M^ OH 307.. D 8A r DIE BIOLOGIE ALS SELBSTÄNDIGE GRÜNDWISSENSCHAFT UND MS SYSTEM DER BIOLOGIE EIN BEITRAG ZUR LOGIK DER NATURWISSENSCHAFTEN VON X^"W -D LH □ i-q o _____ CD CD- ^B i HANS DEIESCH /^/^ HEIDELBERG JLU | L I B R A R Y ZWEITE, DURCHAUS UMGEARBEITETE AUFLAGE 83 A LEIPZIG VERLAG VON WILHELM ENGELMANN 1911 TERLAG VON WILHELM ENGELMANN IN LEIPZIG Schriften von Hans Driesch Philosophie des Organischen GifFopd -Vorlesungen, gehalten an der Universität Aberdeen in den Jahren 1907—1908 Zwei Bände. (I.: XV u. 333 S. IL: VIII u. 401 S.) 8. Geheftet^ *t// 17.— Die Biologie als selbständige Grundwissenschaft und das System der Biologie * Ein Beitrag zur Logik der Naturwissenschaften'^ Zweite, durchaus umgearbeitete Auflage (VII u. 59 S.) 8. .U 1.20 Die Lokalisation morphogenetischer Vorgänge Ein Beweis vitalistischen Geschehens Mit 3 Figuren im Text. (82 S.) gr. 8. J( 2.40 (Sonderdruck aus: »Archiv für Entwickelungsmechanik« VIII. Band, I.Heft) Analytische Theorie der organischen Entwidmung Mit 8 Textfiguren. (XIV u. 185 S.) 8. Jl 3.— Die organischen Regulationen Vorbereitungen zu einer Theorie des Lebens Mit einer Figur im Text. (XVI u. 228 S.) gr. 8. Ji 3.40 Die ,,Seele" als elementarer Naturfaktor Studien über die Bewegungen der Organismen (VI u. 97 S.) gr. 8. Jl 1.60 Naturbegriffe und Natururteile Analytische Untersuchungen zur reinen und empirischen Naturwissenschaft (VIII u. 239 S.) gr. 8. Jl 4.— a DIE BIOLOGIE ALS SELBSTÄNDIGE GRUNDWISSENSCHAFT UND DAS SYSTEM DER BIOLOGIE EIN BEITRAG ZUR LOGIK DER NATURWISSENSCHAFTEN VON HANS DRIESCH (HEIDELBERG) ZWEITE, DURCHAUS UMGEARBEITETE AUFLAGE ^^^ LEIPZIG VERLAG VONT WILHELM ENGELMANN 1911 Copyright 1911 by Wilhelm Bngelmann, Leipzig. Druck von A. Hopf er in Burg b. M. -Tf^' Vorwort zur zweiten Auflage. Als ein Parergon, inmitten rein logischer Untersuchungen, die ihrem Gegenstand teilweis nicht fremd waren, habe ich die zweite Auflage dieser Schrift besorgt. Sie handelt von den gleichen Gegenständen, von denen die erste handelte, aber sie ist doch eine neue Schrift; anfangs dachte ich an die Übernahme einiger Paragraphen aus dem Original; aber es ging nicht an, wollte ich nicht das, was man Stilreinheit nennt und mit Recht auch von rein gedanklicher Arbeit fordert, ganz bei Seite stellen. Man mag mit 43 Jahren über sehr viele Dinge im Prinzip noch ebenso denken wie mit 25; eine andere Tönung gleichsam haben sie doch alle gewonnen. Die Neuauflage dieser Schrift fällt in eine Zeit, in der die deutsche Biologie große Förderung für sich erhofft: Reiche Mittel sind zur Verfügung zur Gründung von Stätten für reine Forschung. Wenn da auch der experimentellen Zoologie, der so lange hintangesetzten experimentellen Morphologie zumal, also der Entwicklungsmechanik Wilhelm Roux', ihr Recht wird, dann werden die deutschen Begründer dieser Wissenschaft nicht mehr zu sagen brauchen, daß ihre Saat eigentlich nur auf amerikanischem Boden wahrhaft aufgegangen sei. Auch darf wohl der Hoffnung Raum gegeben werden, daß der experi- — lY — inentellenund der kritisch-theoretischen, der naturphilosophischen Biologie auch im Rahmen der Universitäten endlich ihr Recht werde. Bis jetzt ist zwar nicht die Botanik, wohl aber die Zoologie an deutschen Universitäten fast ausnahmlos betrieben worden — nun, sagen wir, wie die Physik behandelt werden würde, wollte man alles Experimentelle und jede ge- danklich-kritische Überlegung von ihr fern halten. Dieses Gleichnis gibt, so unglaublich es scheinen mag, in der Tat den Zustand der Dinge bei uns zutreffend wieder. In der ersten Ausgabe dieser Schrift sagte ich: „ohne stete Berührung mit der Erkenntnislehre ist eine fruchtbare Naturwissenschaft unmöglich". Ich würde heute nicht „Er- kenntnislehre", sondern Ordnungslehre sagen — aber seinem eigentlichen Inhalte nach vertrete ich diesen Satz heute wie vor 18 Jahren. Ja, es ist leider immer noch notwendig, ihn mit besonderem Nachdruck wieder und wieder auszusprechen. Denn es gibt sowohl Philosophen wie auch namentlich Natur- forscher, welche anders denken. Die Philosophen, welche anders denken, besitzen wohl stets, oft vielleicht ohne sich dessen ganz bewußt zu sein, ein klein wenig von Selbstüberhebung gegenüber der Naturwissen- schaft: mögen die Naturforscher nur philosophisch im Rohen bleiben, so sagen sie, wir werden ihre Sachen logisch schon in Ordnung bringen. Ganz abgesehen von der unberechtigten Auf- stellung gleichsam eines Rangunterschiedes zwischen „Philo- sophen" und „Naturforschern", der in solcher Auffassung zum Ausdruck kommt, ist sie auch darum für die Philosophie selbst schädlich, weil gewisse „Sachen" natur- theoretischer Art eben nur bei sehr gründlicher Sachkenntnis logisch in Ordnung gebracht werden können. Will der Philosoph dem unphilo- — V — sophischen Naturforscher also gleichsam mildernde Umstände Zubilligen, so hätte er im eignen Interesse sich zum mindesten seinerseits eingehend mit Naturtheoretischem zu beschäftigen. Das tut er aber vielfach nicht. Da muß er denn doch eigentlich das Dasein von solchen, die Naturwissenschaft und Philosophie in einer Person vereinigen, geradezu fordern. Viele Naturforscher andererseits meinen, Logik und Kate- gorienlehre seien eine recht leere Sache, deren Betrieb wohl gar die eigentliche Tatsachenforschung hemme, die denn doch das allerwich tigste sei. Sie vergessen, daß sie selbst stets unter logischen und kategorialen Gesichtspunkten arbeiten, nur daß sie nicht ganz klar darum wissen, ja, daß ihre Unter- suchungen, mögen sie auch so, wie sie sind, gut sein, doch noch besser sein würden, hätte man sich nur um die Ge- winnung ganz klarer Einsicht in Sachen der Logik und Kategorienlehre bemüht. Naturforschung ohne Philosophie ist hlind^ Philosophie, zumal Kategorienlehre, ohne Naturforschung ist leer — mit dieser Variation eines bekannten kantischen Wortes darf wohl dem, was wir meinen, ein kurzer Ausdruck gegeben werden. Unter der jüngeren Generation der Naturforscher wächst das philosophische Interesse von Jahr zu Jahr; das weckt Hoffnungen für ein gesundes Verhältnis zwischen Naturforschung und Philosophie in der Zukunft. Eine Jugend, welche Philo- sophie will, werden die Philosophiefeinde unter den Natur- forschern in ihi-em Vorwärtsschreiten nicht hindern. Heidelberg, 26. April, 1911. Hans Driesch. !^ß ■*-*-' •S: / Inlialt. Seite I. Die Selbständigkeit der Biologie. 1. Vom Begriffe der Selbständigkeit einer Wissenschaft ... 1 2. Einiges aus der Lehre vom Werden 6 3. Von der möglichen Selbständigkeit der Biologie 17 4. Kritische imd dogmatische Wissenschaft 20 n. Das System der Biologie. 1. System als Begriffsgliederung 26 2. Die praktisch vorliegenden Zweige der Biologie 28 3. Die beiden Grundkonstituenten der Biologie 32 4. Von der Biologie als Gesetzeswissenschaft 33 5. Die Aufgaben der Lehre von der Formbildung 37 6. Einiges über die Lehren vom Stoffwechsel und von den organischen Bewegungen 46 7. Die biologische Systematik 52 <^?M L Die Selbständigkeit der Biologie. 1. Vom Begriffe der Selbständigkeit einer Wissenschaft. Von der Selbständigkeit einer Wissenschaft kann in zwiefachem Sinne geredet werden, in einem unbestimmten, gleichsam populären, und in einem strengen. Im unbestimmten Sinne, der zugleich der Sinn des täg- lichen Lebens ist, wird eine Wissenschaft selbständig genannt, wenn die Gegenstände, mit denen sie sich abgibt, eine von anderen auf den ersten Blick wohl abgegrenzte Gruppe bilden. In diesem Sinne sind die Chemie, die Geologie, die Geschichte, die Nationalökonomie „selbständige" Wissenschaften. Es be- darf auch keiner besonderen Überlegung, um einzusehen, daß in diesem Sinne die Biologie, die Lehre vom Lebendigen, eine selbständige Wissenschaft ist; niemand bezweifelt das. Einer Wissenschaft Selbständigkeit im strengen Sinne des Wortes einzusehen, ist aber keine so leichte, keine so auf der Oberfläche liegende Angelegenheit. Ja, selbst dann bedarf der Nachweis der Selbständigkeit einer Wissenschaft eines guten Teils von Überlegung, wenn gar nicht einmal den letzten Tiefen des denkmäßig Erreichbaren nachgegangen werden soll, wenn also — wie in dieser Schrift geschehen wird — Begriffe wie Wissenschaft, Gegenstand^ Natur, Gesetz und andere als Driescli, Biologie. 2. Aufl. 1 gewissermaßen erledigt, als für die Zwecke des zu Unter- nehmenden hinreichend klar und deutlich vorausgesetzt werden. Welche Kennzeichen der Selbständigkeit einer Wissen- schaft kann es denn nun überhaupt geben, wenn der Begriff der Selbständigkeit strenge gefaßt werden, sich also nicht mit praktisch gegenständlicher Selbständigkeit decken soll? Um in dieser Frage zu einer Entscheidung zu gelangen, gibt es offenbar zwei Wege, deren erster sich in zwei Sonderbahnen zerteilte. Der erste dieser Wege, derjenige also, welcher sich weiter- hin spalten wird, geht von der vorliegenden praktischen Selb- ständigkeit eines Wissensgebietes aus und fragt, ob sie zu Recht bestehe. Wie denn könnte sie zu Recht bestehen? Offenbar würde dann von einer strengen Selbständigkeit eines praktisch selbständigen Wissensgebietes zu reden sein, wenn seine letzten, allgemeinsten Ergebnisse etwas aussagen würden, das sich nicht irgendwie auf die letzten allgemeinsten Ergebnisse irgendeiner anderen Wissenschaft zurückführen, sich also nicht irgendwie aus ihnen ableiten, mit ihrer Hilfe darstellen läßt. Wie aber soll das entschieden werden? Es könnte jedenfalls nur entschieden werden, nachdem eine praktisch selbständige Wissenschaft in gleichsam naiver Weise lange Zeit hindurch schon gearbeitet hat, nachdem sie schon zahlreiche Ergebnisse zeitigte und gleichsam vorlegte. Aber auch dann müßte zum Nachweis der wahren Selbständigkeit eines Wissensgebietes noch etwas hinzukommen, ein Etwas, das gleichsam die Instanz darstellt, welcher das Urteil über echte Selbständigkeit oder Unselbständigkeit zukommt. Das kann nicht dem zur Unter- suchung stehenden Wissensgebiete selbst angehören, es muß über ihm stehen, wie es über allen zum Vergleiche vorliegenden Wissensgebieten steht. Ist es denn selbst ein ..Wissensgebiet"? — 3 — Man mag es so nennen, ob man es schon besser als „Vor- wissenschaft" oder ähnlich bezeichnen möchte. Es ist, das Wort in seinem weitesten Sinne verstanden, die Logik, die sich passend auf deutsch als allgemeine Lehre von der Ordnung des Erlebten, also auch der Natur, bezeichnen läßti). So übergibt also der erste der Sonderwege, auf denen sich das Problem der Selbständigkeit einer Wissenschaft verfolgen läßt, die Entscheidung seiner Aufgabe letzhin der Logik; sie ist das Forum, dem die endgültige Entscheidung zusteht: sie allein; alles w^as die auf ihre wahre Selbständigkeit hin zu prüfende Sonderwissenschaft leistete, war nur Vorarbeit für diese ihr selbst nicht zustehende Entscheidung, auch das strenge Herausarbeiten ihrer wahrhaft letzten Aussagen. Aber noch in anderer Weise können die praktisch vor- liegenden Wissenschaften in der Selbständigkeit ihres tat- sächlichen Daseins den Ausgangspunkt für die Behandlung des Problems ihrer strengen Selbständigkeit bilden. Auf ihre Methoden kann sich das Nachdenken richten, zumal darauf, ob sie die Gewinnung von Gesetzen oder von geschichtlichen Reihen als ihr letztes Ziel ansehen 2). Ereilich zeigt sich da nun, daß beinahe alle Wissenschaften, die vom Wirklichen handeln, nicht durchaus methodenrein im dargelegten Sinne sind. Um nur zwei Beispiele zu nennen, so ist der Chemie der eigentliche geschichtliche Gesichtspunkt, z. B. in der Frage 1) Ordnungslehre = Kategorienlehre = Transzendentale Logik (Kant) = Gegenstandstheorie (Meinong) = Vorwissenschaften (zumal Eidologie und Verhältnislehre, Stumpf), wohl auch = Ontologie (Chr. Wolff) = Erster Teil der Metaphysik (Pries und seine Anhänger) usw. 2) Windelbands Unterscheidung nomothetischer und idographischer Disziplinen. — 4 — der Verwandlung der Elemente, nicht durchaus fremd, und sieht trotz aller Mißerfolge die „Geschichte" Gesetzesgewinnung immer und immer wieder als ihr letztes Ziel an, mag es sich da um einzelne Gesetze des Ablaufs in der Geschichte oder aber um den Nachweis des Werdens der Menschheit als eines großen einheitlichen Gesetzes — so wie Hegel etwa sich das dachte — handeln. Methode also ist — nun eben „Methode", ein Weg, nichts weiter; sie wird durch den Gegenstand ganz vornehmlich diktiert, sie selbst ist eigentlich gar nichts „selb- ständiges^', kann also auch nicht über Selbständigkeit entscheiden. Im allgemeinen wird ein Wissensgebiet um so länger geschicht- liche Reihen aufstellen, je verwickelter sein Gegenstand ist. Gesetzesgewinnung ist immer das letzte Ziel, mag es sich auch, wie vielleicht bei den sogenannten Kulturwissenschaften um die Erkenntnis eines einzigen Werdezusammenhanges als d e s Gesetzes handeln. So führt also die Methode als Kriterium der Wissen- schaftsselbständigkeit betrachtet uns auf die tatsächliche Inhalts- selbständigkeit als Kriterium für unsere Frage zurück; wir ge- winnen durch Berufung auf die verschiedenen Methoden tatsäch- lich als selbständig vorliegender Wissenschaften nichts Neues. Unser einziges Ergebnis also ist bis jetzt: Auf Grund der vorliegenden Ergebnisse eines praktisch selbständig betriebenen Wissensgebietes läßt sich wohl gelegentlich eine Einsicht in seine wahre Selbständigkeit oder Unselbständigkeit gewinnen. Die Logik ist es, die in solchen Fällen die Entscheidung fällt; die Logik mißt der Einzeldisziplinen letzte Ergebnisse mit ihrem Maßstab und erkennt ihnen das Prädikat der Selbständigkeit zu oder ab. Wenn wir uns also für die endgültige Entscheidung unserer Frage letzthin doch immer an die Logik wenden müssen, wäre es da nicht ein viel einfacherer und unmittelbarerer Weg, wenn wir uns gleich von vornherein an sie wendeten, wenn wir sie eben befragten um das, was wir wissen wollen, nämlich darum, was denn ganz allgemein eine Wissenschaft zu einer in Strenge selbständigen stempele? Könnten wir so nicht apriori eine Einsicht in die Gesamtheit der selbständigen Wissenschaften gewinnen? In der Tat ist diese Wendung der Frage möglich, und wir betreten mit ihr den zweiten der beiden in unserer Sache gangbaren Hauptwege der Behandlung. Freilich ist dieser Weg nicht so leicht beschreitbar, wie es vielleicht auf den ersten Augenblick scheint. Wie könnte denn überhaupt Logik von sich aus, also apriori, ohne durch Erfahrung belehrt zu sein^), über Wissen- schaften vom Tatsächlichen, vom Naturwirklichen etwas aus- sagen? Logik, nennen wir sie nun die Lehre vom Sein über- haupt, oder von den Gegenständen, oder, was wir vorziehen möchten, von der Ordnung, kann doch nur vom Möglichen handeln, vom „Denkmöglichen" wie man, nicht gerade ganz klar, mit Vorliebe sagt. Nun, sie braucht für unsere Zwecke auch nicht mehr zu tun. Es ist vollkommen zureichend für uns, wenn die Logik uns sagt, was mit Rücksicht auf Naturwirkliches mögliche Formen letzter Art sind; gerade aus solcher Einsicht möchte sich wohl die weitere, von uns angestrebte Kenntnis der wahren Selbständigkeit von Wissenschaften gewinnen lassen, wenigstens 1) Das apriori mag immerhin an der Hand von Erfahrung sich kundgeben, jedenfalls bedeutet es Unabhängigkeit vom Erfahrungs- quantum (vgl. meine „Naturbegriffe", 1904, S. 31). die Einsicht in die Gesamtheit dessen, was an wahrhaft selb- ständigen Wissenschaften, insonderheit Naturwissenschaften, möglich ist, anders gesagt: was denn eine wirkliche Natur- wissenschaft als wahrhaft letzte selbständige, oder um das im Titel dieser Schrift gebrauchte Wort zu verwenden, als selb- ständige Grundwissenschaft kennzeichnet. Von ,, möglichen Formen letzter Art'' redeten wir, deren Kenntnis uns die Logik beschaffen soll. Von möglichen Formen in bezug auf was? Um hier ganz in die Tiefe zu dringen, müßten wir eben eine Logik schreiben, was selbstredend hier nicht unsere Aufgabe ist. So muß man es denn hinnehmen und uns glauben, daß man es nicht leichtfertig hinnimmt, wenn wir sagen: Alle Naturwissenschaft handelt ganz wesentlich von den Eigenschaften und den Veränderungen der Naturdinge, a von ersteren gerade insofern, als sie sich in der Zeit ver- ändern; Naturwissenschaft handelt von Veränderungen, von Vorgängen, allgemein gesprochen: vom Werden. Wenn wir über die verschiedenen möglichen Formen des Werdens apriori etwas auszumachen vermöchten, so wäre also jedenfalls zur Entscheidung der Frage nach der wahren Selb- ständigkeit von Wissenschaften oder vielmehr, was uns hier in Sonderheit angeht, von Naturwissenschaften viel gewonnen. 2. Einiges aus der Lehre vom Werden. Die Lehre vom Werden ist ein sehr schwieriger Teil der Logik und zugleich ihr Stiefkind. Nimmt man ein beliebiges gutes Lehrbuch der Cogik zur Hand, so findet man meist die Lehren vom Begriff, Urteil und Schluß, auch noch die Lehren von der Zahl und der Räumlichkeit in Gründlichkeit behandelt^ aber dann ist es, als ob ein ganz anderer Stil der Behandlung — 7 — einsetze. Ja, selbst Werke, die sich die Behandlung der Logik des Wirklichen zum eigentlichen Ziel setzen — ich denke hier namentlich an zwei besondere, übrigens sehr gute Werke — verwenden gleichsam alle Kraft auf die Grundlagen der Lehren von der Zahl und dem Räume, so daß für alles, was nun noch zu kommen hätte und eigentlich die Hauptsache sein sollte, keine Arbeitskraft mehr, so scheint es, zur Verfügung ist; allenfalls werden noch die Prinzipien der Mechanik gründ- lich abgehandelt. Und doch ist. wie gesagt, die Lehre vom Werden gerade in ihrer ganz allgemeinen Form der wichtigste Teil aller auf Natur gerichteten logischen Forschung. An dieser Stelle ist nun natürlich nicht der Ort dafür, eine ins einzelne gehende Theorie des Werdens zu entwickeln; in einem größeren, der Ordmmgslehre im allgemeinen gewid- meten logischen Werke, das in kurzem erscheinen wird, habe ich den Versuch des Entwurfs einer solchen Theorie gemacht; auf dieses Werk muß ich also diejenigen Leser verweisen, die an diesen Dingen tieferen Anteil nehmen. Hier muß ich den Leser bitten, gewisse Grundbegriffe und Grundsätze, auf denen die Lehre vom Werden überhaupt ruht, hinzunehmen, sowie ich sie ihm nennen werde. Und ich glaube vermuten zu dürfen, daß der Leser das, was ich ihm nennen werde, ohne große Bedenken hinnehmen wird, denn es handelt sich da um Dinge, die im täglichen Leben wohl gar als „selbstverständlich" bezeichnet zu werden pflegen — obschon sie dadurch nicht aufhören für die Logik gerade ganz besonders schwierige Aufgaben zu sein. Möge der Leser, wenn er den Ausgang unserer Lehre für gar zu „selbstverständ- lich'' hält, sich immerhin erinnern, daß er dann auch das, was — 8 — aus diesem Ausgang folgt, für „selbstverständlich", mindestens für „evident" halten muß, wenn es ihm auch vielleicht, weil es eingewurzelten Gewohnheiten entgegen ist, zunächst gar nicht behagt. Die Lehre vom Werden geht von der Tatsache aus, das dasjenige, was ich überhaupt und in Sonderheit mit Rück- sicht auf die sogenannte Naturwirklichkeit erlebe, in Zuordnung zu den verschiedenen Augenblicken meines sich im Rahmen der Zeit, oder, vielleicht genauer, im Rahmen „meiner Dauer" abspielenden Erlebens jeweils, zum mindesten mit Rücksicht auf gewisse seiner Seiten, ein anderes ist; es ist jetzt dieses und dann jenes und zur Zeit eines späteren dann wieder jenes andere. Was soll ich als Denkender mit diesem Erleben jetzt dieser und danii jener und dann jener anderen Naturgegenständlichkeit anfangen? Denken heißt Erlebtheit ordnen. Ordnen heißt unter so wenige Begriffe wie möglich mit so klaren und einfachen Be- ziehungen wie nur möglich fassen, kurz: hegnffssparsam fassen. Wie würde ich nun das Anderssein meines Erlebtheits- inhaltes zu den verschiedenen Augenblicken meines Dauerns begriffssparsam fassen können? Zunächst muß ich da wohl einmal wenigstens eine gewisse Einheitlichkeit in jene Gegen- ständlichkeit, in jenes mir Gegenüberstehende hineinbringen, welches jetzt dieses, dann jenes und dann jenes andere ist. Ich tue das, wenigstens soweit die von mir erlebte Natur- wirklichkeit i) in Frage kommt, unter Verwendung des folgenden 1) Die Frage nach der Aussonderung des Naturerlebten aus dem Erlebten überhaupt ist besonders schwierig zu behandeln; wir behandeln sie in dieser Schrift gar nicht, da ja, glücklicherweise, jeder Unbe- fangene glaubt, hier einer Trivialität gegenüberzustehen. Das genügt uns hier für unsere Absichten. Kunstgriffs: Ich nenne zunächst einmal das mir Gegenüber- stehende, dessen Anderssein ich erlebe, das eine einzige Es oder in Sonderheit die eine einzige Natur und sage nun von dieser einen einzigen Natur als einem Subjekt ein sehr selt- sames Prädikat aus, nämlich das Prädikat werden: Die Natur wird. Das ist die eigentliche Bedeutung des Begriffs werden; man sieht, er ist alles andere als ein, sozusagen, einfacher, unmittelbarer Begriff. Wenigstens ist er es nicht in seiner Anwendung auf das mir gegenständlich Gegenüberstehende, in- sonderheit die Natur. Einfach und ursprünglich mag man vielleicht den Begriff werden mit Rücksicht auf mich selbst nennen: Ich als eiu Erlebender, als ein im Bewußtsein Habender werde in gleichsam unmittelbarer Weise, das heißt ich erlebe mich als dauerndes Ich, das trotz seines Dauerns als eine und dieselbe Einzigkeit mit Bezug auf den Inhalt seines Erlebens, also als Erlebender, anders, besser: ein anderer wird. Man kann sagen, daß der Satz, die eine einzige Natur wird in Analogie zum Satze Ich als ein und derselbe Einzige werde aufgebaut ist. Eine gewisse Vereinfachung in Sachen des Andersseins der Natur er leb theit ist durch den allgemeinen Begriff des Werdens, welcher der Natur als Prädikat gegeben wurde, erzielt. In dem „die Natur" haben wir einen Begriff, ja sogar einen „Individualbegriff" ; in dem loird haben wir ein für allemal ein Prädikat. Aber wir brauchen noch viel mehr, um Natar in ihrem Anderssein in Zuordnung zu den Augen- blicken meines Dauerns, oder, wie wir jetzt sagen dürfen, in ihrem Werden, begrifissparsam wirklich zu fassen. Erstens einmal müssen wir wissen, in bezug auf welche ihrer Eigentümlichkeiten sie eigentlich im Werden doch sie — lU — selbst bleibt. Anders gesagt: Was bleibt an ihr, oder, um die Aufmerksamkeit zu fixieren, an einem beliebigen Aus- schnitt aus ihr heharrUch, was an ihr ändert sich, was an ihr wird nicht? Irgendetwas an ihrem Sosein, um einmal streng logisch zu reden, muß sich denn doch wohl nicht ändern, d. h. beharrlich bleiben; irgendetwas bestimmt Au- gebbares. Sonst wäre das Wort „Natur" ein leeres Wort, es wäre gar nicht mögliches Subjekt eines Satzes. Also jedenfalls erwächst uns die Aufgabe, das Beharrliche an Natur im Werden zu suchen, die echte „Substanz", wenn wir uns eines üblichen, leider leicht mißverstandenen, nämlich in zu engem Sinne aufgefaßten, AVortes bedienen wollen. Es geht ohne weiteres aus unserer Darlegung hervor, daß uns „Substanz" an Natur nur irgendeine beharrliche Seite ihres Soseins i) sein soll, ohne daß wir irgendetwas Besonderes über diese beharrliche Seite wüßten: zumal also wissen wir nichts darüber, ob das wahrhaft Beharrliche an Natur sich in Form sogenannter Dinge im Räume darstellen müsse oder nicht. Das ist eine Angelegenheit der Empirie! Wesentlicher noch als die erste erscheint die zweite der Sonderaufgaben, welche die Lehre vom Werden, wenn anders sie sich zu einer wahrhaft fruchtbaren Lehre gestalten will, in Angriff nehmen muß. Ein Beharrliches überhaupt, welches da in unbestimmter Weise wird, genügt uns für unsere Forderung, die Natur begriffssparsam zu meistern, noch nicht. Was dann nun können wir mit unserem Begriffe des Werdens der Natur noch weiter unternehmen? Fragen wir ^) Substanz, „das Beharrliche" hat also Sosein und ist nicht etwa soseinsfrei, nicht etwa ein leerer „Träger" von wechselndem Sosein. 11 uns einmal, wie wir denn im Bereiche des sogenannten „Foniial- Logischen", des Begriffs- und Urteilsmäßigen, vorgelien müssen, um Ordnung, die wir ja doch haben wollen, zu schaffen. Wir kennen aus diesem Bereiche zwei wichtige Arten der Be- ziehung, oder, vielleicht besser, des Bezogenseins: das Ver- hältnis des Einschlusses bei Begriffen und das Verhältnis des Aus-eiuander-folgens bei Urteilen. Beide sind einander nahe verwandt, was man uns an dieser Stelle glauben muß, wenn man es nicht selbst weiß ^). Bei beiden ist da etwas, oder besser, gilt da etwas, weil etwas anderes da ist, oder besser, gilt. Weil die Begriffe „Katze" und „Hund^ auf- gestellt sind, deshalb ist auch der Begriff „Raubtier" da, und weil einerseits Menschen sterblich, andererseits aber Neger Menschen sind, deshalb sind auch Neger sterblich. Das Denken liebt im Bereiche des Begrifflichen über- haupt dieses allgemein als dasjenige des Mitsetzens zu be- zeichnende Verhältnis. Könnte es mit seiner Fähigkeit des Mitsetzens nun nicht auch an das Werden heran; könnte es nicht das Werden .Jogisieren", „rationalisieren"? Jedenfalls darf es den Ver- such wagen. Aber was bedeutet der Versuch? Es bedeutet nichts Geringeres als dieses: Es soll versucht werden, irgendein beliebiges Werden, und in Sonderheit Naturwerden, von dem wir sagen, daß es den Naturzustand A in den Naturzustand B übergeführt, daß es A zu B ^ver- ändert" habe, so aufzufassen, als ob es eines vorangegangeneu Werdens Folge und eines nachfolgenden Werdens Grund sei. ') Gerade hier muß ich für alles Weitere auf meine nahezu voll- endete „Ordnungslehre" verweisen. — 12 — Oder in Kürze: In die Lehre vom Werden wollen wir nicht nur den Begriff des Beharrlichen im oben festgelegten Sinne, sondern auch den Begriff Folgeverknüpfung einführen; es soll die Verknüpfung der einzelnen Werdeakte, wenn der Aus- druck erlaubt ist, unter sich dem Gesichtspunkt des logischen Folgens analogienhaft unterstellt werden. Paare aufeinander folgender einzelner Werdeakte mögen dann Werdegrund und Werdefolge heißen — wenn anders sie sich überhaupt finden lassen. Fände unsere Forderung der Folgeverknüpfung im Werden tatsächliche Erfüllung, dann wäre das begriffssparende Denken wohl in hohem Maße befriedigt. Ob aber diese Erfüllung möglich ist^) und wie sie etwa möglich ist, das ist wieder durchaus eine Sache der Empirie. Vielleicht freilich läßt sich vor aller Einzelerfahrung eine Einsicht darüber gewinnen, in welchen Formen sie denn wohl überhaupt möglich sein könnte. Davon werden wir sogleich zu reden haben; vorher aber bemerken wir noch eines: Wie wir das Beharrliche am oder im Werden „Substanz" nennen konnten, wenn wir nur dieses Wort in sehr weitem Sinne verstehen wollen, so dürfen wir auch unseren Begriff der Folgeverknüpfung durch das übliche Wort einer „Kausalität'- ausgedrückt sein lassen; aber auch dieses Wort muß dann etwas sehr Allgemeines bedeuten und darf nicht von vorn- ^) Wäre sie möglich, so würde uns das von dem Bestehen einer Harmonie zwischen Denken und inhaltlicher Gegenständlichkeit, in Sonderheit Naturgegenständlichkeit Kunde geben. Doch gehört die Behandlung dieser Frage — die zunächst durchaus noch eine Frage der „Ordnungslehre" und nicht etwa eine solche der „Erkenntnislehre" oder „Metaphysik" ist — nicht in diese Arbeit. — 13 — [lerein mit dem Werdebeziehungspaar, das etwa eine stoßende und eine gestoßene Kugel darstellt, identi- fiziert werden. Besser tun wir, der Eindeutigkeit der Be- deutuDgen halber, wohl, wenn wir die WorXe „Substanz" und Kausalität" vermeiden und nur Worte anwenden, die wir fest und klar definiert haben. Es sind das also die Worte: Die eine einzige Natur, Werden, Beharrliches, Folgeverknüpfung ^ Werdegrund- Werde folge und keine anderen. Wir treten jetzt in die wichtige Untersuchung darüber ein, ob ein Wissen von den Möglichkeiten verschiedener Grrundformen des Werdens apriori, das heißt in diesem Falle: vor aller besonderen Erfahrung über Werden und sein Ver- knüpftsein, möglich sei. Um einen Ausgang zur Behandlung dieser Frage zu gewinnen, müssen wir uns auf die Bedeutung unseres Begriffs Werden zurückbesinnen. Dieser Begriff und alle Begriffe in seinem Gefolge sollten uns die Tatsächlich- keit denkmäßig zugänglich machen, daß unser gegenständliches Erleben, in Sonderheit unser Naturerleben, in Zuordnung zu den einzelnen Augenblicken unseres Dauerns jeweils in mindestens einigen Beziehungen ein „anderes" ist; jedenfalls soweit es ein „anderes" ist, sollten jene Begriffe uns dieses Anderssein verständlich, zugänglich machen. Vom Erleben des Naturwirklichen also ging die ganze Lehre vom Werden aus: Die erlebten Naturwirklichkeits- zustände waren zu verschiedenen Augenblicken andere, zwischen zwei dem Sosein nach verschiedene Zustände eines Natur- ausschnittes setzten wir ein Werden dieses Ausschnittes. Unsere Betrachtung hub also mit der Setzung eines Werdens an, und nur die beiden Zustände, welche dieses gleichsam eingrenzen, waren als naturgegenständliche Zustände, das heißt — 14 — also unter anderem auch: als Zustände mit räumlicher Kenn Zeichnung, um einen kurzen Ausdruck zu gebrauchen, unmittelbar naturerlebt. Von dem Begriff ein Werden und von der räumlichen Kennzeichnung der dieses eingrenzenden, unmittelbar natur- erlebten Zustände gehen wir nun bei unseren weiteren For schungen aus: Unser „eines" Werden soll mitgesetzt, soll als Werdefolge, soll nach Analogie der logischen Folge er- scheinen, und zwar soll irgendein früheres Werden es mit setzen, sein Werdegrund sein, es gleichsam aus sich folgen lassen. Im Bereiche des sogenannten Formal-logischen nun kann nie das Inhaltreichere aus dem Inhaltärmeren, sondern nur das Inhaltärmere aus dem Inhaltreicheren „folgen". Aus be- stimmten Sachrücksichten kann sich gelegentlich, zum Beispiel in den verschiedenen Zweigen der Mathematik, ergeben, daß Grund und Folge in bezug auf den „Reichtum" ihres Inhaltes gleich sind, wie denn z. B. durch a -f- b -j- c -|- d mitgesetzt wird d -f- b -|- c -(- a und wie der Begriff „gleichseitiges Dreieck" den Begriff „ gleich wiukliches Dreieck" mitsetzt. Was wir „inhaltreich" und „inhaltarm" nannten, betrifft die Gesamtheit der Merkmale eines Begriffs; in bezug auf sie, in bezug auf ihre Anzahl ist er reich oder arm. Wir wollen ganz allgemein dasjenige, in bezug auf welches ein Begriff arm oder reich sein kann, den Grad seiner Mannigfaltigkeit nennen 1). Dann können wir den Satz aussprechen: Beim 1) Die Lehre von der Mannigfaltigkeit, die die verschiedenen Typen von „Merkmalen" bei tiefer gehender Analogie zu berücksichtigen hat, kann hier nur gestreift werden. — 15 — Vorgang des Mitsetzens erhöht sich nie der Grad der Mannigfaltigkeit der in Rede stehenden Begriffe. Nun soll Folgeverknüpfung im Werden nach Analogie des logischen Verhältnisses des Mitsetzens von uns aufgefaßt werden; der Werdegrund soll ein gleichsam Mitsetzendes, die Werdefolge ein gleichsam Mitgesetztes sein. Was bedeutet das? Wir betrachten einen beliebigen Ausschnitt aus der Naturwirklichkeit, ein beliebiges von uns naturerlebtes „Sj^stem"; wir denken uns dieses System in jedem Augenblicke als durch einen Begriff in allen seinen Eigentümlichkeiten gekennzeich- net, welcher Begriff also einen ganz bestimmten „Grad an Mannigfaltigkeit" besitzen muß; wir übertragen endlich die Aussage „Grad an Mannigfaltigkeit" auf das System als Natur- gegenständlichkeit selbst. Dann dürfen wir von unserem System, ja dürfen ganz allgemein von jedem beliebigen System sagen : Im Laufe des Werdens kann sich der Grad der Mannigfaltigkeit eines Systems nicht von selbst er- höhen. Das ist der erste besondere Lehrsatz der Lehre vom Werden. Er soll gelten, so wahr Verknüpfung im Werden nach Analogie des logischen Verhältnisses des Mitsetzens be- griffen werden soll. Der Mannigfaltigkeitsgrad eines Systems kann sich nicht von selbst erhöhen; das heißt also auch: wenn er sich von selbst zu erhöhen scheint, so ist das eben nur scheinbar eine Erhöhung „von selbst''. Jedenfalls soll in derartigen Fällen die Sachlage stets so gewendet werden, daß in der Tat keine Erhöhung „von selbst" vorliegt. So will es, so fordert es das Denken. — lö — Und nun machen wir die Nutzanwendung unseres Wissens vom Mannigfaltigkeitsgrad auf die Frage nach den möglichen Formen des Werdens: Wir wissen schon: ein Werden ist es, ein Werden, dessen eingrenzende räumliche Zustände unmittelbar naturerlebt werden, das den Ausgang des Nachdenkens zu bilden hat. Dieses eine Werden soll als Wer de folge, also gleichsam logisch durch früheres Werden mitgesetzt erscheinen. Da sind nun ganz offenbar — und eben in dieser Ein- sicht liegt die Gewinnung einer Antwort auf unsere Frage nach den möglichen Urformen des Naturwerdens — folgende Fälle möglich: Entweder der Mannigfaltigkeitsgrad des Systems ist im Laufe des „einen" uns in seinen Grenzzuständen unmittelbar erfahrbaren Werdens derselbe geblieben, und dieses eine Werden läßt sich auf ein früheres ebenfalls erfahrbares, d. h. von zwei erfahrbaren räumlichen Zuständlichkeiten eingegrenztes, Werden des Systems zurückbeziehen, im Verlaufe dessen eben- falls sein Mannigfaltigkeitsgrad derselbe blieb. In diesem Falle ist alles erledigt: auch der Werdegrund ist hier ein erfahrbares räumliches Werden des untersuchten Systems. Oder der Mannigfaltigkeitsgrad unseres Systems erhöht sich im Laufe des einen uns zugänglichen Werdens. „Von selbst'^ soll er das nicht tun. Gut, wir finden erfahrbare, räumliche Geschehnisse im Rahmen außerhalb unseres Systems, von denen her die Erhöhung seines Mannigfaltigkeitsgrades gleichsam bezogen ist. Wiederum ist alles erledigt. Oder endlich: Alles ist ebenso wie in diesem Falle; aber es gibt räumliche Geschehnisse, von denen her die Erhöhung des Mannigfaltigkeitsgrades des Systems, die ja nicht — 17 — „von selbst'' geschehen soll, bezogen werden könnte, mit Sicherheit nichti). Dann ist der Werdegrund, welcher das „eine^^ Werden an unserem System, das wir un- mittelbar erfahren, gleichsam mitsetzt, kein Werde- Yorgang im Raum, sondern — etwas anderes. Hierdurch ist unsere Aufgabe gelöst: Wenn anders Werden überhaupt als nach Analogie des logischen Folgeverhältnisses verknüpft angesehen werden soll — und das soll es — dann kann es zwei verschiedene Grundformen des Werdens geben; bei der einen sind Werdegrund und Werdefolge räumliche Werdevorgänge, bei der anderen ist das nur die A¥ erdefolge, das „eine Werden", von dem wir ausgingen. Würden wir diesem „einen Werden'' nun überhaupt gar keinen Werdegrund zuordnen, so würden wir es, da sich in ihm ein Manuigfaltigkeitsgrad scheinbar .,von selbst" erhöht, prinzipiell nicht verstehen; es wäre gar keine Werdefolge. Wir wollen es aber verstehen, und deshalb setzen wir einen als solchen unerfahrbaren, nicht ein räumliches Geschehnis darstellenden Werdegrund, als für die Mannigfaltigkeitserhöhuug des Systems verantwortlichen Akt. 3. Von der mögliclien Selbständigkeit der Biologie. Hier brechen wir die Darstellung der allgemeinen Lehre vom Werden ab; was wir von ihr für die Zwecke dieser Schrift wissen müssen, das wissen wir nun: Es kann zwei verschiedene Grundformen alles Naturwerdens „geben"; zwei solcher Grundformen sind apriori möglich, sind ..deukmöglich'', 1) Dieser Fall gliedert sich in drei mögliche ünterfälle, wenn der Begriff „Manuigfaltigkeit" des näheren analysiert wird. Driesch, Biologie. 2. Aufl. 2 — 18 — wenn man sich darau eriimertj erstens was Yerknüpfimg im "W erden überhaupt heißen soll, und zweitens, daß stets ein Werden im Raum der Betrachtung Ausgang zu bilden hat. Derjenige Werdetypus, welcher im Bereich rein räumlicher Geschehnisse verbleibt — unsere beiden ersten Fälle — , ist, soviel wir wissen, im Bereiche der unbelebten Natur ver- wirklicht; jedenfalls läßt sich das, was wir von der unbelebten Natur bis jetzt wissen, nach dem echten Schema Raumursache- Raumwirkung, zu dem hier das Begriffspaar Werdegnind- Werde- folge spezialisiert wird, auffassen. Die Wissenschaft von der anorganischen Natur ist also eine echte Grundwissenschaft, wenigstens soweit sie auf die letzten Prinzipien ausgeht: sie kann diese Prinzipien einem logischen Urschema zuordnen. Und es kann jedenfalls noch eine andere^) Grund- wissenschaft selbständiger Art von der Natur geben, eine andere Wissenschaft von echter Selbständigkeit also. Da die Wissenschaft von der belebten Natur sich bis jetzt jedenfalls, nach dem Urteile aller, nicht in Aussagen der anorganischen Naturwissenschaft hat auflösen lassen, so kann also jedenfalls die ,, Biologie^' eine selbständige Grundwissenschaft sein. Es ist jedenfalls logisch die Möglichkeit mehrerer Grundwissenschaften von der Natur nachgewiesen. Diese Schrift geht nur der Nachweis der Möglichkeit der Grundselbständigkeit der Biologe etwas an. Daß ich selbst und viele, sich jährlich an Zahl mehrende Andere die Werde- form, welche uns die belebte Natur kennen lehrt, für eine 1) Vielleicht mehr als eine: die Entscheidung dieser Frage würde von der Analyse des Begriffs „Mannigfaltigkeit" (s. vor. Anm.) abhängen. — 19 — tatsächliche AuspräguDg unseres zweiten Werdetypus, daß ich also den BeAveis der Selbständigkeit des Lebenswerdens und damit dei* Biologie für tatsächlich erbracht erachte, das geht diese Schrift nichts an; wer sie haben will, findet darüber Auskunft in meinen früheren Werken, zumal in den Gifford- Vorlesungen ^). Daß apr/'orl Biologie als selbständige Grundwdssenschaft möglich ist, das allein ist es, was wir hier nachweisen wollten. Alles weitere sind Tatsachenfragen. W^ie aber kommen wir nun gerade darauf, so möchte trotz allem wohl noch mancher fragen, nun gerade für die Biologie die mögliche Grundselbständigkeit zu vertreten? Wir haben doch nur die Möglichkeit einer zweiten Grundwissenschaft vom Werden überhaupt dargetan. Nun, da müssen w^ir denn freilich sagen, daß uns die tatsächliche, gleichsam populäre Selbständigkeit der Biologie — die ja von keinem geleugnet wird — zu solchem Schritte veranlaßt. Diese populäre Selb- ständigkeit der wirklichen ,, Biologie^' ist nämlich auf einen sehr seltsamen inhaltlichen Charakterzug der von der Biologie untersuchten Naturgegenstände begründet, welcher — auch das leugnet niemand — eine seltsame Einheitlichkeit in sich besitzt: auf die Zweckmäßigkeit oder Zielstrehlgkeit oder Dauer- fäkigkeit oder Regulationsfähigkeit, oder wie immer man sagen will, der Lebewesen. Die Tatsache jedenfalls, daß es Natur- dinge gibt, welche sich im Stoffwechsel erhalten, sich in ihrer Eigenart fortpflanzen und sich Störungen gegenüber behaupten — diese Tatsache ist da. Sie aber macht nicht nur dem Laien die belebte Natur praktisch zu etwas Selbständigem, ») Phüosophie des Organischen, 2 Bände, Leipzig, 1909. 2* — 20 — sondern im Anfang seiner Tätigkeit auch dem Forscher; mag dieser auch bald einsehen, daß alle Teleologie nur deskriptiv und, um mit Kant zu reden, regulativ zusammenfaßt und daß zum strengen Nachweis von Selbständigkeit mehr gehört. 4. Kritische und dogmatische Wissenschaft. Durch die Betrachtungen des vorigen Abschnittes ist nicht nur die Möglichkeit einer Biologie als selbständiger Grund- wissenschaft dargetan, sondern ist auch allem Dogma- tismus in Sachen der Wissenschaft der belebten Natur von Anfang an der Boden entzogen worden. Beides geschah also durch Besinnung darauf, was eigent- lich Werden heiße, und was eigentlich das Denken mit dem Werden anfangen wolle. In Sonderheit — und das im Auge zu behalten ist vor allem anderen wichtig — besannen wir uns darauf, daß es, nach Festlegung der Begriffe des Werdeny, des Naturwerdens überhaupt, derjenige Vorgang, den wir ein Werden nannten, sein müsse, an den sich alle intimere Unter- suchung anzuknüpfen habe. Denn das, was ein Werden ein- grenzt, ist in Form zweier raumhafter Naturzustände das un- mittelbar Erlebbare oder Erlebte. Mit dem „ein Werden'^ soll nun des weiteren etwas vom Denken aus geschehen, und was das sein könne, haben wir ausgeführt. Wir hätten die Begründung der Möglichkeit einer wahr- haft selbständigen Biologie auch auf den Begriff der „Kategorie", wie ihn die an Kant orientierte Philosophie heute versteht, aufbauen können. , .Kategorie" ist, um Kantisch zu reden, ein „Stammbegriff des reinen Verstandes", ein letztes, nicht weiter auflösbares Schema, in das sich alles Erfahrene fügen muß. Eine solche, auf den Kategorieubegriff basierte Darlegung, — 21 — welche die von Kant entworfene „Tafel" der Kategorien erst auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen und zu reformieren hätte, wäre aber dieser nicht nur für den engen Kreis der Philosophen bestimmten Schrift wohl weniger angemessen gewesen ; ganz abgesehen davon, daß ich selbst die reine unbefangene Lehre vom Werden für der Sache angemessener halte als Kants Denkweise. An anderem Orte habe ich die genannte, für Philosophen immerhin bedeutsame, mir möglich erscheinende Reform der Kantischen „Kategorientafel", welche alsdann ihrer- seits die mögliche Selbständigkeit der Biologie begründet, durchzuführen gesucht^). Der Dogmatismus also ist mit dem Nachweis der mög- lichen Selbständigkeit der Biologie gleichzeitig aus der Biologie als einer praktisch betriebenen Wissenschaft auf immer ver- bannt worden. Biologie kann jetzt mit dem vollen Be- wußtsein ihres Wertes betrieben werden: sie kann jeden- falls etwas außerordentlich Bedeutsames, nämlich eine selbständige Grundwissenschaft sein; sie wird, so wissen wir, sich nicht notwendigerweise als Wissenschaft zweiter Klasse, als „an- gewandte'- Wissenschaft erweisen. „Dogmatisch" nennt man eine Lehre, wenn sie nach Grundsätzen verfährt, welche nicht im letzten Wesen der Forderungen des Denkens gründen und doch für absolut ver- bindlich gehalten werden. Dogmatisch also wird Biologie betrieben 2): einerseits, wenn, wie etwa von Verworn, die Auflösbarkeit aller bio- 1) „Die Kategorie „Individualität" im Rahmen der Kategorienlehre Kants." Kantstudien 16, 1911, S. 22. 2) Es gibt auch unter den Neukantianern viele Dogmatiker in Sachen der Biologie; Liebmann bildet hier eine besonders zu rühmende — 22 logischen Phänomene in solche der Physik und Chemie vor aller Sonderuntersuchung gefordert wird, andererseits, wenn, wegen des deskriptiv-teleologischen Charakters der dem populären Bewußtsein vorliegenden biologischen Daten die Notwendigkeit einer „psychologischen' ' Behandlung des biologischen Werdens apriori proklamiert wird. Das erste geschieht weit häufiger, als das zweite; dogmatisch ist beides. Unsere Lehre vom Werden mit der Gesamtheit ihrer Ergebnisse aber ist nicht dogmatisch. Es gibt heutzutage viele philosophische Biologen — ich nenne nur Boux, Bütschli, Klebs, Julius Schultz — , welche eine mechanistische Biologie zwar wünschen, das heißt sehr gern realisiert sehen würden, welche aber doch gelegent- lich Äußerungen taten, durch die der Möglichkeit einer nicht- mechanistischen Biologie Ausdruck verliehen wird^). Solche Forscher sind natürlich nicht „Dogmatiker". Aber der echten Dogmatiker mechanistischer Art sind auf biologischem Gebiet immer noch sehr sehr viele, zumal in Deutschland; alle orthodoxen Darwinisten — Darwin selbst aber nicht! — gehören hierher. Ausnahme, um so mehr als seine kritische Stellungnahme in die Zeit der Hochflut des materialistischen Darwinismus fiel (vgl. meinen Auf- satz über seine Lehre vom Organischen in Kantstudien 15, 1910, S. 86). — Anderenorts („Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre", 1905, S. 62ff.; vgl. auch die Zusätze zur italienischen Ausgabe, 1911) zeigte ich, daß sich zu Unrecht der biologische Dogmatismius auf Kant beruft, mag auch Kants Stellungnahme hier wenig klar sein. ^) Hierzu folgende Äußerungen der genannten Forscher: Roux, Ges. Abh. II S. 188f.; Bütschli, Mechan. u. Vital. 1901, ö. 47; Klebs, Biol. Centr. 24, 1904 S. 304; Schultz, Maschinentheorie des Lebens 1909. — 23 — Um den mechanistischen Dogmatiker in Sachen der Biologie ist es doch eigentlich eine seltsame Sache: Warum treibt er eigentlich, was er treibt? Er weiß ja doch das Endergebnis vorher! Er weiß ja doch, daß er nur wahre Grundwissen- schaft ..anwendet", daß er sich mit Abgeleitetem befaßt, mit Wissenschaft zweiter Hand, zweiter Klasse. Vergegenwärtigt man sich andererseits den aufrichtigen Ernst, mit dem nicht nur die Freunde, sondern auch die Dogmatiker des Mechanis- mus biologische Untersuchungen treiben, so wird mau ein selt- sames Gefühl nicht ganz los: nämlich dieses, daß das „Über- zeugtseiu" von der Alleinmöglichkeit einer mechanistischen Biologie denn doch wohl nicht gar so tief und fest sitze. Beim psychologischen Dogmatismus liegt alles natürlich anders: Da muß ja das Bewußtsein vom Werte der Sache da sein. Freilich gibt es nun hier eine andere große Gefahr: daß man sich das strenge Beweisen mechanistischer Un- auflösbarkeit gar zu leicht macht. Man ,,weiß" ja eben von vornherein, es müsse diese Unauflösbarkeit vorliegen. Unsere kritische Stellungnahme zur Biologie erklärt die Frage nach der Möglichkeit ihrer Selbständigkeit für ein logisches, die Frage nach der AVirklichkeit eines ,, Vitalis- mus" aber für ein empirisches Problem. Die erste Frage kann sie im Sinne des Daseins jener Möglichkeit in positivem Sinne streng entschieden, die zweite Frage glaube ich selbst auf Grund strenger Beweisführung ebenfalls positiv entschieden zu haben, doch gehört das nicht in den Rahmen dieser Schrift. In den Rahmen dieser Schrift würde freilich noch die Lehre von der Möglichkeit des Ineinandergreifens physikalisch-che- mischer und nicht-physikalisch-chemischer Naturfaktoren ge- hören, wenn diese sehr schwierige Lehre nicht in mehr natur- — 24 — wisseusohaftliclier Form in meiner „Philosophie des Orga- nischen"!) dargestellt wäre und in meiner „Ordnungslehre'^ in abstrakt logischer Form alsbald dargestellt werden würde. Unsere kritische Biologie ist wahrhaft bedeutsam von allem Anfang an. Ja, sie steht nicht an, sich als die be- deutsamste Naturwissenschaft zu proklamieren, ob sie schon keine Maschinen und Brücken bauen lehrt. Sie ist ja auch die Wissenschaft vom Menschen. — Es ist mir von Forschern, die in biologischen Experi- mentaluntersuchungen große Erfahrung haben und einer vita- listischen Biologie durchaus wohlgesounen sind, gelegentlich gesagt worden: Ganz gleichgültig, wie man sich zu den letzten Fragen auf biologischem Boden verhalte, die Methode, in Sonderheit die Exporimentalmethode der biologischen For- schung müsse doch immer „mechanistisch^^ bleiben, denn ab- ändern in bewußter Isolation — und das heißt „experimentieren^^ — könnten wir doch nur physikalisch-chemische Zuständlich- keiten; auch der Vitalist könne nichts anderes. Ich antworte darauf: Bei der Frage nach der Methode der experimentierenden Biologie handelt es sich um den Gegensatz „Mechanismus — Vitalismus" überhaupt nicht. Experimentieren bleibt überall und immer ein bewußtes Herbeiführen bestimmter Zuständlichkeiten im Laufe des Naturwerdens, und da uns dieses Werden unmittelbar erlebbar, wie wir wissen, stets nur in Form raumhaft- dinghafter Soseinszustände, um streng, in Form chemisch-physikalischer Konstellationen, um weniger streng zu sprechen, ist, so kann alles Experimentieren allerdings nur in Änderung physikalisch-chemischer Zuständlichkeit bestehen. 1) Band II S. 178—229. — 25 — Aber Ziistäudlichkeiteii sind nicht Werden; Weiden allein schon ist ein vom Denken ,, zwischen" Zuständlichkeiten ge- setzter Kunstbegriff und erst recht kunstbegrifflich, „theoretisch", gebildet ist der Begriff Folgeverhiüpfimg im Werden mit allem, was daran hängt. Aus den experimentel gesetzten Zuständen, welche stets physikalisch-chemisch präzisierbare Zustände sind, soll für die Theorie des Werdens Material gewonnen werden nach Maßgabe logisch apriori entwickelbarer Möglichkeiten. Alle Experimentalmethode also knüpft an das an, an welches auch die Theorie vom Werden anknüpft: an natur- erlebbare räumliche Zuständlichkeit. Aber die Theorie des Werdens selbst ist Beziehungslehre, ist denkhaft-künst- liche Zuständlichkeitsverknüpfung. IL Das System der Biologie. 1. System als Begrlffsgliederiing. Nachdem die Möglichkeit einer wahrhaft selbständigen Biologie, einer Biologie als selbständiger Grundwissenschaft, von uns dargetau w^orden ist, soll nun der Begriff der Biologie selbst auf seinen Inhalt hin untersucht, soll dieser Inhalt logisch gegliedert werden. Biologie ist Wissenschaft vom Leben; der Begriff „Biologie'' bestimmt sich also nach Maß- gabe des Begriffs „Leben'^ Hiernach w^ürde es scheinen, als müßten wir unsere Untersuchung mit einer Definition des Begriffes Leben beginnen, um alsdann den einzelnen Merk- malen dieses Begriffs Merkmale des Begriffs Biologie zuzu- ordnen, als gewisse Seiten einer Biologie als Gesamtwissen- schaft. Nun läßt sich aber von Naturtatsächlichkeiten, also auch vom „Leben", eine Definition echter Art vor der Er- fahrung, im Sinne des apriori, nicht aufstellen. Immerhin können wir eine vorläufige Art der Definition des Lebens unserer Untersuchung zugrunde legen und werden das auch tun; das heißt, wir werden unsere Darlegung der einzelnen Zweige der Biologie, der Merkmale des Begriffs Biologie, an dasjenige anknüpfen, was wir nach einer ersten tatsächlichen OrientieriTUg — welche wir also als erledigt voraussetzen — über „das Leben'^ als praktisch einheitliche Gruppe von Naturphänomenen wissen. — 27 — Man möchte uns vielleicht entgegnen, daß wir mit dem, was wir vorhaben, doch nicht den „Inhalt", sondern vielmehr den „Umfang" des Begriffs Biologie zur Darstellung bringen würden, nämlich die Gesamtheit derjenigen Wissensgebiete, welche gleichsam das Feld, das Geltungsbereich des Begriffs Biologie voll ausfüllen. Eine solche Entgegnung würde aber doch von logischer Kurzsichtigkeit zeugen, denn jenes Feld, jenes Geltungsbereich ist ein gegliedertes Ganzes und nicht nur ein Beieinander — und so ist es bei jeder Wissenschaft. Jede biologische Einzeldiszipliu gehört an eine ganz bestimmte Stelle des ganzen biologischen „Feldes'' und an keine andere. Eben deshalb sage ich, daß wir nicht den Umfang, sondern den Inhalt, die Merkmale des Begriffs Biologie untersuchen i) ; alle diese Merkmale, alle biologischen Sonderdisziplinen also in ganz bestimmtem Verhältnis zueinander sind „die Biologie" als Begriff. Da wir gerade auf das logische Verhältnis der bio- logischen Sondergebiete zueinander den Ton bei unserer Untersuchung legen wollen, können wir auch sagen, daß unser Denken jetzt dem System der Biologie gelten soll. Um unsere Aufgabe richtig zu verstehen, muß man hier aber den Begriff System nicht leichthin nach Analogie etwa der biologischen „Systematik" mit ihren Spezies, Genera, 0 Biologie verhält sich also zu den verschiedenen biologischen Sonderdisziplinen, dem ersten Anschein entgegen, nicht wie das „Genus" zu den „Spezies", sondern wie das Ganze zu den Teilen; das logische Verhältnis von Ernährungsphysiologie zu Biologie ist ein ganz und gar anderes, als dasjenige von Schwalle zu Vogel (vgl. hierzu meine Philos. d. Organ. IL S. 321 f.). — 28 — Familien, Ordnungen usw. verstellen. Diese Systematik, deren Sondernatur wir noch zu untersuchen haben werden, ist gewiß auch ein „System'', aber doch nicht in dem Sinne, wie es die geordnete Definition eines Begriffs unter besonderer Beachtung der Beziehungen zwischen seinen Merkmalen ist. Ganz gewiß darf aber auch eine ausdrücklich relationstheoretische Dar- stellung der Merkmale eines Begriffs eine ,, systematische" Dar- stellung dieses Begriffes heißen. Wir reden also jetzt vom System der Biologie in diesem Sinnet). 2. Die praktiscli Yorliegenden Zweige der Biologie. Um uns über die Teile der Biologie als Glieder eines Ganzen zu unterrichten, wollen wir uns zunächst einmal durch- aus an die ,, Praxis" halten. Vergegenwärtigen wir uns also zunächst einmal, welche Arten biologischer Lehrstühle es an den Universitäten, in Sonderheit den deutschen Universitäten gibt, wobei wir uns nicht daran stoßen wollen, daß ein großer Teil dieser Lehr- stühle der ,, medizinischen Fakultät'' angehört. Da gibt es also im günstigsten Falle Lehrstühle für: Zoologie, Botanik, Pflanzensystematik, Anatomie, Entwicklungs- geschichte, Physiologie, physiologische Chemie, Pathologie. 1) Unter gleichem Titel habe ich den Inhalt der Hauptpunkte des Folgenden vor einigen Jahren schon einmal ganz kurz dargestellt; diese in den „Süddeutschen Monatsheften", IL Jahrgang, 6. Heft, 1905, ver- öffentlichte Arbeit ist aber, wohl da man in der genannten Zeitschrift keine logischen Untersuchungen vermutet, gar nicht beachtet worden, auch nicht von solchen, die später unter gleichem Titel über den gleichen Gegenstand schrieben. — 29 — Das ist nun ein seltsames Beieinander. Es wird noch seltsamer, wenn wir uns erinnern, daß „Zoologie'' hier eigent- lich nur die zoologische Formenkunde, die Morphologie, und auch diese nur nach ihrer systematischen Seite hin meint, daß „Anatomie'* diejenige des Menschen und der Wirbeltiere bedeutet, und daß auch die übrigen von uns genannten Diszi- plinen ihre Arbeit so gut wie ausschließlich auf die genannten Gruppen von Lebewesen einschränken. Aus der „Systematik der Lehrstühle" können wir also für ein System der Biologie gar nichts lernen, und unsere Sache würde sich zwar etwas, aber doch nicht prinzipiell günstiger gestalten, wenn wir etwa den Einrichtungen amerikanischer Universitäten nachgehen würden. Freilich würden da meist Lehrstühle für „experimentelle Zoologie'' und „vergleichende Physiologie" hinzukommen. Lehrstühle werden nun bekanntlich nach Maßgabe der Menge des in Sondergruppen vorliegenden Wissensstoffes ge- gründet, also durchaus nach praktischen Gesichtspunkten — die freilich, leider, nicht immer durchaus „praktisch" sind, das heißt dem wirklichen Fortschritt und der wirklichen Gliederung des Wissens nicht rasch genug folgen ^). Da dürfen wir uns denn eigentlich nicht wundern, wenn wir für unsere Zwecke aus der Natur der existierenden biologischen Lehrstülile nicht viel lernen können. Etwas mehr können wir schon aus den verschiedenen vor- liegenden Arten der biologischen Yorlesungsgegenstände 1) Das ist in Deutschland leider vor allem mit Rücksicht auf die sogenannte „experimentelle Zoologie" (zumal die „Entwicklungsmechani^Y , .; ■ , Roüx's) und die allgemeine „Philosophie der Natur" der F&\l/^'^^^^-^A — 30 — auf den Universitäten und der biologischen Lehr- und Hand- bücher lernen: Halten wir uns hier au die Universitätsvorlesuugeu, so gibt es deren im günstigsten Falle folgende: Zoologie, Anatomie des Menschen, vergleicJiende Anatomie der Wirbeltiere, Histologie der Wirbeltiere, Entwicklung sgescliichte der Wirbeltiere, vergleicJiende Entioicklungsgesckiclde, Physiologie des Menschen 7ind der Wirbeltiere, Pathologie des Menschen, allgemeine Bota^iik, Pfvonzenphysiologit', botanlsalte Systematik, Paläontologie. Dazu kommen unter leider sehr seltenen, besonders günstigen Umständen Sondervorlesungen über 'physiologisclte Chemie, Nerven- und Si?inesphysiologie, Biogeographie und, be- sonders selten, die verschiedenen Teile der experimentellen Zoologie; diese Sondervorlesungen werden fast nie von ordent- lichen Professoren gehalten. Einige der angeführten Titel bedürfen der Erläuterung, da sie nicht ganz das bezeichnen, was sie zu bezeichnen scheinen: Unter Zoologie wird wiederum praktisch durchaus nicht die gesamte „Lehre von den Tieren'', sondern lediglich die Systematik und vergleichende Anatomie der Tiere ver- standen; die allgemeinen Torlesungen über Physiologie des Menschen und der Wirbeltiere behandeln nur die Lehre von den Funktionen des Erwachsenen, pflegen aber die Physiologie der Formbildung („Entwicklungsmechanik-') mit keinem Worte zu berühren. Im übrigen bedürfen unsere Mitteilungen wohl keiner weiteren Worte: sie sind für unser eigentliches Ziel, ein wahres System der Biologie, ohne jeden Wert, Sie bieten ein Gemisch ganz ungleichartiger, teilweise einander übergreifender, nach ganz verschiedenen Gesichtspunkten gesonderter Bestandteile. — 31 — Das ist verständlich, wenn man erwägt, daß der Uni- versitäts- und Lehrbiichbetrieb die ganze schwere Last des historischen Gewordenseins mit sich trägt; es ist des weiteren verständlich aus den Bedürfnissen des praktischen Mediziners heraus, zu dessen Ausbildung biologische Vorlesungen ja vor- nehmlich dienen. Immerhin sollte es unbedingt einen selbständig gestellten Universitätslehrer für Experimentalzoologie an jeder Hochschule geben ^). In dem weniger an seiner Geschichte leidenden Amerika ist es in dieser Hinsicht etwas besser bestellt als in den Staaten Europas. Wie wir noch sehen werden, hätte der „Experimentalzoologe^- sich ganz vornehmlich mit der heut- zutage nur unter besonders günstigen, leider selten verwirk- lichten Umständen und dann nie ,, offiziell^* vertretenen, von 1) Unbedingt notwendig zur Hebung des philosophischen Niveaus der Naturforscher erscheint auch die Gründung von Lehrstühlen für Philosophie der Natur, d. h. für Logik, Kategorienlehre und Metaphysik mit besonderer Berücksichtigung der als Natur objektivierten Erlebtheit. Wie die Dinge heute liegen, überschaut der Studierende kaum je die Natur als Ganzes, als System. Der Professor der Philosophie, wie er heute ist, kann dazu nur schwer die Hand bieten, denn praktisch ist er, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, entweder reiner Psychologe oder kommt von der Geschichte oder Philologie, allenfalls der Mathematik her. Auch pflegt er, da er, guter Tradition gemäß, auch die Geschichte seines Gebiets eingehend zu behandeln pflegt, sehr überlastet zu sein. So wird denn also die Lehre von den Naturkategorien in einiger Gründlichkeit nur stückweise in den verschiedenen mathematischen imd naturwissenschaftlichen Sondervorlesungen dargeboten — und sogar das nur selten! Die jungen Leute treiben „Naturwissenschaft" und wissen gar nicht, was Natur für das Denken bedeutet! Kein Wunder, daß sie da immer noch oft ein Opfer der materialistischen Propaganda werden. — 32 — Roux so genannten Entwicklung smechanik zu befassen, der eigentlichen Zentraldisziplin der Biologie. Es verdient bemerkt zu werden, daß auf dem Gebiete der Lehre von den Pflanzen alles etwas besser als auf zoologischem Gebiete zu liegen pflegt. AUgemeine Botanik pflegt wirklich „allgemeine Botanik" zu sein und Pflanzenphysiologie ist meist wirklich die gesamte Physiologie der Pflanzen. Aber das nützt den argen Zuständen auf dem Felde der zoologischen Biologie nichts. "Wir gehen nun zu dem Versuch einer rein logischen Gliederung des Begriffs der Biologie über: dabei bemerken wir ein für allemal, daß wir nur von „Biologie^' reden, den reinen Sachunterschied zwischen „Tieren^' und „Pflauzen" und etwa noch den einzelligen Wesen, den „Protisten'', aber durch- aus unberücksichtigt lassen werden. 3. Die beiden Grundkonstitueriteu der Biologie. Den Begriff Biologie nach logischen Gesichtspunkten gliedern kann, wie wir schon wissen, nur heißen, ihn gliedern nach dem logischen Wert gewisser Daten, welche eine gleich- sam vorläufige Empirie, nämlich die Empirie des täglichen Lebens, lieferte. Denn apriori kann nur ein Wissen von der Möglichkeit von Gesetzesselbständigkeit im Bereiche des Lebendigen, aber nicht ein Wissen vom wirklichen Wesen des Lebendigen sein. Das Nachdenken über einer vorläufigen Empirie Ergebnisse läßt nun zuvörderst zwei große biologische Problemgruppen, zwei „Momente^' des Begriffs Biologie, wenn wir einen in der neueren Logik üblichen Ausdruck verwenden wollen, erkennen: — 33 — Biologie ist "Werdegesetzeswissenschaft und ist zugleich Systematik. Werdegesetzeswissenschaft oder kurz: Gesetzeswissenschaft, bei engerem Sinne des Wortes „Gesetz'', ist sie, da, wie ja alle wissen, die lebenden Wesen Werden m allen möglichen Formen zeigen; es gilt also, die Gesetze dieses Werdens fest- zulegen, wobei natürlich eine nähere Aufhellung der Lehre vom Erfahrungsgewinn, von der Induktion, der Logik über- lassen bleiben muß. Systematik aber, d. h. Wissenschaft von Gliederung des gegenständlich Mannigfaltigen, muß Biologie sein, da ja doch, wie allen bekannt, ,,das Leben'' in Form spezifisch verschiedener t}"pischer lebender Einzelwesen, sogenannter Individuen, vorliegt. In gewissem Sinne zur Gesetzeswissenschaft gehört natürlich auch Systematik; sie ist Lehre vom gesetzmäßigen -Saeinander; doch ist es üblich, in Sonderheit das Wissen von gesetzmäßigem Nacheinander als Gesetzeswissen zn bezeichnen. Wir gehen nun dazu über, an der Hand unseres vor- läufigen Wissens über das Lebendige kurz darzulegen, wie sich die beiden großen Grundkonstituenten der Biologie wohl im einzelnen wissenschaftsmäßig ausgestalten könnten. 4. Von der Biologie als Gresetzeswissenscliaft. Jedes belebte Einzelwesen ist ein in typischer Weise aus typischen Teilen zusammengesetzter Körper, der in der typischen Art seiner Zusammensetzung in sehr vielen Exemplaren existiert. Seine einzelnen Teile sind letzthin Stoffe von bestimmtem chemischen und physikalischen Charakter, wie sie in den Wissenschaften von der unbelebten Natur studiert werden. Wir wollen kurz sagen: jedes belebte Einzelwesen habe aus diskreten Driescli, Biologie. 2. Aufl. ^ — 34 — Teilen aufgebaute Form; das Wort Form soll uus also immer das aus verschiedenen Teilen typisch Aufgebaute bezeickneu, und wir wollen^ wenn wir dieses kurze Wort in Zukunft an- wenden, von Naturformen homogener Stofflichkeit, wie die Kristalle es sind, ausdrücklich absehen. An gewisse Sondererfahrungen über die Erscheinungen des Werdens, der Veränderung an den lebenden Formen schheßen sich nun die verschiedenen konstituierenden Teile der Biologie als einer Gesetzeswissenschaft an. Form, in dem hier festgelegten Sinne des Wortes, ist das, was die lebenden Wesen recht eigentlich von anderen Naturdingen unterscheidend kennzeichnet: dieselbe Zusammen- gesetztheit aus Teilen kehrt unzählig oft wieder, eben deshalb ist sie tf/pisch und spezifisch. Vom Werden, soweit es die Form angeht, hat also die biologische Werdelehre auszugehen: und sie kann es, da wir ja wissen, daß dasselbe lebende Einzel- wesen nicht in allen Zeiten seines Daseins dieselbe Form be- sitzt, daß es als For^m wird, daß seine Form wird. Die Lehre vom Formwechsel ist also der erste, der grundlegende Teil der Biologie als einer Werde- gesetzeslehre. Wenn wir, in üblicher Weise, alles Wissen vom biologischen Werden Physiologie nennen wollen, können wir also auch sagen, daß die Physiologie der Forhdrildung der grundlegende Teil aller nichtsystematischen Biologie sei. Aber die lebende Form ist eine Zusammenfügung stoff- licher Teile und wir wissen durch vorläufige Erfahrung, daß diese stofflichen Teile im Strom des Werdens wechseln, auch dann noch, wenn, beim sogenannten „Erwachsenen*^, Form sich nicht mehr ändert. Das ergibt die Lehre vom Stoffwechsel als zweiten Hauptteil der Gesetzesbiologie; er mag auch — 35 — ..Physiologie des Stoffwechsels" heißen. Dieser Teil wird es, wohlverstanden, nicht lediglich mit „Stoff" im chemischen und etwa, noch aggregativen Sinne des Wortes zu tun haben, sondern mit allem Werden, insofern es Werden der stofflichen Einzelteile des Organismus als solcher ist. Die Stoff- wechsellehre heißt eben nach der wesentlichsten Seite ihres Gegenstandes: diese ist die Stoffnatur der Teile des Lebe- wesen; wobei aber einerseits zu beachten sein wird, daß diese Teile eben Teile einer Form sind — was immer der Ausgang von allem und die Hauptsache bleibt — , und andererseits eben doch nicht vergessen werden darf, daß nicht nur das Dasein, sondern das Werden von Stoff zur UntersuchuDg steht. Die Bewegungslehre endlich, die Physiologie der Be- wegungen, ist der dritte Hauptkonstituent gesetzesmäßiger Biologie. Wir wissen ja alle vorläufig- empirisch, daß die Organismen sich bewegen, daß ihre Bewegungen eine in sich geschlossene Klasse von Phänomenen bilden. Wir wissen auch, daß diese Bewegungen als sogenannte „Reaktionen" auf „Reize" genannte Anstöße erfolgen, und daß diese Reize in energetischem Sinne Teilursachen, Veranlassungen sind. Damit wissen wir zugleich, daß das Gebiet der biologischen Be- wegungslehre nicht so uniform in sich ist, wie es dem Namen nach vielleicht zu sein scheinen könnte; daß es zum Beispiel die Lehre von den „Sinnesorganen", das heißt den Reizauf- nehmern, mit umfaßt. Formwechsellehre, Stoffwechsellehre und Bewegungslehre sind also der Gesetzesbiologie Gruudkonstituenteu. Ehe wir uns die einzelnen Glieder dieser Dreiheit näher ansehen, ist nun noch eine ganz allgemein für alle gültige Bemerkung voranzustellen : 3* — 36 — Die lebenden Körper sind sehr zusammengesetzte Formdinge; sie bestehen aus vielen verschiedenen Stoffarten, zeigen sehr verschiedenartige Formbeziehungen unter den stoff- lichen Letztteilen und zeigen eine sehr große Bewegungs- mannigfaltigkeit. Um nun überhaupt Gesetzeswissenschaft im Gebiete der Biologie treiben zu können, muß man ganz offenbar für eine „Spezies", die tieferer Untersuchung Objekt sein soll, Form-, Stoff- und Bewegungsmannigfaltigkeit in ihrem reinen Da- sein und Sosein zunächst einmal kennen. Ja, man muß, zunächst ganz ohne Rücksicht auf „systematische*' Absichten, diese Mannigfaltigkeiten von jeder Spezies kennen, da ja jede weiterer Untersuchung als Objekt dienen könnte. Das aber heißt: Die reine Beschreibung hat als Vor- bereitung für den eigentlichen Wissenschaftsbetrieb eine sehr große vorläufige Rolle in allen Teilen der Biologie zu spielen. Beschreibung bleibt dabei ..Beschreibung", ganz gleichgültig, ob es sich um reine Deskription der Formverhältnisse, oder um chemische Kennzeichnung der vorliegenden Stoffe, oder um reine Darlegung des Wesens der „Funktionen" der einzelnen Organe handelt oder um anderes. Jede biologische Gesetzesdisziplin, auch die Physiologie des Stoffwechsels, hat es also im Anfang mit reinen De- skriptionen zu tun, ehe sie dem Zusammenhang des Werdens nachgehen kann. Man muß die Stoffe kennen, die Leber und Pankreas bilden, ehe man Stoffwechselgesetzlichkeiten erforscht. Freilich ist dieses Kennen auf dem Stoffwechselgebiete nun immerhin leichter zu erreichen als auf dem Gebiete der Formenlehre. Dieser äußerliche Grund allein ist es, der die heute sogenannte „Physiologie", welche aber, wie wir — 37 — wissen, wenigstens auf zoologischem Gebiete die Formwechsel- lehre praktisch ausschließt, früher als die Morphologie zu einer besonders betriebenen Gesetzeswissenschaft hat werden lassen. 5. Die Aufgaben der Lehre Yon der FormMldniig. Wir wenden uns nun einer etwas eingehenderen Betrachtung der verschiedenen konstituierenden Teile der Gesetzesbiologie zu; dabei beginnen wir mit ihrem grundlegenden Konstituenten, der Lehre von den Gesetzen der Formbildung. Das Interesse der Biologie des achtzehnten Jahrhunderts ist durchaus in der Lehre vom Formwechsel zentriert i), und zwar in dem ausdrücklichen Bewußtsein der Tatsache, daß eben hier der Biologie eigentliches Grundproblem vorliege. Meist freilich bleibt es bei der Erwägung von Möglichkeiten oder bei dogmatischen Äußerungen, aber Spallanzani, Blumenbach u. a. haben doch bereits in planmäßiger Weise experimentiert, soweit das die technischen Hilfsmittel ihrer Zeit zuließen. In der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts trat das Interesse an der Lehre vom Formwechsel zugunsten des- jenigen an der Systematik und am Begriff des Typus, in der zweiten trat es zugunsten des Interesses an deszendenz- theoretischen Spekulationen zurück. Sachs war es, von Pfeffer und anderen gefolgt, der es, wenigstens auf botanischem Gebiete, wieder wachrief. Auf zoologischem Gebiete kam der Erwecker erst später; zwar waren sich Männer wie der Anatom His und Goette, 1) Vgl. Driescb, Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre, 1905; Rädl, Geschichte der biologischen Theorien, Bd.! 1905, Bd. II 1909. — 38 — ja auch Karl Ernst von Baer klar darüber gewesen, daß doch offenbar das Sichentwickeln der Form als solches ein legitimes Problem der Biologie sei, und daß diese Wissenschaft, soweit sie sich mit Formen abgibt, nicht in Systematik und Deszendenztheorie aufzugehen habe; aber erst Wilhelm Roux war es, der die moderne Gesetzeswisseuschaft vom Formwechsel in vollem Bewußtsein ihrer Bedeutung schuf, der Bichtlinien für ihr Programm entwarf und, was wohl das Bedeutsamste war, anfing, mit selbstgeschaffener Fragestellung auf ihrem Gebiete experimentell zu arbeiten. Von 1890 an hat dann die eigentliche Entwicklung der Lehre von den Gesetzen der Formbildung, als des eigent- lichen Zentrums aller selbständigen Biologie, begonnen, und die Zoologie übernahm hier bald die Führung. Loeb ging auf den von Sachs vorgezeichneten Bahnen auf dem Gebiete der Erforschung tierischen Lebens weiter, Herbst ging selbständig geschaffenen, durch Gelegenheitsbeobachtungen des französischen Physiologen Pouch et angeregten Problemen nach, ich selbst knüpfte weitere Forschungen zunächt an gewisse von Roux formulierte Fragestellungen an. So wurde gleich- zeitig der Grund der Lehre von den Formreizen, den Form- bildungsmitteln, den Formpotenzen — um alsbald zu erläuternde Begriffe hier vorwegzunehmen — gelegt. Sehr bald schlössen sich die amerikanischen Zoologen E. B. Wilson und T. H. Morgan dem von Boux und mir bebauten Sondergebiete der Formwechsellehre an; sie gehören auch noch zu den eigent- lichen Grundlegern des neuen Baues. Übrigens darf nicht unerwähnt gelassen werden, daß vor der eigentlichen Programmatisierung der Formwechsellehre als allgemeiner nomothetischer Disziplin die Gebrüder Hertwig — 39 — auf dem Gebiete der Zellenmorphologie experimentiert hatten, und daß Boveri den ersten Versuch in Fragen der Vererbungs- lehre wirklich durchführte; auch die Namen Pflüger, Raub er und Nußbaum dürfen an dieser Stelle nicht ungenannt bleiben. S,oux hatte die Gesetzeslehre vom Formwechsel Ent- wicklungsrnechanik genannt, und dieser Name hat sich in Deutschland in weiten Kreisen eingebürgert. Gustav Wolff schlug später den, dann auch von mir, Boveri u. a. akzep- tierten Namen Entwicklungspliysiologie vor; Loeb redete von Anfang an von „Physiologischer Morphologie*'. Alle diese Namen haben ihre Vor- und Nachteile. Sagt man „Entwicklungsmechanik", so muß man nicht vergessen, daß es sich erstens nicht nur um die Erforschung der eigentlichen „Entwicklung" des Erwachsenen aus dem Ei, sondern auch z. B. um Regenerationen, um Variationen und vieles andere handelt, und daß zweitens das Wort Mechanik nur soviel wie das imter einem Gesetz Stehen bezeichnen soll — denn von vornherein die Auflösbarkeit der Phänomene des Werdens im Bereich des Lebendigen in „Mechanik" behaupten wäre doch krassester Dogmatismus. Das Wort „Mechanik" muß also, wenn man von Entwicklungsmechanik reden will, so weit gefaßt werden, daß es den sogenannten Vitalismus, der ja doch nie Gesetzlosigkeit bedeutet, einschließt. Das Wort „Entwicklungsphysiologie" oder ein ähnliches andererseits kann den Anschein erwecken, als handele es sich nur um eine Art Seitenzweig dessen, was üblicherweise „Physiologie" genannt wird. So zu schließen hieße aber den eigentlichen Physiologen vom Fach — wenigstens auf zoologischem Gebiete — zu viel Ehre erweisen; sie haben sich ja gerade um das Werden der Form gar nicht gekümmert! In keinem — 40 — „physiologischen" Institut wird formphysiologisch gearbeitet; auch da, wo, wie in Amerika, sich im Gegensatz zu Deutsch- land die neue, von Deutschen geschaffene "Wissenschaft glänzend entfaltet, wird sie nicht in „physiologischen", sondern in „zoologischen" Instituten betrieben. Zoo-Physiologie ist praktisch nur Physiologie der „Erhaltungsfunktionen", um mit Roux zu reden. Auch ist die Technik der logisch ganz korrekt „Entwicklungs"- oder besser noch „Formbildungs- physiologie" genannten Disziplin praktisch eine ganz andere als die der „Physiologie" im üblichen Sinne. Doch schließlich — Namen sind Namen ; die Hauptsache ist, daß eingesehen wird, es müsse eine Lehre vo)i den Gesetzen des Formwechsels geben, ja, sie sei eigentlich aller Biologie Zentrum. Auf internationalen Kongressen und auch sonst gelegent- lich pflegt übrigens neuerdings unsere Disziplin einfach als „Experimentalzoologie'^ bezeichnet zu werden, wobei denn dieser Name freilich — seltsamer-, aber auch nicht seltsamerweise! — meist diejenigen Zweige der Lehre von den organischen Bewegungen, welche den Organismus als Ganzes nehmen, ein- zuschließen pflegt. Ich gehe nun zu einer nach logischen Gesichtspunkten eingeteilten Übersicht über alle möglichen Sonderprobleme der Lehre von den Gesetzen des Formwechsels, der Ent- wicklungsmechanik, wenn man das' Wort richtig verstehen will, über: dabei werde ich gelegentlich besonders bedeutsame Er- gebnisse der tatsächlichen Forschung, zur Erhöhung der An- schaulichkeit meiner Darlegung, im einzelnen namhaft machen 1). ^) Die erste eigentliche Systematisierung des neuen Gebietes gab ich 1899 in meiner Arbeit „Resultate und Probleme der Entwicklungs- — 41 — Von rein deskriptiven Untersuchungen, mögen sie die Be- fruchtungslehre oder die eigentliche Zellenforschung oder die Entwicklungsgeschichte des Individuums oder anderes angehen, wird im folgenden nicht die Rede sein; solche Dinge sind der Ge- setzesforschung notwendige Voraussetzung, aber nicht sie selbst. I. Lehre von der Einleitung der Formbildung. 1. Lehre von der Befruchtung und Reifung: a) Bedeutung von Kern und Plasma der Sexual- produkte; Wichtigkeit des Kerns (Bütschlij Ge- brüder Hertwig, Strasburger, Boveri u. a.); das Zentrosoma (Boveri, van Beneden); Lehre von der „Konjugation" der Protisten; b) Einflüsse der Polyspermie (Boveri, Brächet u. a.); c) Ersatz der Befruchtung durch Agentien ver- schiedener Art („künstliche Parthenogenese" — J. Loeb); 2. Lehre von der Geschlechtsbestimmung^): a) Das sexualdeterminierende Wesen der Geschlechts- produkte selbst (E. B.Wilson, Correns u. a.); Physiologie der Tiere", Ergebn. d. Anat. u. Entwlgsgescb. VIII, 1899; in einem späteren Referate (ebenda Band XVII, 1909) ist diese Syste- matisierung vertieft worden. — Alle vorliegenden Lehrbücher über den Gegenstand haben sich der von mir vorgeschlageneu Einteilung im großen und ganzen angeschlossen. Eine kurze Übersicht der wichtigsten Leistungen des Gebietes findet man in meinem Aufsatze: „Die Physiologie der tierischen Form" in Ergebn. d. Physiologie Band V, 1906. Auch in meiner „Philosophie des Organischen" Band I findet sich das Wesentlichste. 1) Es sind rein tatsächliche Umstände, die es gebieten, die Lehre von der Geschlechtsbestimmung dieser Stelle des Ganzen einzureihen. — 42 — b) Die Beeinflußbarkeit der Sexualität durch Äußeres (R. Hertwig u. a.); 3. Die morpho genetische Bedeutung derE-eifung (E. B. Wilson). II. Lehre von den Mitteln aller Formbildung. A. Äußere Mittel: 1. Notwendigkeit von Wärme; Gültigkeit des van 't Hoff sehen Gesetzes für die Formbildungs- geschwindigkeit (Driesch, 0. Hertwig); 2. Einflüsse strahlender Energie; 3. Bedeutung des Sauerstoffs (Godlewski); 4. Bedeutung des osmotischen Druckes; 5. Bedeutung der chemischen Zusammen- setzung des Wassers, zumal bei Meerestieren (Herbst, J. Loeb u. a., zumal des ersteren Ermittlungen über die spezifische Wirkung einzelner Salze). B. Innere Mittel: 1. Der Aggregatzustand des Protoplasmas als formbildenden Faktor (Berthold, Bütschli, Dreyer u. a.); 2. Zellteilung: a) Theorien der Zellteilung (Bütschli, F. ß. Lillie, Gallardo u. a.); b) Die individuelle Zellengröße, ihre Konstanz bei gleichen Chromatinverhältnissen unab- hängig von der Größe des Organismus usw. (Morgan, Driesch, Boveri, R. Hertwig u. a.). — 43 — III. Die Lehre von der echten Entwicklung des Individuums. 1. Die Lehre von der Verteilung der prospektiven Potenzen: a) Die Zellen der ersten Furchungsstadien und die Teile des Eies (Roux, Driesch, Wilson u. a.); b) Die Zellen der embryonalen Organe (Driesch, Spemann. Braus u. a.); 2. Die Lehre von den formbildenden Reizen (Herbst) 1): a) Richtungsreize.äußerer(Botanisches; Forschungen über Hydroiden von Loeb und Driesch) und innerer (Driesch, Loeb) Art; b) Formative Reize, zumal Untersuchungen über die formative Bedeutung des Nervensystems (Herbst, G. Wolff, Grodlewski u. a.); die Entstehung der Linse im Wirbeltierauge (Herbst, Spemann); die sekundären Geschlechtscharaktere (Nußbaum u. a.) usw. : 3. Die Lehre von der „Selbstdifferenzierung'' (Roux), d. h. von der relativen Entwicklungsselb- ständigkeit einmal angelegter Teile in bezug aufein- ander (Roux, Driesch, Braus u. a.); 4. Das Problem der Auflösbarkeit der Entwick- lung in einzelne Reizeffekte; Theorie des har- monisch-aequipotentiellen Systems (Driesch). 1) Vgl. seine Aufsätze im biol. Centralbl. XIV (1894) und XV (1895) und seine Schrift „Formative Reize in der tierischen Ontogenese'' 1901. — 44 — IV. Die Lehre von der Formadaptation, d. h. der An- passung der histologischen Struktur des Erwachsenen an künsthch geänderte Bedingungen der Funktion: a) Anpassungen an Änderungen des Mediums (vor- nehmlich botanische Untersuchungen, zumal von Vöchting; Kammerer); b) „Funktionelle Anpassung" (RouXj Barfurth u. a.). V. Die Lehre von der Restitution, d. h. von der Wiederherstellung des gestörten Formergebnisses : a) Embryonale Restitution („Postgeneration" Roux's): ß) Restitution des Erwachsenen; 1. Die Lehre von den Restitutionstypen: a) Restitution auf Grund von Umbildung der Gesamtheit des vorhandenen Bruchstücks (Theorie vom harmonisch- aequipotenüellen System} (Driesch, Morgan u. a.); b) Adventive oder Knospungs-Restitution (Bo- tanisches : Restitution der Linse des Wirbeltierauges von der Iris aus nach G. Wolff); c) Restitution durch Kompensation, d. h. das Entnommene wird durch Umbildung eines nicht ent- nommenen besonderen Organs oder durch abnorme, aber jetzt in das Ganze passende Ausbildung einer vorhandenen Organanlage ersetzt (viel Botanisches; Przibram, Zeleny u. a.); d) echte Regeneration, d. h. Ersatz des fehlenden durch Sprossung von der Wunde aus. (Gliedert sich in manche Sonderprobleme ^).) 1) Näheres in meinen „Organischen Regulationen" 1901 S. 44 ff. -- 45 — 2. Die Lehre von den Verschiedenheiten des restitutiven Vermögens nach Ortlichkeit, Alter und Stadium (Morgan, Driesch); 3. Die Lehre von der Restitution der Restitution (Driesch); der Restitution sv^r^a?«/ wurde gestört und dann in sich reguliert; 4. Die Lehre von der Aequifinalität (Driesch); ver- schiedene Restitutionswege führen zu gleichem Ergebnis; 5. Die Lehre von der Polarität (Sachs, Vöchting, Loeb, Morgan u. a.); 6. Das Problem der Verbesserung der Restitu- tionen bei "Wiederholung (Driesch, Pearl); 7. Das Problem des Restitutionsreizes (Driesch^), Morgan, Zeleny), d. h. der Frage nach dem die Restitution letzthin auslösenden Paktor; mehrere Sonder- probleme. VI. Die Lehre von der Umbildung des Reiches des Belebten als eines Ganzen („Deszendenztheorie"). Auf diesem Gebiete war bis vor wenigen Jahren die Literatur von rein konstruktiv -spekulativer Art („Stamm- bäume"); das solideste waren die von Paläontologen aufge- stellten Reihen geologisch aufeinander folgender Formen ^). 1) Vgl. meinen Vortrag „Der Restitutionsreiz", Leipzig, 1909; s. a. Child, Die physiologische Isolation, Leipzig 1911. 2) Diese Lehre ist neuerdings durch G. Stein mann durch einen, wie mir scheint, sehr fruchtbaren Gedanken, nämlich durch die An- nahme vieler unabhängig nebeneinander durch die ganze Tierwelt hindurch verlaufender EntwickluDgsreihen, bereichert worden (vgl. Zeitschr. f. indukt. Abstlehre 2, 1909, S. 65 und 4, 1910, S. 103). Bei solcher Auffassung erscheint Phylogenie wirklich als immanente Ent- wicklung. — 46 — Englische Forscher (Galton, Weldon, Bateson) haben von etwa 1890 an das Variieren exakt studiert; von 1900 an, nach derWiederentdeckiing der „Mendelschen Regel", datieren auch exakte Yererbungsversuche. Ich möchte den Stoff etwa in folgender Weise gliedern: 1. Die Lehre vom Variieren (die englische Statistiker- schule; de Vries' „Mutation": Johanssen's „reine Linien"; Rückschlag: Selektion). 2. Die Lehre von der Bastardierung, d.h. von der Analyse des Prozesses der Vererbung; a) die Bastardcharaktere selbst und ihre Be- einflussung (Vernon, Doncaster und vornehm- lich Herbst); b) die Lehre von der Spaltung der Bastarde (Mendel 1865; ferner seit 1900 de Vries, Correns, E. Tschermak, Bateson. Davenport u. a.); c) die Lehre von den sogenannten Pfropf- bastarden (Winkler); 3. Die Lehre von der Vererbung erworbener Eigen- schaften^) (zoologische Experimente vor allem von Kammerer). 6. Einiges über die Lehren vom Stoffweclisel und von den organischen Bewegungen. Es kann nicht dieser Schrift Aufgabe sein, für die beiden übrigen Konstituenten der Biologie als Werdegesetzeslehre, für die Lehren vom Stoffwechsel und von den Bewegungen ^) Näheres und vollständige Literatur bei Semon, Fortschr. d. naturwiss. Forschung, 2, 1910. S. 1. — 47 — der Organismen also, ein so eingehendes Programm zu ent- werfen, wie es für die Lehre vom Formwechsel hier entworfen worden ist. Es ist das aber auch für jene beiden Konstituenten der Gesetzesbiologie nicht so gar nötig. Denn da handelt es sich um Wissenszweige, die in ihrem Wesen jedem, der sich auch nur etwas mit naturwissenschaftlichen Dingen abgegeben hatj wenigstens so von ungefähr bekannt sind. Bei der Ent- wicklung smechanik — im richtig verstandenen Sinne des Wortes — handelte es sich um neues und doch grundlegend Wichtiges, um fast gar nicht Gekanntes, ja um immer noch von weiten Kreisen, zumal — leider muß es gesagt sein — gerade in Deutschland, wo die exakte Lehre vom Formwechsel erstand, Ignoriertes. Die Lehre vom Stoffwechsel möchte ich in großen Zügen gliedern in: die Lehre von der Atmung, die Lehre vom Auf- und Abbau, die Lehre von den Schutzstoifen. Voraussetzung alles Gesetzeswissens ist auch auf dem Gebiete der Stoffwechsellehre deskriptive Forschung, welche nun freilich als an und für sich sehr schwierige Disziplin, nämlich als physiologische Chemie hier auftritt. Wir ver- stehen mitQT physiologischer Chemie die Lehre von der chemischen Natur der in den Organismen auftretenden chemischen Körper ihrem reinen Vorhandensein nach und unterscheiden sie von der chemischen Physiologie als der Lehre, welche die Art des Gebildetwerdens dieser Körper im Organismus untersucht oder hypothetisch konstruiert. Die chemische Physiologie also ist Werdewissenschaft und als solche Ausgang für Weiteres, die physiologische Chemie noch nicht. Von besonderer Wichtig- — 48 — keit ist für die chemische Physiologie die Ermittlung gerade der Besonderheiten des Bildungsweges der einzelnen chemischen Bestandteile des Organismus in ihm selbst, etwa im Gegen- satz zu den Besonderheiten ihres Bildungsweges in der Retorte. Die Stoffwechsellehre in ihrem weiteren Verlauf richtet nun freilich von den chemischen Körpern und ihren Bildungs- wegen als solchen den Blick auf den Organismus und seine Organe als Bildner. Hier kommt vieles in Frage, das nicht mehr in irgendeinem Sinne die Bezeichnung ..chemisch" ver- dient, sich vielmehr den Agentien der Physik im Dienste des Organismus zuwendet. Die Lehre von der Durchlässig- keit der organischen Membranen, welche ja lebende, zell- gebaute „Membranen" sind, gehört hierher ^). Unter den neuesten Forschungen zur Stoffwechseliehre sind von ganz besonderer Bedeutung die Entdeckung der Ab- hängigkeit mancher Sekretionen von „psychischen" Vorgängen durch Pawlow und der Nachweis, daß der gesamte Ernährungs- stoffwechsel ein verwickeltes Spiel ineinandergreifender fer- mentativer Leistungen ist (Pawlow, Starling und Bayliss' Lehre von den Hormonen). Die Lehre vom Schutzstoffwechsel, die Grundlage der Lehre von der Immunität, ist durch die großen Entdeckungen ^) Über das gesamte Gebiet der eigentlichen Ernährungslehre orientiert auch weitere Kreise, neben den üblichen Lehrbüchern der Physiologie, 0. Cohnheim, Physiol. d. Verdauung u. Ernährg. 1908. Unter den Lehrbüchern seien auf botanischem Gebiete besonders die Werke von Sachs und Pfeffer, auf zoologischem das, in manchem freilich jetzt zu berichtigende Werk von Bunge genannt. Diese Werke verlieren nie den Blick auf das Ganze und stellen mit Recht den Be- griff des Regula torischen in den Vordergrund. — 49 — Toii Ehrlich, Behring und vielen anderen ein gleichsam selbständiger, praktisch und theoretisch gleich bedeutsamer Zweig der Biologie geworden. — Die Lehre von den Bewegungen der Organismen zer- fällt in zAvei große Hauptabteilungen. Zunächst einmal ist sie ..Physiologie*- im engeren, un- bestrittenen Sinne; hier mag sie in: die Lehre von den Sinnesorganen, die Lehre von der Xervenleitung, die Lehre von der Bewegungsausführung durch Proto- plasmabewegung, Wimperbewegung, Muskelkontraktion usw. gegliedert werden. Zum anderen aber ist sie dasjenige, was, richtig gedeutet, wohl als Tierpsychologie bezeichnet werden darf. Methodisch ist diese zweite Grundabteiluug der organischen Bewegungslehre von der üblichen ..Physiologie" der physio- logischen Laboratorien recht scharf getrennt; sie ist mehr „Zoologie"' als ..Physiologie" in der praktisch — nicht logisch — ausgeprägten Bedeutung dieser AVorte. Meist — freilich nicht immer — betreiben sie ..Zoologen", ja, mit der „Entwicklungs- mechanik- vereint bildet sie, wie schon früher gesagt, das, was z. B. die Amerikaner „Experimental Zoology" nennen und dem sie eine besondere Zeitschrift gewidmet haben. Logisch genommen ist Tierpsychologie natürlich ein Teil der Bewegungsphysiologie; denn die ..Seele" ist überhaupt kein Gegenstand der Naturwissenschaft. Von „Psychologie" hier reden heißt nur die Gesetzlichkeit der studierten Bewegungen nach Analogie des eignen Handluugsbenehmens deuten — Blies eil, Biologie. 2. Aufl. •! — 50 — streng genommen tun wir ja auch bei Beurteilung der Be- wegungen des Mitmenschen, welche allein uns unmittelbar zugänglich sind, nichts anderes. Immerliin mag von „Tier- psychologie" geredet werden^) da, wo so recht das Ganze, die Einheit von organischen Bewegungsreaktionen in Frage steht; ja, wer wie ich und viele andere der Ansicht ist, daß gerade hier eine Einsicht in dio physikalisch-chemische Un- auflösbarkeit biologischer Phänomen sich eröffnet, dem bedeutet jener Ausdruck wohl, obschon auch nicht eigentlich „Psy- chologie'*, so doch auf alle Fälle etwas sehr Ausgezeichnetes. Den zweiten Hauptteil der organischen Bewegungslehre könnte man einteilen in: die Lehre von den einfachsten Bewegungen und den Be- wegungskonstituenten, die Lehre vom Instinkt, die Lehre vom Handeln (vom ,. Gedächtnis"). Der erste dieser Teile würde sich wieder gliedern in: die Lehre von den Bichtungsbewegungen (Sachs, Pf eff er, J. Loeb), die Lehre von den Probierbewegungen (Jennings: „Trial and Error"), 1) Den Gesamtgegenstand der neueren Forschung behandeln mehr nach der „physiologischen" Seite hin: v. Uexkuell, Umwelt und Innenwelt der Tiere, 1909, und Jennings, Behavior of the lower Orga- nismus, 1906; mehr nach der „psychologischen" hin: Wasmann, Instinkt und Intell. im Tierreich, 3. Aufl., 1905, Washburu, The animal mind, 1908, und K. C. Schneider, Vorles. über Tierpsych., 1909. Man vergleiche auch meine „Philosophie des Organischen" II S. 1 bis 122. — 51 — die Lehre von den einfachen Konstituenten, u. a. dem „Eeflex" (Uexkuell). Die Lehre vom Instinkt liegt sehr im argen; soviel auch sonst in neuerer Zeit für die Bewegungslehre der Organismen getan worden ist, so wenig ist hier geschehen ^). Dagegen ist die Lehre vom Handeln der Tiere jetzt sehi- entwickelt. Das Dasein von Gedächtnis oder, in objektiver Sprache, von einer „historisch gewordenen Reaktionsbasis" ist nachgewiesen in Gruppen des Tierreichs, wo man es nicht vermutete, sogar bei Protozoen. Das höchste Objekt der Lehre von der Handlung ist der Mensch; hier geht denn Gesetzesbiologie in die üblicher- weise Psychologie genannte Disziplin, soweit sie durch objektive Methoden und nicht auf dem Wege der Selbstbesinnung be- trieben wird, ohne scharfe Grenze über. Umfaßt doch im logisch strengen Sinne der Begriff Leben alles, was da überhaupt gelebt hat, lebt und leben wird, in allen seinen objektiven Äußerungen und Folgen. So verstanden ist denn Biologie die objektive Wissenschaft von der Gesamtheit des Belebten. Es sind praktische Gründe, welche hier die sogenannten „Kulturwissenschaften" von der Biologie abzutrennen zwingen. Auch „Geschichte" in ihren objektiven Äußerungen ist der „Stammesgeschichte" Fortsetzung, wobei freilich der zweite Teil vom ersten wenig Nutzen ziehen kann — denn vom Wesen der „Stammesgeschichte", wennschon wir von der Wahrscheinlichkeit ihres Geschehenseins reden dürfen, wissen wir immer noch gar nichts. 1) Die Grundfragestellungen in meiner „PhU. d. Org." II S. 36 ff. 4* — 52 — 7. Die biologische Systematik. Systematik heißt die zweite Grundaufgabe der wissen- schaftlicheu Biologie; Systematik aber bedeutet Ordnung iu der Mannigfaltigkeit nicht des Nach-, sondern des BeiemsrndeT, des Zugleich, besser vielleicht: des Soseins überhaupt ohne irgendwelche Rücksicht auf Zeit. Das denkende Ich wünscht seinem Erleben und insonder- heit seinem Naturerleben mit so wenig Begriffen wie möglich beizukommen, und die Begriffe, mit denen es ihm beikommt, nach Möglichkeit eine Gesamtheit sein zu lassen. Dieses Bestreben zeigte sich bei der Ausbildung der Lehre vom Werden, es zeigt sich nun hier in noch unmittelbarerer Form. Dort hieß es, das Werden sei zu fassen, als ob logische Ver- knüpfung in ihm herrsche; jetzt soll das, was in mannigfaltiger Sonderausprägung da - ist, dem Sosein, der „Qualität" seiner Ausprägung nach ganz unmittelbar nach dem Prinzip des be- grifflichen Einschlusses geordnet werden. Da gilt denn für Vieles am Sosein der einzelnen Sonderausprägungen dessen, was da ist, ein für allemal ein Begriff; ihm als „Genus", das ein für allemal gesetzt ist, darf sich nur die „differentia specifica" beifügen, und man hat alles. Genauer besehen gebärdet sich biologische Systematik etwa wie folgt: Im eigentlichen Sinne da sind unzählige lebende Individuen, jedes in seinem Sosein durch eine recht mannig- faltige Setzung zu kennzeichnen. Praktisch gleicht kein Indi- viduum ganz dem andern. Was soll nun das Denken beginnen? Es kann doch nicht aus jedem Individuum einen „Individual- begriff" machen und diesen als solchen festhalten. Es sieht also von gewissen Besonderheiten der wirklichen Individuen — 53 — ab, indem es sie „zufällig" nennt; was nach Abzug des als zufällig Angesehenen zunächst übrig bleibt, das legt es der Schaffung eines Begriffs, des Begriffs der Spezies, zugrunde. Dieser Begriff ist dann also natur-repräsentiert durch eine Klasse mit „Einzigkeiten", d. h. eben den Individuen. So entstehen die Begriffe Katze, Schaf, Stentor coeruleus, Weiß- tanne. Nun möchte das Denken weitergehen in seinem Streben nach Schaffung von Übersichtlichkeit, und es kann weitergehen. Die ihrem Sosein nach durch Begriffe gekennzeichneten Individuenklassen, die Spezies, lassen sich in einzelne Gruppen, in Soseinsgruppeti, zusammenfassen. Eine Soseinsgruppe ist allemal eine Gruppe von solchen Spezies, welche gemein- sam einen und denselben, wiederum eine Klasse bedeutenden, Begriff mitzusetzen, d. h. zu „abstrahieren" erlauben. So er- stehen Begriffe wie Canis, Felis, Ursus und andere entsprechende — es sind die „Genera" der Systematik. Aber das Denken will noch nicht fertig sein und braucht es wiederum nicht zu sein: Die Soseinsgruppen, welche es schuf, gestatten eine An- ordnung in Stufen. Das heißt: Die von verschiedenen Soseins- gruppen ersten Grades, den Spezies, mitgesetzten, Klassen be- deutenden Begriffe, die Genera also, bilden wieder unter sich verschiedene Gruppen, welche gemeinsam die Familien (Feli- ciden, Caniden usw.) mitsetzen. Die Familien wieder vereinigen sich zu Gruppen, aus denen die Ordnungen abstrahiert werden; es folgen die Klassen, die Kreise, die Reiche — endlich folgt der Begriff „Lebendes Wesen". Das ist die Schematik des Systems und das ist ihr natür- licher Gang, welcher also vom Gegebenen, d. h. logisch — 54 — dem luhBltreichsten anfängt, um im Stufengang Umfangreiches, aber Inhaltarmes zu gewinnen. — Drei Dinge sind es, welche ich hier in Sachen der biologischen Systematik, die ja sonst keiner weiteren Auf- hellung bedarf, erwähnen möchte: Das Problem der Systematik ist durchaus unabhängig von der Stellung zur Deszendenztheorie. Die Miß- achtung dieser Wahrheit hat in neuerer Zeit eine Vertiefung der biologischen Systematik sehr gehemmt. Man glaubte, Systematik durch „Phylogenie" gleichsam ersetzen zu können. Die Frage nach dem Sosein der Einzelausprägung der Natur- dinge und nach seiner Bedeutung bleibt aber als solche bestehen, ganz gleichgültig, ob alle Spezies als erschaffen oder als aus einander nach heute unbekannten ^) Prinzipien der Umwandlung hervorgegangen betrachtet werden. Die Verschiedenheit ihres Soseins ist doch in beiden Fällen gleichermaßen da! Begriffe sind zeitlos; und insofern das Sosein der Spezies durch Begriffe dargestellt wird, ist auch dieses Sosein zeitlos — trotz aller Deszendenzlehre, die wir selbst für eine wahrscheinliche Hypothese halten. Was würde wohl ein Chemiker sagen, wenn man ihm zumuten würde, nur diejenigen Verbindungen systematisch zu verwerten, welche unter den geologischen Bedingungen von heute dauernd stabil wären! Für ihn „gibt es" sogar Ver- bindungen, die er noch nie darstellte. Mit dem Problem des „es gibt" in diesem Sinne allein hat es Systematik zu tun. Das übersieht meist die heutige systematische Forschung, ^) Hierzu die Kritik der bestehenden Deszendenztheorien in meiner "Phil. d. Org.** I S. 261—297. ob sehr im Gregensatz zu derjenigen in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, welche uns die Begriffe Typus und Bauplan gab, und deshalb darf man mit Recht sagen, daß die Deszendenztheorie die Systematik verdorben habe. Systematik ist nicht Lehre vom Werden. Unter neueren scheint mir lediglich E. E,ädP) das logische und naturphilosophische Problem der echten „Mor- phologie", so wie Goethe und Cuvier, ja noch Baer es ver- standen, gesehen zu haben. — Damit haben wir die erste Angelegenheit, von der wir hier in Sachen der Systematik reden wollten, erledigt und wenden uns zur zweiten: Es gibt ,. Systeme", welche wir verstehen können; sie mögen rationelle Systeme heiJSen. Dahin gehören die Systeme der Zahlen, der Funktionen, der Kegelschnitte, der regulären Polyeder, aber auch die Systeme der Kristalle, der chemischen Ver- bindungen, der Atomarten — die drei letzten wenigstens in gewissem Grade. Was macht ein System rational? Wie kommt es, daß auch Systeme von Naturdingen rational sein können und — ist das biologische System rational? Ein System ist „rational", wenn sein umfangreichster, sein abstrahiertester, sein in höchster Stufe mitgesetzter Begriff ■ — also etwa der Begriff „Kegelschnitt", „reguläres Polyeder" — ^) Man vergleiche seine „Geschichte der biologischen Theorien" (Leipzig, 1905 und 1909), ein grimdlegendes Buch, dessen Darlegungen bisher leider auf sehr unfruchtbaren Boden gefallen sind. — Der Referent im „Archiv für Rassenbiologie* hat sich mit seiner „Kritik" dieses Meisterwerkes ein ganz besonders klägliches Zeugnis seiner Geistesbildung ausgestellt. — 56 — aus sich heraus das Wissen um das Sosein der einzelnen Glieder des ganzen Systems erlaubt. Das ist nun logisch eine sehr merkwürdige Angelegenheit. Aus dem Umfangreichsten, dem luhaltärms^^'/i also, soll Inhalt- reicheres folgen. Wie wäre denn das möglich? Stellt das nicht die ganze Lehre vom Folgen, vom Einschluß, vom „Mit- setzen" auf den Kopf? Nun, es handelt sich eben nicht um rein logisches Folgen, sondern um gegenständliche Aussagen auf dem Gebiete der Zahlen- und Raumlehre. Und da liegen nun einmal, wie hier nicht des näheren ausgeführt werden kann, die Dinge so, daß, kurz gesagt, rationelle Systeme möglich ^mdi. Der inhaltärmste, umfangreichste Begriff ist hier eben in Wahrheit zwar umfangreichst, aber nicht inhaltärmst: wir dürfen kurz sagen, daß er als Genus die Gesamtheit der Spezies in ihrem jeweiligen Sosein uneiitivi ekelt in sich ent- halten und sie zu entwickeln gestatte. Wo immer sich nun das Mannigfaltige an Naturdinglichem räumlicher Mannigfaltigkeit zuordnen läßt, da läßt sich ein rationelles System auch von Naturdingen gewinnen. Die Chemie aber faßt die Atome als Gleichgewichtszustände von mit Zentralkräften begabten Elektronen, die Moleküle als Gleichgewichtszustände von Atomen, die Kristalle als Gleich- gewichtszustände von Molekülen. Alles wird raum-faßbar. Deshalb wird alles rational systematisierbar, deshalb läßt sich ein Idealzustand der Wissenschaft denken, auf dem wahr- haft eingesehen wird: es kann im Bereiche der unbelebten Natur nur diese Dingarten mit diesem Eigenschafts- („Kon- stanten"-) Beiander geben. Einen gleich hohen Standpunkt einst einzunehmen muß biologische Systematik sich jedenfalls bemühen. Bis jetzt ist — 57 — sie nicht ,, rational-', ist sie nui- eine „Klassifikation*', d. ii. ein Katalog, dem Übersicht heischenden Denken genehm und notwendig für praktische Orientierung. Kann biologische Systematik denn überhaupt mehr sein? Wer die biologischen Formen nicht für „zufällig" hält, wird wohl geneigt sein, diese Frage zu bejahen; auch wenn er sich sagen muß, daß das rationalisierende Prinzip hier durchaus noch nicht auch nur von ferne gesehen ist. Es ist, wie wir meinen, jedenfalls kein Raumprinzip. Aber was denn sonst kann es sein? — An letzter Stelle richten wir die Aufmerksamkeit auf das eigentlich logische Wesen derjenigen Art von „Abstraktion", welche bei der biologischen Systembildung eine Eolle spielt. Es gibt gewiß eine Abstraktion im echtesten Sinne, das heißt eine solche, welche ein wirkhches „Abziehen" von Merk- malen bedeutet. So ist der Begriff hölzernes Schiffe gefaßt als hölzernes auf dem Wasser bewegliches Transportmittel, sicherlich durch Merkmalsabziehung aus den Begriffen hölzernes Ruder- boot, hölzernes Segelschiff, hölzernes Dampfschiff gewonnen: die Setzung hölzernes Schff ist gleichsam das hölzerne Schiff, so wie es vom Stapel läuft. Aber warum haben wir uns die Betrachtung durch das Wort hölzern so schwerfällig gemacht? Warum haben wir nicht überall einfach Schiff gesagt? Weil wir dann bereits einen „Abstraktions"-Schritt anderer Art getan hätten. Das bloße Schiff muß aus irgendeinem Material bestehen, aus „Material überhaupt" also. Aber wird dieser Begriff durch echte Merkmalsabziehung etwa aus den Begriffen Eisen, Holz, Stahl gewonnen? Doch wohl nicht. — 58 — Der merkmalsabziehenden Abstraktion kann die Logik die meikmsihabsehende entgegenstellen; wir können auch sagen, daß sie der äußeren oder extensiven die innere oder intensive Ab- straktion gegenüberstellt. Die innere Abstraktion führt zu Allgemeinbegriffen wie Kegelschnitt, reguläres Polyeder, aber auch, auf daß man nicht denke, es müsse sich hier stets um „entwickelbare" Begriffe handeln, zu Begriffen wie Farbe, Ton, Greruch usw., um nur vom Unzerlegbaren hier zu reden. Es ist eine Sach-, besser eine „Gegenstands "-Angelegenheit — um im Sinne der neueren Logik zu reden — , welche Form des Abstrahierens jeweils in Frage steht. Für die reine Logik bleibt „Abstrahieren" immer ein Mitgesetztsein auf Grund „partieller Identität". Durch welche Art des abstrahierenden Verhaltens wird nun auf unserem biologischen Gebiete die Setzung Raubtier oder Conifere gewonnen? Werden da von Hund, Katze und Bär, von Tanne^ Fichte und Lärche einfach Merkmale „abgezogen"? Doch wohl nicht. Also handelt es sich wohl um innere, ab- sehende, intensive Abstraktion? Aber in bezug auf was? Etwa in bezug auf jedes „Organ" des „Typus" Raubtier oder, um gleich noch höher hinaufzugehen, Säugetier^ Wirbeltier? Wäre also etwa umgekehrt das Organ A als Merkmal des Begriffs Wirbeltier für den Begriff Säugetier ein solches A und für den Begriff Raubtier alsdann ein solches solches A und so fort, wobei durch das Wort solches aber nie eigentlich echte, äußere Merkmalszusetzung, sondern immer nur, nun sagen wir, Merk- malsbesonderung erfolgt? So ist es, wie wir meinen, in der Tat. Ganz sicherlich ist absehende Abstraktion für die Bildung des biologischen Systemes wichtiger als abziehende, obschon — 59 — auch letztere gelegentlich in Frage kommt, so, wenn es sich beispielsweise um „nackte" oder „bedeckte" Haut handelt. Ja, und das erscheint uns besonders wichtig, das intensiv abstrahierende Verfahren geht bei der biologischen Systematik eigentlich bis auf jede Gewebe-, ja jede Zellenart der Spezies, ja der Varietäten zurück. Katze und Hund haben eben in Wirklichkeit nicht einen Darm, eine Augenlinse, sondern einen Katzendarm und Hundedarm, eine Katzenaugenlinse und Hunde- augenlinse. Ja der Hund hat nicht Augenlinsenzellen, sondern Hundeaugenlinsenzellen, vielleicht gar Mopsaugenlinsenzellen. Wer embryologisch auf irgendeinem Bereiche des Systems ge- arbeitet hat, wird sich sogar anheischig macheu, die Furchungs-, die ßlastula-, die Gastrulazellen ganz nah verwandter Objekte doch jeweils immer als gerade sie und keine anderen mit Sicherheit zu erkennen. Der Katzenembryo hat also auch nicht etwa Säugetier-, ja nicht einmal Raubtier, sondern er hat Katzen-, insonderheit Hauskatzenfurchungszellen als etwas ganz Besonderes, das nur er hat. Rede ich von seinen Furchungszellen als von Säugetierfurchungszellen, stelle ich sie gleichsam als Vertreter dieser hin, so sehe ich von der „Katzenheit*" dieser Furchungszellen und von allem möglichen anderen ab. Eine so ganz einfache Sache ist also das zur biologischen Systematik verwendete ,.Abstraktions*'-Verfahren nicht. Würde hier die Forschung mehr in die Tiefe dringen, so möchte sich wohl eine erhebliche Klärung des Begriffs Typus ergeben. Doch das ist nicht mehr eine methodologische, sondern eine sachliche Angelegenheit. :: VERLAG VON WILHELM ENGELMANN IN LEIPZIG :: Vorträge und Aufsätze über Entwicklungsmechanik der Organismen unter Mitwirkung von zahlreichen Gelehrten herausgegeben von Prof, Wilhelm Roux. Heft 1: Die Entwicklungsmechanik, ein neuer Zweig der biologisclien Wissenschaft. Eine Ergänzung zu den Lehrbüchern der Entwicklungsgeschichte und Phy- siologie der Tiere. Nach einem Vortrag, gehalten in der ersten allgemeinen Sitzung der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Breslau am 19. September 1904 von Wilhelm Roux. Mit zwei Tafeln und einer Text- figur. XIV, 283 S. gr. 8. Jl b.— Heft 2: über den chemischen Charakter des Befruchtungsvorganges und seine Be- deutung für die Theorie der Lebenserscheinungen von Jacques Loeb. 32 S. gr. 8. ji _.80 Heft 3: Anwendung elementarer Mathematik auf biologische Probleme. Nach Vor- lesungen, gehalten an der Wiener Universität im Sommersemester 1907 von Hans Przibram. Mit 6 Figuren im Text. VI, 84 S. gr. 8. Ji 2.40 Heft 4: über umkehrbare Entwicklungsprozesse und ihre Bedeutung für eine Theorie der Vererbung von Eugen Schultz. 48 S. gr. 8. Ji 1.40 Heft 5: Über die zeitlichen Eigenschaften dar Entwicklungsvorgänge von Wolfgang 0 st w ald. Mit 43 Figuren im Text und auf 11 Tafeln. VI, 71 S. gr. 8. Ji 2.80 Heft 6: Über chemische Beeinflussung der Organismen durch einander. Vortrag, gehalten am 9. Dezember 1908 in der Naturforschenden Gesellschaft zu Halle a. S. von Ernst Küster. 25 S. gr. 8. Ji 1. — Heft 7: Der Restitutionsreiz. Rede zur Eröflfnung der Sektion für experimentelle Zoologie des 7. internationalen Zoologenkongresses zu Boston von Hans Driesch. 24 S. gr. 8. JI \.— Heft 8: Einige Gedanken über das Wesen und die Genese der Geschwülste. Vortrag, gehalten in der Gesellschaft zur Bekämpfung der Krebskrankheit, im Januar 1909, St. Petersburg, von Priv.-Doz. Gustav Schi ate'r. 44 S. gr. 8. Ji 1.20 Heft 9: Das Vererbungsproblem im Lichte der Entwicklungsmechanik betrachtet von Dr. Emil Godle wski jun. Mit 67 Figuren. 301 S. gr. 8. JI 7.— Heft 10: Über die gestaltliche Anpassung der Blutgefäße unter Berücksichtigung der funktionellen Transplantation von Albert Oppel. Mit einer Original- beigabe von Wilhelm Roux, enthaltend seine Theorie der Gestaltung der Blutgefäße, einschließlich des Kollateralkreislaufs. IX, 182 S. gr. 8. J( 4.40 Heft 11: Die physiologische Isolation von Teilen des Organismus von Charles Manning Child. VII, 157 S. gr. 8. JI 4.— Heft 12: Autokatalytical substances the determinants for the inheritable characters. A biomechanical theory of inheritance and evolution by Dr. Arend L. Hagedoorn. IV, 35 S. gr. 8. .// 1.20 Heft 13: über Zellverschmelzung mit qualitativ abnormer Chromosomenverteilung als Ursache der Geschwulstbildung von Prof. Dr. med. et phil. Otto Aichel. Mit einem Vorwort von Prof. W. Roux. Mit 25 Abbildungen im Text. VII, 115 S. gr. 8. M 4.40 ;; VERLAG VON WILHELM ENOELMANN IN LEIPZIG ;: Soeben ist erschienen: Einführung in die Vererbungswissenscliaft In zwanzig Vorlesungen für Studierende, Ärzte, Züchter von Dr. Richard Goldschmidt a. 0. Professor der Zoologie an der Universität München Mit 161 Abbildungen im Text IX u. 502 Seiten, gr. 8. Geheftet M 11.—; in Leinen geb. Jl 12.25 In Kürze erscheint: Lehrbuch der Biologie für Hochschulen von M. Nußbaum, M. Weber, G, Karsten Mit zahlreichen Abbildungen im Text Etwa 35 Bogen. 8. Geheftet etwa Jl 14.— ; in Leinen geb. etwa ..// 15.- Vorlesungen über vergleichende Anatomie von Otto Bütschli Professor der Zoologie in Heidelberg In drei Lieferungen Erste Lieferung: Einleitung, vergleichende Anatomie der Protozoen, Integument und Skelet der Metazoen Mit den Textfiguren 1-264. YIII u. S. 1-401. Gr. 8. Geheftet Jl 12.- Druck von Breitkopf & Härtel in Leipzig I