allgemeiner, born 1899. aber wertvoll sind die Untersuchungen von j
70 Stilistik.
negativ sein; schlechte Gewohnheiten kann man ablegen und schlechte Künste sich verbieten." Mehr läßt sich auch für diese formale Seite des Satzbaus kaum sagen. Man beobachte seine eigene Art und bilde sie aus. Man suche ein gewisses Gleichgewicht der Periodenteile, der „Kommata", zu erreichen, zunächst durch das mehr äußerliche Mittel der Wort- und Silbenzählung, dann durch das feinere des Abwägens der Tonworte. Man lerne an den Meistern das Verhältnis der Klausel zur Periode, den Unter- schied der Gattungen (rein lehrhafte, erzählende, dichterische Prosa u. dgl.). Vor allem: man lese laut, lese sich vor, lese andern vor; und man erfrische an dem Beispiel großer unermüdlicher Arbeiten (wie es für Frankreich Abel, Le labeur de la prose, Paris 1903, vortrefflich illustriert hat) die versagende Ausdauer zu immer reinerer Ausarbeitung der Struktur. Denn wir leben in einer Zeit, in der es auch kleineren Talenten gegönnt sein kann, auf die Entwicklung einer neuen Kunst der Prosa durch gutes Beispiel Einfluß zu gewinnen!
Allgemeine Vorschriften über die „Überschaulichkeit" gibt Wacker- nagel (S. 346 f.), wobei er als äußere Hilfen 1. die Hervorhebung eines einzelnen Gliedes (S. 346), 2. das Ebenmaß des Gliedes (S. 530) hervorhebt.
Siebentes Kapitel. Der Satz in inhaltlicher Hinsicht.
§ 78. Forderungen an den Satz. Der Satz ist, wie SChon ausgeführt, für die Stilistik nichts anderes als: ein an sich vollkommen verständliches Stück menschlicher Rede (vgl. oben § 66). Hieraus lassen sich alle For- derungen für seine inhaltliche Gestaltung ableiten.
Der Satz ist ein an sich verständliches Stück menschlicher Rede: daraus folgt der Begriff der Einheitlichkeit; er wäre kein abgeschlossenes Stück, wenn er nicht eben eins wäre. Ein vollkommen verständliches Stück: daraus folgt der Begriff der Vollständigkeit; er wäre nicht an sich verständlich, wenn außer ihm liegende Hilfen erforderiich wären.
Die erste Forderung bezieht sich auf das Innere des Satzes, auf das Verhältnis seiner Teile; die zweite auf das Äußere, auf sein Verhältnis zu der übrigen Rede. Weitere Forderungen sind an den Satz in inhaltlicher Hinsicht nicht zu stellen.
§ 79. Einheit. Die Forderung der Einheit wird von Baix (1,85, vgl. 112) wie folgt definiert: „Unter Einheit verstehen wir, daß jeder Teil des Satzes einer hauptsächlichen Aussage dienen soll." Diese Forderung ist vorzugsweise auch von den Engländern begründet und ausgeführt worden und Blair (a.a.O. 1, 252) hat den hübschen Ausdruck dafür gefunden: „Im Lauf eines Satzes sollte die Szene so wenig als möglich verändert werden" — ein Gedanke, den Mundt (Kunst der Prosa S. 112 f.) mit Geschick be- nutzt hat.
Siebentes Kapitel. Der Satz in inhaltlicher Hinsicht. 71
In diesem bildlichen Ausdrack ist bereits angedeutet, daß eine ab- solute Einheitlichkeit im Satz selten vorhanden ist. Wie weit sie mög- lich ist, haben Logik und Völkerpsychologie zu entscheiden.') Für uns genügt etwa dies. Der Satz enthält stets, wenn auch in sehr verschiedener Ausprägung, zwei Elemente: eine Wahrnehmung (Anschauung, Gefühl u. s. w.) und einen Wahrnehmenden, ein Prädikat und ein Subjekt. Die Einheit des Satzes besteht darin, daß zwischen diesen beiden eine unmittel- bare Beziehung hergestellt wird. Der eingliedrige Ausruf „Feuer!" be- deutet: „da ist ein Feuer vorhanden, wie ich eben bemerke"; der viel- gliedrige Satz, mit dem Goethe „Dichtung und Wahrheit" einleitet, besagt: „folgender Brief veranlaßte dies Buch". Der kürzeste Satz läßt sich zu einem vielgegliederten ausspinnen — wenn er vollständig ist; der längste sich zu einem kurzen verdichten — wenn er einheitlich ist.
Die Ausdehnung geschieht in der Weise, daß erstens das Subjekt, zweitens das Prädikat, drittens aber auch die Beziehungen zwischen beiden näher beschrieben werden. Wir haben den einfachen Satz: „Teil traf Geßler", Subjekt: „Teil". Wer ist das? „Teil, ein Schweizer Landmann" — allgemeine Bestimmung; „den der Landvogt Geßler schwer gereizt hatte" — spezielle Bestimmung. Was ist Prädikat? traf Geßler, Verb mit Objekt. „Traf" — wo? „auf einem einsamen höchst gefährlichen Alpen- wege". Geßler — wie haben wir uns ihn in dieser Situation vorzustellen? „Geßler, der sein ganzes Gefolge verloren hatte". Nun aber noch — in welchen Beziehungen stand Teil zu Geßler? „Teil, ein Schweizer Land- mann, den der Landvogt Geßler schwer gereizt hatte, indem er seine Will- kürherrschaft weitum fühlbar machte, traf auf einem höchst gefährlichen Alpenwege den gefürchteten Tyrannen, der sein ganzes Gefolge verloren hatte, und der nicht ohne Schrecken den wegen seiner Kraft und Tapfer- keit berühmten Bauern auf sich zukommen sah." Ich gebe das nicht etwa als einen Mustersatz — im Gegenteil! — , sondern nur als Beispiel, wie in einem an Aussagen reichen Satz immer noch die Einheit gewahrt sein kann.
Die Einheit hört aber auf, sobald Aussagen eintreten, die weder auf das Subjekt in seiner Beziehung zu diesem Prädikat noch auf das Prädikat in seiner Beziehung zu diesem Subjekt noch. auf beider Be- ziehung selbst gehen.
Nehmen wir bloß an, es trete ein überflüssiges Adjektiv hinzu. „Teil, ein auffallend schöner Schweizer — ". Was aber hat die Schönheit mit der Situation zu schaffen? Immerhin — sie mag der Anschaulichkeit der Begegnung dienen; zumal wenn die abschreckende Physiognomie des Land- vogts ebenfalls geschildert wird. Aber „Teil, ein in häuslicher Arbeit ge- wandter Mann, dem die Axt im Haus den Zimmermann ersparte — " was hat das mit dieser Szene zu schaffen? Nichts: es zerstört die Einheit, wie
') Vgl. WUNDT, Völkerpsychologie I, 2, 309 f.
72 Stujstik.
wenn plötzlich bei dem Apfelschuß Attinghausen über die Bühne schritte. Ebenso beim Prädikat; etwa „a/z einem heißen Tage", wenn die Jahreszeit mit der Sachlage gar nichts zu tun hat.
Ein Beispiel unglücklicher Zerstörung der Einheit gibt ein berüch- tigter Satz DüNTZERS („Lessings Leben" S. 644):
Es war am 15. Februar abends um 9 Uhr, als der große Geist in dem westlichen Eckzimmer des ersten Stockes des Hauses am Agidienmarkt 12 (die beiden von Lessing bewohnten Zimmer sind jetzt zu einem vereinigt) aus der zerrütteten Hülle schied.
Die Parenthese dient nicht etwa der Anschaulichkeit — wie eine An- gabe z. B. der Beleuchtung, des Umfanges, der Ausstattung jenes Zimmers hätte tun können — sondern zerstört sie. Die späteren, an sich höchst gleichgültigen Schicksale des Zimmers, noch dazu nicht von diesem allein, sondern von ihm und einem andern Zimmer ausgesagt, gehören in die Mitteilung von Lessings Tod weder in rein historischer Hinsicht noch (dies vor allem!) in Hinsicht auf die Stimmung. Dagegen könnte man wohl sagen: „in dem Zimmer, das seitdem unserm Volke ein Wallfahrtsort ge- worden ist" ; wenn nämlich dies wahr wäre.
§ 80. Parataxe und Hypotaxe. Die Syntax unterscheidet einfache und zusammengesetzte Sätze; kunstvollere Verbindungen mehrerer Sätze nennen wir Perioden. Über die vielfältige Art dieser Gebilde hat wieder die Syntax zu unterrichten. Vom stilistischen Standpunkt aus ist nur zu sagen, daß die sprachliche Entwicklung selbst Zeugnis ablegt gegen die puristische Forderung absoluter Einheitlichkeit im Satz.
An sich ist eine Notwendigkeit für die Zusammenlegung mehrerer Sätze nicht zuzugeben. Es ist durchaus möglich, den gesamten Inhalt von Dantes Göttlicher Komödie oder von Rankes Weltgeschichte in lauter einfachen Sätzen zu geben; und die einfachste älteste Erzählung schreitet auch wirklich so fort.*)
Wenn aber jede wirkliche Literatur von der einfachen Koordination der Aussagen zur Subordination, von der Parataxe zur Hypotaxe, von der An- häufung einfacher Sätze zur Bildung kunstvoller Perioden fortsch reitet, *) so ist das mit der (allerdings bedeutenden) Zeitersparnis allein nicht erklärt Die künstlerische Freude an der Beherrschung des Sprachstoffs tut sich kund, dieselbe Lust am Bezwingen, Ordnen, Aufbauen, die aus vielen ein- räumigen Hütten große zimmerreiche Paläste schuf und aus kleinen Formel- verschen dogmatischen oder liturgischen Inhalts umfangreiche Religions- und Weltweisheitssysteme. Daß diese durchaus berechtigte Lust gerade jetzt wieder in vollerer Entwicklung begriffen ist, hoben wir schon hervor. Ein Satz, der auf einmal eine Fülle an Anschauung in strenger Konzen-
') Vgl. \'0N' DEN Steinen, Unter den =) \'gl. Delbrück, X'ergleichende Sj-ntax
Naturvölkern Zentral-Brasiliens, Berlin 1894, der indogermanischen Sprachen, Straßburg
S. 62 f., Jacobowski, Primitive Erzählungs- 1900, 3, 416 f. kunst, .Gesellschaft" XV (1899), erstes Juliheft.
Siebentes Kapitel. Der Satz in inhaltlicher Hinsicht. 73
tration auf zwei Punkte und die sie verbindende Linie bringt, ist aber nicht nur eine ästhetische, sondern zugleich auch eine logische Freude. Beides hat vor allem bei den Franzosen, neuerdings aber auch bei uns die Blüte des Aphorismus verursacht. Mit inniger „Spieifreude" schreibt Goethe (Mai 1796) an Schiller: „die schöne Übung in Distichen wird uns, wie ich hoffe, endlich dahin führen, daß wir uns in einzelnen Hexametern bedeutend ausdrückend Die Konzentration eines bewegten Inhalts in einen Satz, einen Vers ist an sich ein Vergnügen. Aber freilich — der Charakter der Einheitlichkeit, der zwingenden Herrschaft über den Stoff muß gewahrt bleiben.
§ 81. Störungen der Einheitlichkeit. Die Einheitlichkeit kann nun in mehrfacher Weise verletzt werden. Wie wir sahen, genügt dazu ein über- flüssiges Epitheton. Aber aus solchen Störungen der Einheit entstehen auch drei Figuren, die unter Umständen gerechtfertigt sind. Liegt die Verletzung im Innern, so haben wir die Parenthese; am Schluß: die Ellipse; Inder Verbindung des Rumpfes mit dem Schluß: das Anakoluth.
§82. Parenthese. Die Parenthese (Wackernagel S. 348, Gerber 1,595) ist ein natürliches Überbleibsel aus der ältesten Zeit eigentlicher Satzbil- dung. Jeder Satz ist ja an sich etwas Zusammengesetztes, jene wenigen streng eingliedrigen Ausrufe wie „Feuer!'' „Hilfe!'' „Wer?" ausgenommen; und diese Zusammensetzung ist zunächst noch locker. Die homerische Sprache (und ebenso die unseres Ulfila) kennt noch die sogenannte Tmesis, d. h. die Trennung der „unlösbaren" Verbalpräfixe von ihrem Verb: zu galaubjan (unserm „glauben") wird die Frage „ga-u-laubfats?" „glaubt ihr nicht?" gebildet, indem zwischen das Präfix ga- und das Verb die Frage- partikel tritt. Ebenso sprengt die Parenthese die Satzeinheit; nur daß sie für die natürliche Rede bis auf den heutigen Tag erlaubt bleibt. Ich gehe mit meinem Freund spazieren und beginne, ihm von einem Dritten zu er- zählen: „Karl — " Da fällt mir ein: er weiß gar nicht, wer das ist; und unbedenklich schiebe ich das ein: „Karl — ja so! du kennst ihn ja gar nicht! also: unser neuer Stubenbursche — brachte neulich einen Neufund- länder ins Haus."
Immer also setzt die Klammer eine gewisse Lässigkeit des Ausdrucks voraus. Soll die Einheit des Satzes streng gewahrt bleiben, so wandelt man sie irgendwie um. Wir sahen schon, daß jedes Attribut eigentlich eine verkleidete Parenthese ist. „Es ist eine alte Geschichte" , d. h. „es ist eine — schon oft beobachtete — ". Stilistisch berechtigt bleibt die Parenthese in drei Fällen:
1 . wo eine gewisse Ungelenkheit des Sprechenden geschildert werden soll , wie in dem ständigen „sagt der Patriarch" des Bruders Bonafides dersich immer wieder auf die höhere Autontät'für seinen ungern geleisteten Dienst beruft;
2. wo umgekehrt in besonders gewandter Weise die eigentliche Haupt- sache so recht unmerklich vorgebracht werden soll; etwa in der Polemik:
74 Stilistik.
„mein Gegner behauptet — was, nebenbei gesagt, eine kecke Erfindung ist — , ich hätte — ";
3. wo die Rede gewissermaßen einen Dialog darstellt. Das gilt be- sonders für die wichtigste Form der Parenthese: die wissenschaftliche. Sie ist eine in den Satz gezogene Anmerkung und über ihren Ursprung wird deshalb gleich noch zu sprechen sein. Der Vortragende nun, der etwa ein Zitat diktiert, gibt für einen Augenblick seine Rolle auf: er ist jetzt nicht mehr der Ludwig Uhland, der ein großes Bild der Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter vorführt, sondern (Schriften 1, 29) dessen Famulus, der auf die Frage, wo denn diese Stelle in W. Grimms „Helden- sage" stehe, antwortet: „S. 336". Oder er wird sein eigner Interpret, der zu einem auffallenden Ausdruck einen Kommentar gibt. Diese Ablösung, die freilich als solche gar nicht empfunden wird, kann der Darstellung sogar einen eigenen Reiz geben. So in dem berühmten ersten Satz der „Wahl- verwandtschaften" :
Eduard — so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter — Eduard hatte
Der Erzähler trennt sich von einem Berichterstatter. Eduard — aber Ihr wißt ja gar nicht, wer das ist! nun, so will ich euch gestehen: ich nenne den Mann so, von dem ich die folgenden Erlebnisse zu berichten habe.
Eine zu häufige Anwendung der Parenthese zeneißt aber wirklich die Einheit. Nur die gänzlich formelhaften Einschübe — „sprach er", „wie man weiß'', „wie man wohl wird annehmen müssen" — sind unbegrenzt zulässig. Sie wiegen einfach nur als Partikeln: „wie man weiß" = „bekanntlich".
§ 83. Ellipse. „Bei der Ellipse läßt man der Kürze wegen das minder Wichtige und Unbedeutende fort, weil es sich von selbst versteht, und weil man vielleicht sogar im Augenblicke deutlicher spricht, wenn man unter- drückt, was nichts zur Sache tut; oder man läßt es fort aus leidenschaft- licher Bewegung des Gemütes, in der man es übersieht: die Ellipse läßt also den bedeutsamen Vorstellungen zuliebe die unbedeutenden fort und spricht nur jene aus" (Wackernagel S. 412). Der erste Teil dieser Erklä- rung begeht den gewöhnlichen Fehler der älteren Stilistiken, eine unwill- kürliche Erscheinung als beabsichtigte Kunst aufzufassen. Lebhaftigkeit, die bei Nebensachen nicht verweilen will, ist vielmehr die Ursache der „Kürze" in beiden von Wackcrnagel getrennten Fällen.
Die neuere Syntax hat treffend festgestellt, daß in den meisten „ellip- tischen Sätzen" überhaupt keine „Ellipse", kein Weglassen vorhegt.') „Zu den Waffen!" ist nicht durch ein „laßt uns eilen" u.dgl. zu ergänzen: der Rufende sieht eben im Augenblick nichts vor sich als den Weg, den er zu den Waffen zurücklegen muß; „eilen", „stürzen", „laufen" — das ist alles nicht zu ergänzen, weil eben all das in seiner Vorstellung fehlt, die nur ein Ziel sieht und die Art der Erreichung ganz außer acht läßt.
») Vgl. Delbrück, Vergleichende Synta.x, a. a. O. S. 73 f.. Wunderlich, Satzbau S. 2f.
Siebentes Kapitel. Der Satz in inhaltucher Hinsicht. 75
Wo aber nun solche Sätze inmitten „vollständiger" Satzgefüge stehen, da wirken sie allerdings unvollständig. So in Schillers „Räubern" (IV 5; Wackernaqel a. a. O.): „Wer mir Bürge wäre? — es ist alles so finster — verworrene Labyrinthe — kein Ausgang — kein leitendes Gestirn — wenn's aus wäre mit diesem letzten Odemzug — ". Unter den fertig aus- gedrückten Sätzen stechen die Ausrufe „verworrene Labyrinthe" , „kein Aus- gang" durch die größere Lebhaftigkeit hervor, wie an Skulpturen Rodins noch der unbehauene Stein zu sehen ist. Wo nun, wie hier, das ganze Gefüge einen leidenschaftlichen Charakter trägt, ist diese Steigerung berech- tigt, diese Formlosigkeit so entschuldigt wie das andere Extrem : die streng rhythmische Wortordnung. In andern Fällen liegt eine Lässigkeit vor, die Skizzen und Vorarbeiten wohl, nicht aber ausgearbeiteten Prosastücken zusteht.
§84. Aposiopese. Die Aposiopese sucht Wackernagel (a.a. O. S. 412) der Ellipse als etwas „ganz anderes" gegenüberzustellen: sie verschweige gerade das Wichtige und spreche nur das Untergeordnete aus: sie breche den Satz gerade da ab, wo erst die Hauptsache kommen soll. Ist das richtig? Der berühmteste Fall ist Poseidons „Quos egol" (Virgil, Aeneis 1, 139): „Wartet — ich will euch!" Die angedrohte Bestrafung ist doch wohl die Hauptsache? Nein; die Hauptsache ist auch hier das Ausgespro- chene. Poseidon will den Unruhstiftern etwas antun — darauf allein kommt es an; was, wird sich finden. Daß die Aposiopese die Einbildungskraft mehr beschäftigt, als jede Ellipse, kann ich nicht zugeben. Wenn der Handwerksbursch im 17. Jahrhundert den Notruf ausstößt: „Auf ihn! er ist von Ulm:", so kann ich mir ebenso viel Bewegungen des Losstürzens, Zuspringens, Anpackens vorstellen, wie bei Poseidons Drohung des Schia- gens, Werfens, Fesseins u. s. w. Der wirkliche Unterschied ist vielmehr ein rein formaler: die Aposiopese ist diejenige Form der Ellipse, bei der eine absolute syntaktische Unvollständigkeit vorhanden ist, während bei andern Ellipsen eine solche nur relativ im Vergleich mit ausgebildeteren Satzgefügen besteht. Man scheint einen „vollständigen Satz" aussprechen zu wollen, findet aber schon auf halbem Wege den eigentlichen Inhalt genügend ausgedrückt. Zu „ergänzen" ist auch hier nur für die Pedanterie Raum, die ja auch Vergils Halbverse zu ganzen Hexametern ausdichtete.
Der Unterschied beider Formen ist ein sprachhistorischer. Die gewöhn- liche Ellipse ist ein „Überlebsel" aus der ältesten unmittelbarsten Art des Ausdrucks; die Aposiopese setzt abgerundete Verbindungen von Subjekt und Prädikat voraus. Jene wird oft berechtigt sein, wo ein starker Ein- druck unvermittelte Wiedergabe fordert; diese wirkt leicht gezwungen und beruht sehr oft bei unsern altern Dichtern auch wirklich nur auf Nach- ahmung eines bei Vergil in der Situation begründeten Eftekls.
Eine nur scheinbare Aposiopese entsteht, wenn aus Gründen des Anstands oder der politischen Vorsicht ein Satz nicht zu Ende gedruckt.
76 Stilistik.
oder auch wirklich nicht zu Ende gesprochen wird, wie etwa bei Goethe in Götzens Antwort an den l<aiserlichen Parlamentär. Hier soll ein ganz bestimmtes Wort wirklich „ergänzt", d. h. von dem Hörer innerlich ge- sprochen werden; es handelt sich also nicht um das Überwiegen allgemei- nerer Vorstellungen über spezielle, sondern lediglich um Ersetzung eines Wortes durch eine Chiffre.
§ 85. Anakoluth. Eine gewisse Enttäuschung oder doch Täuschung des Hörers haben die echte und die scheinbare Aposiopese gemein. Immer- hin fehlt nur etwas, worauf wir uns schon eingerichtet haben; insofern fallen beide, wie der „ Formelbruch ", unter die allgemeinere Rubrik der Aprosdokese, der Täuschung unserer Erwartung. Eine solche findet aber auch statt, wenn statt der erwarteten Konstruktion eine andere eintritt. Diese grammatische, formelle Aprosdokese nennen wir Anakoluthie, ihr Produkt ein Anakoluth (Wackernagel S. 420). Solcher Konstruktionswechsel ist lebhaften Naturen wie Goethe') sehr häufig. Eigentlich gehören auch schon solche Kongruenzstörungen wie die Constructio kata synesin (siehe oben § 61) hierher; doch pflegt man nur solche Fälle so zu nennen, in denen ein ganzer Satzteil eine unerwartete Wendung nimmt, besonders etwa ein Hauptsatz als Nebensatz konstruiert wird oder umgekehrt. Wo von zwei möglichen Konstruktionen eine nur ungewöhnlich ist, sprechen wir noch nicht von Anakoluthie, z. B. in Schillers „Braut von Messina":
Hält' ich dich früher so gerecht erkannt — Es wäre vieles ungeschehn geblieben.
(Erdmann, Syntax I § 207). Die eigentlichen Anakoluthe haben wieder ein begrenztes Recht in lebhafter Rede, wo Eindrücke und Ausdrucksformen sich drängen und verdrängen.*)
Die Menschen, die das Licht nicht sehn in meinem Herzen — Der Ernst im Angesicht war Störung ihren Scherzen.
(Rückert, Weisheit des Brahmanen.)
Wie Gerber treffend bemerkt, gebraucht Goethe die Anakoluthie gern, „um sich aus schleppender Konstruktion zu befreien", z. B.:
Ich habe gefunden, sagte Serlo, daß, so leicht man der Menschen Imagination in Bewegung setzen kann, so gerne sie sich Märchen erzählen lassen, eben so selten ist eine Art von produktiver Einbildungskraft bei ihnen zu finden.
Rein formell betrachtet, setzt sich ein Anakoluth aus einer Ellipse („Ich habe gefunden, daß — ") und einem selbständigen Satz {^eben so selten ist") oder wenigstens einem vollständigen Nebensatz zusammen.
Man muß aber in der Anwendung vorsichtig sein, da unser pedantisch erzogenes Sprachgefühl schon die Ellipse, viel mehr aber noch diese Stei- gerung der Ellipse mit Unbehagen bemerkt. Etwas anderes ist es natür- lich, wenn dadurch, daß der Sprechende beständig „aus der Konstruktion
') J. Minor, Goethes Fragmente vom als akademischer Lehrer S. 96; Beispiele bei ewigen Juden S. 162. GERBER, Sprache als Kunst, 581 f.
-) Vgl. M. Haupt bei Belger, Haupt
Siebentes Kapitel. Der Satz in inhaltlicher Hinsicht. 77
fällt", seine unlogisch-gemütvolle Art gekennzeichnet werden soll, wie etwa
bei der Mutter in „Hermann und Dorothea".')
Eine gelehrte Spielerei ist dagegen das intermittierende Anakoluth,
bei dem die anders fortgebildete Periode am Schluß wieder aufgenommen
wird (vgl. Wackernagel a. a. O. S. 421).
Wie der wandernde Mann, der vor dem Sinken der Sonne Sie noch einmal ins Auge, die schnell verschwindende, faßte. Dann im dunkeln Gebüsch und an der Seite des Felsens Schweben sieliet ihr Bild: wohin er die Blicke nur wendet. Eilet es vor und glänzt und schwankt in herrlichen Farben: So bewegte vor Hermann die liebliche Bildung des Mädchens Sanft sich vorbei und schien dem Pfad ins Getreide zu folgen.
(„Hermann und Dorothea" 7, 1 f.)
Hier liegt, wie oft bei der Aposiopese, eine Nachahmung der Antike, nämlich der Homerischen Gleichnisse vor, bei denen die Einführungspartikel „wie wenn" über der Lebhaftigkeit des angeschauten Gleichnisses vergessen wird: es stehen dann Hauptsätze statt der Nebensätze (Ilias 11, 113 f. Voß): So wie ein Leu der Hündin noch unbehilfliche Kinder Leicht nacheinander zermalmt, mit mächtigen Zähnen sie fassend. Wann er im Lager sie traf, und ihr blühendes Leben entreißet, m. Jene, wie nahe sie ist, vermag nicht ihnen zu helfen.
Denn ihr selbst erbeben vor schrecklicher Angst die Gebeine: Eilenden Laufs fortstürmt sie, durch dichtes Geländ' und durch Waldung, Rastlos, triefend von Schweiß, vor der Wut des mächtigen Raubtiers: Also könnt' itzt keiner des troischen Volks vom Verderben Jene befrein.
Mit „jene, wie nahe sie ist" tritt Hauptsatz an Stelle des von dem ersten „wie" abhängigen Nebensatzes, gerade wie wenn in lebhafter Er- zählung indirekte Rede durch direkte verdrängt wird.
§ 86. Störungen der Vollständigkeit. Die Störungen der Einheit werden im allgemeinen nur von dem schärfer Zublickenden peinlich empfunden. Viel allgemeiner verletzen die Störungen der Vollständigkeit.
Der schlimmste Fall ist der der Undeutlichkeit: daß nämlich der Satz ohne verdeutlichende Zusätze nicht vollkommen verständlich oder aber zu verständlich, nämlich mehrdeutig ist.
§ 87. Mehrdeutigkeit. Mehrdeutigkeit kann auf nicTit genügend gewählter Wortwahl beruhen; dann haben wir Amphibolie (siehe oben § 31); oder auf unglücklicher Satzfügung. Wenn Faust in der „Hexen- küche" beim Anblick des Zauberbildes im Spiegel ruft:
Beim Himmel! ist das Weib so schön? so ist nicht ohne weiteres verständlich, wie das gemeint ist: ob „das Weib, das ich im Spiegel erschaue" oder (wie hier wirklich zu verstehen ist) „das Weib überhaupt": ist es möglich, daß. das Weib so schön sein kann. Oder Uhland sagt in der „Bidassoabrücke" von dem spanischen Freiheitsmann Mina:
>) Gerber S. 581.
78 Stilistik.
Seine Hand, zur Brust gehalten. Hemmt nicht mehr des Blutes Lauf: Auf der Bidassoabrücke Brachen alte Wunden auf.
Die beiden ersten Verse lassen zweierlei Auslegung zu. Entweder: Mina hält die Hand zur Brust, kann aber das Blut nicht mehr zurück- halten; oder aber: seine Hand hält das Blut nicht mehr zurück, weil er sie nicht mehr zur Brust hält. Überhaupt entstehen durch die Negation be- sonders leicht Zweideutigkeiten. So auch bei einzelnen Worten von ganz oder teilweise negierendem Charakter: „er erhielt selten gute Zeugnisse'" kann heißen : selten ereignete es sich, daß er gute Zeugnisse erhielt, oder auch (weniger gut) er erhielt (immer) Zeugnisse von ungewöhnlicher Güte. — So bei Negation selbst bei Goethe, der besonders beim Infinitiv gern die Satznegation zu einem einzelnen Wort so zieht, daß der Sinn entstellt wird:')
Ich ging im Walde
So für mich hin.
Und nichts zu suchen
War mein Sinn —
Wo natürlich nicht gemeint ist: ich gab mir alle Mühe, um nichts zu suchen, sondern: mein Sinn war nicht darauf gerichtet, etwas zu suchen. Oder wir stoßen in einer gelehrten Abhandlung auf den Satz: „ja der Inhalt der Sage ist eigentlich überhaupt nie berechtigte Gegenwart'.'^) Heißt das: er ist nie — berechtigte Gegenwart, oder aber (was nahezu das Gegenteil wäre) er ist — nie berechtigte Gegenwart? (Es ist ein ähnlicher Fall wie bei den etymologisch zweideutigen Kompositionen: „himmelan- strebend" u. dgl.) Besonders häufig ist die Mehrdeutigkeit in lässiger All- tagsrede: „Er zog dem Schneider seinen Rock an" bedeutet schriftsprachlich nur die Bekleidung des Schneiders, vulgär aber auch die Bekleidung mit einem dem Schneider gehörenden Rock.
§ 88. Undeutlichkeit. In solchen Fällen also muß immer eine außer- halb des Satzes stehende Verdeutlichung, Erwägung, Vergleichung zu Hilfe genommen werden, ehe man sich über die beabsichtigte Meinung klar wird. In andern Beispielen ist dies nötig, um überhaupt ein Verständnis zu er- möglichen.
Undeutlichkeit^) wird in neueren Sprachen oft durch die Zerstörung der Flexion hervorgerufen. So hat sich Nietzsche über den Vers Arndts lustig gemacht:
So weit die deutsche Zunge klingt Und Gott im Himmel Lieder singt,
weil er sich unter dem singenden Himmelsgott nichts vorstellen konnte — während doch „Gott" hier als Dativ gemeint ist (vgl. R. Hildebr.a.nd, Ges.
') BOHNER, Zeitschrift für deutsche Wort- München 1906, Beck, S. 18. forschung, Beiheft zu Bd. VI S. 191. ') Vgl. Bain 1, 242 f.
■-) Panzer, Märchen, Sage und Dichtung,
Siebentes Kapitel. Der Satz in inhaltlicher Hinsicht. 79
Aufsätze und Vorträge S. 153). — Übrigens schließt auch die vollste Entwick- lung der flexivischen Formen Undeutlichkeit oder Mehrdeutigkeit nicht aus. So hat der französische Komponist Berlioz sich den Spaß gemacht, die berühmte Inschrift des Leipziger Gewandhauses Res severa est verum gaiidium („wahre Freude ist ein ernstes Ding") zu übersetzen: „C'est uti vrai plaisir qu'une chose serieuse!" ')
§ 89. Anmerkung. Der Mehrdeutigkeit oder Undeutlichkeit kann nun durch ein Mittel abgeholfen werden, das allerdings über die Einheit des Satzes schon herausgreift, scheinbar sie aber doch noch respektiert: die Anmerkung. Die Anmerkung ist ein selbständiger Satz, der aber an einem andern Satze dergestalt befestigt ist, daß er diesem einverleibt scheint. Daß diese Einverleibung eben nur eine äußerliche ist, geht schon aus der Notwendigkeit äußerer, typographischer Befestigungsmittel hervor: an einem einzelnen Worte des Textsatzes oder an seinem Schluß (je nachdem, ob sich die Anmerkung auf einen Teil des Satzes oder den ganzen Satz be- ziehen soll) wird eine Zahl, ein Sternchen oder dergleichen angebracht und auf dies Symbol antwortet das gleiche Zeichen unter oder hinter dem Text. Bei den Alten vertrat die Randnotiz die Stelle der Anmerkung.^)
Die Anmerkung ist in ihrer rechten Ausbildung eine spezifische Eigentümlichkeit der wissenschaftlichen Prosa. Für ihren historischen und psychologischen Ursprung erinnern wir zunächst an das eben über die Parenthese Bemerkte. Die Parenthese ist die Verdichtung und wirkliche Einverleibung einer kurzen Anmerkung; aber „kurz" und „lang" sind für das Wesen der Anmerkung sehr wesentliche Verschiedenheiten.
Die wissenschaftliche Anmerkung entspringt aus der eigentümlichen Form des (besonders „akademischen") Unterrichts, die im Altertum und Mittelalter herrschte. Zugrunde gelegt ward ein kanonisches Lehrbuch, etwa die Poetik des Aristoteles oder die Summa theologiae des Thomas von Aquino. Nun liest der Professor Satz für Satz vor, und die Zuhörer — die ja noch keine vervielfältigten Exemplare in Händen haben — schreiben nach. Sodann gibt er seine eigenen Erläuterungen, die bald den ganzen Satz besprechen, Einwendungen erheben oder abwehren u. s. w., bald ein einzelnes Kunstwort erklären. Dies schreiben die Zuhörer eben- falls nach, heben aber durch irgend ein Zeichen die feste Masse der un- beweglichen Autorität und die beweglich sie umspielenden der wechselnden
') Auch die berühmte „logische Schärfe" i gesprochenen Sätze: heißt es in der Bibel:
der lat. Sprache (vgl. überhaupt Skutsch, , Widersteht nicht dem Bösen" oder „durch
DieKullur der Gegenwart, Leipzig 1906, 1, VIII Böses?" (ebenda S. 69); heißt es: „Selig sind
S. 425) schließt also Zweideutigkeiten nicht 1 die Armen im Geiste" oder „Selig im Geiste
aus. Ist in ,Scribendi rede sapere est et I sind die Armen?"
principium est fons' rede aui scribendi oder 1 -) Vgl. U. VON Wilamowitz, Die grie-
aufsfl/Jt'rt' zu beziehen? (Zielinski, Die An- i chische Literatur des Altertums, in der „Kultur
tike und wir S. 50.) Ebenso unsicher ist das der Gegenwart" I, VIII S. 34.
Verständnis der wichtigsten griechisch aus- |
80 Stilistik.
Auslegungen voneinander ab (wobei freilich oft genug Verschiebungen im Text eintreten). So entsteht die Anmerkung.
Sie ist also vor allem erklärender Natur. Sie muß deshalb zu dem Text in engster Beziehung stehen; nachträgliche Einfälle unter der Maske von Anmerkungen einzuschmuggeln, ist ein Mißbrauch. Sie darf ferner nicht solche Ausdehnung gewinnen, daß der Zusammenhang des Textes — der immer die Hauptsache bleibt — verloren geht. Überschreitet sie dies Maß — das man rein äußerlich dahin normieren kann, daß die Anmerkung über die Textseite nicht herausgehen soll — , so tut man besser, die Anmerkung in einen Exkurs zu verwandeln.
§ 90. Exkurs. Ein Exkurs ist eine selbständig gewordene Anmerkung, eine von dem Mutterland ausgeschickte Kolonie. Eine engere Beziehung zu bestimmten Partien des Textes pflegt man (mit Recht) auch dem Ex- kurs noch durch eine Verweisung zu wahren: „siehe den Exkurs S ",
„vgl. S /.". Der Exkurs läßt den Text in seinem Zusammenhang,
erschwert dafür aber freilich auch das Verständnis seiner eigenen Aus- führungen, die ja doch auf dem speziellen Mutterboden gerade eben dieser im Zusammenhang stehenden Textpartie erwachsen sind.
Für Anmerkung und Exkurs hat insbesondere die klassische Philologie eine feste Tradition geschaffen, deren Beispiel besonders seit Carl Lach- mann und Moriz Haupt (die klassische und deutsche Philologen zugleich waren) die deutsche Philologie (wie andere Nachbarwissenschaften) gefolgt sind. Die Hauptsache liegt im Begriff dieser Formen selbst: die Anmerkung muß unbedingt, der Exkurs bis zu einem gewissen Grad dienend ver- bleiben. (Ob der Exkurs zu einem einzelnen Satz oder zu einem größeren Abschnitt, etwa einem ganzen Kapitel gehört, macht keinen Unterschied.) Es sollen also hier weder neue Begriffe und Gedanken noch neue Tat- sachen eingeführt werden; lediglich eine Erläuterung oder (höchstens!) Vertiefung des im Text Gegebenen ist gestattet. Was darüber heraus- geht, ist vom Standpunkte der Anmerkung „Untreue wider den eignen Herrn".
Eine Häufung dieser wissenschaftlichen Zutaten ist nur bei Disser- tationen, wo möglichst viel Kenntnisse vorgebracht werden sollen, berech- tigt. Die üble Angewohnheit, den Text ganz unter Anmerkungen zu er- drücken, war bei früheren Gelehrten historisch aus der Art ihres wissen- schaftlichen Betriebs, psychologisch aus eben dieser Sucht, mit einer von allen Seiten herbeigeholten Belesenheit zu prunken, entschuldigt; heut ist sie es nicht mehr. Wenn man etwa mit den Anmerkungen und After- anmerkungen in Bayles großem, höchst verdienstlichen „Dictionnaire historique et critiqiie" (Anmerkungen am Rande; Anmerkungen unter dem Text, die wieder ihre Anmerkungen am Rande haben) die Kunst vergleicht, mit der ein so unendlich gelehrtes und erschöpfend eindringendes Werk wie Justis „Winckelinann" fast alle Anmerkungen zu „vertilgen", im Te.xt
Siebentes Kapitel. Der Satz in inhaltlicher Hinsicht. 81
aufzuzehren versteht, so übersieht man ein gut Stück Evolution der wissen- schaftlichen Darstellungstechnik mit einem Blick.
Aus den gelehrten Werken ist die Anmerkung auch in die „schön- wissenschaftlichen" gedrungen. Oft hat sie da noch ihren ursprünglichen Charakter, wie in den Belegen historischer Romane; heut empfinden wir in diesen Nachweisen zu Scheffels „Ekkehard" eine störende Pedanterie, in den Zwischenrufen „Historisch l'' u. dgl. bei den Romanen Gregor Samarows eine häßliche Reklame. — Andere Anmerkungen sind ebenfalls den ge- lehrten nachgebildet, haben es aber doch zu einem eigenen Stil gebracht: so die humoristischen Anmerkungen und Exkurse bei Sterne, Jean Paul und ihren Nachfolgern, die ebenfalls als ein fortlaufender Kommentar zum Text aufzufassen sind; oder die kritischen in den Dichtungen einiger Ro- mantiker, die eine Mittelstellung zwischen gelehrter und humoristischer An- merkung einnehmen. Dem Auge der Modernen erscheint schon rein äußerlich die typographische Verletzung der Seitenränder als ein Schönheitsfehler. ')
§ 91. Nachtrag. Eine Anmerkung zu dem ganzen Text nennen wir bei Briefen Postskriptum, sonst Nachtrag. Solche Nachreden sind nicht immer zu vermeiden, weil sich im Lauf einer größeren Untersuchung neue Tatsachen einstellen, oder wenigstens Tatsachen neu zu unserer Kenntnis kommen mögen; was sich auch schon bei einem längeren Brief ereignen kann. Wo es angeht, ist ein solcher nachschleppender Anhang bei Abhandlung und Buch zu vermeiden, wogegen das weibliche Post- skriptum einen gewissen psychologischen Reiz hat, wie ein Abschiedskuß vor der Haustür. Hier gilt fast allein, was die Stilistik von der Aposiopese mit Unrecht behauptet, daß im Text die Hauptsache fehlt, die sich aber dann nachträglich doch noch zudrängt!
Der Nachtrag kann sich natürlich auch auf einen einzelnen Satz be- ziehen, den er etwa zurücknimmt, weil er inzwischen widerlegt sei. Jeden- falls hat er seine Wurzel in der Forderung der Vollständigkeit und wir haben ihn deshalb der Anmerkung und dem Exkurs gleich angeschlossen, obwohl sein eigentlicher Platz in der Lehre von der Disposition ist.
§ 92. Interpunktion. Anmerkung, Exkurs, Nachtrag opfern der Voll- ständigkeit die Einheit, wie die Ellipse der Einheit die Vollständigkeit opfert. In all diesen Fällen finden wir typographische Hilfsmittel im Gebrauch: Verweise, Gedankenstriche sollen die Einheit oder die Vollstän- digkeit herstellen.
Solche Zeichen zur Veranschaulichung der Satzverhältnisse gibt es aber auch im normalen Satz: es sind die Interpunktionszeichen. 2) Von den
') Ausführlich über die Lehre von den 1 ^) Vgl. allgemein A. Bieling, Das Prinzip
Zitaten und Noten J. Bernays, Kleine Schrif- I der deutschen Interpunktion nebst einer über-
ten 4, 322 f., vgl. De Quincey, Writings ed. sichtlichen Darstellung ihrer Geschichte, S. 80,
by D. Massen, Edinburgh 1890, S. 165 f., ^ P. Cauer, Von deutscher Spracherziehung,
Philippi, Kunst der Rede S. 158. Berlin 1906, S. 162 f.
Handbuch des deutschen Unterrichts. Bd. III, Teil I. 6
82 Stilistik.
ältesten Zeiten her hat man das Bedürfnis gefühlt, mindestens die Einheit des Satzes durch eine Grenzmarke abzustecken : der Keil der danach benannten „Keilschrift", der Punkt, den wir von der klassischen Antike übernahmen, bedeutet das Ende eines Satzes, so daß zwischen zwei solchen Grenzpfählen immer ein einheitliches Ganzes steht. Weitere Zeichen pflegen weder die Inschriften noch die Inkunabeln, wohl aber fast stets die Handschriften an- zuwenden. Zuerst kommt (bei Ulfila) der Doppelpunkt, das Kolon, um größere Abschnitte herauszuheben; seit Alcuin unter Karl dem Großen eine einheitliche Reichsgrammatik anstrebt, kommt das Ausrufungszeichen hinzu. Sehr alt, aber vereinzelt sind die Anführungszeichen. Seit der Humanismus eine neue Technik des Lesens ausbildete, besitzen wir unsere drei Gliederungszeichen: Komma, Kolon, Punkt (Bieling a. a. O. S. 16 f.). Der Grammatiker Valentin Ickelsamer setzt 1531 fest: der Periodus (vollständige Satz), die Kola (Satzglieder) und die Kommata (deren Teile) sind zu scheiden. Dem entsprechend setzt sich allmählich der Gebrauch fest: nach Periodus Punkt; nach Kolon Doppelpunkt; nach Komma „vir- gula": die beiden letzten Zeichen werden dann nach den Abschnitten be- nannt, deren Fahne sie tragen.
Neben diesen Pausenzeichen stehen zwei Tonzeichen, die aber nur an Stellen möglich sind, wo auch Pausenzeichen (vorzugsweise der Punkt) stehen könnten: das Frage- und das Ausrufungszeichen (vgl. Bieling a. a. O. S. 59). Die gute Einrichtung, beide schon vor dem Satz zu zeichnen, der die Intonation der Frage oder des Ausrufs erhalten soll, haben wir leider nicht (wie allein die Spanier) von der alten longobardischen Interpunktion übernommen.
Außerdem hat sich in neuerer Zeit eine feinere Architektonik des Satzes die Doppelung des mittelstarken Pausenzeichen zunutze gemacht. Wir pflegen Kolon und Semikolon dadurch zu scheiden, daß wir das letztere Zeichen lediglich zur Andeutung einer mittleren Pause, das erste dagegen gleichzeitig mit einer gewissen Toneigenheit verwenden: der Doppelpunkt, der sonst zur Ankündigung direkter Rede benutzt wird, erhäh die Stimme in einer gewissen Höhe, während sie sonst am Schluß des Satzgliedes sinkt. Lessing interpungiert eine schon einmal angezogene Stelle (Anti- Goeze V; Schriften 13, 107): ,,Nun, wenn sie nicht hören wollen: so mögen sie fühlen". Der Doppelpunkt erregt Erw-artung; das folgende Sätzchen wirkt nun wie eine unmittelbare Eröffnung. Ein Komma würde die Ab- hängigkeit des Nachsatzes schärfer hervorheben; ein Semikolon wäre hier freilich nicht zulässig.
Schon dies Beispiel zeigt, daß die Interpunktion in weiten Grenzen subjektivem Ermessen überlassen bleibt. Sie hat viele Moden durch- gemacht, unter anderm bei jeder jungen, sich genialisch fühlenden Gene- ration das Hinsäen von Gedankenstrichen für oft nicht völlig ausgegorene Gedanken; oder im Kreise Stephan Georges die Rückkehr zu monu-
Siebentes Kapitel. Der Satz in inhaltlicher Hinsicht. 83
mentaler Unterdrückung aller kleineren Zeichen, wodurch immerhin auf übersichtliche Gliederung ein wohltätiger Zwang ausgeübt wird. Goethe, der seine Gedichte immer gesprochen im Ohr hatte, kümmerte sich wenig um die Interpunktion der geschriebenen und gedruckten Werke; Lessing dagegen hat eine sehr persönliche Interpunktion.') Für die Romantiker ist die Häufung der Kommata so bezeichnend-) wie für ihre Vorgänger in Stimmungsschwelgerei, die Mystiker und Pietisten; Nietzsche dagegen liebt das Kolon.
Diese individuelle Bedeutung der Interpunktion ist die wichtigste; denn fast allein ist dies Gebiet noch frei vom Zwang pedantisch uniformie- render Vorschriften. Unter Umständen kann aber die Wahl der Zeichen für das Verständnis von größter Wichtigkeit sein. Goethe dichtet einen tiefsinnigen Spruch:
Willst du ins Unendliche schreiten.
Geh nur im Endlichen nach allen Seiten.
Der Philosoph Lotze bemerkt, auf diese Weise komme man nie ins Unendliche, und macht allen Ernstes die Konjektur: Willst du ins Unendliche schreiten? Geh nur im Endlichen nach allen Seiten!
Womit der Sinn glücklich ins Gegenteil verkehrt ist. 3) Andere hübsche Beispiele von Umkehr des Sinns durch „Verbesserung" der Interpunktion gibt Wackernagel (Kl. Sehr. 1, 407), z. B. folgendes:
Paul Gerhardt selber sagt: .Menschliches Wesen, was ist's gewesen?' Aber Knapp interpungiert: „Menschliches Wesen, was ist's? — gewesen!"
§ 93. Typographische Hilfsmittel. Die Interpunktionszeichen dienen aber auch der Vollständigkeit. Denn der auf dem Papier stehende Satz ist erst ein Buchdrama, ein Libretto; zu seinem vollen Wesen gehört die Gliederung, die Tonverteilung, das Heben und Senken der Stimme — alles Dinge, die durch Punkt und Komma, Frage- und Ausrufungszeichen, Klam- mer und Anführungszeichen, Gedankenstrich und Gedankenpunkte ange- deutet werden. In diesem Sinn vervollständigen auch andere typo- graphische Mittel den Satz: der Sperrdruck oder als sein unerfreulicher Komparativ der Fettdruck lenken den Blick auf die wichtigsten Worte oder Satzteile (oder Sätze); das Absetzen nach einem Satzende vergrößert die Pause. — Man wird gut tun, diese Mittel sparsam anzuwenden, nicht bloß, weil ihre Verschwendung (wie etwa in den Briefen König Friedrich Wil- helms IV. das Unterstreichen) den Eindruck abstumpft, auch nicht bloß, weil es häßlich aussieht, sondern vor allem, weil es von Mißtrauen in die eigene Technik zeugt, sobald man (wie z. B. Robert Hamerling in seinen philosophischen Epen) fortwährend zu diesen äußeren Hilfen seine Zuflucht nehmen muß.
>) D. F. Strauss, Der Papierreisende, Berlin 1905, S. 358 u. f. Gesammelte Schriften 2, 367. ') Zur Sache vgl. von Loeper in seiner
^) Vgl. Fehlke, Bettinas Briefromane, | Ausgabe von Goethes Gedichten 3, 7.
6*
84 Stiustik.
Achtes Kapitel. Arten des Satzes.
§ 94. Arten des Satzes. Was wir in den beiden vorigen Kapiteln aus- geführt haben, gilt für den abstrakten „Satz", für jede Art des Satzes. Für die Stilistik hat natürlich aber auch die Satzart eine große Bedeutung. An diese wurden wir schon herangeführt, als wir Tonzeichen wie ? und ! zu erwähnen hatten: daß sie für . oder ; oder : eintreten, beweist schon für spezifische Arten des Satzes.
Die Sprache ist nach ihrem Ursprung und Zweck 1. unwillkürlicher Reflex auf eine erregende Erscheinung, 2. willkürliche Mitteilung. Es er- geben sich, je nachdem ob diese Arten rein oder vermischt vorliegen, drei Formen: a) rein monologisch, b) Übersetzung aus der Reflexbewegung in die Mitteilung, c) von vornherein für die Mitteilung bestimmt. Wir haben hiernach folgende Satzarten :
a) rein monologische Reflexionsäußerungen: Ausrufe im weitesten Sinn des Wortes.
b) Übersetzung aus der Reflexbewegung in die Mitteilung: eigent- liche Aussage, d. h. Übermittlung einer erregenden Tatsache an einen Zweiten.
c) Von vornherein beabsichtigte Mitteilung, Anrede: a) Aufforderung zu einer Aussage: Frage,
ß) Aufforderung zu einer Handlung: Heischesatz.
Im ganzen entsprechen diese vier Typen den vier indogermanischen „Modis": dem Ausruf der Optativ, dem Aussagesatz der Indikativ, der Aufforderung der Imperativ; doch nimmt die Frage sowohl den Indikativ als den Konjunktiv, und der Konjunktiv hat auch an der -Aufforderung teil.
§ 95. Satz- und Stilarten. Jede dieser Satzarten hat nun bestimmte, in ihrem Wesen begründete Eigenheiten. Die äußeren, über die wieder die Syntax zu unterrichten hat, sind nur das Abbild der inneren.
Jede von ihnen vertritt auch eine eigene Form der Prosa: dem Aus- ruf erwuchs, wie die lyrische Poesie, so auch die lyrisch bewegte, poetische Prosa der Meditationen, Gebete (so weit sie nicht aus Heischesätzen be- stehen) u. s. w.; der Aussage die berichtende, der Frage die untersuchende Prosa (Erzählung — wissenschaftliche Prosa); dem Imperativ die gesamte Beredsamkeit.
§ 96. Ausruf. Formale Eigenheiten der Ausrufsätze sind: die Nei- gung zur „Formlosigkeit", zum möglichsten Erschöpfen des gesamten Wort- oder Vorstellungsinhalts; aufsteigender und danach absinkender Rhjihmus, gern durch einen (aus einer Interjektion u. dgl. bestehenden) Auftakt eröffnet.
Dem entsprechen die inhaltlichen Eigenheiten. Ausrufsätze begegnen in zwei Haupttypen:
Achtes Kapitel. Arten des Satzes. 85
1. innerhalb des Textes als wirklicher Ausruf erregter Personen: „O Himmel!'" „Was seh ich!" „Schon sieben und mein Karl nicht da!"
2. außerhalb des Textes als Überschrift und Ankündigung, Buch- oder Kapiteltitel.
Jene eingliedrigen Ausrufe, die erst von der neueren Syntax als voll- ständige Sätze anerkannt worden sind, haben wir schon als Überbleibsel urältesten Sprachgebrauchs angesprochen. Es drängt sich dem Redenden eine Vorstellung in ihrer ganzen Fülle auf; er will den gesamten Inhalt des Wortes „Feuer!" nicht durch eine nähere Begrenzung einengen. Das Wort, das sonst durch das Verb auf einen bestimmten Gesichtswinkel fest- gelegt wird, soll mit seiner gesamten Körperlichkeit (wenn man so sagen darf) wirken. Unpassend ist es daher, in unmittelbare Nähe eines solchen vollen Ausrufs eine steif gedrechselte Periode zu bringen, wie z. B. der Rationalist Paulus in seiner Anzeige von J. H. Voss' Tod:
Voß ist nicht mehr unter uns, er kann die frohen Stunden nicht mehr wieder- holen, wo er. seinem höchst verehrten Fürsten und Wohltäter Glück und Heil anzu- wünschen, jene durch das Gemüt gestärkte Kraft in sich gefühlt.
(Görres, \'oß' Totenfeier S. 18.)
Hier steht der Ausruf immerhin in runder Satzform: „Voss ist nicht mehr unter uns!"; denken wir uns dafür den Schreckensruf: „Voss tot!", so würde die Abgeschmacktheit der darauf folgenden steifen Wendung noch unerträglicher. (Näheres über den Ausruf bei Bain, Stilistik 1, 220 f.)
Die Überschriften und Titel sind nichts anders als solche Ausrufe in erstarrter Form. Der Zeitungsverkäufer, der ausschreit: „Neuestes Extra- blatt!" oder „Großer Sieg der Japaner!" gibt eine Überschrift; der Ver- fasser eines höchst gelehrten Werkes „Phänomenologie des sittlichen Be- wußtseins" oder Leopold v. Ranke mit irgend einer Kapitelüberschrift ruft den Inhalt eines Buches oder Abschnitts aus. Diese Natur des Aus- rufs muß respektiert werden. Titel und Ankündigungen müssen „gerufen" werden können, müssen sich bequem zitieren lassen. Je wirksamer, desto besser. Daher sind reimende oder alliterierende Titel mit Recht beliebt, wie etwa der geistreiche Name eines Buches über das heutige Rom: „Torso und Corso" — der Torso des Herkules vertritt die Kunstsammlungen, der Corso, die Hauptstraße Roms, das öffentliche Leben, und so gibt dieser Titel in eindringlicher Form Einheit und Vollständigkeit zugleich. Nur darf freilich der Ehrenhold auch nicht gar zu laut schreien: wir wollen für das Stück noch etwas Spannung behalten; also nicht zu pedantisch genaue Titel; und Reklame schreckt ab, also nicht zu „schreiende" Ankündigungen: „Ganz neue, auf die besten Quellen gestützte Anleitung — ". — Aber ebensowenig dürfen die Ankündiger stottern und lispeln wie jene unmög- lichen Buchtitel: „Warum geht dieser Mißklang durch die Welt?" (Roman von Ossip Schubin; vgl. meine Deutsche Literaturgeschichte des 19. Jahr- hunderts S. 729) oder gar bei einer wissenschaftlichen Untersuchung der
86 Stilistik.
Titel einer Schrift von Daumer: „Kaspar Hauser. sein Wesen, seine Un- schuld, seine Erduldungen und sein Ursprung in neuer gründlicher Er- örterung und Nachweisung.'' Dergleichen erweckt gleich Verdacht, wie man denn jenes Buch „verworren und verwaschen wie sein Titel" (Allgemeine Deutsche Biographie 11,91) genannt hat.
§ 97. Aussage. Die Aussagesätze bilden bei weitem die größte Masse wie der menschlichen Rede so auch der in Schrift und Druck fixierten Prosa. Die Novelle und der Roman, das Märchen und der Schwank, die Geschichtsdarstellung und die Naturbeschreibung bewegen sich so gut wie ausschließlich in solchen Mitteilungssätzen. Sie können natürlich bei leb- hafterer Färbung in den Ausruf wieder zurückfallen, aus dem sie erwachsen sind; ein Geschichtschreiber Roms mag, wie die Römer selbst nach Cannae, rufen: „Hannibal ad portas!"" „Hannibal vor den Toren''; aber das bleibt Ausnahme wie die Einmischung von Frage und Befehl.
Die formalen Eigenheiten des Aussagesatzes fließen aus seiner Haupt- pflicht: möglichste Klarheit ist für eine zureichende Übermittlung erregender Tatsachen erste Bedingung. Einfachheit und Genauigkeit kommen ihr zu Hilfe. Der Aussagesatz hält sich daher gern ruhig; wie der Ausruf dem Numerus Schillers, liegt die Aussage dem Goethes zugrunde. Grund- form: Allmähliches Aufsteigen und Absinken; Mittelstellung des beim Aus- ruf (wenn es dort überhaupt angewandt wird) vorangestellten Verbums. Satzbild ^- — ^ gegen Ausruf —"^x , Frage ""~~-~..
Was über den Satz im allgemeinen zu sagen ist, gilt vorzugsweise für den normalen Satz: den Aussagesatz. Bei ihm vor allem tut die Voll- ständigkeit Not, die beim Ausruf durch Intensität eines Eindrucks ersetzt werden kann, und bei der Frage zuweilen fehlt, weil eine Antwort voraus- gesetzt wird. (Ebenso aber auch bei der Antwort, weil die Frage seine Bedingung ist: der Antwortsatz ist freilich ein Aussagesatz, aber durch die Frage in seiner Eigenheit beeinflußt.)
§ 98. Zusammengesetzter Satz. Der Aussagesatz ist auch der Hauptfall des zusammengesetzten Satzes. Dieser kommt zustande, indem die Frage oder der Einwurf des Zweiten vorausgenommen und der hierauf antwortende Satz mit der Aussage verschmolzen wird:
a) proleptische Antwort auf eine Frage
u) sie richtet sich auf den ganzen Satz:
aa) wann? temporale Nebensätze. Jch werde — sobald ich", — oder „nachdem ich — " oder „noch ehe ich — ".
(iß) wie? allerlei Konjunktionalsätze. „Ich will — indem ich'' — oder „dadurch daß ich" u. s. w.
}'}') warum? kausale Nebensätze. „Ich muß — , weil ich . .", oder „da ich" — .
(5(5) wozu? finale Nebensätze. „Ich soll. — damit ich" — oder „um zu — "
Achtes Kapitel. Arten des Satzes. 87
ß) sie richtet sich auf einen einzelnen Satzteil:
ee) Relativsatz mit demonstrativem Korrelat:
.Der König will diesen Becher einem seiner Mannen schenken?" Welchem? .Er will ihn demjenigen schenken, der ihn aus dem Strudel heraufbringt.'
b) proleptische Antwort auf einen Einwurf:
a) auf Zweifel an der Möglichkeit, an der Ausführbarlieit: konditional. „Ich tue dies unter der Voraussetzung, daß'', oder: „wenn — ".
(i) auf Bedenken an der Zulässigkeit, der Rätlichkeit, konzessiv. „Ich lasse dies, obwohl'' — oder „wenn ich auch".
Die Nuancen der zusammengesetzten Aussagesätze werden noch deut- licher durch hinzutretende Adverbia ausgearbeitet: „weil ich leider" — oder „erfreulicherweise"; „wenn ich dennoch — ".
§ 99. Frage. Anredesätze fordern zu einer JVlitteilung oder einer Handlung, einer verbalen oder realen „Tat" auf.
Die Fragesätze wollen eine Mitteilung hervorrufen. Ihre formale Eigenheit liegt in der eigentümlichen Tonlage, dem starken Abfall des Tons von oben her. Anfangstellung des Verbs; Vermeidung des Auftakts. (Wir sprechen immer nur von den normalen Formen.)
Der Fragesatz muß scharf und bestimmt wie ein Pfeil auf ein be- stimmtes Ziel losgehen. Er berührt sich deshalb mit dem Ausruf: auch bei ihm kann von der Vollständigkeit dispensiert werden. „Wer da?", eine gerufene Frage: das Bedürfnis nach Auskunft drängt sich gebieterisch auf die Lippen. (Näheres über das Wesen der Frage bei Bain 1, 215 f.)
Der Fragesatz wird oft durch den (vorhergehenden oder) folgenden Satz vervollständigt. „Du hast mich beleidigt!" „Wodurch?" Die Frage schließt jene Aussage ein: „Wodurch habe ich dich beleidigt?" Oder es geschehen ganz allgemein gehaltene Fragen: „Was ist geschehen?", eine Anfrage, deren scheinbar bodenlose Allgemeinheit erst durch die Antwort eingeschränkt wird: „Die Mohikaner haben unsere Hütten verbrannt".
Der Fragesatz gehört also besonders eng in die Struktur des ganzen Abschnitts herein und muß sorgfältig eingefügt und klar formuliert werden, damit eine genaue Antwort möglich ist.
§ 100. Symbolische Sätze. Der Dialog mit Frage und- Antwort gibt auch den Hauptfall der bloß symbolischen Sätze. Diese sind nicht mit den sogenannten elliptischen Sätzen zu verwechseln, die (s. o. § 83 — 84) an sich vollständig, nur formell nicht abgerundet sind. Die symbolischen Sätze dagegen sind der einzige Fall, in dem unsere Definition versagt, daß der Satz ein an sich vollkohimen verständliches Stück menschlicher Rede sei. Zwar trifft dies auch bei ihnen zu, wenn man sie im Zusammenhang be- trachtet, nicht aber, wenn man sie herauslöst. „Oh!" oder „ah!" haben an sich einen verständlichen Inhalt, „ja", „nein", „keineswegs", „aller- dings" sind leer. Wir müssen sie symbolisch deuten, um diesen Partikeln Inhalt zu geben. **
88 Stilistik.
Die Konjunktionen dienen der Satzverbindung (s. u. Kap. IX). Unter ihnen kann man zwei Gruppen unterscheiden: 1. solche, die die Sätze zweier Sprecher, 2. solche, die die Sätze eines Redners verbinden. Zur Überleitung aus der Rede des einen in die des andern dienen die Be- jahungs- und Verneinungspartikeln, ferner die (im Germanischen fehlenden) Fragepartikeln. Natürlich können diese Konjunktionen auch da angewandt werden, wo der eine Redner sich gleichsam in zwei Personen spaltet, sich selbst befragt und antwortet. (Vgl. allgemein Wunderlich, Satzbau, 1. Aufl., S. 201 f.)
Die Bejahungs- und Verneinungspartikeln sind in allen neueren Spra- chen zur Abkürzung des Dialogs geschaffen, während z. B. lateinisch noch der ganze Satz oder sein Hauptwort wiederholt werden muß. (Allenfalls dient ita zur alleinigen Bejahung, non ita zur Verneinung.)
„Ja" dient zur anerkennenden Aufnahme eines Satzes; es ist gleich- sam das Signum, durch das der Angesprochene den Vorschlag, den Be- richt, die Meinung des Erstredenden ratifiziert. Es wird deshalb auch gern verstärkt: „Ja gewiß", „ja freilich", oder auch durch diese Verstärksparti- keln ersetzt: „Freilich!" „allerdings!".
„Nein" dient zur Verweigerung der Anerkennung: der Inhalt der Frage, die Forderung, die Bitte werden abgelehnt. Auch „nein" wird gern verstärkt, namentlich in der Volksrede durch substantivische Ausdrücke (Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik § 313), oder höflich umkleidet und mit Stimmungsworten umgeben: „leider nein". — Über die Negation als solche hat wieder die Syntax zu handeln (Delbrück a. a. O. 2, 519 f.). Anzumerken ist nur, daß die früher gestattete mehrfache Negation (mittel- hochdeutsch: Paul § 312; volkstümlich: BiNZ, Zur Syntax der Baselstädter Mundart, Stuttgart 1858, S. 26 f.) durch die schulmeisterliche Pedanterie des Sprachunterrichts seit dem 17. Jahrhundert verboten ist: „da beißt keine Maus keinen Faden ab"; vgl. R. Hildebrand, Gesammelte Aufsätze und Vorträge S. 214 f.).
„Ja" und „nein" und ihre Äquivalente sind also symbolische Sätze: sie deuten den gesamten Inhalt des von einem anderen gesprochenen Satzes etwa unverändert oder in Umkehr an. Immerhin bleibt eine gewisse Leerheit in diesen Worten und sie sollen deshalb nicht zu oft verwandt werden, oder aber mit großem Nachdruck.
Auch dadurch können symbolische Sätze zustande kommen, daß ein Teil der Rede aufgenommen wird, wie so oft im Dialog. Etwa in Geibels
hübschem Schulgedicht:
.Doch der andern Etwelche könnten — ". .Könnten?' fiel er ein. Gleich sehr empört als Rektor und Grammatikus,
wo wir den symbolischen Satz neben dem abgebrochenen haben. „Könnten' vertritt hier den Satz, an dessen Verbalform der Schulmann Anstoß nimmt.
Neuntes Kapitel. Die Satzverbindung in formeller Hinsicht. 89
Solche symbolischen Sätze und Sätzchen, verkürzte Wiederholungen eines Redestückes, an das man anknüpft, sind in der lebhaften Wechselrede un- gemein häufig; sie greifen natürlich dasjenige Wort auf, das näher be- handelt werden soll, und die Rede des andern wird gleichsam eine an diesem Worte befestigte Anmerkung.
§ 101. Heischesätze. Die Aufforderung zu einer Handlung, der Heische- satz, besitzt die formale Eigenheit der Kürze, hat eine starke Tendenz, zum Schluß aufzusteigen, und liebt die Anfangs- oder Mittelstellung des Verbs. Der Heischesatz wird von Europens übertünchter Höflichkeit gern durch Umschreibungen gemildert, aber auch besonders im Drama oft in seiner ganzen Strenge herausgekehrt; übrigens nimmt er immer nur einen geringen Raum des Textes ein.
Neuntes Kapitel.
Die Satzverbindung in formeller Hinsicht.
§ 102. Arten der Satzverbindung. Ein isolierter Satz kommt fast nur in der Theorie vor. In Wirklichkeit steht so gut wie ausnahmslos jeder Satz in Verbindung mit andern. Diese Verbindung hat drei Stufen der Intimität:
1. die Sätze sind auf zwei Redner verteilt (oder beliebig viel Redner: es kommt ja nur darauf an, daß nach A irgend ein B spricht),
2. die Sätze folgen sich in der Rede einer Person,
3. die Sätze sind zu einem zusammengesetzten Satz verschlungen.
Zwischen den Sätzen zweier Unterredner ist die Verbindung am lose- sten; sie kann auch durch bloße Kontinuität ersetzt werden. Wenn z. B. mehrere Boten hintereinander je einen Bericht überbringen, können diese Rapporte ohne jeden Bezug nebeneinander stehen. Im allgemeinen liebt es jedoch jede kunstvollere Prosa, irgend eine Beziehung herzustellen; der zweite sagt etwa: „Mehr Glück hatte ich", der dritte: „auch ich traf den Feldherrn nicht mehr an" u. dgl. — Am engsten ist die Verbindung der- jenigen Sätze, die in ein einheitliches System verschlungen sind. Ihre Zusammengehörigkeit wird schon dadurch gekennzeichnet, daß der eine — der „Hauptsatz" — regiert, wie im zusammengesetzten Wort ein Teil den Hauptton hat. Es gibt also immer nur einen Hauptsatz, dagegen theo- retisch eine unbegrenzte Zahl von Nebensätzen.
Eine prinzipielle Verschiedenheit zwischen der Verbindung im Satze oder in der längeren Rede ist nicht vorhanden. (Kiesel, Stilistik S. 152 f. gebraucht den Ausdruck „Satzverbindung" lediglich für die Satzzusammen- setzung.) Zuweilen steht es auch in der Willkür des Hörers, ob er die Sätze in eine oder mehrere Perioden ordnen will. Uhlands Verse
Wir sind nicht mehr beim ersten Glas,
Drum denken wir gern an dies und das.
Was rauschet und was brauset lassen sich auch mit einem Punkt nach dem ersten Vers lesen.
90 Stilistik.
§ 103. Normale Satzverbindung. Das Hauptmittel nun, um Sätze zu verbinden, sind, wie schon bemerkt, die (eben danach benannten) Kon- junktionen. Sie dienen zur Verdeutlichung der von den Sätzen gebildeten Linien und Winkel: eine kopulative Konjunktion (wie „und", „auch") deutet an, daß die verbundenen Sätze parallel laufen, eine adversative {„aber", „doch"), daß sie nach entgegengesetzter Richtung streben u. s. w. Über die Anwendung im einzelnen unterrichtet wieder die Syntax.
§ 104. Asyndeton. Stilistisch zu bemerken sind jedoch die Fälle, in denen Konjunktionen gespart oder verschwendet werden. Den ersten Fall nennt man Asyndeton (Bernhardi, Sprachlehre S. 112; Wackernagel S. 409). Vorzugsweise bezeichnet man mit diesem Ausdruck das Fehlen des kopulativen „und", doch dehnt man (Wackernagel S. 411) ihn mit Recht auf alle Fälle aus, in denen in auffälliger Weise ein oder (in der Regel) mehrere Bindeworte fehlen.
Die psychologische Wurzel der Asyndeta liegt in der Hast, die un- verbunden hervorsprudelt, was wir uns sonst die Zeit nehmen aneinander- zubinden. So bei Klopstock (Messias 10, 1048) in freilich schon zu ab- sichtlicher Häufung:
Er rufte mit lechzender Zunge: Mich dürstet!
Ruft's, trank, darstete, bebte, ward bleicher, betete, rufte:
Vater, in deine Hände befehl ich meine Seele —
Kein Asyndeton liegt vor, wenn die gewöhnlichen Bindemittel durch andere ersetzt werden, z. B. durch den Parallelismus (s. u. § 127), wie in dem ebenfalls von Wackernagel angeführten „Abschied vom Leser"
Schillers:
Der Lenz erwacht: auf den erwärmten Triften Schießt frohes Leben fugendlich empor . . . Der Lenz entflieht: die Blume schießt in Samen Und keine bleibt von allen, welche kamen.
„Die gewöhnliche Ausdrucksweise", sagt er, „würde hier einen kon- ditionalen Nebensatz gebildet haben: ,Wenn der Lenz' u. s. w." Es kommt aber nicht darauf an, was die gewöhnliche Ausdrucksweise tun würde, son- dern lediglich darauf, welchen Eindruck wir von der gewählten Form em- pfangen. Nun bindet der Parallelismus die zwei ersten und die zwei zweiten Sätze augenfällig aneinander: das post hoc wird als propter hoc empfunden und also keine Lücke gefühlt.
§ 105. Polysyndeton. Das Gegenstück zum Asyndeton, der im eigent- lichsten Sinn „ungebundenen Rede" bildet das Polysyndeton, das „Viel- verbundene" (Bernhardi S. 113). Die merkbare Häufung der Bindeworte macht hier auf die Häufung der parallelen Sätze oder sinnverwandten Worte aufmerksam. Im übrigen ist die Verschiedenheit der beiden Figuren keines- wegs so groß, wie die der Symmetrie frohe Stilistik meint. „Das Asyn- deton", sagt Wackernagel (S. 413) „gibt eine progressive Folge von Mo- menten; das Polysyndeton macht die einzelnen Momente einander gleich-
Neuntes Kapitel. Die Satzverbindung in formeller Hinsicht. 91
zeitig". Das trifft manchmal zu, ebenso oft aber aucfi nicht. Nathan
erzähh:
Geweint? Beiher mit Gott wohl auch gerechtet,
Gezürnt, getobt, mich und die Welt verwünscht :
Der Christenheit den unversöhnlichsten
Haß zugeschworen — (Vers 670 f., Akt IV, 7.)
Sollen nicht all diese asyndetischen Zustände als gleichzeitig, als un- entwirrbar verbunden dargestellt werden? Und wenn das Märchen vom Krautesel (Brüder Grimm 2, 180) schließt: „Da ward er anderes Sinnes und sprach „ — ". Und da ward Hochzeit gehalten, und sie lebten ver- gnügt miteinander — ". Leitet da nicht jedes „Und" einen zeitlich fol- genden Moment ein?
Das Wesentliche ist eben in beiden Figuren: 1. die Häufung, 2. der Mangel einer durchgreifenden Verbindung. Weniger auffällig würde die rasche Folge der Zustände oder Handlungen — deren Schnelligkeit zu einem unentwirrbaren Neben- und Durcheinander führen kann, wie bei Nathans Bericht — , wenn eine regelrechte Verbindung einträte: „Da ward er andern Sinnes und sprach — So konnten sie nun Hochzeit halten" — . Ob die rasch hintereinander auf den Tisch gezählten Worte und Hand- lungen durch Pausen getrennt sind, oder ob ein immer wiederholtes „und" zwischen ihnen steht, das hier doch eigentlich nur eine artikulierte Pause ist — in der symbolischen Nachbildung einer schnellen Folge der Wirk- lichkeit durch eine schnelle Folge der Erzählung macht das gar keinen Unterschied.
Im übrigen sind beide Figuren beliebte Begleiterscheinungen der Häufung (vgl. § 46) und haben oft einen künstlichen Charakter wie bei Klopstock. Weil sie aber leicht zu erkennen sind, spielen sie in den Lehrbüchern eine weit größere Rolle als viel wichtigere und interessantere Figuren.')
§ 106. Bindung durch betonte Worte. Anaphora. Konjunktionen sind aber nicht die einzigen Worte, durch die Sätze verbunden werden können. Viel- mehr kann durch die Art der Behandlung ein jedes an bevorzugter Stelle stehendes Wort zum Bindewort werden. Es entsteht so eine ganze Reihe von Figuren, die alle mit antiken Kunstworten gesegnet, aber von sehr ungleicher Bedeutung sind.^)
Die bei weitem wichtigste dieser Figuren ist die Anaphora oder Anapher: dasselbe Wort oder dieselbe Wortgruppe kehrt am Anfang meh- rerer aufeinander folgender Sätze oder Satzglieder wieder (Wackernagel S. 429). Daher der Name „Anaphora'' „Ziirückführiing": das Wort, das enteilen will, weil es seine Schuldigkeit bereits getan hat, wird nochmals an dieselbe Stelle zurückgeführt.
') Vgl. Bain 1, 231. I Kunst 11, 1, 195 f. mit vielen Beispielen.
'■') Allgemein vgl. Gerber, Sprache als
92 Stilistik.
Die Anapher ist ein uraltes Bindemittel besonders auch der altgerma- nischen Dichtung, ') die sogar, vielleicht schon in urgermanischer Zeit, eine feste strophische Form, den „anaphorischen Dreizeiler" ^) entwickelt hat:
Es stirbt das Vieh, es stirbt der Freund, es stirbt auch selbst der Mensch.
(Hävamäl Str. 75. 76.)
Kleine Variationen im Wortlaut (wie in diesem uralten Vers, wo die Singular- und Pluralform wechselt) sind gestattet, solange die wesentliche Gleichheit der Anlautworte merkbar bleibt.
Man kann die Anapher als eine Form der Häufung auffassen, indem z.B. zu demselben Prädikat die Subjekte gehäuft werden: es stirbt — Ver- mögen, Freund, der Mensch selbst. So ist der anaphorische Dreizeiler ja auch wirklich ein Gegenbild zur Priamel. Indessen liegt doch bei der Häu- fung auf dem Verschiedenartigen, bei der Anapher (und den verwandten Figuren) auf dem Gleichbleibenden der Ton. Ein bestimmter Eindruck erfaßt mich so mächtig, daß ich ihn auf verschiedene Träger zu verteilen suche; er kehrt immer wieder wie ein Echo. Oft hat die Anapher auch eine ganz bestimmte kulturhistorische Grundlage. Es ist kein Zufall, daß besonders häufig Gruß- und Abschiedsformeln anaphorisch auftreten, in der Edda, bei den Minnesängern, in Schillers Spaziergang.
Sei mir gegrüßt, mein Berg, mit dem rötlich strahlenden Gipfel! Sei mir, Sonne, gegrüßt, die ihn so lieblich bescheint!
Das hat, genau wie die sogenannte epische Wiederholung (die wört- liche Wiederkehr von Botschaften u. dgl.), seinen Grund in den historischen Verhältnissen : der Heimkehrende hat jeden Bewohner des Hauses, der Ab- reisende jeden Begleiter besonders zu grüßen und wer keinen vollen Gruß erhält, ist schwer gekränkt. Noch wichtiger ist die gleiche Anrede bei dem Gebet zu mehreren Göttern oder bei der Bitte an mehrere versam- melte Fürsten u. dgl.
Die Anapher ist eine sehr wirksame Figur und wird von Schrift- stellern, die ein lebhaftes Temperament mit einer logischen Disposition vereinigen, wie Kleist oder Grillparzer, bevorzugt. Sie wird in der Poesie durch gleichlautende Verse, in der Prosa durch die Ansprache an verschiedene gefördert. Sie verbindet sich gern (s. u.) mit andern Figuren, so auch mit der Gradation oder Steigerung wie in dem zitierten Spruch der Edda.
Zu fordern ist, daß die Anapher auf einem betonten Wort ruhe. Wenn verschiedene Sätze oder Sätzchen mit einem tonlosen Personalpronomen oder einer proklitischen Konjunktion beginnen, so hat das ganz andere Wirkung; sonst wäre ja jedes Polysyndeton zugleich eine Anaphora. Natür- lich aber kann jedes Wort unter Umständen taugen: „Wir haben es ge- plant, wir haben es eingeleitet, wir wollen es vollbringen!"
') Vgl. meine Altgermanische Poesie 1 *) Ebendaselbst S. 316.
S. 315 f., 506.
Neuntes Kapitel. Die Satzverbindung in for^'^ieller Hinsicht. 93
Die Anaphora ist ein Lieblingsmittel insbesondere auch der Be- redsamkeit, weil sie aufstachelnd wirkt wie ein Alarmsignal. Ein Wort kann genügen: „Das ist kein Machtspruch von der Gewalt diktiert, kein Schibboleth der Parteien, keine Phrase politischer Kannegießer" (K. Braun in Flathes Deutschen Reden 1, 208). Noch häufiger aber wird in einem ganzen Sätzchen auf eine Hauptsache hingewiesen:
Sie sind hierher gekommen, um dieses zerstückelte Deutschland in ein Ganzes zu verwandeln; Sie sind hierher gekommen, um den durchlöcherten Rechtsboden in einen wirklichen, in einen starken zu verwandeln [zugleich Epiphora s. u.J; Sie sind hierher gekommen, bekleidet mit der Allmacht des Vertrauens der Nation, um das .einzig und allein- zu tun. (Robert Blum, 20. Juni 1848, a. a. O. S. 312.)
Die gewöhnliche Zahl der anaphorisch verbundenen Glieder ist überall die Dreizahl: groß genug, um empfunden zu werden, nicht groß genug, um zu ermüden. Gelegentlich natürlich kann eine größere Zahl wirksam eintreten, doch bedarf es dann weiterer Hilfsmittel.
Je näher die gleichen Anlaute aneinander rücken, desto mehr fallen sie ins Ohr; unmittelbar natürlich können sie sich nicht folgen, da sie dann aufhören würden, Anlaute ganzer Sätze oder Sätzchen zu sein. Bei Versen ist wohl nur dann eine Anapher wirksam, wenn sie spätestens beim dritten Verse eintritt. Allerdings beginnt z. B. Walt her von der Vogelweide (Wackernagel a. a. O.) in einem Lied (Lachaunn 124, 1) jede Strophe mit ,owe'; aber das wirkt bloß noch als Responsion, nicht mehr als Anapher. Immerhin kann solche Strophen-Anaphora beim Gesang durch besondere Hilfsmittel der Modulation zu stärkerem Eindruck gefördert werden ; in der Prosa gehen die weit voneinander abstehenden Signalstangen dem Blick verloren.
§ 107. Epiphora. Steht das betonte Wort umgekehrt am Ende des Satzes oder Satzgliedes, so erhalten wir die Epiphora, die „Zugabe", bei der nachträglich immer das Gleiche herbeigebracht wird. Sie ist jünger, kunstmäßiger und weniger wirkungsvoll als die Anapher (weshalb auch die Abkürzung „Epipher" nicht zulässig ist). Aber in feierlich symboli- sierender Rede begegnet sie überall. ') Das allgemeine Verhältnis zwischen Anaphora und Epiphora ist das zwischen Stabreim und Endreim.
Rein äußerlich könnte man die Entstehung der Epiphora zu der der Anaphora in Gegensatz bringen: dort würde ein starker Eindruck auf ver- schiedene Faktoren verteilt, hier brächten verschiedene Faktoren immer wieder denselben Eindruck. In Wirklichkeit liegt doch wohl hier ganz dieselbe Erscheinung vor wie dort und nur die Anordnung ist aus rheto- risch-psychologischen Gründen geändert. Wackernagel führt das be- rühmte Beispiel aus dem „Don Carlos" an (I 2):
Ich sah auf dich und weinte nicht. Der Schmerz Schlug meine Zähne knirschend aneinander: Ich weinte nicht. Mein königliches Blut
') Vgl. meine Altgermanische Poesie S. 323.
94 Stilistik.
Floß schändlich unter unbarmherz'gen Streichen: Ich sah auf dich und weinte nicht.
Was den Infanten hier erfüllt, ist docli auch die eine Vorstellung, wie er die Tränen bezwang; er setzt das ans Ende, um den wirksamen Effekt aufzusparen.
So ist denn die alte Epiphora wieder vorzugsweise in rituellen oder sonst zeremoniell geregelten Beschwörungsformeln, Betformeln u. dgl. zu treffen: „wenn wir dir je gehorsam waren — so erhöre uns! wenn wir dir je fette Kühe geopfert — so erhöre uns! wenn wir dich je vor allen Göttern geehrt — so erhöre uns!" Freilich ist hier die Epiphora kaum noch vom Refrain (s. u.) zu unterscheiden.
Ein Sonderfall der Epiphora ist der „rührende Reim": die Wiederkehr des gleichen Reimworts.
Für die Anwendung der Epiphora gelten die Regeln der Anaphora, nur ist sie eben weniger wirksam, weil die Anapher dem aufsteigenden Rhythmus der indogermanischen Sätze kräftig entgegenstrebt, die Epiphora von ihm leicht verschlungen wird.
§ 108. Symploke. Schon bei Erwähnung der alten Ritualformeln sahen wir, dal5 Anaphora und Epiphora sich leicht in demselben Satz begegnen können. Dann entsteht die Symploke (Wackernagel S. 42 f.), die „Ver- flechtung", wie man jede Verbindung mehrerer Wiederholungsfiguren in einem Satz oder einem System von Sätzen nennt. Treffen Anaphora und Epiphora zusammen, so entsteht eine Satzwiederholung mit Variation, bei der aber immer noch das Gleichartige mehr als das Verschiedenartige betont wird. Die lateinische Wortstellung erleichtert solche Künste bis zu dem Raffinement des Refrains im „Peroigilium Veneris":
Cras aniet, qui nunquam amavit, quique amavit, cras amet — WO obendrein Anapher und Epiphora identisch sind (ähnlich wie in der Epanodos s. u.) und die dazwischen stehenden Worte auch noch rührende Reime bilden, und überdies mit den unveränderten Worten ein Polyptoton herstellen!
Oder wir haben die Verbindung von Anaphora und Parallelismus (s. u.) wie in dem berühmten angeblich Vergilischen „Sic vos non vobis — ° (Büchmann, Geflügelte Worte, 21. Aufl. S. 435):
Sic vos non vobis nidificatis aves,
Sic vos non vobis vellera fertis oves,
Sic vos non vobis mellificatis apes,
Sic iios non vobis fertis aratra boves.
Auch im Deutschen lassen sich mancherlei Wiederholungen häufen wie in der von Wackernagel zitierten Stelle wieder im „Don Carlos':
Laß mich weinen. An deinem Herzen heiße Tränen weinen (Epiphora), Du einz'ger Freund. Ich habe niemand, niemand (Epizeuxis) Auf dieser großen weiten Erde (Pleonasmus) niemand (Epiphora).
Neuntes Kapitel. Die Satzverbindung in formeller Hinsicht. 95
Soweit das Szepter meines Vaters reicht.
Soweit (Anaphora) die Schiffahrt unsre Flaggen sendet,
Ist keine Stelle, keine, keine (Epizeuxis), wo
Ich meiner Tränen mich entladen darf.
Als diese. O bei allem, Rodrigo,
Was du und ich dereinst im Himmel hoffe.
Von dieser Stelle, Rodrigo, verjage.
Verjage (Epanodos) mich von dieser Stelle nicht!
Diese Figur wird selten aus natürlicher Erregung stammen, zumeist mehr künstlicher Anlage ihre Entstehung verdanken. Sie hat ihre poetische Entsprechung in der Form des Trioletts (Minor, Mittelhochdeutsche Metrik S. 456), bei dem derselbe Vers in kunstvollen Verschlingungen immer wiederkehrt.
§ 109. Epanodos. Bestehen Sätze lediglich aus den anaphorischen und epiphorischen Elementen, so entsteht die künstliche Figur der Epa- nodos (Wackernagel S. 426). Der Satzteil, dessen mehrmalige Wieder- holung eine Anapher ausmachen würde, bildet in umgekehrter Folge (des- halb „Epanodos", Rückweg) den Schluß des Satzes: also eine angefangene Anapher mit einer angefangenen Epiphora kombiniert. Es ist ein Spiel, das zu den vielen Mitteln gehört, mit denen Ermahnungen nachdrücklicher gemacht werden sollen; so schon bei Walther, ja schon in der Bibel: „Das Ende kommt, es kommt das Ende" (Hesekiel 7, 6). Ausgedehnt erhalten wir wieder eine metrische Form, den Canon (fehU bei Minor); z. B. in dem bekannten Beispiel Chamissos:
Das ist die Not der schweren Zeit! Das ist die schwere Zeit der Not! Das ist die schwere Not der Zeit! Das ist die Zeit der schweren Not! wo ein wirbliges Mittelding von Symploke und Epanodos hergestellt wird.^)
§ 110. Epanalepsis. Eine andere Art der Kombination von Anaphora und Epiphora bildet die Epanalepsis, Wiederaufnahme oder Anadi- plosis, Verdoppelung (Wackernagel S. 420). Hier wird der Anfang eines Satzes am Ende des andern wiederholt, also die Epanodos auf zwei sich folgende Sätze verteilt. Klopstock (Messias 2, 763):
Weinet um mich, ihr Kinder des Lichts! er liebt mich nicht wieder. Ewig nicht wieder: ach, weinet um mich!
Eine besondere Bedeutung kommt dieser Art der Wiederholung nicht zu.
§ 111. Wortaufnahme. Wichtiger, obwohl durch kein Kunstwort der Stilistik geehrt, ist die umgekehrte Form: die Wortaufnahme (vgl. § 41), bei der das Ende eines Satzes am Anfang des nächsten wiederholt wird: ein uraltes, aus dem wirklichen Redewechsel stammendes Mittel, zwei Rede- stücke zu verbinden. -) Ein mittelhochdeutscher Spruchdichter schließt z. B.
') Verwickeitere Spiele dieser Art bei ■) Vgl. meine Altgermanische Poesie
Gerber, Sprache als Kunst 2, 2, 1, 21. S. 324.
96 Stilistik.
seine Ermahnung (Minnesangs Frühling 20, 15) mit den Worten: „sucht bei einem erfahrenen Mann um Rat an und befolgt dann auch seine Belehrung"; und er (oder ein anderer) beginnt darauf eine andere Strophe: „Wenn einer sich um Rat umtut und ihn befolgt, verdient er Dank'' . Das Wort oder die Wendung, an die angeknüpft wird, muß natürlich stark genug sein, um einen ganzen Satz, eine vollständige Strophe tragen zu können.
§ 112. Refrain. Mit Epanodos, Epanalepsis, Wortaufnahme sind wir schon zu Figuren gekommen, zu deren Wesen es gehört, daß ein stärkerer Abschnitt, eine größere Pause die Wiederholungen trennt. In noch höherem Grade ist das bei der nächst der Anapher wichtigsten Figur der Wieder- holung der Fall: bei dem Refrain und seinem Gegenbild: dem Gegen- refrain.
Unter Refrain oder Kehrreim (eine wenig glückliche Bezeichnung) versteht man die Wiederkehr derselben Lautverbindungen am Schluß jeder Strophe oder jedes strophenähnlichen Abschnitts („Lautverbindungen": es brauchen nicht einmal wirkliche Worte zu sein; der sogenannte „sinnlose Refrain" mit seinen „Eia!", „tralala .'" , „hurra!" ist sogar besonders alt und beliebt). Der Refrain ist ursprünglich wohl nicht ein Anhang zum Text, sondern im Gegenteil die eigentliche Hauptsache: der Ruf, in dem die versammelte Gemeinde ihrem gemeinschaftlichen Empfinden Ausdruck gibt und den der wechselnde Text eigentlich nur interpretiert und illustriert. ') Später hat er sich aber allerdings immer mehr dem „Körper" der Gedichte angepaßt und vielerlei Formen angenommen (Minor, Metrik S. 392 f.); von allen Arten der Wiederholung sind Refraintypen ausgegangen. *)
Der Refrain (Wackernagel S. 422) gehört also zunächst durchaus, der Form und dem Inhalt nach, der Poesie an. Aber seit sich eine streng gegliederte Prosa entwickelte, durfte man auch hier von Refrain sprechen, sobald mit merkbarer Deutlichkeit am Schluß des Abschnitts dieselbe Wen- dung wiederkehrt. Wenn etwa Fr. J. Stahl in einer großen Rede im Erfurter Unionspariament (Flathe, Deutsche Reden 1, 376 f.) erklärt: „Wir wollen nicht den Bundesstaat um jeden Preis — " (S. 377), dann wieder- holt: „Warum also Annahme um Jeden Preis?" (S. 378) und nochmals: „Darum ist unsere Losung nicht: ßundesstaat um jeden Preis', sondern ^Unversehrtheit der preußischen Krone um jeden Preis!"" (S. 386) — so ist das gewiß ein oratorischer Refrain. Und wenn der alte Cato jede Rede mit den Worten schloß: „Ceterum censeo Carthaginem esse delen- dam", so faßte er damit eben alle seine Reden in ein System zusammen und deshalb dürfen wir sogar hier von seinem ewigen Refrain sprechen.
') Vgl. meinen Aufsatz, Zeitschrift für | und Rhjlhmus.
vergleichende Literaturgeschichte 1, 34 f., °) R. M. Meyer, Die Formen des Re-
Gamaiere, The beginnings of poetrj', New- frains, Euphorion 5, 1 f. York 1901, S. 314 f., auch Bücher, Arbeit
Neuntes Kapitel. Die Satzverbindung in formeller Hinsicht. 97
Aus dem Ursprung dieser Form erhellt ihre Eigenart. Die Stimmung, aus der die ganze Äußerung, Lied, Gedicht, Rede, erwuchs, soll in ihm seinen unmittelbaren Ausdruck finden: von den einzelnen Interpretationen und Illustrationen kehrt der Vortragende zu der Gesamtempfindung zurück und läßt am liebsten eine solche, die ihm mit vielen gemein ist, in ihrer elementaren Fülle auftauchen. Der Refrain ist also „chorisch", d. h. er setzt eine größere Zuhörerschaft, einen Chor, wenigstens ursprünglich voraus, und er ist wesentlich lyrisch, indem er Stimmungen zum Ausdruck bringt. Bei rein wissenschaftlichen Voraussetzungen wirkt er daher leicht unangenehm und erweckt die Vorstellung eines trotzigen Eigensinns; wo dagegen an- gerufen, beschworen, gefeiert wird, da ist er recht am Orte.
Der Refrain darf nicht zu lang sein, vor allem in der Prosa: dem strophischen Refrain kommt die Melodie zu Hilfe, der prosaische verliert sich, wenn nicht starke Emphase ein paar Worte hervorheben kann. Ein einzelnes Wort kann genügen, ein starkes „Niemals!'' etwa. Immer aber muß er einigermaßen lyrisch bleiben; eine trockene Feststellung in dieser Form ärgert, weil sie allzu schulmeisterlich, rechthaberisch klingt.
§ 113. Gegenrefrain. Es ist für den mechanischen Betrieb der alten Stilistik bezeichnend, daß zwar der Refrain seit urältester Zeit seine ebenso berechtigte wie unvermeidliche Beaciitung fand, der Gegenrefrain aber keines Blickes wert schien, weil er in der Antike nicht beachtet wurde. Allerdings ist das Übergewicht des Refrains über den Gegenrefrain fast so stark wie umgekehrt das der Anaphora über die Epiphora: bei größerer Entfernung der wiederkehrenden Glieder wirkt die Wiederholung am Schluß stärker als die am Anfang, weil sie sich von dem natürlichen Sinken der Stimme am Periodenschluß abhebt. Wäre dies nicht, so hätte der urzeit- liche Ruf sich ebenso häufig zum Gegenrefrain wie tatsächlich zum Refrain entwickeln können.
Aber das barytonische Prinzip der altgermanischen Sprache fördert, wie den Stabreim, so auch den Gegenrefrain ') und hilft ihm in der Edda zu starker Ausbildung. 2) Natürlich kann eine solche Wiederkehr derselben Lautverbindungen am Beginn mehrerer sich folgender Abschnitte auch in der Prosa eintreten; ausgedehnte Beispiele der Anaphora (.wie das von Robert Blum § 106 zitierte) kann man ebensogut hierherstellen. Auch ständige Überschriften („Wie der Held — ", „wie der böse König — ") tragen diesen Charakter und etwas davon steckt am Ende in den typischen Anfängen aller Kapitel und Abschnitte, wie sie jeder traditionellen Er- zählungskunst eignen.
§ 114. Responsionen. Schließlich kann aber die Satzbindung durch betonte Worte von jedem beliebigen, an irgendwelcher Stelle stehenden Wort bewirkt werden; wir nennen dies allgemein Responsionen, Ent-
•) Vgl. meine Altgermanische Poesie S. 323.
Handbuch des deutschen Unterrichts. Bd. III, Teil 1.
») Ebendaselbst S. 347.
98 Stilistik.
sprechungen. Es kann also gerade auch das in der Mitte stehende Wort in auffälliger Weise wiederholt werden, wie etwa in der Unterredung Wallensteins mit Wrangel (Wallensteins Tod 1, 5, Vers 345 f.) der Name der Stadt Prag:
Viel gefordert.' Prag! Sei's um Eger! Aber Prag? Geht nicht.
Prag aber — Böhmen — kann ich selbst beschützen. oder wie in der Figur des Parallelismus (s. u. § 127). Doch bedürfen alle Responsionen, wenn ihnen nicht schon ihr Platz Nachdruck verleiht, einer starken Betonung, die leicht verzerrend wirken kann.
§ 115. Kontinuität. In der ungezwungensten Weise aber werden Sätze, die ineinander verschlungen sind oder sich folgen, durch die Kontinuität verbunden, d. h. dadurch, daß ein in dem ersten angedeuteter Gedanke im zweiten verdeutlicht, ein erst ausgesprochener Gedanke eingeschränkt wird oder irgendwie sonst ein gedanklicher Zusammenhang zwischen beiden besteht. Dieser Zusammenhang wird sich unwillkürlich durch die Fort- führung des gleichen Subjekts oder (seltener) Prädikats ausdrücken. Wenn also etwa Falstaff von seinen Heldentaten erzählt: „So lag ich aus, so führt' ich meine Klinge!", so liegt gar kein Nachdruck auf dem „ich"; es ist eben nur dieselbe Person, von der verschiedene eng benachbarte Hand- lungen erzählt werden. Oder die naturwissenschaftliche Beschreibung wird in einer Reihe von Sätzen ihre Aussagen so ordnen, daß das Subjekt bleibt: „Der Bär ist — . Seine Farbe — . Er lebt — . Das Lebensalter des Bären ..."
§116. Variation des Subjekts. Merkwürdigerweise ist nun aber für diese Kontinuität die Hervorhebung der Identität nicht beliebt. Doch er- klärt sich auch das einfach: da sie nahezu selbstverständlich, hebt man sich ihre Akzentuierung für bedeutungsvolle Einzelfälle auf. Es klingt un- gelenk, wenn wir etwa Satz für Satz mit „Er — " beginnen; wie das denn wirklich primitive Art ist, einen Satz der Erzählung wie den andern zu bauen.
Nun hat schon die indogermanische Ursprache ein Mittel ausgeprägt, dieser Gleichmäßigkeit einigermaßen auszuweichen. Schon aus der Urzeit her gibt es nämlich zwei verschiedene Arten, eine Person oder einen Gegen- stand „anzusprechen": man kann sie entweder mit einem ihnen allein ver- liehenen Namen anrufen oder ausdrücklich jede Benennung ablehnen. Im ersten Fall wendet man das „Nomen" an, im zweiten das „Pronomen" . Der Wolf heult im Walde; nun aber scheut sich der geängstigte Höhlen- bewohner, ihn auch nur zu nennen (denn „wenn man den Wolf nennt, kommt er gerennt") und flüstert nur: „Hört ihr ihn heulen?" Oder man verschmäht die Nennung des Feindes, wie noch Fritz Reuters mecklen- burgische Montecchi und Capuletti es tun und ersetzt sie durch eine ver- ächtliche Gebärde; oder endlich: man kennt das Subjekt eines wohlbekannten Prädikats nicht, wie wir noch heut, wenn wir sagen: es blitzt, es donnert.
Neuntes Kapitel. Die Satzverbindung in formeller Hinsicht. 99
Das Pronomen also ist von vornherein keineswegs „statt des Nomens" da, sondern steht gleichberechtigt neben Appellativum oder Eigennamen. Aber sehr früh hat man diese doppelte Möglichkeit systematisch ausgenutzt und das nicht benennende Wort mit dem benennenden wechseln lassen: in den meisten Sprachen derart, daß das Nomen voransteht und durch das Pronomen „aufgenommen" wird, althochdeutsch und altsächsisch nicht selten auch umgekehrt.
Die Variation des Subjekts ist demnach eine uralte Einrichtung und zwar so, daß gerade sie, wie sonst die Wiederholung des gleichen Wortes, der Satzverbindung dient. Denn das bloße Pronomen ist verständlich nur mit Hilfe einer Geste, und das war sein ursprünglicher Gebrauch: „dieser hat es getan! wer es ist, weiß ich nicht". Wo der zeigende Finger fehlt, bedarf es also der Ergänzung; und so wächst der (unvollständig gewordene) Satz mit pronominalem Subjekt mit dem Satze, der dies Subjekt nennt, eng zusammen: „Es war einmal ein Mann, der hieß"" oder auch (Don Carlos I 9): „Der Traum ist göttlich. Doch wird er nie verfliegen?"
§ 117. Tropen. Diese Variation nun (wie schon erwähnt, auch beim Prädikat, doch seltener, möglich; hier spielt dann ein Hilfsverb wie „tun" die Rolle des Pronomens) ist deshalb die allerwichtigste Form der Satz- verbindung, weil sie sich jeder Entwicklung des Gedankens oder der An- schauung anpassen kann. Und hier liegt wohl die Entstehung jener be- rühmten „Tropen", die das liebste Steckenpferd der Rhetoriker und Sti- listiker sind. Sie werden von ihnen so aufgefaßt, wie die Epigonen der Antike sie benutzt haben: als kunstmäßige Umschreibungen oder Über- setzungen; es sind aber von vornherein einfach diejenigen Benennungen, die der jeweilige Stand des Gedankens anbot oder verlangte, und die später die Neigung zur Variation kunstmäßig erzeugen ließ.
Man betrachte die große Rede der Penthesilea im 5. Auftritt (Erich Schmidts Ausgabe von Kleists Werken 2, 51, Vers 689 f.). Die Königin zieht auf das Schlachtfeld und gedenkt der „vollbrachten Arbeit":
Gemäht liegt nun, zu Garben eingebunden. Der Ernte üpp'ger Schatz, in Scheuern hoch. Die in den Himmel ragen, aufgetürmt.
Das Wort „Schlachtfeld" gibt das Bild ein, wie denn etymologische Gleich- nisse und Metaphern, d. h. solche, die auf den Pfaden des Sprachgeistes weiterschreiten, ') in aller echten Poesie besonders beliebt sind. Die auf- getürmten Leichenhaufen sind die Garben dieses Schlachtfeldes; deshalb die Metapher:
Aus jedem tück' sehen Hinterhalt hervor. Der sich ihm beut, seh ich den Peleiden Auf euren frohen Jubelzug sich stürzen.
Gewiß, „Peleide" steht der Variation wegen und auch aus metrischem Bedürfnis; aber auch ungezwungene Rede hätte hier statt der direkten Be-
') Vgl. Gerber, Sprache als Kunst 1,237; meine Altgermanische Poesie S. 486.
7*
100 Stiustik.
nennung „Achilles" die feierlichere gewählt, die ihn ferner hält; „Achilles" ist, den sie liebt, der Sohn des Peleus ist der feindliche Heerführer. Und nur diesen sieht ihr Auge, nicht die Schar, die er führt; deshalb die „Me- tonymie".
Oder in Prothoes Antwort:
Die Schar, die deine Seele seltsam fürchtet. Entfloh rings vor dir her, wie Spreu vor Winden; Kaum daß ein Speer sich noch erblicken läßt.
„Wie Spreu vor Winden." Ist das ein erjagtes Gleichnis, wie Heinrich von Kleists dichterischer Vorfahr Ewald sie auf der „Bilderjagd" auftrieb? Nein: die Griechen flogen, von einem starken, aus einem Punkt kommen- den Anstoß gehetzt, nach allen Richtungen auseinander; man sah gar keine Krieger mehr, nur, wie wir volkstümlich sagen, „ein Häufchen Unglück", verwehte Stücke. — „Kaum, daß ein Speer sich noch erblicken läßt." Synekdoche! pars pro toto! „Speer" für „Mann"! Keineswegs. Man sieht noch eine Speerspitze blinken; von dem Mann ist nichts mehr zu sehen. — Es sind allemal die Hellenen: diese gemähten Garben, diese Spreu, ihr Führer der Peleide; und Kleist hätte ja wohl sagen mögen: die Griechen Hegen in hellen Haufen auf dem Schlachtfeld; aber ich fürchte ihren Führer noch; und Prothoe: die Griechen sind eilig geflohen, kaum einer ist noch zu sehen. Der Dichter der „Penthesilea" (Metonymie!) ist aber eben ein Dichter, und deshalb variiert er den Ausdruck mit der Bewegung seiner Anschauung und seines Gedankens.
Und so werden die Tropen ein Mittel der Satzverbindung.
§ 118. Einteilung der Tropen. Man unterscheidet deren drei: die Meto- nymie, die Synekdoche, die Metapher (Wackern.\gel S. 390 f.). Doch gehört ihre Einteilung wie ihre Abgrenzung gegen die sogenannten „Fi- guren" zu den umstrittensten Teilen der Stilistik (vgl. Gerber, Sprache als Kunst 2, 24 f.; für die Figuren noch S. 14 f.). So sagt W.A.CKERX.aiGEL (S. 385): „Die Figuren stehen auf der niederen Stufe der Versinnlichung, insofern sie nicht die gewöhnliche Vorstellung selbst, sondern nur deren gewöhnlichen und gleich bei der Hand liegenden Ausdruck gegen einen entfernteren, minder gewöhnlichen vertauschen; die Vorstellung bleibt die gleiche, der gewählte Ausdruck gibt ihr nur ein größeres Maß von sinn- licher Anschaulichkeit". Gegenüber diesen „Figuren" (wohin er Epitheton ornans, Umschreibung, Vergleichung, Gleichnis, Anspielung — fünf grund- verschiedene Dinge — rechnet i würden also die „Tropen" eine wirkliche „Vertauschung der Begriffe" (K. F. Becker, Der deutsche Stil S. 96 1 dar- stellen. — Aber Wackernagels Definition paßt auf den „Tropus" der Metonymie viel besser als auf die „Figur" des Epithetons, und wir werden noch näher sehen, daß besonders bei der Synekdoche, eigentlich aber bei allen „Tropen" der Begriff bleibt, die Vorstellung allerdings wechseln kann, aber nicht zu wechseln braucht.
Neuntes Kapitel. Die Satzverbindung in formeller Hinsicht. 101
So ist denn auch die Zahl der Tropen unsicher. Jene drei gelten allge- mein; aber z. B. Becker gesellt ihnen (S. lOlj die Prosopopöie bei. Oder ViscHER stellt als „Mittel der Veranschaulichung" oder „Tropen" (S. 1219 bis 1232) Epitheton, Personifikation und Metapher (im weiteren Sinne), als „Mittel der Stimmung" oder „Figuren" (S. 1232—1239) aber die zahllosen Dinge zusammen, die die Antike so benannte. Es bleibt bei Quintilians Wort (vgl. Gerber 2,24): „tropus, circa quem inexplicabllls et grammaticis inter ipsos et philosophis pugna est, quae sint genera, qiiae species, qui numerus, quis cuique subiciatur" .^)
Wir glauben für den praktischen Gebrauch so etwas wie eine „rettende Tat" zu vollbringen, wenn wir empirisch-historisch jene drei unzweifelhaft enger zusammengehörigen „Tropen" als Formen der (durch die wechselnde Anschauung bedingten) Variation (vorzugsweise) des Subjekts, die eigent- lichen, zusammengehörigen „Figuren" (wie Umschreibung, Gleichnis, An- spielung) als (durch die wechselnde Stimmung bedingte) Variation (vor- zugsweise) des Prädikats auffassen. Diese Definitionen sind nicht elegant, aber vielleicht berechtigt und hoffentlich brauchbar.
Die drei Tropen nun unterscheidet Bernhardi i Sprachlehre 2, 90) nach der Art des Zusammenhangs zwischen der eigentlichen und der un- eigentlichen Sphäre: bei Subordination Synekdoche, bei Sukzession Meto- nymie, bei Gleichheit Metapher. Gerber (2, 25) führt den Zusammenhang zurück auf Anschauung: Synekdoche; Reflexion: Metonymie; Phantasie: Metapher (ganz unbestimmt Becker S. 97). Aber wo steckt bei den meisten Metonymien eine Sukzession? ist Achilles eher da als eine Heerschar, statt derer der Sohn des Peleus genannt wird? Oder wo steckt bei vielen die Reflexion? z. B. eben bei diesem Beispiel?
Weiter kommen wir, wenn wir auf die allgemeine sprachliche Grund- lage der Tropen zurückgehen. Denn nicht auf ein künstliches Bedürfnis nach „Abwechslung" oder „Belehrung" gehen sie zurück, sondern auf die Fortdauer eben jenes Prozesses, durch den die Sprache selbst erschaffen wird (vgl. z. B. Gerber 2, 250 f.). Wie die Sprachentwicklung selbst, namentlich im Bedeutungswandel, von der Metonymie, von der pars pro toto Gebrauch macht, hat neuerdings wieder Wundt (Völkerpsychologie I 2, 438 f.) schön gezeigt; wie eigentlich alle Sprachbewegung auf Meta- phern geht, hat Mauthner (Beiträge zur Kritik der Sprache; mit wahrer Leidenschaft betont.
Von vornherein sind überall verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten da. Wählt man von ihnen statt derjenigen, die sich durchgesetzt hat, eine andere, so erhält man die Metonymie, die also (wie Gerber treffend her- vorhebt) nur im Vergleich mit der gewöhnlichen Benennung, nur relativ ein „Tropus" ist. „Metonymie" ist nicht nur (wie Vischer S. 1223 sagt)
') Vgl. die trefflichen Ausführungen von S. 374 f. Elster, Prinzipien der Literaturwissenschaft
102 Stilistik.
„eine geistlose Bezeichnung, als gälte es bloß Namensverwechslung", son- dern auch eine irreführende: die eine Benennung steht von vornherein so wenig „statt einer andern" wie das Pronomen „statt des Nomens".
Wird dagegen aus der momentanen Anschauung heraus eine neue Bezeichnung gegeben, die aber in ihrer Art den früheren gleich steht, so erhalten wir die Synekdoche. „Die Sprache drückt niemals etwas voll- ständig aus, sondern hebt überall nur das am meisten hervorstechende oder ihr so erscheinende Merkmal hervor"; deshalb liegt die Synekdoche im Wesen der Sprache (Gerber 1,363). „Der Dänen Schwerter drängen Schwedens Heer"; hier steht nicht Schwert als „pars pro toto" für „Waffen" (so Becker S. 92j, sondern „Schwerter" bedeutet hier Waffen, wie im Orient „Franke" den Deutschen bedeutet oder in Ungarn „Schwabe" oder in Frankreich „Alemanne'' zur Bezeichnung der Deutschen überhaupt ge- wählt ist.
Wird aber, wieder aus der momentanen Anschauung heraus, eine neue Bezeichnung gewählt, die als der früheren ungleichartig empfunden wird, so entsteht eine Metapher. Solange diese neue Bezeichnung als „Übertragung", d. h. als für diesen Einzelfall gemünzte neue Benennung gefühlt wird, bleibt sie eine Metapher; sobald diese Empfindung schwindet, geht sie in den gewöhnlichen Sprachschatz ein, gerade wie das Fremdwort durch seinen merkbar ausländischen Typus sich von dem eingedeut^hten Lehnwort unterscheidet. Bismarcks „Klinke zur Gesetzgebung' ivgl. BüCHAVANN, Geflügelte Worte S. 620) empfinden wir noch als eine kühne Neubenennung der „Initiative zur Gesetzgebung"; aber bei dem herkömm- lichen Zitieren seiner nicht minder kühnen Wendung „der Tabak muß mehr bluten" empfinden die meisten „bluten' nicht mehr in seiner anschaulichen Bedeutung, sondern als Synonym von „hergeben".
So vertreten also die drei Tropen drei Stufen der variierenden Be- nennung: Metonymie Wahl einer selteneren Bezeichnung; SjTiekdoche Prä- gung einer neuen, gleichartigen, gemeingültigen; Metapher einer neuen, andersartigen, spezifischen. Ganz besonders hier sind aber die Grenzen fließend und häufig tauschen die Begriffe. Der Ausdruck, der auf dem einen Gebiet häufig ist, ist auf dem andern selten und wirkt dort als Meto- nymie; und gar die Metaphern können immer übers Kreuz vertauscht werden. In der Sportsprache sagt man: „ein Roß steuern", allgemein aber auch: „ein Schiff laufen lassen" (vgl. oben S. 14).
§ 119. Metonymie. Die Metonymie') ist eine Wiederholung der ur- sprünglichen sprachlichen Wortwahl. Von vornherein sind Synonyma vor- handen oder mindestens Gebrauchsphären, innerhalb deren verschiedene
') Vgl. Becker, Stil S. 99, Vischer. Metapiier Bumr. Rhetorik 1, 344. Berührun-
Asthetilv S. 1223. Wackernagel, Stilistiii genmitderSynekdodieGERBER2,51,\isCHER
S. 390, Bain, Rlietorik 1,186, Sher.man, a. a. O., Arten der Metonjinie Gerber 2, 60 f. Analjlics of literature S. 73 f. Verliältnis zur
Neuntes Kapitel. Die Satzverbindung in formeller Hinsicht. 103
Wortkreise sich schneiden (vgl. oben § 28j. Von diesen nun kommt ein Ausdruck zur Herrschaft: er wird, wie wir zu sagen pflegen, der „eigent- liche Ausdruck". Nun aber geht unter dem Zwang einer bestimmten An- schauung oder Gedankenbiegung der Sprechende gleichsam in die Zeit zurück, wo ein „eigentlicher Ausdruck" noch nicht bestand: er beschaut die noch wogende Vorstellungsmasse und konzentriert sie unter einem — relativ — neuen Gesichtspunkt.
Wackernaqel (S. 390) führt z. B. die beiden biblischen Belege an: „Alle Lande kamen in Ägypten zu kaufen bei Joseph — " (1 Mos. 41, 57); „da ging hinaus zu ihm die Stadt Jerusalem und das ganze jüdische Land und alle Länder an dem Jordan"" (Matth. 3, 5). Wie kommt diese Ausdrucksweise zustande? Der Sprechende sieht im Geist eine unend- liche Menge Volkes vor sich. Der Ausdruck „viele Bewohner aller Nach- barländer" oder: „alle Einwohner Jerusalems" ist ihm nicht bezeichnend genug: er will ausdrücken, wie die ganze Stadt, wie ganze Länder sich zu Joseph oder dem Täufer hin entleerten. Diese kompakte Menschen- masse konzentriert er in der geographischen Bezeichnung; wie es auch sonst heißt „Roma locuta est" oder „Preußen wich bei Ol mutz vor dem drohenden Österreich zurück und opferte Kurhessen". Die Metonymie steht also hier der Personifikation sehr nahe, ist aber durch den abstrak- teren Gebrauch von ihr geschieden: wir sollen uns nicht etwa eine sym- bolische Jerusalem auf ihren Füssen wandelnd denken, wie in jenem „Roma locuta est" allerdings die leibhafte Stadt Rom mit ihrem Munde spricht.
Oder: „Jahrhunderte harrten vergebens" : Jahrhunderte, sagt Wacker- nagel, steht als Zeitraum statt derer, die darin leben. Eigentlich harren ja die Menschen; man sollte also sagen: Jahrhunderte durch harrten die Menschen. Aber der Zeitraum steht nicht statt ihrer, sondern er bedeutet sie. Der Sprechende hat für die Masse der Harrenden kein „eigentliches" Wort; sie stehen hintereinander in ungeheuren Reihen von Generation zu Generation. Unter diesem Gesichtspunkt faßt er sie zusammen, wie unsere Aushebungskommissionen von „Jahrgängen" sprechen, was ihr „eigentlicher Ausdruck" geworden ist, wie unser Wort „Welt" eigentlich „'Zeitalter" be- deutet und also die Wendung: „die Welt schaute auf ihn" eigentlich: sein Zeitalter schaute auf ihn.
Die Metonymie besteht also nicht etwa in dem Zurückschieben des nächstliegenden Ausdrucks und der Wahl eines gesuchten Wortes, das ihn auffällig ersetzen mag; oder vielmehr: sie besteht ursprünglich nicht in diesen beiden Akten, ist aber allerdings in schulmäßiger Anwendung stili- stischer Vorschriften oft zu diesem mechanischen Maskierungsprozeß ent- artet. Von vornherein aber besteht sie in zwei ganz andern Akten: der Inhalt des herkömmlichen Wortes wird in seinen ursprünglichen Inhalt auf- gelöst und neu verdichtet. Oder aber das „eigentliche Wort" tritt gar nicht
104 Stilistik.
erst ins Bewußtsein, sondern der Sprechende hält sich in der Anschauung auf, ohne nach deren übHchen Ausdruck zu suchen, und gibt unmittelbar von da eine Benennung. Diese ist daher von derselben Art, die die Spre- chenden seines Kultur- und Sprachgebietes auch selbst zur Benennung hätten wählen können und oft auch (neben dem „eigentlichen Ausdruck") wirklich gewählt haben.
Diese etwas umständliche Auseinandersetzung war nötig, weil 1. die stilistische, sprachliche Bedeutung der Metonymie meist verkannt wird; 2. die psychologischen Bedingungen und damit auch die stilistischen Normen so gut wie überall übersehen worden sind; 3. das Verhältnis der Metonymie zum „eigentlichen Ausdruck" verschoben wird und damit auch die Beurteilung der einzelnen Fälle eine andere Grundlage erhält.
1. Die stilistische und sprachliche Bedeutung der Metonymie besteht darin, daß sie das Monopol der „eigentlichen Worte" bricht und die sprach- liche Namengebung im Fluß erhält, indem sie die Anschauung auf solche Momente lenkt, die in der herkömmlichen Benennung nicht zu ihrem Recht gekommen sind. Wir benennen z. B. die Flintenkugel nach ihrer Form. Nun kommt aber einem Dichter zur Anschauung, wie sich die Kugel in den verwundeten Leib einbohrt. Die runde Form — die ja auch selten bewahrt bleibt — würde eine Milderung mit sich zu bringen scheinen, aber die Stücke des gleichsam höhnisch glänzenden Metalls steigern den Ein- druck: „und ihn traf das kalte Blei". So wird die Aufmerksamkeit auf das Material gelenkt.
Unter Umständen kann eine Metonymie, die zum allgemeinen Ge- brauch gelangt, sogar eine Erneuerung der „eigentlichen Benennung" her- beiführen.
2. Unsere Beispiele haben schon angedeutet, daß Metonymie vorzugs- weise eintritt, wo einer erregten Anschauung der herkömmliche Ausdruck nicht genügt. Wenn „Schweiß'' für „Arbeit'' steht (um uns der üblichen Ausdrucksweise zu bedienen), so ist eben „angestrengte Arbeit" gemeint; wenn die Bibel nicht einfach sagt: von überall her kam man zu Joseph, sondern „alle Lande kamen", so soll eben ein mächtiger Zufluß gezeichnet werden. Es genügt also nicht, wenn Wackern.^gel (S. 391) wohlmeinend rät: „Die Metonymie ist gut und recht, wenn man sie nicht häuft, und wenn die Vertauschung so natürlich ist, daß die Möglichkeit derselben nahe an die Notwendigkeit grenzt. Aber namentlich beim Symboherhältnis und beim Gebrauch der Beinamen wird oft gefehlt und die Anschaulichkeit der Gelehrsamkeit geopfert." Sondern darauf kommt es an, ob die Metonymie an sich gerechtfertigt ist; auch eine kann zuviel sein, wenn sie gesucht erscheint. Vor allem gilt das von den affektierten Ersetzungen der „Gelehr- samkeit", die allerdings vorzugsweise mit dem Symbol operieren und wie gedankenarme Tapezierer jede Festrede mit „Lorbeer", ^Fahnen" und „Palmen" dekorieren.
Neuntes Kapitel. Die Satzverbindung in formeller Hinsicht. 105
3. Damit sind wir auch beim dritten Puntct: dem Verhältnis der Meto- nymie zum „eigentlichen Ausdruck".
Die Stilistik beging hier den naheliegenden Fehler, eine Form als die allein ursprüngliche anzusehen und die andern von ihr abzuleiten; ge- rade so wie etwa früher die Grammatik alle Tempora vom Präsens, alle Kasus vom Nominativ ableitete, weil allerdings dies das häufigste und wichtigste Tempus, dieser der häufigste und wichtigste Kasus ist (deshalb hat auch Bernhard! — siehe § 118 — die Metonymie für den Tropus der Sukzession erklärt). Aber dem gegenüber hat schon Gerber mit Recht die Relativität der Metonymie betont. Man darf nur bei der künstlichen Metonymie der gelehrten Dichter — die freilich leider die meisten Beispiele liefert! — , nicht aber etwa bei der naiven ursprünglichen Dichtung sich den Vorgang als ein Ersetzen des eigentlichen durch den uneigentlichen Aus- druck vorstellen. Vielmehr tritt, wie wir schon ausführten, der eigentliche Ausdruck gar nicht ins Bewußtsein: direkt aus der Anschauung wird ein neuer (oder ungewöhnlicher) gewählt.
Schief ist es also, die Metonymie nach ihrem Verhältnis zu dem eigent- lichen Ausdruck zu klassifizieren, wie es Wackernagel (S. 390) tut: Raum- verhältnis {„der Wald besingt des Schöpfers Lob" statt „die Vögel im Wald"); Zeitverhältnis {„Jahrhunderte harrten vergebens"); Stoffverhältnis {„Stahl" statt „Schwert"); Kausalitätsverhältnis (Ursache statt der Wirkung: „die Wolken träufeln Segen"; Wirkung statt Ursache: „Hütten, um die der Landmann stille Schatten pflanzt" — übrigens eine recht unglückliche Kunstmetonymie!; Symbolverhältnis: „Lorbeer" statt „Ruhm"). Denn man ist ja nicht einmal immer sicher, welches das ersetzte Wort sei: „Jahr- hunderte harrten vergebens" meint vielleicht gar nicht die darin lebenden Menschen, sondern die verkörperten harrenden Zeiträume selbst: „Lorbeer" ist ebensowohl „Wirkung statt Ursache" als Symbol, wenn es für „Ruhm" steht. Noch schlimmer ist es, mit Bain (S. 186) für das Verhältnis der Metonymie zum eigentlichen Ausdruck ein allgemeines Wort finden zu wollen: sie gebe einen Begleitumstand (Symbol; Werkzeug; Gefäß, wie z. B. „Stadt" für Inhalt; Wirkung für Ursache; der Schöpfer für sein Werk; eine Leidenschaft für ihren Gegenstand: „mein Entzücken"' für: du, der du mir Entzücken bereitest!). Nicht nur ist es doch etwas kühn, die Wir- kung als eine bloße „Begleitung" der Ursache, den Verfertiger für eine solche des Werkes {„Euclid" für Geometrie!) zu bezeichnen; vor allem ist eben oft das der Fall, daß der „uneigentliche" Ausdruck viel tiefer in die Sache hineintrifft als der herkömmliche. Wenn man für die im Himmel wohnenden Götter „der Himmel" sagte (vgl. Bain S. 189), so griff man auf einen ursprünglicheren, schärferen Ausdruck zurück.
§ 120. Umschreibung. Lediglich eine spezielle Form der Metonymie ist die Umschreibung (Wackernagel S.386, Gerber 2, 1, 49 ft., 2, 2, 20 f.). Es ist eine vermehrende Metonymie: ein Ausdruck wird gewählt, der
106 Stilistik.
außer dem, was eigentlich ausgedrüci<t werden soll, noch etwas anderes beiläufig oder ausmalend ausdrückt. So bei der beliebten Ersetzung des Beinamens statt der Person oder Sache (die auch Wackernagel S. 391 zur Metonymie zieht): Stagirit statt Aristoteles, Pelide statt Achilles, Sieger von Marengo statt Napoleon. Die ursprüngliche Anwendung war sicherlich auch hier motiviert: man sprach von dem Stagiriten, wo man etwa die Einflüsse seiner Heimatstadt betonen wollte, von dem Sieger von Marengo, wenn gerade die Epoche dieses Erfolgs gemeint war. Immerhin aber brachten diese Bezeichnungen einen Nebenumstand mit, denn daß Aristoteles aus Stagira stammte, bezeichnet ihn nicht so wesentlich, wie etwa daß er Piatons Antipode war. Gerade aber diese bequemen Titel dienen der Variation. Wer will immer „Goethe" wiederholen? man muß doch einmal sagen: „der Olympier''!
Eine ausgedehntere Form nun dieser vermehrenden Metonymie ist die eigentliche Periphrasis oder Umschreibung, die statt einer einfachen Benennung eine kombinierte setzt. Denn dies ist das Wesentliche, nicht daß man die Person oder Sache „weitläuftiger durch eine oder mehrere charakteristische Eigenschaften oder Wirkungen oder dergleichen bezeichnet" (Wackernaqel S. 386). Die einfache Benennung kann weitläufiger sein als die kombinierte: „Heeresfürst'' ist einfacher als „Oberbefehlshaber". Die „direkte Bezeichnung" kann schon eine Eigenschaft oder Wirkung ausdrücken: „Führer", „Zerstörer". Vielmehr ist eben das Wesentliche, daß die Umschreibung mehr geben will als eine einfache Bezeichnung: daß sie die Anschauung bereichern will. Wenn ich statt „Wein" sage: „das schäumende Blut des Weinstockes" , so soll das Schäumen, die rote Farbe, der Ursprung auf einmal ausgedrückt werden. Auf solchem Wunsch nach Vermehrung der Anschauung beruht sogar die berüchtigte Umschrei- bungswut der altnordischen Skalden.') Nur ist dann dies Mittel zu einem künstlichen Unterscheidungsmittel der Poesie entartet, nicht nur in der all- gemeinen Poesie, sondern ebenso bei gleichen Anfängen auch im 17. Jahr- hundert. -') Man nennt in der altgermanischen Poesie die Umschreibung eines Appellativums durch zwei kombinierte Nomina „kenning" und unter- scheidet sie von der einfachen Benennung, dem „heiti"J) Beide Klassen werden im Interesse der Variation besonders des Subjekts gepflegt,') aber ihren Ursprung haben sie nicht in der Technik, sondern im Leben. „Ken- ningar" sind daher auch die meisten Worte der volkstümlichen Gauner- sprache {„Windfang" für „Mantel"), freilich auch des gelehrten Purismus.
Natürlich kann aber der Umfang einer Periphrasis weit über den eines zusammengesetzten Substantivs herausgehen: „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn — " (Gerber 2, 1, 50) oder im Prolog der „Jung-
') Vgl. R. Meissner, Skaldenpoesie, Halle S. 1 63. 1904 S. 6 f. ») Vgl. ebenda S. 1 16 f.
-) Vgl. meine Altgermanische Poesie *) Vgl. ebenda S. 148 f.
Neuntes Kapitel. Die Satzverbindung in formeller Hinsicht. 107
frau von Orleans" die feierliche Umschreibung für „Gott" : „Der zu Mosen auf des Horebs Höhen Im feur' gen Busch sich flammend niederließ" — . Eine erregte Stimmung ist hier aber erst recht Bedingung; daher werden gerade Worte wie „Gott", „Teufel"" u. dgl. gern umschrieben.
§ 121. Euphemismus. Ein Einzelfall wiederum der Umschreibung ist der Euphemismus (Gerber II 2, 79). Er tritt ursprünglich ein, wenn die erregte Stimmung, die den gewöhnlichen Ausdruck vermeiden läßt, speziell die der Furcht oder Ehrfurcht ist. Gefährhche, unheilbringende Namen werden vermieden (das berühmteste Beispiel die obligatorischen Umschrei- bungen des hebräischen Gottesnamens) und ersetzt („Pontus euxinus", fremdenfreundliches Meer, für ein gefährliches Meer; viele Göttemamen).
Allmählich tritt denn auch hier die Konvention an Stelle des Gefühls und immer mehr Ausdrücke werden als der erregten Stimmung des Dichters schon an sich feindlich vermieden, zumal in der klassischen Dichtung der Franzosen (reiche Beispiele bei G e rb e r a. a. O.). Während es ursprünglich heißt : naturalia non sunt turpia, erscheint nun der Dichter im Feiergewande als ein halbgöttliches Wesen, dem alles menschliche Allzumenschliche fremd ist, und die Rücksicht auf diese Fiktion erzwingt lächerliche Umschreibungen der Prüderie {„Beinkleid"" für „Hose"", was uns freilich schon geläufig ist — und neue Euphemismen fordert!). Die Übertreibungen sind besonders von den Romantikern oft verspottet worden. Als Klassiker der Umschreibung erscheint bei uns Ramler (vgl. Wackernagel S. 386); so drückt er „Schlitt- schuh" aus: „Schuhe von Stahl, worin der Mann der freundlichen Venus (Umschreibung für Vulkan) der Blitze Geschwindigkeit barg".
Eine Art von zeremoniellem Euphemismus sind die offiziellen An- reden: „Ew. Majestät"", „Ew. Exzellenz"", „Ew. Magnifizenz"": der einfache Titel genügt dem erregten Subordinationsgefühl nicht und wo der Franzose zu seinem Befehlshaber sagt: „mon general"", da sind wir klassizistisch-steifer als er und dürfen (vom Generalleutnant aufwärts!) nur „Exzellenz" sagen. Der Glanz, den die erhabene Person verbreitet, verdrängt die wesenhafte Existenz.') Hier hat Baix wirklich recht: Metonymie ist hier Ersetzung des richtigen Ausdrucks durch den eines Begleitumstandes.
§ 122. Grenzfälle der Umschreibung. Alle Arten der Umschreibung stehen zur Anspielung (siehe unten § 156) in Beziehung und nähern sich bei der Steigerung in der Form dem Rätsel (Wackernagel S. 387), im Ton leicht der Ironie, wie denn auch die Hyperbel und die Litotes, zwei Lieblingsmittel der Ironie, sich zumeist der Umschreibung bedienen. Übri- gens aber gibt es Fälle, wo ohne jede psychologische Ursache und auch ohne jede stilistische Absicht die Umschreibung lediglich aus syntaktischen oder flexivischen Gründen sich einstellt. „Ich bin gegangen"" ist eine Um-
') Über Entstehung und Verbreitung .-Xlbr. Heller, Zeitschrift für deutsche Wort- dieser Anredeformen in Deutschland vgl. forschung 6, 157 f.
108 Stilistik.
Schreibung für „ich ging": ich befinde mich hier als einer, der einen Weg hinter sich hat.
Umgekehrt werden Umschreibungen leicht aus dem Sprachvorrat durch Auflösung komponierter Nomina hergestellt: „Herr des Hauses" für „Haus- herr" (doch mit nuancierter Bedeutung), „Verräter des Vaterlandes" für „Vaterlandsverräter" , in welchen Fällen die ältere Umschreibung eigent- lich nur erneut wird (wie eine aus einem Gleichnis erstarrte Metapher wieder in ein Gleichnis aufgelöst werden kann).
Vor allem aber steht der metonymische Gebrauch der Umschreibung dem Tropus der Synekdoche nahe.
§ 1 23. Synekdoche. Die Synekdoche')^ Mitaufnahme — steht der Me- tonymie praktisch sehr nah (vgl. Gerber 2, 51), hat aber psychologisch einen andern Ursprung. Bei der Metonymie sahen wir die durch einen Eindruck ver- ursachte Erregung nach einem neuen Ausdruck suchen und fanden gerade die Kraft des Gesamteindrucks bezeichnend. Bei der Synekdoche dagegen drängt sich von dem sonst als ein Ganzes wahrgenommenen Gegenstand ein einzelner Teil so stark in die Wahrnehmung, daß zunächst nur er be- merkt und benannt wird. Alles übrige wird „mit aufgenommen", „mit verstanden" — aber von dem Zuhörer; für den Sprechenden ist es gar nicht da.
Es steht also nicht „pars pro toto", ein Teil für das Ganze, son- dern es steht eben einfach nur der Teil da. Daß das ein uralter sprach- schöpfender Vorgang ist, wurde bereits hervorgehoben. Das Nashorn ist ein dickes schweres Tier, das keineswegs nur aus dem Hom auf seiner eigenen Nase bestehen kann; aber der erstaunte Wanderer sieht nichts als diese wundersame Bildung und sagt einfach, er habe ein Nashorn erblickt, wenn er einen Dickhäuter mit einer Aufstülpung auf der Nase gesehen hat Und wer einen Mann mit auffallend langen Beinen „Langbein" nennt, macht nicht das Bein zum Vertreter auch von Kopf und Rumpf, sondern denkt eben nur an dies Merkmal; erst später wird das als „ein langes Bein habend" (sog. possessive Komposita oder indisch Bahuvrihi) aufgefaßt. =)
Die Synekdoche kommt aber in der Wirkung allerdings der Metonymie sehr nahe. Wenn ich sage „Cäsar landete in Britannien" , so liegt Synek- doche vor: das ganze Heer verschwindet mir vor dem Anblick des Führers. Wenn aber Carlyle (vgl. Gerber 2, 1, 63) diese Figur in ungewöhnlicher, auffallender Weise steigert und von dem Heer des Feldmarschalls Keith sagt: „da liegt Keith, 15 Meilen lang", oder von seinem östeneichischen Ranggenossen: „Browne dehnt sich durch Lobositz hin aus, und darüber
') Bernhardi S. 90, Becker S. 96, , derNominaindenindogermanischenSprachen
Wackernagel S. 393, Vischer S. 1223, S. 117 f., Tobler, Über die Wortzusammen-
Gerber 1, 363; 2,37, Bain S. 182, Sher- setzung S. 74 f., Brugman.n, Grundriß der
MAN S. 72. vergleichenden Grammatik der indogerma-
°) Vgl. JusTi, Über die Zusammensetzung nischen Sprachen 2, 87 f.
Neuntes Kapitel. Die Satzverbindung in formeller Hinsicht. 109
hinaus in krummer Linie bis Welholin" — so sieht der fortwährend auf- geregte, exzentrische Schotte die ganze Soldatenmasse vor sich, die in ihrem Umfang doch einen beseelten Organismus ausmacht, und verdichtet sich ihr Bild in der Metonymie: diese ganze Armee ist „Keith" wie ein ganzes Land „Preußen" ist.
Hauptformen der Synekdoche sind (wenn wir uns der läßlichen Aus- drucksweise bedienen dürfen):
1. das Ganze wird durch einen Teil ausgedrückt:
Nicht betritt sein Fuß die Hallen —
wenn der Fuß die Schwelle betritt, so betritt eben der Mann das Haus; aber ich sehe spezieller auf sein Schreiten hin.
2. Die Art durch eine Unterart:
Der Dänen Schwerter drängen Schwedens Heer — natürlich wirken ihre Lanzen mit; aber die Schwerter sind ihre Siegeswaffe.
3. Die Vielheit durch einen einzelnen:
Kein Feind bedrängte Engelland, dem nicht Der Schotte sich zum Helfer zugesellte : Kein Bürgerkrieg entzündet Schottlands Städte, Zu dem der Brite nicht den Zunder trug.
(.Maria Stuart" I, 7, Vers 820 f.)
Das Auge sieht tausend Schotten oder Briten, einer dem andern gleich, und bleibt gleich bei dem ersten haften. So auch bei jenen häufigen Er- setzungen des Heers durch den Anführer.
4. Die unbestimmte Zahl durch die bestimmte: hier hat die Poesie ein für allemal bestimmte runde Zahlen erwählt, Grenzzahlen, bei deren erster sie stehen bleibt. So zählt die griechische Poesie das Unendliche nach Myriaden, die deutsche nach Tausenden oder (bei erweiterter Raum- und Zahlanschauung) nach Millionen. Nur scheinbar steht so auch die unbestimmte Zahl für die bestimmte: die „heiligen Zahlen", z. B. die überall volkstümliche 3 und 9, die heilige 12 der Christen i) sind eben zunächst bestimmt gemeint und werden erst durch den Gebrauch symbolische, an- deutende Zahlen. Freilich darf die Poesie zu bestimmte Zahlenangaben selten verwenden:
Mad. de Necker bemerkt, bestiminte Ausdrücke, wie 21, 22 if. s.w., seien der französischen Poesie verboten. Auch unsere erlaubt solche Bestimmungen nicht; das Epos kann wohl 1000 Millionen sagen, aber nicht 41, 17 u. s. w. (vgl. Gerber S. 39; über „künstliche Zahlen" meinen Aufsatz Indogermanische Forschungen S. 12, 261 f.).
Das Verhältnis liegt aber so, daß es für die Poesie diese eckigen Einzel- zahlen überhaupt gar nicht gibt; daß in dem idealen Reich besonders der alten Epik eben nur harmonische Zahlenverhältnisse existieren. Für das Epos oder die Lyrik sind also 41 oder 17 unbestimmte, weil unfaßbare Begriffe — man könnte sonst schließlich mit Logarithmen kommen — und sie werden durch 40 oder 20 ersetzt, weil das poetisch bestimmte, gleichsam
') Vgl. meine Altgermanische Poesie S. 83 f.
110 Stilistik.
der Anschauung zugängliche Zahlen sind. Mit den genannten 40 werden also die etwa überschüssigen, oder auch die mangelnden Werte (heißt doch 18 im Lateinischen: „zwei von zwanzig abl") „ mitverstanden ", oder viel- mehr sie werden eben über der Schätzungszahl übersehen.
§ 124. Metapher. Die bei weitem wichtigste Form der Variation ist die Metapher. Dieser Tropus erfreut sich der allgemeinsten Anwendung und erstreckt sich viel mehr als Metonymie und Synekdoche auch auf das Prädikat (und das Objekt, das wir immer als Teil des Prädikats auffassen). Vor allem hat freilich auch die Metapher ihren Platz im Subjekt.
Über keinen Tropus existiert eine so ausgedehnte Literatur wie über die Metapher.')
Die Metapher setzt an Stelle des gewöhnlichen Ausdrucks einen bild- Hchen; richtiger gesagt: sie benennt einen Gegenstand oder eine Handlung aus einer andern Anschauungssphäre heraus, als aus der er mit seinem herkömmlichen Ausdruck benannt ist. (Freilich kann auch einfach der ur- sprüngliche Benennungsprozeß wiederholt werden: Strahl der Sonne, Sonnen- strahl heißt dasselbe wie Pfeil der Sonne, dies aber empfinden wir als Meta- pher, jenes nicht mehr: Gerber S. 79.) Das metallische Geld ist kein beseeltes Wesen; sagen wir „Bargeld lacht", so verwandeln wir den Glanz des Metalls metaphorisch aus einer physikalischen in eine psychologische Erscheinung.
Früher nun faßte man die Metapher schlechtweg als verkürztes Gleichnis 2) auf. Im vorliegenden Falle also: das Bargeld glänzt wie ein vergnügter Mann. Unendlich oft trifft das zu; so steht fast die ganze angelsächsische Dichtung zu der älteren altnordischen in diesem Verhältnis, daß dort Metapher geworden ist, was hier noch frisch als Gleichnis em- pfunden wird. 3) Aber gegen die Allgemeingültigkeit des Satzes hat schon Gerber (2, 1, 80) Bedenken geäußert. Scherer (Poetik S. 267) sprach dann zuerst aus, die Metaphern entständen in der Regel durch Hervorhebung einer einzelnen Eigenschaft oder Personifikation, ohne den „Umweg über das Bild". Dies hat denn auch Biese lebhaft ausgeführt und Gu.m.mere (Beginnings of poetry S. 446) brauchte es also nicht — noch dazu unter Widerspruch gegen Scherer! — als neue Erkenntnis zu proklamieren.
Elster (Prinzipien der Literaturgeschichte 1 , 374) schritt dann zu einer weiteren Vertiefung, indem er allgemein vier „ästhetische Apperzeptions-
') Ich nenne außer den Stellen bei un- ist die Anschauung über das Wesen der
seren Gewährsmännern: Bernhardi 2, 93, Metapher erst neuerdings vertieft worden.
Becker S. 103 f., Wackernagel S. 394, Noch Herbert Spencer (Philosophy of st>-Ie
VischerS. 1226, Gerber 2, 1,83, BainS. 158, S. 811 sah ihren Hauptvorzug in der .öko-
besonders A. Biese, Die Philosophie des Me- nomischen Wirkung", die den Inhalt des
taphorischen, Hamburg und Leipzig 1893, Fr. Gleichnisses in wenige Worte komprimiert Brinkmann, Die Metaphern, I. Bd., Die Tier- ') So noch Wackernaüel S. 305, anders
bilder in der Sprache, Bonn 1878 (mehr ist Sherman, Analj-tics of literature S. 61 f. nicht erschienen). Auch verweise ich noch- •) \'gl. meine .■Mtgermanische Poesie
mals auf Wundt und Mauthner. Dennoch S. 432.
Neuntes Kapitel. Die Satzverbindung in formeller Hinsicht. 1 1 1
formen" (ebenda S. 359) unterscheidet: die personifizierende — metapho- rische — antithetische — symbolische. Alle vier haben das gemein, „daß der Auffassende sein Denken in die Dinge der Außenwelt hineinprojiziert" und sie dadurch seinem eigenen Anschauungsvorrecht assimiliert. Dies geschieht speziell bei der Metapher durch Hinzufügen eines vergleichbaren Gedankens B zu einem Gedanken A oder direkt durch deren Vertauschung. Sie hängt — wie ja auch Scherer betont — mit der Personifikation eng zusammen. „Auch in ihr ist jener Grundtrieb der menschlichen Seele wieder zu er- kennen, der darin besteht, auf die Dinge und Vorgänge der Welt ihr eignes geistiges Leben zu übertragen . . . Auch hier projiziert der Mensch sein eignes Selbst nach außen; indessen nicht so, daß er die Umwelt beseelt, sondern so, daß er zu Vorstellungen, die in sein Bewußtsein treten, andere Vorstellungen aus dem Schatz seiner Erfahrung in Parallele setzt." Gewisser- maßen ist also die Personifikation nur ein Einzelfall der Metapher: wie bei ihr etwa ein „dräuender Fels" aus dem Unorganischen ins Menschliche übersetzt wird, so übersetzt die Metapher „Pfeil der Sonne" den Sonnen- strahl aus dem Kosmischen ins Militärische. „Jede gesunde Metapher geht aus dem Gedankenkreis hervor, in dem ein Mensch vornehmlich zu Hause ist: der Landmann verknüpft die Dinge vornehmlich mit dem Landleben, der Soldat mit dem seines militärischen Berufs u. s. w." — was denn freilich auch in der pedantisch durchgeführten Berufsmetaphersprache unserer Lustspiel-Seebären und Roman-Eisenfresser übertrieben wird. Im ganzen aber kann Elster (a. a. O. S. 375) mit vollem Recht den Maßstab für die Beurteilung der einzelnen Fälle dieser psychologischen Begründung ent- nehmen. Je lebhafter ein Schriftsteller eine eigenartige Auffassung der Dinge ausgebildet hat, desto ungezwungener werden ihm die Metaphern fließen. So hat Goethe von dem alemannischen Dichter Hebel gesagt, daß er das Universum „anmutig verbauert": Sonne, Fluß, Stadt werden ihm Bauernmädchen und Bauern. Und dies Urteil hat L. Bock auf Wol- fram v. Eschenbach variiert: der „verrittert" das Universum.
Mehr ist gerade über diese berühmteste aller Figuren, diesen König der Tropen kaum zu sagen. Die „Metaphora", die Übertragung {\aiQ\n\sch translatiö) dient dem persönlichen Anschauungsbedürfnis, das aus der weniger anschaulichen oder weniger bekannten Sphäre in die bekanntere überträgt. Wenn die Strahlen, die die Sonne „ausschickt", mit den uns wohlbekannten Pfeilen verglichen werden, so tut die naive Anschauung, was in der Wissen- schaft die (von Scherer so benannte) „Methode der wechselseitigen Er- hellung" tut: sie setzt auf Grund eines Vergleiches, der aber ganz im Untergrund des Bewußtseins bleiben kann, ein unbekanntes Glied einem bekannten gleich. Gerber (S. 80) betont daher mit Recht, daß immer eine Proportion vorliegt, eine Art mathematischer Gleichung einfachster Art. Die Strahlen sind von irgendwo her entsandt (was ja noch modernen physi- kalischen Theorien entspricht); die Pfeile werden von einem Schützen ent-
1 1 2 Stilistik.
sandt; also mag (x in der Regeldetri-Aufgabe) die Sonne eine Art Schütze sein, der diese Pfeile abschießt:
Schütze: Pfeil, x: Strahl.
Deshalb ist hier auch immer die Möglichkeit wechselseitiger Vertau- schung gegeben (Gerber S. 28): der Pfeil der Sonne — der Strahl des Bogens. Besonders in feuilletonistisch gesuchtem Stil ist diese Vertauschung oft zu vollziehen, weil eben hier selten eine individuelle Notwendigkeit gerade dieser Apperzeption oder Akkumulation besteht. Deshalb (vgl. oben § 21): „ein Pferd steuern", aber vielleicht auch: „das Boot siegte bei der letzten Regatta um eine Nasenlänge" ....
(Ordnet man die beiden Metaphern zusammen, so erhält man die Figur des Chiasmus, siehe unten § 142.)
So ist denn auch die Metapher oft ein Kunstgewächs und kann schließlich sogar die Aufgabe haben, eine angenehme Überraschung zu bereiten, wie Bain (S. 161) im schönsten Nürnberger Trichter-Stil sagt. Von der Fülle des Lebens aber, die die ungezwungene Naturmetapher entwickelt, kann etwa ein Buch wie die (dilettantische) Sammlung von Wigand, Der menschliche Körper im Munde des deutschen Volkes, Frankfurt a. M. 1899 (deren Titel durch eine böse Metapher entstellt wird!) mit ihren 70 Meta- phern mit „Hand" und 112 mit „Herz" anschaulich machen.
Eine Einteilung der Metaphern versucht z. B. Gerber (S. 83); sehr fruchtbar kann ich diese Versuche nicht finden. Wichtiger ist der Hinweis auf die mit der Metapher verwandten Figuren (ebenda S. 98 f.): die Alle- gorie, die Parabel, das Gleichnis. Eine durchgeführte Allegorie wie etwa Fontenelles geistreiche Geographie des ^Pays du Tendre" ist eine gedehnte Metapher: eine Parabel ist eine Art lehrhafter Allegorie, ein Gleich- nis, ist auch schon eine gedehntere Metapher. Nur darf man das nicht als die notwendigen Ursprungsformen dieser Gattungen ansehen.
§ 125. Variation und Wiederholung. Alle diese Tropen nun: die Meto- nymie mit Umschreibung und Euphemismus, die Synekdoche, die Metapher entspringen, wie wir sahen, dem natüdichen Drang, einer lebhaften An- schauung unmittelbaren Ausdruck zu verleihen; zu stilistischen Zwecken erfunden sind sie gewiß nicht. Alle drei haben aber das gemein, daß sie tatsächlich eine Variation des nächstliegenden Ausdrucks bewirken und zwar zumeist für das Subjeki, da dies eben der erregende Gegenstand ist. Wie nun überall im Lauf der Entwickelung ursprüngliche Nebenwirkungen in Hauptwirkungen umgewandelt werden, so ist auch diese Nebeneigen- schaft der Tropen zu ihrem Hauptzweck gemacht worden: sie wurden stilistische Mittel zur „Belebung" und „Abwechslung" bei der Aussage.
Hiergegen ist nun, solange besonders die Metapher nicht zu gewalt- sam erzwungen ist, im Prinzip nichts zu sagen, da eine beständige Wieder- holung der gleichen Appellativa, Namen oder Verba entweder eintönig oder
Neuntes Kapitel. Die Satzverbindung in formeller Hinsicht. 113
aufreizend wirkt. Vor überflüssiger Variation aber ist zu warnen, da sie leicht vom richtigen Ausdruck abführt. Scherer pflegte seinen Schülern zu empfehlen, lieber zehnmal das gleiche passende Wort anzuwenden, als einmal ein ungenaues.
Am besten ist es doch wohl, von all diesen Hilfsmitteln nur dann Gebrauch zu machen, wenn sie an sich motiviert sind. Wo kein Anlaß vorliegt, Metonymie oder Metapher anzuwenden, kann man sich ja mit dem einfacheren, anspruchslosen Wechsel von Benennung und Pronomen be- helfen. Wo dagegen wirklich Stimmung oder Anschauung einen solchen Wechsel des Ausdrucks und der Anschauung an die Hand geben, dient die Durchführung der Tropen vortrefflich dazu, die Entwicklung des Ge- dankens schon äußerlich zur vollen Geltung gelangen zu lassen. Die Rede wird bewegter — und Tropen stellen sich ein; sie glättet sich wieder zu einfacherem Ausdruck — wie viel besser ist das als die gewaltsame Über- setzung aller Appellativa in „tropische" Benennungen!
§ 126. Andere Satzbindemittel. Wir sind damit wieder bei unserm Ausgangspunkt angelangt: der Satzverbindung durch bestimmte, betonte Worte (§ 106) — wiederkehrende (§§ 106 — 113), unmerklich variierte (§§ 114 — 115), auffällig variierte (§§ 116 — 125). Indes gibt es noch weitere Mittel, die Sätze zu verbinden. Es kann noch geschehen 1. durch die Anlage der Sätze selbst, 2. durch Kombination dieses Mittels mit der An- wendung bestimmter betonter Worte.
§ 127. Parallelismus. Die einfachste und ursprünglichste Art, zwei Sätze durch ihren Bau zu verbinden, ist der Parallelismus (Wackernaqel S. 416, Bain 1, 105 f.). Von vornherein sind die zusammengehörigen Sätze meist übereinstimmend gebaut: mehrere Aussagesätze, auch wohl mehrere Frage- oder Ausrufsätze pflegen sich zu folgen, zumal solange einfache Parataxe herrscht; und sie ruhen dann wie die Steine einer zyklopischen Mauer ohne Mörtel durch ihr Gewicht aufeinander.
Der Parallelismus kann aber auch zu bewußter Kunst umgebildet und ausgebildet werden. Dies war bekanntlich in der hebräischen Poesie der Fall und ist von der Bibel aus z. B. auch in Goethes dramatischen Prosa- stil i) eingedrungen: „So kniete die arme Frau wie du kniest, und so stand der Wütrich, wie ich stehe l"" (Götz von Berlichingen). Oder auch drei- gliedrig: „Eure Schlösser verheert, euer Geschlecht vertrieben, eure Besitz- tümer öde!"
Auch diese Figur beruht auf Stimmung, die eben nur auf verschiedene erregende Momente verteilt wird; sie stellt die äußerste Steigerung sowohl der Anaphora als auch der Epiphora dar. Übermäßig angewandt, zerstört sie jene den Bewegungen des Gedankens oder der Anschauung sich an- schmiegende Veränderlichkeit der Ausdrucksformen, die die Seele kunst- mäßiger Rede ist.
•) Tippmann, Goethe-Jahrbuch 24, 224.
Handbuch des deutschen Unterrichts. Bd. III, Teil 1. 8
114 Stilistik.
§ 128. Inversion. Wie die Variation zur Wiederholung, verhält sich zum Parallelismus die Inversion: eine absichtlich entgegengesetzte Wort- ordnung. Im kleinen geschieht das in der Figur der Epanodos (siehe oben § 109), im großen kann es durch lange Redesysteme durchgeführt werden: „Ich preise den Herrn — ; den Herrn preise ich ..."*)
Und diese Figur beruht auf dem Sprachgebrauch selbst, der ja für bestimmte Satzformen eine Umkehr der gewöhnlichen Wortstellung fordert. Neuerdings wird sie auch mit Unrecht gern verwandt, um die Symmetrie größerer Satzhälften nach „und" aufzuheben (vgl. oben S. 58): hier ist die schlichte Gleichmäßigkeit der Aussage, der Gleichmäßigkeit des Inhalts entsprechend, vorzuziehen.
Eine Kombination von Parallelismus und Umstellung ergibt den Chias- mus, den wir an anderer Stelle (siehe unten § 142) zu besprechen haben.*)
§ 129. Reim. Endlich sind noch zwei Mittel der Satzverbindung vor- handen, die den Parallelismus mit dem Bindemittel korrespondierender Ton- worte verbinden. Beide sind uralt und über die ganze Welt verbreitet.
Das erste ist der Reim (Wackernagel S. 438), vorzugsweise als End- reim, doch auch als Stabreim, oder in der Abschwächung des Endreims zur Assonanz, die aber nur bei größerer Häufung wirkt.
Der Reims) hat sich ja nur in der Poesie zu einem regelmäßigen Bindemittel entwickelt, so daß er der volkstümlichen Meinung einfach geradezu als Kennzeichen der Dichtung gilt. Er ist aber in der Sprache selbst begründet (vgl. Gerber 2, 1, 162 f.) und stellt sich mit dem natür- lichen Parallelismus einfacher Sätze unvermeidlich ein, da Worte von gleichem Bau am Anfang und Ende stehen, so daß bei verschiedenem Wortstamm und gleichem Suffix eben die korrespondierenden Worte reimen.*) Dies begegnet also in der Prosa ebensogut wie z. B. in der alliterierenden Dich- tung Endreim vorkommt,^) wird aber am ehesten da begegnen, wo eine feierliche Formel besonders genau auf den gleichen Bau der Sätze, auch in bezug auf die Länge u. s. w., achtet.
Mehr als eine gelegentliche Anwendung des Reims (etwa in Namen- gruppen wie Eisete und Beisele) widerspricht dem Geist der Prosa, die eben die äußediche Gleichheit der Sätze nicht dem anschmiegenden Wechsel der Ausdrucksformen opfern darf. Die widrige Mischform der sogenannten „Reimprosa" (Wackernagel S. 441; z. B. oft bei Abraham a Sancta
Clara) kann nur buriesk wirken.
') Gute Beispiele psycliologischi gedeutet nisclien Minor, Metrik S. 339 f. bei Becker, Stil S. 48. *) Vgl. Liddell, Introduction to the
') Über die verschiedene Wirkung von scientific study of English Poetry S. 99. Parallelismus und Inversion vgl. Spencer, •') Vgl. meine Altgermanische Poesie
On Style S. 20. S. 302 f.
ä) Viehoff, Poetik S. 280 f.; zum Tech-
Zehntes Kapitel. Die Satzverbindung in inhaltlicher Hinsicht. 115
Die geistreichen psychologischen Deutungen, die gerade der Reim besonders seit den Romantil<ern ') gefunden hat, 2) scheiden also aus dem Kreis unserer Betrachtungen aus. Trifft die Stilistik einmal auf psycho- logische Fundamentierung, so muß sie sie beinah immer der Poetik über- lassen.
§ 130. Zählung. Wesentlich der Prosa gehört dagegen die Zählung an (Wackernagel S. 422). Als ein einfaches Mittel, nicht nur das Ge- dächtnis zu unterstützen, sondern auch die Feierlichkeit zu erhöhen, wird sie bei parallelen oder doch konvergenten Sätzen gern verwandt, vorzugs- weise also bei Lehren und Zaubersprüchen. Alle Völker der Welt lieben sie so, etwa die drei höchsten Güter, oder die vier schwersten Dinge u. dgl. mehr zu sammeln; wobei die hebräische Poesie (Wackernaqel S. 416) — doch nicht sie allein — noch gern ein überschüssiges Glied mitgibt: „Drei Dinge sind mir zu wunderlich, und das vierte weiß ich nicht'' (Sprüche Sal. 30, 18).
Die Zählung kann auch über größere Systeme fortgeführt werden: über Strophen wie in Uhlands Gedicht „Es zogen drei Reiter wohl über den Rhein", über Prosa-Abschnitte wie sehr häufig z. B. in der Beredsam- keit, wo sie Gründe aufsammelt oder Personen vorführt.
§ 131. Rückblick. Wir haben diesem Kapitel, das in den meisten Stilistiken kaum einen Platz findet, eine ausführliche Besprechung ge- widmet, weil eben gerade die Satzverbindung das Wesen der Prosa als kunstmäßig angeordneter Rede zu kennzeichnen scheint. Ein einzelner Satz, auch in wirksamster Ausprägung, begegnet auch in kunstlosem, ja ungeschicktem Munde alle Augenblicke in einwandfreier Form: erst mit der Architektonik größerer Gebäude beginnt die Kunst der Rede. Nur praktische Engländer wie Bain (Rhetoric and composition 1, 91 f.) haben diese Grundlage der kunstgerechten Prosa und Poesie ausführlicher be- handelt, doch auch vorzugsweise vom rein syntaktischen Standpunkt; für genauere Analyse ist nochmals auf des Amerikaners Brewster Studies in structure and style und auf seines Landsmanns Sherman Analjrtics of Lite- rature zu verweisen. Außerhalb des englischen Sprachbereichs hat man ein- gehende Sorgfalt auch vom stilistischen Standpunkt nur den inhaltlichen Satzbindemitteln zugewandt.
Zehntes Kapitel.
Die Satzverbindung in inhaltliclier Hinsicht.
§ 132. Einheit der Rede. Die inhaltliche Verbindung der Sätze be- ruht, wie schon ausgeführt, auf der Kontinuität, d. h. auf dem Um-
') Z. B. Bernhardi, Sprachlehre 2, 380 f., FELD, Studien zur Theorie des Reims, Zürich 399 f. 1 1897, II 1904.
'•') Übersicht und Würdigung bei Ehren-
8*
116 Stilistik.
stand, daß zwischen dem Inhalt zweier Sätze eine gedankliche Verbindung existiert. Diese Kontinuität kann in Augenblicken der höchsten Erregung zwar nicht völlig aufgehoben, aber doch gelockert werden. Jene wilden Visionen, die die Dichter mit einem ^Wo bin ich?" einzuleiten lieben, können eine Jagd von Bildern ergeben, die nicht unmittelbar zusammen- hängen; mittelbar tun sie es doch, indem sie demselben Boden, einer be- stimmten Persönlichkeit und einer gewissen Stimmung entsprechen. Eine wirkliche Aufhebung der Kontinuität ist pathologisch, und selbst im Wahn- sinn werden irgend welche, nur uns nicht faßbare Verbindungsglieder die disparatesten Glieder der Rede heimhch verketten.
Pathologisch ist es aber auch, wenn zwar die sich folgenden Glieder begrifflich verbunden sind, diese Verbindung aber nicht zu einem bestimmten gedanklichen Ziel führt. Dies ist die Erscheinung der sogenannten Ge- dankenflucht (LiEP.Ni-WN, Die Ideenilucht, Halle 1904), die der berühmte Naturforscher und Philosoph Rechner an sich selbst eingehend studiert hat. ') Bei ihr bemächtigt sich ein Zwischenglied selbst der Führung und lenkt den Gedanken ab, etft'a wie wenn wir von einem am Wege hegenden Aussichtspunkte nach rechts oder links weiter schreiten, statt gerade aus. Auch dies Phänomen ist in der Darstellung krankhafter Erregung von den Dichtem benutzt worden, fäUt aber als anormal aus dem Kreis unserer Be- trachtungen heraus.
Eine Art Pathologie der Unterhaltung endlich stellt jenes zusammen- hanglose Gerede da, das zwischen zwei sich zufällig treffenden Personen beim Mangel gemeinschaftlicher Interessen oft geführt wird: .Schönes Wetter heut!" — „„Ja." — „Die Russen sollen ja wieder eine Schlacht ver- loren haben?" — „„Möglich." — „Haben Sie den Geheimrat in letzter Zeit gesehen?" u. s. w. Auch solches Redemosaik kann in realistischer Dich- tung — z. B. in Ibsenschen Dialogen — wiedergegeben werden; aber es steht unterhalb der eigentlich kunstmäßigen Anwendung der Rede.
Diese also setzt zweieriei voraus: 1. die einzelnen Redestücke stehen miteinander in Verbindung, 2. die ganze Rede (das Wort natüriich in all- gemeiner Bedeutung genommeni hat eine Einheit — freilich in weiterem Sinn als der einzelne Satz (vgl. oben § 79 f.). B.\in (Rhetoric 1, 91) definiert eine solche .Rede" (die er ^Paragraph'" nennt) glücklich als: „eine Zusammenstellung von Sätzen in einheitlicher Absicht".
§ 133. Analysen. Diese „Absicht" ist natürlich nicht immer iwie bei der Beredsamkeit oder dem Befehl) eine bewußte, sondern oft lediglich in dem Mitteilungsbedürfnis enthalten. Dann bildet eben die bestimmte Tat- sache oder Empfindung, die übermittelt werden soll, die Einheit und den Kern der Rede. Auf dieser Einheit beruht die Möglichkeit der sogenannten Analyse: sie hebt den Kern heraus und läßt von der Schale nur so viel
>) Vgl. LASSwrrz, G. Th. Fechner, Stuttgart 1896, S. 43 f.
Zehntes Kapitel. Die Satzverbindung in inhaltlicher Hinsicht. 117
sehen, als für die Entwicklung gerade dieses Kerns charakteristisch ist. \n solchen Analysen sind die französischen Kritiker Meister, von den unsern fast nur Lessing; dagegen verstehen die Philologen recht oft auch bei uns die keineswegs selbstverständliche Kunst der Analyse gut.
Größere Redestücke zu analysieren ist eine treffliche Übung zur prak- tischen Stilistik und eine unentbehrliche Vorübung zur Kritik.')
§ 134. Entwicklung der Rede. Fassen wir nun beides zusammen: die Verbindung von einem Zwischenglied zum andern, und die in einem ge- wissen Ziel (einer „Absicht") gegebene Einheit, so erhalten wir als eigent- liches Problem der inhaltlichen Satzverbindung die Bewegung des Ge- dankens oder die Entwicklung der Anschauung — welche beiden Dinge für uns hier gleichwertig sind, da es stilistisch gleichgültig ist, ob das Objekt mit geistigen oder körperlichen Augen wahrgenommen wird.
Diese Entwicklung vollzieht sich psychologisch dergestalt, daß ein bestimmter, weckender, erregender Eindruck vorausgeht und zu einer ge- naueren Prüfung führt. Ob ich diesen Eindruck habe und mir seine Ur- sache (z. B. den Vogel, von dem der Ton ausging, der mich erregte) näher klar machte, oder ob ich ihn einem andern übermittle und „expliziere", das macht wiederum keinen prinzipiellen Unterschied.
Die Entwicklung kann sich nun vollziehen entweder in gerader Linie oder in Windungen. Eine geradlinige Bewegung des Gedankens gehört vorzugsweise der Erzählung und Darstellung; sie entspricht dem Typus des Aussagesatzes, aber auch dem des Ausrufs. Eine gewundene Bewegung des Gedankens gehört vorzugsweise der Untersuchung; sie entspricht dem Typus der Frage (vgl. oben § 94). Die Beredsamkeit pflegt fast syste- matisch zwischen beiden Typen zu wechseln, was gelegentlich aber auch die erzählende und wissenschaftliche Prosa tun.
Die geradlinige Entwicklung bedient sich der beiden Formen der Akkumulation und Amplifikation, die gewundene der Antithese mit einigen Nebenformen.
Im übrigen versteht es sich von selbst, daß die Rede noch von zahl- reichen Faktoren mit bedingt wird, insbesondere von dem Unterredner, seinem Gesichtsausdruck, seinen Einwürfen; sehr hübsch hat dies Hein- rich V. Kleist in dem charakteristischen Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" (Erich Schmidts Ausgabe 4, 74) illustriert. Die Grundform der Bewegung bleibt jedoch davon unberührt: eine „Mitteilung" oder sonst ein in sich abgeschlossenes Stück Rede wird von vornherein in gerader oder krummer Linie konzipiert. Wie, hängt natür- lich von der Stellung des Sprechenden zum Gegenstand ab: was für A noch Gegenstand der Untersuchung ist, kann für B schon zur glatten Aus- sage reif sein.
') Außer den mehrfach genannten Ame- rikanern kann Vockeradt (Das Studium des
deutschen Stils an stilistischen Musterstücken) als Führer dienen.
118 Stilistik.
§ 135. Formen der Entwicklung. In gerader Linie schreitet der Ge- danke da fort, wo der Kern bereits klar vor dem Auge steht. Wer ein Märchen oder einen Roman erzählen, die Geschichte eines Reiches darstellen oder die Vegetation einer Insel beschreiben will, geht von einem deutlichen Gesamteindruck aus und entwickelt diesen nun, indem er ihn in seine tatsächlichen Elemente zerlegt. Zu diesem Zweck schafft er sich eine begriffliche Einheit (oder übernimmt eine vorhandene) und ordnet die in jenem Gesamteindruck enthaltenen Einheiten in eine Linie, weil die schriftstellerische Darstellung ein Nacheinander erfordert. Diese Linie kann der Anordnung in der Zeit entsprechen, wie zumeist bei historischen Berichten und erfundenen Erzählungen; oder der Anordnung im Raum, wie bei Be- schreibungen aller Art; oder der Anordnung in der dritten Dimension des Denkens, wie bei systematischen Darstellungen wissenschaftlicher Disziplinen. Hierüber ist des näheren noch bei der Disposition is. u. § 165 f.i zu sprechen. Hier kommt es nur darauf an, kurz zu zeigen, wie aus dem klar erkannten Kern, aus der „Zelle" sich der ganze Organismus entwickelt.
Sehr häufig aber ist der Kern noch nicht klar, der Gesamtein- druck noch undeutlich, und er soll erst aufgeklärt, der Kern erst her- ausgeschält werden. Dann versuchen wir, von allen Seiten her tastend, dem Kern näher zu kommen, weichen zurück, wenn die Angriffsstelle sich nicht bewährte, gehen wieder vorwärts und nähern uns so in Spiralen immer mehr der Seele des erschauten Gegenstandes, bis sie uns endlich ihr Ge- heimnis ausspricht. Auch hier macht es prinzipiell keinen Unterschied, ob das zu Erkennende eine Stecknadel in unserm Rock oder die Frage des Fortschritts in der Weltgeschichte ist. Wir ordnen den problematischen Gegenstand zunächst in irgend eine Kategorie ein, der er angehören muß; suchen innerhalb derselben genauer und immer genauer seinen Platz zu bestimmen, haben ihn endlich. In Rostands „Cyrano" nähert sich eine undeutliche Gestalt; der sie wahrnimmt, fragt und antwortet:
Est-ce un homme'.' est-ce iine femme? Non — c'est un capucin!
Aber diese burleske Bestimmung ist doch wirklich das Ergebnis der annähernden Beobachtung. Mann oder Frau kann's eigentlich nur sein — aber gewissermaßen ist es doch was drittes: ein Kapuzinermönch!
Die geradlinige Entwicklung besitzt also gleichzeitig eine verbrei- ternde, die gewundene eine verengende Tendenz. Denn jene will den deutlich erfaßten Gesamteindruck von seinem Kern aus aufbauen, diese den undeutlich erfaßten von seinem Kern aus erfassen.
Eine dritte Methode ist kaum denkbar; wohl aber allerdings unzählige Kombinationsformen.
§ 136. Geradlinige Entwicklung. Schreitet die Entwicklung von dem in seinem Kern deutlich erfaßten Gesamteindruck oder gar unmittelbar von diesem selbst aus zu einem Aufbau der Gesamtvorstellung vor, so gibt es zwei Formen. Entweder nämlich wird der Gesamteindruck selbst betont, oder
Zehntes Kapitel. Die Satzverbindung in inhaltlicher Hinsicht. 119
die ihn hervorrufenden Bestandteile. Im ersten Fall haben wir die Akku- mulation, die rasche Anhäufung der Faktoren: sie dient lediglich dem Zweck, durch deren Versammlung ihre Gesamtwirkung zu rekonstruieren, etwa wie in der impressionistischen Malerei nebeneinandergesetzte Farben- flecke sich zu einem bestimmten Bilde summieren. Im zweiten Fall haben wir die Amplifikation, die breite Ausmalung der Faktoren: sie dient dem Zweck, durch jeden einzelnen einen bestimmten einzelnen Teil der Ge- samtwirkung zu rekonstruieren, etwa wie in der älteren Malerei der genau ausgemalte Baum, die sorgfältig gezeichnete Straße, die fein modellierte Staffage jedes für sich ein unabhängiges Stück des Gesamteindrucks liefern sollen. Hier wird dieser Gesamteindruck aufgeteilt, dort sind seine Faktoren gleichsam mediatisiert und keiner von ihnen kann für sich etwas bedeuten wollen.
Am deutlichsten unterscheiden sich beide Methoden — die sich natür- lich wieder kreuzen und ergänzen — bei der Beschreibung; man hat sie deshalb auch oft lediglich für Methoden der Beschreibung angesehen.') Sie sind aber Methoden der direkten Entwicklung überhaupt.
§ 137. Akkumulation. Die Akkumulation oder Anhäufung geht also der Reihe nach von einem Glied zum andern fort. So also z. B. in Zolas Beschreibung von Paris in Une page d'amour:-) die Gas- flammen — im Hintergrund die dunkle Masse der Stadt — das Licht einer sich heranbewegenden Wagenlaterne und in ihrem Schein Häuser- fassaden — die Helligkeit der stärker beleuchteten Verkehrspunkte u. s. w. Aber genau so auch bei irgendeiner Erzählung, z. B. der berühmten des Hauptmanns in „Wallensteins Tod" (4. Aufzug 10. Auftritt. — Bei Goedeke 12, 352). Erst allgemeine Zeichnung des Standes vor Beginn. Nun eine Wolke Staub — der meldende Vortrab — Aufsitzen — An- griff — Kampf — Ansturm und Sturz Max Piccolominis. Alles in einer langen schmalen Linie, Glied auf Glied aufgereiht; und so ergibt sich der Gesamteindruck der tragischen Katastrophe, von dem der Erzähler ausgeht, wie bei Zolas Beschreibung der des dunkeln Paris mit seinen Lichteffekten, die an die Kraft des englischen Malers Whistler erinnern.
§ 138. Amplifikation. Die Amplifikation definiert -Blair (1, 418) nach Quintilian als eine kunstvolle Herausarbeitung aller Umstände des- jenigen Gegenstandes oder derjenigen Handlung, die wir in helles Licht — günstiges oder ungünstiges — zu setzen wünschen. Albalat (a. a. O. S. 189) kontrastiert sie scharf mit der Akkumulation: „diese besteht in der Überfülle der nebeneinander gesetzten Einzelheiten. Man sagt zu viel Dinge. Die Amplifikation dagegen beutet die Rhetorik aus, vervielfältigt die Gleichnisse, verdoppelt die Metaphern, verändert die Bilder, erschöpft die Epitheta." Oder, wie er' zum Schluß pointiert sagt: „bei der Akkumu-
') So Albalat, Formation du style 1 -) Vgl. Albalat a. a. O. S. 183.
S. 182 f.
1 20 Stilistik.
lation setzt man das Gericht aus unendlich viel Kleinigkeiten zusammen; bei der Amplifikation gießt man eine breite Sauce darüber".
Indes könnte diese Darstellung dazu verleiten, in der Akkumulation einfach die Methode der schlichten, in der Amplifikation die der sogenannten „blühenden" Diktion zu sehen. Das stimmt doch nicht ganz. Die Am- plifikation bedient sich wohl gern aller rhetorischen Hilfsmittel, weil eben alle aus einer affektvollen Betrachtung der Gegenstände hervorgehn; aber sie kann auch selbst schlicht sein. Man nehme eine meisterhafte Stelle aus G. Kellers „Kleider machen Leute" (Die Leute von Seldwyla 2, 38):
Wenn ein Fürst Land und Leute nimmt, wenn ein Priester die Lehre seiner Kirche ohne Überzeugung verkündet, aber die Fülle seiner Pfründe mit Würde verzehrt: wenn ein dünkelvoller Lehrer die Ehren und Vorteile eines hohen Lehramtes inne hat und genießt, ohne von der Höhe seiner Wissenschaft den mindesten Begriff zu haben und derselben auch nur den kleinsten Vorschub zu leisten: wenn ein Künstler ohne Tugend, mit leichtfertigem Tun und leerer Gaukelei sich in Mode bringt und Brot und Ruhm der wahren Arbeit wegstiehlt: oder wenn ein Schwindler, der einen großen Kaufmanns- namen geerbt oder erschlichen hat, durch seine Torheiten und Gewissenlosigkeiten Tausende um ihre Ersparnisse und Notpfennige bringt, so weinen alle diese nicht über sich, sondern erfreuen sich ihres Wohlseins und bleiben nicht einen Abend ohne auf- heiternde Gesellschaft und gute Freunde.
Alle diese parallelen Sätze verweilen auf einem Punkt, malen ein Glied des Gedankens aus: die Betrachtung, wie wenig Gewissensbisse der Betrüger in der großen Welt zu empfinden pflegt. Das ist Amplifikation: dies eine ausgemalte Glied soll sein Teil Stimmung (moralische Erregung, Anklagestimmung im allgemeinen, die zur Freisprechung im einzelnen führt) selbständig erwecken.
Oder umgekehrt eine sogar in parodistischer Übertreibung mit malen- dem Detail überladene Beschreibung, wie im Anfang von Immermanns „Münchhausen" die des unaussprechlichen Indianerstammes. Die smaragd- grünen Abhänge, die pfirsichblütenen Kühe und Stiere, die feurigen Kälber — keins von diesen farbenreichen Details will für sich wirken, sie sollen sich zu einem Gesamteindruck von barbarischer Buntheit summieren. Schlicht ist das sicher nicht; aber es bleibt Akkumulation.
Über die Anwendung beider Formen läßt sich nur sagen, daß sie eben in ihrem Wesen begründet sein soll. Wo alles auf den Gesamteindruck ankommt, wie bei starken tragischen oder komischen Effekten, bei wirkungs- vollen Redeschlüssen, da stört jede Amplifikation; wo ein behagliches Ver- weilen in der Situation angebracht ist, wie in ruhiger Erzählung, da wirkt sie so vortrefflich, wie wir es etwa in Mörikes Novellen oder Rankes Geschichtsbüchern oft zu bewundern haben. Eine Abwechslung aber wird sich überall empfehlen, da eben überall Momente der gesammelten Span- nung, die nach der Lösung im Effekt verlangt, ruhigeren vorbereitenden Vortrag unterbrechen oder abschließen.
§ 139. Gewundene Entwicklung. Die Entwicklung in gewundener Bewegung beruht in letzter Linie auf der Zweiteilung, wie die in gerader
Zehntes Kapitel. Die Satzverbindung in inhaltlicher Hinsicht. 121
Bewegung auf einer unbegrenzt fortschreitenden Aufzählung. Das noch undeuthch erschaute Objekt wird, wie schon angedeutet, zunächst auf eine große Linie festgelegt, innerhalb deren es jedenfalls seinen Punkt haben muß. Unter diesem Gesichtspunkt richten die Achäer Homers oder genau ebenso die Indianer orientierende Fragen an einen fremden Mann: „Wer bist du unter den Männern?"; ebenso die alten Germanen: „wer ist das unter den Männern?".') Damit ist die Beziehung des Fragenden zu dem Erfragten in ihren Grundlagen gekennzeichnet: es ist das Verhältnis eines Mannes zu einem Mann, nicht zu einem Gott, nicht zu einem Weib.
Es gibt zahllose derartige Orientierungsmittel, die den Ausgangs- punkt einer Gedankenbewegung bilden können, indem sie die Beziehungen von Subjekt oder Prädikat aus der leeren Luft auf den festeren Boden allgemeiner bekannter Voraussetzungen tragen. Über sie wie über die Er- scheinung im ganzen ist noch nirgends gehandelt worden. Aber nur von diesem Gesichtspunkt aus wird eine der wichtigsten und bekanntesten Fi- guren völlig verständlich: die Antithese.
§140. Zweiteilung. Goethe beschreibt Schiller mit lebhaftester An- schaulichkeit seine Konzeption der „Urpflanze". Schiller hört aufmerksam zu; dann aber antwortet er: „Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee" (Goethe „Erste Bekanntschaft mit Schiller", Biographische Einzeln- heiten 1794; Hempels Ausgabe 27, 1, 311. Zur Sache vgl. v. Wasiliewski, Goethe und die Deszendenzlehre, Leipzig 1904). Was bedeutet diese Antithese? Pedantisch umschrieben, sagt sie: „Was Sie mir da als tat- sächlich vorhanden beschreiben, gehört auf der langen Linie, die von sicherer empirischer Kenntnis zu unsicherer spekulativer Vermutung führt, an das Ende". Denn genau genommen, gibt es ja keine „Gegensätze", sondern nur Gradunterschiede: 2) wir nehmen auf der Linie einen festen Punkt an und bezeichnen die am weitesten von ihm entfernten Lagen alr „Gegensätze". „Gut" und „schlecht" sind an sich so wenig „Gegensätze" wie 12" Wärme und 12» Kälte; es sind nur gleiche Entfernungen von einem Indifferenzpunkt. Auf eine solche Linie also wird die einzelne Erscheinung eingetragen, indem die Antithese die beiden Punkte liefert, durch die die Linie festgelegt wird.
Die Antithese ist also nicht, wie irrig fast überall behauptet wird, ein Kunstmittel des stilistischen Raffinements. Als solches ist sie vorzugsweise von den Franzosen benutzt worden (die dazu schon der gleichschenklige Bau ihres Lieblingsverses, des Alexandriners, reizen mußte), oft aber auch unter ihrem Einfluß z. B. von Schiller. Aber von vornherein ist sie volks- tümlich (vgl. meine Altgermanische Poesie S. 290, 460 f.). „Himmel und Erde", „nah und fern'', „fragen und antworten" sind uraUe Formeln. An ihnen allen wird jene Tendenz deutlich. „Davon wird nah und fern ge-
1) Vgl. meine Altgermanische Poesie -) Vgl. z. B. Mauthner, Beiträge zu
S. 383. I einer Kritik der Sprache.
1 22 Stilistik.
sprachen." Was heißt das? Einfach: davon wird überall gesprochen. Aber der abstrakte Begriff „überall" wird lebendig durch die hineingeschobene Aufteilung. Von dem wunderbaren Kampf wird gesprochen. Aber wo? Strahlen gehen von dem Kampfort aus; natürlich spricht man unmittelbar an seiner Stätte davon, wo Zeugen leben, aber auch weiter läuft das Ge- rücht jeden dieser Strahlen entlang — und so ist rings umher ein Strahlen- kranz: überall spricht man davon, nah und fern. Ebenso teilt etwa eine mittelhochdeutsche Formel auf: „Alte und Junge" oder „Reiche und Arme", wo es sich eigentlich weder um Lebensalter noch um Vermögen handelt; also mit geringerer logischer Schärfe als in dem Beiepiel „nah und fem". Immerhin aber: die Antithese charakterisiert sich auch hier als die Auf- teilung einer unbestimmten Größe unter einem bestimmten Ge- sichtspunkte.
Das Wesentliche an der Antithese ist also, so paradox es auch klingt, zunächst nicht der Gegensatz, sondern die Übereinstimmung ihrer Glieder. Der Ethiker einer fernen Vorzeit, der zuerst „gut" und „böse" in eine antithetische Formel preßte, leistete nicht dadurch etwas Neues, daß er die beiden Begriffe unterschied — sie waren längst unterschieden; sondern dadurch, daß er die beiden unterschiedenen Begriffe auf einer Linie als Grenzpunkte anordnete. Ebenso geschieht es noch heute in wissenschaft- licher Forschung. Wer über die innere Beziehung von Licht und Elektri- zität endlich das eriösende Wort aussprechen wird, hat nicht die Verschieden- heit der beiden großen Kräfte aufzudecken, sondern den Gesichtspunkt, unter dem sie als zwei verschiedene Bewegungsformen oder Energieformen einer Art angesehen werden können. Goethe tat Linne Unrecht, indem er ihn lediglich als einen „trennenden" Geist betrachtete: die Anordnung aller bekannten Organismen in eine fortlaufende Reihe betonte viel stärker ihre innere Gemeinschaft — dem Reich des Unorganischen gegenüber — als die Scheidung in Pflanzen und Tiere ihre Zweiteilung.
§ 141. Antithese. Aus unserer Grundauffassung der Antithese ist alles für diese Figur Wesentliche herzuleiten.
Vor allem sehen wir: das Wichtigste bleibt immer die Einheit der Grundlage für die antithetischen Punkte. Nord- und Südpol müssen durch die Erdaxe verbunden sein. Freilich läßt sich durch zwei mathematische Punkte immer eine Linie legen und nur eine; aber Begriffe sind eben keine mathematischen Punkte. Entsprechen sie sich nicht genau, so wird die Antithese schief. Grillparzer charakterisiert Mettemich klar und scharf, wenn er meint, er sei ein hervorragender Diplomat, aber kein bedeutender Staatsmann gewesen: Diplomat und Staatsmann sind zwei weit ausein- andediegende Punkte auf der Linie, die vieleriei Nuancen in der Vertretung des Staatsinteresses verbindet. Sagen wir: ein großer Diplomat, aber kein großer Minister, so ist auch das noch zu halten, aber die Antithese beginnt sich zu verwischen. Sagen wir aber: ein großer Diplomat, aber unfähig
Zehntes Kapitel. Die Satzverbindung in lnhaltucher Hinsicht. 123
im Verhandeln mit fremden Mächten, so ist sie völlig schief geworden, denn diese Kunst bildet einen wesentlichen Teil der Diplomatie. Es ist, als sagten wir: er hat große Körperkräfte, aber keine Muskeln.
Stärker als bei der Antithese kommt die Frage der Schiefe bei ihrer Steigerung, dem Chiasmus (s. u.) zur Geltung.
Die beiden Begriffe müssen aber nicht bloß eine gemeinschaftliche Grundlage haben, sondern auch durch weite Entfernung von einander deren Länge und Bedeutung anschaulich machen. Die Antithese muß nicht nur richtig sein, sondern auch scharf. Zwar meint Jean Paul (Vorschule der Ästhetik § 47), am schönsten sei die Antithese und steige am höchsten, wenn sie beinahe unsichtbar sei. Aber der Gebrauch aller in Antithesen geübten Poesien und Dichter beweist das Gegenteil: je schärfer, desto wirksamer. Es kann sich einmal empfehlen, die Antithese umzubiegen: „die Franzosen müssen entweder Robespierres Richter oder seine Unter- tanen sein". „Denn den Richtern wird nur die gerichtete Partei, den Unter- tanen nur der Herrscher entgegengesetzt; aber nicht der Richter den Unter- tanen" (Jean P.a.ul a. a. O., Werke 18, 218) ^ und gerade deshalb kann es Eindruck machen, wenn statt des erwarteten Wortes ein noch stärkeres steht. Erwartet wird: seine Richter — oder die Opfer seiner richteriichen Willkür; aber nun steigert der Sprechende das noch: — oder die Opfer seiner Willkür überhaupt. Die Antithese enthält also diesmal eine \er- kleidete Klima.x (s. u.). In der Regel wird doch eine scharfe Gegenüber- stellung mehr fruchten; bei der häufigen Anwendung der Zweiteilung zu nähernder wissenschaftlicher Untersuchung ist sie vollends unentbehrlich.
Die Schärfe wird verstärkt, wenn die entgegengesetzten Begriffe jeder ein verdeutlichendes Gefolge haben; darum verbindet sich die Antithese gern mit dem Parallelismus (s. o. § 127). Man darf aber nicht mit Gerber (2,2, 11) die Gegenüberstellung entgegenlaufender Sätze für das Ursprüngliche halten. Sowenig die Metapher notwendig ein verkürztes Gleichnis zu sein braucht, so wenig muß eine antithetische Formel (soge- nannte „Zwillingsformeln" wie „Himmel und Erde", „alt und jung", vgl. meine Altgermanische Poesie S. 240 f., 461) aus einem antithetischen Satz- verhältnis konzentriert sein : die Gegenbegriffe können direkt aufgefaßt werden. Offenbar ist das der Fall in den unendlich häufigen Beispielen, wo die Sprache einen negativen Gegenbegriff allgemein geprägt hat: „schön" und „unschön" — neben „häßlichl"; „Mensch" und „Unmensch". —
Aus unserer Herleitung geht aber auch weiter her\'or, was bei der üblichen Auffassung der Antithesis unverständlich bleibt: daß die Antithese auch mehr als zwei Glieder umfassen kann. Zunächst kann auf der fest- gelegten Linie zwischen den beiden Grenzpunkten ein dritter, etwa in gleicher Entfernung von beiden liegen; oder man geht über einen oder über beide hinaus, wobei immer eine ungefähr gleiche Entfernung eingehalten werden mag. So entsteht die Klimax (s. u. § 143). Wesentlich bleibt nur, daß
124 Stilistik.
die Grundlinie klar bleibt. Ich erinnere an das bekannte Scherzwort, wie ein englischer, ein französischer und ein deutscher Maler sich der Aufgabe entledigen würden, ein Kamel zu malen : der Engländer würde sofort nach der Wüste abreisen, um das Kamel in seiner Heimat zu studieren; der Franzose würde in den zoologischen Garten gehen und im Buffon lesen; der Deutsche aber würde das Bild „aus der Tiefe des Gemüts" holen. . . Diese dreigliedrige Antithese setzt voraus, daß alle drei eine Anschauung von der Erscheinung des „Schiffes der Wüste" noch nicht besitzen, und zeichnet die verschiedene Energie, mit der sie sie zu erobern suchen. Der Vergleich stammt ja aus jener Zeit, in der der träumerische Hang der Deutschen über Spekulation und Phantastik alle reale Erfassung der Welt nur zu oft vergaß. —
Die Anwendung der Antithese ist damit gegeben. Sie ist nur be- rechtigt, wo eine unbestimmte Größe unter einem bestimmten Gesichts- punkt aufgeteilt werden soll. Das ist besonders in zwei Fällen deutlich:
1 . bei der wissenschaftlichen (oder ihr verwandten i Untersuchung, wo eine noch unfaßbare Menge von Möglichkeiten auf die eine Wirklichkeit gebracht werden soll. Es ist wie beim gesellschaftlichen Ratespiel: Ich sehe was, was du nicht siehst! Erster fragt: Tierreich oder Pflanzenreich? Tier- reich. Zweiter fragt: Groß oder klein? Klein. Dritter fragt: Fliegt es oder kriecht es? Es fliegt! u. s. w., bis der Speriing geraten ist. Die Klammer der Antithesen wird immer enger zusammengeschoben, bis wir das Objekt haben. Hier handelt es sich also um ein schrittweises Abschieben der nicht in Betracht kommenden Fälle und der Erfolg hängt vor allem von der Schärfe der Grundlinie ab; sonst geht eben alles vorbei.
2. bei der rhetorischen Darstellung, wo zwei verschiedene Möglich- keiten auf einen scharfen Gegensatz gebracht werden sollen. Gambetta rief den französischen Machthabern, als Mac Mahon sich dem Pariament nicht unterwerfen wollte, zu: „il faudra se soumettre ou se demettre': nur eins bleibt euch übrig: unterwerft euch oder dankt ab. (Die Anti- these ist, wie häufig, durch ein W^ortspiel verstärkt, s. u.) Hier sind alle andern Möglichkeiten auf einmal weggeschleudert. Der Erfolg hängt von der Schärfe der Gegenbegriffe ab; sonst fällt eben alles zu Boden. —
Die Antithese ist in sehr verschiedenen Literaturen und Epochen mit Eifer gepflegt worden: in der hebräischen und der altgermanischen, der spätlateinischen und der französischen Poesie; individualisierende Unter- suchungen fehlen noch gänzlich. Bei uns ist Schiller der große Meister sowohl der wissenschaftlichen als auch besonders der rhetorischen Antithese. Der größte Virtuos der Antithese überhaupt aber ist Victor Hugo, dessen unermüdliche Abnutzung dieser Figur freilich auch die Gefahren ihrer Über- treibung an den Tag bringt. Er hat sie aber auch großartig zu ver^^•enden gewußt, vor allem in symbolischem Gebrauch. Das berühmte ^ceci tuera celä" in „Nötre Dame de Paris", das der Grübler ausspricht, indem er
Zehntes Kapitel. Die Satzverbindung in inhaltlicher Hinsicht. 125
erst auf das Buch, das Erzeugnis und Zeugnis der neuerfundenen Buch- drucl<erkunst, deutet und dann auf die Kathedrale, faßt in einem knappen und schlichten Wortpaar zwei Weltanschauungen zusammen: die religiöse und die rationalistische — zwei durch Welten selbst getrennte Formen der menschlichen Erbauung, der Erhebung zum Großen und Allgemeinen und faßt sie gleichsam mit mächtiger Hand, um jedes auf eine Wagschale zu legen.')
Als Hilfen der Antithese treffen wir also 1. das Wortspiel, das die verglichenen Begriffe auch lautlich auf eine Linie bringt; 2. das Symbol, das in jedem von ihnen den ganzen von ihm beherrschten Abschnitt der Linie zusammenballt; 3. den Parallelismus, der umgekehrt die Breite dieser Abschnitte anschaulich macht. Die vollkommenste Steigerung der Antithese ist aber der Chiasmus.
§ 142. Chiasmus. Der Chiasmus (Gerber 1, 590; von Wackernagel ebenso wie die Antithese übergangen) ist eine in Bewegung gesetzte Anti- these. Äußerlich kennzeichnet ihn die Kreuzstellung seiner Glieder — davon hat er auch nach dem wie ein Andreaskreuz gestalteten griechischen Buch- staben Chi seinen Namen — ; innerlich ist er als die Verbindung zweier sich ergänzender Antithesen zu bezeichnen.
Wir wollen auf jene Charakteristik Metternichs durch Grillparzer zu- rückgreifen: „Das Urteil über Fürst Metternich dürfte bald fertig sein: ein ausgezeichneter Diplomat und ein schlechter Politiker'' (Werke, heraus- gegeben von A. Sauer 14, 149) — Worte, die wir oben in die moderne Ausdrucksweise übersetzt haben. Eine solche Aussage läßt gewissermaßen an zwei Stellen Lücken zurück: der Diplomat ist nicht ganz ein Staatsmann, der schlechte Politiker weniger als ein ganzer. Unwillkürlich möchte man die Lücken ausfüllen und sucht nach Ergänzung. Man könnte nun mit gutem Recht fortfahren: „Gerade im Gegensatz dazu war der Minister Stein ein ausgezeichneter Politiker und ein schlechter Diplomat". Die beiden Figuren vervollständigen sich zu „zwei Ganzen", wie Tasso und Antonio nach des Dichters Wort („Tasso" III, 2, Vers 170 f.).
Oder nehmen wir ein Beispiel mit festbleibendem Subjekt. Wenn der heilige Remigius bei der Taufe zu König Chlodwig spracTi : „verbrenne, was du angebetet hast", so fühlen wir eine Leere: was dem Mann heilig war, ist nicht mehr da. Es beruhigt uns, wenn der Bischof die Antithese zu einem der berühmtesten Beispiele des Chiasmus ausbaut: „bete an, was du verbrannt hast". Nun hält sich alles im schönsten Gleichgewicht.
Der Chiasmus ist also da am glücklichsten, wo er aus einer (selbst schon berechtigten) Antithese herauswächst. Wir sahen schon (s. o. S. 112), daß jede Metapher ein symmetrisches Gegenbild hat; stellen wir dies ins Licht, so haben wir vollgültigen Chiasmus: „Rubens, der König der Maler
') Vortreffliche Beobachtungen über den Formation du style S. 191 f. .Mechanismus" der Antithese bei Albalat,
126 Stilistik.
— und der Maler der Könige''; und so bei jeder „kenning", jeder aus Appellativen gebildeten Umschreibung, z. B. bei Bodenstedt:
Der Augenblick der Seligkeit,
Die Seligkeit des Augenblicks! Wie geschaffen ist daher der Chiasmus, um jene zwiespältigen Naturen zu charakterisieren, die zwischen zwei großen Klassen stehen, wie die Fleder- maus der Fabel, die unter den Vögeln die Maus und unter den Mäusen der Vogel scheint; jene amphibischen Talente, wie etwa der General v. Ra- dowitz, über den M. Hartmanns „Reimchronik" berichtete:
Von ihm versichern die Soldaten:
Er sei ein trefflicher Diplomat;
Und von ihm versichern die Diplomaten:
Er sei ein trefflicher Soldat:
also, chiastisch konzentriert: „für einen Soldaten — ein guter Diplomat; für einen Diplomaten — ein guter Soldat". Mit vielem Witz hat Heine zahlreiche Genossen seiner zwiespältigen Zeit so auf der Folterbank des Chiasmus gevierteilt.
Für den Chiasmus, als einen gesteigerten Grad der Antithese, gelten nun aber auch doppelt streng deren Bedingungen.
Vor allem also müssen auch hier, und hier erst recht die Glieder- paare jedesmal scharf und deutlich auf einer begrifflichen Linie stehen. Es entsteht sonst eine peinliche Verschiebung der Dinge vor unserm anders eingestellten Auge. So in der „Jungfrau von Orleans" (IV, 12, Vers 4075 f.): Burgund: Entsetzlich! — Doch dem Vater muß man glauben.
Der wider seine eigne Tochter zeugt! Dunois: Nein, nicht zu glauben ist dem Rasenden.
Der in dem eignen Kind sich selber schändet!
Chiastisch: Er ist der Vater — darum muß er Glauben finden; er darf keinen Glauben finden — weil er der Vater ist. Aber nun wird aus dem „Vater" der „Rasende", aus dem „Zeugnis ablegen" ein „schänden", und die Fortentwicklung des Gedankens zerstört die Selbstentwicklung der Anti- these. Sonst ist gerade Schiller oft ein Meister des Chiasmus, wie im „Demetrius" (I, 1, Vers 25 f.):
Sapieha: /hn hören, heißt ihn anerkennen.
Odowalsky: Ihn
Nicht hören, heißt ihn angehört vem<erfen.
Wir bemerken bei dieser Gelegenheit, daß die Umordnung der chiastischen
Glieder in zwei Parallelen a-b-a-b statt a-b-b-a- — nichts im Wesen der
Figur ändert, allerdings aber ihre Wirkung leicht schwächen kann.
Zweitens ist hier noch mehr als bei der einfachen Antithese auf Schärfe der Gegensätze zu achten. Ein Zeugma wie in Strachwitz' schönster Ballade
Kurz ist die schotfische Geduld Und lang ein schottisches Schwert
überhört man über dem Säbelgerassel des Kampfes; aber die Schlußworte der „Braut von Messina" mit ihrem Begriffspaar Lehen — Schuld mag
Zehntes Kapitel. Die Satzverbindung in inhaltlicher Hinsicht. 127
schon eher verletzen. — Unwichtig dagegen scheinen uns die auf die äußere Anordnung gehenden antiken Unterscheidungen von Antimetabole (mit einem bleibenden Glied) und Antimetathesis (mit tauschenden Glie- dern), für die, wie für die Figur überhaupt, Gerber (2, 1, 221 f.) reichliche Belege gibt.
Antithesis und Chiasmus werden wegen ihrer starken und ordnenden Kraft weit über den Satz hinaus verwandt. Ganze Erzählungen, zumal lehrhafter Art, bauen sich auf fortgesetzter Antithese auf; so die Parabel von den klugen und törichten Jungfrauen und mancher didaktische Roman. Den Chiasmus hat besonders W. H. Riehl gern zum Hausplan seiner No- vellen gemacht. So spielt die vortreffliche Geschichte „Vergelts Gott!'' ganz auf dem Schema, daß Hans ein natürlicher und Veit ein künstlicher Krüppel, Veit dagegen ein natürlicher und Hans ein künstlicher Augsburger war.i)
§ 143. Klimax. Wo zwei Antithesen kombiniert werden (mit einem gleichen und drei ungleichen oder mit vier ungleichen Gliedern), entsteht Chiasmus; wo mehrere so geordnet werden, daß die sich entsprechenden Glieder eine fortlaufende Reihe bilden, entsteht die Klimax {„Leiter'') oder Gradation.2)
Kehren wir nochmals zu jener Charakteristik Metternichs zurück. Dieser ist ein guter Diplomat, ein schlechter Staatsmann. Zwei Glieder sind hier entgegengesetzt, zwischen denen oder über die heraus leicht ein drittes Platz findet. Wir müßten aber dann die jetzt auf die Zweizahl ge- stellte Adjektivgruppe ändern. Etwa mit Benutzung der adjektivischen Komparation: „nicht gut als Politiker, besser als Diplomat, am besten als Hofmann". Aber viel wirksamer natürlich mit lauter positiven Gliedern: „Goethe, groß als Forscher, größer als Dichter, am größten als Mensch". Wobei natürlich das Mittelstück so geordnet werden kann, daß es zu den beiden andern in Kreuzform steht.
Die Klimax hebt die gemeinschaftliche Grundlinie, die Skala, noch prägnanter hervor als Antithese und Chiasmus, schwächt dafür aber die „Gegensätze" in bloße Entfernungszeichen, Merksteine auf dieser Linie ab. Sie ist selten mehr als ein rhetorisches Prunkstück. Natürlich kann sie über die Zahl der grammatischen Steigerungsgrade herausgehen, doch hört die Überschaulichkeit bei vier Stufen der Leiter auf.
Erhöht wird die Wirkung der Klimax, wenn sie durch eine Anti- klimax, eine Gradation in absteigender Linie, ergänzt wird. An sich ist zwischen Klimax und Antiklimax kein prinzipieller Unterschied, da es ja nur darauf ankommt, daß ein bestimmtes Merkmal in mehreren Stufen durchgeführt wird; „wenig, weniger, am wenigsten" ist eben auch eine
') Geschichten aus aUer Zeit' 2, 183; \ ^) Wackernagel S. 410, Bain 1, 225;
vgl. ferner z. B. ebendaselbst 1, 1 f. „Der psychologische Erklärung bei Herbert Spen-
stumine Ratsherr" und besonders 1, 123 f. cer, Philosophy of style S. 42. .Jörg Muckenhuber".
128 Stilistik.
„Steigerung". Der Ausdruck „Antiklimax" ist also nicht, wie gewöhnlich geschieht, absolut, sondern lediglich relativ zu fassen.
Antikhmax ist also diejenige Klimax, die einer andern entgegenläuft. So soll Karl Friedrich von Baden, als man ihm die Königskrone anbot, gesagt haben: „Ich war ein reicher Markgraf, ich bin ein armer Groß- herzog, was sollte ich wohl für ein König sein?" Die Steigerung der Titel wird durch die Abnahme der Mittel parallesiert.
Vor allem setzt die Antiklimax gern einer Steigerung in der Qualität eine Abnahme in der Quantität entgegen (oder umgekehrt): „Viele Thyrsus- schwinger, aber wenige Bakchen" ; „Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt" .
Die Klimax wird gern als Grundschema von Erzählungen gewählt, besonders in der einfach übersichtlichen Anlage von Volksmärchen, wie dem vom Fischer und seiner Frau (Brüder Grimm, Haus- und Kindermärchen, Nr. 19).
§ 144. Kette. Bleibt die Fixierung von Punkten auf der Linie bestehen, wird aber die „Gegensätzlichkeit" derselben noch weiter abgeschwächt, so entsteht die Kette. Bain (1,231) rechnet z. B. folgende Verse Tennysons
noch zur Klimax:
Die Tage werden Wochen, die zu Monden, Die Monde mehren sich und bilden Jahre, Die Jahre runden sich zu Jahrhunderten, Und immer bleibt mein Name in Verachtung.
Die endlose Linie der Zeit mit ihren kleinen, größeren, großen Ab- schnitten tritt in unsern Sinn; auf die endlose Linie allein kommt es an. Das ist keine Klimax mehr, denn in dieser ungeheuren Gleichmäßigkeit wird ja eben der Unterschied verwischt: die Tage werden Wochen, Monate, Jahre.
Eine solche Kette, in der die ersten Glieder wie im Chiasmus ver- bunden sind, die folgenden aber diese Wirkung aufheben, bilden die er- greifenden Worte der Prinzessin im „Tasso" (3, 2, Vers 1912): Es gibt ein Glück, allein wir kennen' s nicht: Wir kennen' s wohl, und Wissens nicht zu schätzen.
Man erwartet: „Wir kennen's wohl, und dann ist's uns kein Glück", im Sinne jenes berühmten wirklichen Goethischen Chiasmus: So taumf ich von Begierde zum Genuß. Und im Genuß verschmacht ich vor Begierde.
Statt dessen aber folgt ein viertes Glied, das lediglich auf den Stand des ersten Verses zurückführt: mit oder ohne Glück — wir sind immer unglücklich, grob ausgedrückt, aus dem Stil des „Tasso" gleich in den der „Zahmen Xenien" herunter übersetzt: „und regnet's Brei — uns fehlt's am Löffel''. So zieht sich die Kette ein Stück vor unsern Augen hin, und verschwindet dann, und läßt uns die Ahnung einer unendlichen Fortsetzung. Dies ist unmittelbar betont in den berühmten Schlußworten von Lenaus „Albigensern":
Zehntes Kapitel. Die Satzverbindung in inhaltucher Hinsicht. 129
Den Albigensern folgten die Hussiten Und zahlten bliitig heim, was diese litten — Auf Huß und Ziska folgten Luther, Hütten, Die dreißig Jahre, die Cevennenstreiter, Die Stürmer der Bastille — und so weiter.'
Freilich ist hier äußerlich die Form der Kette ganz in die der Häu- fung aufgegangen; aber die eigentliche Form bleibt doch kenntlich: „Auf Huß und Ziska folgen Luther und Hütten, auf Luther und Hütten — " (Über die kettenartige Fortführung von Gedichten und ihren Reiz vgl. Groos, Spiele der Menschen, S. 44.)
§ 145. Wortspiel. Wie oft das Wortspiel (W.\ckernagel S. 391) die Antithese begleitet und verstärkt, wurde schon (siehe oben § 141 S. 124,2) angemerkt. Wiederholt fanden wir das Wortspiel schon auf unserm Wege: alle Arten der Annominatio und besonders die figura etymologica (siehe oben §53) gehören eigentlich schon zu den „Laut- und Wortspielen"; das Epitheton in seiner Beziehung zum Wortsinn des Appellativums (siehe oben § 52 Anfang) nicht minder. Dennoch ist hier der eigentliche Platz, um das Wortspiel zu besprechen. Den Gegensatz dadurch zu verstärken, daß die kontrastierenden Worte sich lautlich angenähert werden und so ihre Beziehung noch augenfälliger hervortritt, das ist die eigentliche Haupt- aufgabe des Wortspiels. Hierin wandelt es wieder auf den allgemeinen Wegen der Sprache: sie liebt es auch, Gegenbegriffe formell aneinander zu nähern und etwa zu dem flexivisch berechtigten Genetiv ^des Tags" einen lediglich analogischen „des Nachts" (statt „der Ahickt") zu bilden. Wie der Reim, mit dem es manche Beziehungen aufweist (auch besonders in seinem oft irrationalen Charakter; vgl. meinen Aufsatz Über den Wort- witz, Neue Jahrbücher für Philologie, 1903 S. 122 f.), hat auch das Wort- spiel „das Dauernde im Wechsel" die Übereinstimmung im Gegensatz zu symbolisieren.
Natürlich ist es nicht aus dieser Absicht entstanden. Seinem Ursprung nach ist es ein Lernspiel: der Freude der Kinder am Bewältigen des Sprachstoffs (vgl. Groos a. a. O. S. 41 f.) verdankt es seine Verbreitung schon in der Kinderstube. Vor allem gehört dahin auch die am meisten angefochtene Form des Wortspiels: der Namenwitz (vgl. meine „Apologie des Namenwitzes", Nation 33, 510 f.); jedes geweckte Kind wird, wenn es etwa den Namen „Lachmann" hört, fragen, ob der auch immer lacht. Gerade der Namenwitz ist deshalb auch uralt volkstümlich, ') und die „Volks- etymologie", die etwa den Ortsnamen Fridislar, das heutige Fritzlar, in pacis habitaculum, Friedenshaus (mit lär Haus) oder gar in pacis doctrina, Friedenslehre, umdeutet (J. Grlmm, Kleine Schriften 1, 305) vollführt einen unwillkürlichen Namenwitz. -) ■
') Vgl. meine Altgermanische Poesie S. 301.
Handbucb des deutschen Untemdits. Bd. m, Teil 1.
-) Zahlreiche Beispiele bei Andresen, Deutsche Volksetymologie.
130 Stilistik.
Die breite Grundlage des Wortspiels im Wesen der Sprache hebt denn auch Gerber (2, 1, 111 f.) — in solchen Fragen fast immer der einzige Bahnbrecher moderner Anschauungen — mit einer Menge von Belegen her- vor. Und seine Verwandtschaft mit der Metapher beleuchten Bernhardis Worte (Sprachlehre 2,396): „Die Verknüpfung zweier Sprachsphären, welche gleichtönen, wobei aber eine bestimmte Betrachtung der Bedeutung beider vorkommt, heißt Wortspiel, und dieses ist die Fundamentalfigur aller übrigen musikalisch-poetischen Sprachfiguren. Das Wortspiel ist der Witz der Sprache." Unter diesem Gesichtspunkt haben ja auch die romantischen Dichter, vor allem Brentano, das Wortspiel geradezu als eine Wünschel- rute zum Auffinden verborgener Wahrheiten benutzt — gerade wie die Metapher auch. Das Wortspiel bedeutet eben für die sprachliche Form ganz dasselbe wie die Metapher für den sprachlichen Inhalt.
Indem also das Wortspiel zwei Bedeutungssphären (wie wir Bernhardis „Sprachsphären" modernisieren müssen) in Berührung bringt, erweitert es, wie die Metapher, die Anschauung. Goethes Verse
Man spricht, wie man mir Nachricht gab, Von keinem Graben, doch vom Grab
(Faust II, Vers 11557) oder Schillers
Nicht eine Schlacht — ein Schlachten war's zu nennen stellen neben das bereits gegebene Bild wirkungsvoll ein zweites. Un- richtig ist es also, das Wortspiel nur der Reflexion zuzuweisen; aber allerdings entstammt es nicht, wie die Metapher, unmittelbar der Anschau- ung, sondern mittelbar: aus der sprachlichen Anschauung geht es her\'or, zieht die Dinge durch das Medium der bereits geprägten sprachlichen Form. Das Wortspiel eignet sich also nach seiner Natur besonders dazu, kontrastierende Begriffe in engere Beziehungen zu bringen. So z. B. in einem Epigramm des Engländers Owen:
Prebyteri labiis orant, laicique laborant, Plebs, dum pro populo presbyter orat, arat.
Aber schon dies Beispiel zeigt, daß dem Wortspiel die Gefahr ge- künstelter Technik nahe liegt. Sie feiert dann wahre Triumphe, wenn sie ganz disparate Dinge zusammenlötet, wie etwa so viele Witzeleien Saphirs, oder wie selbst Schleiermachers bekannte Definition: „Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft."^)
§ 146. Verweisung. Neben diesen mehr innerlichen Formen der in- haltlichen Satzverbindung finden wir wiederum äußere. Der Zählung (siehe oben § 130) läßt sich die Verweisung vergleichen, das direkte Vor- und Rückgreifen aus einem Satz in den andern. Es geschieht meist in Form der Parenthese: „wie schon bemerkt", „wie wir gleich näher aus-
') Allgemeines zum Wortspiel bei Kuno | Material bei K. J. Weber, Demokrit 7, XXI\' Fischer, Über rten Witz S. 79 f., reiches und ll.W'lIi.
Zehntes Kapitel. Die Satzverbindung in inhaltlicher Hinsicht. 131
führen werden''. Es ist ein nicht sehr kunstvolles, aber bequemes Mittel, verschiedene Sätze und Satzgruppen zu „verzahnen", wie Goethe es nennt. Brentano macht sich über die eigentlich i<unstIose Form lustig, wenn er seinen Helden sagen läßt: „Dies ist der Teich, in den ich S. 266 im 1. Bande falle" (Kerr, Godwi S. 78).
§ 147. Hysterologie. Besonders eng wird diese Verschiebung der Sätze, wenn sie zu einer sogenannten Hysterologie (Wackernaqel S. 417) führt, d. h. zu einem chronologischen Chiasmus, wobei das Spätere zum Früheren gemacht wird. Das Hysteron proteron (Späteres zuvörderst) ist zwar zu- meist rhetorische Kunstform, so bei Vergil, der das Schiff (Georg. 1, 456) erst auf die See fahren und dann von dem Strick, der es am Ufer festhält, lösen läßt. Doch ist der Ursprung der Figur ein ganz einfacher: der Dichter sieht die ganze Handlung auf einmal und erzählt das Wesentliche; nachträglich scheint ihm doch auch noch eine vorbereitende Handlung oder der Anfang der eigentlichen Handlung der Rede wert. Doch begegnet unserer logischen Schulung diese Freiheit nicht leicht mehr (Gerber 1,594). Eine Ausdehnung der Figur, die ihren psychologischen Ursprung deutlich macht, ist die Anordnung vieler Novellen z. B. Th. Storms: die „Erinnerungs- technik" läßt die der Gegenwart am nächsten stehenden Ereignisse zuerst auftauchen und schreitet von da zu den früheren zurück. (Parodistisches Zurückschrauben in Chamissos Gedicht „Das Dampfroß", Ausgabe von Walzel S. 74.)
§ 148. Periodenbau. Diese zahlreichen Mittel, selbst recht umfängliche Satzgebilde und Systeme zusammenzuklammern, bleiben doch eben bloße Hilfe; die Hauptsache ist immer, daß die innere Gliederung und Anordnung der Sätze und Sätzchen selbst die begrifflichen Beziehungen zur Anschauung bringt. Nur dann haben wir das Recht, eine größere Satzverbindung als Periode zu bezeichnen, wenn sie die Bedingungen erfüllt, die für den einfachen Satz gelten (vgl. oben § 78): Einheit und Vollständigkeit. Denn „Periodos" bedeutet „einen Kreislauf, eine Linie, bei deren Zurück- legung man zuletzt wieder bei demselben Punkte anlangt, wovon man früher ausgegangen ist" (Wackernaqel S. 345) — womit eben die geschlossene Einheit eines abgerundeten sprachlichen Kunstwerks trefflich ausgedrückt wird. Dieser Aufgabe dient die Hervorhebung der wichtigeren Glieder der Periode durch die Stellung (ebenda S. 340) und durch „Unterstreichen", d. h. durch Anwendung von Mitteln, die zur Emphase zwingen: starke Adjektiva oder Adverbia, Pausen mit Akzentzuwachs (vgl. oben § 68), Wortwiederholung u. s. w. Diese Hervorhebung der wichtigeren Glieder schließt die Unterordnung der geringeren (Bain 1, 121 f.) in sich. Auch die Ausdehnung dient diesern Bestreben: Nebensächliches darf nicht zu breit vorgetragen werden; andererseits ist aber auch zu bedenken, daß der auf Gipfelpunkten verweilende Akzent die Hauptglieder an sich dehnt.') Ein
') Vgl. auch über den Umfang der verbundenen Sätze Becker, Stil S. 399.
9*
132 Stilistik.
ungefähres Gleichmaß der Glieder (Wackernagel S. 350) ist architektonisch wohlgefällig; doch darf ihm die Deutlichkeit niemals geopfert werden. Auch wirkt eine zu genaue Ausmessung selbst auch nur der Nebensätze leicht zu unmittelbar rhythmisch und bringt ein störendes Skandieren in den Vortrag. ')
Was für die Periode gilt, d. h. den kunstvoll komponierten Satz, gilt abermals für das System, d. h. eine kunstvoll komponierte Satzgruppe, und gilt schließlich ebenso für den ganzen Abschnitt, „Rede", Kapitel, Buch und was eben sonst einen einheitlichen und abgerundeten Vortrag darstellen soll. 2)
§ 149. Satzschluß. Wie wir nun für den Numerus des Satzes die Klausel besonders wichtig fanden, so spielt für die Periode der Satzschluß eine ausgezeichnete Rolle. Ein „stumpfer Schluß" kann die ganze Wirkung verderben, ein geschickter „Abgang" läßt viele Fehler übersehen. Damit ist nicht gesagt, daß gerade das letzte Wort den Hochton haben müsse; im Gegenteil tut zumal der Redner gut daran, mit unserer Neigung, die letzten zwei bis drei Silben fallen zu lassen oder wohl gar zu verschlucken, ein wenig zu rechnen. Aber Klarheit ist nirgends so unentbehrlich als am Satzschluß: bezeichnende Worte, deutliche Wendungen, unzweideutige An- ordnung. Ich gebe ein einziges Beispiel, da jeder hervorragende Prosaist beliebig viele liefert:
Wohl wußte der König, daß sowohl Theologie als Rechtswissenschaft jede eine hohe, unermeßlich wichtige Aufgabe zu vollbringen hätten, die Jurisprudenz nämlich die Herstellung neuer, gleichförmiger Gesetzbücher, die Theologie die Lösung des kon- fessionellen Zwiespalts, (v. Döllinger, König Max von Bayern.)^)
Die Periode ist wie eine Strophe gebaut: auf einen größeren Satz {„Aufgesang'" in der Metrik) folgen zwei kleinere, etwa gleich gebaute („Stollen") als Ausklang („Abgesang"). Der Aufgesang bringt das wichtige Wort „vollbringen" seinem Schluß nahe, läßt aber noch zwei tonlose Silben folgen. Der Abgesang schließt nicht, wie der Aufgesang, verbal, sondern mit schweren Substantiven, die noch durch schwere Adjektiva belastet sind; daher ist er an sich schwerer, tönender als der Aufgesang beendet. Wiederum aber von den beiden Stollen hat der zweite das größere Gewicht und mündet in ein Wort aus, das formell durch seine vollen Vokale, in- haltlich durch die weite Perspektive, die es eröffnet, eine besonders volle Resonanz hat. Darauf kommt es an: der Schluß muß nachklingen, muß innerhalb des Systems die kleine, nach ihm die große Pause mit seinem Nachhall füllen. Dann wird er zum Siegel, das den ganzen von ihm ab- geschlossenen Abschnitt unlöslich zusammenhäU.
Nur darf natüriich auch diese Technik nicht zu der Kulissenreißerei beifallhaschender „Abgänge" übertrieben werden.
•) Vortreffliche Beobachtungen über die S. 392 f. „Harmonie der Sätze" bei Albalat, Art ') v. Döllinger, Akademische Vorträge,
d'^crire S. 139 f. Band II, München, C. H. Beck, 1888; abge-
') Ausführlicher über den Rhythmus der druckt bei Flathe, Deutsche Reden 1, 583. kopulativ verbundenen Sätze Becker, Stil
Elftes Kapitel, äussere Hilfen. 133
Elftes Kapitel. Äußere Hilfen.
§ 150. Äußere Beziehungen. Unsere letzten Betrachtungen ließen uns schon auf die Hörer Rücksicht nehmen. Überhaupt aber ist nochmals daran zu erinnern, daß ja nur in den seltensten Fällen die Rede rein monologischer Natur ist: zumeist wendet sie sich an bestimmte Persönlich- keiten und ist auf diese berechnet, hat deren Kenntnisse, Anschauungen, Voraussetzungen in Erwägung zu ziehen. (Vgl. Raleiqh, On Style, S. 65f.)
Dies gilt für die verschiedenen Gattungen in verschiedenem Grade, am stärksten für die Beredsamkeit (vgl. oben § 3), am wenigsten für die ein- fache Erzählung. Zur Erscheinung kommt aber diese Rücksicht überall: im Ton, im Stil, im Tempo des Vortrags u. s. w. Sie färbt die ganze Rede und ist deshalb näher zu betrachten, wenn wir vom Stil sprechen. Einige besondere Formen aber machen sich vereinzelt geltend und sind deshalb schon bei den Elementen der Rede zu erörtern. Es sind Hilfen, die zwischen dem Sprechenden und den Hörern eine engere Beziehung herstellen sollen, Mittel also, die Rede mit der Aufnahmewilligkeit und Stimmung des An- geredeten in nähere Verbindung zu bringen.
Auch hier sind formelle und inhaltliche Mittel zu scheiden.
§ 151. Apostrophe. Ein formelles Zeugnis der Beziehungen zwischen Redner und Zuhörer ist die Anrede oder Apostrophe (Becker S. 134, Wackernagel S. 399): „Apostrophe", Abwendung, ursprünglich wohl nicht genannt (wie man es zu erklären pflegt), weil sich der Redner „von der Sache weg zur Person hin" wendet, sondern weil er sich von den an- wesenden zu abwesenden Personen wendet. Die gewöhnliche Ansprache an die Gegenwärtigen — die in der wirklichen Rede ja fortwährend ge- braucht wird — hat ihre Wirkung nicht getan; da wendet sich der Redner zu solchen, die abseits stehen: sie sollen ihm helfen, mit ihm auf die An- wesenden einwirken. Oder solche werden zu gleichem Zweck angerufen, die nur im geistigen Sinn zugegen sind: die Götter, die toten Vorfahren, Vorbilder und Helden; schließlich auch unbeseelte Dinge: Fahne, Waffen, das Haus der Ahnen, das Schlachtfeld, das Vaterland selbst.-
Das sind die klassischen Formen dieser schönen und wirksamen Form, die aber wieder lebhafte Erregung voraussetzt, damit die Fernen und Ab- wesenden, Leblosen als der wirklichen Zurede fähig erscheinen (Bain 1, 222). So kann denn freilich auch Rede oder Gedicht gleich mit der Apostrophe beginnen, wie Schillers „Lied an die Freude". Häufiger ist doch, daß ein merkbarer Wechsel stattfindet: der Redner läßt fühlen, er bedürfe jetzt anderer Zuhörer als bisher. In der gerichtlichen Rede ist der typische Fall die Wendung von den (normaliter angeredeten) Richtern zum Angeklagten (Gerber 2, 2, 61); in Dichtung und Erzählung wird der Gegenstand oder Träger der Handlung selbst apostrophiert (ebenda 1, 548):
Drauf antwortetest du, ehrwürdiger Pfarrer von Grünau.
134 Stilistik.
Die Lebhaftigkeit, auf der die Apostrophe ruht und die durch sie ge- steigert wird, kann noch weiter gehen bis zur Vision (Bain a.a.O. S. 223): der Sprechende glaubt den Angerufenen vor sich zu sehen.') Dann erhebt er sich zu anschaulicher Schilderung der unsichtbar anwesenden Personen oder Handlungen: was die Alten als pliantasia, visio, demonstratio (Gerber 2, 2, 66) bezeichnen. Doch sehen wir hierin lediglich eine Ver- stärkung der Apostrophe: was der Sprechende mit dem geistigen Auge er- sieht, soll auch sein Publikum sehen; die Apostrophierten sollen auch für die Zuhörer gleichsam leibhaftig gegenwärtig werden.
Ist also die Apostrophe ihrem Wesen nach nur Anrede an nicht wirk- lich Anwesende, so hat man sich doch gewöhnt, auch eine Anrufung der wirklichen Zuhörer so zu nennen, falls sie uns durch besondere Lebhaftig- keit oder Feierlichkeit aus dem Ton der gewöhnlichen Anrede herausfällt; wie des Marc Anton
Mitbürger, Freunde, Römer, hört mich an!
in Shakespeares „Julius Caesar".
Die Apostrophe verliert ihre Wirkung, sobald sie stereotyp wird, wie (nach J. GRLMAis Urteil; vgl. Gerber 1, 548) Lucans beständig wieder- kehrende Anrufung der Stadt Rom. Und wo keine wahre Erregung hinter ihr steht, klingt sie (wie etwa die Anrufung der Muse bei vielen Kunst- dichtern des 18. Jahrhunderts) frostig und affektiert. Veraltet ist auch die aus dem wirklich persönlichen Vortrag stammende Anrede an den verehrten Leser und die schöne Leserin. -)
§ 152. Inhaltliche Hilfen von außen her. Neben dieser formellen Art, ein neues, ganz uns gehöriges Publikum als Unterstützungsmannschaft herbeizuschaffen, gibt es eine ganze Reihe mehr inhaltlicher Hilfen, durch die der Redner sich Hilfe und Beistand sichert. Aber hier stehen die Un- sichtbaren neben ihm auf der Tribüne, wie in englischen Versammlungen dort an einem langen Tisch die führenden Gesinnungsgenossen des Sprechers sitzen; sie bilden den Chorus, die Vertretung des Publikums auf der Bühne, die Vermittlung zwischen den Personen des Dramas (dem Protagonisten vor allem) und den Zuhörern.
Es sind wichtige Figuren, die hierher gehören, über alle Zeiten und Völker verbreitet, einfachsten Ursprungs und deshalb volkstümlich, kunst- vollster Verwendung fähig und deshalb von den größten Meistern gern gepflegt. Gemein ist ihnen allen, daß der Redner für einen Augenblick aus seinem eigenen Gedankenkreis und Gedankengang heraustritt, um sich bei Autoritäten, die seine Versammlung anerkennt, — oder bei ihr selbst Rats zu erholen.
§ 153. Sprichwort. Das Sprichwort wurde schon von alten Rhetoren (Gerber 2, 2, 181) zu den Redefiguren gezählt — eine gute Erkenntnis,
') Vgl. allgemein K. BORINSKI, Über =) Z. B. noch häufig bei Hol tei: P. La.\-
poetische Vision und Imagination, Halle 1897. ! DAU, Holteis Romane S. 51.
Elftes Kapitel, äussere Hilfen. 135
die wieder verloren ging. Es gehört mit dem Gleichnis und der Apostrophe nicht etwa bloß deshalb zusammen, weil es ebenfalls zu kunstmäßiger Aus- schmückung verwandt werden kann; in diesem Sinn steht es hinter der Sentenz (siehe unten) weit zurück. Aber es ist wie Metapher und Gleich- nis ein Abschweifen auf ein anderes Gebiet, wie Apostrophe und Allusion ein Anrufen ferner Helfer.
Das Sprichwort faßt die Erfahrung vieler in einer gemeingültigen Form zusammen : ob es ein einzelner prägte oder erst die Arbeit vieler, ist gleich- gültig (vgl. allgemein Gerber a.a.O. S. 166 f.). In der anerkannten Gemein- gültigkeit lieg-t sein Wert; deshalb wurden solche Sprüche als ein Kode.x der Lebensweisheit früh gesammelt und in volkstümlicher Dichtung, wie in volkstümlicher Rede, gern benutzt (meine Altgermanische Poesie S. 452). Der Sprechende ruft die Autorität der ganzen Volkserfahrung an, indem er bemerkt: „Seinem Schicksal kann niemand entgehen'', die Autorität der ganzen Volksethik, indem er erklärt: „lF/> du mir, so ich dir''. Damit verleiht er seinen Worten eine Sanktion, die unwillkürlich auch über weitere Strecken seiner Rede herüberglänzt. Er befreit sich von der Isolierung des Sprechenden, indem er spricht wie alle (redet doch Sancho Pansa, der typische „Mann aus dem Volke", nur in Sprichwörtern); er zwingt die Hörer, wenigstens einen Teil seiner Rede unbedingt anzuerkennen, und damit ist schon etwas gewonnen.
Die Anwendung des Sprichworts ist mit diesem selbst gegeben: es ist die Verdichtung einer Erfahrung, die der Spätere nicht erst mehr selbst zu machen braucht. Wie nach dem Wiener Philosophen Mach aller Fort- schritt der Wissenschaft auf „Denkökonomie" beruht, auf der Ansammlung früherer Beobachtung in Form von Naturgesetzen, Zahlenreihen, Kunst- ausdrücken, Methoden, so ist das Sprichwort primitive Ökonomie der Lebens- erfahrung. Zitiert wird es also ursprünglich nicht als Schmuck der Rede, sondern zur Ersparnis eigner Untersuchung; wie ein Anwalt einen Gesetz- paragraph nicht als Dekoration, sondern zur Ersparnis weitläufiger Aus- einandersetzungen anführt. Daraus erwächst in beiden Fällen die zweite und gewöhnliche Anwendung: eben die Anrufung der Volksweisheit als unverbrüchlicher Autorität.
Sprichwörter werden deshalb zwar gelegentlich überall passen, in stärkerer Häufung aber nur in zwei Fällen: wenn entweder wirklich zu dem Volke gesprochen wird, oder von einem Mann aus dem Volke. Sonst trivialisieren sie leicht die Rede.
§ 154. Zitat. Was das Sprichwort für den „einfachen Mann", ist für den Gebildeten das Zitat: die Berufung auf eine anerkannte Autorität, die einen Satz schon besser ausgedrückt habe, als wir es können. Die älteste Form des Zitats ist wohl die Wiederholung eines prägnanten Ausspruches, den ein Vorredner tat: sei es nun, daß er bekämpft, sei es, daß er zur Unterstützung benutzt werden soll. Solche Zitate begegnen schon in der
136 Stilistik.
Edda (meine Altgermanische Poesie S. 458) oder der mittelhochdeutschen Spruchdichtung (Spervogel, Minnesangs Frühhng 20, 17). Doch setzt die kunstmäßige Ausbildung des Zitats (vgl. Gerber 2,2, 172) schon den Bestand einer einigermaßen kanonischen Literatur voraus, d. h. einer Auswahl von Werken, die unbestrittenes Ansehen genießen. Es ist daher sehr bezeichnend, welche Werke vorzugsweise zitiert werden, und jede neue .'Ausgabe von BCch- MANNS Geflügelten Worten hat kulturhistorische Bedeutung. Daß selbst in dem klassischen Lande des klassischen Zitats, in England, Cicero nicht mehr ange- rufen wird,') ist für unsere Zeit so bezeichnend wie für die der französischen Revolution der starke Verbrauch von Stellen aus Livius, Cicero -) und Tacitus.*) — Aber auch die nationale Gewohnheit ist verschieden: die englischen Parla- mentsredner der großen Zeit zitieren mit einer Lust, die bei uns für Pedanterie erklärt worden wäre; verdenkt man doch dem jetzigen Reichskanzler seine Zitatenfreude. Freilich, wie der Marschall Lefebvre meinte, es gälte mehr, ein Ahne zu sein, als Ahnen zu haben, so wird es auch mehr gelten, mit Bismarck geflügelte Worte zu prägen, als mit Bülow sie zu benutzen. Aber die geistreiche Anwendung einer allbekannten Stelle wird doch ihre Wirkung nie verfehlen. Nichts hat Lord Palmerston in seiner Heimat so zum gefeierten und volkstümlichen Mann gemacht, wie das „civis Ro- manus sunt", das er in einer berühmten Rede auf den englischen Bürger anwandte; und noch heut glaubt man den Beifallssturm zu hören, der die Preußische Kammer durchbrauste, alsVincke*) das „Dank vom Haus Öster- reich."' zitierte. Hat ja auch Bismarck selbst gern und glücklich zitiert, zumal aus populärer Dichtung, Bürgers Wildgrafen („Laß nicht vom Linken dich umgarnen.'") oder den „Freischütz" {„Glaubst du, dieser Adler sei dir geschenkt?").
Seinen Hauptpiatz hat das Zitat in mündlicher oder pseudomündlicher Rede: zum Überreden vorzugsweise ist die Anrufung von Autoritäten ge- eignet. Doch ist es natürlich, daß auch in darstellender Rede gern ein schöner Ausdruck, eine glückliche Stelle von Vorgängern herübergenommen wird. Dabei ist ein zu großer Abstand des Tons zu vermeiden: ein allzu glückliches Zitat kann deine eigne Rede tot machen. Auch eine zu lange Ausdehnung wirkt ungünstig: sie erweckt Ungeduld, da wir doch jetzt eben dich hören wollten und nicht einen mittelalterlichen Autor; auch ist es er- müdend, längere Zeit Stücke mit verändertem Sprachklang vorzutragen. (Ein Beispiel beider Fehler das lange Zitat aus Augustinus in — M. Lieber- manns Büchlein über den französischen Maler Degas.) Auch zu starke Häufung von Zitaten stört; sie wirkt als gesuchter Prunk und macht die Selbständigkeit des Sprechenden verdächtig.*)
') Herbert Paul, The decay of Classical hunderte S. 98 f. Quotation, in seinen ,Men and Letters", Lon- '\ F. Boissier, Tacite S. ISS f.
den 1901, S. 48 f. ■•) Flathe. Deutsche Reden 1, 397.
2) ZiELiNSKi, Cicero im Wandel der Jahr- ^) Vgl. z. B. Belger, M. Haupt als akade-
Elftes Kapitel äussere Hilfen. 137
§ 155. Parodie. Am häufigsten werden natürlich die berühmtesten Autoren und die wichtigsten Werke zitiert: überall die Bibel, bei uns vor allem Schiller, Goethes „Faust", Lessings „Nathan", neuerdings auch Bismarcks Reden und Briefe. Die besondere Familiarität, in die man so gerade zu diesen Zitaten gerät, entwürdigt sie leicht und gibt durch das Mißverhältnis der ursprünglich feierlichen Rede zu der gemeinplätzlich ge- wordenen Anwendung den schönen Tagen von Aranjuez, den Spiegelbergen und Pappenheimern eine leicht ironische Färbung. Überhaupt aber reizen dieselben Stellen, die zum Zitieren auffordern, auch zum Verändern und Umformen; auch das haben sie mit den Gesetzen gemein. So entsteht früh die Parodie, die sich an eine bekannte Stelle anlehnt, um sie inner- lich auf den Kopf zu stellen (zu verkeren, wie der mittelhochdeutsche Aus- druck lautet) — wie die .■\ntithese um so wirksamer, je genauer der Wort- klang zwischen den beiden Sätzen, dem eigentlichen und dem durch Parodie entstandenen, übereinstimmt. Die Parodie ist also eine Verbindung der Wortaufnahme (siehe oben § Uli mit dem Zitat und besonders für die Polemik geeignet. Sie kann freilich auch unabsichtlich durch Mißverständnis entstehen, und die Nachahmung solcher parodierender Mißverständnisse ist eine unerschöpfliche Vorratskammer der Komödie. Veraltet ist dagegen die ernste Parodie, die „durch Verwendung derselben Wortklänge einen ganz fremden Inhalt darzustellen sucht" (Gerber 2, 2, 141), wie bei der mittel- alterlichen Übung des Cento, der etwa die Passion Christi in lauter antiken Versen erzählt.
Ob wirklich eine Parodie vorliegt oder nicht, eine Anlehnung oder gar nur ein zufälliger Anklang, ist nicht immer leicht zu entscheiden; i) in der Regel wird jedoch die Art der Anwendung darüber keinen Zweifel lassen. Je feierlicher das Original, desto eher wirkt der Gebrauch in all- täglichen Dingen parodistisch (gute Beispiele bei Gerber 2, 1, 233). Be- sonders häufig ist daher das Spiel mit frommen Worten (reiche Belege bei K. J. Weber, Demokrit 11, XI), keineswegs immer in böser Absicht, sondern oft lediglich im Geist jener gemütlichen Vertraulichkeit, aus der auch die mittelalterlichen Scherzlegenden erwachsen sind.-)
§ 156. Anspielung. Eine nicht ganz durchsichtige Art, sich auf fremde Worte zu beziehen, ist die alliisio oder Anspielung, die keineswegs (mit Wackernagel S. 389) nur verkürzte Vergleichungen (oder Metonymien) bringt und noch weniger immer auf historische Personen oder Begebenheiten zu weisen braucht (psychologisch tiefere Erklärung bei Becker S. 126). Wenn
mischerLehrerS.62Anm.2 UberK.Fr.Herr- by L.Gates, Boston 1894, S. 47, Raleigh, mann. — M. Bernays, .Zur Lehre von den On stjle S. 116. Oberflächlich Leo Berg, Zitaten und Noten', Schriften 4, 255 f., handelt Aus der Zeit, Berlin 1905, S. 250 f. eigentlich nur von der Kunstformung der An- '■) Vgl. Zeitschrift für deutsches Alter- merkung, s. o. § 89. Gute Bemerkungen tum 41, 373.
über die Gefahren des Zitierens bei Jeffrey, ■') Allgemein vgl. Weber a. a. O. 11, IX. Selections from the Essays of Fr. Jeffrey ed.
138 Stilistik.
der Minister v. Radowitz Friedrich Wilhelm IV. beschwor, den Rubicon zu überschreiten, so war das freilich eine verkürzte Vergleichung, ein zur Metapher gewordenes Zitat; aber wenn ich in verständlicher Weise auf irgend ein Wort oder eine Geste meines keineswegs schon historischen Vorredners hindeute, ist auch das eine Anspielung. Der Reiz liegt hier gerade in der halben Verhüllung: der Redner wendet sich an die Ein- geweihten, die das halbe Wort verstehen; und dazu möchten gern recht viele gehören. Doch kann die Anspielung auch einfach eine leichtere Form des (nur andeutenden) Zitats werden: wenn König Philipp sagt: „Dies ist die Stelle, wo ich sterblich bin", spielt er natürlich gleichnisweise auf die Legende von der Achilles-Ferse an.
Natüriich wechselt der Kreis bekannter Beziehungen, die Anspielungen zulassen, unaufhörlich. Schon deshalb ist Vorsicht nötig. Die Überladung mit Anspielungen hat den Stil Hamanns unverständUch gemacht und die Satiren der Romantiker und Immermanns früh veralten lassen.')
Geschickt angewendet, kann die Anspielung aber eine Kemtruppe aus dem Publikum für den Redner gewinnen; ursprünglich ist sie für eine solche, die ihm schon nahe steht, allein berechnet.
§ 157. Reminiszenz. Das Gegenteil der Anspielung ist die Remi- niszenz: eine ungewollte Erinnerung, ein unabsichtlicher Anklang an irgend eine bekannte oder berühmte Stelle. Gehäufte Reminiszenzen verraten Un- selbständigkeit; man tut gut, sie beim Feilen zu entfernen. Es wirkt natürlich nicht gut, wenn etwa der Romantiker Graf Loeben die Verse drucken läßt:
Nur wer die Qual der Liebe kennt. Der weiß es, was ich leide
(R. Pissin, O. H. Graf v. Loeben S.218)
und sich damit zu Boden drücken läßt von Goethes
Nur wer die Sehnsucht kennt. Weiß, was ich leide!
§ 158. Sentenz. Das Gegenstück des Zitats ist die Sentenz (Becker S. 305): ein zitierbarer Satz von persönlicher Ausprägung. Die Gewalt der Sentenz liegt in ihrer einleuchtenden Anwendbarkeit: sie „imponiert durch ihre Entfernung von den zufälligen Einzelheiten, fordert für sich Beachtung und erscheint bedeutend, weil sie weiteres umfaßt, als gerade voriiegt" (Gerber 2, 2, 33). Sie hebt also für einen Augenblick den individuellen Fall in die Höhe typischer Bedeutung und erfreut, wie eine leicht sich einprägende Melodie, durch die Möglichkeit rascher Aneignung. Wer sie besonders liebt, heißt „sentenziös" ; so Tacitus, Schiller, Fon- tane, denen (in freilich sehr verschiedenem Ton) jeder Einzelfall Gelegen- heit gibt, allgemeine Beobachtungen zu formulieren.-) Die Hilfe, die der
') Geistreich über das .Bedürfnis des style S. 110. gelehrten Witzes" Jean Paul, V'orschule der -t Vgl. für Fontane meine Deutsche
Ästhetik § 55, doch vgl. auch Raleigh, On Literatur im 19. Jahrhundert S. 564.
Elftes Kapitel, äussere Hilfen. 139
Sprechende sich sichert, erwächst ihm hier, wie beim Sprichwort, aus der Zustimmung aller, die seine Erfahrung durch eigene Erfahrungen bewährt finden; dazu kommt aber noch der Dank für das Geschenk des neuen Rezepts.
Die Sentenz muß kurz und gedrungen sein. Zur Meisterschaft haben die Römer und dann wieder die Wahlspruchdichter seit der Renaissance diese Form ausgeprägt. Schillers Sentenzen, an sich glänzend, passen nicht immer an die Stelle, an der sie stehen (wie namentlich O. Ludwig tadelnd hervorhob):
sterben ist nichts, doch leben und nicht sehn — Das ist ein Unglück!
Der Wahlspruch ist eine Sentenz von ermahnendem oder versprechen- dem Inhalt, ursprünglich an ein Wappenbild oder Emblem angeschlossen (vgl. J. V. Radowitz, Die Devisen und Mottos des späteren Mittelalters, wieder ab- gedruckt in seinen Schriften 1, 283; hübsche Auswahl von L. Forck: Wahl- und Wappensprüche, Berlin 1880). Diese Wahlsprüche sind freilich von weiterer Rede abgelöst — wobei es keinen Unterschied macht, ob sie der zusammen- hängenden Rede entstammen, oder unmittelbar als Devisen erfunden sind — und sie bleiben das auch in ihrer häufigen Verwendung als Motto von Büchern oder Kapiteln, als Aufschriften an Häusern und beweglichen Gegenständen. („Deutsche Inschriften an Haus und Gerät", Berlin 1882; mehrere Samm- lungen der oft unfreiwillig parodistisch wirkenden Tiroler „Marterln", der Inschriften auf Erinnerungstafeln für Verunglückte). Aber Sentenz, Wahl- spruch, Motto, Devise kehren doch gern auch als Zitat in der Rede wieder; und all diese Formen vereinigen sich, wenn ein Redner eine wirksame, neu gefundene Formel zum Grundtext seines Vortrags macht, immer zu ihr zurückkehrt, mit ihr schließt, wie Cato mit seinem Ceterum censeo oder Herwegh mit seinem Refrain „Reißt die Kreuze aus der Erden!''
§ 159. Gleichnis. Nichts weiter als eine solche Verstärkung der Be- ziehungen zwischen Redner und Publikum ist endlich auch die wichtigste der hierher gehörigen Formen: das Gleichnis.')
Wenn Becker (S. 126) von der Anspielung fein bemerkt, sie bringe einen Begriff durch die nur angedeutete Zusammenstellung mit einem bekannten Dinge oder einer bekannten Begebenheit zu einer lebendigen Anschauung, so ist in diesem Sinn jede Metapher eine Anspielung, jedes Gleichnis aber davon nur durch Breite und Deut- lichkeit verschieden. Und es wird auch wirklich daran nicht zu zweifeln sein, daß ursprünglich das Gleichnis lediglich der Anschauung dienen soll. Der Hörer Homers hat nie Gelegenheit gehabt, zu sehen, wie ein großer Kriegsheld sich unter das Heer der Feinde stürzt und dort Ver-
') Vgl. Becker, Stil S. 124, Vischer, ferner noch besonders Borinski, Über poeti- Asthetik S. 1230, Wackernagel, Stilistik sehe Vision und Imagination. Auch die Lite- S. 387, Gerber 2, 107 f., Bain 1, 170 u. s. w.; ratur zur Metapher ist heranzuziehen.
140 Stilistik.
wirrung und Entsetzen anrichtet; aber wie ein Raubtier in eine Hürde ein- dringt, mag er wohl schon mit eignen Augen gesehen haben. Der kleine Bauer, der nie von seinem Hof geht außer bei Krieg und Landesnot, hat nie einen königlichen Mann erblickt, der seine ganze Schar um Hauptes Länge überragt: eine riesige Esche im Walde hat er oft bemerkt — daher denn die älteren Gleichnisse vorzugsweise aus dem Tierreich, daneben aus dem Pflanzenreich, während die jüngeren Vergleiche (wie die des Neuen Testaments im Gegensatz zum Alten) gern aus dem menschlichen Leben genommen sind, mehr vertiefend als illustrierend ') — ganz der Entwickelung der Ornamentik und der bildenden Kunst entsprechend!
Wir sehen hier wiederum, daß Metapher und Gleichnis (gerade wie Novelle und Roman) keineswegs nur durch die Ausdehnung von vornherein verschieden sind. Beide dienen der Anschauung; aber die Metapher sucht für einen angeschauten Vorgang nur einen deutlicheren Ausdruck, das Gleichnis eine verdeutlichende Analogie. Freilich aber ist die Ähnlichkeit groß genug, um jederzeit die Möglichkeit offen zu lassen, daß das Gleichnis zur Metapher konzentriert, die Metapher zum Gleichnis ausgedehnt wird; denn in jedem Ausdruck (wenigstens soweit hier solche in Betracht kommen) steckt ja eine Handlung.
Wenn aber das Gleichnis zunächst nur verdeutlichen, anschaulich machen soll, so erhebt es sich doch fast überall bald zu selbständiger Be- deutung. Die unendliche Fülle der Übereinstimmungen in dieser bunten Welt wird empfunden. Die Isolierung der einzelnen Tatsache wird auf- gehoben, indem der Dichter sie in einen großen geheimen Zusammenhang
einreiht:
Du führst die Reihe der Lebendigen
Vor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder
Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen.
(Faust I, Vers 3225.) Durchgeführt erhebt -sich diese Auffassung dann zu der tiefsinnigen Anschauung, alles Vergängliche sei nur ein Gleichnis, und erfüllt uns so bei den kleinen Vorgängen eines einsamen Menschenlebens mit den Schauem kosmischer Gesetzmäßigkeit.
Eine Entwürdigung dieser hohen, von allen großen Dichtern gefühlten Aufgabe des Gleichnisses ist also die kleinliche Manier, mit Bildern und Bilderchen aufzuputzen, die die Poetik der Kunstpoeten seit der Renaissance lehrte. Aber selbst die mühsame „Bilderjagd" Ewalds von Kleist führte doch einer in Buchwendungen erstarrten Poesie neue Anschauung zu; selbst Anastasius Grün, von dem Grillparzer meinte, zu bildem verstände er trefflich, aber nicht zu bilden, gab mit seinen frischen Gleichnissen der abstrakten blassen Dichtung seiner Tage ein erfreuliches Gegengewicht
Ein Gleichnis wird um so echter wirken, je unmittelbarer es aus der Situation und aus der Eigenart des Sprechenden her\'Orgeht (treffliche Er-
') Vgl. meine Altgerman. Poesie S. 108 f., 436 f.
Elftes Kapitel, äussere Hilfen. 141
läuterungen bei Weinel, Die Bildersprache Jesu, Gießen 1900). Das gibt z. B. den prachtvollen Gleichnissen Lessings ihre Schönheit: die unmittel- bare, elementare Kraft, mit der ihm aus einer Stellung etwa im Kampfe mit dem Pastor Goeze eine Vergleichung hervorwächst, beweist schon allein, daß der Dichter des „Nathan" wirklich ein Dichter war. Er hört aus jedem Wort die innere Anschauung heraus und macht die latente wieder lebendig: „Ich stand eben am Markte und war müßig: niemand wollte mich dingen" (Hamburg. Dramaturgie, Schluß). Und sofort steht statt der unbestimmten Bezeichnung eines „Gelehrten ohne festen Beruf" ein konkretes Bild vor uns: auch der große Forscher mit all seinen Gaben steht am Markt, sucht vergeblich nach einer Aufgabe, die seine Kräfte üben könnte — nicht anders als der starke Lastträger, dessen Muskeln wegen Mangel an Übung ver- kümmern. — Und mit solcher Anschaulichkeit verbindet sich bei Goethe eine starke poetische Stimmung.
Damit kommen wir zu der dritten Eigenschaft des Gleichnisses. Zu- erst nur verdeutlichend, dann den Einzelfall in große Zusammenhänge ein- ordnend, ist es soweit mehr noch der Reflexion dienstbar als der Stimmung. Nun aber bringt jedes lebendig angeschaute Bild an sich eine gewisse Stimmung mit sich: die altgermanischen Gleichnisse Waldduft, die Bilder der Odyssee einen gewissen Seegeruch, Bismarcks prachtvoll individuelle Bilder') einen starken heimischen Erdgeruch. Und so erst werden die Gleichnisse poetisch, ja durch ihre Orchestrierung des eigentlichen Textes unentbehrlich für die Dichtung: die Obertöne der Stimmung verdichten sich zum Gleichnis; eine dumpfe unheimliche Situation etwa verdichtet gleich- sam ihre Wolken zu grausigen Bildern. Solche Bedeutung hat freilich nur das poetisch empfundene und aus der Situation erwachsene Gleichnis, nicht das trocken schematisch erdachte.-) Aber eine wirklich tiefgreifende An- schaulichkeit verliert alles Bleigewicht verdeutlichender Reflexion und wirkt unmittelbar poetisch wie die Mythen der Völker. s)
Daneben behält das verdeutlichende Gleichnis dauernd sein Recht,*) freilich auch seinerseits von einem Bedürfnis nach Anschauung genährt, das der Abstraktion sogar gefährlich werden kann: es führt zu neuer Mythologie in metaphysischen und psychologischen Untersuchungen.
§ 160. Katachrese. Eine andere Gefahr bei lebhafter Gleichnisbildung ist die Katachrese. 5) J. Paul definiert sie als „die Anwendung ganz ver-
1) H. BlOmner, Der bildliche Ausdruck Leipzig 1904, vgl. auch Weinel, Die Gleich- in den Reden des Fürsten Bismarck, Leipzig nisse Jesu, Leipzig 1904. 1891, derselbe, Der bildliche Ausdruck in ') H. Brunnhofer, Goethes Bildkraft Bismarcks Briefen, Euphorion 1, 590, G. El- im Lichte der ethnologischen Sprach- und LINOER, Der bildliche Ausdruck in den An- Mythenvergleichung, Leipzig 1890, Hirzel. sprachen Bismarcks, Zeitschrift des Allge- ■•) R. Eucken, Über Bilder und Gleich- meinen Deutschen Sprachvereins 10, 4. nisse in der Philosophie, Leipzig 1880.
-) Lehrreich P. Fiebig, Altjüdische Gleich- ») J. Paul, Vorschule der Ästhetik § 82,
nisse und die Gleichnisse Jesu, Tübingen und Wackernagel S. 384.
142 Stojstik.
schiedener Bildlichkeiten innerhalb eines und desselben Gedankens, so daß im ersten Worte die Einbildung rechts, im zweiten links hingezogen wird." Z. B.: „Laß nicht des Neides Zügel umnebeln deinen Oeisf. Die Katachrese (d. h. „Mißbrauch" , nämlich des bildlichen Ausdrucks) entsteht aber auch ohne bewußte Bilderhäufung, sobald der ursprüngliche Anschauungsinhah eines Wortes von dem Redner weniger deutlich empfunden wird als von dem Hörer. So selbst (und gerade) bei dem trockenen Adelung (J. Paul a. a. O.): „wo ein Schimmer des Verstandes den raschen Gang der Ideen aufhalten und ein besonderes Gewicht auf diesen oder Jenen legen K'ill' . Ob ein solcher Gebrauch verletzend wirkt, hängt lediglich von der Empfindung des Publikums ab; denn da alle Sprache sich in Metaphern entwickelt, reden wir fortwährend in Katachresen und wenn wir auch nur sagen: „seine stählerne Energie ermattete schließlich". •
Was aber eigentlich an der Katachrese verletzt, ist nicht ohne weiteres klar. Es ist nicht die beirrende Häufung der Bilder; denn diese ist in andern Fällen anstandslos gestattet, gilt sogar gelegentlich als besondere Schönheit. So rühmt man die Stelle im „Hamlet", wo es von dem Helden
heißt:
Des Hofmanns Auge, des Gelehrten Zunge,
Des Kriegers Arm, des Staates Blum' und Hoffrumg,
Der Sitte Spiegel und der Bildung Muster,
Das Merkziel der Betrachter — (ID, 1)
und Goethe selbst stand unter ihrem Einfluß, als er Pylades durch Iphi-
genie preisen ließ:
Er ist der Arm des Jünglings in der Schlacht, Des Greises leuchtend Aug' in der Versammlung.
(IV, 1, Vers 1384.)
Ganz ähnlich spricht auch schon Hartmann von Aue von seinem armen Heinrich. Rasch fliegen hier die Gleichnisse vorüber, zu rasch selbst, um ein deutliches Bild zu hinterlassen; dennoch liegt hier nicht Katachrese vor: ein Vergleich greift nicht in den andern hinein. Aber warum ist denn eben dies sträflich? Wenn der Leichenprediger (um ein beliebtes grelles Beispiel anzuführen) sagt: „Der Zahn der Zeit, der schon so manche Träne getrocknet, wird auch über diese Wunde Gras wachsen lassen — ", warum macht diese Anhäufung an sich üblicher Metaphern uns lachen? Gewiß, ein Zahn kann keine Träne trocknen; aber die Zeit kann es auch nicht, und doch sagen wir ruhig: „die Zeit wird deine Tränen trocknen", als ob die Folge der Tage ein Taschentuch in der Hand hätte. Gewiß, über eine Wunde wächst kein Gras; aber über einen Prozeß auch nicht, und doch sagen wir unbedenklich: „Nach Deutschland kehrte er erst wieder zurück, als über seinen Prozeß Gras gewachsen war." Es ist also nicht die verunglückte Anwendung der Metaphern selbst, die stört; sondern im Gegenteil: gerade daß auf sie und ihre an sich berechtigte Verwendung zu deutlich hingewiesen wird, das verdirbt die Sache. Indem die Gleich-
Elftes Kapitel, äussere Hilfen. 143
nisse sich stoßen, empfinden wir sie nicht mehr als bloße Metaphern, son- dern ihre eigentliche Bedeutung wird unter der figürlichen aufgeweckt — was ja an sich erwünscht ist; nun aber empfinden wir dies Springen von einem Vergleich zum andern, bei dem die Unruhe keinen fertig werden läßt, als ein lächerliches Überanstrengen der Phantasie. Sind alle Gleich- nisse an sich kräftig und deutlich, so schadet auch die Häufung nicht, die ja schon bei Homer {„oder wie — ") begegnet.')
§ 161. Parabel. Das Gleichnis hat eine natürliche Tendenz, sich aus- zudehnen (Bain 1, 170). Es wächst sich dann aus zur Parabel-') oder Darstellung einer gleichnismäßigen Handlung. (Die Parabel wird zuerst getan, später erst erzählt: symbolische Handlungen sind älter als parabolische Erzählungen; man denke noch an die alte Geschichte von Tarquinius Superbus und den abgemähten Mohnköpfen.)
Die Parabel kann weiter gedehnt werden zur Allegorie (J. Paul, Vorschule der Ästhetik § 51, Vischer, Ästhetik S. 1227) oder gleichnis- mäßigen Beschreibung. Doch entsteht die Allegorie auch direkt, so daß die Ausdehnungsverhältnisse so wenig wie bei Metapher und Gleichnis allein ihr Verhältnis bestimmen.
Parabel-') und Allegorie^) sind an sich als selbständige Gattungen innerhalb der Poetik zu behandeln. Doch ist zumal die kürzere Parabel als Einlage in (besonders didaktischer) Rede von altersher beliebt. Sie vereinigt dann den Vorzug des Sprichworts, indem sie durch Vorführung anerkannter Charakterzüge etwa aus dem Leben der Tiere an die allgemeine Beistimmung appelliert, mit dem des Gleichnisses, indem sie die Anschauung bereichert. Eingelegte Parabeln also, wie die vom Dornstrauch in der Bibel oder auch Parabeln als Gipfel der Rede wie die berühmte Fabel des Me- nenius Agrippa sind wirksame Hilfen der Rede und fördern die Verbin- dung zwischen Sprecher und Publikum. Ihre höchste Blüte haben sie im Neuen Testament erreicht (vgl. oben § 159);^) eine glänzende Nachfolge findet das biblische Gleichnis in jener Parabel, die (nach mittelalterlichen Vorbildern) Lessing seinen Nathan vortragen läßt.
§ 162. Beispiel. Wenn das Gleichnis den Einzelfall zur Allgemeinheit erhebt, so macht umgekehrt das Beispiel (Becker S. 132, Gerber 2, 1,48) das Allgemeine an einem Einzelfall deutlich. Es unterscheidet sich von der Parabel dadurch, daß der erzählte Einzelfah wirklich nur ein solcher und nicht ein typischer, viele in sich fassender Fall sein soll. (Dagegen ist es gleichgültig, ob das Beispiel der Wirklichkeit entnommen oder — wie die Parabel — erfunden ist; die juristischen Beispiele z. B. sind in der
') Vgl. Elster, Literaturwissenschaft *) Wackernagel S. 396, Gerber 2, 1.
S. 391. • I 98 f., 2, 2, 224, 257 f.
-) Vgl. Qoebel, Darstellung und Kritik 5)Weinel, Die Bildersprache Jesu, Gießen
von Lessings Fabeltheorie, Jena 1876. 1900.
») Gerber 2, 1, 113 f., 2,2,248 f.
144 Stilistik.
Regel fingiert.) Das Beispiel ist gewissermaßen eine ausgeführte Synekdoche (vgl. oben § 123): das einzelne Glied einer großen Reihe steht für diese selbst. Wenn der Wachtmeister in „Wallensteins Lager" sagt:
Zum Exempel — da hack mir einer
Von den zehn Fingern, die ich da hab'
Einmal den kleinen Finger ab —
SO steht diese Verstümmelung als beliebiges Beispiel für die große Wirkung kleiner Kraftverminderungen. Durch seine Anschaulichkeit wirkt es aber fast wie ein Gleichnis; wie denn auch „Beispiel" im Altdeutschen oft diese Bedeutung hat und Goethe beides als für Christi Redeweise bezeichnend
vereinigt:
Besonders durch Gleichnis und Exempel Macht' er einen jeden Markt zum Tempel
(Legende vom Hufeisen).
Vorzugsweise dient indessen das Beispiel wirklich der verstandes- mäßigen Auseinandersetzung. Man entnimmt gleichsam einer großen, mit Einer Masse gefüllten Schachtel eine kleine Dosis jener Masse, um sie genau prüfen und beurteilen zu können. Das Beispiel eignet sich also wenig für lyrische oder pathetische Stellen — oder vielmehr es wandelt sich hier zur Synekdoche: der beliebige Fall wird zum typischen gemacht, Cäsar, für die, Geschichtsdarstellung oder die Psychologie, ein Usurpator wird für Wallenstein der Usurpator, der glückliche Empörer. Dagegen in der wissenschaftlichen Untersuchung soll ein Beispiel wirklich als Einzel- fall dienen, muß freilich auch durch seine reinliche Art zum genaueren Studium geeignet sein.')
§ 163. Anekdote. Das Beispiel einer interessanten Handlung, mit selbständigem Interesse vorgetragen, wird zur Anekdote (über die Anek- dote als eigene Gattung vgl. § 177). Der Ausdruck bezeichnet eigent- lich nur ein ineditum, eine noch nicht allgemein bekannte Tatsache (also reizt hier wie bei der Anspielung gerade, daß nur wenige eingeweiht sind, nicht wie bei Sprichwort und Zitat alle oder die meisten). Er stammt von einem Geschichtswerk des Byzantiners Prokop, der die „unveröffent- lichte Geschichte" von Justinian und Theodora nach deren Tod ans Licht brachte, voll anstößiger Geschichten; und ein kleiner Beigeschmack davon haftet dem Wort noch heut an. Aber die Anekdote braucht nicht nur nicht „pikant" zu sein, sie braucht nicht einmal notwendig zugespitzt zu sein. Wäre z. B. die Geschichtsanekdote von dem Glas Wasser der Königin Anna von England, die Scribe dramatisiert hat, wahr, so könnte sie ein gutes anekdotisches Beispiel für den Satz „kleine Ursachen, große Wirkungen' geben, obwohl sie keine eigentliche Pointe hat. Indessen strebt die Anek- dote unzweifelhaft nach Zuspitzung, um in der Pointe ihre ganze Wirkung zu sammeln.
*) Vgl. Bernheim, Handbuch der historischen Methode S. 517 f.
Zwölftes Kapitel. Innere Hilfen. 145
Eine gut vorgetragene Anekdote wirkt auf den modernen gebildeten Hörer fast so sicher wie auf den naiveren eine gut geformte Parabel; und sie bringt den Reiz eines heitern Moments als Nebenwirkung, wofür nament- lich in anstrengenden Darstellungen der Zuhörer dankbar ist. Nirgends steht die Anekdote höher im Kurse als in England, wo sie ebensosehr blüht wie die kurze gesellschaftliche Erzählung in Frankreich — der „ra- conteur" trägt ein Erlebnis, der Jalker'' eine Anekdote vor. i) In England ist sie auch im „großen Stil" der Parlamentsrede beliebt, wo sie bei uns fast nur (mehr nach französischem als englischem Muster) L. Bamberger kultivierte. In der Erzählung dagegen flickt man auch bei uns gern Anek- doten ein; Fontane tut es mit wahrer Leidenschaft. Ihr Hauptplatz bleibt freilich die mündliche Unterhaltung. Goethes Tagebücher zeigen, wie hoch er solche Würze der Konversation schätzte.
Einenkunstvollgeordneten Anekdotenschatz besitzen wir in K.J. Webers „Demokritos"; gute Beispiele z.B. in Kuno Fischers Schriftchen „Über den Witz". Doch soll man natürlich — mündlich und schriftlich! — Anekdoten nur erzählen, wenn sie sich ungezwungen im Lauf der Rede einstellen! Sie gehören, wie die Parabel, dem Boden, von dem entfernt sie verdorren. Der Abgeordnete Otto v. Bismarck-Schönhausen hat an der Tafel Friedrich Wil- helms IV. so merkwürdige Ansichten vorgetragen, daß der König — dessen starke Seite die Menschenkenntnis eben nicht war — an seiner intellektuellen Begabung zu zweifeln beginnt. Bismarck merkt es — und erzählt die Ge- schichte von jenem alten Mann, der den ersten Napoleon noch selbst ge- sehen haben wollte. Man fragt den: „Wie war denn der Napoleon?'' „O — ein langer dürrer Mensch mit gelben Haaren — guter Kerl, aber dumm! dumm!"
Zwölftes Kapitel.
Innere Hilfen.
§ 164. Beste Hilfe. Hiermit dürfte etwa die Summe derjenigen Hilfs- mittel erschöpft sein, die die „Redeverbindung" fördern, d. h. die Ver- bindung zwischen der Rede des einzelnen und der des andern, die ja aus ihrer Aufnahme seiner Rede sich ergibt. Wir sind uns" wohl bewußt, manches hier (wie übrigens auch sonst) ganz anders eingeordnet zu haben, als es üblich ist, glauben aber eben, daß nur hier in unserer systematisch aufsteigenden Anordnung der richtige Platz für Sprichwort und Sentenz ist und daß ihr psychologischer Ursprung sie allerdings von der Antithese oder der Personifikation seh weitr abtrennt. Es sind lauter Versuche, den Hörer gleichsam dem Sprecher einzuverleiben, ihn zu zwingen, mit unsern Augen zu sehn, indem scheinbar umgekehrt wir in seine Seele steigen und mit seinen Augen das gewahren, was längst anerkannt ist oder sich unbe- dingte Anerkennung erzwingt. Die letzte und beste Art, den Hörer zu
') Vgl. de Quincey, Works 11,283. Handbuch des deutschen Unterrichts. Bd. UI, Teil L 10
146 Stilistik.
bezwingen, bleibt freilich immer die Vortrefflichkeit unserer Rede selbst und die besten Mittel also die, durch die wir unser Werk der Vollendung möglichst nahe bringen.
Dreierlei Hilfen beziehen sich nun auf das gesamte Werk, wie die bisher angegebenen auf einzelne Teile: Disposition — Lektüre — Feilen.
§ 165. Disposition. Die Disposition kann dem Aufbau vorausgehen; muß aber nach seiner Vollendung hergestellt werden. Daß die altmodische Regel, man müsse sich zuvörderst einen genauen Abriß machen, keines- wegs unfehlbar ist, hat Philippi (Kunst der Rede S. 185) hübsch gezeigt:
Wie verhält sich die Erfindung zur Disposition? Man sollte meinen, sie sei ohne diese gar nicht möglich und diese müsse ihr vorhergehen. Tatsächlich aber ist das nicht der Fall oder doch nur, wo ein bestimmter Satz als Thema zu einem Aufsatze oder zu einer Rede von vornherein gegeben ist, der dann zu einer Disposition analj-tisch zergliedert wird. Sonst lehrt die Erfahrung, daß wir uns in unsern Gedanken ohne Rücksicht auf die Reihenfolge der Teile mit einem Stoffe beschäftigen, uns in ihn einleben, ihn für den Zweck unsrer Mitteilungen durchsuchen, ausgestalten und oft gerade bei diesem ungeord- neten Wandern einzelne unsrer brauchbarsten Gedanken bekommen. In diesem Falle be- drängt uns gewissermaßen der Stoff in seiner Fülle, und unsere Gedanken sollen daraus erst den ,Satz* des Themas machen. Das ist doch auch das Naturgemäßere, daß uns ungeordneter Stoff zuströmt und wir ihn gestalten, und nicht, daß uns ein Satz von außen gegeben wird, wie eine Schulaufgabe. Der fertige Mensch sollte nur von Sachen schreiben und reden, die ihn angehen, und die ihn wirklich erfüllen können. Aber manch- mal freilich muß es ja auch anders sein.
Wenn wir mit unseren Gedanken länger bei dem Stoffe verweilen, so sondert sich die große und ängstlich wirkende Masse allmählich ab in übersichtliche Gruppen. Un- verwendbares wird ausgeschieden. Das Bleibende tritt um so klarer her\'or. An Stoff wird ein Schriftsteller oder ein Redner, wie er sein soll, immer noch eher zu viel haben als zu wenig, und er wird später noch Gelegenheit genug finden, wegzuschneiden, wenn er sieht, daß die Ausführung auch ihr Recht haben will. Darum ist schon auf der Stufe der Er- findung zu warnen: man muß nicht alles sagen wollen, auch wenn es an sich gut ist. Man muß die Entsagung üben können, manches vielleicht sehr Gute schonungslos auf- zugeben, weil es hier nicht paßt, oder weil es andres beeinträchtigt, endlich weil es, wo nicht alles gesagt werden kann, eher als etwas andres entbehrt werden könnte. Über- füllung mit Stoff, der nicht verarbeitet werden konnte, macht eine Darstellung gerade so unbeholfen, wie wenn ein lebendiges Wesen sich unter ungesunder Körperfülle mühsam hinschleppt. Es macht kaum irgend etwas einen so unvorteilhaften Eindruck, wie solche Unbehilflichkeit. Der Gelehrte nennt das zu seinem Tröste oft Gründlichkeit, wenn er alles gesagt hat, was etwa zu sagen war. Ob es auch aufgefaßt wurde, und wie es wirkte, ist ihm vielleicht ganz einerlei. Aber man erkennt daran nicht nur den Anfänger in der Kunst sich auszudrücken, sondern man hat auch vor allem die für den andern unvorteilhafte Empfindung, daß es ihm an geistiger Durchbildung fehle. Er hat sich eben wenigstens in dem einen Falle sicher seinen Stoff nicht hinreichend geistig zu eigen ge- macht. Will man das an einem ja freilich an sich nicht wünschenswerten Gegensatze verstehen, so denke man daran, wie leicht manchmal ein von Gedanken nicht beschwerter Mensch in Schrift oder Rede umherplätschert. Höflicher sagt Goethe: .Ein guter Kopf wendet desto mehr Kunst an, je weniger Data ihm vorliegen. Er wählt gleichsam, seine Herrschaft zu zeigen, sich aus den vorliegenden Datis wenige Günstlinge aus, die ihm schmeicheln, er versteht die übrigen so zu ordnen, wie sie ihm nicht widersprechen."
Also wir sollen immerhin den Stoff soweit bewältigt haben, daß er nicht zu schwer mehr ist. Ob sich jemand das schriftlich machen soll? — Es kommt wohl etwas auf
Zwölftes Kapitel. Innere Hilfen. 147
Anlage und Gewohnheit an. Ich würde sagen: möglichst nicht, außer wo man einzelnes festhalten möchte und es sich darum in kurzen Merkworten aufzeichnet. Das Durchdenken muß erst seine volle Arbeit getan haben, und mit der Disposition tritt ohnehin das Nieder- schreiben hinzu. Hat aber jemand die Eigenschaft, daß seine Gedanken leicht zwecklos spazieren gehen, so mag er sie auch durch Federzüge am Stoffe festhalten.
Diese vortrefflichen Ausführungen wüßte ich nur noch etwa durch den Hinweis zu ergänzen, daß die Disposition so individuell wie möglich sein muß, d. h. ganz aus dem Stoff erwachsen und daß deshalb Albalat (Art d'ecrire S. 171 f.), der nach französischer Art allgemeine Schemata, das Muster der vorbildlichen Einteilungen, strenges Festhalten am Plan anrät, hier ein gefährlicher Lehrer ist.
Vor allem muß die Disposition der Art des Werkes angemessen sein. Wie ein Drama nach der Gliederung der Handlung und ein Roman nach den Etappen der Entwicklung geordnet ist, soll man ein philosophisches Werk womöglich unter systematischem Gesichtspunkt, ein historisches') möglichst nach chronologischer Folge eingeteilt werden. Diese Disposition wird sich meist ungezwungen ergeben; stellt man nach Vollendung der Arbeit einen eingehenden Grundriß auf, der dem nun erst genau abge- grenzten Stoff gerecht wird, und mißt man die fertige Arbeit an diesem Plan, so wird durch Verschiebung und Einschiebung noch mancher Schönheits- fehler zu beseitigen, selten aber bei einem gelungenen Werk Wesentliches zu ändern sein. Freilich bleibt auch das individuell; wem es an Umsicht fehlt, wer sich von großen Stoffmassen leicht beängstigen läßt, der wird gut tun, den Plan vorher bis ins einzelne auszuarbeiten. Soweit ich raten kann, bleibt doch das beste:
1. man beginnt mit dem Entwurf eines ganz allgemein gehaltenen, womöglich auf übersichtHcher Zweiteilung beruhenden Skeletts;
2. man prägt sich dies ein und arbeitet frisch darauf los — wobei es wieder Klassen von wissenschaftlichen Arbeitern scheidet, ob sie stetig vorwärtsgehen oder einen besonders interessanten Abschnitt zuerst heraus- greifen u. dgl. Beides hat Licht- und Schattenseiten;
3. man liest das fertige Werk durch, präpariert es, wie ein Natur- forscher ein Tier präpariert, indem man seine Anatomie genau ausschält und über alles Wesentliche Notizen macht, und prüft den so erhaltenen Grundriß;
4. man revidiert die Anordnung auf Grund der so erhaltenen orga- nischen Disposition.
Über die Art, wie die Meister arbeiteten, fehlt es uns nicht an Nach- richten; helfen werden uns nur die, denen wir irgendwie verwandt sind; andere beirren leicht.
Die Disposition soll den Körper leicht und sicher tragen wie uns unser Knochenbau; aber schön ist es nicht, wenn die Rippen herausstehen.
*) Vgl. Bernheim, Lehrbuch der histo- Aufsatz „Prinzipien der wissenschaftlichen fischen Methode S. 515 f.; allgemein meinen Periodenbildung", Euphorien 8, 1 f.
10*
1 48 Stilistik.
Eine allen deutliche Anordnung kann wissenschaftlichen Werken zur Em- pfehlung dienen; künstlerische Darstellung schädigt sie und gibt etwa der eddischen Rigsthula*) oder E. M. Arndts Formelgedichten {„Wer ist ein Held? wer — kann") eine trockene Regelmäßigkeit. Auch in dieser Hin- sicht wird Vertiefung in große Beispiele, das Studium selbstgefertigter Ana- lysen verwandter Werke, endlich die Lektüre einsichtiger Kritiken über deren Anlage uns eine gute Vorschule sein, von der wir aber Selbständigkeit, nicht etwa Nachahmung lernen sollen.
§ 166. Lektüre. Die Lektüre überhaupt ist die richtige Hilfe zur Vollendung. Über ihre erziehliche Bedeutung handelt eingehend das ge- scheite Buch von Albalat, Lxi formation du style par i Assimilation des auteurs (über die Kunst des Lesens überhaupt vgl. meinen Grundriß der neueren deutschen Literaturgeschichte S. 36 f.). Freilich rät der Franzose auch hier zu engerem Anschluß an die Vorbilder, als wir raten möchten. Die Lektüre, als stilistische Schulung betrachtet, ist eben eine Art Erziehung, und bei aller Erziehung ist die Atmosphäre von Haus oder Schule wichtiger als die Hausordnung und die einzelnen Vorschriften. Früher riet man, be- stimmte Stilmuster zu lesen:
vos exemplaria Graeca Nocturna versate manu, versate diurna,
man empfahl einem jungen Historiker Tacitus oder Macaulay oder Ranke als Vorbild. Ich halte das für gefährlich. Nicht zwar, daß jeder junge Mann schon für seine „Individualität" zu fürchten hätte; die Persönlich- keiten sind rar, und wer eine ist, wird das mächtigste Muster überwinden. Aber man gewöhnt sich leicht an die Affektation fremder Redeweise, wie uns denn das „Goethische Deutsch" Varnhagens kaum besser mundet als die Tieckisierende Poesie Immermanns.
Deshalb ist es am besten, wenn wir unsere Lehrer sich gegenseitig belehren lassen. Man lese vor allem so wenig schlechte Bücher wie möglich, und wenn sie noch so viel Lärm machen, und wenn man noch so oft gefragt wird: „Haben Sie — schon gelesen?" Jede schlechte Gesellschaft verdirbt gute Sitten, stumpft unser Urteil ab und also auch unsere Selbstkritik. Man lese so viel gute Bücher, als man mit Sammlung und Lust lesen kann. Ein Durchpeitschen der Weltliteratur verwirrt und betäubt; eine Überanstrengung in aufmerksamer Lektüre ermüdet und enttäuscht. Man gehe von unsern Klassikern aus, lese unbedingt alle Hauptwerke (das können auch kleine Gedichte sein) von Lessing, Goethe und Schiller; aber auch von der Lektüre der besten Werke unserer Ro- mantiker, Hölderlins, Kleists, der wichtigsten Dramen Grillparzers und Hebbels, der schönsten Gedichte Heines und Mörikes, der besten Romane und Novellen von G. Keller, Th. Storm, O. Ludwig, Paul Heyse, C. F. Meyer, M. v. Ebner, endlich eines oder des andern Bandes
') Vgl. meine Altgermanische Poesie S. 471 f.
Zwölftes Kapitel. Innere Hilfen. 149
von Schopenhauer und Nietzsche wiri? man sich nicht dispensieren
dürfen. — Für wissenschaftliche Prosa bieten gute Anthologien (mein
Grundriß S. 387 f.) die Hand und führq^ hoffentlich zur vollständigen Lek-
. türe bedeutender Schriften von Ranke.^ommsen, Freytag, Treitschke,
/von Uhland, J. Grimm, Lehrs, Burckhardt, von Humboldt, Brehm,
' Steub, Ratzel, von Hettner, Scherer, Gomperz u. s. w. (Es versteht
sich,/daß diese Liste nicht vollständig sein soll und daß eine Auslassung
niflii auf den Index librorum probihitomm setzen will!)
Im Anfang nun ist es vielleicht ganz heilsam, sich beim Lesen sozu- sagen die Hände führen zu lassen.') Dann gehe man dazu über, von feinsinnigen Ästhetikern und Kritikern sich die Augen schärfen zu lassen: die Rezensionen von Lessing, Goethe, Schiller, von G. Freytag, Ferd. Kürnberger, zum Teil auch A. W. Schlegel lehren uns sehen, die Ästhe- tiken, Poetiken, Literaturgeschichten von Vischer, Viehoff, Hettner, Brandes, Scherer lehren uns urteilen. Auch englische und französische Meister der Kritik bieten manches, was bei uns vernachlässigt wird. Und man hüte sich dabei, lector unliis libri zu werden: Vergleichung befreit, Kampf zwischen zwei Auffassungen stählt, Zweifel macht zum Mann.
Wie aber soll diese Lektüre auf die eigene Produktion einwirken?
Vor allem indirekt. Sie soll unsern Ehrgeiz anspornen. Wir sollen uns unter den Augen ernster Meister schämen lernen vor bequemem Gehen- lassen, halbem Fertigmachen, unwahrem Aufputz. Wir dürfen uns freilich nicht mit ihnen vergleichen; aber des Umgangs mit ihnen wollen wir doch wert sein. Und im einzelnen gedenke man bei jedem Tadelwort, das die Autoritäten fallen lassen, an das gute alte Sprüchlein:
Freund, sieh auf dich Und nicht auf mich. Und mach ich's falsch. So bessere dich.
Was Goethe an den Dilettanten seiner Zeit tadelt, das kann auch uns treffen; was wir an Gutzkow oder schwachen Schillernachahmern mißbilligen lernen, prüfen wir an uns nach.
§ 167. Feilen. Die Wirkung dieser unaufhörlichen Erziehung zeige sich dann beim Feilen. Solang wir im Fluß des Vollbringens schwimmen, tun wir gut, auf das Einzelne und Kleinste nicht allzuviel zu achten; das bringt aus dem Zusammenhang, zerstört den unersetzlichen Moment. Nun aber ist der Guß gelungen und die Form erkaltet; da gilt's nachprüfen, nach-
') Hierzu dienen Büctier wie O. Weise, i die Ameriicaner; W. T. Brewster, Studies in
Deutsche Spracli- und Stillehre, Leipzig und Structure and Style, NewYorl< 1903, und die
Berlin 1901; desselben Musterstücke deut- Franzosen: Laharpes berühmtes altes Buch
scher Prosa zur Stilbildung und Belehrung, .Lycee ou cours de litterature", Paris 1818,
ebenda 1903; H. Vockeradt, Das Studium bildet noch heut eine unerschöpfliche Fund-
des deutschen Stils an stilistischen Muster- grübe für stilistische Einzelbeobachtungen,
stücken, Paderborn 1899. Noch eingehender |
150 Stilistik.
feilen, wieder nachprüfen und nachfeilen. Gerade die Besten waren darin am sorgfältigsten.!)
Hier nun ist auch der Augenblick, den Rat der Poetiken und Dra- maturgien, Sprachlehren und Stilistiken im einzelnen zu befragen, Eber- hards „Synonymik", Sanders' „Hauptschwierigkeiten der deutschen Sprache", WusTAtANNS „ Sprachdummheiten " zu befragen — auch dies ohne sklavische Unterwürfigkeit, erst recht aber ohne vorgefaßten Eigenwillen. Dann habe man den Mut, auch das zu ändern, was uns besonders entzückt, und vor allem — zu streichen, worauf wir besonders stolz sind. Ein wohlwollend nüchterner erster Leser oder Hörer kann uns diese Arbeit erleichtem; wie viel verdankt selbst Wielands „Oberon" Goethes Vorschlägen oder gar Immermanns „Tulifäntchen" Heines Besserungen!
Zwei Hauptpunkte werden bei dieser Nacharbeit besonders zu be- achten sein: die Wiederholungen und die Übergänge.
Es ist kaum zu vermeiden, daß im Lauf einer längeren Arbeit sich Wiederholungen einstellen: man kommt mehrmals an denselben Punkt der Betrachtung, man wird öfters an denselben Einwand erinnert, oder noch gröber: die gleiche Notiz, dasselbe Zitat wird mehrfach verwandt. Von absichtlichen Wiederholungen (vgl. oben § 44 f.) sind diese lässigen natür- lich sehr verschieden, und es bringt keine rhetorische Wirkung hervor, wenn Zola im „Debäcle" zweimal wörtlich gleichlautend schildert, wie am Hori- zont sich die Silhouette eines Ulanen wie ein Zinnsoldat abhebt Solche Übereinstimmungen sind also zu tilgen oder durch Variation zu ersetzen. So auch schon im kleinen die allzu häufige Anwendung derselben Worte oder selbst der gleichen Konstruktionen, z. B. der rhetorischen Frage, die Überiadung mit Bildern u. dgl. m.-) Dabei treten dann die allgemeinen Regeln über die Grenzen der Synonymik und die Prüfung der Gleich- wertigkeit verschiedener Ausdrucksmittel überhaupt in Kraft.
Die Übergänge, d. h. die Verbindungen gedanklicher Abschnitte sind natürlich am besten, wenn sie sich ungezw'ungen aus der Entwicklung des Ge- dankens selbst ergeben (vgl. Albalat ebenda S. 118). Doch ist diese nicht immer unmittelbar zum Ausdruck zu bringen; auch werden Auslassungen, Einschübe, Versetzungen nötig, die den Zusammenhang zweier benachbarter Stücke auflösen. Dieser ist dann mit irgend einer nicht allzu auffallenden Brücke herzustellen und die kunstlose Eselsbrücke eines gar zu bequemen „Auch" und „Andrerseits" ist tunlichst zu vermeiden. Übrigens soll wieder der Kritiker nicht vergessen, daß diese Übergänge schließlich nur eine symbolische Bedeutung haben: es genügt, wenn sie den Leser ohne zu große Erschütterung fortleiten. „Alles ist nur ein Übergang", sagt eine alte Brückeninschrift
') Für Frankreich wird dies durch die Abel, Le labeur de la prose, Paris 1902, ein- lehrreichen Bücher von Albalat, Le travail gehend bewiesen.
du style enseigne par les corrections manu- ') \'gl. Albalat, Art d'ecrire S. 106, mit
scrites des grands eciivains, Paris 1903, und guten Beispielen.
Zwölftes Kapitel. Innere Hilfen. 151
Wichtiger ist es, die innere Verkettung der einzelnen Abschnitte anschaulich zu machen. Dem dienen jene Mittel, die Goethe als „Ver- zahnungen" bezeichnete: Vor- und Rückverweisungen an geeignetem Ort, doch mit Maß zu verwenden (vgl. oben § 146); geschickte Vorbereitung wichtiger Momente; Auflösung zurückgeschobener Bedenken, Ausführung früherer Andeutungen. Für die Erzählungstechnik gilt noch insbesondere die Regel, daß ein deus ex machina so wenig wie im Drama erlaubt ist: jede Figur, die lediglich zu einem besonderen Zweck eingeführt wird, er- scheint als kunstloser Behelf. Deshalb bringt Goethe in den „Wahl- verwandtschaften" Mittler lange, eh er ihn braucht, auf die Bühne. Ebenso- wenig läßt er ihn dann gleich verschwinden. Moderne Erzähler sind gerade hierin oft sehr sorglos.
Endlich stellen sich leicht überall kleine innere Widersprüche ein, aus dem Einfluß verschiedener Momente entstanden; sie sind natürlich zu beseitigen.!) So schildert Auerbach in seinem Roman „Spinoza" denselben Rabbi Isaak Aboab zweimal. Einmal (Kap. 4) heißt es: „Es war ein schmäch- tiges blatternarbiges Männchen mit hoher Stirne und weit herausliegenden grauen Augen; ein roter Bart umgab Wangen und Kinn"; bald darauf aber (Kap. 8): „Es war ein Mann in den sogenannten besten Jahren, von hoher und umfangreicher Gestalt. Das viele Fasten hatte ihm wenig zugesetzt, denn er sah wohlgenährt aus; das runde Gesicht mit den vollen roten Wangen und dem schwarzen bis auf die Brust herabfallenden Bart war schön zu nennen" . . . Daß der Leser über solche Dinge wegliest, wie über die berühmten Widersprüche im „Don Carlos" (der Brief!), ist keine Ent- schuldigung für den Dichter; im Gegenteil!
§ 168. Abschluß. Schließlich muß doch auch diese Nacharbeit ab- geschlossen werden; nicht eher freilich, eh wir nicht selbst fühlen, das Werk sei reif zum Abschluß. Aber wie es Maler gibt, denen man in einem bestimmten Stadium der Arbeit das Bild von der Staffelei nehmen muß, damit sie es nicht durch zu viel Überarbeiten verderben, so gibt es auch bei Büchern eine Grenze des Feilens. Von Jakob Bernays', des be- rühmten Philologen, Aufsätzen hat Gomperz gesagt, sie wären vollkommen, wenn nicht jeder Satz darin es sein wollte; und an Matthew Arnold, dem feinen englischen Kritiker, tadelt Hunt (Studies in Literature and Style, S. 224) die „Übervollendung" (pver finlsh), bei der das Zurichten und Zuspitzen Selbstzweck wird.
Es gibt Autoren, für die das fertige Werk ein für allemal erledigt ist, und solche, die es immer wieder umwandeln, wie Herder und Wieland. Jedenfalls wird man gut daran tun, mit der Möglichkeit einer späteren Um- gestaltung nicht zu rechnen, sondern das Buch sofort nach Kräften „end- gültig" zu formen. „Die Freude an vollendender Arbeit", die der berühmte
') Beispiele bei Kraus und Jellinek, I für österreichische Gymnasien 1893 S. 673 f., Widersprüche in Kunstdichtimgen, Zeitschrift ! vgl. Euphorion 4, 691 f.
1 52 Stilistik.
Romanist Tobler z. B. seinem Fachgenossen Karl Bartsch abgesprochen hat, ist von wesentlicher Bedeutung. Ein halber Abschied verstimmt; der Leser fragt sich mit Recht, warum denn nicht noch bis zum wirklichen Fertigwerden gewartet wurde, und nimmt nur sehr triftige Gründe (die es ja geben kann) als Entschuldigungen an.
Ist dann das Kind aus dem Hause, und die letzte Arbeit auch beim Druck noch getan, so wird man fühlen, wie viel Besseres man hätte schaffen wollen, vielleicht auch können. Man habe die Kraft, von diesem Augenblick an auch von den eignen Mängeln zu lernen, indem man nicht bei der Stimmung des „Autorenkaters" sich beruhigt, sondern Fehler und Fehlerquellen zu ergründen sucht; dazu ist dies vielleicht der geeignetste Augenblick in unserem Leben.
Dreizehntes Kapitel. Arten der Prosa.
§ 169. Recht der Einteilung. Die Beurteilung eines Kunstwerks und so auch die Selbstkritik nach der Vollendung kann nicht allein nach allgemeinen Gesichtspunkten vollzogen werden, sondern das einzelne Werk muß auch noch spezieller darauf geprüft werden, wie weit es den Anforderungen ge- nügt, die seine Gattung und seine Entstehung stellen. Mit den ersteren haben wir uns in diesem, mit den letzteren im nächsten Kapitel zu be- fassen.
Zwar ist es überhaupt bestritten worden, daß es „Gattungen" gebe. Man hat darzutun versucht, daß keine Einteilung der Menge individueller- Gestaltungen genüge, und man kann beweisen, daß besonders in literarisch revolutionären Epochen eine Vermischung der hergebrachten Gattungen sogar bewußt erstrebt worden ist. Beides ist richtig; und beides ändert nichts an der Tatsache, daß die ungeheure Mehrzahl der literarischen Pro- dukte sich in die überiieferten Gattungen leicht und zweckmäßig einordnen läßt und daß gerade die Meisterwerke über ihre Zugehörigkeit zu Epos, Lyrik oder Drama keinen Zweifel lassen. Der periodische Ansturm gegen die praktische Einteilung der Alten wird deshalb vermutlich immer wieder abgeschlagen werden, gerade wie die oft geistreich begründete Ablehnung der zweckmäßigen historischen Unterscheidung von Altertum, Mittelalter und Neuzeit.
§ 170. Einteilung der Prosa. Allerdings ist aber zuzugeben, daß dies vorzugsweise nur für die Einteilung der Poesie gilt. Für die Prosa be- steht eine einheitliche Gliederung nur, soweit es sich um die Scheidung von „wissenschaftlicher" und „schönwissenschaftlicher" Prosa handelt, wozu als eine Art Nebenform noch die mündliche Rede kommt. Die weitere Einteilung ist aber freilich fast ganz dem Belieben des einzelnen übedassen. Bernhard] (Sprachlehre 2, 186 f.) unterscheidet philosophische (S. 188 f.),
Dreizehntes Kapitel. Arten der Prosa. 153
historische (S. 223) und rhetorische (S. 225) als Gattungen der reinen Prosa und daneben (S. 237) die haibpoetische Form des Romans. K. F. Becker (S. 426 f.) teilt ein: I. Verstandesstil (S. 444): A. Berichtender Stil (S. 444): a) Geschäfts- oder Kanzleistil, b) erzählender, c) historischer Stil; B. Di- daktischer Stil (S. 469): a) Lehrstil, b) abhandelnder Stil. II. Gemütsstil (S. 483): A. Rührender Stil (S. 483): pathetischer Stil; B. Rednerstil (S. 497): a) Rednerstil, b) Briefstil. Man sieht, wie diese Gliederung inhaltliche und psychologische Einteilungsmomente vermischt. — Wackernagel (S. 237) gliedert in erzählende (S. 240) und lehrende (S. 264) Prosa, eine Verein- fachung der älteren Einteilung, bei der die Rede (als Gegenstand der Rhe- torik) einfach unter die Didaktik subsumiert wird. — Vischer hat gar keine feste Einteilung der Prosa, die er überhaupt nur als Nebenform behandelt. — Von fremden Stilistikern nenne ich nur Hunt (Studies in Literature and Style), der oberhalb der Scheidung von Poesie und Prosa scheidet: den intellektuellen (S. 26), literarischen (S. 46), leidenschaftlichen (S. 70), volks- tümlichen (S. 92), kritischen (S. 117), poetischen (S. 148), satirischen (S. 174), humoristischen (S. 193) Stil, also wieder mit Mischung von Zweck- und Temperamentsmomenten fast für jede irgendwo angenommene „Gattung" einen besonderen Stil konstruiert. Auch dies ist nicht ohne Wert, denn jegliche Eigenart sei es inhaltlicher, sei es psychologischer Art bringt For- derungen an den Stil mit sich. Deshalb kann jeder Versuch, festzustellen, was sich etwa aus dem Wesen des Humors ergibt, dankbar benutzt werden ; und besonders Jean Paul und Vischer haben für solche Feststellungen Großes geleistet. Eine übersichtliche Einteilung läßt sich aber auf diesem Wege nicht gewinnen und keine von den mitgeteilten scheint uns einwand- frei; und ebensowenig manche, die wir hier nicht erwähnen.
Erinnern wir uns nun aber, daß wir die Stilistik überhaupt als ver- gleichende Satzlehre auffaßten, so ergibt sich, daß wir auf die Arten des Satzes (Kap. VIII) zurückgehen müssen. Dort unterschieden wir:
a) rein monologische Sätze: Ausrufe,
b) Übersetzung aus der Reflexionsbewegung in die Mitteilung: Aussage.
c) von vornherein beabsichtigte Mitteilung und zwar
1. Aufforderung zu einer Aussage: Frage,
2. Aufforderung zu einer Handlung: Heischesatz.
In dieser primitiven, syntaktisch erhärteten Gliederung finden wir die Arten der Prosa präformiert. Auch das größte Stück menschlicher Rede, auch das umfangreichste Buch ist schließlich, wenn es nur einheitlich ist, nichts anderes als ein unendlich ausgedehnter Satz. Auch der ausgedehn- teste Satz trägt die Eigenart eines der kürzesten Sätze an sich; nur natür- lich selten in chemischer Reinheit, meist mit Beimischungen, die ja schon in einem kurzen zusammengesetzten Satz (z. B. durch eine Parenthese in Frageform) möglich sind.
254 Stilistik.
Danach teilen wir ein:
a) rein monologische Prosa: Meditation:
a) einfache Betrachtung: Sentenz und Sprichwort, Aphorismus, ß) in Zusammensetzung: Tagebuch,
b) Übersetzung in die Mitteilung (Aussage): Erzählung:
1. ohne Betonung des Mitteilungscharakters:
a) einfache Erzählung: Anekdote, Schwank, Rätsel, Märchen,
Novelle, ß) in Zusammensetzung: Roman, wissenschaftliche Darstellung,
2. mit Betonung des Mitteilungscharakters: a) einfacher Bericht: Meldung, Inschrift,
ß) in Zusammensetzung: Brief, Zeichnung,
c) von vornherein beabsichtigte Mitteilung:
1. Aufforderung zu einer Aussage, Frage: Untersuchung,
2. Aufforderung zu einer Handlung, Heischesatz: Rede.
Unsere Haupteinteilung ist also in Meditation — Erzählung — Untersuchung — Rede. Wir erhalten damit erstens Raum für eine zumeist übersehene Gattung, die aber bei der steigenden Bedeutung des Apho- rismus nicht länger übersehen werden darf; zweitens eine einfache Gliede- rung aus syntaktischen Gesichtspunkten, die also jede Beimischung von psychologischen Momenten („humoristisch", „satirisch" u.dgl.) oder Begleit- umständen („volkstümlich" u. dgl.) ausschließt; drittens ein bequemes Gitter- werk zur weiteren Aufteilung der Unterarten auch wieder nach syntaktischen Gesichtspunkten.
Denn für die Untereinteilung schließen wir uns wiederum der syntaktischen Ordnung an. Sie unterscheidet einfache und zusammen- gesetzte Sätze; und dem entsprechend scheiden wir solche Äußerungs- formen, bei denen ein einfacher Eindruck die sprachliche Reflexbewegung auslöst, und solche, bei denen er bereits auf dem Hintergrund anderer Eindrücke aufgenommen und mit ihnen konstruiert wird. Doch gilt dies eben nur da, wo die Äußerung wirklich noch ganz oder teilweise eine Reflexbewegung ist; wo dagegen von vornherein eine bestimmte Mitteilung beabsichtigt wird, hat sie auch einen einheitlichen Kern.
Nur also für Meditation und Erzählung scheiden wir die Formen, in denen ein einzelner erregender Eindruck sich Geltung verschafft — Apho- rismus, Erzählung im engeren Sinn, einfacher Bericht — und solche, bei denen es von vornherein als Glied einer größeren Kette apperzipiert wird — Tagebuch, Roman und Darstellung, Brief.
Nur für die Übergangsform zwischen Monolog und Anrede kommt noch hinzu eine Unterscheidung danach, ob mehr der monologische Cha- rakter, oder mehr der der Anrede hervortritt.
Unsere systematische Anordnung ist natüriich weit davon entfernt, eine chronologische sein zu wollen. Fast müßte man sie zu dieser um-
Dreizehntes Kapitel. Arten der Prosa. 155
kehren. Denn es ist ja natürlich, daß die bewußten, absichtlichen Formen sich zuerst kunstmäßig gestalten; und insbesondere dürfte die Rede um eines praktischen Zweckes willen die älteste Form der Kunstprosa über- haupt sein. Als solche finden wir sie ja auch bei den verschiedensten „wilden Völkern" schon entwickelt. An Alter zunächst wird wohl die Er- zählung folgen, die als Märchen, Anekdote, Novelle ja ebenfalls eine von aller Ethnologie bezeugte Urgattung ist, aber mit weniger entwickelter Technik. Früh setzt auch die Untersuchung schon ein; philosophische und religiöse Prosa stellt sich auf frühen Kulturstufen ein. Ganz spät aber wird auch die monologische Rede kunstmäßig ausgebildet und von der poetisch geformten Urgattung des Gebetes, Segens, Fluchs löst sich fast erst vor unsern Augen die kunstmäßig geformte Meditation, deren Vorstufe in Sprichwort und Sentenz freilich uralt ist.
Über die Beziehungen dieser Prosagattungen werden wir noch weiteres anzumerken haben.
§ 171. Monologische Prosa. Die ursprünglichste und einfachste Form der Rede wird wohl die sein, die der Mensch mit den Tieren teilt: un- willkürliche Begleitung unwillkürlicher Reflexbewegungen durch Laute. Etwas anderes ist der Zuruf nicht, nur daß die Laute sich zu bestimmten Worten verdeutlichen. Hier liegt nun die Wurzel zu der gesamten lyrischen Poesie, zum Fest- und Trauerlied, Liebes- und Spottlied, Stimmungs- und Reflexionsdichtung lyrischer Natur. Wo aber die Entwicklung nicht zu dieser festen Formung unter dem Einfluß von Rhythmus und Musik führt, bleibt der erregte Ausdruck einer momentanen Empfindung lange, lange auf seinen Moment beschränkt: die Erregung hat sich in einem — kürzeren oder längeren — Ausruf ausgelöst und damit ist die Sache abgetan. Hier- auf beruht es denn auch, daß die wichtigsten Ausdrucksmittel der Erregung, die Interjektionen, eine (freilich nur relative!) „Geschichtslosigkeit" zeigen: sie sind von dem allgemeinen Gang der sprachlichen Entwicklung bei- nah unabhängig, weil sie fortwährend neu erzeugt werden. Deshalb isoliert schon ihre lautliche Einfachheit diese o! und ah! von den kom- plizierten Gebilden, die kultivierte Sprachen sonst aufweisen.
§ 172. Aphorismus. Allmählich entstehen nun aber 'Gelegenheiten, auch hier (um einen Lieblingsausdruck Goethes zu verwenden) „dem Moment Dauer zu verleihen".
Die erste ist die, daß ganze Reihen analoger Einzelbeobachtungen in einen Ausspruch konzentriert werden. So entsteht die Sentenz (vgl. oben § 158), die bei volkstümlicher Adoption zum Sprichwort (s. oben § 153) wird. Wie wir aber sehen, hat diese Form keine selbständige Bedeutung: sie ist zur Einfassung in fortlaufender Rede bestimmt. Dadurch scheidet sich das Sprichwort von dem Aphorismus, der allein stehen oder seinerseits den Kern bilden soll, an den eine eingehende Betrachtung ankristallisieren mag, wie an eine herausgehobene biblische Perikope. Entscheidend ist aber vor
156 Stilistik.
allem ein anderes: die Sentenz, aus der das Sprichwort erwächst, gibt sich nicht als persönlicher Erwerb, sondern gerade im Gegenteil als ein Stück Gemeinbesitz. Oder mindestens wird die im Zusammenhang vielleicht subjektiver gefärbte Sentenz so lange von vielen Händen umgeformt, bis sie einen objektiven Charakter erhalten hat.
Daraus folgt der Charakter des Sprichworts. Es muß knapp formu- liert sein, damit es bequem zitiert werden kann. Es muß gemeinverständ- lich sein, damit es auch von Minderbegabten leicht aufgefaßt werden kann. Es muß im Ausdruck etwas Auffallendes haben, eine scharfe Silhouette, damit es bemerkt wird und sich einprägt. (Über die Anwendung des Sprichworts vgl. wiederum oben § 153.)
Das Sprichwort hat daher sehr oft bei weit voneinander abstehenden Völkern eine bis ins einzelne übereinstimmende Form.') Die Sphäre unserer Erfahrungen ist eben eingeengt, sobald von spezialisierenden Nuancen ab- gesehen werden muß.
Weil das Sprichwort knapp sein muß, besteht es meist aus einem einfachen Satz oder doch den einfachsten Arten des zusammengesetzten. Weil es gemeinverständlich sein soll, operiert es gern mit anschaulichen Metaphern: 2) „Wenn Gott nicht will, hat der Heilige keine Hände." „Gebrannt Kind scheut das Feuer." Weil es auffallend wirken soll, muß es allerlei Hilfen gebrauchen: den Reim {„Einmal ist keinmal"), die Anti- these {„Junge Dirne, alte Betsdizcester"), Verbindung mehrerer solcher Mittel {„Wie du mir, so ich dir") oder, am liebsten, eine überraschende Wahl des Bildes in der Metapher: „Von kleinen Fischen werden die Hechte groß."
Mit diesen Bedingungen bildet das Sprichwort die eine Vorschule des Aphorismus.
Die zweite ist das Zitat (vgl. oben § 154). An ihm wird die Selbständig- keit eines einzelnen Ausspruchs gelernt, der zwar auch auf Gemeingültigkeit Anspruch macht, aber (im Gegensatz zum Sprichwort) als subjektiver Erwerb gefühlt wird. Zu allgemeinerer Verwendung kommt das Zitat in doppelter Art: in mythologisch-rituellem und in juristisch-feierlichem Gewand. Der angeblich wirksame Ausspruch eines Gottes wird zitiert, indem durch eine epische Einleitung die Gelegenheit, ihn selbst sprechen zu lassen, geschaffen wird; so in der ganzen Welt und also auch in altgermanischer Poesie, wie bei dem zweiten Merseburger Segen. Oder eine glückliche Formulierung wird vor dem Thing, der Volksgemeinde, wiederhoh. Allmählich geht freilich beidemal der Charakter des Zitats verloren: dort entsteht eine Zauberformel, hier ein Rechtssprichwort. ») Aber die Gelegenheit erneuert sich fortwährend,
') Vgl. Wander, Deutsches Sprichwörter- als Kosmopolit, 1863. lexikon, 5 Bände, 1862—80, und besonders =1 Eine hübsche Sammlung , Altdeutscher O. V. Reinsberg, Internationale Titulaturen, Witz und Verstand*. Bielefeld u. Leipzig 1877. 1863, iDA V. Reinsberg-DOringsfeld, Sprich- ') Graf und Dietherr, Deutsche Rechts- wörter der germanischen und romanischen Sprichwörter, Nördlingen (München), C. H. Sprachen, 1872, dieselbe, Das Sprichwort Beck, 1862.
Dreizehntes Kapitel. Arten der Prosa. 157
und dauert in den Bibelzitaten der Theologen, den Belegstellen der Philo- logen und Juristen fort.
Immer haben wir hier noch aus dem Zusammenhang gerissene Sprüche; und immer die Betonung der Gemeingültigkeit. Eine stärkere Ausprägung des subjektiven Elements geben aber die sogenannten „Apophthegmata" , überraschende, witzige oder tiefsinnige Aussprüche berühmter Personen, früh gesammelt und aus dem .'Altertum durch Schulbücher und Anwendungen überHefert; typisch sind die dem Diogenes zugeschriebenen {„Geh mir nur aus der Sonne !•"). Daß auch solche Apophthegmata zu Sprichwörtern abgeschliffen werden, zeigen die sogenannten Sprüche der sieben Weisen: „Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben!''
Das Zitat und seine spezifische Gestaltung als „Apophthegma" bildet die zweite Vorschule des Aphorismus. Dieses entsteht aber erst sehr spät. Wie und wann, haben wir hier nicht weiter zu behandeln; überhaupt war diese Skizze einer Vorgeschichte der von Literaturgeschichte, Kritik und Stilistik meist stiefmüttedich behandelten Gattung nur nötig, um die Eigenart des Aphorismus historisch zu eriäutern.
Der Aphorismus trat als voll entwickelte Gattung in die Weltliteratur erst mit den großen Franzosen im Zeitalter Ludwigs XIV. ein. Am stärksten haben die „Maximes'" des La Rochefoucauld form gebend gewirkt; da- neben die „Pensees" Pascals; La Bruyeres glänzende „Characteres" vollzogen dagegen noch nicht die völlige Lostrennung des einzelnen Aus- spruchs von seiner gedanklichen Umgebung. Der einst einflußreiche spa- nische Jesuit Baltasar Gracian (1590 — 1658) hat auf den deutschen Aphorismus nur auf dem Umweg über seinen Bewunderer und Übersetzer Schopenhauer gewirkt.
Der Aphorismus ist bei La Rochefoucauld (und ähnlich auch bei Gracian) ein Text, über den sich geistreiche Leute unterhalten sollen, eine Anregung zum Nachdenken. Er ist bei Pascal, der ein Einsamer war, mehr ein Te.xt, über den dieser tiefsinnige Mann sich mit sich selbst unterhalten hat, eine Quintessenz seines Nachdenkens. Diese beiden Typen dauern fort: der aufregende und der abschließende Aphorismus; doch ist der erste nicht nur viel verbreiteter, sondern gewiß auch als dem Wesen der Art mehr entsprechend anzusehen.
Wir finden daher im Aphorismus den ursprünglichen Charak-ter von Sentenz und Sprichwort wesentlich verändert wieder.
Die Formulierung braucht nicht die schlagende Knappheit jener Gattun- gen zu haben; nur muß der Aphorismus seinen Kern deutlich genug heraus- heben, daß über diesen und nicht über Nebenpunkte (laut oder leisel disputiert werden kann. Manche Aphorismen z. B. von Pascal oder Nietzsche haben den Umfang kleiner Essais; aber ihr Kern scheint durch. Am wirksamsten wird aber auch hier die Knappheit sein, mit der z. B. Fontane seine Sentenzen zu Aphorismen prägt: ^Geschwister kennen sich eigentlich überhaupt nicht.''
1 58 Stilistik.
Die Gemeinverständlichkeit ist hier eine exklusive, d. h. sie gih nur für einen bestimmten, meist hochgebildeten Kreis; und sie braucht nicht unmittelbar zutage zu liegen, weil diese Hörer gern zu einer Gedanken- übung schon vor dem eigentlichen Turnier aufgefordert werden.
Die Prägnanz des Ausdrucks ist unentbehrlich, weil sie den Stempel der individuellen Anschauung gibt und weil sie herausfordernd wirken soll. Der Aphorismus ist daher gern paradox und Banalität ist sein un- verzeihlicher Fehler.
Die hübscheste Charakteristik der Gattung gibt P. N. Coss.mann. Beispiel: „Ein Aphorismus ist ein kleines Haus mit weitem Fernblick".
Den äußern Abschluß, durch den der Aphorismus in seiner Selbst- herriichkeit von der Sentenz — die immer für die Anwendung bestimmt bleibt — und vom Zitat — das immer mit dem übrigen Text verbunden bleibt — abgehoben wird, gibt die Überschrift. Durch geistreich ge- wählte Überschriften, die nicht den Inhalt summieren, sondern die durch ihn erregten Gedanken und Stimmungen anklingen lassen, hat (unter dem Einfluß des Schopenhauerischen Gracian) besonders Nietzsche dieser jungen Gattung ihr endgültiges Sonderrecht gesichert.
Scylla und Charybdis des Redners. — Wie schwer war es in Athen, so zu sprechen, daß man die Zuhörer für die Sache gewann, ohne sie durch die Form ab- zustoßen oder von der Sache mit ihr abzuziehen! Wie schwer ist es noch in Frankreich, so zu schreiben! (Nietzsche, Morgenröte Nr. 268.)
Übrigens ist nicht jeder „Gedankensplitter", der eine befremdende Meinung ausspricht, ein Kunstwerk, das zum geistigen Weiterformen an- regt. Unsern Dichtem gelingt meist die volkstümliche Form der gereimten Gnoiue (bei Goethe, Geibel, Heyse und zahllosen andern) besser als die des prosaischen Aphorismus.
^ 173. Essay. Ein Aphorismus in größerem Maßstab ist der Essay — ebenfalls eine Gattung, in der Franzosen (Montaigne: zuerst 1580) und Engländer (Macaulay, der Amerikaner Emerson) uns übertreffen, und in der wir erst neuerdings einige wenige Meister (H. Grimm, K. Hille- brand, O. Gildemeister) zählen.
Der Essay ist so wenig einfach eine kurze Abhandlung wie die Novelle einfach ein kurzer Roman: er ist im Kern von ihr verschieden (vgl. meine Deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts S. 586 f.). Mit dem Aphorismus teilt er immer noch den sentenziösen Charakter; aber wenn dieser wirklich eine einzelne „seritentia" ist, bildet der Essay ein abgerundetes System von Sätzen. Von seinem Ursprung her hat er das Monologische, das ihn von der viel stärker dem Mitteilungsbedürfnis angepassten Abhandlung unter- scheidet: auch er will nur anregen, nicht wirkliche Anschauungen oder Kenntnisse fertig mitteilen; auch er will ein Kern sein mit möglichst wenig Schale. Auch er neigt deshalb zur Paradoxie, zum pointierten Ausdruck, und liebt anderer Paradoxien und Pointen anzurufen — daher die Häufig-
Dreizehntes Kapitel. Arten der Prosa. 159
keit des Zitats im Essay — . Auch er hat, wie Aphorismus, Tagebuch, Brief, sein Dilemma: daß er nämlich bei künstlerischer Abrundung doch „unfertig" sein soll, insofern als er erst in dem an ihn geknüpften weiter- führenden Nachdenken seinen wahren Abschluß erreicht. Er muß ge- dankenreich sein, darf aber keinen Gedanken bis in die letzten Kon- sequenzen verfolgen. Dafür soll er eben jeden Gedanken, der sich an das angeschlagene Thema ungezwungen anschließen könnte, vorgedacht haben. Er ist die Art eines Mannes, der um ein Kunstwerk herumgeht, es von allen Seiten betrachtet, und diese Eindrücke mitteilt, und nun die andern Beschauer zum Sprechen auffordert; so besonders bei H. Grimm.
Eine stark subjektive Färbung ist, wie bei allen monologischen Gat- tungen, das gute Recht des Essays; doch soll die Individualität nicht — wie öfter bei Macaulay, immer bei Carlyle — so herrisch auftreten, daß der Zuhörer gleichsam eingeschüchtert wird. Wer aber nur sagt, was jeder Beschauer auch sagen könnte, hat keinen Essay gegeben.
§ 174. Tagebuch. Noch weniger als der einzelne Ausspruch gehört ursprünglich das Tagebuch der kunstmäßigen Prosa an.') Auch bleibt bei dieser Form ein eigentümliches Dilemma: ihr eigentlicher Reiz besteht in der Unmittelbarkeit des Ausdrucks, in der unlöslichen Verbindung ihrer einzelnen Glieder mit unzähligen kleinen oder großen tatsächlichen An- lässen, in der davon abhängigen Ungleichheit. Alle diese Eigenschaften des echten Tagebuchs sollen sich nun aber mit durchgebildeter Form, mit einer gewissen Selbständigkeit der einzelnen Notate, mit einer gewissen Ausgeglichenheit vertragen !
Das „künstliche Tagebuch", d. h. das fingierte, von dem Dichter seinen Figuren diktierte, wird diese Schwierigkeiten selten überwinden. Auch Ottiliens Tagebuch in den „Wahlverwandtschaften" ist nur eine unglaub- hafte Erfindung, um schöne Aphorismen unterzubringen. Im wesenttichen liegt das Verdienst des „künstlichen Tagebuchs" nur darin, daß es als ein unentbehrliches Übergangsglied zwischen dem wild gewachsenen unlitera- rischen und dem kunstvoll gezogenen literarischen Tagebuch diente.
Das „echte Tagebuch" in dieser jüngsten Form kann, jene inneren Widersprüche nur durch die Persönlichkeit seines Verfassers überwinden. Eine Natur, die starke Unmittelbarkeit des Empfindens mit durchgebildeter Ausdrucksform vereint, wie Hebbel; eine Persönlichkeit, die allen inter- essanten Einzelheiten des Lebens Bedeutung abzugewinnen versteht, ohne eine kräftige Eigenart zu verleugnen, wie Edmond de Goncourt; eine Individualität, die von Stimmungen abhängig doch eine künstlerische Ein- heit jederzeit zu behaupten weiß, wie der Genfer Am iel — das sind Mög- lichkeiten literarisch bedeutsamer Tagebücher. Andere müssen sich mit kulturhistorischer oder historischer Bedeutung begnügen.
') Über seine Entwicklung vgl. meine .Gestalten und Probleme' S. 281 f.
1 50 Stilistik.
Die Bedeutung der drei oder vier großen Kunstwerke dieser Gattung liegt darin, daß sie iiir Wesen rein zum Ausdruck bringen: den mono- logischen Charakter der Meditation in der innerlichen Einsamkeit und Frei- heit der Gedanken, den Hinblick auf größere Zusammenhänge in der Er- fassung des Lebens als einer künstlerischen Einheit. Man wird auf neuere Meisterwerke der Gattung schwerlich hoffen dürfen, weil die berühmten Vorbilder die freie Bildung späterer Tagebücher verkümmern lassen.
§ 175. Erzählende Prosa. Die Erzählung gilt mit unbestreitbarem Recht als die Hauptform der Kunstprosa.
Die einfache Mitteilung erhält eine kunstvolle Ausprägung auf ver- schiedenem Wege:
1. durch die Tradition. Sie geht von Hand zu Hand; das Wirksame wird betont, das Unwirksame ausgeschieden; Zeitgemäßes aufgenommen, Veraltetes beseitigt. So erhält die kunstlose Nachricht von irgend einem auffallenden Abenteuer die Kunstform der Novelle oder des Schwanks;
2. durch die Gelegenheit. Es gibt bestimmte Anlässe, sich im guten Vortrag zu üben. Um die Wette zu erzählen ist vielfach im Volke üblich; oder ein hoher Herr und Gönner will unterhalten sein; eine unbehagUche Stimmung ist zu überwinden. So wird die Anekdote zugespitzt, das Mär- chen erhält seine eigene Technik.')
Hauptbedingungen der Wirksamkeit bei der Erzählung sind zunächst die beiden Punkte, die schon für den einfachen Satz entscheidend sind: Einheit- lichkeit und Vollständigkeit. Der Aphorismus und die Rede dürfen nicht ganz „vollständig" sein: sie müssen eine Auswahl des Wichtigsten geben. Das Tagebuch und die Untersuchung können nicht streng „einheitlich" sein: sie müssen mehrere Punkte unter einem ent^^ickelnden Gesichtspunkt zusammenfassen. Die Erzählung muß vollständig sein, d. h. dem Hörer keine berechtigte Frage übrig lassen; sie muß einheitlich sein, d. h. durch ein erregendes Faktum oder Problem bestimmt werden. Freilich hängt es von den Zeiten ab, welche Fragen noch als berechtigt gelten. Der alte Roman, besonders der der Engländer, mußte mit einer vollständigen Rechen- schaft über die späteren Schicksale aller Figuren enden; uns scheint das kunstwidrig, weil eben das Problem, um dessenUvillen allein sie da sind, erschöpft ist. Ebenso hängt es von den Epochen ab, wie weit ein ein- heitliches Problem bei innerer Zusammengesetztheit anerkannt wird. „Wil- helm Meister" führt einen t>^pischen Jüngling vom Dilettantismus zur Ein- ordnung in die Gesellschaft: was für komplizierte Begriffe sind aber „Dilet- tantismus" und „Gesellschaft"!
In diesen beiden Hauptbedingungen tritt die Erzählung einfach als typische Kunstprosa auf. Sie ist aber ferner noch speziell Übermittlung einer (wirklichen oder fingierten) erregenden Tatsache. Daraus er\\-ächst
') Unbrauchbar J. Wassermann, Die Kunst der Erzählung, Berhn 1904.
Dreizehntes Kapitel. Arten der Prosa. 161
ihr eine dritte spezifische Hauptpflicht: die der Anschaulichkeit. Zwar gilt auch diese allgemein (s. oben § 31); aber vor allem doch hier, wo der Anblick, die Empfindung, das Erlebnis, die zum Reden zwangen, reprodu- ziert werden müssen.
Neuerdings hat sich zwar gegen die besonders seit Vischer stark betonte Forderung der Anschaulichkeit eine Gegenbewegung geregt. In einer ungemein scharfsinnigen und tapfer unabhängigen Schrift „Das Stilgesetz der Poesie" hat Theodor A. JVVeyer den Begriff der „An- schauung" einer neuen Prüfung unterworfen und bestreitet, daß die „an- schaulich" geschilderten Kunstwerke oder Gestalten der Dichtung vom gei- stigen Auge wirklich gesehen, wirklich reproduziert werden. Er setzt des- halb die Bedeutung der Anschauung hinter der der Nachempfindung weit zurück. Den gleichen Gegensatz hat eben jetzt auch Fr. Lienhard („Ober- flächenkultur", Stuttgart 1904) in populärer Weise gegen die „Anschauungs- ästhetik" des „Kunstwarts" (der bekannten mit glücklichem Erfolg für die Rechte der Sinne wirkenden Zeitschrift) geltend gemacht.
Wir mögen zugeben, daß jene unmittelbare Übersetzung vom Lesen ins Sehen (oder Hören), die Rudolf Hildebrand erhoffte, nur ausnahmsweise von selbst produktiv angelegten Lesern vollbracht wird. Ist ja doch schon die körperliche Anschauungskraft des Durchschnittsmenschen (zumal des ge- bildeten!) so beschränkt! Was haben wir denn gesehen, wenn wir einen Baum, ein Gemälde, eine Gruppe aufmerksam betrachtet haben? Nur der geistige Ausdruck einer Physiognomie pflegt sich dem Beschauer tief ein- zuprägen. — Aber wir müssen deshalb doch bei jener Losung beharren, die der junge Goethe ausgab: „Gott erhalt unsere Sinne!" Denn eben auch die Nachempfindung wird durch kräftigere, individueller malende Worte ganz anders angeregt. Wenn die alte Parabel anfängt: Ein Knabe hatt', wie viele Knaben, Die Datteln für sein Leben gern —
so ist uns dieser Normalknabe sofort ein gleichgültiger Begriff. Auch Goethe in dem kleinen (übrigens keineswegs besonders gelungenen) Gedicht „Dilet- tant und Kritiker" erzählt von einem Knaben, der „nach Knabenart" sich benimmt, aber er schreibt uns zuerst eine anschauliche Situation vor:
Es hatt' ein Knab' eine Taube zart. Gar schön von Farben und bunt — Ich sehe ein bestimmtes Kind und interessiere mich für den kleinen Taubenfreund. Die bloße Anordnung der Sätze genügt hier, um Goethen die Wirkung erreichen zu lassen, die der andere Poet verfehlt.
Über die Mittel, die Phantasietätigkeit anzuregen, hat H. Viehoff in seiner Poetik (Trier 1888) S. 105 f. vortrefflich mit reichlichen Belegen aus der deutschen Dichtung gehandelt.») Ich hebe unter den von Viehoff erörterten Kunstmitteln hervor:
') Für die englische Bain, Rhetoric and Composition 1, 263 f.
'Handbuch des deutschen Unterrichts. Bd. III, Teil I. H
162 Stilistik.
1. die Benutzung leicht vorzustellender Gegenstände: „Um einen schwer vorzustellenden Gegenstand vor das innere Auge zu rufen, bringe der Dichter einen damit in der Vorstellung räumlich verknüpften, leicht zu erzeugenden vor die Phantasie; so wird sich des letztem größere Klarheit über den schwer vorzustellenden ausbreiten" (a. a. O. S. 112).
So bei Goethe:
Da droben auf jenem Berge,
Da steh' ich wohl hundertmal.
An meinen Stab gebogen.
Und schau hinab ins Tal: der Stab bildet gleichsam den ersten deutlichen Streifen, von dem aus sich unsere Vorstellung orientiert.
2. Ortsangabe und Einrahmung des Bildes (S. 115): Und Pontonoos stellt ihm den silbergebuckelten Sessel
Mitten im Kreise der Gäste, gelehnt an die ragende Säule und besonders haben Türen und Tore „eine große Kraft zur Aufstellung der Menschengestalt":
Wenn er doch jetzt ankam' und vorn in der Pforte des Saales Stande mit Helm und Schild und zwo erzblinkenden Lanzen
(Odyssee 1, 256).
Wie man sieht, steht dies Kunstmittel dem vorigen nach. Beide werden in den typischen „Natureingängen" unserer Volkslieder gepflegt:
Es steht eine Lind in jenem Tal,
Ist unten breit und oben schmal.
Eng hängt damit auch zusammen
3. einfache Umgebung (S. 118) „In Goethes „Geistesgruß":
Hoch auf dem alten Turme steht
Des Ritters edler Geist trägt zur Verdeutlichung des Heldenbildes für das geistige Auge der Um- stand bei, daß die Gestalt auf dem Hintergrund des blauen Himmels er- scheint . . . Kräftiger wirkt dies Kunstmittel, wenn man den vorzustellenden Gegenstand in die einfache Umgebung erst eintreten läßt", wie öfters in Schillers Balladen, z. B. dem „Mädchen aus der Fremde".
4. Schilderung durch Hervorbringung des Bildes (S. 121) — allgemein bekannt aus Lessings „Laokoon".
Ein glänzendes Beispiel la. a. O. S. 123) „Amor als Landschaftsmaler' von Goethe.
5. Schilderung durch sukzessives Erscheinen iS. 126) — eng mit dem vorigen Kunstmittel verwandt: es handelt sich gleichsam um die Selbsthervorbringung des Bildes. Kleist in der „Penthesilea' ich entnehme auch die Beispiele fast durchweg Viehoffs viel zu wenig benutztem Buch):
Seht! steigt dort über jenes Berges Racken Ein Haupt nicht, ein bewaffenetes. hervor? Ein Helm, von Federbüschen überschattet? Der Nacken schon, der mächt'ge. der es trägt?
Dreizehntes Kapitel. Arten der Prosa. 163
Die Schultern auch, die Arme, stahlumglänzt? Das ganze Brustgebild — o seht doch Freunde? Bis wo den Leib der gold'ne Gurt umschließt!
Hauptmann. Ha! wessen?
Myrmidonier. Wessen? Träum' ich, ihr Argiver? Die Häupter sieht man schon, geschmückt mit Blessen, Des Roßgespanns! Nur noch die Schenkel sind. Die Hufe von der Höhe Rand bedeckt! Jetzt auf dem Horizonte steht das ganze Kriegsfahrzeug da! — So geht die Sonne prachtvoll An einem heitern Frühlingsmorgen auf.
Griechen. Triumph! Achilleus ist's, der Göttersohn! Selbst die Quadriga führet er heran —
Er ist gerettet.
(Erich Schmidt, Ausgabe 2, 35.)
6. Eine interessante Varietät dieses Kunstmittels ist die Metamor- phose, d. h. Umwandlung einer Gestalt in die andere (a. a. O. S. 125). Viele Belege bei Ovid; oder in Märchen, wie Hauffs „Kalif Storch"; sehr verfeinert am Schluß der „Helena" im zweiten Teil des „Faust" (Vers 9991 f.).
7. „Bewegung und Handlung" (a. a. O. S. 131): wieder ein von Lessing in die allgemeine Kenntnis und Anschauung übergeführter Satz. Doch wirkt zuweilen auch Bewegungslosigkeit malerisch (S. 135), indem sie als steigernder, die Erwartung reizender Gegensatz wirkt; man denke an den Anfang von Herders „Cid", wo wir auch den Gegensatz von ge- räuschvollem und stummem Handeln (S. 136) haben. — Spezialfälle sind die Verhüllung und Enthüllung (S. 139), wie in der llias (20, 446 f.) oder bei dem Herausschweben der erst vom Nebel verhüllten Gestalt in Goethes Zueignung (vgl. wieder Lessing im „Laokoon"). Dann die Gra- dation, d.h. „ein stufenförmiges Schaffen der Phantasie, ein schrittweises Erhöhen der Klarheit ihrer Bilder"; z. B. wenn „erst beschrieben und dann gezeigt wird", wie Hermann Dorotheen erst den Freunden beschreibt und sie sie dann finden; das Traumbild, wie in den wundervjDllen Versen der Goethischen „Pandora"; das Spiegelbild; die Symmetrie (S. 147), überhaupt das bildmäßige Arrangement in geistiger Zubereitung vom Un- bestimmten zum Wirklichen, vom Geahnten zum Erschauten; so oft im Volksepos.
Viehoff hat (S. 180) auch besonders untersucht, welcherlei Hand- lungen am kräftigsten malen. Er antwortet:
a) Langsame Bewegungen stellen sich der Phantasie deutlicher als rasche dar, weil das Geistesauge besser folgen kann. Schiller in den „Kranichen des Ibykus":
Und feierlich nach alter Sitte Umwandelnd des Theaters Rund,
11*
;[54 Stilistik.
Mit langsam abgemess'nem Schritte Verschwinden sie im Hintergrund.
bj Geräuschvolle Bewegungen stellen sich der Phantasie lebhafter dar als geräuschlose und leichte, weil sie die Gesichts- und Gehörphantasie gleichzeitig zur Tätigkeit aufrufen. Diese Unterstützung mehrerer Sinne weist z. B. Schillers „Schlacht" wirksam auf.
c) Charakteristische Bewegungen, d. h. dem Gegenstand gattungs- mäßig zukommende und ihn kennzeichnende rücken nun das Bild beson- ders klar vor Augen. Wir haben sie eben schon unzähligemal beobachtet, sehen sie vor uns, wenn wir den einherstelzenden Hahn, die schulternde Schildwache, die dahindampfende Lokomotive nur nennen hören. — Das Gleiche gilt allgemeiner von allen alltäglichen und deshalb leicht vorzu- stellenden Handlungen.
d) Daneben regen aber auch unbestimmte, seltsamere, rätselhafte Be- wegungen die Einbildungskraft zu höchst lebendiger Tätigkeit an. Schiller
im „Taucher":
Und schaudernd dacht' ich's, da kroch's heran. Regte hundert Gelenke zugleich — .
e) Daß sich steigernde Bewegungen sich in erhöhter Klarheit dar- stellen, folgt aus dem Kunstmittel der Steigerung der Bewegung überhaupt. Wieder im „Taucher":
Und sieh! aus dem finster flutenden Schoß
Da hebet sich's schwanenweiß,
Und ein Arm und ein glänzender Nacken wird bloß.
Und es rudert mit Kraft und mit emsigem Fleiß,
Und er ist's, und hoch in seiner Linken
Schwingt er den Becher mit freudigem Winken —
ein Beispiel, das zugleich unter die Rubrik „Verhüllung und Enthüllung" fällt.
f) Besonders wichtig: „intermittierende (aussetzende) durch Pausen unterbrochene, sich regelmäßig wiederholende Bewegungen werden von der Phantasie mit steigender Lebhaftigkeit reproduziert". Glänzendes Bei- spiel wieder Schillers „Taucher": „In Strophe 5 und 6 schildert er die Charybdis mit einer Virtuosität, die Humboldts und Goethes Erstaunen um so mehr erregen mußte, als diesen wohl bekannt war, daß der Schilderung keine Anschauung eines wirklichen Phänomens solcher Art zugrunde liegen konnte. Der Phantasie des Lesers prägt sich das furchtbare Bild doppelt stark ein, weil er mit dem Auge und dem Gefühle des kühnen Jünglings schaut, der im Begriff steht, sich in den kochenden Wogenschlund hinab- zustürzen. In Strophe 8 verschlingt der Strudel den Hineingesprungenen; in Strophe 9 wird es stille über dem Wasserschlund; nur das hohle Brausen in der Tiefe, das sich allmählich steigert, bereitet auf die Wiederkehr des Wogenschwalls vor. Aber der Dichter hütet sich wohl, die Wiederkehr sofort zu schildern; durch zwei Strophen hindurch, die er im Geiste der Chorgesänge der antiken Tragödien mit Reflexionen eines Zuschauers über
Dreizehntes Kapitel. Arten der Prosa. 165
das Geschehene ausfüllt, hält er die Erwartung der Augenzeugen und der Leser eine Zeitlang hin und erhöht die Besorgnis um das Los des Ver- schwundenen. Wenn er dann in Strophe 12 die von den Epikern ein- geführte Weise adoptiert, gleiche oder nahe verwandte Erscheinungen mit denselben Versen darzustellen, so ist das hier um so passender, als jenes periodische Wasserphänomen in ganz gleicher Gestalt sich zu wiederholen pflegte. "
7. Kräftige Beleuchtung des Gegenstandes (S. 151) — ein höchst wichtiges Kunstmittel, besonders von Goethe mit der ganzen Meisterschaft eines Gesundkünstlers der Renaissancezeit gehandhabt. So in der „Braut von Korinth":
So zur Tür hinein
Bei der Lampe Schein
Sieht sie — Gott! sie sieht ihr eigen Kind!^)
8. Erhöhte Stellung des Schauenden (S. 152i: der Standpunkt der „Teichoskopien", der Übersichten von hoher Warte, 2) ein höchst wirk- sames Mittel: der Dichter läßt, was vorgeht, dem Leser durch einen Ver- mittler Vorschauen und vorfühlen.
Andere Mittel, wie der Kontrast (a. a. O. S. 156), gehören nicht nur hierher. Auch versteht es sich von selbst, daß mit dieser Achtzahl der Kreis der Kunstmittel, die Phantasie anzuregen, zu unterstützen und zu steigern, keineswegs erschöpft ist.
§ 176. Arten der erzählenden Prosa. Die Arten der einfachen, einzelne „Erregungen" mitteilenden Erzählung sind am besten nach der Art dieser Erregung zu scheiden. Eine rein persönliche Empfindung oder Erfahrung führt zunächst nur zu monologischer Reflexäußerung und erst weiterhin zur Mitteilung. Unmittelbar dagegen veranlassen solche Vorgänge eine Mit- teilung, die entweder selbst beobachtet oder als beobachtet überliefert oder endlich als beobachtet vorgestellt sind. In Wirklichkeit oder in der Vor- stellung muß ein äußerer Vorgang vorhanden sein, der in dem An- gesprochenen (durch die Mitteilung) reproduziert werden soll, damit sich in ihm der Eindruck wiederhole, den der Sprechende zuerst empfangen hat.
Dieser äußere Vorgang kann erregen
1. unsere Sympathie (oder Antipathie 1: Novelle,
2. unser psychologisches Interesse: Anekdote, literarisches Porträt,
3. unsere Heiterkeit: Schwank, Humoreske,
4. unser Nachdenken: Rätsel (Parabel),
5. unsere Phantasie: Märchen.
Festzuhalten ist jedoch, daß bei diesen Gattungen (deren Wichtigkeit eine sehr verschiedene ist), das Gemeinschaftliche überwiegt, nämlich
') Vgl. Morris' Goethe-Studien, 2. Aufl. "") Vgl. Heinze, Virgils epische Technik,
1, 56 (für Goethes bildmäßige Arrangements Leipzig 1903. in der Dichtung überhaupt ebendaselbst 1 14 f.).
166 Stilistik.
1. der Charakter der Erzählung als solcher. Alle besitzen sie den erzählenden oder berichtenden Stil.'i Alle verlangen also, wie ausgeführt, Einheitlichkeit und Vollständigkeit in der Anlage und außerdem die An- schaulichkeit, die nur mit Hilfe von Klarheit und Bestimmtheit erreicht werden kann.
2. Ferner aber haben diese fünf Gattungen noch etwas gemein, was den größeren Formen der Erzählung nicht oder doch nicht in gleichem Grade zukommt: die Spannung. Der Angeredete muß in eine Stimmung gebracht werden, die ihn zur vollen Aufnahme des erregenden Moments geneigt und fähig macht. Von vornherein ist er, wie jeder Mensch, von mancherlei Interessen erfüllt, während bei dem Erzähler in diesem Augen- blick das eine Interesse fast unumschränkt herrscht, das durch jene auf- fallende Beobachtung in ihm erweckt wurde. Damit der Hörer diesen Ein- druck reproduzieren kann, soll sein Kopf für den Augenblick von allen andern Eindrücken gereinigt, freier Raum für die Aufnahme der Novelle geschaffen werden. Dies allein ist die ursprüngliche Aufgabe der Span- nung. Der Zuhörer schenkt uns erst nur ein halbes Ohr; nun aber wird er selbst interessiert, wird er „ganz Ohr".
Spannung müssen also die Gattungen der „kleinen Erzählung" er- regen; und natürlich müssen sie sie auch befriedigen. Sonst wird der Hörer uns für unsere Art, seine Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen, übel danken. Die Spannung setzt also einen wirksamen Abschluß voraus. Dies ist keine neue Forderung, sondern einfach die zweite Hälfte der For- derung: Spannung!
Auch diese Pflichten sind also den fünf Gattungen gemein, doch mit Unterschied; das Märchen vedangt die geringste, das Rätsel die stärkste Spannung.
Jede Erzählung zerfällt also (Albalat a. a. O. S. 216) in drei Teile: Exposition — Verwicklung — Auflösung.
Die Exposition ermöglicht die Spannung und bereitet sie vor, die Verwicklung enthält sie, die Auflösung befriedigt sie. Also darf die Ex- position nicht zu wenig geben, damit die Aufmerksamkeit, wenn sie ein- mal gespannt ist, nicht noch mit Nebendingen aufgehalten wird; erst recht aber nicht zu viel, damit sie durch zu klare Andeutungen nicht die Span- nung vereitelt. Rasch und knapp zu exponieren ist eine Hauptkunst der Erzählung; dazu ist Einfachheit nötig (französische Beispiele, besonders aus Lafontaine a. a. O.).
Ph. O. Runge, der romantische Maler, beginnt die meisterhafte Er- zählung des Märchens vom Fischer und seiner Frau (Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen Nr. 19):
1) Becker, Der deutsche Stil S. 444, ' d'^crire S. 215 f. Wackernagel S. 240 f., Albalat, L'art ;
Dreizehntes Kapitel. Arten der Prosa. 167
Da war mal ein Fischer, und seine Frau, die wohnten zusammen in einer elenden Hatte, dicht an der See, und der Fischer ging alle Tage hin und angelte: und er angelte und angelte.
Sofort sehen wir den armen Kerl in seiner täglichen hoffnungslosen Arbeit, und das arme Hüttchen an der Riesensee, und die Frage taucht in uns auf: was wird die See seinem Fleiß bescheren?
Aber die Exposition muß auch die Stimmung vorbereiten. Wie hier die kleinen Sätzchen und der melancholische Ausklang ihr entsprechen, so ein andermal heftige Bewegung und lebhafter Anteil:
Jn einem bei Jena liegenden Dorf, erzählte mir, auf einer Reise nach Frankfurt, der Gastwirt, daß sich mehrere Stunden nach der Schlacht, um die Zeit, da das Dorf schon ganz von der Armee des Prinzen von Hohenlohe verlassen und von Franzosen, die es für besetzt gehalten, umringt gewesen wäre, ein einzelner preußischer Reiter darin gezeigt hatte: und versicherte mir, daß, wenn alle Soldaten, die an diesem Tage mit- gefochten, so tapfer gewesen wären, wie dieser, die Franzosen hätten geschlagen werden müssen, wären sie auch noch dreimal stärker gewesen, als sie in der Tat waren.' (H. v. Kleist, Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege; vgl. R. Steig, H. v. Kleists Berliner Kämpfe S. 356 f.)
Dieser verwickelte Riesensatz wirkt „einfach" und „klar", weil er vom ersten bis zum letzten Wort von einer Stimmung durchdrungen ist; weil die Unruhe, Verwirrung, Unsicherheit nach der Schlacht bei Jena jedesmal einer blitzartigen Klarheit Raum macht, sobald der Reiter auftaucht.
Die Verwicklung muß keinen Zweifel darüber lassen, wo die Auf- lösung zu suchen ist, damit die Spannung nicht irregeführt wird; dagegen darf sie nicht die Richtung der Auflösung verraten, weil dann sofort die Spannung aufhört. In Kleists Anekdote ist die Spannung, die sich zu physischer Beängstigung steigert, in die Frage zusammenzufassen: wird der Reiter entkommen? Bei dem Märchen: was wird noch alles aus dem Fischerpaar werden?
Die Spannung kann durch Abschweifungen (vgl. Albalat S. 221) erhöht werden, wie wir ein ungeduldiges Kind am Weihnachtsabend hin- halten. Aber eine zu lange Verzögerung der Auflösung ermüdet, zumal wenn diese nichts sehr Ungewöhnliches bietet.
Die Auflösung muß natürlich „loyal" sein, außer wo eine Irreführung des Hörers (wie in humoristischen Rätseln u. dgl.) beabsichfigt ist: sie muß der Exposition und Spannung entsprechen. Sie darf keinen weitern Zweifel über die Entwicklung Raum lassen, sondern muß durchaus abschheßend sein wie in jenem Märchen:
.Geh nur hin — sie sitzt schon wieder in ihrer Bude." Da sitzen sie noch bis heutigen Tag.
Und der Abschluß muß in sich einheitlich sein: er darf keine neue Spannung erregen, soll aber die erregte Stimmung ausklingen lassen. So Kleists Schlußworte, mit denen der Wirt dem glücklich entkommenden Reiter nachzublicken scheint:
So einen Kerl, sprach der Wirt, habe ich Zeit meines Lebens nicht gesehn.
1 68 Stilistik.
§ 177. Novelle. Diese allgemeinen Regeln für den erzählenden Stil modifizieren sich nun einigermaßen bei den einzelnen Gattungen.
Die einfachste, reinste Form der isolierten Erzählung bezeichnen wir als Novelle (W.^ckerxaqel S. 256). Es ist eine uralte Gattung, die unter redenden Menschen nirgends fehlt und bereits auf die älteste Formung der Mythen eingewirkt hat (Scherer, Poetikj. Von der viel jüngeren Gattung des Romans ist sie nicht durch die Ausdehnung, sondern durch die Art getrennt: die Novelle erzählt ein Abenteuer, der Roman eine Entwicklung, womit freilich zumeist eine größere Länge gegeben ist. Historisch entsteht der Roman aus der biographischen Verbindung verschiedener Novellen, die zur Abenteuergeschichte einer Person (oder eines Paares) geformt werden.
Vom Standpunkt der Ästhetik und Poetik handeh über die Novelle z. B. ViscHER (Ästhetik 6, 1318 f.). Vom Standpunkt der Stilistik ist anzu- merken: die Novelle setzt ursprünglich ein sympathisches Interesse an den handelnden (oder leidenden) Personen voraus, das erst in neuester Zeit, und keineswegs auch nur da völlig, durch eine gewisse scheinwissenschaft- liche Objektivität abgelöst wird. Die großen Meister der Novelle — Boc- caccio und seine Nachfolger; bei den Deutschen, wo Goethe und Tieck die Novelle neu begründet haben, Eichendorff, Mörike, Storm, Heyse, G. Keller, C. F. Meyer, M. v. Ebner — haben sich den gemütlichen Anteil an ihren Figuren niemals rauben lassen.
Deshalb spielt in der Novelle die Charakterzeichnung eine größere Rolle als etwa in Schwank oder Märchen. Über ihre Mittel') hat wieder die Poetik zu handeln. Wir haben nur zu bemerken, daß die Novelle in ihrem Vortrag nicht schlicht genug sein kann, um ihre doppelte Aufgabe zu erfüllen: für die Charaktere und für die Handlung Interesse zu erregen. In dieser doppelten Aufgabe besteht Schwierigkeit und Reiz der Novelle: sie ist ihrem Ursprung nach das interessante Erlebnis einer sympathischen Persönlichkeit.
Aus dem gemütlichen Anteil erwächst der Novelle leicht eine lyrische Färbung (Eichendorff, Mörike, Storm), aus der Spannung auf die Ent- wicklung ein dramatischer Aufbau (Kleist, Halm, Heyse'. Beides ver- trägt sich also mit dem Stil der Novelle besser als die epische Breite des Ausmalens, auf die der Roman allerdings ein gutes Recht hat, und der z. B. G. Keller manchmal bedenklich nah kommt.
§ 178. Literarisches Porträt. Die Anekdote ist eigentlich so wenig wie die Sentenz oder Fabel eine selbständige Gattung, vielmehr zum Einflechten ins Gespräch bestimmt. Immerhin sind bei ihr Zweifel möglich, ob die isolierte Form oder die gelegentliche Verwendung (vgl. oben § 163' älter ist. Die Anekdote teilt mit der Novelle die Verteilung des Interesses auf Person und Handlung; doch ist die Aufgabe hier dadurch erieichtert, daß
') Jean Paul, Vorschule der Ästhetik Art S. 239 f. über die Ver\k'endung der Be- § 56 f., Viehoff, Poetik S. 535 f., Albal.\t. obachtungen.
Dreizehntes Kapitel. Arten der Prosa. 169
1. kein Gemütsanteil an der Person erfordert wird, sondern nur ein psycho- iogisches Interesse, 2. dies Interesse durch die Handlung selbst befriedigt wird. Die Anekdote illustriert einen Charakter durch einen kennzeichnenden Einzelzug; ihre Handlung ist also mit dem Wesen der Figur unlösbar ver- bunden. In der Novelle kann etwa ein fröhlicher Mensch das traurigste Schicksal erleiden; in der Anekdote kann aus seiner Natur nur ein fröh- licher Ausgang fließen.
Historisch ist ein wichtiger Entwicklungszug der, daß die alte Anek- dote typische Charaktere vorführt: den Dummkopf, den Geizhals, den betrogenen Ehemann, gerade wie die Psychologie des Theophrast nur solche „Eigenschaften" und „Charakterbilder" kennt; während die neuere individuelle Charaktere veranschaulicht, Ludwig XIV. vor dem Parlament, Friedrich den Großen angesichts seiner Karikatur („Niedriger /längen!"), Bis- marck bei dem österreichischen Gesandten, der ihm keine Zigarre anbietet.
In beiden Fällen aber bleibt das Wesentliche die unlösbare Verschmel- zung der Handlung (die sehr oft, ja meist, nur in einem Wort, besonders einer Antwort besteht) mit gerade diesem Charakter. Das ursprüngliche und unerschöpfliche Interesse der Menschen am Menschen hat vor allem praktische Ursachen: horno homini liipus. Es gilt, den Nebenmenschen auf seine Brauchbarkeit und Gefährlichkeit zu prüfen: ist er als Freund, Diener, Ratgeber zu brauchen? als Feind, Nebenbuhler gefährlich? Des- halb wird eine praktische Psychologie notwendig; und jede Anekdote liefert dazu einen Baustein, wie jedes Sprichwort zur Erkenntnis typischer Ver- hältnisse. An typischen Beispielen will man sich die Art des Schlaukopfs oder Dummkopfs vergegenwärtigen. Wertlos wäre also jeder Zug, der nicht wirklich auf einen typischen Charakter schließen ließe.
Ferner: der Charakterzug muß auch sonst gewisse aus der Sache folgende Eigenheiten mit dem Sprichwort teilen, wie dies knapp, gemein- verständlich, packend sein. Oft gehen wirklich beide Gattungen ineinander über wie in jenen Wendungen „wie das Volk spricht" (re'iche Sammlung von E. HoEFER, zuerst 1855): „Nur nicht ängstlich, sprach der Storch zum Regenwurm, und fraß ihn auf": die höhnische Kälte, in einem (hier er- fundenen) Charakterzug symbolisiert, erhält sprichwörtliche "Geltung.
Aus unserer historischen Erklärung folgt, daß gern Anekdoten ge- sammelt werden — wieder wie Sprichwörter. Hier aber kann der zu be- leuchtende Charakter Einheit geben. So entsteht früh die Charakteristik (Wackernagel S. 262) oder das literarische Porträt — wieder eine erst neuerdings recht gewürdigte Gattung, i) Es wächst aus der Vereinigung verschiedener auf den Geizhals, den Ehrgeizigen u. s. w. gestellter Anek- doten zusammen. Sogar völlig parallele Charakterzüge können wirkungs-
') Grundlegend: Ivo Bruns, Das lite- Literatur-Porträts in Deutschland, 1, Leipzig rarische Porträt der Griechen, Berlin 1896, 1904, fast wertlos, neuerdings: Fr. Kircheisen, Geschichte des
] 70 Stilistik.
voll summiert werden wie in Hebels unübertrefflichem „Kannitverstan", freilich einem Charakterbild mit erbaulicher Absicht. Seine klassische Aus- prägung erhält es zuerst im Altertum in den „Charakteren" des Theo- phrast (lehrreiche Ausgabe von der Leipziger Philologischen Gesellschaft, Leipzig). Es blüht dann wieder in der Zeit Ludwigs XIV. (mit dem Apho- rismus, vgl. oben § 172) und von neuem um 1800; nun aber mit ganz individueller Ausprägung. Solch ein Porträt hat z. B. Goethe 'an Auguste von Stolberg, Briefe, Weimar. Ausgabe IV 2, 233; vom 13. Februar 1775) von sich und Schiller in seinem berühmten großen Werbebrief (vom 23. August 1794; Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe Nr. 4) von Goethe entworfen.
Das literarische Porträt, eine Liebhaberei der Psychologen, ist natür- lich oft auch in größere Zusammenhänge eingearbeitet; so bekunden Rankes Geschichtswerke in derartigen „Charakteristiken" eine vielgefeierte Meister- schaft, die von den schärferen Umrissen in Mommsens Römischer Ge- schichte vielleicht noch übertroffen wird. Bei breiterer Ausführung wächst sich das „Charakterbild" zur Biographie aus, deren Gestaltung aber von den allgemeinen Regeln der historischen Darstellung mitbedingt ist.') Da- gegen verleugnet das literarische Porträt, ob nun selbständig oder ver- arbeitet, niemals die Grundzüge der Anekdote: engen Zusammenhang zwi- schen dem Wesen und den Lebensäußerungen herauszuarbeiten, die „Werke" aus dem Charakter abzuleiten und den Charakter an den Taten zu illu- strieren bleibt fortdauernd die Hauptaufgabe dieser Gattung. Wie die Me- daille hat sie auf scharfes Herausbilden der Umrisse alle Sorge zu ver- wenden: aus der scheinbar kleinlichen Anekdote erwächst der monumentale Stil der Charakteristik bei Tacitus und Gibbon.
§ 179. Schwank. Auch bei der heitern Erzählung ist die Verbindung von Charakter und Handlung enger als bei der Novelle, doch loser als bei der Anekdote. Auch der Schwank ^i arbeitet mit typischer Charakteristik; doch seine oft satirische Tendenz bevorzugt unbeliebte Typen wie die Novelle beliebte. Deshalb werden also verliebte Pfaffen, habgierige Richter, unwissende Ärzte gern Träger der Handlung.
Die Exposition ist hier weniger wichtig, weil zum Lachen jeder Durch- schnittsleser leicht vorzubereiten ist. Dagegen muß die Stimmung beson- ders sorgfältig geschont werden; humoristische Lichter werden schon unter- wegs aufgesetzt, komische Namen, derbe Anreden an das Publikum erhöhen die Lustigkeit. Oder es wird auch umgekehrt — wie gern bei Hebel — durch einen schalkhaft ernsten, ja feierlichen Ton die Vergnüglichkeit der Eingeweihten erhöht. So wächst sich der Schwank denn gern zum humo-
') Doch vgl. D. Jenisch, Theorie der in meinem .Grundriß der neueren deut-
Lebensbeschreibung, Berlin 1802; L.«Stein, sehen Literaturgeschichte'. Zur Methodenlchre der Biographie, .Bio- ») L. F. Weber, Märchen und Schwank,
graphische Blätter" 1, 22; andere Literatur Eine stilkritische Studie. Kiel 1904.
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ristischen Charakterbild, der Humoreske, aus. Unsere Nachbarn jenseits des Rheins sind in beiden Meister, allerdings gern unter Anwendung be- denklicher Mittel (die sogenannte „gauloiserie"). Bei uns ist dagegen die gute Technik der alten (in Versen abgefaßten) mittelalterlichen Schwanke durch den schweren Ernst seit Reformation und dreißigjährigem Krieg zer- drückt worden. Gute Schwanke finden sich fast nur noch bei echt volks- tümlichen Autoren wie J. P. Hebel und Rosegger; gute Humoresken in deutscher Sprache kann man an den Fingern abzählen (vortrefflich Det- molds „Randzeichnungen", glänzend G. Kellers „Gerechte Kammacher" und „Der Schmied seines Glückes"). Zu den Zügen, die der Schwank mit der — sehr nahestehenden — Anekdote teilt, kommt als neues die For- derung der Überraschung hinzu. Eine völlig unerwartete Wendung läuft dem Wesen der Novelle und der Anekdote eigentlich zuwider, während im Schwank der tolle Einfall von Hebels Zundelfrieder, der Schiidwache aus- einanderzusetzen, sie könnten sich nur verständigen, wenn der Soldat pol- nisch könne, nicht direkt aus der Schlauheit des verschlagenen Diebes ab- zuleiten ist: das Fundament, seine erfinderische Schlauheit, findet vielmehr einen völlig überraschenden Ausbau.
§ 180. Rätsel. Das Überraschende ist ein Hauptelement auch des Rätsels. Es wird ursprünglich nicht aufgegeben, sondern gibt sich selbst auf: jemand trifft eine seltsame Erscheinung, deren Paradoxie ihn ergötzt, wie das an Simsons Rätseln in der Bibel noch vortrefflich dargestellt ist. Erst allmählich erwächst aus dem gefundenen Rätsel das erfundene; und das Volksrätsel, viel interessanter und künstlerischer als die mühsamen Spiele gelehrter Rätseldichter (bis zu Schillers „Turandot" herauf), be- wahrt immer etwas von der Frische des Erlebten, Gefundenen. Gerade aus der Anschauung heraus bedient sich das Rätsel so gern der Metapher. „Es flog ein Vogel Federlos auf den Baum Blattlos, da kam der Mann Handlos und stieg herauf fußlos" beginnt ein uraltes, auch althochdeut- sches Rätsel. Daß der Schnee fliegen kann, der doch keine Flügel hat, ist das „Apergu", von dem das Rätsel ausgeht; und nun scheint der kahle Baum und die Sonne, die den Schnee schmilzt, kaum minder wunderbar. Für die Technik des Volksrätsels besitzen wir gute Untersuchungen.') Die Hauptsache ist, möglichst nah an die Lösung heranzustreifen, ohne sie doch selbst zu verraten: je lebensvoller das Gegenbild des versteckten Bildes ausgeführt ist, desto schöner ist das Rätel:
Ich rede ohne Zunge, und schreie ohne Lunge, Und nehme teil an Freud und Schmerz, Und habe doch kein Herz (Wossidlo Nr. 91).
Lebendig steht eine doch unmögliche Figur vor uns, und hören wir nun die Auflösung: „die Glocke", so erfreut uns der Reichtum der Züge. Das
') R. Petsch, Neue Beiträge zur Kennt- lin 1900; vortrefflich geordnete Sammlung nis des Volksrätsels, Berlin 1899, derselbe, von R. Wossidlo, Mecklenburgische Volks- Formeihafte Schlüsse im Volksmärchen, Ber- Überlieferungen.
1 72 Stilistik.
Rätsel gibt gleichsam ein „Porträt" eines zu erratenden Urbildes. Außer der Metaptier ist noch die Umschreibung (s. oben § 120) ihr nahe ver- wandt. Eine gesuchte „kenning" wirkt wie ein Rätsel und wird so be- nutzt: man könnte die Glocke nun „den zungenlosen Sprecher" nennen, wie der Schnee der ^Vogel Federlos" heißt. Und wie die altgermanische Poesie sich in poetischen Umkleidungen etwa von „Pferd" und „Krieger" nicht genug tun kann, so ist das Volksrätsel unerschöpflich in Verhüllungen etwa von Krebs (Wossidlo S. 86 f.) und Regenwurm (S. 97 f./.
Nichts entspricht dem echten Rätselstil weniger als mystisches Dunkel; wie einfach und konkret ist sogar das Rätsel der Sphinx!
Eine Ausdehnung des Rätsels führt zur Parabel. i) Auch hier wird ein verborgenes Urbild durch seine künstüch angeordneten Gegenbilder zuerst verdeckt, dann um so heller beleuchtet. Nur ist hier eine symbo- lische Handlung oder Lehre der Kern, wie beim Rätsel ein Gegenstand. Die Eigenart des Rätsels dauert aber hier fort; und sie geht noch weiter, bis in das symbolische Märchenspiel herein: auch in Grillparzers „Traum ein Leben" liegt ein guter Teil der Wirkung in der überraschenden An- näherung des Traumbildes an die durch den Traum verdeckte Wirklichkeit.
§ 181. Märchen. Symbolische Märchen aber sind eine junge Ent- wickelung, und wenn Vischer (Ästhetik 6, 1296) als das eigentliche Wesen des Märchens angibt, daß es „in der Weise der traumhaften Einbildungs- kraft dichtend dem Menschen das Gefühl der Lösung seiner Naturschranken bereitet", so urteilt er allzusehr vom modernen Standpunkt; denn die alten Völker kennen jene trennenden Naturschranken überhaupt nicht. Der Über- gang von Mensch in Tier, von leblosem Schwert zu warnendem Freund ist ihnen wunderbar, aber nur in dem Sinne, wie uns etwa die E.xperi- mente mit flüssiger Luft: wir verstehen sie nicht, bezweifeln aber nicht, daß alles gesetzmäßig verläuft.
Als die eigentliche Aufgabe des echten Märchens wird man vielmehr die Übung der Phantasie anzusehen haben. Das Märchen entsteht aus einer Anregung der Phantasie, die allerdings wohl durch die „traumhafte Einbildungskraft" gegeben wird — nicht durch den Traum selbst, dessen Inhalt ja von jedem naiven Menschen für wirklich gehalten wird. Dem erregten Gemüt vergrößert sich etwa ein im Abendlicht dahingleitender riesenhafter Schatten zu einem schwarzen Riesen, ein Berghaupt scheint zu sprechen; und, der Selbsttäuschung sich halbbewußt, dichtet er die Er- scheinung weiter, bis er an die Grenzen seiner Erfindung gelangt.
Das Märchen ist also eigentlich die einzige Gattung, bei der von vornherein die sogenannte „Erfindung" eine Rolle spielt,-) obwohl uns Modernen für alle Literatur die Erfindung ein selbstverständliches Problem geworden ist (dessen Erörterung aber wieder der Poetik zufällt). Damit
■ ') Vgl. § 161. Handlung bei Albalat, Art decrire S. 159 f.
") Regeln zu ihrer Anregung und Be-
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ist keineswegs gemeint, daß die Überlieferung hier eine geringere Rolle spiele; im Gegenteil ist der typisierende Charakter gerade des Märchens allgemein anerkannt.') Aber innerhalb der gegebenen, keineswegs über- mäßig zahlreichen Schemata gilt es, die Erfindungskraft anzustrengen, um die Phantasie der Hörer zu immer neuer Anstrengung zu reizen, in diesem Sinn geben die modernen „naturwissenschaftlichen Märchen" von Jules Verne, Kurd Laßwitz u.a. wahrscheinlich ein besseres Bild von der Art des echten alten Märchens als die neuere Märchendichtung, die besonders von Musäus und Andersen beeinflußt ist.
Fremd ist dem echten Märchenstil vor allem jene ironische Tendenz, die der Rationalist Musäus mit dem Romantiker Brentano teilt; denn sie würde die Phantasie ja lähmen, den Seiltänzer vom Strick fallen lassen. Aber auch die elegische Stimmung, die Andersen dem Märchen leiht und Vi sc her zum Symbol der Auflösung ins All macht, liegt dem scharfen, klaren Ton des echten Märchens bei den Germanen wie im Orient fern; es bietet einfach gesteigerte Wirklichkeit. Auch die optimistische Tendenz, die Vischer (S. 1299) im Märchen findet, ist nur da vorhanden, wo der Erzähler sie an sich besitzt; wenn ein ruppiger Schweinehirt die Königs- tochter ins Elend bringt, kann nur ästhetische Spekulation darin Erfüllung des Erwünschten sehen, selbst vom Standpunkt des Schweinehirten aus.-)
Aber gerade weil der Schein der Möglichkeit gewahrt werden soll, bedarf das Märchen einer strengen Technik: eines kunstvollen, gern in einer dreistufigen Klimax sich erhebenden Aufbaus.s) einer konsequenten Innehaltung der einmal gegebenen Voraussetzungen,*) einer restlosen Auf- lösung des einmal gestellten Problems. Keine Feengabe darf zwecklos erteilt, kein Vorzeichen überflüssig, keine Warnung umsonst gegeben sein. Das Märchen ist die Kunstgattung, in der die Logik am strengsten waltet, freilich nur eine aus unglaublichen Prämissen folgernde poetische Logik. Glauben wir einmal an Zauber — was kann folgerechter sein als das Märchen von Aschenbrödel?
Das Märchen nähert sich aber der Novelle wieder in dem Bedürfnis einer scharfen Silhouette. Beide teilen merkwürdige Erlebnisse aus einer bestimmt geregelten Welt mit, die Novelle aus der von der Erfahrung ge- gebenen, das Märchen aus ihrer phantasiemäßigen (nicht immer: phan- tastischen) Fortsetzung. Deshalb erhält die Einzelerzählung Bedeutung nur durch einen völlig individuellen Einzelzug: Aschenbrödels gläserner Pan- toffel, der erstarrte Moment im Dornröschen mit der gefrorenen Ohrfeige, die Blutstropfen in Schneewittchen.
') Vgl. z. B. Thimme, Lied und Märe, S. 49. Gütersloh 1896, S. 551, U.PROBST,.Über den =) Schön beleuchtet in MOllenhoffs
deutschen Märchenstil, Bamberg 1901, L F. Einleitung zu seinen Schleswig-Holsteinischen
Weber siehe oben. Sagen.
•) Vgl. W. Grim.m, Kleine Schriften 1, ■•) Vgl. Brandes in seinem Essay über
350 f., F. L. Weber, Märchen und Schwank Andersen: .Moderne Geister", S. 65 f.
1 74 Stiustik.
Für das deutsche Märchen besitzen wir durch die unschätzbare Samm- lung der Brüder Grimm einen Schatz, der dem orientalischen der „Tau- send und eine Nacht" gleichwertig gegenübersteht. Moderne Märchen haben oft ihren eigenen Reiz (eine Sammlung „Neue Märchen", herausgeg. von E. Weber, Göttingen o. J.); im Grund sind es aber selten Märchen im Sinn der Volksmärchen und für echte Märchenleser, Kinder und primitive Men- schen, ungenießbarer als Kurd Laßwitz' philosophische Märchen. Es sind phantastische Erzählungen, die die Wirklichkeit umzubilden, eine traum- hafte Verwischung der Eindrücke zu erzielen, eine „höhere Wahrheit" zu erreichen suchen; so etwa die effektvollen Märchen von Tieck, die reiz- vollen von Andersen, die humoristischen mancher Romantiker. Unsere Phantasie aber üben sie nicht, weil sie ja von vornherein die Analogie mit der Erfahrung aufheben. Heyses „Letzter Centaur" ist ein echtes Märchen; seine „Märchen" sind phantastische Novellen. i)
§ 182. Roman. Wir sahen bei allen Gattungen der „kleinen Erzäh- lung" die Tendenz auf Erweiterung. Der Aphorismus bildet ganze Ko- ralleninseln von Einzelaussprüchen oder dehnt sich auch zum Essay aus; die Anekdote erwächst zum Charakterbild, der Schwank verlängert sich zur Humoreske, das Rätsel wird Parabel, das Märchen Erfindung einer ganzen phantastischen Welt iz. B. in den politischen Utopien der Piaton, Thomas Morus, Campanella, vgl. die sammelnde Darstellung „Schlaraffia politica", Leipzig, Grunow). Die wichtigste Dehnform aber ist die der Novelle: sie bildet als Roman die berühmteste aller Gattungen der Kunstprosa.*)
Unsere Auffassung über die historische Entwicklung des Romans aus der Novelle (vgl. oben S. 168) läßt ohne weiteres die wichtigste Forderung an diese Gattung ableiten. Für die Novelle ist die Auflösung der Span- nung in einer scharf markierten Handlung erste, eine sympathische Zeich- nung der Charaktere i^mindestens ursprünglich) zweite Hauptbedingung; für den Roman tritt beides zurück hinter dem Bedürfnis einer interessanten Entwicklung, d. h. einer fesselnden Überleitung aus einem früheren zu einem späteren Zustand.
Diese Überführung bildet die eigentliche ratio des Romans. Nicht wesentlich ist, daß der Träger der Handlung ein besonderes Interesse er- regt. Im Gegenteil ist die Übertragung der s\'mpathischen Teilnahme auf den „Helden" des Romans diesem oft verhängnisvoll geworden: in einer ausgedehnten Erzählung mußte er sich so oft von der besten Seite zeigen, daß zuletzt der überirdisch vollkommene sprichwörtliche „Romanheld" \z. B. oft bei Spielhagen) entstand. Nicht einmal „bedeutend" braucht er zu
•) Vgl. R. Hagen, Romantische Schule S. 84. des Romans, 2. Aufl. bearbeitet von T. Kellen,
-) Vgl. Jean Paul, X'orschule der .^sthe- Essen 1904. — Die Literatur über das \'er-
tik § 69 f., MuNDT, Kunst der deutschen Prosa hältnis des Romans zum Epos — besonders
S. 353 f., Wackernagel S. 250, Vischer N'ischer — und zur Novelle müssen wir
S. 1303 f., recht brauchbar H. Keiber, Theorie wieder der Poetik zuweisen.
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sein: Wilhelm Meister ist das in keinem Sinne. Freilich litt darunter dieser Hauptroman; und ein gewisses Maß gemütlicher Teilnahme wird schließ- lich der Träger der Handlung von dem, der ihn längere Zeit durchs Leben begleiten soll, fordern dürfen.
Der abschließende Zustand braucht nicht, wie bei der Novelle, das Ergebnis einer an sich interessanten Fügung oder Wandlung zu sein (und der eröffnende oder die Zwischenzustände natürlich erst recht nicht). Ty- pische Zustände, typische Abenteuer erfüllen oft gerade die besten Romane, während eine Überfüllung mit interessanten Erlebnissen ganz rohe Produkte wie die Romane von Alexander Dumas und Eugene Sue fördern kann. Aber wie der Parteigänger Luthers zu weit ging, der die „guten Werke" an sich für schädlich erklärte, so werden wir auch sagen: die Abenteuer dürfen der Hauptsache nicht im Wege stehen; bleibt diese aber gewahrt, so sind interessante Erlebnisse lediglich typischen sicherlich vorzuziehen. Machen sie doch neben der Hauptsache den König der Romane, den „Don Quijote", machen sie doch die alten englischen Romane der Smollet und Fielding so reich und unveraltbar.')
Die Hauptsache also bleibt für den Roman durchaus die Entwick- lung selbst. Dem Romanstil entspricht also alles, was diese zur An- schauung bringt, widerspricht alles, was sie undeutlich macht. Künstlerisch am höchsten steht der Roman, bei dem nichts geschieht und nichts gesagt wird, was nicht mit der „Grundidee", mit der von ihm zu schildernden Entwicklung unmittelbar in Zusammenhang stände; vielleicht kann man das nur von drei oder vier Romanen der Weltliteratur behaupten, etwa dem „Don Quijote", „Manen Lescaut" vom Abbe Prevost, Goethes „Wahl- verwandtschaften'' und etwa noch Flauberts „Madame Bovary''.
Diese Hauptforderung schließt aber eine gewisse Breite so wenig aus, daß sie sie sogar fordert. Denken wir uns die schmälste Entwicklungs- linie, das normale Heranreifen etwa einer Durchschnittsnatur, so kann selbst dies nicht ohne eine breitere Verzweigung und Verästelung anschaulich ge- macht werden. Denn der einzelne ist von seiner Umgebung unter allen Umständen abhängig, wenn auch der Spielraum des Begriffs „Umgebung" ein weiter ist. Für Anzengrubers bäurische Helena im „Sternsteinhof" kommt wirklich nichts in Betracht, was ein paar Meilen von ihrem Heimats- dorf abliegt; Grimmeishausens „Simplicissimus" aber hat ein großes Stück Weltgeschichte zum unentbehdichen Hintergrund. Die gewaltsame Verengung des Romans auf individuelle „Seelenzustände", die die Fran- zosen aufgebracht haben, ist eine Nebenwirkung der Tendenz auf psycho- logische Mikroskopie und darf keineswegs als ein absoluter Fortschritt gelten. Ebensowenig ist aber die früher, ebenfalls unter französischem Einfluß, erhobene Forderung allgemein gültig, daß jeder Roman die ganze
») Vgl. HiLLEBRAND, ,Vom alten und sehen', 7, 168 f. neuen Roman" in „Zeiten, Völker und Men-
1 76 Stilistik.
Zeit darzustellen habe. Wilhelm Meisters Entwicklung hat nun einmal mit den „untern Klassen" nichts zu schaffen; warum sollten die also vorgeführt werden? Nur erweckte Goethe selbst unberechtigte Erwartungen, indem er den Roman mit den Ansprüchen eines „Zeitromans" ausstattete. Was Goethe selbst im Sinn seiner Romantechnik unter dem allerdings höchst bedeutsamen Schlagwort ^Totalität" oder „Totalität der Zustände" ver- stand, war natürlich nicht eine absolute Vollständigkeit (wie sie etwa Gutz- kow im einzelnen Roman, Balzac wenigstens in der ganzen Romanreihe zu geben suchte), sondern eine relative: die Gesamtheit der Zustände, von denen die Entwicklung des Romanhelden bedingt ist. Der Begriff der Totalität ist hier eben schlechterdings nur von der Entwicklung selbst aus zu be- messen. Man darf nicht einmal behaupten, ein Roman sei um so bedeu- tender, je breiteren Raum diese Entwicklung innerhalb ihrer Welt be- ansprucht. „Werther" bleibt in einer engen Sphäre, die aber die Entwick- lung von sentimentaler Weichheit bis zur Unfähigkeit, fortzuexistieren, er- schöpfend darstellen läßt; wogegen in den breiteren, an sich sehr inter- essanten Zustandsschilderungen etwa der Zeitromane Immermanns, Gutz- kows, Spielhagens, Heyses die zwingende Verbindung dieser Zustände mit der eigentlichen Entwicklung nur zu oft fehlt.
Diese „Entwicklung'' selbst ist nun historischer Evolution unter- worfen. Der Roman kristallisiert ursprünglich aus Einzelerzählungen zu- sammen (vgl. E. RoHDE, Der griechische Roman und seine Vorläufer, Leipzig 1876); zunächst ist daher sein Rückgrat einfach die Geschichte einer Figur oder eines Paars, denen die Abenteuer aufgeladen werden. Allmählich erwächst der Begriff der inneren Einheit und die echte Roman- form ist erreicht, sobald eben jene innere Verbindung von Charakter und Erlebnis erreicht ist, auf die die Novelle verzichten kann, nicht aber das Charakterbild. Vorzugsweise wird seitdem die Entwicklung als eine psycho- logische verstanden und die größten Romane der Weltliteratur benutzen die „Eriebnisse" nur, um ein abgegrenztes Stück seelischen Lebens an- schaulich zu machen. Doch ist auch eine Entwicklung im äußeriichen Sinne nicht gegen den Begriff des Romans und die spanischen, französi- schen, englischen Abenteuenomane, die einen in die Mitte bewegter Ver- hältnisse gestellten „Helden" zu einem bestimmten Abschluß seiner sozialen Laufbahn gelangen lassen, vermögen durch die lebendige Vorführung der „Psychologie der Verhältnisse" für die oberflächlichere Behandlung der individuellen Psychologie wohl zu entschädigen.
Wir haben also seit dem Heranreifen einer — im wesentlichen inter- nationalen — Romanform folgende Hauptformen:
1. Darstellung einer individuellen Entwicklung
a) mit möglichster Isolierung: sogenannter Roman der Mats d'äme", psychologischer Roman im engsten Sinn;
b) mit breiterer Schilderung der „Totalität": Individuairoman;
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2. Darstellung einer allgemeineren Entwicklung (am Bilde einer in- dividuellen Entwicklung):
a) mit Beschränkung auf die typischen Züge: Sozialroman;
b) mit breiterer Schilderung der „Totalität": historischer Roman mit dem Sonderfall des „Zeitromans", der eben ein historischer Roman aus der Gegenwart ist.
Auf die Differenzierung des allgemeinen Romanstils durch diese Gat- tungsformen brauchen wir hier nicht näher einzugehen; nur ein Punkt be- trifft unmittelbar die Lehre vom Romanstil: die Frage der sogenannten Episoden.
Historisch genommen sind die Episoden nichts weiter als unverarbei- tete, ursprünglich selbständige Abenteuer innerhalb der zum Roman ein- heitlich verarbeiteten Abenteuerreihe. Technisch stellen sie sich dar als Erzählungen, die mit dem Hauptthema in nur zufälliger Verbindung stehen. Praktisch machen sie bei allem Zorn theoretischer Puristen einen Hauptreiz in Meisterwerken wie G. Kellers „Grünem Heinrich", den fast einzigen Reiz in einem so bedeutenden Werk wie „Wilhelm Meisters Wanderjahre" aus.
Es ist zuzugeben, daß die Episoden oft nur liebenswürdige Kunst- fehler sind, wie die angenehm störenden Zwischenreden einer heitern Frau bei einer ernsten Auseinandersetzung. Sehr oft sind sie aber in dem Wesen des Romanstils, dem sie zuwiderzulaufen scheinen, sachlich begründet. Denn damit die Entwicklung dem Leser anschaulich werde, muß er frisch und aufmerksam erhahen werden. Nun ist aber das bei den kleineren Arten der Erzählung unentbehriiche Mittel der Spannung bei der großen Erzählung nur mit Vorsicht anzuwenden. Denn da hier nicht die Ergeb- nisse, sondern der Weg zu ihnen die Hauptsache ist, läßt die auf bestimmte Veränderungen und Überraschungen gerichtete Spannung leicht die zarten, feinen Momente überhören und übersehen, die das eigentliche Element des Romans sind. Eine Überladung mit spannenden Effekten — wie etwa bei Dumas und Sue — löst also die Entwicklung in eine Gruppierung interessanter Momente auf; sie ist ein Atavismus, ein Rückschlag in die Novellensammlung. Womit natüriich wieder nicht gesagt ist, daß eine geschickte Vorbereitung wichtiger Entwicklungsmomente nicht immer höchst wichtig und eine überraschende Veränderung nicht zuweilen sehr wohl angebracht wäre.
Statt der Spannung muß also eine andere Hilfe gewählt werden. Hier treten die Episoden ein, indem sie dem Auge des Beschauers eine wohl- tätige Abwechslung gewähren; soll er immer auf denselben Streifen starren (wie oft in den allzu geradlinigen Tendenzromanen, z. B. „Aus guter Familie" von Gabriele Reuter), so flimmert es ihm schließlich vor den Augen. So dienen also wohlberechnete Abschweifungen der Anschauung; aber nur, wenn sie diese wach erhalten, ohne sie selbst anzustrengen. — Falls aber Nebenabenteuer eingefügt werden, um an analogen Schicksalen
Handbuch des deutschen Unterrichts. Bd. III, Teil I. 12
178 Stilistik.
die Hauptentwicklung selbst zu erläutern (wie etwa im „Werther" die Schick- sale des aus Liebe wahnsinnig gewordenen Burschen), so sollte man diese Hilfsmittel der Haupthandlung überhaupt nicht als Episoden bezeichnen.
Es steht bei dem Dichter, ob er die Entwicklung zu einem vorbestimmten Ziel zu führen sich berechtigt glaubt (Tendenzroman), ob er es versucht, die Figuren gemäß den einmal gegebenen Voraussetzungen sich ausleben zu lassen (Experimentairoman) oder ob er, wie es meist der Fall ist, zwischen der Subjektivität etwa des religiösen oder politischen Bekehrungsromans und der Objektivität eines halbwissenschaftlichen Beobachtungsromans die Mitte halten will. Das Günstigste ist wohl hier, den Mittelweg zu wählen. Die Forderung absoluter Objektivität, wie sie von verschiedenen Ausgangs- punkten her Spielhagen und Zola erhoben haben, wird jedenfalls durch das Beispiel der größten Meister nicht bestätigt. Berechtigt war es, die Oberflächlichkeit abzuwehren, die bequeme Epitheta oder direkte Charakte- ristiken an Stelle anschaulicher Schilderung setzte: wir wollen nicht hören, daß der Held edel sei, sondern es sehen. Wenn aber sein Tun den Er- zähler in eine Stimmung bringt, in der ihm ein Wort des Urteils unwill- kürlich entschlüpft, so kann dies der Anschaulichkeit nur dienen. Ebenso- wenig widerspricht es dem Romanstil, wenn Situationen durch allgemeine Betrachtungen herausgehoben, durch den Hinweis auf allgemeiner zugäng- liche Erfahrungen verdeutlicht werden, wie es Goethe liebt.
Eine besondere Eigenheit des Romanstils bilden die häufigen Ge- spräche. Scheinbar geben sie ihm Ähnlichkeit mit dem Drama, und sind auch oft als quasi dramatische Einlagen aufgefaßt worden. Wenn aber der Dialog im Drama das eigentliche Mittel ist, den Fortschritt der Hand- lung zu fördern, ist das Gespräch im Roman viel mehr den Zwecken der psychologischen Zustandsschilderung dienstbar. Soweit es dies leistet, ist es durchaus berechtigt und vielfach unentbehrlich. Es darf auch allgemeinen Inhalts sein, wo die Grundlinie dies motiviert: im Künstlerroman sind Ge- spräche über die Kunst wohl angebracht, weil sie nicht nur dem typischen Verlauf eines Künstlerlebens eigentümlich sind, sondern auch den spezi- fischen Stand des Helden zu seiner Umgebung beleuchten; so oft (nicht immer) im „Grünen Heinrich". Im „Wilhelm Meister" sind die Diskus- sionen über das Theater, in Ricarda Huchs Romanen ist der Austausch der Weltanschauungen, in Th. Manns „Buddenbrooks" das Gespräch über Gesellschaftsfragen am Ort. Wenn dagegen die Figuren gemißbraucht werden, um über Dinge zu reden, die ihnen so gleichgültig sein müssen, wie sie dem Verfasser interessant sein mögen, wenn plötzlich „Arien" über Frauenrecht, Zensur oder Rassenfragen eingelegt werden (wie mit der ärgsten Kunstlosigkeit in W. Jordans beiden Romanen), so ist das sicher ein ebenso großer Kunstfehler, wie wenn der Autor in eigener Person durch solche Indiskretionen unsere Aufmerksamkeit von der Entwicklung ablenkt.
Dreizehntes Kapitel. Arten der Prosa. 179
Doch muß man nicht vergessen, daß der Roman sich nun einmal tatsächlich zu der Hauptgattung moderner Literatur ausgebildet hat, und daß ihm deshalb gewisse Kompetenzüberschreitungen zugut gehalten werden müssen. Schließlich sind geistreiche Gedanken, originelle Anschauungen, interessante Abenteuer an sich wertvoll genug, um sie als Geschenk zu dulden, wo wir sie als Leistung nicht beanspruchen dürften. Und eine stark und klar angelegte Entwicklung verträgt eine erstaunliche Menge von Ballast und Nebenwerk: Zeugen der „Don Quijote", der „Grüne Heinrich" und alle englischen Romane der SmoUet, Fielding, Dickens, George Eliot. Denn von den Engländern hält einzig Thackeray die strenge Entwicklung fest, die dagegen kaum je bei den Franzosen fehlt.
§ 183. Wissenschaftliche Darstellung. Zola und eigentlich schon Goethe in den „Wahlverwandtschaften" haben dem Roman eine wissenschaftliche Form und Färbung geben wollen — für die Nachbarschaft dieser Gattung mit der wissenschaftlichen Darstellung jedenfalls ein wichtiges Zeugnis.
Die wissenschaftliche Darstellung hat ihre historische Wurzel in dem Interesse an merkwürdigen (wirklichen oder vermeintlichen) Tatsachen des allgemeinen Lebens. Sie ist also dem Ursprung nach universell, tatsächlich aber nur bei den Kulturvölkern zur Kunst entwickelt; und selbst hier haben es z. B. die Inder nie zu einer eigentlichen Geschichtsschreibung gebracht.
Die wissenschaftliche Darstellung ist also von vornherein von andern Formen der Erzählung dadurch unterschieden, daß sie nicht (wie Märchen, Anekdote, Schwank, Novelle, Roman) eine Handlung reproduzieren will, sondern einen Gegenstand. Dies giU zunächst auch von der histo- rischen Darstellung: alle alte Geschichtsschreibung in Vers und Prosa ist beschreibend. Sie faßt eine Schlacht als ein großes Ungeheuer auf, das sich freilich bewegt, aber doch immer eine organische Einheit bleibt; und sie sucht diesen Drachen wiederzugeben, wie die Zoologie einen Walfisch reprodu- ziert. Mit andern Worten: die Keime der wissenschaftlichen Darstellung sind durchaus beschreibender Art, und mit seiner berühmten Formel, die Physik habe mechanische Vorgänge auf die einfachste Weise zu be- schreiben, ist Kirch hoff zu der urältesten Art wissenschaftlicher Darstellung zurückgekehrt.
Die Beschreibung (Wackernaqel S. 259 f., Albalat, Art d'ecrire S. 225 f.) setzt eine deutliche Anschauung voraus, die denn auch dem „Lehrstil" (Becker S. 472 f.) dauernd eigen bleibt. Sie setzt ferner die Kunst voraus, den Kern des zu beschreibenden Dinges zu erfassen und überhaupt die wesentlichen Eigenschaften von den zufälligen abzuheben. Alle Kunst der Beschreibung ist an konkreten Dingen gelernt worden und kann nur dort gelernt werden. Das große Geheimnis lebendiger Beschrei- bung aber hat Lessing im „Laokooti" enthüllt: Nachschaffen heißt es. Und zwar hat dies zwei Methoden. Entweder — was Lessing fast allein im Auge hatte — man schafft das Ding selbst nach, läßt es vor unsern
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Augen entstehen, wie in der Ilias den Schild des Achilleus; oder aber, was unserer modernen psychologischen Art mehr entspricht, man schafft das Bild des Dings nach, läßt es nach und nach, wie unsere Augen sich einstellen, immer deulicher werden. ^)
Solang es sich indes um Beschreibung eines einzelnen Gegenstandes handelt, kann von wissenschaftlicher Darstellung noch nicht eigentlich die Rede sein. Diese beginnt erst, wenn das einzelne Objekt in einem größeren Zusammenhang angeschaut wird. Sobald aber dies geschieht, spaltet sich die wissenschaftliche Darstellung nach den uns angeborenen Anschauungs- formen in zwei Gattungen. Wird das einzelne Objekt in einem räumlichen Zusammenhang erfaßt, so entsteht die Naturbeschreibung (und weiterhin, an sie angelehnt, andere Formen der Nebeneinanderschilderung, z. B. die literarhistorische Beschreibung in Uhlands „Minnesang"); wird es in einen zeitlichen Zusammenhang gestellt, so bildet sich die Geschichtserzählung (und weiterhin, an sie angelehnt, andere Formen der Nacheinanderschilde- rung, z.B. die im eigentlichen Sinne naturhistorische Darstellung in Haeckels „Natürlicher Schöpfungsgeschichte").
Der wissenschaftliche Stil ist im übrigen von den gleichzeitigen Formen der Kunstprosa, besonders der Literatur stark abhängig (vgl. für die neuere gelehrte Prosa in Deutschland Mundt S. 373 f.). Aber es bleibt doch der Grundzug der Beschreibung, d. h. der verweilenden Darstellung der Objekte in ihren Beziehungen. Dadurch ist er vom Romanstil geschieden: wie dort alles auf die Entwicklung geht, so hier alles auf die Gegenstände selbst, denn auch die historisch entwickelnde Darstellung hat doch die Re- produktion der Tatsachen selbst zum eigentlichen Zweck; wie oft auch durch die Einwirkung des Romans zumal auf die Geschichtsschreibung dieser Gesichtspunkt vermischt sein mag. Die sogenannten „Gesetzes- wissenschaften" haben eben ein „Gesetz", die historischen Wissenschaften eine zeitliche Tatsachenreihe zu behandeln — das sind andere Objekte als ein Stein oder ein Metall, aber immer Objekte.
Darin liegt denn ohne weiteres, daß die wissenschaftliche Darstellung sich durchaus objektiv zu halten hat. Jedes Hervordrängen der Subjekti- vität, jede voreilige Konstruktion, jedes Prunken mit Stilmitteln schädigt die Reproduktion der Dinge. Zuzugeben ist aber, daß dies für den unmittel- bar konkreten Einzeldingen geltenden naturwissenschaftlichen Stil noch stärker gilt als für den historischen. Eine berechtigte Geltung der Person ist damit aber auch für jenen nicht ausgeschlossen: da jeder die Dinge anders sieht, wird er sie anders beschreiben, und wer sie etwa nicht bloß als Forscher, sondern gleichzeitig als Künstler betrachtet, hat das gute Recht, sie auch ästhetisch zu würdigen. Das Höchste hat hierin Goethe in
') Praktische Hilfsmittel bei Albalat, | lagen Dessoir, Anschauung und Beschrei- Art d'^crire S. 225 f.; vgl. Viehoff, oben bung, Archiv für systematische Philosophie § 174, 4 f.; über die psychologischen Grund- (1904) 10, 20 f.
Dreizehntes Kapitel. Arten der Prosa. 181
seinen mineralogischen und botanischen Schilderungen geleistet. Über die Kunst der Naturschilderung überhaupt besitzen wir jetzt das schöne Werlc eines Meisters: Ratzel, Über Naturschilderung, München 1904.
Der historische Stil (Becker S. 457 f.) hat es mit lebenden Menschen zu tun und kann sich deshalb der Beeinflussung durch den Roman jetzt, durch das Epos früher selten völlig entziehen; wirkt dieser doch bis in die Auffassung der Autobiographien hinein (H. Glagau, Die moderne Selbstbio- graphie als historische Quelle, Marburg 1903). Deshalb hat der ältere Dumas von Macaulay witzig gesagt, er erhebe die Geschichte zum Rang des Romans. Der historische Stil erträgt ein gutes Maß von Subjektivität, über Ranke zu Mommsen, ja zu Treitschke hin; selbst von einer weitgehen- den Parteinahme hat der wissenschaftliche Gehalt mehr zu befürchten als der literarische Wert. Was er dagegen durchaus nicht verträgt, das ist die Entfernung vom Gegenstand, das Operieren mit Abstraktionen, das Ver- zetteln der Individualitäten, das Auflösen in Moralpredigten. ')
Übrigens folgt aus der Nähe zum Objekt, daß jede wissenschaftliche Darstellung, je mehr sie ihrer Aufgabe entspricht, desto mehr von ihrem Gegenstand Duft und Farbe annimmt, hi diesem Sinn mag man denn auch (z. B. mit Bernhardi 2, 289, Hunt S. 31) von einem besondern philo- sophischen Stil sprechen, ebensowohl aber auch von dem botanischen Humboldts, dem zoologischen Brehms, von Helmholtz' physikalischer und Liebigs chemischer Prosa reden. Viel wichtiger ist es jedoch, die große stilistische Verschiedenheit der Darstellung von der Untersuchung (siehe unten) festzuhalten.
Äußerlich stellt sich die wissenschaftliche Darstellung in drei Stufen dar: als Abhandlung (Wackernagel S. 267), Monographie und Lehr- buch (ebenda S. 268). Die Abhandlung behandelt eine einzelne Seite eines Gegenstandes, die Monographie sucht einen Gegenstand erschöpfend zu behandeln, das Lehrbuch die Totalität zu geben. Natürlich sind, zumal zwischen Abhandlung und Monographie, die Grenzen fließend. Übrigens gilt diese Dreiteilung für die wissenschaftliche Untersuchung genau so wie für die wissenschaftliche Darstellung.
Die stilistischen Regeln ergeben sich für diese drei Stufen aus ihrer Grundanlage. Die Abhandlung, die nur ein Problem behandelt, besitzt in diesem das Objekt, auf das jeder Satz sich unmittelbar oder mittelbar be- ziehen muß. Für das Lehrbuch ist ein größerer Zusammenhang, ein Ge- samtgebiet dieser Gegenstand und somit muß jede in ihm enthaltene Dar- stellung eines einzelnen Objekts der Gesamtdarstellung dienen. Hauptsächlich wird alles durch eine systematisch gut berechnete Disposition (vgl. § 165) geleistet, die jedem Einzelfall seine Stellung im Ganzen anweist; natürlich helfen aber auch direkte Hinweise diesem Zweck. Namentlich hat auch
•) Vgl. über die historische Darstellung | thode, und seine kleinere Einleitung in die Bernheim, Lehrbuch der historischen Me- Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1905.
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hier das Herausarbeiten der typischen Fälle große Bedeutung; sie spielen im Lehrbuch dieselbe Rolle wie die Tonstellen im Satz. — Als äußere Unterstützung der Anschaulichkeit ist bei einer Gesamtdarstellung eine über- sichtliche Inhaltsangabe unentbehrlich; damit man umgekehrt von der Gesamtdarstellung jederzeit zu jedem wichtigen Einzelfalle zurückkehren kann, muß zweitens ein ausreichendes alphabetisches Register als un- entbehrlich angesehen werden. Diese beiden Reflexe der Gründlichkeit (Register) und Übersichtlichkeit (Inhaltsangabe) eines wissenschaftlichen Werkes sind ebenfalls bei Darstellung und Untersuchung gleich selbst- verständlich.
§ 184. Bericht. Nur scheinbar sind die letztgenannten Hilfen ledig- lich für den Benutzer da: ihm dienen sie freilich in erster Linie, erwachsen sind sie aber dem Ordnungsbedürfnis und der Selbstkritik des Forschers. Selbst hier also bleibt noch immer der monologische Charakter im Über- gewicht über den der Mitteilung. Wir kommen nun zu den Gattungen, bei denen umgekehrt der Anredecharakter, das Mitteilungsbedürfnis leb- hafter als die monologische Reflexbewegung bestimmend wirkt.
Die einfachste Form ist der einfache Bericht. Die Meldung, die etwa der Späher dem Heerführer abstattet, der heimgekehrte Gesandte seinem König, oder die Nachricht, die der Opferpriester der Gemeinde über das Ergebnis von Losung oder Vogelflug, der Richter dem „Umstand" von der Beratung der Geschworenen abstattet — all das sind einfache Mit- teilungen bestimmter, in der Regel ziemlich einfacher Tatsachen. Aber in all den angegebenen Fällen liegen Keime zu einer kunstmäßigen Gestal- tung des Berichts vor. Denn 1. handelt es sich um t)-pische Vorgänge, für die sich schon deshalb leicht eine tj-pische Form herausbildet; 2. um Vorgänge von Wichtigkeit, bei denen deshalb auch die meldenden Worte und Wendungen beachtet werden; 3. um Nachrichten, die vorzugsweise von bestimmten, geschulten oder doch vorbereiteten Persönlichkeiten und vor ebensolchen abgestattet werden, so daß etwa eine Ungenauigkeit des Ausdrucks nicht durchgeht; 4. was die Hauptsache ist, um Meldungen bei erregter Stimmung vor der Schlacht, in feierlicher Vorführung, im geord- neten „Thing", was auch dem Bericht einen feierlichen Ton gibt.
Es bilden sich deshalb früh feste Formeln für solche und ähnliche Fälle (feierliche Begrüßung von Fremden, Verabschiedung von Gästen u. dgl.) heraus, die ich als „zeremonielle Satzformeln" bezeichnet und für unsere älteste Dichtung') gesammelt habe; sie werden in den „technischen Satzformeln" der Dichter-) nachgebildet. Indessen formulieren diese Regeln doch erst das Äußerliche; der Inhalt selbst der Meldung bleibt von den feierlichen Formeln, mit denen sie etwa beginnt und schließt, zunächst noch unabhängig.
•) Vgl. meine Altgermanische Poesie *) Formeln für Einleitung, Übergang,
S 381 f. . Schluß: ebenda S. 555 f.
Dreizehntes Kapitel. Arten der Prosa. 183
Aber auch nur zunächst: bald wird auch er sich der festgefügten Umrahmung anpassen. Es versteht sich von selbst, daß die Meldung nicht immer von dem erstattet werden kann, der selbst die Wahrnehmung machte: die Vorposten schicken einen Boten ab, der Gesandte einen Vertrauens- mann; oder der König sendet an seinen Nachbarfürsten einen Botschafter mit einer bestimmten Nachricht, z. B. einer Kriegsdrohung. Diese Meldung muß dann genau so, wie sie aufgetragen wurde, abgestattet werden. Ledig- lich eine Anerkennung dieser Tatsache ist die sogenannte epische Wiederholung (Wackernagel S. 63), d. h. die wörtliche Wiederkehr be- stimmter Nachrichten an mehreren Stellen des Gedichts, die nur in der altgermanischen Dichtung') aus Lust an der Variation zuweilen verletzt, im volkstümlichen Märchen dagegen bis zur Pedanterie-) getrieben wird.
§ 185. Inschrift. Der Stil der Meldung kann zweierlei Ton haben: entweder „militärisch", knapp, auf das Wesentlichste beschränkt; oder aber „höfisch", zeremoniell, mit breiten Prunkfalten das Wesentliche fast über- deckend. Beide sind uralt, wie ihre Gelegenheiten; beide haben ihre feste Tradition. Beide entwickeln sich fort und werden jede in ihrem eigenen Stil noch weiter ausgebildet, sobald sie aus der mündlichen Tradition in die schriftliche gelangen. Die höchste Stufe dieser Stilisierung — die durch den meldenden Brief hindurchgeht — ist die Inschrift.
Die Inschrift ist eine uralte und großartige Gattung der Kunstprosa; trotzdem haben die Lehrbücher der Stilistik für sie kaum je Raum ge- funden. Die ältesten Sprachdenkmäler fast aller Völker sind epigraphisch: so auch unsere frühesten Runendenkmäler. Ein fester Stil verleugnet sich nirgends.
A. Die knappe Inschrift ist — schon wegen der anfänglichen Schwie- rigkeit des Eingrabens — so viel häufiger, daß wir den Ausdruck „lapidare Kürze'' geradezu für lakonische Zusammenfassung brauchen, obwohl es (z. B. bei den Assyrern und Ägyptern) Steininschriften von breitester Ge- schwätzigkeit gibt.
Ihr Platz ist vorzugsweise eine historisch ausgezeichnete Stelle: ein Grabmal (Grabinschriften sind die häufigste und wichtigste Form), ein Stein auf einem Schlachtfeld u. dgl. Ihre Form ist die der knapp und klar regu- lierten Aussage, die vor allem die Namen an eine auffallende Satzstelle zu bringen hat. Übergang in rhythmische Form oder Ausstattung mit Reim ist (der Feierlichkeit wegen) beliebt; Runenverse finden sich früh im Norden. So bildet sich allmählich die poetische Kunstform des Epigramms (Wacker- nagel S. 138: „Epigramm der Empfindung'' ; S. 159: „Epigramm der Lehre und des Spottes", Gerber 2, 2, 182 f. u. s. w.) heraus, besonders auch die Volksepigrammatik feierlich gehaltener, didaktischer oder lyrischer In- schriften (vgl. oben § 158: „Deutsche Inschriften an Haus und Gerät"):
') Vgl. a. a. O. S. 118.
2) Weber, Märchen und Schwank S. 12 Anm.
1 84 Stilistik.
Bauen war eine Lust, Aber was es gekost't. Hab ich vorher nicht gewußt (a. a. O. S. 45).
Für die edle alte Inschrift wird die schlagende Kürze des Latein (auf ein Invalidenhaus: „Laeso sed invicto militi") kaum je zu überbieten sein; obwohl auch die griechische Grabschrift von Thermopylae mit Recht be- rühmt ist. Ein großartiger Zug fehlt auch französischen Inschriften nicht, wie der an dem Historischen Museum von Versailles: „A toutes les gloires de la France". Die deutsche Inschrift hat sich selten über das Notwendigste erhoben, und dann meist den lateinischen Stil mit geringerem Glück nach- geahmt.
Eine Ausdehnung der einzelnen Meldung führt zu dem längeren Bericht, amtlicher oder geschäftlicher Art, der im wesentlichen die gleichen Eigenschaften beibehält, aber etwas von dem Zeremoniell der höfischen Meldung annimmt. Dieser sogenannte Geschäftsstil (Becker S. 444 f.) wahrt die Nüchternheit und Sachlichkeit der kurzen Meldung, muß natür- lich überdies die Pflicht der Klarheit und Übersichtlichkeit auch in der An- ordnung der Einzelnachrichten erfüllen. Nimmt das zeremonielle Element einen breiten Raum ein, so spricht man vom Kanzleistil (a. a. O. S. 448 f.), der aber (wie übrigens meist auch der Geschäftsstil) selten noch literarische Geltung zu beanspruchen hat.
Entfernt sich dagegen der Bericht unter dem Druck erregender Mo- mente oder bestimmter Absichten von jener ursprünglichen Sachlichkeit, so gleitet die Werbeschrift und Staatsschrift in das Gebiet der Beredsam- keit über. Die politische Prosa (Mundt S. 411 f.) legt auf die Aus- nutzung der Tatsachen größeres Gewicht als auf ihre Mitteilung und ist deshalb aus dieser Verbindung zu lösen.
B. Die breitere Inschrift, die höfische Prunk- und Ruhmesmeldung hat ihren Platz vorzugsweise auf eigens für sie hergerichteten oder ge- schaffenen Natur- oder Kunstdenkmälern, Felsen, Pyramiden, Säulen. Ihre Form ist die der pathetischen Verkündigung, bei der vor allem auch die Titel an eine auffallende Stelle gebracht werden müssen. — Übrigens hat diese im Orient und zum Teil auch bei den Romanen gepflegte Gattung für uns geringe Bedeutung, außer insofern sie die kurze Inschrift durch ihren Stil beeinflußt hat. Dies ist namentlich bei Grabschriften häufig der Fall.
§ 186. Brief. Als eine Zwischenstufe in der Entwicklung des Berichts hatten wir bereits den Brief zu erwähnen, indem er ursprünglich einfach ein Mittel der Meldung ist, eine bestimmte Form der Übermittlung von Nachrichten. Solang er dies bleibt, entwickelt er keinen eigenen Stil; vielmehr wird der Brief zu einer literarischen Gattung erst, wenn eine Reihe von Mitteilungen im Zusammenhang einem bestimmten Adressaten über- mittelt werden. Natüdich kann, nachdem sich einmal ein Briefstil gebildet
Dreizehntes Kapitel. Arten der Prosa. 185
hat, auch einmal ein Brief eine isolierte Meidung enthalten; aber sie setzt immer einen größeren Zusammenhang voraus, denn (was wohl zu beachten ist) der Brief als Kunstgattung ist nicht eine einzelne Nachricht, sondern er ist der integrierende Bestandteil eines Briefwechsels. Der einzelne „Brief" ist eine Abstraktion wie der einzelne „Vers": er setzt seinesgleichen voraus und ist nur mit ihnen verständlich. Der gesamte Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe ist erst das fertige Kunstwerk. Kommt es zwischen zwei Personen über einen einmaligen Austausch von Briefen oder gar über einen einzigen unbeantworteten Brief nicht hinaus, so ist dieses Briefpaar oder dieser Brief nichts Ganzes, sondern eben nur das Fragment eines Briefwechsels; wie eine einzelne Notiz über meine heutigen Eriebnisse noch kein Tagebuch ist. Natüriich kann und wird aber der ausgebildete Briefstil auch in solchem Torso schon erkennbar sein können.
Über den Briefstil ist vielfältig gehandelt worden.') Doch finde ich jenen Gesichtspunkt, der mir wesentlich scheint, nirgends verwertet, obwohl Wackernaqel, Mundt u. s. w. die Verwandtschaft des Briefes mit dem Dialog betonen. Übrigens kann gerade dieser Vergleich irreführen; denn beim Dialog ist ein einheitlicher Kern Voraussetzung, dem sich die Sprechenden in rascher Ablösung nähern, beim Brief dagegen besteht die Einheit lediglich in den gegenseitigen Beziehungen der Korrespondenten, die an hundert Einzelfällen sich selbst illustrieren.
Der echte freie Brief hat ähnliche Schwierigkeiten zu überwinden wie das Tagebuch (vgl. oben § 174): er ist eigentlich unliterarisch, fast antiliterarisch, und seine Unmittelbarkeit ist sein Hauptreiz; trotzdem soll er nun Kunstform erhalten! Er erhält diese aber viel leichter und in viel unbedenklicherer Weise als das Tagebuch. Die Bedingungen liegen wieder in der Persönlichkeit des Briefschreibers und decken sich zum Teil mit denen für das Tagebuch. Auch hier wird eine Natur vorausgesetzt, die mit einer starken oder doch nicht allzu schwachen Unmittelbarkeit des Empfindens eine durchgebildete, d. h. individuell gefärbte Ausdrucksweise vereint. Auch hier wird eine Fülle von Interesse für Einzelheiten des Lebens günstig wirken; doch kann sie durch die Lebhaftigkeit eines einzelnen Interesses — z. B. des religiösen in den Briefen vieler Theologen, des literarischen beim Briefwechsel G. Kellers mit Th. Storm — aufgewogen werden. Ähnliches gilt für die Stimmung: die schönsten Briefe verdanken wir stimmungsreichen Naturen (wie Goethe und seiner Mutter, Rahel, Bismarck); doch kann die Beweghchkeit des Witzes dafür eintreten (wie bei den meisten Romantikern oder in den glänzenden „Briefen eines Un- bekannten", Wien, 2 Bde., 1887: Alexanders von Villers, wohl unseres größten Virtuosen in der Briefschreibung).
') Beckers. 517 f., Wackernagel S. 269. S. 313 f., Broc, Le style epistolaire, Paris — Mundt S. 389 f. Über den französischen 1901. Weitere Literatur in meinem Grund- Briefstil insbesondere Albalat, Art d'ecrire riß der n. d. Literaturgeschichte S. 14.
1 86 Stilistik.
Natürlich wechseln die Anforderungen an den Brief. Es gab Zeiten, wo der breite Meinungsaustausch die Unmittelbarkeit so völlig ausschloß, daß man sich wohlvorbereitete Abhandlungen zuschickte; wie denn die Humanistenbriefe überwiegend rhetorische Prunkstücke sind, die nur scheinbar unter „Brief", eigentlich aber wieder unter „Rede" zu rubrizieren sind. Es gibt Epochen, in denen der individuelle Ausdruck sich noch nicht hervorwagt oder einem offiziellen Briefstil (wie in Gellerts Zeit) weichen muß. Schließlich gibt es, wie es scheint, jetzt wieder eine Epoche, in der der Brief auf die Stufe summarischer Benachrichtigung zurückgeht; Postkarte (und gar Ansichtspostkarte!) und Telegramm können treffliche Meldungen, Berichte, Epigramme, aber nur selten Proben des rechten Brief- stils liefern. 1) Und selbst wo solche gesammelt werden, führt die Auswahl leicht dazu, jenes Moment übersehen zu lassen, das eine vollständige Kor- respondenz wie die zwischen Lessing und seiner Frau, Schiller und Goethe, Storm und Keller, oder selbst schon die vollständige Reihe der an eine Adresse gerichteten Briefe, wie diejenigen Goethes an Frau von Stein, Bismarcks an seine Frau lebhaft empfinden läßt.
Der Brief leidet, wie das Tagebuch, unter berühmten Mustern, wozu beidemal nicht nur veröffentlichte wirkliche Tagebücher und Briefe, sondern in höherem Grade noch fingierte gehören. Der Roman in Briefform hat ja besonders durch den Engländer Richardson, den Franzosen (denn das ist er doch als Schriftsteller!) Rousseau und den Deutschen Goethe („Werther") größte Bedeutung eriangt. Aber auch im erzählenden Roman ist der Brief als Einlage ein sehr beliebtes Kunstmitte! von den steifen Berichtbriefen altmodischer Prosa-Epen bis zu den munteren Reisebriefen Th. Fontanes. Der Brief im Roman ist aber natüdich nur ein stilisiertes Abbild des wirklichen Briefes und kann diesen zumal im Reiz der Unmittel- barkeit kaum je erreichen. Die Geheimnisse des echten Briefstils sind also an den wirklich geschriebenen und ausgetauschten Briefen zu beobachten. Und erinnern wir uns, welch Unwesen mit „Briefstellern für Liebende" und ähnlichen Anleitungen, das natüriiche Gefühl aus dem Schreiben zu verbannen, noch heut getrieben wird, so werden wir uns der Bedenklich- keit aller stilistischen Vorschriften wieder einmal besonders lebhaft bewußt.
Ein echter und rechter Brief also entsteht, wo zwei Personen (seltener, und weniger glücklich, ein ganzer Kreis) das Bedürfnis eines fortgesetzten Austausches von Mitteilungen fühlen. Nachrichten konkreter Art sind dabei weniger wichtig als die Übermittelung von Stimmungen, Gefühlen und Ge- danken, durch die die Korrespondenten ihr gegenseitiges Verhältnis im Gleichgewicht zu halten und ihre Gefühlslage in Übereinstimmung zu be- wahren versuchen, wie in zwei verbundenen Glasröhren das Wasser ein
') Entwicklung: Q. Steinhausen, Ge- deutscher Männer und Frauen, Berlin o. J., schichte des deutschen Briefes 1, 1889, II, 1891. Klaiber und Lyon, Die.Meister des deutschen .Anthologien: H. Kletke, Ausgewählte Briefe Briefes, Bielefeld und Leipzig 1901.
Dreizehntes Kapitel. Arten der Prosa. 187
gleiches Niveau anstrebt. Was sich also auf diesen Hauptpunkt bezieht: auf das gemütliche und geistige Verhältnis, dem der Briefwechsel entsprungen ist, das und das allein ist hier wesentlich. Wie Staaten werden Brief- wechsel nur mit den Mitteln erhalten, mit denen sie begründet wurden.
Selbstverständlich kann diesem Zweck auch die polemische Ausein- andersetzung dienen, und Streit- und Neckbriefe bilden eine interessante Spezies. Jedoch wird der Brief an Unmittelbarkeit und individuellem Reiz um so mehr gewinnen, je intimer das Verhältnis der Schreibenden ist; und mit vollem Recht gelten deshalb Liebesbriefe (wie die von Abälard und Heloise, von Diderot und Frl. Voland, von Mirabeau, Goethe, Char- lotte Stieglitz) für die höchste Blüte der Brief kultur;!) danach Freundes- briefe (wie der Briefwechsel Goethes mit Fr. H. Jacobi und mit Zelter, Arnims mit Brentano, oder die Briefe von Fr. D. Strauß, von Mörike) und Familienbriefe (wie die der Frau Rat, die der Brüder Grimm, der Familie Mendelssohn, Moltkes). Erst danach kommen die Briefwechsel, die einen ganzen Kreis zusammengehöriger Personen voraussetzen oder umfassen, wie vor allem die der älteren Romantiker (mit der Briefkünstlerin Caroline als Mittelpunkt). Im übrigen bleibt für Nuancen nirgends so viel Raum wie hier, denn was kann mannigfaltiger sein als die VerhäUnisse zweier sich unentbehrHch gewordener Persönlichkeiten? Nur etwa einiges Negative kann über den Briefstil ausgesagt werden:
1. Weil die Beziehungen der beiden Persönlichkeiten der Punkt sind, in dem alle Strahlen zusammentreffen müssen, darf der Brief nicht sein, was die wissenschaftliche Darstellung sein soll: objektiv. Je enger er an den Dingen haftet, desto mehr nähert er sich der Abhandlung; deshalb können die philosophischen Erörterungen mit persönlicher Beimischung, die etwa in Spinozas oder Schopenhauers Kreis gewechselt werden, kaum noch zu der Kunstgattung des Briefes gerechnet werden. — Natürlich ist damit aber keineswegs gemeint, daß die Briefe fern von allem Gegen- ständhchen über den Dingen zu schweben hätten! Die berühmtesten Briefe, die die Weltliteratur kennt, die der Mme. de Sevigne, enthalten vor allem in ungezwungenstem Plauderton vorgebrachte Anekdoten, Klatschgeschichten, Medisance und Pikanterien. Und wenn sogar der Künstlerfoman Künstler- gespräche duldet, ja fast fordert, so werden Robert Schumann und Richard Wagner gewiß in ihren Briefen über ihre heißgeliebte Musik sprechen dürfen, Anselm Feuerbach über Malerei — und Villers oder sein graziöser französischer Nebenbuhler Doud an über Lebenskunst. Auch die ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung geht in der persönlichen Handhabung des Briefwechsels zwischen den bedeutenden Philologen Lehrs und Lobeck in den Briefstil ein, und die Diskussion politischer Tages- fragen bei dem zwischen Bismarck und Gerlach — nichts Menschliches ist dem echten Briefwechsel fremd.
') J. Zeitler, Deutsche Liebesbriefe aus neun Jahrhunderten, Leipzig 1905.
1 88 Stilistik.
2. Aus jener Grundbedingung folgt aber auch, daß der Brief so wenig am Subjekt haften darf wie am Objekt. Wer von sich selbst, seinen Em- pfindungen, seinen Problemen nicht loskommt, ist ein Monologist. Hebbels Briefe sind Monologe, wie seine Gespräche — und wie so oft seine dra- matischen Dialoge; er konnte sie ja auch einfach in seine Tagebücher ein- legen. — Andererseits ist natürlich eine intensive Beschäftigung mit dem eigenen Wesen gerade intimen Korrespondenzen gemäß. Die psychologische Selbstzergliederung vor den Augen des Freundes bietet einen Hauptreiz besonders der jugendlichen Briefwechsel; Selbstporträts fehlen ihr fast nie, und schließlich soll die ganze Briefreihe ein großes Selbstporträt darstellen.
3. Auf der Auswahl beruht also vor allem der Briefstil. Was an sich das Wichtigste ist, kann für Mörikes spielende Plauderbriefe Neben- sache sein, und umgekehrt. Die ersten Gehversuche meines Kindes werde ich sicher meiner Frau melden; ob meinem intimsten Freunde, steht dahin. Der Brief bedeutet den höchsten Triumph des literarischen Relativismus; fühlt man an jedem Wort, weshalb es hier steht, oder weshalb an dieser Stelle anderes fehlt, so strahlt der persönliche Charakter des Briefes im höchsten Glanz.
Die größten Meister des Briefes waren selten zünftige Schriftsteller; doch sind Voltaire und Diderot, Lessing, Goethe und Schiller, G. Keller, Ed. Mörike.Th. Fontane, Elisabeth Browning, Flaubert und manche andere große Ausnahme zu nennen. Künstler, Männer von starkem Temperament, künstlerischem, aber literarisch ungeschultem Ausdruck, leidenschaftlichen In- teressen und fester Ehrlichkeit sind vor allem zum Briefschreiben geboren.») Neben den Männern der bildenden Künste und besonders der Musik sind die „Dilettanten" berufen: Männer, die viel Zeit und Mühe auf das ver- wenden, was sie unmittelbar interessiert, ungern aber für das „Nebenwerk" der Fertigung und Formung, Lebenskünstler wie Doudan, Villers; im Grund gehören auch die meisten Romantiker dazu. Gelehrte sind meist zu gründlich, Männer der „besten Gesellschaft" in der Regel zu ober- flächlich zu guten Briefschreibern.
§ 187. Zeitung. Briefe waren die ersten Zeitungen, und aus Briefen, die zu weiterer Veröffentlichung gebracht wurden, hat sich die Zeitung entwickelt. Dennoch geht es nicht an, wie es oft geschieht, den Zeitungs- stil unmittelbar aus dem Briefstil abzuleiten. Denn zunächst gehören jene öffentlichen Briefe selbst dem durchgebildeten Briefstil nicht an, der erst viel später mit der Einführung regelmäßiger Korrespondenten in die Zei- tungen übernommen wurde. (Für Deutschland haben die alte Augsburger Allgemeine Zeitung und insbesondere Heines Briefe aus Paris neben denen von Börne Epoche gemacht.) Und zweitens liegt zwischen jenen dem Publikum zugänglich gemachten Briefen (besonders politischen Inhalts, aus dem
') Schöne Sammlung von Quhl, Kunst- genwart fortgeführt zu werden, lerbriefe; sie verdiente es wolil, auf die Ge-
Dreizehntes Kapitel. Arten der Prosa. 189
dreißigjährigen Krieg und früher) und der Entstehung der ersten regel- mäßigen Zeitung (Renaudots „Gazette"", zuerst erschienen 30. Mai 1631, vgl. Hatin, Le Journal S. 27 f.) eine lange Entwicklung, während derer die Vorstufen des Zeitungswesens vielerlei Einflüsse erfuhren. i)
Die Franzosen, das eigentliche Journalistenvolk, die auch in ihrem „Figaro"' sozusagen die „Zeitung an sich" hervorgebracht haben, benennen diese Gattung mit demselben Wort wie das „Tagebuch": „Journal" womit allerdings zunächst mehr die periodische Erscheinung als eine gewisse Intimität hervorgehoben werden soll. Immerhin bringt dieser Name ein charakteristisches jüngeres Merkmal zur Anschauung, während die wiß- begierigen Deutschen die „Nachricht", die geschäftseifrigen Engländer die „Neuigkeit" zum namenschaffenden Element gemacht haben. Aber Nach- richten und Neuigkeiten bringt schon der Brief als schriftlicher Meldereiter. Die Zeitung dagegen ist, wie der Briefwechsel, eine feste Einrichtung; sie ist eben ein einseitiger Briefwechsel. Hierin liegt das Wesen auch des Zeitungsstils. Wie der Briefwechsel, hat die Zeitung zwischen zwei Fak- toren ein bestimmtes Verhältnis aufrecht zu erhalten; aber die Sorge hierfür ist ausschheßlich einem Teil übertragen. Wie der Briefwechsel beruht die Zeitung auf einem Bedürfnis fortgesetzter Mitteilungen; aber diese gehen nur von der einen Seite aus. — Zwar ist diese Einseitigkeit nur bei den berufstrengen Deutschen konsequent durchgeführt: bei der mächtigen englischen Presse spielt das „Eingesandt", die „Stimme aus dem Publikum" eine ganz andere Rolle als bei uns, und m.anche „Letter to the Times" hat die Haltung des Weltblattes mitbestimmt; und in Frankreich (wie ähnlich nur in Nordamerika) steht der Journalist mehr als anderswo in der „Gesell- schaft" und empfängt von ihr unmittelbar Nachrichten, Eindrücke, Aufträge. Aber das sind Nuancen; wesentlich bleibt doch, daß der Journalist an ein bestimmt-unbestimmtes Gegenüber schreibt, ohne Antwort zu erhalten.
Mit dem Briefwechsel teilt also die Zeitung 1. die Periodizität, die aber hier zu naturgesetzlicher Strenge gesteigert ist; 2. die Rücksicht auf den Adressaten in Auswahl, Ton und Tendenz; 3. die Unmittelbarkeit der momentanen Anregungen, die aber durch die Strenge der Tendenz ein- geschränkt wird. Dagegen unterscheidet sie sich von dem Briefwechsel 1. durch die Annäherung an bewußt literarische Formgebung; 2. durch die Unbestimmtheit des Adressaten: er ist nicht eine wohlbekannte Person, sondern eine Partei, eine Interessengemeinschaft, eine Stadt, eine Gemeinde, 3. durch das materielle, politische, psychologische Interesse des Brief- schreibers an seinem Erfolg.
Die Zeitung setzt zweierlei voraus: die Ausbildung bestimmter Lese- kreise, die je durch ein gemeinschaftliches religiöses, politisches, soziales, wirtschaftliches, literarisches Interesse zusammengehalten werden; und die
') Vgl. allgemein L Salomon, Geschichte des deutschen Zeilungswesens, Oldenburg
und Leipzig 1900, V. E. Zenker, Geschichte der Wiener Journalistili, 2 Bände, Wien 1 892 f.
1 90 Stilistik.
Ausbildung bestimmter berufsmäßiger Journalisten, die durch Neigung, Talent oder Rücksichten diese literarische Form allein oder vorzugsweise pflegen. Beides hat jene sechs Punkte zur Folge, die die Zeitung von dem immerhin ihr am nächsten stehenden Brief unterscheiden. Die Regel- mäßigkeit des Erscheinens zwingt, bei dem Fehlen an sich genügender Nachrichten doch das Blatt zu füllen. — Die Rücksicht auf das Publikum ergibt eine starke Einseitigkeit der Färbung, die leicht bis zur Selbst\'er- blendung oder gar zur absichtlichen Täuschung gehen kann; wo sich dem- gegenüber sogenannte „unparteiische Zeitungen" aufgetan haben, vertraten sie tatsächlich immer entweder die Partei der Regierung, oder sonst der literarischen, wirtschaftlichen, religiösen Mehrheit. — Die Annäherung an literarische Formgebung läßt dem Zeitungsstil sehr weiten Spielraum, von dem mündlichen Stil des alten ^Bayerischen Vaterlandes'' von Sigl bis zu der rein akademischen Haltung des früheren Pariser Journal des Debats" ; hier vor allem ist die literarische Individualität der Zeitungen zu suchen. Doch versteht es sich von selbst, daß keine Zeitung hierin gleichmäßig sein kann: 1. sind die Mitarbeiter verschieden literarisch beanlagt und ge- schult, 2. veriangt der ^Leitartikel", der eigentlich literarische Teil (der sich erst langsam entwickelt hat) mehr Form als die Tagesneuigkeiten u. s. w. Daher enthält eine größere Zeitung Proben aller Art literarischer Gattungen: Berichte im knappen Meldeton, wissenschaftliche Darstellungen, Reden, daneben oft noch Erzählungen, eigentliche Briefe u. s. w. Auf den Ton übt insbesondere die Rede einen starken Einfluß. — Die Unmittelbarkeit der Anregungen durch Tagesneuigkeiten, brennende Fragen, politische Situationen wirkt dieser literarischen Tendenz entgegen. Man tut deshalb unrecht, der Zeitung unaufhöriich eine gewisse Lässigkeit der Rede vorzu- werfen: man darf nicht veriangen, daß, wer für den Tag schreibt, so formt und feilt, wie wer mit einem Buch zu Generationen reden möchte. Der Zeitungsstil hält zwischen mündlicher Rede und literarischer Form, dieser letzten näher, die Mitte, darf sich aber freilich nicht in vulgäre Formlosig- keit veriieren. — Die Unbestimmtheit des Adressaten läßt die Zeitung jenes persönlichen Elements entbehren, das sonst jede literarische Kundgebung leicht aufu'eist: der Journalist vedeugnet bis zu einem gewissen Grad seine Individualität, um sich bewußt dem Publikum so anzupassen, wie der wirk- liche Briefschreiber sich seinem Gegenüber unwillküriich anpaßt. — Diese bedenkliche Anpassungsform wird durch das Berufsinteresse noch gesteigert. Man sieht also, daß die Zeitung allerdings eine halbschlächtige Gattung ist, wie die beiden, die ihr zunächst stehen : der Brief und das Tagebuch. Mit dem bloßen Schelten über Journalistik und Zeitungsdeutsch ist es deshalb doch nicht getan. Vor fast 100 Jahren klagte de Quincey, daß die Zeitungen den englischen Stil zugrunde richteten;») vor etu'a 50 Jahren wiederholten
') De Quincey, Essays on style, ed. by | deutscher Zeitungsstil, ebenda S. 25 f. Scott, S. 18 f.; französischer, englischer und
Dreizehntes K.\pitel. Arten der Prosa. 191
Schopenhauer, R. Hildebrand, Lassalle, Kürnberger, weiterhin dann Wustmann und Otto Schroeder diese Anklagen noch heftiger gegen die deutsche Journalistik; gegenwärtig erhebt man sogar in Frankreich dieselben Vorwürfe gegen die Presse. Trotzdem hat in diesem Zeitraum England Journalisten wie Carlyle und Ruskin, Deutschland solche wie G. Freytag, H. von Treitschke, Ferd. Kürnberger, Otto von Bismarck, Frankreich solche wie Veuillot, Sainte Beuve, Rochefort gehabt; mit andern Worten : zwischen Literatur und Presse hat sich eine großartige Annäherung voll- zogen. Die Jahre des Konflikts haben die politische Zeitung, die Jahre der neuen Literarbewegung die kritischen Organe auf eine neue Höhe ge- hoben. Als Vermittlung zwischen „Literatur" im engern und „Zeitungs- wesen" im weitem Sinne sind von England {„Edinburgh Rez'iezi'") und Frankreich {„Journal des deux mondes") her die Zeitschriften zu einem unentbehrlichen Mittel und Bestandteil der „allgemeinen Bildung" aufge- stiegen.') Man wird gut tun, unsere Tages- und Vierteljahrsliteratur zu studieren, statt einfach von der Tageszeitung den Stil der Goethischen Iphigenie zu fordern.
Als berechtigte Anforderungen an den Zeitungsstil können nur die gelten, die sich unmittelbar aus dem Wesen der modernen Zeitung ableiten lassen. Hier ist nun noch ein Punkt zu erwähnen, den wir bisher über- gangen haben. Auf das Verhältnis des Journalisten zum Publikum fanden wir dies eigentümliche Wesen begründet. Wenn nun aber der Verfasser eines wirklichen Briefes seinen Adressaten bereits vorfindet, hat der der Zeitung ihn sich erst zu schaffen. Zwar kommt es nicht selten vor, daß er für ein bereits vorhandenes Publikum schreibt: eine Gemeinschaft irgend welcher .Art bestellt sich einen Vertreter ihrer Anschauungen. Aber zunächst sind die offiziellen Parteiorgane keineswegs immer die Blätter, welche die Parteigenossen lesen; und wenn sie es zu einem festen Kreis von Lesern bringen, dürfen sie es doch ihrer eigenen Kraft so viel wie ihrem offiziellen Mandat zuschreiben.
Hier zeigt sich wiederum eine Verwandtschaft zwischen Zeitung und Rede. Beide verfolgen einen unmittelbaren Zweck, streben eine direkte Einwirkung auf das Publikum an; doch handelt es sich bei" der Rede um eine einmalige praktische Aufgabe, bei der Zeitung mehr um eine dauernde ideale. (Zeitungen, die lediglich Geschäftsuntemehmungen sind und sein wollen, gehen uns so wenig an als unterliterarische Hintertreppenromane und Bettelbriefe oder Gymnasiastentagebücher; glücklicherweise ist aber trotz allem, was man sagt, Maupassants „Bel-Ami" noch nicht der alleinige Vertreter des modernen Journalistentums!) Dieser werbende Charakter ist aber für jede echte Zeitung wesentlich; und wir wiederholen unser Wort, daß Korrespondenzen nur mit den Mitteln erhalten werden, durch die sie
') H. WuTTKE, Die deutschen Zeitschrif- nung, Leipzig 1875. ten und die Entstehung der öffentlichen Mei-
1 92 Stilistik.
begründet werden. Deshalb können wir nunmehr sagen: die Zeitung stellt einen einseitigen Briefwechsel dar, dessen Aufgabe es ist, zwischen dem Verfasser und einem möglichst großen Kreis ein fortgesetztes Mitteilungs- bedürfnis zu unterhalten und eine sich steigernde Gemeinschaft der An- schauungen herauszubilden. (Daß diese „Gemeinschaft der Anschauungen" fast stets eine nur partielle ist und sich bald nur auf politisch-religiöse, bald auf ästhetische oder wissenschaftliche oder soziale Anschauungen be- zieht, ändert nichts in der Sache.)
Die Zeitung hat also praktisch zweierlei Hauptaufgaben: 1. Interesse zu erregen, 2. Stimmung zu machen. Was der wirkliche Briefwechsel voraussetzt, steht hier als Postulat am Ende der Laufbahn. Eine gute Zeitung steht zu ihren Lesern in einem solchen Verhältnis, daß sie wirklich wie der Brief eines Nahestehenden aufgenommen wird.
Die moralischen Forderungen, die hieraus abzuleiten sind, berühren uns hier nicht; wohl aber die stilistischen.
Um fortwährend Interesse zu erregen, muß die Zeitung unaufhörlich Neues bringen. Damit ist keineswegs gesagt, daß sie immer neuen Stoff zu bringen habe: das gilt ja nur für den Nachrichtendienst, der z. B. bei religiösen Zeitungen nebensächlich ist; vielmehr liegt es ihr ob, den Stoff so zu formen, daß er unter neuen Gesichtspunkten erscheint. Jede rechte Zeitung hat, wie jede rechte Partei, eine universalistische Tendenz und hat eigentlich keine Ruhe, bis sie all und jedes im Licht der agra- rischen hiteressen oder der Homöopathie oder der Leichenverbrennung betrachtet hat. Diese Tendenz nun, alle Dinge in bestimmtem Sinn zu „bearbeiten" (wie die deutschen Naturphilosophen es nannten), kommt am deutlichsten zum Ausdruck in jenem Teil der Zeitung, der um 1830 in Frankreich aufkam (Jules Janin 1804 — 1874) und der besonders durch Heine und Börne nach französischem Muster bei uns ausgebildet wurde: dem Feuilleton. Mit Recht gih dies als der spezifisch journalistische Teil der Zeitung und der Pariser „Figaro'" ist eben deshalb die typische Zeitung, weil bei ihm auch Leitartikel, Nachrichtenteil, Kritik, Erzählung feuilleto- iiistische Form haben.') Das Feuilleton sucht bereits bekannten oder doch nicht mehr durch ihre Neuheit wirkenden Gegenständen lediglich durch die Form der Behandlung ein neues Interesse abzugewinnen.- Vor allem dient der Witz durch überraschende Vergleichungen, originelle Umschreibungen und zugespitzte Pointen dieser Aufgabe.-) Doch kann auch eine lyrisch sentimentale Stimmung^) dahin wirken, wie überhaupt jede Betrachtungsart, die wir an gerade diesem Stoff nicht gewohnt sind.
Das eigentliche Feuilleton ist gewissermaßen das journalistische Gegen- stück des buchmäßigen Essays (vgl. oben § 1 73 f.), und die Grenzen sind
») E. Eckstein, Beiträge zur Geschichte SprrzER, .Wiener Spaziergänge', Wien 1869 f. des Feuilletons, Leipzig 1876; unbedeutend. ')Th. Herzl, .Wiener Feuilletons', Wien
-) Beispiele z. B. aus neuerer Zeit D. 1904.
Dreizehntes Kapitel. Arten der Prosa. 193
bei ernsteren Feuilletonisten, wie Ferd. Kürnberger, und leichteren Essayisten, wie zuweilen selbst H. Grimm, schwer zu ziehen. Vor allem ist bei beiden Gattungen eine größere Kürze (für den Gesamtumfang wie nicht minder für die einzelnen Abschnitte und Sätze) Bedingung. Aber die feuilletonistische Manier kann, wie schon erwähnt, auf alle Teile der Zeitungen übertragen werden. So sind G. Freytags glänzende politische und kritische Aufsätze vielfach in diesem Stil gehalten; und als klassisch kann die Art gelten, wie Rostand seinen Cyrano der geliebten Roxane ein Feuilleton aus Tagesneuigkeiten vortragen läßt.
Die große Gefahr dieser an sich durchaus berechtigten Gattung liegt natürlich in der Oberflächlichkeit, die über der Form die Sache ganz ver- nachlässigt. Diese Oberflächlichkeit kann aber auch der Form — die uns hier allein angeht — gefährlich werden, indem eine von irgendwoher auf- gegriffene Manier einem beliebigen Gegenstand aufgeklatscht wird. Dies vorzugsweise ergibt jenen mit Recht von Kürnberger, Wustmann und anderen gerügten Zeitungsstil. Ihm ist besonders die häßliche Gewohn- heit eigen, frisch aufgetauchte Worte oder Wendungen totzuhetzen, nur noch mit „großzügig'' und „erstklassig" (vgl. oben § 21 S. 12) zu charak- terisieren, und jede Banalität sich „voll und ganz" zu eigen zu machen. Die besten Bilder werden auf diesem Wege bald so verschlissen wie die von Haus aus mattesten. Bismarcks „Klinke zur Gesetzgebung" ist durch allzu häufiges Ergreifen heut ebenso abgenutzt wie die beständig hochgehal- tene „Fahne der Gesinnung" . Vor dieser Entartung sind die Engländer durch ihren geschäftsmäßigeren Ton und die Franzosen durch ihre bessere literarische Schulung immer noch eher geschützt als wir. Dafür ist der Mißbrauch des Zitats, zumal der „paroles historiques" , jenseits des Rheins vielleicht noch ärger. ')
Immerhin hat dieser Zeitungsstil in seinem großen Einfluß auf die Literatur nicht nur schädlich gewirkt: der Fortschritt zu leichter, gemein- verständlicher Darstellung, den niemand bei unsern Historikern, Natur- forschern, Nationalökonomen verkennen wird, ist sicher dieser Erziehung mit zu verdanken. —
Wenn der Feuilletonstil aus der Forderung, Interesse zu erregen, er- wächst, so beherrscht dagegen die Tendenz, Stimmung zu machen, vor- zugsweise die substanzielleren Teile der Zeitung; und für sie ist vor allem der Leitartikel da. Er ist, ebenso wie das Feuilleton, eine journa- listische Neuschöpfung, obwohl er sich an die Rede anschließt, wie jenes an den Essay. Wie der einzelne Brief Fragment ist und erst der voll- ständige Briefwechsel ein Ganzes, so ist auch der einzelne Leitartikel nur ein einzelner Satz und alle zusammen bilden die große Ansprache der Zeitung an ihre Leser. Hieraus ergeben sich die stilistischen Eigenheiten
•) Flauberts Spott in Bouvard et Pecuchet.
Handbuch des deutschen Unterrichts. Bd. III, Teil 1. 13
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des Leitartikels: stillscliweigende, seltener auch ausgesprochene Bezugnahme auf andere Leitartikel oder auf andere Teile der Zeitung, vor allem aber eine gewisse Einheit des Tons bei naturgemäßer Abwechslung der Gegenstände.
Im ganzen werden wir wohl annehmen müssen, daß ein eigenartiger Zeitungsstil sich erst dann entwickeln wird, wenn unsere Zeitungen eben mehr Stil haben. Noch spielt bei uns die Presse eine zu geringe Rolle, noch ist der literarische Ehrgeiz zu schwach; nur einige große Organe von führender Bedeutung oder historischem Ruf, wie Münchener Allgemeine Zeitung, Schwäbischer Merkur, Kölnische Zeitung, Neue Freie Presse, Frankfurter Zeitung, halten auf eine gewisse Durchschnittshöhe ihrer Bei- träge in stilistischer Hinsicht. Radikale Organe, wie „Vorwärts'" und „Kreuzzeitung'' , pflegen besser zu schreiben als gemäßigte, frisch ins Feld tretende kräftiger als solche, die nur ihren Platz behaupten wollen. Ferner macht natürlich das Arbeitsgebiet einen großen Unterschied: für eine lite- rarische Werbezeitung (wie etwa früher die „Freie Bühne'') ist der Stil wichtiger als für das Organ einer Wohltätigkeitsbestrebung u. s. w. Be- sondere Stilregeln hat natürlich das Witzblatt, obwohl der „Kladderadatsch" in seiner größten Zeit sich der Form einer politischen Wochenschrift viel- fach angepaßt und sogar den Leitartikel in den berühmten Frontgedichten von R. Löwenstein, Ernst Dohm, J. Trojan nachgebildet hat. Die Zeichnung tritt hier wie bei den illustrierten Organen in den Aufbau als etwas Wesentliches hinein und ihre Unterschrift verstärkt den aphoristischen Charakter vieler Zeitungspartien. Aber die ästhetische Seite unseres Zei- tungswesens ist über der kulturhistorischen und politischen auch in den besseren Monographien durchweg zu kurz gekommen.
§ 188. Mitteilende Prosa. Als dritte Kauptform der Prosa sprachen wir die von vornherein als Mitteilung angelegte Prosa an. Sie setzt eine vorhergehende innere Verarbeitung voraus, während die monologische Prosa auf eine solche verzichtet, die erzählende sie großenteils erst während der Aussprache vornimmt. Sie führt eben deshalb an die Grenzen der kunst- mäßigen Prosa, weil in jener Formung des fließenden Stoffes recht eigent- lich der künstlerische Prozeß der Rede beschlossen liegt. Auch bleibt diese fortgesetzte Umbildung natürlich bei der rein mitteilenden Prosa nicht ausgeschlossen, nur liegt ein verhältnismäßig großer Teil dem Beginn der Aussprache voraus. Dies gilt auch für die Rede. Herder betonte sicher mit großem Recht, daß wie jede ursprüngliche Kunstleistung so be- sonders auch die Rede in der Gelegenheit, dem bestimmenden Anlaß wurzeh; aber mit diesem kasuellen Charakter darf man den improvisatorischen nicht verwechseln, den man der primitiven Beredsamkeit gewiß in zu hohem Grade zuerkannt hat.
Wesentlich für die hierher gehörigen Gattungen ist femer, daß sie einen gewissen auffordernden Charakter tragen. Sie wollen in dem Angeredeten nicht, wie die Erzählung, eine gewisse Stimmung, eine Anschauung, ein
Dreizehntes Kapitel. Arten der Prosa. 195
Bild hervorrufen, sondern ihn zu einer bestimmten Tätigkeit und Mitarbeit anregen. Und zwar leitet die Untersuchung zu einer ebensolchen geistigen Arbeit des andern, die Rede dagegen zu einer anders gearteten geistigen oder sonstigen Tätigkeit an. Die Rede führt dann über die Grenzen der an feste Formulierung und Tradition gebundenen Kunstprosa zu dem Sondergebiet der mündlichen Prosa herüber.
§ 189. Dialog. Die Natur der Untersuchung — als literarischer Gattung — wäre vielleicht nicht so klar, wenn nicht auch historisch der Weg zu dieser Kunstform offen läge. Die Vorstufe der wissenschaftlichen Untersuchung als einer literarischen Gattung ist nämlich der Dialog und dieser wieder ist in seinem Ursprung nichts anderes als die durch den einen geführte Anleitung des andern zur systematischen Fragestellung. Darin Hegt eben die welthistorische Bedeutung des platonischen Dialogs: er wird durch den Geist des Sokrates getragen, und dessen Bedeutung wiederum ist, daß er der erste große Meister des Fragens war. Auf seinen Schultern steht die Untersuchungskunst, die dann in der modernen Technik des Experiments gipfelt.
Der wissenschaftliche Dialog') ist also von dem Dialog auf der Bühne wohl zu scheiden: dieser hat einen fortschreitenden, der wissenschaftliche Dialog einen stationären Charakter. Der dramatisc^he Dialog steigt auf, der untersuchende kehrt zu seinem Ausgangspunkt zurück und bildet so ein abgerundetes Kunstwerk, während sein Bruder auf der Bühne nur als Glied eines größeren Ganzen zu verstehen ist. Diesen Unterschied hat die Sti- listik zu wenig beachtet, wo sie über die Technik des Dialogs handelt. 2) Übrigens hat der wissenschaftliche Dialog — dessen Hauptform der philo- sophische war — schwerlich für die Gegenwart noch Bedeutung; Solger, der ihn zuletzt zu erneuern suchte, hat, „was die Form anlangt, nur totes Maschinenwerk geliefert" (Mundt, Deutsche Prosa S. 391). Der ursprüng- liche Untersuchungsdialog entstand aus der Zwangslage einer Periode, in der erst das Fragen gelernt werden mußte, und der Hauptreiz des unter- suchenden Zwiegesprächs ist eben die Entwicklung der Frage selbst, das Herausschälen des Problems. Der Dialog ist ein wissenschaftlicher Roman: auf die Entwicklung kommt alles an, der Ausgang ist eigentlich Nebensache. Nun aber haben wir die Kunst der wissenschaftlichen Frage (W. Wundt, Logik II: Methodenlehre) so weit vervollkommnet, daß diese Spannung für uns fortfällt und nur noch die Freude an der Kunst bleibt, mit der Piaton und seine Nachahmer aus der Not eine Tugend zu machen verstanden.
Natürlich fehlt es dennoch nicht an Berührungen zwischen dem drama- tischen und dem untersuchenden Dialog. Der letztere dringt etwa bei Ibsen wie schon längst bei dem moralisierenden Drama früherer Epochen in das
') Wir besitzen über ilin ein umfassen- des Werk; R. Hirzel, Der Dialog, 2 Bände, Leipzig 1897.
^) Wackernagel S. 258, 269, Albalat, Art d'ecrirc S. 301 f.
13*
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Drama ein; der erste belebt den Untersuchungsdialog durch stärkere Lust an der Charakterisierung der Unterredner (schon bei Pia ton selbst).') Neuerdings bildeten sich zwei Mischformen: der zustandschildernde Dialog, stationär wie der der Untersuchung, dramatisch gefärbt und zugespitzt wie der der Bühne; seit Henri Monnier („Scenes populaires" 1835) bei den Franzosen beliebt, neuerdings durch die Wiener (Schnitzler, Altenberg) gepflegt; und der aphoristische Dialog, besonders von dem (von A. W. Schlegel bewunderten) Franzosen Chamfort ausgebildet, der wissenschaft- liches Interesse mit dramatischer Formgebung vereint, obendrein (wie die späteren Aphorismen und die alten Epigramme) durch eine Überschrift ab- gerundet:
Auf einen charakterlosen Menschen. Dorant: Er liebt Herrn B. lebhaft. — Philint: Woher weiß er das? wer hat's ihm gesagt?
Dieser aphoristische Dialog hat als Unterschrift unter den Karikaturen der Witzblätter eine breite Entfaltung; selbständig spielt er keine Rolle.
§ 190. Wissenschaftliche Untersuchung. Allmählich also erwächst aus dieser schönen Vorstufe die Kunstform der wissenschaftlichen Untersuchung. Deren eigene Stufen decken sich mit denen der wissenschaftlichen Darstel- lung (vgl. oben § 183). Deren Stil ist aber von dem ihrigen unterschieden, wie Frage von Erzählung. Die Erzählung beginnt an irgend einem Punkte und rollt in fortschreitender Erweiterung ein Gemälde auf; die Unter- suchung beginnt mit dem Gesamteindruck und kommt in fortschreitender Verengung auf einen einzelnen Punkt. Und in diesem Kesseltreiben liegt ihr ästhetischer Reiz:
Eine Lustjagd, wie wenn Schützen Auf der Spur dem Wolfe sitzen —
Diese Lust empfinden wir, wenn wir in Lessings „Wie die Alten den Tod gebildet" oder neuerdings etwa in Kösters Untersuchung über den Dichter der „Geharnischten Venus'' die Frage aus unbestimmten Weiten immer enger ins Netz gehetzt sehen, bis zuletzt die Gabel der letzten Alternative das erschöpfte Wild aufhängt und der Jagdspieß der letzten Antwort zum Hallali auffordert.
Alles muß also hier auf diese beständige Verengung der Möglich- keiten Bezug haben. Im übrigen gelten auch hier die Regeln, die aus der wissenschaftlichen Tendenz stammen. Klarheit, Objektivität, Übersicht- lichkeit; was alles im einzelnen mehr durch die Methodologie der einzelnen Wissenschaft als durch die Stilistik an die Hand gegeben wird. Nur muß noch auf eine Hauptwaffe der Untersuchung verwiesen werden: auf die Definition.*) Sie dient nicht bloß der Deutlichkeit, indem sie der Mehr- deutigkeit unserer Ausdrücke einen Damm entgegensetzt (vgl. B.\in, St>ie 1, 242), sondern sie bildet auch einen nicht unwesentlichen Teil der Unter-
') Vgl. GoMPERZ, Griechische Deniter •) Vgl. Bernhardi, Sprachlehre S. 207.
Bd. II, HiRZEL a. a. O. Gerber, Sprache als Kunst II 2, 95.
Dreizehntes Kapitel. Arten der Prosa. 197
suchung selbst, indem sie von vornherein gewisse Standpunkte als zur Jagd untauglich ablehnt. Schillers Antrittsrede strebt in ihrer ersten Hälfte überhaupt nur einer Definition zu: „was heißt Universalgeschichte ?"; und insofern steht die Untersuchung etwa zur Darstellung wie die Zeitung zum Briefwechsel: sie hat erst zu schaffen, was jene schon voraussetzt. Gerade in der Vorbereitung der Definitionen, der ganzen Anlage steckt hier großenteils die formende Arbeit, die dem an den Tag tretenden Werk voran- liegt. Für die Definition selbst ist das stilistische Haupterfordernis die sogenannte „Eleganz", d. h. die Kunst, sie mit wenig Worten vor vielen Nebeneinwänden sicher zu stellen.
§ 191. Rede. Der Dialog stellt sich äußedich dar als die Verflechtung zweier Reden; die Untersuchung hat in ihrem unmittelbaren Bezug auf den Leser, dem die Freude an der Jagd übermittelt werden soll, einen der Rede verwandten Charakter; die Rede selbst (Becker, Stil S. 497 f.; W.-\CKERNAQEL S. 271 f.; HuM, Studics S. 70 f.) bringt den Charakter der Mitteilung am deutlichsten zum Ausdruck. Wie keine andere Gattung ist sie an die wirkliche Anwesenheit von Zuhörern gebunden: man kann sich selbst in zwei Personen spalten und mit sich einen Dialog halten (in dra- matischen Monologen häufig, und in Untersuchungen eigentlich stets), aber Reden an sich selbst zu halten bezeichnet schon das Äußerste von fingie- render Analogiebildung. (Trotzdem geschieht es besonders bei Humoristen nicht selten.)
Eben dadurch aber wächst die Rede über die Kunstprosa eigentlich heraus. Deren Gesetz ist die kunstmäßige Verwendung der Sprache zum Ausdruck meiner Eindrücke, Gedanken, Anschauungen; sobald ein anderer daran teilhat, kommt ein fremdes Element hinein — dasselbe, das auch schon den Brief und die Zeitung an die Grenze der Kunstprosa lagert. Und diese Entfernung von dem einfachen Ausdruck meiner Erregung wird jetzt verstärkt durch etwas Neues, nämlich die Richtung auf einen be- stimmten Zweck.
Immerhin würde selbst dies einen entscheidenden Unterschied noch nicht begründen; denn schon mit dem bloßen Bericht, aber auch mit dem Roman kann eine bestimmte Tendenz unlösbar verbunden sein, und der Parabel kann sie kaum fehlen. Wohl liegt hier überall die Absicht nicht so unmittelbar im Kern der Sache, wie bei der Rede; aber schließlich mag es eine Verschiedenheit des Grades scheinen. Sie wird nun aber dadurch zu einer qualitativen Verschiedenheit, daß es sich bei der Rede um einen einmaligen, sofortigen Zweck handelt. Auch die Parabel erstrebt, wenn sie angewandt wird, einen sofortigen Zweck (Menenius Agrippa!); aber sie kann beliebig oft angewandt werden. Die Reden kann man nur einmal hören; und hielte sie der Redner selbst zweimal — so etwas soll ja vor- kommen — , so wäre es eben das zweite Mal nicht mehr dieselbe. Also: alle andern Kunstgattungen sind in erster Linie kausal begründet, die Rede
1 98 Stilistik.
teleologisch. Und dies ändert ihren ganzen Stil. Die unterirdische Arbeit, die Vorformung hat bei ihr eine noch viel größere Bedeutung als bei Dialog und Untersuchung. Die ganze Aufnahme der gegnerischen Reden, und schon bei der Eröffnungsrede — ihre eigene voraussichtliche Auf- nahme sind mitwirkende Faktoren. Der Stoff wird deshalb nicht aus sich heraus, sondern aus der praktischen Sachlage, der Psychologie der Zu- hörer, der Rücksicht auf den Moment gestaltet (vgl. oben § 3). All dies findet seinen Ausdruck in jener Verankerung in den einmaligen Augen- blick, den individuellen Zeitpunkt, deren äußeres Abbild der mündliche persönliche Vortrag ist.
Was sich hieraus ergibt, werden wir als „Rhetorik" zu behandeln haben. An dieser Stelle kommt die wirkliche Rede wieder nur in ihrer im eigentlichen Sinn literarischen Umgestaltung in Betracht.
Die Rede als literarische Prunkgattung ist entweder unmittelbar oder mittelbar den eigentümlichen Bedingungen der antiken Beredsamkeit ent- sprossen, über deren fundamentale Verschiedenheit von der modernen Rede- kunst später zu handeln sein wird. Diese antike oder antikisierende Rede gibt sich als ein isolierter Vortrag, der aber der Anwesenheit von unmittelbar zu beeinflussenden Hörern besonders am Anfang und Schluß Rechnung trägt. Die alte Rhetorik hat für sie besonders eingehend ein festes Dispositions- schema (Wackernaoel S. 279 f.) geschaffen, das sich an die zeremoniellen Vorschriften für Brief und Urkunde i) anlehnt. Das exordiuni hat den Zuhörer wohlwollend zu stimmen und seine Aufmerksamkeit zu erregen („captatio bene- volentiae"). Der Redner kommt dann mit der narratio facti, dem Bericht, zum Ausgangspunkt seiner eigenen Handlung und kündigt mit der expositio, der Auseinanderlegung, seine Absicht des nähern an. — Auf diese drei- teilige Einleitung folgt die disputatio. die eigentliche Behandlung des Themas. Wird ein Teil der disputatio schon in die expositio hinein- gezogen, so nennt man deren ersten Teil propositio, gleichsam das An- richten des Mahls, und partitio, das Zurichten und Vorschneiden (a. a. O. 283, 289). — Die disputatio hat wesentlich den Vorschriften der Abhand- lung zu genügen, wenn auch auf lebhafterer Stufe (vgl. Wackernwgel S. 294 f.). Dabei unterscheidet man öfters noch die ratiocinatio und in- diictio (S. 297), den mehr fragenden und ausführlicher antwortenden Teil. — Endlich schließt die conclusio, das Zuschließen des Tors im geöffneten Gang, die Rode ab. Sie wird wieder in drei Teile (a. a. O. S. 300 f.) zer- legt: die Rekapitulation, eine konzentrierte Wiederholung, in die die im Lauf der Rede gewonnenen Ergebnisse eingewebt werden, womöglich in der Folge der einzelnen capitula oder Abschnitte; die pathetische An- sprache, die den Zweck des ganzen Vortrags in derselben Weise einschärft; und der wirkliche Abgang.
•) Vgl. z. B. Leist, Urkundenlelire S. 3 f.
Dreizehntes Kapitel. Arten der Prosa. 199
In dieser Anlage ist das meiste selbstverständlich, aber durch theore- tische Künstelei wird es auch da verlangt, wo es durch die Lage der Sache sich eigentlich verbietet.
Wie bei Tagebuch und Brief gehen zwar wirkHche und fingierte Rede so eng nebeneinander her, daß sie stilistisch oft kaum zu scheiden sind. Auch werden diejenigen Nachbildungen der mündlichen Rede, die in Drama oder Roman, in Bericht oder Zeitung unmittelbar eingehen, eben nur als rhetorische Partien dieser Gattungen zu beurteilen sein. Wirkliche litera- rische Umformung aber, die aus der Rede eine eigene Art der Prosa macht, erfährt sie in der Gestalt der Flugschrift.
§ 192. Flugschrift. Die Flugschrift wird nach ihrer wichtigsten Einzel- erscheinung gewöhnlich als politische Prosa (Mundt S. 41 1 f.) oder Staats- sdirift bezeichnet. Ihr Wesen liegt aber nicht in der allerdings häufigsten Anwendung für politische Agitation (berühmte Meister Arndt, Görres, Gentz, Lassalle), sondern eben in der Verankerung auf einem individuellen Moment, in dem die Wirkung erfolgen soll. Dies Imperativische aber teilt mit der Staatsschrift die religiöse Flugschrift (Luther, Lessings „Anti- Goeze") oder die wissenschaftliche (Carl Vogt „Köhlerglaube und Wissen- schaft"; Fr. D. Strauß; die Schriften von Müllenhoff, Holtzmann u. a. im Nibelungenstreit), die ästhetische (Richard Wagner und seine Gegner) oder die rein kasuelle, persönliche (z. B. die Streitschriften über Kaspar Hauser). Haben sie, was die Regel ist, einen stark angreifenden und per- sönlichen Ton, so nennt man sie Pamphlete.») Mit dieser Benennung wird meist ein tadelnder Nebensinn verbunden, wozu eine prinzipielle Berechti- gung nicht vodiegt, wohl aber durch den sehr naheliegenden und sehr häufigen Mißbrauch der Form eine historische.
Die Flugschrift könnte man als die in eine Rede verdichtete Zeitung definieren. Mit der Rede hat sie, wie ausgeführt, das Moment der un- mittelbaren Zweckerstrebung und dadurch den aktuellen, persönlichen Cha- rakter gemein; mit der Zeitung die Unbestimmtheit des erst zu schaffenden Publikums und die Notwendigkeit, ein Interesse erst zu erregen, das die Rede schon voraussetzen darf. Aber es fehlt ihr auch nicht an Berührungen mit dem Brief, der wissenschaftlichen Darstellung und. Untersuchung. Mit all diesen Gattungen (wenn wir wenigstens für die Zeitung den Zeitungsartikel einsetzen) teilt sie die Forderung der relativen Kürze.
Die Flugschrift gehört zu den Stiefkindern unserer Literaturgeschichte und den verstoßenen Kindern der Stilistik, trotzdem sie sich auf die größten Namen berufen kann, trotzdem kein Ton von der leidenschaftlich bebenden Entrüstung Luthers, Lessings, der Freiheitskriege bis zu dem kalt be- rechnenden Hohn etwa der Streitschriften Lassalles ihr fehlt. Freilich
•) Vgl. über ihre Blütezeit in Deutsch- englischer Meisterstücke: famoiKPa/npÄfe^s. land meine Deutsche Literatur des 19. Jahr- London 1884, u. a. von Milton und Defoe. hunderts, 3. Aufl., S. 305 f. Eine Sammlung
200 Stilistik.
läßt sich auch über ihren Stil nur eben das sagen, was aus jener Zwischen- stellung zwischen Rede und Zeitung folgt. Sie muß vor allem wirksam sein und also mit allen Mitteln auf die Erzielung einer bestimmten Ge- mütslage hinarbeiten. Die religiöse Flugschrift wird gern pathetisch, die wissenschaftliche gern witzig-überlegen sein, die politische mit beiden Stimmungen wirken wollen. Die Stimmung jedenfalls, aus der eine er- strebte Handlungsweise hervorgehen würde, ist es, worauf hier alles und jedes Bezug haben muß. Verliert sich etwa der Verfasser, der seine Leser zur ironischen Ablehnung eines bestimmten Vorschlags veranlassen will, in doktrinären Auseinandersetzungen, so verdirbt er dem Leser den Eindruck, daß dieser Vorschlag leicht abzutun sei. Damit ist wieder keine pedantische Gleichmäßigkeit des Tons gefordert — Episoden können im Gegenteil so glücklich wirken wie im Roman; nur muß das Ganze einen bestimmten einheitlichen Eindruck hinterlassen. Daher ist hier, wie bei der Rede — oder dem lyrischen Gedicht, der Schluß von besonderer Wichtigkeit.
§ 193. Rückblick. Blicken wir auf dies wichtigste Kapitel der Stilistik zurück, so sehen wir, daß eigentliche Vorschriften hier noch am ehesten möglich sind. Jede Art der Prosa hat ein anderes Zentrum, einen andern Aufbau, eine andere ratio; für jedes gelten deshalb spezifische Modi- fikationen der allgemeinen Regeln. Sie sind bei rein ausgebildeten Kunst- gattungen, wie Novelle, Roman, wissenschaftliche Darstellung, Dialog, strenger als bei den Grenzgattungen, die der Alltagsrede benachbart sind, wie Tagebuch, Brief, Bericht, Zeitung; aber sie fehlen nirgends. Diese Tatsache, daß jede anerkannte Form der kunstmäßig angewandten Prosa ihren eigenen Stil hat, gibt die beste Rechtfertigung ihrer Einteilung nach Gattungen; sie bietet auch die beste Handhabe für die Kritik. Denn ob ein Märchen, ein Roman, ein Feuilleton als soldies kunstgerecht ist, darauf kommt es zuerst an. Ist das der Fall, so muß die untere Technik des Satzes und der Satzverbindung in Ordnung sein; ist das nicht der Fall, so hilft der vortrefflichste Periodenbau und der größte Aufwand an Phan- tasie und Pathos, Witz und Scharfsinn nichts.
Ob aber ein einzelnes literarisches Produkt dem Stil seiner Gattung entspricht, das liegt in jenen Hauptforderungen begründet, die historisch und psychologisch eben die einzelne Art der Prosa geschaffen haben. Be- stimmte Hilfsmittel, etwa aus dem Gebiet der Figuren oder Tropen, für jede anzuraten, scheint uns verfehlt. Das Märchen liebt freilich die Hyperbel, und die Parabel die Personifikation; das aber liegt nicht in der Gattung, sondern in der Stimmung, aus der Märchen oder Parabel zumeist er- wachsen. Und wo Hyperbel oder Personifikation aus dieser Stimmung nicht spontan entspringen, da soll man sie eben auch nicht hineinzwängen; es gibt gute Märchen ohne jede Hyperbel — z. B. Rotkäppdien — , aber alle Hyperbeln der Welt machen ein schlecht angelegtes Märchen nicht besser.
Vierzehntes Kapitel. Umgestaltende Faktoren. 201
Vierzehntes Kapitel. Umgestaltende Faktoren.
§ 194. Norm und Umgestaltung. Die „Gattungen" heben sich mit festeren Umrissen aus dem Meer der literarischen Produktion; aber auch „der Roman", „das Märchen", „die Untersuchung" sind doch noch reichlich abstrakte Begriffe. Was als lebendige Fülle der Kunst uns entgegentritt, das ist die Schaffung des einzelnen, im einzelnen Moment unter bestimmten Bedingungen hervorgebracht. Wie Goethe es in den „Sprüchen in Prosa" (Nr. 898) ausdrückt:
Was ist das Allgemeine? Der einzelne Fall. Was ist das Besondere? Millionen Fälle.
Aus diesen Millionen von Einzelfällen ist eben der Typus erst ab- strahiert, durch Vergleichung gewonnen. Systematisch betrachtet erscheint aber umgekehrt der Einzelfall als Modifikation des Typus: die Norm wird durch ihn immer irgendwie, oft in vielen Punkten durchbrochen. Freilich kommen wir damit wieder an eine Grenze der Stilistik: als allgemeine Stillehre hat sie diese individuellen Gestaltungen eben wieder nur auf ihre typische Bedeutung hin zu prüfen. Jene empirische Stilistik, die von der tatsächlichen Anwendung aller Kunstformen und Kunstmittel durch die einzelnen Zeiten und Dichter Bericht ablegen würde, ist hier am aller- wenigsten zu geben. Nur wieder Kategorien der Umgestaltung durch indi- viduelle Faktoren sind aufzuzählen.
§ 195. Moment. Die geringste Bedeutung hat der Moment der Ver- öffentlichung; ja er spielt eigentlich nur da eine Rolle, wo er mit dem Moment der Produktion nahezu zusammenfällt, nämlich bei der Rede. Aber auch von einem Moment der Produktion ist fast nur bei solchen kurzen Gattungen, wie eben Rede und ferner Anekdote, Parabel, Schwank u. dgl., zu sprechen: wo längere Arbeit erfordert wird (wie beim Roman, der wissenschaftlichen Darstellung und Untersuchung), wird eine gewisse Ausgleichung der Momente, der guten und schlechten Stimmungen, der günstigen und ungünstigen Arbeitsbedingungen u. s. w. eintreten. Immer- hin kann ein Werk oft genug die Spur seiner Entstehung deutlich in sich tragen. Eine plötzliche, blitzartige Konzeption kann die hinreißende Wir- kung von Goethes (freilich fragmentarischem!) „Ewigen Juden" oder Grillparzers „Ahnfrau" bewirken, wenn der Impuls fortdauert, kann aber auch eine besonders schwere, nicht zur Gleichmäßigkeit durchdringende Technik verschulden, wenn Ermattung eintritt, wie bei Otto Ludwigs Entwürfen. Eine zu lang ausgetragene Arbeit kann ungelenkig werden wie die „Wanderjahre". Und stilistisch im engeren Sinne des Wortes wird sich eine mehr improvisatorische Schöpfung durch große Lebhaftigkeit der Sprache mit ihren Begleiterscheinungen (Ellipsen, Aposiopesen, Ana- koluthien u. dgl.) auszeichnen, durch kühne, weil rasch gewählte Metaphern,
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durch den Zusammenschluß der erschauten Vergangenheit und der Gegen- wart des Sprechenden (Praesens historicum).i)
So setzt sich die Frage des Moments oft in die andere: ununter- brochenes und unterbrochenes Arbeiten (vgl. Scherer, Poetik S. 157 f.) um. Für große Werke vom äußern Umfang des „Messias", des „Faust", der „Wanderjahre" ist die Unterbrechung beinah unvermeidlich, freilich aber auch ihre Folgen: Ungleichheiten der verschiedensten Art. Das Werk macht die EnUvickelung des Dichters mit, erlebt mit ihm allerlei Phasen der Weltanschauung, des Stils, der Technik. Die Figuren beginnen sich mit einer gewissen Notwendigkeit, wie von der Phantasie des Verfassers los- gebunden, zu entwickeln, so daß man etwa den Friedrich der „Lehrjahre" in dem Friedrich der „Wanderjahre" kaum wiedererkennt. Am augen- fälligsten aber pflegen jene sachlichen Widersprüche (vgl. oben S. 151) zu sein, die freilich auch schon bei konstanter Arbeit eintreten können: einer der berühmtesten Fälle, daß Sancho Pansa nämlich auf einem Esel sitzt, den er verioren und nicht wiedergefunden hat, dürfte schweriich eine Arbeits- pause zwischen den beiden sich unmittelbar folgenden Kapiteln zur Voraus- setzung haben.
Mit diesen Wirkungen der Arbeitsart hat sich wieder vorzugsweise die Poetik zu beschäftigen. Indessen ist das Thema doch auch für die Stili- stik von unmittelbarer Wichtigkeit.
Ein ästhetischer Purismus, dem z. B. Herder oft nahe kam, könnte einfach erklären wollen: alle Kunst müsse unmittelbar aus dem einen Moment erfließen; alle Arbeit, die sein unmittelbares Nachwirken durch Rekonstruktion zu ersetzen versuche (wie das z. B. Goethe mit seinen Schematen anstrebt), ergebe nur Flickwerk. Tatsächlich hieße das, alle aus- gedehnteren Werke verbieten (was ja auch die neuere Schule Stefan Georges, trotz ihrer Verehrung für Dante, gern täte); und wir wollen doch lieber den „Faust" mit hundert Lücken haben als hundert Faust- fragmente. Es gilt also, aus der Not eine Tugend zu machen und gerade die unterbrochene Arbeit stilistisch zur Geltung zu bringen.
Dies geschieht vor allem durch die Betonung der Entwicklung selbst Die Evolution, die der Dichter durchgemacht hat, dient ihm nun auch als Mittel, diejenige, welche seine Figuren erieben, zu verdeutlichen: aus der unwillküriichen Übertragung autobiographischer Erfahrungen wird eine kunstvoll geregelte. Gerade dies dient dem modernen Roman, aber auch breiter angelegten Dramen, wie Björnsons „Über unsere Kraft", zum entscheidenden Vorteil. Der Verfasser steht hinter seinen Figuren nicht mehr wie der hastig umkleidende Regisseur der „Nouvelle Heloise", Rousseau, sondern wie der Geschichtschreiber Ludolf Ursleu bei Ri- carda Huch, der die Wandlungen seines Hauses mit anteilvoller Re-
') Becker, Stil S. 134, Wackernagel deruch, Satzbau 1, 157 f. S. 400, vgl. ERDiNUNN, Syntax I § 140, WuN-
Vierzehntes Kapitel. Umgestaltende Faktoren. 203
signation überdenkt, oder wie der automatische Selbstregistrierapparat aller Erlebnisse bei „Buddenbrooks" (Thomas Mann). Und diese psy- chologische Durcharbeitung wird durch rein stilistische Mittel unterstützt. Zunächst durch solche, die eben auch der Individualisierung der Phasen dienen: lebhaftere Stilmittel, Metaphern, Apostrophen, Anaphern u. dgl. werden durch ernstere Sachlichkeit, nüchternem Ausdruck abgelöst. Dann aber gilt es auch umgekehrt, durch Aufrufen früherer Zustände die Ver- änderung anschaulich zu machen; daher haben (z. B. bei Th. Mann) die stehenden Redensarten, typischen Gesten und andern Formen der „epischen Wiederholung" eine neue Wichtigkeit gewonnen, nicht minder aber auch die Anspielung auf schon erzählte Szenen, die Durchführung bestimmter ge- danklicher oder stimmungsmäßiger „Leitmotive" (z. B. bei RicardaHuch oder Helene Böhlau).
Die Länge der Arbeit bedingt aber auch unmittelbar Veränderungen in der Stellung des Dichters zu seinem Werk und seinen Figuren. Der junge Goethe verliebt sich in Adelheid von Walldorf; Kleist weint über Penthesileas Tod. Solche Intensität der Anteilnahme kann man beim Ab- schluß des „Faust" nicht mehr voraussetzen. Diese eigene Abkühlung wird dem Dichter als Mittel dienen, diejenige seiner Leser zu bemessen. Es wird ihr entweder dadurch entgegenwirken, daß er mit neuen Mitteln ein frisches Interesse erregt für Faust den Kolonisator; oder er wird ihr durch eine geschickte Behandlung der Stimmung, leicht ironische Epitheta u. dgl. entgegenkommen, statt durch fortwährende Verherrlichung des Helden den ihm etwas entfremdeten Leser zu reizen.
§ 196. Zeit. Wichtiger als der individuelle Moment ist natürlich für die Entstehung und Förderung des Werkes der allgemeine: die Zeit seines Dichters überhaupt.
Die Wandlungen in Geschmack und Ansprüchen des Publikums (s. unten) kommen hier keineswegs allein in Betracht. Vielmehr ist vor allem für die Kritik namentlich auch der Stilmittel an die vollständig ver- änderten Anschauungen zu denken, die die Zeit den Künstlern selbst auf- zwingt. Entscheidend ist vor allem ein Punkt. Lange, große Kunst- perioden haben in dem Kunstwerk vor allem eben ein Werk der Kunst sehen wollen: sie verlangten, daß dem Beschauer unmittelbar der Eindruck einer bewußten Erhebung über die Wirklichkeit vermittelt werde. Dies gilt von fast allen „idealistischen" Epochen; insbesondere auch von der klas- sischen Antike und von der „Goethe-Schiller-Kultur". Im Gegensatz dazu haben andere Zeiten und so besonders auch wieder die unsere in dem Kunstwerk vor allem ein Stück Natur, einen Ausschnitt der Wirklichkeit sehen wollen; Natur und Wirklichkeit mögen durch ein Temperament be- schaut werden, wer aber das Kunstwerk betrachtet, soll lediglich den Ein- druck der Realität haben. Zwischen diesem Illusionismus und jenem Idea- lismus herrscht die denkbar größte Stilverschiedenheit; man denke sich nur
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einen Satz aus Goethes „Iphigenie" in Ibsens „Wildente" versetzt oder umgekehrt!
Handelt es sich um die Beurteilung, wie weit ein Stilmittel an einer bestimmten Stelle angebracht und wirksam sei, so darf natürlich nicht Schiller vom illusionistischen oder Gerhart Hauptmann vom idea- listischen Standpunkt aus gerichtet werden. Schon Otto Ludwig ging viel zu weit, wenn er in Schillers Sentenzen nur goldene Nüsse, an den Weihnachtsbaum gehängt, sehen wollte. Denn das Drama, das mit einer gewissen Feierlichkeit, seines religiösen Ursprungs eingedenk, vor das Volk tritt, hat ein gutes Recht auf ein gewisses Maß von äußerem Schmuck, und Schillers Wallenstein hat eben nicht zu sprechen wie Hauptmanns Florian Geyer oder gar wie Grabbes Hannibal. Doch ist gewiß zuzugeben, daß schon bei Schiller — und noch mehr bei seinen Epigonen — ein Übermaß von sprachlicher Dekoration den höheren Aufgaben der Charakter- zeichnung manchmal schädlich wird. — Und die Liebesszene in „Vor Sonnen- aufgang" mit ihrer ganz schlichten Rede darf nicht einfach an den poetisie- renden Stilmitteln von „Romeo und Julia" gemessen werden, weil Gleichnis, Metapher, lyrische Einlage hier die beabsichtigte Illusion verletzen müßten.
Als wirklich falsch und ungesund aber wird die Kritik eins immer zu rügen haben: die gewaltsame Übersetzung aus einem Stil in den andern. Oder, mit andern Worten: den praktischen Mißbrauch der stilistischen Lehr- bücher. Fast die gesamte „höhere Poesie" des 17. und früheren 18. Jahr- hunderts ist uns ungenießbar geworden durch jene gewaltsame Übertragung ins Poetische. Es wird ein Stoff genommen, der eine bestimmte einfache Form mit sich bringt: ein Glückwunsch, eine Klage. Nun wird Stück für Stück in die fremde Sprache übersetzt; wofür wir in den poetischen Trich- tern, und genau so schon in der Skaldenpoetik des nordischen Altertums, und ganz so in der Praxis der klassizistischen Franzosen und Engländer die ergötzlichsten Beispiele haben. Jener ungebildete Großvater fragte den Enkel, der erzählt hatte: „Heut haben wir in der Schule Geographie gehabt": „Wie heißt denn ,Tisch' auf Geographie?" Unsere alten Stilistiken wissen genau, wie ,Tisch' auf Episch oder Lyrisch heißt, etu-a: ^der Träger süßer Lasten' oder „der Atlas, der unter der Last gelehrter Bücher keucht". Es wird gefragt, wo Gleichnisse anzubringen sind, woher man Metaphern nehmen soll; Swift schlug ein Bureau zur Lieferung von Tropen und Figuren an schlechte Skribenten vor. ') Die sehr feine und wertvolle Empirie der Alten, die an neuem Material und unter neuen Gesichtspunkien wird frisch aufgenommen werden müssen, ward immer mehr in eine lächerliche Apothekerbüchse gewandelt, der man für bestimmte Zwecke Proanaphonema. Proanapho- nesis. Proapantesis, Proasma entnahm oder mittelst deren man sonst pro- saisch Erz in hochpoetisch Gold wandelte. Die ^Enallage" (vgl. Gerber,
») Philippi, Kunst der Rede S. 225.
Vierzehntes Kapitel. Umgestaltende Faktoren. 205
Kunst der Rede 1, 509 f.) ward zum alchemistischen Zaubermittel: der Er- satz des gewöhnlichen durch das ungewöhnliche Ausdrucksmittel.
Haben wir etwa über die Schlesische Schule zu urteilen, so dürfen wir diese gelehrte Krankheit (es ist eine Art Sprachstörung, eine Unfähig- keit das rechte Wort auszusprechen) zur Würdigung des einzelnen nicht vergessen. Der Fehler bestand eben darin, daß die Stilmittel völlig von der psychologischen Basis entfernt oder bestenfalls diese erheuchelt wurde: man stellte sich erhitzt, um beim Geburtstag des Großonkels Visionen haben zu können. Indes wird bis zu einem gewissen Grad jede Zeit solche Übersetzungen begünstigen. Die poetische Sprache ist wirklich nur eine kunstmäßige Fortbildung der Alltagsrede (vgl. meine Altgermanische Poesie S. 483 f.) und die Alltagsrede wird jederzeit eine bestimmte Tendenz haben, die dann in der poetischen Sprache leicht übertrieben wird. Die Schriftsteller des Jungen Deutschlands (und schon die meisten Romantiker) mußten überall Witz zeigen, der Münchener Dichterkreis alles „in Harmonie auflösen", auch die Nibelungenfabel in Geibels Drama; heute hat die kritische Stilistik zu beachten, daß auch mit Schlichtheit geprunkt und mit Einfachheit geprotzt werden kann. Denn es gibt nun einmal „feierliche Momente", ob man sie liebt oder nicht; und der Feldherr, der vor der Schlacht nur sagen kann: „Nu los!'\ hat die Beredsamkeit Napoleons {„Von den Höhen dieser Pyramiden sehen vierzig Jahrhunderte auf Euch herab!") nicht übertroffen.
§ 197. Umgebung. Der Dichter wirkt ja doch tatsächlich nicht allein, und auch der Einsame Chamissos auf Salas y Gomez denkt an Leser. Die Um- gebung ist ein umgestaltender Faktor, dessen Bedeutung man selten ver- kannt, oft sogar überschätzt hat. Zum Teil ist ihre Verschiedenheit ja in der der Zeit schon mitenthalten; zum Teil wird die Gestaltung des Publi- kums von der Wahl des Themas (s. unten) abhängig sein. Es bleibt aber doch noch die individuelle Mannigfaltigkeit der Umgebung. Hat der Dichter eine feste, ihm fast persönlich bekannte Gemeinde wie etwa Robert Brow- ning? oder — der günstigste Fall! — eine ebensolche als Kern einer großen und unbekannten Gemeinde wie Goethe seit Weimar? Schreibt er für bestimmte Kreise? für das „Volk" wie J. P. Hebel? für die wenigen wie Nietzsche? Besteht eine merkbare Wechselwirkung zwischen ihm und dem Publikum wie bei Jean Paul? oder fühlt er sich lediglich als Erzieher der Menge wie Schiller? Rechnet der Dramatiker mit den Be- suchern eines bestimmten Theaters wie Grillparzer, der kein Drama mehr veröffentlichte, als die Hörer der „Burg" ihm untreu geworden waren? oder mit einer Bühne der Zukunft wie (nach Goethes Vorwurf) Kleist? Endlich: wird der allgemeine Zusammenhang durch bestimmte Momente verstärkt: durch eine nationale Feier, die Dichter und Hörer erregt („Des Epimenides Erwachen"), durch ein persönliches Erlebnis, für das er Teil- nahme voraussetzen kann („Nathan der Weise" i? — Von der unmittelbar
206 Stojstik.
beim Moment der Produktion anwesenden Korona ist nur bei der münd- lichen Rede zu handeln.
Jedes Publii<um nun stellt wie inhaltliche (von der Poetik zu erör- ternde) so auch stilistische Anforderungen. Der einfache Leser will unter- halten sein und will gemütlich Anteil nehmen; daß ihm der Dichter ent- gegenkommt, spürt man bis in die Epitheta hinab: „unser trefflicher Fer- dinand". Der aristokratische Leser begehrt einen etwas schwierigen Stil, freut sich an Anspielungen, wünscht einige Sportausdrücke (z. B. der neue- sten Kunstkritik). Es handelt sich nicht darum, dem V'erfasser ein Ent- gegenkommen anzuraten, sondern ihn zu verstehen, wo er absichtlich oder unabsichtlich entgegengekommen ist. In Jean Pauls Umgebung forderte man Sentimentalität und Witz, eine gewisse Hypertrophie des Gleichnisses, einige Gelehrsamkeit; aber er gehörte eben selbst den Kreisen an, die das wünschten, war ihre lautgewordene Stimme. (Über die Einschränkung der stilistischen Individualität durch die Rücksicht auf die Umgebung vgl. Sher- Ai-w, Analytics of literature S. 326 f., R\leigh, On st>-le S. 65).
§ 198. Thema. Wie all diese Dinge nur der Vollständigkeit wegen ausgesprochen werden müssen, obwohl sie sich eigentlich von selbst ver- stehen, so besonders auch, daß jedes Thema seinen eigenen Stil hat. Be- handeln wir den Raub einer Haariocke im vergilischen Stil, so wird es eben ein „komisches Epos", d. h. eine Travestie.
Stoffwahl und Anpassung ans Publikum hängen nun besonders eng zusammen; wobei beidemal weder alle Nuancen von der ganz unbewußten bis zu der höchst berechneten Wahl und Anpassung möglich sind. Wie weit nun durch die Gattung ein bestimmter Stil gefordert wird, ist in Kapitel Xlll eingehend erörtert worden. Von der epischen, dramatischen, lyrischen Behandlungsart aber abgesehen, bildet eben jeder Stoff eine be- stimmte Atmosphäre um sich, die gewisse Stilmittel fordert, andere aus- schließt. Es gibt nicht nur tragische und humoristische, philosophische und feuilletonistische Themata, sondern auch rhetorische und im engem Sinne poetische. Es gibt Stoffe, deren gewaltige märchenhafte Art (der Sieg von Sedan!) große epische Mittel verlangt, ja die Hyperbel heranruft; und verzwickte kleine Themata, die der Ironie bedürfen. Hier ist bei der unendlichen Fülle der Themata eben einfach von den Meistern zu lernen — und negativ von den Dilettanten. Wenn Robert Hamerling dasselbe Thema in drei verschiedene metrische Kleider einhüllt, so zeigt das eine Unsicherheit des Stilgefühls, wie wenn ein Prosaiker denselben Stoff ein- mal schlicht, das andere Mal (ohne parodistische Absicht) pomphaft be- handeln würde. ')
Ein jedes Thema bringt auch etwas mit sich von der Zeit und der Umgebung, in der es erwuchs. Wir wissen wohl, was Goethe aus-
') Ein Lehrbeispiel der Art bei Kmgge, nover 1792, S. 102 f. Über Schriftsteller und Schriftstellerei, Han-
Vierzehntes Kapitel. Umgestaltende Faktoren. 207
gesprochen hat, daß alle Poesie in Anachronismen verkehrt; nicht nur der freier behandelte Götz von Berlichingen, auch der so streng historisch auf- gefaßte Florian Geyer sind schließlich doch in Goethes und Haupt- manns Drama Kinder auch unserer Zeit. Aber der Anachronismus darf nicht stillos werden — es sei denn wieder in parodistischer Absicht wie in Holbergs lustigem „Ulysses von Ithacia". Ein einziges Wort kann den Stil verderben, den der Stoff fordert. D. v. Liliencron erzählt — in einer auch sonst mißlungenen, schleppenden Ballade — jene bekannte grausige Anekdote von dem Vogt, der dem Bauern in den Kohl spuckt und den dieser dafür in dem heißen Kohl erstickt. Nach der Herausforderung ent- steht „ein peinliches Schweigen"" . Das eine Wort „peinlich" mit seinem Dunstkreis von moderner Etikette, Empfindlichkeit, Nervosität fällt aus dem Stil so völlig heraus, daß wir hinter den Dithmarschen des Mittelalters nur noch kränkliche Großstädter von heut sehen. Oder Freiligrath beginnt sein leidenschaftliches Gedicht „Wann?" (Werke 3, 63):
Die Zeitung schreibt von braven Henkern.
Die Schwert und Augentuch
Voll Zorns in einen Winkel schlenkern —
Wie gräßlich fällt das nonchalante Verb aus dem Ton! Ebenso auch häufig gerade bei ihm die Wortspiele mitten in pathetischer Rede: Das Antlitz fleckig, halbverwest — die rechten Reichsverweser!
Aber auch der „stilistischen Treue" sind Grenzen gesetzt. Wie die Anpassung an das Publikum nicht so weit gehen darf, daß man wirklich wie der erste Beste redet, so ist allgemein für die Provinzialismen, Ar- chaismen, Kunstwörter u. s. w., die eine Dorfgeschichte, eine historische Novelle, ein Künstlerroman leicht mit sich führen, auf unsere allgemeinen Erörterungen (Kapitel II) zu verweisen.
§ 199. Temperament. Wie weit in der ganzen künstlerischen Gestal- tung der Moment nachwirkt; wie weit der Dichter von seiner Zeit und seiner Umgebung sich frei machen kann und will; welche Stoffe er wählt oder sich aufdrängen läßt — alles das hängt schließlich von seiner eigenen allgemeinen Anlage ab; die Behandlung im einzelnen mehr von seiner spezifischen Begabung. Nach jener allgemeinen Anlage nun lassen sich bestimmte Gruppen und Typen der Schriftsteller scheiden. Vom Stand- punkt der Poetik mag ihre Weltanschauung, von dem der Psychologie ihre sinnliche Organisation zur Unterscheidung besonders geeignet sein; für die Stilistik grenzen wir am besten nach Temperamenten ab.
Unter „Temperament"" verstehen wir hier im Sinn der alten typisie- renden Psychologie große Grundformen der Stellung des einzelnen zu Welt und Leben, gewisse Dispositionen zur Beurteilung der Dinge, gewisse Nei- gungen, die Gegenstände anzufassen und zu behandeln. Mit den vier Seelenstimmungen der alten Temperamentenlehre kommen wir freilich nicht aus. Doch können wir sie immerhin zum Ausgangspunkt nehmen.
208 Stilistik.
I. Verstehen wir unter „Phlegma" nicht gerade die philiströse Un- bewegüchkeit, die den Dingen ohne inneren Anteil zusieht, sondern nur eben dasjenige Mindestmaß dieses Anteils, ohne das ein literarisches Werk von irgend welcher Bedeutung überhaupt nicht zustande käme, so wird hierher jene einfache ruhige Sachlichkeit zu rechnen sein, die vor allem in der wissenschaftlichen Darstellung und Untersuchung ihren Boden hat, aber auch in der objektiv gehaltenen Epik, in Bericht, Märchen, Novelle, Brief ') wohl angebracht ist. Man nennt dies wohl auch den „Stil des Ver- standes" 2) in dem Sinne, daß die abwägende Ausgleichung der einzelnen Werte innerhalb des Vortrags von dem Hervortreten gemütlicher Momente wenig beeinflußt wird. Dieser Stil sucht möglichst ausschließlich durch die Sachen selbst zu wirken und strebt auch für ihre Anordnung eine mög- lichst weitgehende Ausschließung jedes subjektiven Elements an: eine rein chronologische oder rein systematische Anordnung wird erstrebt. Deut- lichkeit in der Wahl der Worte, Reinheit und Richtigkeit im Gebrauch, Übersichtlichkeit im Periodenbau (vgl. Wackernagel S. 324 f.i sind fast die einzigen Kunstmittel. Metaphern werden oft geradezu als beirrend ge- mieden. 3) Fortwährend ist zu fragen, ob das Verständnis gewahrt bleibt, ob gerade diejenige Vorstellung oder Empfindung erweckt wird, die erweckt werden soll. Gewiß gibt es für jeden Stil intellektuelle Faktoren: Ver- ständlichkeit, Eindrucksfähigkeit, Klarheit lassen sich vom Verstand am besten beurteilen (vgl. Bain S. 234); von einem Stil des Verstandes aber läßt sich nur reden, wo die Phantasie, die subjektive Teilnahme, die sym- bolisierende Andeutung ganz zurücktreten.
Epochen und Muster der Sachlichkeit stellt Hunt Ca. a. O.), freilich oft recht wenig gegen Einwände gesichert, zusammen und gibt (S. 43 f. ) einige mit mäßigem Geschick gewählte englische Beispiele. Man könnte bei Vockeradt (Das Studium des deutschen Stils) die Proben aus Giese- brecht, Ranke, Lessing, zum Teil auch G. Freytag, aus Weises Sprach- und Stillehre die von Masius und Geliert, aus Marg. Henschkes vortreff- licher „Deutscher Prosa" Trendelenburg, Zeller, Röscher, Paulsen, besonders aber Helmholtz hierher ziehen. Im allgemeinen wird besonders auf Goethes wissenschaftliche und historische Darstellungen, auf Ranke und Helmholtz zu verweisen sein.
Hält sich die Sachlichkeit zu ängstlich von jeder Erhebung fem, wird wirklich das Phlegma Herr über den ganzen Ton, so tadeln wir eine zu weit gehende Nüchternheit. Sie entartet zu einem leeren Dienst der einmal gegebenen Formel in dem Kanzleistil (Becker S. 448 f.) mit seiner zeremoniellen Weitschweifigkeit, und zu einer Mißachtung der „Form" über-
') Albalat, Art d'ecrire S. 316 f. 'i VgL Elxken, Über den Gebrauch von
^) Becker S. 444 f., Wackernagel Bildern und Gleichnissen in der Philosophie.
S. 324 f., Bain 1, 233, Hunt, Studies in lite- Fr. Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der
rature and style S. 26 f. Sprache.
Vierzehntes Kapitel. Umgestaltende Faktoren. 209
haupt in dem Geschäftsstil (ebendaselbst S. 444 f.; Wustmann, Sprach- dummheiten) mit seiner gewaltsamen Kürze. Beide Übertreibungen zerstören das literarische Element zu Gunsten einer einzelnen Seite. Auf der andern Seite zerstört das Phlegma das literarische Element, wenn es alle Akzente verwischt und in der trostlosen Öde der Weitschweifigkeit ertränkt:
Beispiele dieses Fehlers finden sich überall. Ich will nur ein sehr auffallendes an- führen, welches bereits in den Literaturbriefen ist aufgestellt worden. Wenn Pauli in seinen Leben großer Helden von dem damaligen Obersten Keith erzählt, der König von Spanien, in dessen Diensten er sich befand, habe gewünscht, der Oberste möchte katholisch werden, damit er ihm seine Achtung desto tätiger beweisen könnte, so fährt er so fort: .Der Hof gestand, er habe Achtung für ihn. Ein Lobspruch, der seine bisherigen Ver- dienste und Aufführung in Spanien vollkommen zu verstehen gibt. Der Hof gestehet, er erkenne, wie würdig er sei, daß man durch fernere Beförderung seinen Verdiensten Ge- rechtigkeit widerfahren lasse, daß man diese Achtung werktätig beweise. Der Hof be- zeigte, wie er auch den Willen habe, solches zu tun, er wünsche es ungemein, es tun zu können. Aber es sei dem Hofe nicht möglich. Warum nicht? Er verdiente es zwar; bei diesem allen war es dem Regenten nicht möglich. Er wollte gern, aber es war ihm nicht möglich. Beweist dieses nicht" u. s. f. O, den magern Hasen so lange herumzujagen! — J. Ch. Adelung, Von der Präzision des Stiles (Magazin für die deutsche Sprache, Leipzig 1783, n, 2, 85 f. über die Weitschweifigkeit; unser Beispiel S. 99).
II. Das rechte Temperament des Künstlers aber ist das sanguinische: das Temperament, das sich zu Personen und Dingen sofort in lebhafte Be- ziehungen setzt, die Erlebnisse wieder erlebt und alles mit seinem eigenen Wesen durchdringt und tränkt. Dies Temperament stellt sich also der Welt mit eigenen Organen entgegen, die Elster (Literaturwissenschaft S. 359 f.) als „die ästhetischen Apperzeptionsformen" unterschieden hat. Er nimmt deren vier an: die personifizierende (S. 363 f.), metaphorische (S. 374 f.), antithetische (S. 395 f.j und symbolische (S. 400 f.i. Ich möchte lieber nach der spezifischen Energie der künstlerischen Sinnlichkeit einteilen. Dem einen wandelt sich alles in Klänge, dem andern in Bilder — künstlerische Naturen mehr im äußern, antiken Sinn; wieder andern alles in Empfindung — oder Begriff — künstlerische Naturen mehr im Innern, romantischen Sinn.
Der Stil eines in Klängen sich berauschenden Temperaments ist der spezifisch rhetorische (Becker S. 697 f., Wackernagel S. 271 f.). Sein vollkommenster neuerer Vertreter ist der Franzose Bossuef; gelegentlich nähert sich ihm Herder unter den Deutschen. Was man sonst bei uns „rhetorische Prosa" nennt (z. B. der Stil Treitschkes), ist viel mehr „pa- thetisch": nicht der Klangschönheit als solcher, sondern vielmehr den Ge- fühlswerten großer Worte gilt ihre Sorge. Die eigentlich rhetorische Prosa dagegen ist durchaus mündlicher, musikalischer Natur. Sie geht vom Bau großartiger Perioden aus, beachtet den Klang der meistbetonten Worte, wägt alle Klangwirkungen ab. und wählt selbst Metaphern und Gleichnisse mehr unter dem Gesichtspunkt des rauschenden Wortprunks als der Be- reicherung unserer Anschauung. Dieser Stil, von einer Persönlichkeit folge- recht durchgebildet, wird seinen Reiz nicht verfehlen; Chateaubriand ver- Handbuch des deutschen umerrichts. Bd. III, Teil I. 14
210 Stilistik.
dankt ihm viel, Victor Hugo beinah alles. In der deutschen Stilistik hat er kaum einen Platz zu beanspruchen fein Beispiel etwa aus Jahn bei Weise, Sprach- und Stillehre).
III. Sehr viel wichtiger ist überall, vor allem aber auch bei uns, das Temperament, dem sich jeder Eindruck in ein angeschautes Bild wandelt; sein Name ist Goethe. Dies ergibt den malerischen Stil,') den man wohl auch schlechtweg „poetischen Stil" ^Becker S. 527 f.) nennt. Seine beiden großen Werkzeuge sind das Bild,'-) vom ausgeführten Gleichnis bis zur Metapher, 3) und die Personifikation.'') Beiden ist es eben gemein, daß sie die unbelebten Dinge mit neuem Leben bekleiden, indem sie sie „organi- sieren"; sei es nun, daß sie sie den handelnden Personen, sei es, daß sie sie den in lebendiger Anschauung schon erfaßten Dingen annähern. s) Nicht um ein künstliches „Übersetzen" handelt es sich hier, wie bei den mühsam gelehrten Dichtern nach der Poetik, sondern um ein unwillkürliches, unver- meidliches Überströmen der eigenen Lebensfülle in alles, was erschaut wird. Brennst du nicht und fühlest mich entbrannt?
(.Braut von Korinth', Vers 119), eine einfache Metapher, kaum noch als bildlich empfunden, aber doch bildmäßig: dem „kalt wie Eis" (Vers Uli wird das „brennen" als Gegenpol gegenübergestellt; ist doch das ganze Gedicht von der Flamme, der meta- phorischen, die sich am Ende in die wirkliche wandelt, erfüllt.
Ich singe, wie der Vogel singt.
Der in den Zweigen wohnet —
(".Der Sänger", Vers 29), ein einfaches, uraltes Gleichnis (so nennt ja auch Gottfried von Straß- burg in der berühmten literarischen Teichoskopie die Lyriker seiner Zeit Vögel); aber eben hervorgegangen aus jenem dichterischen Alleinsgefühl, dem ein Leben in allen Dingen lebt, dem der Gesang, der aus der eignen Kehle dringt, verwandt ist mit dem der Nachtigall, wie die sinnliche Glut des eignen Herzens mit der brennenden Flamme des Scheiterhaufens.
Der Strauß, den ich gepflücket.
Grüße dich viel tausendmal —
(.Blumengruß". Vers 1). Der Strauß als lebendiger Bote und Spruchsprecher — Personifikation ein- fachster Art, aber doch eben Belebung, Transfusion des warmen Dichter- blutes in jeden Stengel jeder Blume im Strauß.
Und so denn weiter auf bis zu den kühnsten Verkörperungen der Mythologie und der Dichtung (vgl. Elster a. a. O. S. 363 f.) und bis zu der breitesten Fülle der Metaphern (ebendaselbst S. 374 f.).
') Spencer, Philosophy of style S. 28, ') Vgl. oben § 124, Albalat, Art d'ecrire
vgl. 36 f., Bain 1, 263 f., .figurative style*, j S. 272 f.
Raleigh, On style S. 98, den .Stil der Ein- *) Wackernagel S. 396, VischerS. 1225.
bildung", Wackernagel S. 368 f. ; '-) Vgl. allgemein Biese, Philosophie des
'1 ViscHER, Ästhetik 5, 1230 f., Raleigh, ] Metaphorischen. On style S. 55.
Vierzehntes Kapitel. Umgestaltende Faktoren. 211
Auch dies Temperament kann sich überschreien. Dann kommt der Schwulst, die Überladung, die kein einfaches Wort mehr sprechen kann — Hterarhistorisch als Eaphuismus, Gongorismus, Marinismus nach Haupt- vertretern in England, Spanien, Deutschland benannt. Doch ist die eigent- liche Sünde nicht die Überfülle — die freilich auch schon bei Jean Paul, selbst zuweilen bei H. v. Kleist geschmacklos werden kann — , sondern die Künstlichkeit, die sich zumeist schon in der Trivialität der gehäuften „Korallenlippen" und „Marmorhügel'' verrät (vgl. Elster S. 391). Die gleiche Künstlichkeit liegt in dem pedantischen Ausspinnen eines einzelnen Vergleichs, zu dem die Allegorie (vgl. ebendaselbst S. 369) so leicht führt.
Vor allem findet dies „bildliche Temperament" Raum zur Betätigung in der Beseelung der „Natur", in der „Einfühlung" in Berge, Ströme, Bäume, durch die (nach Amieis Worti eine Landschaft zu einem seelischen Zustand umgeschaffen wird (Beispiele aus Goethe und Heine bei Elster S. 360); ich nenne nur Goethes „Willkommen und Abschied", wo jeder Vers von „Naturgefühl" durchtränkt ist. — Gattungen, die diesem Tempe- rament besonders nahe liegen — wie dem rhetorischen natürlich die Rede — , sind: das lyrische Gedicht, das Drama, Erzählung und Roman, Brief, alles Formen, die dem Ausströmen der Empfindung Raum lassen. Stil- mittel, die es bevorzugt, sind die Häufung, die Apostrophe, doch auch die Sentenz als lebensvolle Konzentration einer Erfahrung.
Beispiele wähle man sich lieber aus Goethe, Heine, Mörike als aus den Sammlungen von Vockeradt (etwa die Probe aus Alexander von Humboldt) und Weise (etwa Scheffel) oder selbst Marg. Henschke (H. Grimm, Riehl).
IV. Das sanguinische Temperament mag nun aber auch schon an jener Empfindung Genüge haben, die das Herz erfüllt, eh es sich noch zu voller Klarheit künstlerischer Anschauung durcharbeitet; es mag diese Stimmung sogar als die eigentlich „poetische" über die „kalte Arbeit" des Plastikers erheben. Das war der Kultus unserer Romantik für den „er- hebenden Moment", der sie feste, bildmäßige Gestaltung so oft über nur stimmungsmäßigem Ausdruck versäumen ließ. ') Diese Neigung, in der Stimmung selbst zu verweilen, oder auch das Unvermögen, über sie her- auszugehen, führt zum pathetischen Stil. Er ähnelt (s. oben) dem rheto- rischen durch seine Freude an berauschenden Worten, doch eben mit dem Unterschied, daß diese nicht unmittelbar als Klänge, sondern ihres Stim- mungswertes wegen gelten.
Dieser „Stil der Empfindung" herrscht vor allem (Bain 2, 119 f.) in der erotischen (ebendaselbst S. 132), religiösen (S. 191), patriotischen (S. 184) und familienhaften (S. 163) Dichtung. Große Augenblicke wie der Verlust des Geliebten (S. 211), nationale Katastrophen (S. 223), Tod (S. 223, vgl.
') Sehr lehrreicli Petrich, Drei Kapitel Le style poetique et la revolution roman- vom Romanischen Stil, Leipzig 1878; Barat, | tique, Paris 1904.
14*
212 SnusTiK.
217) und schmerzlicher Anblick i'S. 221) sind geeignet, dies Pathos zu er- wecken; Aufgabe ist nun, es zu übertragen (Becker, Stil S. 496). Als Stil- mittel dient besonders die Hyperbel (Bain 2, 221), d. h. die Übertreibung, der Wurf übers Ziel hinaus CWackernaqel S. 401, Gerber 2, 2, 24 f.). Der enegten Empfindung verschwinden die Grenzen, sie sieht nur eins, und in leidenschaftlicher Aufregung ruft General Kleber Napoleon die unge- heuerste der Hyperbeln zu: „General — Sie sind groß wie die Welt!" Die rhetorische Frage (Gerber 2, 2, 51 f.), die sich von der selbstverständ- lichen Zustimmung des Angeredeten in der eigenen Stimmung befestigen lassen will — „War er nicht ein edler Mann?" — , oder die vielmehr die Gemeinschaft der Empfindung auszukosten verlangt; auch die Apostrophe sind andere Lieblingsmittel. Aber auch die Antithese 'vgl. oben § 141; Elster S. 395 f.j dient dem Pathos, indem sie die Gegensätze aneinander reiht und Feuer schlagen läßt: „eine Maus soll Leben haben und Cordelia nicht!"
Als klassischer Vertreter des pathetischen Stils gilt bei uns mit Recht Schiller; von neueren Autoren hat ihn besonders H. v. Treitschke aus- geprägt.«)
V. Endlich kann aber dies sanguinische Temperament, das die Dinge dem eigenen Wesen anzunähern strebt, sie nicht in Klänge, Bilder, Em- pfindungen wandeln wollen, sondern in Begriffe, d. h. in konzentrierte geistige Anschauungsformen. So entsteht der „philosophische Stil" im eigentlichen Sinn (vgl. oben S. 181 > oder besser der symbolisierende Stil (vgl. Elster S. 400 f.). Das Durcharbeiten oder „Bearbeiten" einer bunten Fülle von Erscheinungen, bis sie unter einem Gesichtspunkt ge- ordnet scheint, ist nicht nur von Schelling als die eigenthche Aufgabe des Philosophen angesehen worden; was sich dann aber als bezeichnendes Wort ergibt, kann immer doch nur symbolische, stellvertretende Bedeutung haben. Daher kann dieser Stil leicht zu der völligen Dunkelheit des Ha- mannschen Mystizismus abirren, aber auch in der gedankenschweren Sprache von Novalis und Nietzsche sich auf die höchsten Gipfel schwingen. Alle Formen der Gleichnisrede von der Metapher bis zur Parabel, kunstvoll wirksame Wahl der Epitheta, gern auch ein kühn verschlungener Perioden- bau werden sie auszeichnen; und in den Sammlungen musterhafter Prosa- stücke wird man diesen Stil vergeblich suchen.
VI. Das sanguinische Temperament wendet sich zur Kunst um seinet- willen, um eigene überströmende Kraft umzusetzen; das cholerische um der andern willen, die es reizen und aufregen. Es ist ein Temperament der Abwehr, oft der Notwehr; ein Temperament, dessen Ergüsse zumeist in dem erregenden Moment fest verankert sind.
') Proben bei VOCKERADT aus Schiller Treitschke. Schmoller. Englische Bei- und Winckelmann, bei Weise auch aus spiele mit Einleitung bei Hunt S. 70 f. Arndt; bei Marc. Henschke aus Curtius, i
Vierzehntes Kapitel. Umgestaltende Faktoren.
213
Vom literarischen Standpunkt aus könnte man es allgemein das kriti- sche Temperament nennen. Doch ist dabei noch eine Stufe ruhiger sach- licher „Abwehr" möglich, die sich der „phlegmatischen" Sachlichkeit stark nähert. Eine Verbindung mit dem „sanguinischen" Wesen bringt dagegen den Witz und den Humor zustande; eine stärkere Betonung des „chole- rischen" Elements die Satire und die Ironie. Wir scheiden auch hier von unserem spezifischen Standpunkt, ohne auf die philosophischen Scheidungen und Definitionen eingehen zu können.
Der kritische Stil (Hunt S. 11 7 f.) ist die Reaktion einer in bestimmten Anschauungen gefestigten Persönlichkeit auf alles, was diesen Anschauungen zuwiderläuft, doch so, daß in ruhiger Weise das durch fremde Störung ver- letzte Welt- oder Einzelbild wieder hergestellt werden soll. Sein Werkzeug ist vor allem der Tadel (Bain 2, 233), d. h. eben der Versuch, die Störung zu beseitigen. Die Stilmittel werden im wesentlichen die der wissenschaft- lichen Untersuchung sein, die auch selbst die wichtigste Anwendung des kritischen Stils darstellt. Sein klassischer Vertreter ist bei uns Lessing, bei dem freilich gern das Kritische in das Satirisch-Polemische übergeht; von neueren Schriftstellern vor allem Mommsen.')
Vll. Alle Kritik setzt ein Vergleichen voraus, ein Messen des Ge- gebenen an irgend welchen Maßstäben, ein Zusammenbringen oft entfernter Gegenbilder. Wird dies Vergleichen an sich zu einem selbständigen Spiel, erfreut die unerwartet plötzliche Zusammenstellung solcher Dinge, die sonst nicht zusammengesehen werden, so entsteht der Stil des Witzes.-') Haupt- waffen des Witzes sind das Wortspiel (Bain a. a. O.; vgl. oben § 145) oder die unerwartete Zusammenstellung zweier nur dem Klang nach verwandter Worte (mit der Spezialform des Namenswitzes); das Epigramm (Bain S. 202; vgl. Wackernaqel S. 138, 159) oder die unerwartete Anwendung einer Vor- stellung auf einen bekannten Fall (ungemein häufig besonders im „poin- tierten" Dialog); die Parodie (Bain 2, 242 f.) oder die unerwartete Um- kleidung bekannter Personen, Gegenstände, Verse; überhaupt alle Arten der Aprosdokese, der absichtlichen Täuschung erregter Erwartung (Gerber 2, 2, 74), wie so oft bei Heine:
Noch einmal möclit' ich dich sehen
Und sinken auf die Knie.
Um sterbend noch zu rufen:
.Madame, ich liehe Sie!'
Lichtenberg und Heine sind die Klassiker des eigentlichen Witzes in der deutschen Literatur, wie Swift in der englischen, Voltaire in der
') Proben bei Vockeradt etwa G. Frey- tag, Vilmar, Lessing, bei Weise: Les- sing, Kant; beiMARG.HENSCHKE: Seh er er, Hettner, besonders Zelier.
■-) Über den Witz: Vischer, Ästhetik 4, 416f., Kund Fischer, Heidelberg 1889, mein
Aufsatz über den Namenwitz, Neue Jahr- bücher für klassisches Ahertum 1903 S. 122 f. Vom Standpunkt der Ästhetik J. Paul, Vor- schule §§ 42—55, ViscHER S. 1441 f., Bain 2, 268 f." "
214 Stilistik.
französischen. Pamphlet, Brief, Humoresi<e, Feuilleton, Schwank sind Gat- tungen, die etwa in dieser Folge dem Stil des Witzes einen besonders günstigen Nährboden bieten. Der „Kladderadatsch" ist in der Konfliktszeit beinahe ein anonymer Klassiker geworden. Jean Pauls Witz dagegen in seiner breiten sentimentalen Art ist uns ziemlich entfremdet, der der Ro- mantiker und gar der Jungdeutschen zu gesucht.
VIII. Klassisch bleibt dagegen Jean Paul für den Humor, und für den humoristischen Stil (Hunt S. 193 f.) ist er uns fast zu ausschheß- hch maßgebend gebheben (Über den Humor unendlich viel philosophische Erörterungen; über die humoristische Dichtkunst Jean P.a.ul, Vorschule §§ 31—35, ViscHER, Ästhetik 4, 444 f., Elster, Literaturwissenschaft S. 319 f., Bain 2, 236). Von unserm Standpunkt aus ist wohl der Humor dem Witz gegenüber als die unerwartete Zusammenstellung der Stimmungen statt der- jenigen der einzelnen Dinge, Gegenstände, Personen aufzufassen. So also bei Jean Paul so oft das unvermittelte Aufeinanderplatzen idealistischer und realistischer Stimmungen; oder bei W. Raab e die Auflösung pessimistischer Weltanklage durch reine Heiterkeit. Die kleinere Erzählung, die Novelle, der Brief, die Humoreske eignen sich für diesen Stil vorzugsweise.')
IX. Witz in spezifisch kritischer Handhabung, in Abwehr bestimmter für den Schriftsteller verietzender Erscheinungen ergibt die Satire *j und diese bestimmte Tendenz charakterisiert daher vorzugsweise den satirischen Stil (Hunt S. 174 f.i. Er vereint die praktische Absicht der eigentlichen Rede mit dem freien Spiel des Witzes und nimmt gern auch die Form der Rede, daneben alle dem Witz und Humor offenstehenden Formen an; seine eigentliche Form bleibt freilich die Flugschrift ivgl. oben S. 184). Der größte Satiriker der Weltliteratur bleibt wohl trotz dem großen Epiker Cervantes und dem unvergleichlichen Virtuosen Voltaire der Engländer Swift, der allein fast die Härte besaß, ohne Abschweifen immer auf das Herz des Gegners zu zielen. Seine Satire bedient sich gern der Hyperbel, der Metapher, der parodistischen Apostrophe und weiß durch die große Kunst, mit der ein unerschöpflicher Reichtum von Einfällen aus einer Grund- idee gezogen wird, die phantasieübende Kraft des Märchens zu erneuern.
X. Eine Lieblingsform für alle kritischen Temperamente, zumeist aber das satirische, ist die Ironie, ») ein Lieblingsbegriff der Romantiker. Ein durchgeführter ironischer Stil findet sich in Sokratischen Dialogen, bei Swift, in romantischen Satiren: sein Wesen ist durch den Gegensatz schein- barer Zustimmung und wirklichen Widerspruchs zu wirken so daß hier die unerwartete Zusammenstellung zweier Weltanschauungen (z. B. der künst- lerischen mit der philiströsen ) wirkt, wie beim Witz diejenige einzelner Dinge,
') Auswahl z.B. .Deutsche Humoristen', rische Poesie Vischer S. 1458 f. Hamburg 1904—1905, 8 Bände, Verlag der ') Wackernagel S. 402; bei Vischer
Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung. und Fischer mit dem Witz besprochen.
-) Wackernagel S. 158; über die sati-
Vierzehntes Kapitel. Umgestaltende Faktoren. 215
beim Humor diejenige gewisser Stimmungen. Die Ironie besitzt sogar ein ihr eigentümliches Stiimittel: die Litotes oder Verkleinerung (Wackernagel S. 402; Gerber 2, 2, 46 f.). Ihre gewöhnliche Art ist, durch kontradikto- rische Form leiser zu sagen, was positiv bestimmter gesagt werden könnte: „da freut er sich nicht wenig" statt: „viel''; so besonders gern in mittel- hochdeutscher Poesie. Ihr Gegensatz zur Hyperbel oder Übertreibung (vgl. Wackernagel a. a. O. ) ist nur äußerlich ; denn der Hyperboliker glaubt an seine „uferlose" Aussage, der Ironiker dagegen will mehr, als er sagt, ver- standen wissen, und nähert sich der Aussage: „er freute sich wenig'' for- mell, um die gegenteilige Meinung stärker herausholen zu lassen. Übrigens ist die Litotes wieder eine sehr nebensächliche Figur, die aber wegen ihrer bequemen Faßlichkeit gern als eine Perle der Stilistiken gefaßt wird. —
Dies etwa dürften die Stilarten sein, die sich aus den „Tempera- menten" ergeben; denn dem „melancholischen" wüßten wir einen eigenen Stil nicht zuzuschreiben, da der „elegische Stil" in der Prosa eine be- sondere Bedeutung nicht hat, vielmehr unmittelbar zu poetischer Formu- lierung (seit den urältesten Totenklagen) überführt.
Man sieht wohl, daß diese zehn Stile nicht mit gleich scharfen Zäunen umdrahtet sind. Die fünf „cholerischen" mag man als den einen kritischen oder satirischen Stil zusammenfassen, und ebenso einerseits den rhetorischen und den bildlichen, andererseits den pathetischen und den symbolistischen Stil näher zusammendrängen. Schließlich kommt es ja nur darauf an, eine bestimmte Anzahl durchschnittlicher Neigungen zu gewissen Gattungen und Stilmitteln andeutend zu charakterisieren. In derselben Richtung wirken noch andere umgestaltende Faktoren.
§ 200. Bildungsstufe. Eine wesentliche Verschiedenheit in der Auswahl der Stilmittel sahen wir durch die Umgebung (s. oben § 197) bedingt; und zwar deshalb, weil jedes Publikum einen andern Bildungsgrad vertritt. Wir sahen aber auch schon, daß in der Regel diese Verschiedenheit den Bildungs- stufen der Schriftsteller selbst ungefähr entsprechen wird.
Abgesehen jedoch von diesen vielen Nuancen der Bildung, d. h. des geistigen Besitzes an Anschauungen und Begriffen, ist unter Umständen die ganze Haltung des Schriftstellers, der ganze Stil sehr stark" von Bildungs- rücksichten bedingt. Man kann in dieser Hinsicht nur drei Stuten unter- scheiden. Der häufigste Fall ist der schlechtweg „literarische Stil" (Hunt S. 46). Er entspricht in der Anwendung von Stilmitteln aller Art, in der Wortwahl, dem Satzbau u. s. w. den durchschnittlichen Anforderungen, die die Zeit an den Schriftsteller erhebt, und die natürlich sehr weiten Spiel- raum haben: wie wenig verlangten die Deutschen in Gutzkows Epoche von einem „führenden Schriftsteller", wie viel haben die Franzosen stets, was Pflege des Stils anging, gefordert! Auch ist natürlich das Maß der Forderungen nach der Gattung zu bemessen: Zeitung, Brief, Bericht, Tage- buch brauchen Ansprüchen nicht zu genügen, die für Novelle und Roman
2 1 6 Stilistik.
selbstverständlich sind. Daß die wissenschaftliche Prosa Kunstprosa sein soll und nicht Alltagsrede, ist erst seit unsern Klassikern (seit Lessing für die philologischen, seit Goethe für die naturwissenschaftlichen, seit Schiller für die historischen und philosophischen Disziplinen) wieder langsam durch- gedrungen.
Nun kann sich aber der Stil unterhalb dieser „literarischen" Schnee- grenze halten. Wenn ein Mann von geringer Schulbildung Bücher ver- öffentlicht, wie neuerdings der Maurer Fischer seine „Denkwürdigkeiten eines Arbeiters", so macht gerade die Nähe, in der er sich zu einfacher Alltagsrede hält, einen Hauptteil des Reizes aus. Es kann aber auch ein Angehöriger der literarisch gebildeten Kreise bewußt einen „volkstüm- lichen Stil" (Hunt S. 92 f.) anstreben und absichtlich von allen Stil- mitteln Abstand nehmen, die der Kunstprosa als solcher eigen sind, z. B. dem Chiasmus (wogegen die Antithese ja auch volkstümlich ist) oder der künstlichen Apostrophe und Personifikation. Doch wird der wirklich volkstümliche Schriftsteller immer wie einen Schritt oberhalb des Dialekts, so auch einen Schritt oberhalb der Alltagsrede bleiben; wofür wir in J. P. Hebel („Kannitverstan!") ein unvergleichliches Muster besitzen.
Der Stil kann aber auch umgekehrt bewußt über jede Berührung mit der Alltagsrede zu einem völlig künstlich durchgebildeten System rein literarischer Ausdrucksmittel aufzusteigen suchen. Wir erhalten dann einen esoteri- schen Stil, der freilich in der Poesie (z. B. der letzten Troubadours als „dunkler Stil"; manchmal auch bei R. Dehmel und im Kreise der „Blätter für die Kunst") häufiger als in der Prosa auftritt. Nicht selten ist dagegen auch in der Prosa die Verständlichkeit der Rede von einem höheren Maße spezifischer Vorkenntnisse abhängig gemacht worden, als dem literarischen Publikum zugemutet werden durfte. Ein Übermaß von Kunst- und Cliquen- worten, von Anspielungen, von gesuchten Metaphern u. dgl. macht den Stil Hamanns, mancher romantischer Ergüsse, unserer älteren Philosophen zu einem Geheimbesitz enger oder engster Kreise. Freilich hört damit eine solche Leistung eigentlich schon auf, ein literarisches Kunstwerk im Sinn der Ästhetik und Stilistik darzustellen.
§ 201. Weltanschauung. Die Weltanschauung endlich bestimmt in letzter Hinsicht den großen und dauernden Unterschied des idealistischen, klassizistischen, typisierenden und des realistischen, naturalistischen und individualisierenden Stils (vgl. besonders Vischer, Ästhetik S. 1234 f.). Ob unsere Art, die Welt aufzufassen, mehr das Bleibende oder das Wechselnde betont; ob wir mehr Freude an den großen Gesetzen haben oder der bunten Fülle der Einzelerscheinungen; ob uns die Antike, Raffael, Goethe oder aber Shakespeare, Rembrandt, die Moderne ein größeres Genüge tun — das bestimmt auch die Wahl unserer Epitheta, die Formulierung unserer Sentenzen, die Anlage unserer Perioden. Der klassische Detailstil eines Fontane, der bewußt an allem „Feieriichen" vorbeigeht, um sich in
Vierzehntes Kapitel. Umgestaltende Faktoren. 217
der unerschöpflichen Menge naiver Nuancen zu ergötzen, und der mit Typen von fast mythologischer Größe wirkende Freskostil eines Victor Hugo mögen die äußersten literarischen Extreme darstellen, zwischen denen zahlreiche Spielarten doch immer leidlich deutlich die eine oder die andere Hauptform der Anschauung vertreten.
Eine hübsche und belehrende „Stilstudie" stellt in der Zeitschrift „Die Schaubühne" (I, 3, 21. September 1905, S. 66) vierzehn Dichterstellen zusammen, die den Typus eines Schwätzers von „des Sophokles marmorschöner Sachlichkeit" bis zu Ibsens Detailpsycho- logie fortführen. Z. B.:
Sophokles:
Nicht einem weisen Manne gleicht er mir fürwahr. Obschon viel redend scheint er immer stumm zu sein; dem ungezähmten Rosse gleich, voll Übermut, eilt stets im Kreis und nie zum rechten Ziel sein Wort.
Sturm und Drang:
Wenn Du ihn so reden hörst, Bruder — das geht Dir von seinem Maule ab, so glatt wie ein blinkiges Wässerlein. Ist aber hernach nichts gewesen an all dem unend- lichen Zeuge als keckliche Metaphern und eitel Fürwitz. Grillparzer:
Die Menschen bleiben Kinder, und es freut sie,
wenn einer helle Worte laut verschüttet.
Doch ob gleich Tönen edelster Musik
geheimer Sinn sich ihrem Klang verbindet —
ob etwa nur ein Narrenstab geschüttelt,
des ungefüger Schall den Lärm erregt —
sie kümmert's nicht.
Hauptmann :
Wenn der Kerl 's Maul uftut, da wees ma scho nie nischte nich, wos er geredt hat. Dos is reenweg, als wenn de eenen mit a Geigenboden uffm Kuppe schlägst — nacha summen dr ooch alle Teene um de Ohren, aberst a Lied gibt's daderwege noch lange nich — nu ja, ja — nu nee, nee!
Parodistische Zusammenstellungen dieser Art sind nicht selten und ganz lehrreich; z. B. K. Karlshoff, Variationen über das Thema „Laura am Klavier". In zwölf Dichter- Charakteren (Berlin 1883, Ulrich Klein). — Hierin liegt überhaupt der wissenschaftliche Wert der Parodie: sie arbeitet die auffallenden Eigenheiten des individuellen Stils noch schärfer heraus.
§ 202. Individualität. Suchen wir endlich diese Spietarten selbst zu erfassen, so kommen wir zu dem letzten, freilich aber auch wichtigsten aller „umgestaltenden Faktoren" im Sinne unserer Definition: zu der In- dividualität selbst.
Was wir im prägnanten Sinne Stil nennen, ist eben nur der Ausdruck einer Persönlichkeit. In diesem Sinn gilt Buffons Satz Je style, c'est ihomme meme", wie der Stil, so der Mensch; wie der allgemeinere des Lust- spieldichters Marivaux, der Stil habe ein Geschlecht, und die Frau sei immer an einer Redewendung zu erkennen (Oeuvres de Chamfort, Paris 1857, S. 134). Was nun aber dieser geheimnisvolle, leichter mit dem Takt herauszufühlende als empirisch festzustellende individuelle Stil sei, das zu
218 Stilistik.
sagen bleibt freilich Verlegenheit.') Früher verstand man oft unter „Stil" nur eben kunstgerechte Sprachbehandlung überhaupt (z. B. de Quincey, Works 11, 259 f.). Aber selbst Haym bekennt schUeßlich in dem unten zitierten Werke (S. 247), daß das Individuelle sich jeder Berechnung ent- ziehe und überläßt sein Studium der Empirie, um sich wieder allgemeineren Betrachtungen zuzuwenden. Albalat (Art d'ecrire S. 38) sagt mit seiner gewöhnlichen praktischen Keckheit: „Der Stil ist die jedem eigene Art, seinen Gedanken schriftlich oder mündlich auszudrücken." Aber er unter- scheidet dann (S. 54 f.) selbst den originellen Stil von dem banalen und braucht das Wort also schließlich doch auch im prägnanten Sinne. (Vgl. auch Sherman, Analytics of literature S. 332 f.) So sagen wir allgemein: ein Kunstwerk, ein Autor habe keinen Stil, um eben auszudrücken, er habe keinerlei individuelle Art zu schreiben. Dabei ist natürlich von den seltenen Fällen abzusehen, in denen ein Autor bewußt die Art eines andern nach- ahmt, wie Varnhagen mit seinem „Goethischen Deutsch" oder Joh. von Müller als Schüler des Tacitus^) oder wie bei Haym „die be- rechnete Architektur der Satzglieder den Einfluß Macaulays venät" '^) — was übrigens vorübergehend eine gute Übung sein kann. Woran merken wir es denn aber, wenn jemand einen eignen Stil besitzt? Es braucht doch einer dieselben Worte wie der andere, und meidet er einige, braucht er ein paar seltene Ausdrücke, gibt er einigen besondere Bedeutung — das tut's doch noch nicht; die Syntax und die Stillehre ist doch dieselbe für Goethe und den letzten Lieferanten schlechter Hintertreppenromane, für Nietzsche und den farblosesten Reporter?
Natürlich kann eine eingehende Würdigung individueller Stile nur auf Grund eingehender Beschreibung stattfinden. Für diese Stilaufnahmen fehlt es nicht an brauchbaren Vorschriften. Am ausführlichsten hat der jung- verstorbene Emile Hennequln (La critique scientifique, Paris 1888) An- weisungen zum Erfassen der künstlerischen Individualität gegeben; kaum minder eingehend, von ganz anderen Gesichtspunkten aus, Elster (Literatur- wissenschaft S. 75 f.: Goethes, Schillers, Lessings Phantasie- und Ver- standesbegabung S. 108 f., 118 f., 133 f.). Auch Scherers Poetik ist eine Topik zum Erfassen dichterischer Eigenart. John M. Robertson (Essays towards a critical method, London 1889, S. 105 f.) gibt kürzere Winke. Die wichtigste Anleitung bleibt schließlich doch in dem Vorbild unserer großen literarischen Charakteristiker beschlossen, Lessings, Goethes, Schillers,
1) Berühmt sind neben der grundlegen- style (Essays 2, 1 f.) und R. Hayjnvs Erst-
den Abhandlung von Semper, die von den lingsschrift Über die Bedeutung des Stils, bildenden Künsten ausgeht (.Entwurf eines ') Vgl. allgemein Albalat, Formation
Systems der vergleichenden Stillehre", Kleine du st>-le S. 57 f.
Schriften S. 259 f., vgl. Raleigh, On style ') Literaturblatt für germanische und ro-
S. 3), namentlich zwei Aufsätze großer Ge- manische Philologie, 1906, S. 54. lehrten Herbert Spencer, Philosophy of
Vierzehntes Kapitel. Umgestaltende Faktoren. 219
der Brüder Schlegel, Heines, Freytags, Hayms, Hillebrands, Kürn- bergers, Erich Schmidts in ihren Dichterporträts.')
Freilich umfassen diese Versuche zumeist den ganzen Dichter: Stoff- wahl, Technik, Tendenz spielen mit Recht eine Hauptrolle. Eben aber: wie kann aus all dem der Stil zu erkennen sein?
Jeder Mensch ist aus mannigfachen Dispositionen, Eigenschaften, Nei- gungen, Tendenzen zusammengesetzt; und eben diese bei jedem neuen Menschen immer neue Mischung macht das Wesen der Individualität aus. Doch gibt es typische Mischungen, deren geringfügige Nuancen ein be- sonderes Interesse nicht erwecken. „Persönlichkeit" hat nur der, der eine originelle Mischung darstellt. Ist diese nun stark genug, daß sie sich in allem abspiegelt, was er tut, sagt, ja denkt, daß sie in jeder Aufnahme und Verarbeitung eines Eindrucks tätig ist — dann hat er Stil. Dann eben wird die originelle Mischung seines Wesens auch in einer originellen Mischung seiner Ausdrucksmittel zutage treten. Und so ist also der Stil der Mensch.
Vom Sprachgebrauch ein genaues Bild zu geben, ist also höchst wichtig; so haben wir für Lessing die mustergültige Darstellung Erich Schmidts („Lessing" 2^, 560 f.), für Goethe das lehrreiche Buch von Ewald A. BoucKE (Wort und Bedeutung in Goethes Sprache, Berlin 1901). Eine allgemeine Anweisung zu Beobachtungen des Sprachstils gibt Elster, Lite- raturwissenschaft S. 424 f., mit Literaturangaben. ^)
Schließlich ist nochmals auf unser großes Desideratum zu verweisen: eine umfassende empirische Stilistik, die den Gebrauch aller Stilformen und Mittel nach Gattungen, Zeiten und Persönlichkeiten darstellt, ein indivi- dueller Sprachatlas zur deutschen Literaturgeschichte! Aber ist daran zu denken, solange sich kaum die Wörterbücher über die gröbsten Auffällig- keiten des „Sprachgebrauchs" herauswagen?
§ 203. Rückblick. Mit der Persönlichkeit, mit dem Stil im prägnanten Sinne des Wortes hat die Stilistik ihre letzte Verengung und ihre höchste
') Versuche, spezieller vom stilistischen teaubriand, Flaubert, Bossuet u.a. Standpunl<t aus die Eigenart zu erfassen, Zahlreiche Bemerkungen zur individuellen machten z. B. Wienbarg (in seinen „Asthe- Stilistik bringt endlich Wunderlichs Deut- tischen Feldzügen" S. 297 f.) und Mundt scher Satzbau (vgl. das Register und „Indi- (Deutsche Prosa, besonders S. 1 f., 49 f., vidueller Stil", 2'', 435 f.). Überschätzt ist 353 f.). Eingehender sind diese Versuche von | die Wichtigkeit der Wortstatistik (C. Ritter, den Engländern und Amerikanern in neuerer ! Die Sprachstatistik in Anwendung auf Goethes Zeit ausgeführt worden: von Bain (1, 278 f.), . Prosa, Euphorien 10, 558, vgl. Qoethe-Jahr- HuNT (Matthew Arnolds Style S. 217 f., buch 24, 185 f.).
Emersons Style S. 246 f.), besonders aber -) Anleitungen zur eigenen Beobachtung
Brewster (Fronde, Stevenson, Morley, bei Brewster, Studies in Structurc and
Matthew Arnold, Bryce, Ruskin, New- ' style S. 279 f., vgl. auch Hunt, Studies in
man). Albalats „Travail du Style' erläutert Literature and style S. 17 f. wenigstens die stilistische Arbeit von Cha-
220 Stilistik. Vierzehntes Kapitel. Umgestaltende Faktoren.
Aufgabe erreicht. Die Eigenart der großen einzelnen auf der Grundlage der Vergleichung zu fühlen und festzustellen, das ist das reizvolle Ziel, zu dem schließlich alle typische Beobachtung von Worten und Sätzen, Ver- bindungsmitteln und Hilfsmitteln führen muß. Natürlich ist jede Erfassung einer starken Persönlichkeit lehrreich auch wieder zur Beurteilung des All- gemeinen. Gelingt es diesem Versuche, an Stelle der rezeptmäßigen Ver- wendung stilistischer Termine (vgl. Raleigh, On style S. 124) der Stilistik als Wissenschaft zu dienen, leitet sie sorgfähige Beobachter an, aus der syntaktischen Vergleichung die sprachliche Eigenart zu gewinnen, so hoffe ich der in einigen Mißkredit gelangten Disziplin einen unverächtlichen Dienst geleistet zu haben!
Anhang. Rhetorik.
§ 204. Definition. Soweit es die Rhetorik einfach mit der kunstvollen Behandlung der Prosa zu tun hat, fällt sie mit unter das Herrschaftsgebiet der Stilistik; und soweit sie rein praktisch eine Einschulung zum wirksamen Vortrag ist, fällt sie rein praktischem. Unterricht in der Körperhaltung, den Gesten, der Atemökonomie, der reinen Aussprache u. s. w. zu. Wir haben hier ausschließlich die Frage zu erörtern, wie weit der Vortrag einer münd- lichen Rede auch seinerseits zu den „umgestaltenden Faktoren" gehöre, d. h. inwiefern aus der Natur der gesprochenen „Rede" eigentümliche Sondereigenschaften an dem vorgetragenen Sprachstoff hervortreten.
Unter „Rede" verstehen wir also hier lediglich die wirklich mündlich vor Zuhörern vorgetragene, in sich abgeschlossene Ansprache. Die ihrem Muster nachgebildete, freilich auch wieder auf sie stark einwirkende un- eigentliche Rede in Erzählung und Drama ist bereits (§ 191) behandelt worden. Auf die Fiktion eines absoluten Monologs brauchen wir uns nicht einzulassen, da er eine kunstmäßige Redebehandlung schwerlich dar- stellen würde; hätte er es aber, so läge eben einfach eine in der Einsam- keit vorgenommene Nachahmung der wirklichen Redeübung vor.
§ 205. Literatur. Über die Rede im angegebenen Sinn besitzen wir seit der Antike eine bedeutende Literatur. Sie läßt sich ip zwei Haupt- gruppen teilen: Rhetoriken, die die Rede vorzugsweise als kunstmäßige Prosa behandeln, und sich somit völlig der Stilistik eingliedern (so Wacker- nagel S. 276 f.) und solche, die sie vorzugsweise als mündlichen Vortrag be- handeln und somit mehr oder minder sich dem rein praktischen Unterricht nähern (so das viel gerühmte Buch des Belgiers Laveleye, des Franzosen La- BOULAYE „Rhetorique populaire" [in seinen Discours populaires, Paris 1869, S. 329 f.], oder das recht brauchbare von Hilty, Lesen und Reden, Frauenfeld und Leipzig 1895). Die meisten Darstellungen halten sich mehr auf der ersten Seite, fügen jedoch einige praktische Winke bei; so F. Theremin, Die Bered- samkeit eine Tugend, neu herausgegeben Gotha 1888; A. Philippi, Die Kunst der Rede, Leipzig 1896. (Andere Literatur z. B. bei Hilty a. a. O. S. 112
222 Anhang.
Anm.) Bains von uns bisher oft dankbar benutztes Buch versteht unter „Rhetoric" einfach die „Redekunst", nämlich die Kunst, mit sprachHchen Ausdrucksmitteln eine möglichst große Wirkung zu erzielen, so daß er eine ausgedehntere Stilistik, aber keine eigentliche Rhetorik gibt. — Eine empirische Rhetorik auf Grundlage der modernen Beredsamkeit besitzen wir nicht, der einzige Versuch in dieser Richtung ist die Schrift von H. Wunderlich, Die Kunst der Rede in ihren Hauptzügen an den Reden Bismarcks dargestellt, Leipzig 1898 — insofern nicht glücklich, als Bis- marck, ein großer „Naturredner", sich als Paradigma weniger eignete als mancher an Bedeutung weit hinter ihnen zurückbleibende, aber kunstmäßiger ausgebildete Redner.
Dagegen fehlt es nicht an Sammlungen, aus denen man sich einiger- maßen wenigstens über die neuere Beredsamkeit unterrichten kann; denn Philippi betont mit Recht, daß diese von der der Alten so gründlich ver- schieden ist, daß weder aus den Mustern noch aus den Vorschriften der antiken Rhetoren ein Nutzen für die moderne Praxis oder auch nur für deren Kritik gezogen werden kann. Die „ciceronische Affektation der deutschen Kanzelredner" hat Herder endgültig vernichtet (vgl. Mundt, Prosa S. 392). Es wäre, als wenn die heutige Malerei vom Standpunkt der alten Vierfarbenmalerei aus beurteilt werden sollte; obwohl es sich mit Zu- und .Abnahme der Palette hier gerade umgekehrt verhalten dürfte. — Von solchen Sammlungen ist die vielseitigste die von Th. Flathe, Deutsche Reden, Leipzig 1893 — 94, die aber (wie auch die von Moll.m) mehr unter dem Gesichtspunkt der Innern, besonders politischen, Bedeutsamkeit, als der ästhetischen Vollendung ausgewählt ist. Das gilt auch von der übrigens nicht sehr glücklichen Sammlung von H. Windel, Deutsche Prosa, 2. Teil: Patriotische Prosa, Bielefeld 1899. Politische Reden bringt Mollat, Reden und Redner des ersten deutschen Parlaments, Osterwieck a. H. 1895, allgemeiner vgl. Th. Mundt, Die Staatsberedsamkeit der neueren Völker, Berlin, 2. Aufl., 1850; ferner die Bibliothek politischer Reden aus dem 18. und 19. Jahrhundert, 6 Bändchen, Berlin 1845. Für die geistliche Beredsamkeit haben wir die treffliche „Predigt der Kirche", Auswahl mit Einleitungen, Leipzig 1889 f., ferner O. L. B. Wolff, Handbuch der geist- lichen Beredsamkeit, Leipzig 1849. Dazu für die neueste Zeit L. Brastow, Representative modern Readers, New-York 1904 (mehr Charakteristik als Proben). Für die akademisdte und forensisdie Eloquenz fehlt es an An- thologien; doch vgl. J. Wychgr.\.m, Deutsche Prosa, 1. Teil: Rednerische Prosa, Bielefeld 1890.
Von unsern beredteren Nachbarvölkern nenne ich zur Vergleichung:
A. Chabrier, Les orateurs politiques de la France (1302—1830), Paris
1888. J. Rein.-\ch, L'eloquence fran(;aise, Paris, 2. Aufl. 1894. — L'homme,
Les chefs-d'oeuvre de la chaire, Paris o. J. — Witz, L'eloquence scientifique,
Lille, 1887.
Rhetorik. 223
The Treasury of British Eloquence arranged by R. Cochrane, Edin- burgh 1890. — R. C. RiNQWALT, Modern American Oratory, New-York 1898. (Weitere Literatur in meinem „Grundriß der neueren deutschen Literatur- geschichte", siehe Register unter „Beredsamkeit".)
Dazu kommen natürHch überall als Hauptquelle die Sammlungen der Reden der einzelnen Meister; so für uns die Ausgaben der Reden Bis- marcks (herausgegeben von Horst Kohl; kleinere Ausgaben in der Spe- mannschen Hausbibliothek und der Reclamschen Universaibibliothek), Moltkes, Roons, Treitschkes u. a.
§ 206. Geschichte der deutschen Beredsamkeit. Eine Geschichte der deutschen Beredsamkeit — die ich einmal zu schreiben hoffe — kann an dieser Stelle natürlich nicht gegeben werden. Es genüge, darauf hin- zuweisen, daß wir drei Blütezeiten unterscheiden können. Das erste Mal hob sich unter dem Einfluß der Bettelorden und der Mystik die deutsche Rede, ausschließlich als Predigt, bis zu der erstaunlichen Höhe, die sie im 13. Jahrhundert mit dem Bruder Berthold von Regensburg er- reichte. Das zweite Mal verband sich in den Jugendtagen der Reformation bei Luther und einigen Zeitgenossen die halbpolitische Rede mit der religiösen zu gewaltiger Wirkung. Nachdem dann endlich Herder und Lavater zwei Jahrhunderten tiefen Schweigens ein Ende gemacht hatten, verband in Fichte und Schleiermacher das religiöse Element sich un- trennbar mit dem politischen. Doch sind diese vier Männer nur die Vor- klassiker jener dritten Glanzperiode, die mit der Paulskirche im Jahr 1848 gipfelt und dann über die noch immer an bedeutenden Rednern reichen Epochen des Konflikts und des Kulturkampfs zu der Bedeutungslosigkeit unserer Gegenwart herabsank. Auch politisch hat man das erste deutsche Parlament weit unterschätzt; oratorisch aber hat es Leistungen hervorgebracht, auf die jede andere Nation stolz wäre: wir ziehen es vor, uns ihrer zu schämen. . . .
Diese dritte Epoche ist auch inhaltlich die reichste. Zu der Predigt, die wenigstens nie ausgestorben war, und vorübergehend sogar einen ge- wissen Aufschwung im 17. Jahrhundert (Abraham a Sta Clara, Schuppius, Sackmann) erlebt hatte, und zu der politischen Rede, die mit den Parla- menten (MuNDT, Staatsberedsamkeit S. 376 f. ; lehrreich Leonhard Müller, Badische Landtagsgeschichte, Berlin 1900 f., 2 Bde.) und Volksfesten (Wart- burg, Hambach) ') erwacht war, trat nun in zunehmender Loslösung von rein buchmäßiger Haltung auch der akademische Vortrag. Er fand in den öffent- lichen Sitzungen besonders der Berliner (Böckh, J. Grimm, Trendelen- burg, Curtius, Mommsen, du Bois Reymond) und der Münchner (Döllinger, Sybel) Akademie einen glücklichen Boden, von dem aus allmählich auch der tägliche Kathedervortrag für eine feierlichere Gestaltung
') G. Kieser, Das Wartburgsfest am Wirth, Das Nationalfest der Deutschen zu 18. Oktober 1817, Jena 1818. — J. Q. A. ' Hambach. Neustadt a. H. 1832.
224 Anhang.
(Kuno Fischer in Heidelberg, H. v. Treitschke dort und in Berlin) ge- wonnen wurde. Als eine Nebenform des akademischen Vortrags bildete sich, namentlich von französischen Mustern stark beeinflußt, die öffentliche Festrede heraus (Friedrich Wilhelm IV. am Kölner Dom; Denkmalsent- hüllungen u. dgl.), für die die deutsche Schillerfeier von 1859 vielleicht ähnlich, wie die Paulskirche für die politische Tribüne, den Höhepunkt bezeichnete. ')
Y>\e militänsdie ¥Aoqvitnz hat es bei uns nur vorübergehend (Blücher), die sogenannte kurze Beredsamkeit der Toaste und Festsprüche ebenfalls nur um das Jahr 1848, die gerichtiidie aber überhaupt zu bedeutenderen Leistungen nicht gebracht.
An die fortwährende Wechselwirkung zwischen der wirklichen und der uneigentlichen Rede, besonders auf der Bühne (Nathan vor Saladin; Posa vor König Philipp, Schillers Demetrius; verhaltene Parlamentsreden der Jungdeutschen z. B. in Gutzkows „Uriel Acosta"; Wildenbruch), doch auch im Roman (Auerbachs „Landhaus am Rhein") muß nochmals zur Ergänzung dieser Skizze erinnert werden. Auch der zunehmend „populäre", manchmal fast agitatorische Ton wissenschaftlicher Darstellungen (C. Vogt, H. V. Treitschke, Ernst Haeckel) bewies die zunehmende Macht der eigentlichen Beredsamkeit, und sein jetziges Abnehmen deren Erblassen.
§ 207. Art der deutschen Beredsamkeit. Durchaus ist die deutsche Beredsamkeit zumal der neueren Periode mehr historisch bedingt als national. Diejenigen Punkte, in denen die neuere Rede (etwa seit dem englischen Parlament in Cromwells Zeit-) sich fundamental von der an- tiken abhebt, sind natürlich gerade auch für die deutsche Rede ent- scheidend. Das Wichtigste ist, daß der einzelne Vortrag aufgehört hat, als abgeschlossene kunstvolle Handlung zu gelten. Die oratio der Alten ist — wie noch heut die Staatsrede der Indianer oder die Palavers der Kolonien — untrennbar verbunden mit einer gewissen Haltung, einer ge- wissen Feierlichkeit der Bewegung, einer gewissen fast pomphaften In- szenierung. Sie ist nur der Mittelpunkt, oder ein Mittelpunkt eines fort- dauernden Redefestes, wie der dramatische Dialog des Sophokles nur ein Hauptgericht innerhalb einer durchkomponierten Festhandlung ist. Diese Form wurde von den Oratoren der Renaissance erneuert und dauerte in antikisierenden Spuren auf der französischen Tribüne der Revolutionszeit noch lange fort.') Zu ihren Kennzeichen gehört insbesondere, daß eine Art Chor gebildet wird: eine Anzahl von Parteigenossen umstehen die Tribüne, um die Apostrophen des Redners aufzufangen, seinen Rufen Re- sonanz und seinen Gesten Ausdruck zu geben.
») Schiller-Denkmal. Festausgabe (große Scott S. 152 f.; doch vgl. Mundt, Staats-
Sammhing von Festreden und Cicdichten), beredsamkeit S. 198 f. Berlin 1860, 2 Bände. — Schiller-Reden (kleine ') Zielinski, Cicero im Wandel der
Auswahl), Ulm 1905. Jahrhunderte.
') De Quincey, Essay on Rhetoric, ed.
Rhetorik. 225
Hiermit kann der heutige „Umstand" beifallsbereiter Anhänger, immer noch im Land der Claque mächtiger als sonst, nicht verglichen werden. Er dient nicht der ästhetischen, sondern lediglich der sachlichen Wirkung. Die überzeugende Kraft der Argumente soll durch ihr „Sehr richtig'' , „sehr gut'', ihr Lachen und ihren Beifall unterstrichen werden. Immerhin hat die politische Rede, zumal in der Volksversammlung, auch heut noch mehr von der alten Aktion, als die immer isolierte Predigt oder die gleichsam herabsteigende akademische Rede. Sie ist auch heut noch unzweifelhaft die wirksamste; unmittelbare Wirkungen, wie Fichte, Jahn und, in noch stärkerem Maße, Lassalle sie erzielt haben, werden wohl aus früherer Zeit von den Savonarola und Capistrano berichtet, sind heute aber auch nicht einmal da bezeugt, wo die religiöse Rede die alte pompa fast völlig wieder aufgenommen hat: bei den großen Redewirkungen der Heilsarmee.
Die moderne Rede geht also noch viel unmittelbarer auf das prak- tische Ziel los als die antike. Was nicht direkt logisch in der Sache, psychologisch in den Personen motiviert ist, erkältet den heutigen Hörer eher als es ihn erwärmt; wobei natürlich jene Psychologie des Publikums zwischen der „vormärzlichen" Freude am hohen Schwung und der heutigen Trockenheit noch vielen Spielraum übrig läßt.
Insbesondere ist für die moderne Rede die zunehmende Neigung zum Schlagwort bezeichnend. Ein starker, leicht zu zitierender Satz, der die Tendenz der ganzen Rede konzentriert enthält, tut unschätzbare Dienste. So in der Reaktionszeit Fr. J. Stahls „Autorität, niclit Majorität", so Bismarcks „Blut und Eisen" oder „Nacli Canossa gehn wir nicht". Es dürfte unmöglich sein, aus Demosthenes viele solche Schlagworte herauszuholen; der praktische Römer Cato aber mit seinem „Ceterum censeo" gab damit den Extrakt aller seiner Reden.
Ist also die neuere deutsche Beredsamkeit — in der die politische Rede unbedingt, wie jetzt überall, die zentrale Stellung einnimmt — vor allem „modern", so fehlt es doch auch nicht ganz an nationalen Momenten. Pointiert könnte man sagen, die Beredsamkeit der Engländer sei die von Geschäftsleuten, die der Franzosen die von Advokaten, die deutsche — die von Professoren. Nicht zufällig war die Paulskirche ein Pnafessorenparla- ment, in dem verhältnismäßig wenige Nichtakademiker (wie Blum, Rado- witz, Riesser, Gagern) neben den Dahlmann, Gervinus, Uhland, J. Grimm, Arndt glänzten. Eine Neigung zu breiter wissenschaftlicher Fundamentierung, zu entlegenen historischen Parallelen, zu allzu gründ- lichem Durcharbeiten des Stoffes ist die stilistische Seite dieser professoralen Art, wie ein gutgläubiges Vertrauen auf den Sieg der bessern Sache die inhaltliche. In beiden Hinsichten ist die professorale Beredsamkeit mit den letzten Rednern des alten Liberalismus im Aussterben begriffen. Da- für ist das demagogische Element bei den Radikalen aller Richtungen in gefährlichem Zuwachs begriffen.
Handbuch des deutschen Unterrichts. Bd. III, Teil 1. 15
226 Anhang.
§ 208. Eigentümliche Momente der Rede. Wir legen uns nunmehr die Frage vor, in welcher Hinsicht diese Beredsamkeit die bisher entwickelten stilistischen Regeln etwa modifizieren dürfte.
Zweierlei kommt da in Betracht: 1. die Absicht unmittelbarer Wir- kung, 2. der mündliche Vortrag — ein psychologisches und ein technisches Moment.
Das Zweite gilt allgemein und unbedingt. Das Erste gilt nicht so ganz unbeschränkt, wie Theremin meinte, als er die Beredsamkeit für eine „Tugend", eine Ausübung edler Tätigkeit mit guter Wirkung, er- klärte. Bei der politischen und forensischen Rede wird ja allerdings stets ein direktes Ergebnis angestrebt; bei der Predigt wird schon die an- gestrebte „Erbauung" mehr als allgemeine Gemütsstimmung denn als greifbare Bekehrung oder Umwandlung gedacht; bei der Festrede aber bleibt eigentlich nur übrig, daß eine gehobene Stimmung erreicht werden soll, was doch schließlich von aller Kunst gilt. Nur wird hier dies Ziel unmittelbar ins Auge gefaßt.
§ 209. Wirkung der unmittelbaren Absicht. Worin zeigen sich nun die Wirkungen der unmittelbaren Absicht?
Für die antike Rede, die vor allem ein abgeschlossenes Kunstwerk sein sollte, ist die Einteilung in drei Glieder wichtig: Eingang, Ausführung, Beschluß (exordium oder expositio, disputatio, conclusiö). Heut ist das exordium in der Regel zu der Anrede „Meine Herren" zusammen- geschrumpft, worauf etwa noch eine ganz kurze Skizze der Streitfrage und der von den Vorrednern entwickelten Argumente folgt; die conclusiö, deren Wichtigkeit nicht aufgehoben werden kann, pflegt eine wirksame Zusammen- fassung des gesamten Redeinhalts zu erstreben. Man darf sagen: für die moderne Rede ist die Freiheit der Anordnung charakteristisch. Und dies aus guten Gründen.
Theremin streitet noch wider Fenelon, der die freie Rede als die einzig berechtigte Form der Beredsamkeit ansah. Heut wird kein Zweifel mehr sein, daß als wirkliche Rede mindestens nur diejenige noch empfunden wird, die sich im wesentlichen als frei gibt, d. h. als Kind des Moments. Damit ist keineswegs ausgeschlossen, daß der Red- ner sich vorbereitet — ganz im Gegenteil; „vorbereitet sein ist alles". Aber wie der ideale Gelehrte derjenige wäre, der gar keine Bücher mehr brauchte (weil er sie alle ,intus hätte'), so ist der ideale Redner derjenige, der gar keine spezielle Vorbereitung mehr nötig hätte, weil er den Stoff (wozu auch das Publikum, die Einwendungen der Gegner, die Zwischen- rufe gehören!) vollkommen beherrschte. Diese Sicherheit machte die rednerische Bedeutung neuerer pariamentarischer Größen wie Eugen Richter und besonders Windthorst aus.
Es sei wenigstens ein oder das andere Beispiel angeführt. — Ein Abgeordneter der .Sezession' hatte sich beklagt, daß durch die Eisenbahntarife die .Agrarier bevorzugt würden.
Rhetorik. 227
Der Minister v. Maybach antwortete ungefähr, dem Staat sei es ganz gleich, ob für den- selben Betrag „agrarische Milch oder sezessionistisches Öl' befördert würde. Darauf nahm der gleichfalls sezessionistische Abgeordnete Alexander Meyer das Wort: .Ich danke dem Herrn Minister, daß er meiner Fraktion gerade das Öl zugewiesen hat. Das Öl hat die doppelte Aufgabe, Licht zu verbreiten und Reibungen zu verhindern — und in beider Hinsicht wird das Streben unserer Gruppe vortrefflich gekennzeichnet!" — Oder der Fall des sozialdemokratischen Abgeordneten Re Inders, den Zwischenrufe wegen eines gram- matischen Schnitzers verhöhnten, und der schlagfertig antwortete: „Warum lassen Sie das Volk nicht besser unterrichten?"
Darauf also kommt es an, daß der Redner von jedem Punkt aus an sein Ziel zu gelangen verstehe. Der Prediger hat ja den Vorteil, genau zu wissen, wann er zu Worte kommt. Aber schon der Festredner kann nicht genau berechnen, in welche Stimmung die Einleitung der Feier, die größere oder geringere Beteiligung, die Musik, ja das Wetter seine Zuhörer gebracht haben. Eine Nachricht kann eingetroffen sein, auf die jeder eine Anspielung erwartet. So wurde die Enthüllung des Berliner Bismarckdenkmals verschoben, weil gerade der zweite Sohn des Kanzlers gestorben war; hätte man sie nicht mehr aufschieben können, so wäre eine Erwähnung jenes Zusammentreffens unvermeidlich gewesen. — Der Gerichtsredner kennt die Plaidoyers, auf die er zu antworten hat, nicht vorher. Der Abgeordnete endlich ist von seinem Vorredner, von der Auf- merksamkeit oder Abspannung des Hauses, von Zwischenrufen und Stö- rungen abhängig. Je mehr sie alle aus der Not eine Tugend zu machen wissen, je mehr sie fähig sind, sich von allem helfen zu lassen, um ihre Absicht zu erreichen, desto gewisser wird ihr Erfolg sein.
Psychologisch ausgedrückt heißt dies: der Redner muß sich mit großer Intensität in den Gegenstand eingelebt haben, die Materialien (die er natürlich nicht im Kopf zu haben braucht, sondern schriftlich zur Hand haben kann) beherrschen, die Stellung der wichtigeren Persönlichkeiten zu der Frage studiert haben. Alle Strategie, wie vor allen Napoleon wußte, ist zu drei Vierteln Menschenkenntnis. Stilistisch ausgedrückt aber heißt es: der Redner muß eine feste, aber elastische Disposition besitzen. Fest muß sie sein, damit er seinen ganzen Stoff beisammen hält und die als wirksam erkannte Anordnung nicht ganz dem Augenblick "opfert; elastisch muß sie sein, damit sie den wechselnden Stimmungen des Hauses, der Gunst des Moments, auch der eigenen Inspiration Spielraum läßt.
Die unmittelbare Absicht also kommt stilistisch vor allem in der Dis- position der Rede zum Ausdruck.
Die steife Anordnung einer vorbedachten Rede entfremdet sofort den Vortrag der Gegenwart; und jeder Eingriff des Hörers (vgl. Wunderlich S. 65 f.) kann sie über den Haufen werfen, so daß der Redner sich plötz- lich einem Chaos gegenüber sieht. Die Rücksicht auf die Elastizität drängt daher in der Regel den Redner bei einem größeren Vortrag zu einem Konzept. Ein Konzept ist der Entwurf einer Rede, so angelegt, daß er
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228 Anhang.
alle wichtigen Punkte (und wohl auch diejenigen Pointen, Bilder u. s. w., von denen der Sprechende sich viel verspricht) enthält, aber zugleich so, daß die Anordnung einer leichten Änderung fähig bleibt. P. Lindau hat einmal einen solchen Entwurf Lassalles in sehr lehrreicher Weise mit- geteilt und erläutert; es ist leider ein seltener Glücksfall, da diese Notizen fast stets nach dem Gebrauch vernichtet werden. Tritt dagegen an Stelle des Konzepts ein bis zum Wortlaut ausgearbeitetes Manuskript, das „me- moriert" (vgl. Philippi S. 237 f.) oder gar verlesen (vgl. ebd. S. 232) wird, so ist eben die uneigentliche Rede an die Stelle der wirklichen getreten und ein Stück Literatur wird in den Wechsel der Reden hineingebrockt.
Das Konzept aber wird sehr sorgfältig durchgearbeitet sein müssen (vgl. Theremin S. 96 f.), weil jede Auslassung, jedes Zurückdrängen wich- tiger Punkte dem Gegner Waffen an die Hand gibt und das hilflose Nach- holen übersehener Momente höchst unglücklich wirkt. Nur ist eine rein systematische Disposition nicht zu empfehlen, denn die Rede soll eben nicht, wie irgend eine Abhandlung, im luftleeren Raum schweben, sondern in unlösbarem Zusammenhang mit der ganzen Verhandlung oder Feier bleiben. Am besten wird deshalb der Redner eine psychologische Ent- wicklung (vgl. Thereahn S. 160 f.) zu Grunde legen. Er geht von einem Punkt aus, der das besondere Interesse seiner Hörer erregen muß, und weiß ihre eigene Gedankenentwicklung zu leiten, indem er sich ihr vor- sichtig anschmiegt. Er hütet sich vor Sprüngen, die seine Hörer aus dem Zusammenhang bringen. „Das Gesetz des Fortschreitens bestimmt aber auch den Umfang der Entwicklung eines jeden einzelnen Gedankens, der in der rhetorischen Reihe vorkommt. Man darf nämlich keinen auf Un- kosten der andern so ausdehnen und heraustreten lassen, daß dadurch ein Stillstand verursacht werde. Die Schwierigkeit mancher Gedanken, welche Entwicklungen, Erklärungen, Beweise erfordern, kann oft zu diesem Fehler verleiten" (ebd. S. 165). Der rechte Redner wird dann lieber kühn und knapp den Satz aussprechen, als sich durch Anstrengungen seiner Zuhörer die zweifelhafte Freude einer „lückenlosen Beweisführung" bereiten.
Was Theremin einzeln über die Angemessenheit (S. 139 f.), den Ge- schmack (S. 158 f.), die Lebendigkeit (S. 171 f.) ausführt, das sind alles eigent- lich nur speziellere Anwendungen der Grundregel: habe deine Zuhörer im Auge und betrachte sie als Stoff, den du zu formen hast. Diese Regel wird natürlich durch Moment und Zeit, Thema und Umgebung, durch Tempe- rament und Individualität des Redners unendlich variiert (vgl. oben Kap. XIV); und die eingehenden Fingerzeige z. B. über die Kunst, Fühlung mit den Hörern zu gewinnen (Wunderlich S. 70), und über Kunstgriffe im Wort- gefecht (S. 97) gehen über unsere Aufgabe heraus. Nur daran ist noch zu erinnern, daß eine hierdurch bedingte wesentliche Verschiedenheit der Rede von andern Literaturgattungen in der Beweglichkeit des Tons besteht. Ela- stisch den Empfindungen nachgebend bildet sie aus den Obertönen neue
Rhetorik. 229
Melodien und weiß mit tiefernster Haltung, wo es Not tut, den Scherz (vgl. aber Theremix S. 132 f.) zu verknüpfen, wie Luther und Bismarck es gern getan haben. Jedes an sich erlaubte Mittel muß ihr dienen, um den Affekt zu enegen (vgl. ebd. S. 134 f.) und, wie im Roman die Episoden, sind in der Rede die Anekdoten als Ausruhestellen für die Spannung wichtig. Ein Meister im parlamentarischen Vortrag von Anekdoten war L. Bamberger, der seinerseits (in seinen „Erinnerungen") mehrfach betont, wie wirksam etwa der sozialistische Reichstagsabgeordnete Schwartz durch sachliche Erzählungen aus seinem Leben (er war Schiffskoch gewesen) die allgemeine Aufmerksamkeit zu fesseln verstand. Ebenso berichtet Schmoller, wie Bismarck in den Sitzungen des Staatsrats bei theoretischen Er- örterungen gelangweilt aussah, aber bei jedem praktischen Einzelbeispiel aufmerksam zuhörte. Das sicherste Mitte! aber, Interesse zu erregen, wird immer das sein, daß man es selbst besitzt, und Affekt wird durch Affekt erweckt (vgl. There.min S. 120 f.). Natüdich darf der Redner sich aber auch nicht überschreien — weder im eigentlichen noch im übertragenen Sinn. Auch sind gerade hier die Unterschiede der Gattungen (Thereavin S. 72 f., Phil[PPi S. 233 f.) zu beachten. Die Volksversammlung verträgt ziemlich viel Pathos, mehr als das moderne Parlament (Philippi S. 241), viel mehr als eine Jury- oder ein Richterkollegium. Eine Festversammlung ist selbst schon in erregter Stimmung, eine Kirchengemeinde sollte es wenigstens sein, eine gelehrte Körperschaft ist es selten. Deshalb ist ein guter Advokat oft ein schlechter Parlamentsredner (wie de Quincev be- merkt).
§ 210. Wirkung des mündlichen Vortrags. Zeigt sich also die Wirkung der teleologischen Anlage jeder echten Rede vor allem in der Elastizität der Disposition, nächstdem in der Veränderiichkeit des Tons, so prägt die Wirkung des mündlichen Vortrags sich mittelbar in der Behandlung des Sprachstoffs aus. Die „Rede" im weitem Sinn des Wortes muß hier fast so elastisch und abwechselungsfähig sein wie der „Text".
„Das Hauptkennzeichen der gesprochenen Rede liegt in der Satz- bildung" (Philippi S. 230). Eine positive Annäherung an die Alltagsrede genügt nicht; es muß direkt auch das Biidiartige vermieden werden (ebd. S. 231). Die Wahl der Worte schließt sich an den Gesprächston, die Stel- lung der Worte an die ungezwungene Redeweise zwischen guten Bekannten; Anakoluthe, Einschiebsel, Selbstverbesserung (Wunderlich S. 52 f., vgl. allg. S. 48 L, 146 f.) wirken sympathisch, weil sie den Redner näher bringen. Die Hauptsache bleibt die Schlag- und Leuchtkraft der einzelnen Ausdrücke (ebd. S. 60) „Ich halte es für notwendig, die Ausdrücke so scharf und prägnant zu gebrauchen, daß sie auch im Publikum einen Eindruck machen", sagt Bismarck, und führt dementsprechend einmal aus: „Ein Zustand muß aufhören, in welchem über jeden Zaun, über jede Brückenbohle durch fünf Instanzen bis nach Berlin gegangen wird".
230 Anhang.
Dementsprechend ist auch der sogenannte Schmuck der Rede (ebd. S. 103 f.) zu behandeln: Keineswegs als ästhetischer Zierrat, wie in der Antike, sondern als Hilfe der Anschaulichkeit. Deshalb sind Bismarcks Bilder und Metaphern (vgl. oben S. 141 Anm. 1) so wirkungsvoll, weil sie immer aus dem Anschauungsbereich des Publikums genommen sind; des- halb sind Zitate (Wunderlich S. 119), Anspielungen (S. 124), Anekdoten (S. 129) so packend, wenn sie aus dem Gefüge der Rede, aus dem Moment herfließen.
Nicht ganz gering zu schätzen sind auch die Klangwirkungen (Wunder- lich S. 106 f.), die auf Wortwahl, Wortstellung und Rhythmus (S. 110) be- ruhen. Doch spielen sie bei uns nicht entfernt die Rolle wie in England (Gladstone!) und Frankreich und kein Publikum wird sich in unsere Säle drängen, um sich an der „goldenen Stimme" des nordamerikanischen Se- nators Sumner oder den Kadenzen des Spaniers Castelar zu berauschen.
Dagegen ist es natürlich, daß in der Rede diejenigen Figuren die größte Wichtigkeit haben, die inhaltlich und dem Klang nach wirken. Vor allem ist die Anaphora die eigentliche rhetorische Figur: der wiederkehrende Gleichklang fällt wirksam ins Ohr, gliedert die Periode übersichtlich und hebt zugleich einen Begriff wie mit ausgestreckten Händen in die Höhe (vgl. R ob. Blum 0. S. 93). Ahnliche Dienste leistet die Antithese, indem sie ein lautliches Gleichgewicht zweier Sätze herstellt, und, in nicht allzu künst- licher Fügung, der Chiasmus. Rhetorisch ist auch die Häufung, die Hyperbel; gefährlich nah an die Unnatur streift dagegen für moderne Empfindung leicht die Apostrophe und Vision heran. Für Sentenz und Schlagwort endlich, in denen die rednerische Kunst gipfelt, ist es Be- dingung, daß sie auch lautlich dem Wiederholen und Zitieren keine großen Schwierigkeiten bieten dürfen. Einfache Worte in einschmeichelndem Rh>lhmus wird man bei jeder Durchsicht von Büchmanns „Geflügelten Worten" bevorzugt finden.
§211. Wert der Redekunst. Finden sich SO mehrere Redner, die das Wort — und die Situation beherrschen, so darf man wohl mit Mundt (Staatsbered- samkeit S. 19) von einer ästhetischen Kunst der Debatte, von einem ästhetischen Vergnügen am vollendeten Kunstwerk reden. Solche Begegnungen sind selten; berühmt sind einige Redekämpfe im englischen Pariament, im französischen Konvent, im preußischen Abgeordnetenhause 0 geblieben. Ein bedeutender Präsident— wie bei uns vor allem Simson — schheßt dann durch würdiges, aber seltenes Eingreifen den künstlerischen Eindruck der ganzen Aktion ab. Ob sie politisch ebenso erfreulich wirke, ist natüriich eine andere Frage; die politische Beredsamkeit hat im Durchschnitt wohl nie höher ge- standen als in der französischen Deputiertenkammer unter Ludwig Philipp,-) während einzelne Musterieistungen der Paulskirche und die oratorische
') Z. B. Flathe 1, 569 f.
-) W. A. CORMENIN, Das Buch der Redner, Leipzig 1843, Weber.
Rhetorik. 231
Gesamtleistung einzelner in der Epoche der Pitt, Fox, Burke, Sheridan sie übertrafen — , und doch war dies schwerlich eine Periode besonderen politischen Glanzes. Die leidenschaftliche Verbitterung, die unsere Kon- fliktszeit in ihren Nachwirkungen noch heut Schaden stiften läßt, rief große Reden und große Redner hervor: keine Kunst kommt der Nation teurer zu stehen als die der parlamentarischen Beredsamkeit. Und ebensowenig bedeutet die einzig dastehende Blüte der Kanzelrede Bossuets, Fenelons, Massillons, Bourdaloues, Flechiers einen Höhestand der Frömmigkeit oder Tugend im Frankreich Ludwig XIV; und Fontenelle verstand un- bedeutende wissenschaftliche Berühmtheiten und Großtaten so wirksam zu preisen wie nur irgend Böckh, J. Grimm, Mommsen, A. W. Hof- mann die bedeutendsten. Aber ist es nicht überall so? und sollen wir eine von allen Völkern gepriesene Kunst deshalb schelten, weil die Rhe- torik genau wie die Dichtung oder die Malerei unmittelbar durch ihre Blüte weder eine Blüte des politischen noch des moraHschen Lebens der Nation bezeugt?
§ 212. Gesellige Unterhaltung. Als eine Vorübung für die Rhetorik hat die gesellige Unterhaltung Bedeutung, über deren Entwicklung bei den Deutschen unter diesem Gesichtspunkt Mundt (Prosa S. 372 f.) mit ge- wohnter Klugheit gehandeh hat. Der gesellige Dialog mit seinen witzigen Pointen hilft der Vorbereitung auf Unterbrechungen; ein kürzerer oder längerer Vortrag von Anekdoten, Eriebnissen, Referaten, der leicht im kleinen Kreise nötig wird, dient als Schulung für den wichtigeren Vortrag auf der Kanzel oder Tribüne. Nur ist hier fast ganz die Kunst fern zu halten, die die rechte „Rede" noch duldet: sie wird als Affektation em- pfunden. Die Sprache ist einfach die zum Konversationston erhobene All- tagsrede; durch Euphemismen, Anspielungen, Zitate zollt sie den Lebens- gewohnheiten der Gesellschaft ihren Tribut, in Wortwahl und Satzbildung hält sie, wie eine geschmackvolle Gesellschaftstoilette, zwischen Putz und Neglige die Mitte.
Auch die Konversation kann sich zur Kunst steigern wie in den Pariser Salons des 18. Jahrhunderts, den Bediner Salons der romantischen Periode. Sie entwickeh ihren eigenen Stil, den man kurz" als mündlichen Briefstil bezeichnen könnte, weil die Voraussetzungen des Briefstils durch die Wirkung der mündlichen Improvisation modifiziert werden. Die münd- liche Rede einer angeregten Gesellschaft ist wieder, wie beim Briefwechsel, und wie in glücklichen Fällen bei der Debatte, als Ganzes zu fassen. Der vordringliche Salonton zerstört die Einheit, eine Anzahl gut aufeinander ein- gearbeiteter Plauderer — und Hörer macht den Abend zu einem Triumph menschlichen Redevermögens. In Deutschland ist die Kunst des Plauderns selten, und die des Zuhörens seltener; jeder ist auf seine Individualität so stolz, daß er es nur als provisorisch erteilte Gnade ansieht, einen andern sprechen zu lassen. Die Damen pflegen in der Kunst des Anhörens trotz
232 Anhang. Rhetorik.
dem Rufe der „Geschwätzigkeit" immer noch die Herren zu übertreffen. Wir könnten gerade hier noch recht viel lernen; aber natürlich nicht gerade aus Lehrbüchemi
Indes sind wir hier ja schon an dem äußersten Grenzrain von Stili- stik und Rhetorik. Die Unterhaltung entspringt nicht nur — wie bis zu einem gewissen Grade auch die Rede — dem Moment, sondern soll auch in ihm gefangen bleiben. Wie ein Musikstück soll sie vorüberrauschen, Stimmung hinterlassen, Reminiszenzen, aber keinen greifbaren Niederschlag. Und deshalb scheidet sie aus der kunstmäßigen Behandlung der Prosa schließlich doch aus, schon weil sie sich jeder nicht momentanen Kritik entzieht.
.^uf der andern Seite stellt sie den äußersten Gegenpol dar zu dem einzelnen Wort, mit dessen Würdigung wir begannen. Dem isolierten ein- zelnen Stückchen menschlicher Rede steht die gemeinsame Arbeit Vieler zu einem gemeinschaftlichen sprachlichen Kunstwerk als Triumph der kollektiven Sprachbetätigung gegenüber. Deshalb wird die angeregte Unter- haltung auch alles umfassen, alle Stile und alle Gattungen der Prosa, alle Temperamente und alle Figuren; und zur täglichen Beobachtung aller der Dinge, deren Beobachtung dies Buch lehren und verfeinem möchte, bietet ihre stilvolle Buntheit neben der stilvollen Einheitlichkeit des einzelnen Prosawerks die schönste Gelegenheit.
Und so hat sich der Kreis gemndet. Wohin wir blickten, fanden wir Probleme, fanden wir Auffordemng zu neuen Beobachtungen und Ver- gleichungen. Die Stilistik als Lehrbuch zum guten Schreiben ist durch die guten Schriftsteller, die nichts von ihr wissen wollten, und die schlechten, die sich an sie hielten, gleichmäßig um ihren Ruf gekommen. Die Stilistik als wissenschaftliche Disziplin, als vergleichende Syntax, als empirische Gmndlage der Kritik am sprachlichen Ausdruck — diese Stilistik hat ihre Laufbahn erst begonnen. Möge jeder Fehler und jede Lücke unserer Dar- stellung zur Verbessemng und Ausfüllung aufreizen; und möge dies Buch dazu helfen, das andächtige Lesen in den besten Werken unserer reichen Prosa zu fördem, und mit der Andacht des Lesens die Liebe zu unsem großen Meistern!
Register.
Die Zahlen beziehen sich auf die Seiten. Die S. 148 f., 168, 185 f., 199 f., 208 f., 218 f. angeführten Naitien sind in das Register nur zum kleineren Teil aufgenommen.
Abbt 14. Abhandlung 181. Ableitung 11. Abschluß 151. Abschweifung 167. Adelung 16. Adjeiitiv 42 f. Al<kumulation 117. 119. Akzentverschiebung 57. Albalat 69. 147 f. Allegorie 112. 143. allusio siehe Anspielung. Altenberg 65. 196. Amiel 154. Amphibolie 25. 77. Amplifikation 117. 119. Anachronismen 207. Anadiplosis 15. Anakoluth 55. 76. 201. Analyse 116.
Anaphora 91. 97. 203. 230. Andersen 174.
Anekdote 144. 168. 171. 174. Anhäufung 119. Anmerkung 79. Annominatio 36. 38. 44. 129. Anreden 107. Anschaulichkeit 26. 161. Anspielung 107.135. 137 f.216. Antiklimax 127. Antimetabole 127. Antimetathesis 127. Antithese 121 f. 212. 216. 230. Anzengruber 175. Aphorismus 73. 155. 174. Apophthegma 57. Aposiopese 55. 75. 201.
Apostrophe 133. 135. 203. 212.
230. Apperzeptionsformen 209. Aprosdokese 35. 76. 213. Arndt 30. 65. 78. 148. Assonanz 35. Assoziationen 28. Asyndeton 90. Attribut 43. Auerbacli 151. Aufklärung 10. Ausdehnung 64. 131. Ausruf 84 f. Aussage 84. 86 f. Austriacismen 17. Autobiographie 181. Avenarius 12.
Bain 105. 112. 115. 222.
Balzac 176.
Bamberger 145.
Barbarismus 6.
Bayle 80.
Becker K. F. 3. 27. 139. 153.
Beckerath 35.
Bejahung 88.
Beispiel 144.
Beredsamkeit 65. 93. 115. 133.
136. 223 f. Bericht 182. 184. 208. 215. Berlioz 79. Bernays J. 151. Bernhardi 66. 101. 130. Berufssprache 111. Beschreibung 119. 179. Bettine 16. Biese 110.
Bild 210.
Bildungsstufe 215.
Biographie 170.
Björnson 202.
Bismarck 50. 54. 65. 102. 136.
137. 141.145.193.222.225.
230. Blaß 54.
Blätter für die Kunst 216. Blum R. 36. 93. 97. Böckh 59. Bodenstedt 126. Böhlau 16. 203. Börne 60. 66. 188. 192. Bossuet 209. Boucke 66. Braun 93. Brehm 181. Brentano 38. 130. 131. Bret Harte 41.
Brief 183 f. 190. 208. 214. 215. Browning El. 205. Büchmann 136. Buchtitel 85. Bülow 136. Bürger 16. 17. Byron 49.
Campe 10. Canon 95. Carlyle 108. 159. Cato 96. 139. 225. Cento 137.
Cervantes 175. 179. 214. Chamfort 196. Chamisso 95. 130. Charakteristik 169.
234
Register.
Charakterzeictjpung 165. Chateaubriand 61. 209. Cicero 61. 136. Citat 13. 135. 137. 156. constructio kata synesin 42.
54 76. contradictio in adiecto 40. 42.
Dante 202.
Daudet 50.
Daumer 85.
Definition 196.
Dehmel 216.
Demosthenes 225.
Detmold 171.
Dialekte 17.
Disposition 81. 146. 181. 198.
226. 227. Disraeli 50. Dissimilation 35. Dohm 194. Doppelsinn 26. Dorfgeschichte 204. Dumas 175. 177. Düntzer 72.
Einheitlichkeit 70 f. 82. 130. 160.
Elativus 54.
Eleganter Stil 215.
Elemente der Rede 5.
Elision 33.
Ellipse 55. 74. 75. 201.
Elster 110.
Emerson 158.
Enallage 204.
Engel J. J. 29.
Englische Literatur 136. 160.
175. 179. 189. Entwicklung der Rede 117. Epanalepsis 95. Epanodos 94. 95. Epigramm 183. 213. Epiphora 93. Episode 177. Epitheton 44 f. 129. 178. Epitheton ornans 47. Epizeuxis 38. Erzählung 160 f. 166 f. Esoterischer Stil 216. Essay 157 f. 192. Euphemismus 31. 107. Euphonie 33.
Euphuisraus 211. Exkurs 80.
Experimentairoman 178. Exposition 160.
Fachausdrücke 17.
Familiensprache 16.
Farbworte 52.
Fechner 28.
Feilen 23. 149.
Feuilleton 192. 214.
Fichte 65.
Fielding 175.
.Figaro" 189. 192.
figura etymologica 44. 55. 129.
Fischart 39.
Flaubert 50. 175.
Flugschrift 199.
Fontane 30. 138. 145. 157. 186.
216. Fontenelle 112. Formel 182. Formelbruch 35. 76. Frage 84. 87. Französische Literatur 48. 50.
61. 73. 107. 117. 121. 157.
170. 171. 189. 209. Freiligrath 207. Fremdwörter 18. Frejiag 8. 15. 29. 50. Friedrich Wilhelm IV. 83. Fries 59.
Gambetta 124.
Gattungen 152.
Geflügelte Worte 13. 23. 193.
225. Gegenrefrsin 97. Gegensau 121. 129. Geibel 88. 158. 208. Gemeinverständlichkeit 15. Genauigkeit 24. Gentz 59.
George St. 29. 82. 202. Gerber76. 105. 111. 112. 130. Gespräche 178. Gibbon 170. Gildemeister 158. Glasbrenner 35. Gleichnis 110. 112. 135. 139.
210. 212. Goncourt 48. 50. 61. 159.
Goethe 9. 10. 15. 17. 21. 25.
26. 27. 40. 41. 49. 51. 52.
54. 55. 57. 59. 62. 65 f. 71.
73. 74. 76f. 83. 86. 111.113.
121.128.130.137.141.142.
144.145.150. 151. 158. 161f.
170. 175f. 178. 180.184.186.
201 f. 210. Gottsched 16. Grabbe 204. Grabschrift 184. Gracian 157. Gradation 127. Grammatik 3. Greif 58. Grillparzer 30. 34. 92. 122.
130. 201. 205. Grimm Br. 91. 128. 166. 174. Grimm H. 20. 158. Grimm J. 11. 20. Grimmeishausen 175. Grün An. 140. Grj'phius 52. Gummere 110. Gutzkow 59. 176.
Haeckel 180.
Haller A. v. 17. 61.
Hamann 138. 212.
Hameriing 83. 206.
Harimann M. 126.
Hauff 163.
Häufung39. 43.91. 92.129.230.
Haupt M. 54. 80.
Hauptmann 204. 207.
Haym 218.
Hebbel 41. 159. 188.
Hebel 111. 170 f. 205.
Hegel 14.
Hehn 11. 19.
Heine 9. 34. 49. 50. 53. 55.
59. 64. 66. 126. 150. 188.
192. 211. 213. Heischesatz 84. 89. hcili 106. Helmholtz 181. Hennequin 218. Herder 10. 17. 58. 151. 163.
194. 202. 209. 222. Herwegh 139. Heyse 158. 174. 176. Hiatus 33.
Register.
235
Hildebrand R. 13. 17. 19. 25.
27. 28. 30. 34.54. 78. 161. Hillebrand 158. Historischer Stil 181. Hoffmann E. Th. A. 32. 61. Hoffmannswaldau 52. Holberg 207. '
Hölderlin 34. Holtei 134. Holz Arno 56. Homer 47. 77. 139. 141. 162. Huch Ric. 29. 178. 202. 203. Hugo V. 21. 41. 124. 210. Humanistenbriefe 186. Humboldt A. v. 52. 181. Humboldt W. v. 52. 181. Humor 213 f. Humoreske 171. 214. Humoristen 81. Hunt 153. Hyperbel 107. 200. 212. 215.
230. Hypotaxe 72. Hysteron proteron 131.
Jahn 10. 29. 41. Janin 192. Ibsen 195. 204. Ickelsamer 82. Idealismus 203. Idealistischer Stil 206. Idiotismus 15.
Jean Paul 21. 49. 53. 61. 64. 66. 81.123.141.153.205.206.211. Illusionismus 203. Immermann 30. 52. 138. 148.
150. 176. Individualisierender Stil 216. Individualität 217. Inhaltsangabe 182. Inschrift 139. 183. Interjektion 5. 155. Interpunktion 81. Ironie 107. 213. 214. Italienische Literatur 48. Jordan W. 178. Junges Deutschland 50. 205. Justi 80.
Kadenz 59. 61. Kanon 95. Kanzleistil 184. 208.
Katachrese 141. Kehrreim 96.
Keller G. 120. 171. IV 7. 178. kenning 106. Kette 128. Kiesel 56. Kirchhoff 179. Klangwirkungen 230. Klassizistischer Stil 216. Klausel 61. 66. Kleist Ew. V. 99. 140. Kleist H. V. 92. 99. 117. 162.
167. 203. 205. 211. Klimax 123. 127. Klinger 62. Klopstock 37. 49. 90. Komparativ 54. Konflikt 223. Kongruenz 42. 54. Konjunktionen 90. Konsonantenhäufung 34. 35. Kontinuität 98. 115. Kontrast 165. Konversation 231. Konzept 227. Köster 196. Krasis 34. Krause 12. Kuhurkampf 223. Kunstausdrücke 13. Künstlerroman 178. 207. Kunstwörter 17.
La Bruyere 157.
Lachmann 80.
La Rochefoucauld 157.
Laßwitz 174.
Lateinische Literatur 124.
Lateinische Sprache 61 . 65. 79.
Lateinischer Stil 215.
Lautsymbolik 29.
Lavater 49.
Lehrbuch 181.
Lehrstil 179.
Leipzig 17.
Leitartikel 193.
Lektüre 34, 148.
Lenau 128.
Lesen 34. 148.
Lessing 10. 16. 41. 62.64. 66 f.
82. 91. 117. 137. 141. 143.
162 f. 179. 196. 199. 213.
Lichtenberg 17. 49. 55. 213.
Lienhard 161.
Liliencron 14. 207.
Litotes 107. 215.
Lotze 83.
Löwenstein 194.
Lucan 134.
Ludwig I. von Bayern 37.
Ludwig O. 139. 201.
Luther 62. 199.
Lyrik 65.
Macaulay 65. 148. 158. 181. Malerischer Stil 210. Mann Th. 178. 203. Märchen 166. 200. 208. Mark Twain 57. Marinismus 211. Maupassant 191. Mauthner 101. Mehrdeutigkeit 77. Melodie 63. Metamorphose 163. Metapher 18. 102. 110 f. 142.
171. 203. 208. 210. Metonymie 100 f. 108. Meyer C. F. 23. Meyer R. M. 50. 96. Meyer Theodor A. 161. Militärische Beredsamkeit 224. Minnesang 36. Minor 15.
Modewörter 12. 193. Moment 201. Mommsen 170. 181. 213. Monnier 196. Monographie 181. Monologische Prosa 155. Montaigne 158. Mörike 35. 50. 52. 120. ,mot propre' 22. 51. Müller J. V. 58. 218. Münchener Dichterkreis 205. Mündlicher Vortrag 229. Mundt 65. 70. 185. Mythologie 210.
Nachtrag 81. Namengebung 29. Napoleon 205. Naturalistischer Stil 216. Naturbeschreibung 181.
236
Register.
Negation 88. Neologismus 9. Niedere Worte 21. Nietzsche 10. 16. 27. 31. 35.
50. 51.62. 66 f. 78. 83. 157.
158. 205. 212. Norden 59. Novalis 49. 212. Novelle 140. 168 f. 171. 174.
208. Nüchternheit 208. Numerus 57. 60 f. 65 f.
Objekt, inneres 44. Objektivität 178. 180. Ompteda 14. Onomatopöie 29. Owen 130. Oxymoron 40.
Palmerston 136. Pamphlet 199. 214. Panegyrikus 40. Parabel 112. 143. 197. 200. Parallelismus 98. 1 1 3. 1 23. 1 25. Parataxe 72. Parenthese 73. 79. Parlament 226. Parodie 137. 213. 217. pars pro toto 100. 102. 108 f. Pascal 157. Pathetischer Stil 211. Pathos 38.
Paulskirche 223. 225. Periodenbau 65. 72. 131. 208. Periphrasis 106. Personifikation 103. 200. 210. Philippi 2. 66.
Philosophischer Stil 181. 212. Pierson 59. Platen 23. 35. 195. Poesie und Prosa 5. 152. Poetik 1.
Poetische Sprache 204 f. 210. Politische Ausdrücke 14. Politische Prosa 184. 199. Polyptoton 36. 38. Polysyndeton 90. Porträt, literarisches 168. Postscriptum 81. Prevost 175. Priamel 39. 92.
Proanaphonema 204. Proanaphonesis 204. Proapantesis 204. Proasma 204. Pronomen 98. Prosarhjlhmus 58. Provinzialismus 16. 207. Publikum 203. 206. Purismus 10. 19. 106.
Racine 18.
Radowitz 138.
Ramler 107.
Randnotiz 79.
Ranke 16. 65. 120. 148. 170
181. Rätsel 107. 171. 174. Ratzel 181. Realistischer Stil 216. Rede 136. 190. 197 f. 224 f. Refrain 94. 96. Register 182. Reichel 59. Reim 114. Reimnot 58. Reimprosa 114. Rekapitulation 198. Reklamewörter 14. Reminiszenz 138. Responsien 97. Reuter Fr. 8. 17. 29. 98. Reuter Gabr. 177. Rhetortk 1. 42. 198. 221 f. Rhetorische Frage 212. Rhetorischer Stil 124. 209. Rh.vthmus 57 f. 61 f. 94. 97. Richardson 186. Riehl 127.
Roman 140. 174 f. 186. Romantik 10. 41. 49. 83. 107.
115. 138. 174. 211. Ronsard 48. 52. Rosegger 171. Rousseau 186. 202. Rückert 76.
Rührender Reim 36. 94. Rümelin 19. Runge 166.
Sachlichkeit 208. Sanders 7. Sandhi 32.
Saphir 130. Satire 213 f. Satz 56 f. 70 f. Satzarten 84 f. 153. Satzbilder 66. Satzbildung 229. Satzmelodie 63. Satzphonetik 32. Satzschluß 132. Satzteile 32.
Satzverbindung 89 f. 1 15. Scheffel 81.
Scherer 13. 65. 110. 111. 218. Scherr 10.
SchiUer 17. 21. 38. 40. 52. 58. 63. 67 f. 75. 76. 86. 90. 92 f. 98. 119. 121. 124. 126. 130. 133. 137. 138. 144. 151. 162f. 170. 171. 184. 197. 204 f. SchlagTi'orte 36. 225. Schlegel A. W. 51. 196. Schlegel Fr. 49. Schleiermacher 59. 65. 130. Schlesische Schule 205. Schmuck der Rede 230. Schnitzler 1%. Schönaich 49. Schopenhauer 16. 23. 158. Schroeder O. 15. 27. Schubin 85. Schwank 170. 171. Schwulst 211. Seneca 41.
Sentenz 135. 138. 155. Shakespeare 134. 142. 204. Sherman 65. Sievers 60. Silbenfall 60. Simrock 8. Skalden 106. SmoUet 175. Sokrates 195. 214. Solger 195. Soloecismus 6. Sophokles 41. Spannung 166. 177. Spencer 27.
Spielhagen 174. 176. 178. Sportwörter 13. 102. 112. Sprachgebrauch 219. Sprachmelodie 60. Sprachverein 19.
Register.
237
Sprichwort 135. 155. 169. Staatsschrift 184. Stahl Fr. J. 96. 225. Steigerung 53. Stendhal Beyle 25. Sterne 55. 81. Stil 66. 217. Stilgefühl 206. Stilistik 1. 3 f. 201. Stimmung 101. 167. Stoffwahl 206. Storm 29. 130. Strachwitz Gr. 50. 126. Strauß Fr. D. 83. Sturm und Drang 9. 48. Sue 175. 177. Sütterlin 20. Suttner B. v. 16. Swift 204. 213. 214. Symbol 125. Symbolische Sätze 87. Symbolisierender Stil 212. Symmetrie 163. Symplolie 94. Synel<doche 100. 102. 108 f.
144. Synonyma 24. 102. Syntax und Stilistil< 56.
Tacitus 58. 136. 138. 148. 170. Tagebuch 159. 185. 186. 189.
190. 215. Taine 52. Tautologie 43. Teichoskopie 165. Telegramm 186. Temperament 207. Tempo 60. 63. 130. Tendenzroman 178. Tennyson 128. termini technici 17. Thema 206. Theophrast 169. 170. Theremin 226. 228. Tieck 174. Tiedge 23. Totalität 176. Traumbild 163. Treitschke54.58. 181.209.212. Triolett 95.
Trojan 194. Tropen 99 f. Typisierender Stil 216. Typographische Hilfsmittel81 . 83.
Obergänge 150. Überraschung 171. Überschaulichkeit 70. Überschriften 85. 158. Übersetzen 23. Uhland 8. 22. 77. 89. 115. Umgebung 205. Umschreibung 105. Undeutlichkeit 77 f. Unterhaltung 231. Unterstreichen 83. 130. Untersuchung 195. Urteilsworte 12. 14. 193. Utopien 174.
Variation 112.
Variation des Subjekts 98.
Varnhagen v. Ense 148. 218.
Vergleichung 53.
Verneinung 88.
Verweisung 130.
Verwicklung 167.
Verzahnung 130. 151.
Viehoff 161 f.
Villers 186. 188.
Vilmar 48.
Vincke 136.
Virgil 75. 131.
Vischer 10. 14. 27. 41. 50. 59.
153. 161. 168. Vision 134. 230. Volksepos 163. Volksetymologie 28. 129. Volkslied 162. Volksrätsel 171. Volkstümlicher Stil 216. Vollständigkeit 70. 77. 83. 130.
160. Voltaire 213. 214. Voß J. H. 37. 52. Vulgäre Ausdrücke 21.
Wackernagel 2. 74. 75. 83. 90. 93. 100. 103. 105. 153. 185. 221.
Wagner R. 47.
Wahlspruch 139.
Walther v. d. Vogelweide 39.
93. Weber K. J. 145. Weimar 205. Weitschweifigkeit 205. Weltanschauung 216. Wernike 19. Widersprüche 151. 202. Wiederholungen 150. Wiederholung,epische92. 183. Wieland 23. 25. 34, 49. 150.
151. Wienbarg 50. 64. 66. Wilke 17. Wissenschaftliche Prosa 79.
118. 124. 179. 224. Witz 205. 206. 213 f. Witzblätter 194. Wolfram v. Eschenbach 111. Wortautnahme 95. 137. Wortklassen 27. Wortspiel 36 f. 125. 129. 213. Wortstellung 56 f. Wortverbindung 31 f. 37 f. Wortwahl 22. 102. 208. 215. Wortwiederholung 37. Wunderlich 3. 56. Wundt 59. 195. Wurzelschöpfung 12. Wustmann 7. 15. 27. 58.
Xenien 36.
Zahlen 109. Zählung 115. Zauberformeln 39. Zeit 203. - Zeitroman 176. Zeitschriften 191. Zeitung 188 f. 215. Zeitungsstil 191 f. Zeugma 55. Zitat 135. 137. 156. Zola 119. 150. 178. 179. Zusammengesetzter Satz 86. Zusammensetzung 1 1 . 26. 108. Zweiteilung 121. Zwillingsformeln 29. 123.
/t^ ^ ^IX^ ^ Sein t'ebcn unb leine äüerte
3n3rocisöuben Dr. ^Tlbctt iSielfi^otDSfi)
Sanb 1 mit Kraoürc: 3:tid)betns (5oetf)e in 3tnlten. 10. u. 11. 'ütufl. 30.— 36. Iniij. 3n Seinen geb. TOf. 6.— (3n feinitem Satbtalbleberbanb Wf. 8.50.)
<8anb II mit ©raoüre: Sticlers ©oetfje^^Porträt. 0. u. 10. 9111?!. 27.-33. 2quI. 3n Seinen geb. Ilif. 8.- (3n fctnftem §nlb!nlblebcrbnnb 9JH. lO.fiO.)
S8iclfd)owätt)S ®Detljc flcfiört, mie bet Sunftwart fagt, in icbeä 2cutt(^fn ^ouä, bct ü6et^oupt befähigt ift, (»oet^e geiftig mitauberi^eii.
Sotben ift fcrnet eti(!öienen unb loitb oUcn Sefitjftn bon Siet((^DtB?fl)ö 6iiJctt)e--
Siograptiif empfotilcn :
5rtet)eri!cunt)£Ui
günf(5odf)e»9rufiäl^e
üon Dr. Gilbert 'Sielf^oiDsti)
OTit einem 9Jn(f)ruf unb bem «ilbnis bes ikrfajjers. 13 '/a Sogen. 8°, fein geb. aiJf. 4.—.
3nf)Qlt : 9Jacf)nif Don 05ottF)olb ftlee. — grieberife Srion. — Über (£(i)tl)eit unb
(£t)VonoIogic ber Sejenfjeimer fiieber. — ©oet^es £ili. — Die Urbilber
3U öermann unb Dorotf)ea. — ßili unb Dorotl^ea.
Schiller
3n jtDei *5nnben
Sein ßeben unb feine 3ßerle
Don
5^avl 33erger
Sanb I mit Wrauüre: £cf)illcr im 27. Scbensjn^re dou Slnton ©raff. 3. burd) = gelegene 'Auflage (foeben erfii)ienen!). 7. — 10. Tauf. 3n Seinen geb. 9J?f. 6.— (3n feinjt. öalbtalbleberbanb Oüf. 8.50.) Sanb II foll im §erbft 190fi erfcfjeinen.
„Xaä neue Sci)incrbucf) teilt in ber lat bie Sigenatt ber !BieI|c4on)S(t;fc^en (SoetficciBiogtab^ie : mir fommen bem ®e(cl)ilberten ganj nafje unb empfinben bod; in jebera Slugenblict feine ^öbcrc 5Iatur."
(®cf)fimrat »Järof. Dr. aBilberm 5J!ündi in ber iKot.=Stg.) „Socfi man würbe niijt bie rccfite SteHung ju bem Sudie befonimen, roenn man ti nur nlä Seitenftücf ju 8ieIt(i)on)ätl)S (Soetbe auffalten moHte." (9fid)arb SBcitbrecfit in ber Sieiitfi^cn 3eitung.)
„Sie SRcfuItate ber neucfteu gorjtfjung in einer gemanbten, äroi[(i)en ber Sreite SBeltridiä unb bem 2aIoniä= inu§ SeHermannä gefd)ictt bie Mitte ^altenben SarfteHnng."
(Dr. Solob SMinor in ber SReuefl freien 9Sre({c.)
Si^tller
^rof. Dr. (gugcn 5^ii:^nemann
1. u. 2. 9lufl. 1905. 614 Seiten mit «Porträt. Sein gebunbcn iUif. 6.50.
%ai Sucf) lebt wir[li(^! Muäblide »on fiofter SBarte oetbinbcn überatt Sergangenfteit, ®egenroart unb
Sutunft beä fortfcfireitenben 8ebenä. ftüftnemannä Sud) büft jur 2eben«!(t)öBun3 in bSfierem Sinne er= jiefecn . . ." (tn .ilunftraart, erftcä TOaibeft 1905 lädjiHerbeft].)
„. . . 9lm meiftcn aber ftnb roir .(iüljnemann bafür bantbar, bafi er SdiiOer nnjerer (Äcgenwort, mit ibren moberncn Semegungcn unb Sebiirfniffcn gegenübcrgcftent Ijat: 'Bai ScfiiHer uns fein tann nnb fein foII! . . ."
(S)ie dtiriftlidie aSelt bora -t. Mai 11105.) „£er groBe @ett>inn unter ben ja^IIcifen TOeten ber jur ^abrbunbertfeier oeranftalteten Südierlotterie ift gugcn SfübnenmnnS Sdiillct . . ." (Dr. Ernft Xraunmnn in ber Sranffurtcr fleitung com 19. CIt. 1905.)
3o^annc5 33oIfeIt
otb. "Profcllor bcr 'Pi)ilo|op[)ie an ber Unioerlität ju 2cip3tg
Soeben erf(f)icnen :
5rüF)er erj(f)ien:
^ft^ett! bee Xragifi^en. Softem ber ^Ift^etü.
3tDeite umgearbeitete unb |tarf Derme{)rte » 3n 5roei Sänben »
Sluflogc. (grftcr Sanb.
1906.488 S. gr.S». ©et). aKf.O, geb. SRI. 10. 1905. 38Sog. gr.8». 3n £etni0.gcb.anf. 12.
©oet^e* u. 6(^illcr[tut)ien
fjeraiisgegebctt uon
Dr. Kobcrt ißctfi^.
Criter Sanb:
(5rrei^eit unb 91ota)cnbigfett in Scf)iUer5 X)ramcn
von
Dr. Kobcrt ißctfdj,
il5i:iDatb03cnten an bet Unioetiität fecibclberg.
1905. 19 58ogen. 8°. 9Jtt. 6.—.
^oeti!
Hubert Kocttcteit,
«Ptofcüor 011 bct UniDcriität SBfirjburg.
Crltct leil: Sorbemertungcn. ?nigc= meine *!lnalt)ie ber p(i)d)i(ci)en t^ov gänge beim ©enujj einer Sid)tung.
1902. 20 Sogen. 8 ". Kel). DH . 7 ; geb. «if . 8.
$ert)er.
Sein Seben unb feine 2ßer!e
uon
Dr. ^ugen Äüljnctnonn.
aiüt -;?orträt. Sein geb. 9)». 7.50.
„SBer iicrbor luirtlid) fiict)t, ti'itb mit SiT£|iiiiacn nad) .«üf)ucniann8 Scbenä» unb i«fifte«bilb greifen." 'iiational^^eitiing.)
granj C^rillparser.
Sein iicbcn unb jcinc "inerte
^profciior nn bct Unioetiität ju ifkrmont.gfrronb.
T)eut)d)c 5lusgabe
uon
aJlortft 9iedcr.
9JJit 12 ''l.lorträts unb 2 gatfimiles.
1902. 34 2?ogcn. 8». ©et), l'if. 0.50;
eleg. geb. 9.>if. 7.50.
Die 3bee im Drama
bei ©oet^e, Si^iller,
(Srillpaqer, RIeift.
»011
Dr. ani^ael Sex.
1904. IV, 314 e. 8°. ©el). OTf. 4.— ; geb. aJH. 5.—.
9JMr(^en, Sage unb Dii^tung.
Son
Dr. 5rtcbri(^ ^onjcr,
^tofetiot on bei aiobemic für Sojiol. unb Sanbelsn)iücni(I)Qftcn in gtonffurt a. 3J!.
1905. 4 Sog. II. 8». ©el). SDlf. 1.— .
5lant.
Sein Seben unb feine SBerte
uon
Dr. ÜR. Äroncnbcrg.
Dritte Sluflagc. 1905. aJüt '•:j.<ortTät. gein gebunben 5011.4.80.
.^ciii SBort bes Sobe* ii't su oiel für bic Srt, nie ber Sicrfailer bic (ciiroicngftfn Bbilciorbi(*cn '3ro. bleme bem Üaicnccrftänbnii nabf bringt unb ^nterelie für bie innere Sntmidlung Ront« ju errejen roeife." (.granlfurter Seitung.)
genri! 3b[en.
9?on
*Romon SBoentcr.
0. 'iUofcüor on bcr Uniocriitöt gtciburg i. S.
Crjtcr Sanb. 1828—1873. 1901. VH,
404 <B. S". ©et). 9)t{. 8. — ; in Semen.
banb H». 9.—.
C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung (Oskar Beck) in München.
Handbuch
der
klassischen Altertums -Wissenschaft
in systematischer Darstellung
mit besonderer Rücksicht auf Geschichte und Methodik der einzelnen
Disziplinen.
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*I. Band: Einleitende und Hilfsdisziplinen. Zweite sehr vermehrte, teilweise völlig neubearbeitete Auflage. Mit alphab. Register. 57 Bog. Lex.-S». Preis geh. \5J/:, geb. \1 J(.
A. Grundlegung und Geschichte der Philologie, von Geheimrat Dr. v. Urlichs (Würzburg).
B. Hermeneutik und Kritik, von Professor Dr. Blass (Halle).
C. Paläographle (mit 6 lithographierten Schrifttafeln), Buchwesen und Handschriftenkunde, von
demselben.
D. Griechische Eplgraphik (mit einer Schrifttafel), von Prof. Dr. 1,'arfeld (Remscheid).
E. Römische Eplgraphik, von Professor Dr. E. Hübner (Berlin).
F. Chronologie, von Professor Dr. Unger (Würzburg). O. Metrologie, von Professor Dr. Nissen (Bonn).
*II. Band, 1. Abtlg.: Griechische Grammatik (Lautlehre, Stammbildungs- und Flexions- lehre und Syntax) von Prof. Dr. Karl Brugmann (Leipzig). Dritte Auflage. Mit einem Anhang über Griechische Lexikographie von Prof. Dr. Leopold Cohn (Breslau). Mit Wort- und Sachregister. 41 Bog. Lex.-8». Geh. 12 JL; geb. 14^«
*II. Band, 2. Abtlg.; Lateinische Grammatik (Laut- und Formenlehre, Syntax und Stilistik) von Prof. Dr. Friedrich Stolz (Innsbruck) und Qymnasialdirektor J. H. Schmalz (Rastatt). Dritte Auflage. Mit einem Anhang über Lateinische Lexiko- graphie von Prof. Dr. Ferdinand Heerdegen (Erlangen). 37 Bog. Lex.-S». Geh. 11 J/.; geb. 13. J'
*1I. Band, 3. Abtlg.; Rhetoril< von Dr. Richard Volkmann, weil. Qymn.-Dir. in Jauer. Neubearbeitet von Gymn. -Rektor K. Hammer (Würzburg) und Metrik nebst einem Anhang über die Musik der Griechen von Prof. Hugo Qleditsch (Berlin). Dritte Auflage. 22 Bog. Lex.-S». Geh. 8 .'« 80 .j,; geb. 10 .« 60 c3.
III. Band, 1. Abtlg., I.Hälfte,, Grundriß der Geographie und Geschichte des alten
Orients, von Prof. Dr. Hommel (München). 1. Hälfte Bog. 1 — 25 nebst provisor. Register. Geh. .//. 7.50. (Die 2. Hälfte erscheint Ende 1906.)
III. Band, 2. Abtlg., 1. Teil; Geographie von Griechenland und den griechischen Kolonien, von Prof. Dr. Eugen Oberhummer (Wien). [In Vorbereitung.]
IlLBand, 2. Abtlg., 2. Teil: Topographie von Athen, von Prof. Dr. Walter Judeich (Erlangen). 26'/i Bog. mit 48 Textabbildungen, einem Stadtplan im Maßstab von 1 : 5000, einem Plan der Akropolis im Maßstab von 1 : 1000 und einem Plan des Peiraieus im Maßstab von 1 ; 15000. Geh. 18 Jf. In Halbfranz geb. 20 J(-
*III. Band, 3. Abtlg., 1. Hälfte: Grundriß der Geographie von Italien und dem Orbis Romanus, von Prof. Dr. Jul. Jung (Prag). Zweite umgearbeitete u. vermehrte Auflage. Mit alphab. Register. 12 Bog. Geh. 3 c.« 50 A
*in. Band, 3. Abtlg., 2. Hälfte; Topographie der Stadt Rom, von Gymn.-Dir. Prof. Dr. Otto Richter (Berlin). Zweite vermehrte u. verbesserte Auflage. 26 Bog. Lex.-8". Mit 32 Abbildungen, 18 Tafeln u. 2 Plänen des antiken und des modernen Rom. Geh. 15 Jf. V^ In Halbfranz gebundene Exemplare der vollständigen 111. Abtei- lung des III. Bandes — Geographie von Italien und Topographie der Stadt Rom — sind zum Preise von 20 Jf. 50 J). zu beziehen.
*III. Band, 4. Abt lg.: Grundriß der griechischen Geschichte nebst Quellenltunde, von Prof. Dr. Robert Pöhlmann (München). Dritte neu bearbeitete Auflage. 1906. 20 Bog. Geh. b Ji. 50 rj. In Halbfranz geb. 7,// 20 c) (Soeben erschienen!)
*III. Band, 5. Abtlg.: Grundriß der römischen Geschichte nebst Quellenkunde, von Prof. Dr. Benedictus Niese (Marburg). Dritte umgearbeitete u. vermehrte Auf- lage. 1906. 26 Bog. Geh. 7 ^ 20 4 In Halbfranz geb. 9 ^ (Soeben erschienen!)
*IV. Band, 1. Abtlg., 1. Hälfte; Die Griechischen Staats- und Rechtsaltertflmer, von Prof. Dr. G. Busolt (Kiel). Zweite umgearbeitete Auflage. Mit Register. 24 Bog. Geh. 6 .^ 50 ,J) In Halbfranz geb. 8 J(.
*IV. Band, 1. Abtlg., 2. Hälfte: Die Griechischen Privataltertümer von Prof. Dr. Iwan V. Müller (München). Die Griechischen Kriegsaltertümer von Prof. Dr. Ad. Bauer (Graz). Mit 11 Tafeln. Mit Register. Zweite umgearbeitete Auflage. 32'/2 Bog. Geh. ^ M bd S} In Halbfranz geb. 10 J(. 30 *
*IV. Band, 2. Abtlg.: Die Römischen Staats-, Rechts- und Kriegsaltertümer von Prof. Dr. Schiller (Leipzig). Mit 3 Tafeln. Die Römischen Privataltertümer und römische Kulturgeschichte von Prof. Dr. Mor. Voigt (Leipzig). Zweite umge- arbeitete Auflage. Mit Registern. 30'/^ Bog. Lex.-8». Geh. 8.-« In Halbfranz geb. 9.« 80^.
*V. Band, 1. Abtlg. : Geschichte der alten Philosophie, von Prof. Dr. Windelband (Straßburg) nebst einem Anhang über die Geschichte der Mathematik und Natur- wissenschaften im Altertum, von Prof. Dr. Siegmund Günther (München). Zweite sorgfältig durdigesehene Auflage. 20 Bog. Geh. 5 .^ 50 A ; geb. 7 .ä 20 A
V.Band, 2. Abtlg.: Griechische Mythologie und Religionsgeschichte. Von Dr. O. Gruppe, Prof. in Berlin. Erste Hälfte. 24 Bog. Geh. 1 J/. Zweite Hälfte. 1. u. 2. Lieferung (Bog. 25—72). Geh. ä 7 Jf. 3. Lieferung (Bog. 73—121, nebst Titelbogen zu Band I u. II). Geh. \b Jf. (Soeben [Frühjahr 1906] erschienen! Gruppe's Griechische Mythologie liegt nunmehr in 2 Bänden geh. 36 t/*!, geb. AO JL abgeschlossen vor.)
*V. Band, 3. Abtlg.: Griechische Kultusaltertümer. Von Prof. Dr. Paul Stengel (Berlin). Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Mit 5 Tafeln. 15 Bog. Geh. 5Jf:, geb. & J(, 50^,
V. Band, 4. Abtlg.: Religion und Kultus der Römer. Von Prof. Dr. G. Wissowa
(Halle). 35 Bog. Geh. 10 ,ä; geb. 12 .«
VI. Band: Archäologie der Kunst, mit einem Anhang über Numismatik von Prof. Dr.
Sittl (Würzburg). Geh. \% J/ 50 A ; geb. 18 .>S 50 cj. [Der zur Archäologie der Kunst gehörige Atlas, über 1000 Abbild, auf 65 Tafeln enthaltend, kostet kart. 13 .<« 50 f3.; in Halbfranzband 17 ./< 50 rJ]
*Vn. Band: Griechische Literaturgeschichte, von Prof. Dr. v. Christ (München). Vierte Auflage. Mit Register. Nebst Anhang von 43 Porträtdarstellungen aus der griechi- schen Literatur nach Auswahl von A. Furtwängler und J. Sieveking. Text von J. Sieveking. 63 Bog. Geh. 17 J/. 50 !>; geb. 19 .« 50 A
*VIII. Band: Geschichte der römischen Litteratur, von Prof. Dr. M. Schanz (Würzburg).
♦/. Teil: DU römische Litteratur in der Zelt der Republik. 3. Auflage im Druck. — '2. Teil, erste Hälfte: Die aug^ustlsche Zelt. jMit alphab. Register. 2. .Auflage. 24 Bog. Lex.-8". Geh. 7,4(: in Halbfranz geb. 8 .« 50 ^ — *2. Teil, zweite Hälfte: Vom Tode des Augiistus bis zur Re- gierung Hadrlans. Mit alphab. Register. 2. Auflage. 27 Bog. Lex.-8 . Geh. 7 ,« 50 ^ ; in Halb- franzband 9,«— *3. Teil: Die römische Litteratur von Hadrian bis auf Constantln (324 n. Ch.) 2. Auflage. 33 Bog. Lex. -8". Geh. 9,«; geb. \ü Jt HO 4. — 4. Teil, erste Hälfte; Die Litteratur des 4. Jahrhunderts. 32 Bog. Lex.-8". Mit Register. Geh. 8 .* 50 ej ; geb. 10 .« (Die zweite Hälfte des 4. Teils erscheint baldmöglichst.)
*IX. Band, 1. Abtlg.: Geschichte der byzantinischen Litteratur von Justinian bis zum Ende des oströmischen Reiches (527—1453) von Prof. Dr. Karl Krumbacher (München). Zweite Auflage bearbeitet unter Mitwirkung von Prof. Dr. A. Ehr- hardt (Würzburg) und Prof. Dr. H. Geizer (Jena). 75^/4 Bog. Lex.-S». Geh. 24^; in Halbfranzband geb. 26,*: 50 A
IX. Band, 2. Abtlg.: Geschichte der römischen Litteratur im Mittelalter von Dr. M.
Manitius. [Erscheint baldmöglichst.)
In 2. bezw. 3. Auflage erschienen sind die mit * bezeichneten Bände und Abteilungen, nimllch: Band 1. II. III, 1, 1. 111,2,2.111, 3. III, 4. 111,5. IV, 1, i. IV, 1, ;. IV, 2. V, 1. V,3. VII. VIII, 1. VIII, 2. i.i. VIII, 3. IX, 1.
Jeder Band ist auch einzeln zu haben. ^^^^— ^—
C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung (Oskar Beck) in München.
Handbuch
der
Erziehungs- und Unterrichtslehre
für höhere Schulen.
In Verbindung mit den Herren Arendt (Leipzig), Brunner (München), Dettweiler (Darmstadt), Fries (Halle), Glauning (Nürnberg), Günther (München), Jaeger (Bonn), Kießling (Hamburg), Kirchhoff (Halle), Kotelmann (Hamburg), Loew (Berlin), Matthaei (Kiel), Matthias (Berlin), Münch (Berlin), Plew (Straßburg), Schimmelpfeng (Ilfeld), Simon (Straß- burg), Toischer (Prag), Wendt (Karlsruhe), Wickenhagen (Rendsburg), Zange (Erfurt), Ziegler (Straßburg) u. a.
herausgegeben von
Dr. A. Baumeister.
Erster Band, 1. Abteilung:
A. Geschichte der Pädagogik mit besonderer Berücksichtigung des höheren Unterrichtswesens von Dr. Theobald Ziegler, ord. Professor an der Universität Straßburg. 2. neubearbeitete und vermehrte Auflage. 1904. 25 Bog. Geh. 7 Jk In Leinen geb. %-jfi In Halbfranz geb. 8^7(^504
Erster Band, 2. Abteilung:
B. Die Einrichtung und Verwaltung des höheren Schulwesens in den Kulturländern von Europa und in Nordamerika, in Verbindung mit zahlreichen Mitarbeitern unter Redaktion des Herausgebers. 57 Bog. Geh. \^ JL In Halbfranz geb. 18 .Ä
Zweiter Band, L Abteilung:
A. Theoretische Pädagogik und allgemeine Didaktik von Dr. Wendelin Toischer, Professor am I. deutschen Gymnasium in Prag.
B. Die Vorbildung der Lehrer für das Lehramt von Dr. Wilhelm Fries, Geh. Reg.-Rat, Direktor der Francke'schen Stiftungen in Halle. Geheftet 7 JL 50 cj. In Halbfranz geb. 9 .A
IW Die beiden Unterabteilungen A und B: Toischer, Theoretische Pädagogik und allgemeine Didaktik, und Fries, Die Vorbildung der Lehrer für das Lehramt, sind auch gesondert zu haben ä \JI. geheftet.
Zweiter Band, 2. Abteilung, 1. Hälfte:
Praktische Pädagogik für höhere Lehranstalten. Von Dr. Adolf Matthias, Geh. Ob. -Reg.-Rat u. vortragendem Rat im k. preuß. Kultus- ministerium. 2. neubearbeitete und vermehrte Auflage. 1903. 17 Bog. Geh. 5 .lk.\ in Leinen geb. 6 Jk
Zweiter Band, 2. Abteilung, 2. Hälfte:
Schulgesundheitspflege. Von Dr. phil. et med. Ludwig Kotelmann in Hamburg. 2. neubearbeitete und vermehrte Auflage. 1904. 14 Bog. Geh. 5/6; in Leinen geb. 6 Ji
wm- Bd. II, 2. Abteilung — Dr. A. Matthias, Praktische Pädagogik. 2. Aufl. und Dr. L. Kotelmann, Schulgesundheitspflege. 2. Aufl. — in Halbfranz ge- bunden Jt 12. — .
Dritter Band. Didaktik und Methodik der einzelnen Lehrfächer. Erste Hälfte.*)
1. Protestantische Religionslehre von Dr. Friedrich Zange, j Band III, 4. Abtlg. Direl<tor des Realg^■mnasiums in Erfurt jlSBog. Qth.ö-JCöO^
II. Katholische Religionslehre von Joh. Nep. Brunner, Reli- j Band III, 5. Abtlg.
, gionslehrer an der kgl. Luitpold-Kreisrealschule in München. i4'8Bog. Geh. 1-^20^
III. LateinischvonGeh.OberschulratProf.Dr.PeterDettweiler. I
•2. neubearbeitete Auflage 1906. I Band ID. 1. Abtlg.
VIII. Geschichte von Dr. Oskar Jäger, Gyranas.-Direktor a.D.; [ '• """^ ^- ^^^^ o. Honorarprofessor an der Universität Bonn. 2. Aufl. 1904. I
IV. GriechischvcnGeh.OberschulratProf.Dr.PeterDettweiler. ( g B^"g Geh^'l'!#'^'A
V. Französisch von Dr. Wilhelm Münch, Geh. Regierungsrat | r, j m 9 »htio und L'niversitätsprofessor in Berlin, i. umgearbeitete und , „.°,f/"' r^uAjf vermehrte Auflage 1902. * 1- "^^^^ °^^ * "*
VI. Englisch von Dr. Friedrich Glauning, Professor und | p . jj. ^ AhtlEr Stadtschulrat in Nürnberg. 2. umgearbeitete und vermehrte o H?if.= r-«u o^&i Auflage 1903. ) 2. Haltte. Geh. 2-.^ 50^
VII. Deutsch von Dr. Gustav Wendt, Geheimrat und Direktor / Band III, 3. Abtlg. des Gymnasiums in Karlsruhe. 2. Aufl. 1904. > lOBog. Geh. 3ukS)^
Band III komplett. Preis geh. 24 ^ 50 c* ; in Halbfranz geb. 27 Jl.
Vierter Band. Didaktik und .Methodik der einzelnen Lehrfächer. Zweite Hälfte.*)
IX. Rechnen und iMathematik von Dr. iMax Simon, Pro- /
fessor am Lyceum in Straßburg. ( Band IV, 1. Abtlg.
X. Physik von Dr. Kießling, Professor an der Gelehrten- 1 12' 1 Bog. Geh. 4 .4:
schule des Johanneums in Hamburg. '
XI. Mathematische Geographie von Dr. Sigmund Günther, . Rand IV '> Abtlg
Professor am Polvtechnikum in .München. L , «-„- '; ~" c„_,2,'„
Xn. Erdkunde von Dr. Alfred Kirchhoff, ord. Professor der . -• Auiiage un aommer
Erdkunde an der Universität Halle. '
XIII. Naturbeschreibung von Dr. E. Loew, Professor am k. Real- ■
gjmnasium in Berlin. ( Band FV, 3. Abtlg.
XrV. Chemie von Dr. Rudolf Arendt, Professor an der öffent- 1 11 Bog. Geh.3^4:50A.
liehen Handelslehranstalt in Leipzig. '
XV. Zeichnen von Dr. Adelbert Matthaei, Professor an der 1
Universität Kiel. ( Band I\', 4. AbÜg.
X\l. Gesang von Dr. Johannes Plew, Oberlehrer am Lyceum i 9Vt Bog. Geh. 3€ in Straßburg. '
XVn. Turnen und Jugendspiele von Professor Hermann ( Band IV, 5. Abtlg.
Wickenhagen in Rendsburg. »6Bog. Geh. 1=^80A
Band IV komplett. Preis geh. 14 .A 80 .^; in Halbfranz geb. 16 .^ 80 A
*) B^ Außer der Band- und Abteilungsausgabe der .Didaktik und .Methodik der einzelnen Lehrfächer" stehen von den einzelnen Fächern auch folgende Sonderausgaben zjr Veifügung: Zange, Didaktik and Methodik des evangelischen Retigionsanterrithts. Geh. 5jk 30^. : geb. Sjl 50^ Brunner, Didaktik und Methodik der katholisdien Religionslehre. Geh. I .A 20 A: geb. 2 Jl 20 4. DetticeiUr, Didaktik and Methodik des lateinisdien L'nterridits. Zweite An/tage erscheint im
.April 1906. Dettweiler, Didaktik and Methodik des griediisdien Unterrithts. Geh. t Jl 904.: geb. 2jk 90^ Oskar Jäger, Didaktik and Methodik des Gesdiiditsanterridits. S. Auflage 1905. Geh. 2 .» 53 ^j geb.S.A S04. Mänth. Didaktik and Methodik des fraazösisdien L'nterridits. 3. umgearbeitete and vermehrte Auf- lage 1902. Geh. 4 ,M.: geb. 5 .* Glauning, Didaktik and Methodik des engUsdien Unterrithts. S. umgearbeitete und vermehrte Auf- lage 1903. Geh. 2 .IL 50 ^ : geb. J .« 5J a Wendt, Didaktik und Methodik des deutschen Unterrichts. S. Auflage 1905. Geh. 3 MÖO J^: geb. 4 Jl 50 ^ Simon u. Kießling, Didaktik and .Methodik des Unterrichts in Rechnen. .Mathematik and Physik. Geh.4Jl30^ Günther u. Kirchhoff, Didaktik und Methodik des Unterrithts in der mathematischen Geographie aitd
in der Erdkunde. (Ztreite .Auflage ersehet nt im Sommer I906.'i Loea, Didaktik und .Methodik des Unterrichts in der Saturbeschreibung. Geh. 2 JL 20 ^: geb. 3 Jl 20 ^ Arendt, Didaktik und Methodik des Unterrichts in der Chemie. Geh. 1 Ji SO 4.: geb. 2JI »4. Matthaei. Didaktik und Methodik des Zeichenunterrichts. Geh. 2 Jl : geb. 3 Jl Pletv, Didaktik and Methodik des Gesangunterrichts. Geh. 1 ji 20 A: geb. 2 JL 20 4. Wickenhagen, Didaktik und Methodik des Turnunterrichts. Geh. 2 Jl: geb. 3 Jl
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