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DIE KULTUR DER GEGENWART

IHRE ENTWICKLUNG UND IHRE ZIELE

HERAUSGEGEBEN VON

PAUL HINNEBERG

DIE KULTUR DER GEGENWART TEIL 1 ABTEILUNG IV

KNOXCOLLu

DIE CHRISTLICHE RELIGION

MIT EINSCHLUSS DER ISRAELITISCH- JÜDISCHEN RELIGION

VON

J. WELLHAUSEN A. JÜLICHER A. HARNACK N. BOmVETSCH K. MÜLLER F. X. FUNK E. TROELTSCH J. POHLE J. MAUSBACH C. KRIEG W. HERRMANN R. SEEBERG W. FABER H. J. HOLTZMANN

1906 BERLIN UND LEIPZIG DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER

PUBLISHED JANUARY lo, 1906

I'RIVILEGE OK COPYRIGHT IN THE UNITED STATES

RESERVED UNDER THE ACT AI'PROVED MARCH 3, 1905,

UY B.G.TEUBNER LEIPZIG.

ALLE RECHTE, EINSCHLIESSLICH DES ÜBERSETZUNGSRECHTS, VORBEHALTEN.

INHALTSVERZEICHNIS.

I. GESCHICHTE DER CHRISTLICHEN RELIGION.

MIT EINLEITUNG: DIE ISRAELITISCH -JÜDISCHE RELIGION.

Seite

DIE ISRAELITISCH- JÜDISCHE RELIGION ... 1-40 Von JULIUS WELLHAUSEN.

Einleitung 1 2

I. Die Überlieferung des Alten Testaments, ihre inneren Widersprüche und

ihre verschiedenen Schichten 2 7

II. Das Anfangsstadium der \'olks- und Religionsgeschichte 7 15

III. Die Periode der Richter und der älteren Könige (ca. 11 50 900) .... 15—20

IV. Die gewöhnlichen und die außerordentlichen Propheten. Der Bruch Jahves mit Israel und der Untergang des Nordreichs (ca. 900 700) . . 20 24

V. Die prophetische Reformation in Jerusalem und der Untergang des Reiches

Juda (721 586) 24—28

VI. Das babylonische Exil, die Restauration und die Entstehung des Juden- tums (586 bis ca. 400) 28—32

VII. Die jüdische Frömmigkeit 32 36

VIII. Letzte Versteifung des Judentums im Kampfe gegen den Hellenismus. . 36 38

Literatur 39—4°

DIE CHRISTLICHE RELIGION.

A. ALTERTUM.

1. DIE RELIGION JESU UND DIE ANFÄNGE DES CHRISTENTUMS

BIS ZUM NICAENUM (325) 41-128

Von ADOLF JÜLICHER.

Einleitung 41 42

A. Jesus ( ca. 30).

I. Die Quellen für die Geschichte Jesu 42 46

II. Der äußere Verlauf des Lebens Jesu 46 52

III. Die Religion Jesu 5- ^9

VI Inhaltsverzeichnis.

Seite

B. Paulus und das apostolische Zeitalter ( ca. 125).

I. Der Glaube an Jesu Auferstehung 69 70

II. Die jerusalemische Urgemeinde 70 74

III. Paulus. Lebensgang und Arbeit 74 79

I\'. Religion und Theologie des Paulus 79 90

\\ Das Durchschnittschristentum in den alten Gemeinden ...... 90 92

VI. Die Entwicklung der paulinischen Theologie in den beiden nächsten

Generationen 92 97

C. Die christliche Religion in der Kirche von ca. 125 bis ca. 325.

I. Das Christentum der Epigonen 97 102

II. Der Kampf gegen die Gnosis, seine Gefahr und sein Segen 102 112

III. Die Verkirchlichung des Christentums seit den gnostischen Kämpfen 112 124

Literatur 125 128

2. KIRCHE UND STAAT BIS ZUR GRÜNDUNG DER STAATSKIRCHE 129-160

Von ADOLF HARNACK.

P2inleitung 129 131

I. Entstehung der Rechtsbildung in der Kirche 131 133

II. Die Kirche im ersten Jahrhundert ca. 30 130; in ihrem \'erhältnis zum

Staat und zur Kultur 133—136

III. Die Kirche im zweiten Jahrhundert (ca. 130—230) in ihrem \'erhältnis

zum Staat und zur Kultur 136—148

I\'. Die Kirche im dritten Jahrhundert (ca. 230—311) in ihrem Verhältnis

zum Staat und zur Kultur 148 153

V. Die Entwicklung des Staats in der Richtung auf die Kirche 153 156

VI. Schlußbetrachtung: \'on Konstantin zu Gratian und Theodosius ^306

bis 395). Die Vollendung der Staatskirche 156 158

Literatur 159—160

B. MITTELALTER UND NEUZEIT.

GRIECHISCH-ORTHODOXES CHRISTENTUM UND KIRCHE IN

MITTELALTER UND NEUZEIT 161-182

Von NATHAX.\EL BONWETSCH.

Einleitung 161 162

1. Die Grundlegung im 4. und 5. Jahrhundert 162 169

II. Die bestimmtere Ausprägung des byzantinischen Christentums seit

Justinian und im Zeitalter der Bilderstreitigkeiten (seit 527) .... 169—170 III. Das byzantmische Christentum in seiner ausgebildeten Gestalt seit

Photius (seit 858) 171 173

I\'. Seit dem Fall Konstantinopels (1453) '73—175

\'. Das griechisch-orthodoxe Christentum in Rußland (989 bis zur Gegenwart) 175—180

Literatur 181—182

Inhaltsverzeichnis. VII

Seite

2. CHRISTENTUM UND KIRCHE WESTEUROPAS IM MITTEL- ALTER 183-220

Von KARL MÜLLER.

Einleitung 183

I. Lösung der westlichen Kirche von der östlichen 183—184

II. Ausbreitung der lateinischen Kirche 184- 188

III. Die Einheit der lateinischen Kirche 188 195

IV. Die Entstehung der mittelalterlichen Theokratie 195 201

V. Kultus und Frömmigkeit 201—205

VI. Mönchtum und Ordenswesen 205 207

VII. Dogma und Theologie 207—211

VIII. Die Ausgänge des Mittelalters 211— 217

Literatur 218 220

3. KATHOLISCHES CHRISTENTUM UND KIRCHE IN DER NEUZEIT 221-252

Von FRANZ XAVER FUNK.

Einleitung 221 222

A. Von der Kirchenspaltung bis zur französischen Revolution.

I. Das Reformationszeitalter (1517 1555) 222 226

II. Von der Gegenrefonnation bis zur französischen Revolution (1555 1789) 226 232

B. Von der französischen Revolution bis zur Gegenwart.

I. Die Kirche in Frankreich 232 236

II. Die katholische Kirche in Deutschland 236 239

III. Die katholische Kirche in den Niederlanden und Großbritannien . . 240

IV. Die Kirche in Spanien und Italien 240 243

V. Das moderne Papsttum 243 245

VI. Rechtsordnung, Disziplin und religiöses Leben 245 250

Literatur 251 252

4. PROTESTANTISCHES CHRISTENTUM UND KIRCHE IN DER NEUZEIT 253-458

Von ERNST TROELTSCH.

Einleitung 253 254

A. Mittelalterliche und moderne Elemente im Protestantismus.

I. Die mittelalterlichen Grundlagen des Protestantismus 254 266

II. Die Aufhebung der mittelalterlichen Idee 266 269

B. Reformatoren und Reformbewegungen des 16. Jahrhunderts.

I. Die humanistische Theologie 269 276

II. Luther (1483— 1546) 276—287

III. Zwingli (1484— 1 531) 287—296

IV. Die Täufer und Spiritualisten 296 305

V. Calvin (1509 1564) 305—315

VIII Inhaltsverzeichnis.

Seite

C. Der Alt -Protestantismus {i6. und 17. Jahrhundert).

I. Das Luthertum 316 333

II. Der Calvinismus 333 361

III. Der Anglikanismus und Independentismus 361 372

D. Der moderne Protestantismus (18. und ig. Jahrhundert).

I. Die moderne Welt und die moderne Wissenschaft 372 380

II. Die moderne Ethik in ihrer Wirkung auf den Protestantismus . . . 380 385

III. Die moderne Religionswissenschaft und ihre Wirkung auf den Pro- testantismus 385^391

IV. Der moderne Staats- und Kirchenbegriff 391 398

V. Die Auflösung der protestantischen Askese 398 407

\'I. Asketisch -independente Reaktionen und moderne religiöse Bewegungen 407 423

\'II. Umsetzung des Protestantismus in eine philosophische Bildungsreligion 423 432 VIII. Der moderne Protestantismus in seinem konkreten Gesamtleben und

die Fortführung seines alten Bestandes 432 451

Literatur 452—458

IL SYSTEMATISCHE CHRISTLICHE THEOLOGIE.

MIT EINLEITUNG: WESEN DER RELIGION UND DER RELIGIONSAVISSENSCHAFT.

WESEN DER RELIGION

UND DER RELIGIONSWISSENSCHAFr . . . 461-491

VON ERNST TROELTSCH.

Einleitung 461 465

I. Naive und wissenschaftlich bearbeitete Religion 465—469

11. Die verschiedenen Versuche zu wissenschaftlicher Bearbeitung der Re- ligion 469—474

III. Die modernen Hauptsysteme 474 481

IV. Das Wesen der Religion 481 48S

Schluß 488—489

Literatur 490 491

A. KATHOLISCHE THEOLOGIE.

I. CHRISTLICH-KATHOLISCHE DOGMATIK 492-520

Von JOSEPH POHLE.

Einleitung 492 494

A. Die allgemeine Dogmatik oder Apologetik.

I. Das Wesen der Apologetik 494—497

11. Die Methode der Apologetik 497—499

III. .\ktucllc Fragen 499—506

Inlialisver/.cichnis. IX

Seite

B. Die spezielle Dogmatik.

I. Allgemeines 507 511

II. Die Einzelgcbictc 511 516

Schlußbetrachtung 516 517

Literatur 518 520

CHRISTLICH-KATHOLISCHE ETHIK 521-548

Von JOSEPH MAUSBACH. Einleitung.

1. Wesen und Begriff der Ethik 521 525

2. Entwicklung der Morahvissenschaft 525^531

I. Moralphilosophische Grund- und Streitfragen 532 534

II. Naturgesetz und Naturrecht 534 536

III. Die Willensfreiheit 536 537

IV. Die Sünde 537^539

V. Natur und Gnade 53g 542

\'I. Askese und Kultur 542 543

A'^II. Soziales 543 546

Literatur 547 548

3. CHRISTLICH-KATHOLISCHE PRAKTISCHE THEOLOGIE . . . 549-582

Von CORNELIUS KRIEG.

Einleitung 549

1. Wesen und Aufgaben 54g 555

2. ("icschichte der Praktischen Theologie 555 560

A. Die pastorale Didaktik.

I. Die Lehre von der Missionspredigt. Ihr Wesen und ihre Geschichte 560 562

II. Die Katechetik. Ihr Wesen und ihre Geschichte 562—565

III. Die Homiletik. Ihr Wesen und ihre Geschichte 565—569

B. Die Liturgik.

I. Wesen der Liturgik 569—572

II. Geschichte der Liturgik 572—574

C. Die Theorie der speziellen Seelsorge.

1. Wesen der speziellen Seelsorge 575—578

II. Geschichte der Seelsorgetheorie 57g 581

Literatur 582

X Inhaltsverzeichnis.

Seite

B. PROTESTANTISCHE THEOLOGIE.

1. CHRISTLICH -PROTESTANTISCHE DOGMATIK 583-632

Von WILHELM HERRMANN.

Einleitung 583

L Die Geschichte 583 616

IL Die gegenwärtige Aufgabe einer kirchhchen Theologie des Protestan- tismus 616^630

Literatur 631 632

2. CHRISTLICH -PROTESTANTISCHE ETHIK 633-677

Von REINHOLD SEEBERG.

Einleitung.

1. GeschichtHches 633 640

2. Die Grundprobleme und die Methode 640^646

I. Die Entstehung und der Inhalt der christlichen Sitüichkeit 646 657

IL Die Entfaltung und Bewahrung der christlichen Sittlichkeit 657 663

111. Die Bewährung und Durchführung der christlichen Sittlichkeit in den

Gemeinschaften des Lebens 663 675

Literatur . 676 677

3. CHRISTLICH - PROTESTANTISCHE PRAKTISCHE THEOLOGIE 678-708

Von WILHELM FABER.

Einleitung 678 679

I. Die Homiletik 679—686

IL Die Katechetik 686—695

III. Die Poimenik 695—707

Literatur 708

DIE ZUKUNFTSAUFGABEN DER RELIGION

UND DER RELIGIONSWISSENSCHAFT. . . . 709-729

Von HEINRICH JULIUS HOLTZMANN.

Einleitung 709

I. Umblick in der ("icgenwart 709 719

IL Ausblick in die Zukunft 719—729

Register 73°— 75=

I

GESCHICHTE DER CHRISTLICHEN RELIGION

MIT EINLEITUNG: DIE ISR.\ELITISCH -JÜDISCHE RELIGION.

ISRAELITISCH-JÜDISCHE RELIGION.

Von Julius Wellhausen.

Einleitung-. Die israelitisch -jüdische Religion ist deshalb für die Kultur der Gegenwart von großer Wichtigkeit, weil sie die Vorstufe der christlichen ist. Das Evangelium fußt auf dem Judentum, dieses wiederum auf dem älteren Hebraismus, Das Judentum beginnt mit der Restauration nach dem babylonischen Exil; das alte Israel endet mit der Zerstörung Samariens dazwischen liegt ein Übergang, der von der Zerstörung Samariens durch die Assyrer bis zur Zerstörung Jerusalems durch die Chaldäer reicht.

Religion und Volk von Israel gehören zusammen. Das Volk ist semitischen Ursprungs, und auch die Religion trägt die vSpuren davon. Das Land Palästina, die Brücke zwischen Vorderasien und Ägypten, in der Mitte dieser beiden alten Kulturzentren gelegen, hat das Volk in den Wirbel der Weltgeschichte hinein gezogen, und auch die Religion ist von diesem Wirbel entscheidend beeinflußt, wenngleich sie nicht darin untergegangen, sondern siegreich daraus emporgetaucht ist.

„Hodiemis prophetis tanto in odio est historia exotica, ut quum chronologia sacra instruenda sit, eam maxime inquinari putent, si ad tempora historiae, ut ipsi loquuntur, profanae referatur" sagt Joseph Scaliger. Der Widerwille, dem er bei seinen theologischen Zeitgenossen begegnete, als er die israelitische Geschichte mit der universalen in Verbindung zu setzen wagte, hat inzwischen beträchtlich nachgelassen. Während ehedem das Alte Testament den übrigen alten Orient beleuchten mußte, empfängt es nunmehr auch selber Licht von den neu entdeckten und entzifferten äg^'ptischen und babylonisch-assyrischen Denkmälern, Das israelitische Altertum kann nicht mehr isoliert werden; man sieht zu deutlich, wie eng es auf allen Seiten mit der näheren und entfernteren Umgebung zusammenhängt. Auch über die historisch nachweisbare Be- rührung hinaus muß es unter die Analogie der allgemeinen Kultur- entwicklung gestellt werden. Das israelitische Volkstum muß dem anderer Nationen verglichen werden, und von dem Volkstum läßt sich die Religion nicht trennen.

DiK Kultur dkr Gegenwart. I. 4. |

2 Julius Wellhausen: Israelitisch -jüdische Religion.

Nur hat die weltgeschichtliche und die vergleichende Betrachtung nicht die Aufgabe, alles zu nivellieren. Sie darf nicht darauf ausgehen, nachzuweisen, daß an der israelitisch-jüdischen Religion nichts Besonderes sei. Sie darf über der Ähnlichkeit der Anfänge und der Analogie der Entwicklung die Differenz des Endergebnisses nicht übersehen. Nicht weniger als das Gemeinsame tritt auch das Verschiedenartige durch die Vergleichung hervor. Auf anderem Wege als durch Vergleichung läßt sich sogar der eigentümliche Wert einer Religion überhaupt nicht erkennen und dartun. Wenn derselbe dem Glauben ihrer Bekenner von vornherein feststeht, so doch dem Glauben der Muhammedaner der absolute Wert des Islams nicht minder, als dem Glauben der Juden und Christen der ab- solute Wert des Mosaismus oder des Evangeliums.

Das theoretisch durchaus unanfechtbare Recht der Vergleichung wird allerdings praktisch dadurch beeinträchtigt, daß derjenige, welcher sie vor- nimmt, die einzelnen Objekte der Vergleichung größtenteils nur recht oberflächlich kennt. Er verliert leicht den Boden unter den Füßen und gerät in eine gefährliche Schwebe. Immer wird darum das genaueste historische Studium der einzelnen Religion der Anfang und die Haupt- sache bleiben müssen. Mit völliger Exklusivität läßt es sich aber nicht fruchtbar betreiben, aus einem gewissen circulus vitiosus kommt man hier wie anderswo nicht heraus. In Betracht kommt, daß die Stufen einer und derselben Religion den Arten verschiedener Religionen bis zu einem gewissen Grade entsprechen. Die Vergleichung der aufeinander folgenden Phasen ist darum ebenso lehrreich wie die Vergleichung der nebeneinander stehenden Arten, und sie hat den Vorzug, das Fließende nicht als fest zu behandeln. Natürlich ist sie nur möglich bei Religionen, die überhaupt eine Entwicklung durchgemacht haben. Daß die israelitisch-jüdische Re- ligion zu diesen gehört, soll im folgenden gezeigt werden.

I. Die Überlieferung des Alten Testaments, ihre inneren Widersprüche und ihre verschiedenen Schichten. Wenn die Überlieferung des Alten Testaments für eine solide Einheit genommen wird, so ergibt sich daraus folgende Vorstellung über Ursprung und Ausbildung der israelitisch-jüdischen Religion, üie Der Monotheismus ist die Urreligion. Er erscheint von Anfang an

systematische rr i~\rf

«ctrachtungs- als ctwas SclbstverständHches. Er wird nicht oitenbart die Oitenbarung hat in der Genesis überhaupt keinen theoretischen Inhalt und bezieht sich als Theophanie nur auf den Ort, wo die Gottheit wohnt und verehrt sein will, und gelegentlich auf den Namen, auf den sie hört. Er wird auch nicht von vornherein in Gegensatz zu dem Heidentum gestellt. Seine Differenzierung vom Polytheismus wird nicht ausdrücklich erzählt, sie liegt nur unausgesprochen in der Berufung Abrahams. Damit beg-innt Israel sich auszusondern, während bis dahin kein Unterschied zwischen den Völkern bestanden hat. Abraham verläßt zwar seine babylonische Heimat nicht,

weise.

I. Die Überlieferung des Alten Testaments, ihre inneren Widersprüche u. ihre verschied. Schichten. ■}

wie die Rabbinen sagen, wegen de.s dort herrschenden Polytheismus, sondern er geht in die Fremde, um seinen Nachkommen die Stätte zu bereiten, wo sie dereinst wohnen sollen ein Vorläufer der hebräischen Einwande- rung in Palästina, wie Herkules ein Vorläufer der dorischen in den Pelo- ponnes. Aber er begründet doch auch einen inneren Gegensatz zunächst gegen die in Palästina wohnenden Kanaaniten, von denen er sich fern hält, obgleich er unter ihnen wohnt, und weiterhin gegen die Heiden, d. h. die nichtisraelitischen Völker überhaupt. Die ethnische Ausscheidung und Abscheidung ist zugleich religiös, weil Volk und Religion auf das engste zusammenhängen. Unter den Söhnen Abrahams wird weiter Isaak, unter den Söhnen Isaaks wird Jakob selegiert. Die nationale und religiöse Be- sonderung Israels wird schließlich vollendet durch Moses. Der Gott der Welt schließt unter dem Namen Jahve einen Bund mit Israel, um dieses Volk im Gegensatz zu allen andern sich anzueignen, unter der Bedingung, daß es sein Gesetz halte. Volk und Gesetz entstehen mit einander, der Bund ist zugleich Gesetz. Die gesetzlichen Verordnungen betreffen vor- zugsw^eise den Gottesdienst. Das Volk, bestehend aus verschiedenen Stämmen und Geschlechtem, wird nicht als Staat, sondern als sakrale Gemeinde geeinigt und organisiert. Die Gemeinde gruppiert sich um das eine und wahre Heiligtum, die Stiftshütte, in konzentrischen Kreisen. Den inneren Kreis bildet der Klerus, der sehr zahlreich ist und einen wStamm für sich bildet. An der Spitze des Ganzen steht kein weltliches, sondern ein geist- liches Haupt, der Hohepriester. Die Verfassung ist von vornherein eine ausgebildete Hierokratie. Die Hauptfunktion des öffentlichen Lebens ist der Kultus. Er ist vollständig und einheitlich geregelt, seine Minutien werden genau vorgeschrieben, für irgend welche Freiheit ist kein Spielraum. Mit diesem System des Kultus beginnt die Geschichte Israels, das rituale Gesetz ist ihr Anfang.

Mit dem Anfang ist zugleich auch das Ziel erreicht, es gibt nichts da- rüber hinaus. Nur Abfall ist möglich, kein P^ortschritt. Innerlich wenigstens ist mit Moses alles abgeschlossen. Was nach ihm noch hinzukommen muß, ist nur etwas Äußerliches: die Eroberung des gelobten (d. h. verheißenen) Landes. Sie war aber ebenfalls schon durch Moses vorbereitet und ver- schwindet an Bedeutung völlig gegenüber dem Gesetz. Das Gesetz ist nicht erst mit der Ansiedlung- in Palästina entstanden, die Theokratie war schon fertig in der Zeit der Wanderung und in der Wüste. Die Eroberung des Landes wurde durch Josua nur durchgeführt und vollendet. Nach Jahves Be- fehl soll die kanaanitische Bevölkerung völlig ausgerottet werden, um Israel heidenrein zu erhalten. Es geschieht jedoch nicht genügend, und die Folge ist, daß die Israeliten seit der Ansiedlung von Zeit zu Zeit immer wieder durch das Heidentum angesteckt werden. Ohne irgend einen Grund zu haben, fallen sie ruckweise zum Götzendienst ab, bekehren sich zwar, wenn Jahve sie straft, erliegen aber einem Rückfall, sobald die Strafe aufhört. Dies Schaukelspiel geht durch, nicht bloß während der Periode der

das Gesetz.

A Julius Wellhaitsen : Israelitisch -jüdische Religion.

sogfenannten Richter, sondern auch während der ganzen Königszeit bis zum babylonischen Exil. Als Warner und Zeugen (d. h. Ankläger) sendet Jahve die Propheten. Sie verkünden durchaus nichts Neues, sondern hand- haben und predigen nur das Gesetz, das sozusagen bloß auf dem Papier steht, aber nicht durchdringt. Erst nach dem babylonischen Exil wird es anders: da hat das Gesetz plötzlich Kraft, die Hierokratie ist vorhanden, und die Propheten sind nicht mehr nötig. Wir haben da also eine Reli- gionsgeschichte, welche die Geschichte ausschließt, vermittels eines im Anfang stehenden, für alle Zeit gültigen und genügenden Gesetzes. Widerspruch Streng einheitlich ist diese Betrachtungsweise, die sich durch das

der geschieht- ait^ i-ii-i ai •• i"i'i

liehen und ganzc Altc Testament hmdurchzieht. Aber sie ist erst nachträglich ge- Küche^ gegen macht Und aufgetragen. Die neuere P'orschung hat diese Einheit ge- sprengt. Unter der gleichförmigen Oberfläche zeigen sich disparate Reste von Unterschichten, die man hervorheben muß, um zur historischen Wahr- heit zu gelangen. Die literarische Analyse hat seit Astruc den brüchigen Charakter des Ganzen erkannt und die Komposition mit Glück in ihre ur- sprünglichen Bestandteile zu zerlegen gesucht. Die historische Kritik hat seit De Wette angefangen, durch die Widersprüche, die sich finden, das starre Gesamtbild aufzulösen und in Fluß zu bringen. Tiefgreifende und durchgehende Widersprüche sind vorhanden, und sie drängen zur Annahme einer Entwicklung der israelitischen Religion, d. h. zunächst des so- genannten mosaischen Kultus. Sie lassen sich nicht neben und mit einander, sondern nur nach einander verstehen, als Phasen eines histo- rischen Prozesses der Kultusgeschichte. Das Geschäft, sie richtig in diesen Prozeß einzuordnen, wird ermöglicht dadurch, daß wir einige wich- tige und zuverlässige Data über den Gang derselben aus den historischen und prophetischen Büchern des Alten Testaments entnehmen können.

Die Starrheit des Gesamtbildes der alttestamentlichen Überlieferung hängt davon ab, daß ihm der Stempel des pentateuchischen Gesetzes auf- gedrückt ist. Es handelt sich also wesentlich um die Frage, ob die Vor- aussetzung widerspruchsfrei ist, daß dieses Gesetz am Anfang stand. Sie muß verneint werden. Die nachmosaische Geschichte geht nicht von einem solchen Anfang aus. Sobald wir aus dem Pentateuch (oder richtiger dem Hexateuch, denn das Buch Josua gehört inhaltlich mit den fünf Büchcni Moses zusammen) heraustreten, kommen wir mit den Büchern der Richter, Samuelis und der Könige in eine ganz andere Sphäre. Statt der Kirchen- geschichte setzt mit einem Mal die Weltgeschichte ein, die Heiligkeit hört auf und die Natur beginnt, es ist der Abstand zweier verschiedener Welten. Der Geist des Deboraliedes (Rieht. 5), das ganz nahe an die Zeit Moses' heranreicht, ist grundverschieden von dem des Gesetzes: Jahve steht hier seinem Volke nicht als Pädagog und Zwangserzieher gegen- über, sondern identifiziert sich mit dem israelitischen Heere. Ebenso der Geist der ältesten Erzählungen, z. B. Rieht. 17. 18: die Daniten begehen lauter Greuel, die von Jahve im Gesetz verbottMi sind^ aber ahnungslos und zu

I. Die ÜbcrlicfiTunfj des Alli-ii Toslamcnls, iluc inneren Widersprüche u. ilire verschied. Schichten, c

seiner Ehre. Von der Hicrokratie findet sich im g^anzen Richterbuch (mit Ausnahme von Kap. 19 21) keine Spur; so plötzHch wie sie unter Moses vom Himmel in die Wüste herabgefahren ist, so plötzlich ist sie im Lande Kanaan wieder verschwunden. Verschwunden sind die unzäh- ligen Priester und Leviten, verschwunden „die Gemeinde der Kinder Israel", welche sich um jene und um die Stiftshütte schart; das Volk be- steht aus einzelnen Stämmen, die sich nicht einmal in der dringendsten Not vereinigen, geschweige denn auf gemeinsame Kosten ein nach vielen Tausenden zählendes Kultuspersonal mit Weib und Kind unterhalten. Vom Hohenpriester ist nichts zu merken; die wirklich eingreifenden Volks- häupter sind die Richter, Leute von durchaus nicht geistlicher Art, nicht gestützt auf ein Amt oder auf erbliche Legitimität, sondern auf ihre Person und das Bedürfnis der Zeit, selten über die Grenzen ihres wStammes hin- aus von Einfluß. Und die Erzählungen der Bücher Samuelis und der Könige enthalten ebenfalls mannigfaltige Widersprüche gegen die Voraus- setzungen des Pentateuchs, namentlich gegen die primäre, daß der legi- time Jahvedienst von Anfang an auf eine einzige Stätte beschränkt ge- wesen sei. Ist das durch die Annahme zu erklären, daß das Gesetz zwar vorhanden war, aber stets übertreten und ignoriert wurde? Allein die Übertreter verraten niemals ein böses Gewissen, und auch die fromm- sten Männer gehören dazu; Samuel, David, Salomo, Elias bauen Altäre und bringen Opfer an illegitimen Stätten. Wie die israelitische Geschichte aussehen müßte, w^enn wirklich das Gesetz ihre Grundlage wäre, ersieht man aus der sogenannten Chronik. Die Chronik korrigiert sie nach diesem Postulat. Sie lehrt, daß die späteren Juden selber den stillschw^eigenden Widerspruch der älteren historischen Bücher gegen den Mosaismus störend empfanden und den Mosaismus eintrugen, damit er zum Vorschein käme nach dem Grundsatz, daß das, was sein soll, auch immer dagew^esen sein muß.

Und die prophetischen Bücher stehen in nicht minderem Widerspruch zum mosaischen Gesetz wie die geschichtlichen. Die Propheten reden nicht aus dem Gesetz, sondern aus dem Geist; Jahve spricht durch sie, nicht Moses. Ihre Thora ist ebensoviel wert als die Moses' und entspringt dem gleichen, perennierenden Quell. Das Wort Jahves ist das lebendige Wort in ihrem Munde, nichts ein für allemal Abgeschlossenes und Festgelegtes. Der Begriff einer schriftlichen Offenbarung ist ihnen fremd. Die Offenbarung ist kein hypostasiertes Abstraktum; sie besteht darin, daß Jahve von Moses an bis auf die Gegenwart dem Volke stets Boten erweckt und gesendet hat, die ihm den rechten Weg zeigen, wie es Zeit und Gelegenheit er- fordern. Jahve hat nicht durch Moses ein für allemal sein Testament gemacht, sondern Moses ist nur der Anfänger einer langen Reihe von s"hichte^n"° Nachfolgern, in denen Jahve lebendig fortwirkt, wie in ihm selber. 'pe"utcuchs*

jNIan muß und kann nun aber über das bloß Negative hinaus gelangen phäscn'Jiner zu einer positiven Vorstellung über die Zeitfolge gewisser Phasen, die simul- Entwicklung.

6 Julius Wellhausen: Israelitisch -jüdische Religion.

tan genommen einander widersprechen. Es hat sich herausgestellt, daß wie die Erzählung so auch das Gesetz des Pentateuchs keine literarische Einheit ist. Man kann drei Schichten der Gesetzgebung unterscheiden:

1. die beiden Dekaloge Exod. 20 und 34 und das Bundesbuch Exod. 20 23,

2. das Deuteronomium, 3. die Hauptmasse in den mittleren Büchern des Pentateuchs, den sogenannten Priesterkodex. Es gilt, die Reihenfolge dieser Schriften und zugleich ihre ungefähre Entstehungszeit zu ermitteln. Das geschieht einerseits durch Vergleichung der Schichten unter einander, andrerseits durch ihre Vergleichung mit einigen wichtigen Tatsachen der nachmosaischen Geschichte, die aus gelegentlichen Angaben der histo- rischen und prophetischen Bücher des Alten Testaments zu entnehmen sind. In Exod. 20 wird gestattet, an verschiedenen Stellen Altäre Jahves zu errichten, aus Steinen oder aus Erde; im Deuteronomium wird die lokale Einheit des Kultus gefordert, indessen erst für die Zukunft, nach- dem Jahve den Ort dafür, nämlich Jerusalem, bestimmt haben werde; im Priesterkodex wird sie als von Anfang an bestehend vorausgesetzt und nicht an Jerusalem gebunden, sondern durch die Stiftshütte, das Vorbild des salomonischen Tempels, schon in der Wüste zur Zeit Moses' ermöglicht. Die historischen und prophetischen Bücher lehren nun, daß diese Zentra- lisation des Kultus in der Richter- und älteren Königszeit weder tatsächlich noch gesetzlich bestand, daß sie erst ein Jahrhundert nach dem Untergange des Reichs Samarien (721) in Juda gesetzlich eingeführt wurde, daß sie aber nicht früher als nach der Rückkehr der Juden aus dem babylonischen Exil (538) wirklich durchdrang und selbstverständlich wurde. Das ist ein Punkt, bei dem die vergleichende Untersuchung mit Erfolg eingesetzt hat, und vielleicht der wichtigste. Es gibt aber im Zusammenhange damit nicht wenige andere, bei denen die Untersuchung immer auf dasselbe Ergebnis hinausläuft: der Priesterkodex stammt aus der Zeit nach dem Exil, das Deuteronomium aus der Zeit kurz vor dem Exil. Die kurzen Stücke Exod. 20 2^ und 34 sind erheblich älter, lassen sich aber auch nicht auf Moses zurückführen. Denn das Bundesbuch Exod. 21 2^ be- zieht sich auf die Landwirtschaft in Palästina, in der das Volk eingewurzelt erscheint was Moses in der Wüste nicht voraussetzen konnte. Und was den Dekalog betrifft, so gibt es nicht einen Dekalog, sondern zwei: das beweist schon allein die Unsicherheit der Überlieferung darüber. Der eine, in Exod. 34 enthalten, gibt nur Bestimmungen über die Feste, und diese sind Erntefeste, setzen also ebenfalls die Landsässigkeit des Volkes und nicht die Wüstenwanderung voraus. Der andere, von uns ge- wöhnlich ausschließlich so genannte Dekalog, Exod. 20, ist wahrscheinlich noch jünger als der in Exod. 34. Übrigens kommen Exod. 20 2;^ und 34 hier weniger in Betracht als das Deuteronomium und der Priesterkodex. Zwischen diesen beiden größeren Korpora liegt das babylonische Exil in der Mitte, jenes ist einige Zeit vorher, dieses einige Zeit nachher ent- standen. Der Prophet Ezechiel, der im Exil selber lebte, macht den Über-

II. Das Anfangsstadium der Volks- und Rcligionsgeschichte. -j

gang vom einen zum anderen. Mit der engeren Begrenzung des zum Opferdienst in Jerusalem berechtigten Klerus, mit der Unterscheidung von Priestern und I.eviten (Ezech. 44) tut er den Hauptschritt vom Deutero- nomium zum Priesterkodex.

Damit ist die Bahn frei für eine wirkliche d. h. genetische Geschichte der israelitischen Religion. Wir brauchen uns die prophetischen Reden und die alten Erzählungen in den historischen Büchern und auch im Penta- teuch selber (wo sie leicht vom Gesetz geschieden werden können) nicht unverständlich zu machen durch das Gesetz, das ihnen gar nicht zu Ge- sichte steht. Die Hierokratie hat nicht von Anfang an bestanden, und der Kultus ist nicht von jeher so zentralistisch und systematisch gewesen, daß er das Mittel abgab, um Israel gegen das Heidentum zu schützen. Das war vielmehr der Abschluß einer langen Entwicklung, der erst um die Zeit des babylonischen Exils eintrat. Erst in dieser Zeit, nach den Pro- pheten, hat das Gesetz (a potiori) seine Stelle, und da ist es nicht mehr latent, sondern plötzlich sehr wirksam. Es ist nicht israelitisch, sondern jüdisch. Es setzt nicht das autonome, politische und kriegerische israeli- tische Volk und Reich voraus, sondern nur den Schatten davon, die we- sentlich durch den Tempel und den Kultus zusammengehaltene jüdische Gemeinde, welcher durch die Fremdherrschaft die politische Selbständig- keit genommen war.

IL Das Anfangsstadium der Volks- und Religionsgeschichte. Der Versuch, die Entwicklung der israelitischen Religion, die jedenfalls stattgefunden hat, nachzuweisen und anschaulich zu machen, arbeitet aller- dings mit unzulänglichen Mitteln. Trotzdem muß er gemacht werden. Die Vorgeschichte in der Genesis kommt dabei nicht in Betracht. Die Erzählungen über Abraham, Isaak und Jakob, sofern sie religionsgeschicht- lichen Stoff enthalten, sind nur Legenden, des Inhaltes, daß die heiligen Stätten der Israeliten, die sie bei ihrer Einwanderung schon vorgefunden zu haben sich bewußt waren, nicht etwa von den Kanaaniten, sondern von ihren eigenen Patriarchen gegründet seien, mitsamt dem Kultus daran. Sie projizieren den Gottesdienst ihrer Gegenwart in ein graues Altertum, um ihn zu heiligen und den in Wahrheit heidnischen (kanaa- nitischen) Ursprung davon abzustreifen ähnlich, wenngleich nicht so bewußt, wie Muhammed den altarabischen Kultus von Mekka auf Abraham zurückgeführt hat, um ihn in den Islam aufnehmen zu können. Über den Anfang des Volkes hinaus kann seine geschichtliche, und also auch seine religionsgeschichtliche Erinnerung nicht zurückreichen, zumal in diesem Fall ein Jahrhunderte langer, völlig leerer und dunkler Zwischenraum die Patri- archen von dem Volke trennt. Wir dürfen also die Geschichte der Reli- gion erst mit der Geschichte des Volkes beginnen, d. h. frühestens mit Moses.

Der Name Moses wird außerhalb des Pentateuchs und des damit Moses

(um 1250).

eng zusammenhängenden Buches Josua in der älteren Literatur des Alten

8 Julius Wellhausen: Israelitisch -jüdische Religion.

Testamentes beinahe nie erwähnt; erst kurz vor dem Exil erscheint er häufiger. Doch muß es ein historischer Name gewesen sein. Die Israe- liten haben ihn nicht erfunden; denn er ist äg3^p tisch, ebenso wie der Name seines Adlatus Phinehas, der in der alten Priesterfamilie von Silo sich forterbte. Diese Priesterfamilie hütete bis nahe an den Anfang der Königszeit die sogenannte Bundeslade. Mit der Lade, dem ältesten Heilig- tum der Israeliten, wird aber auch schon Moses in Verbindung gebracht, und man hat keinen Grund, dies zu bezweifeln. Die wenigen erblichen Priesterfamilien, von denen wir in alter Zeit hören, leiteten sich von Moses ab, und wenn er auch nicht ihr Ahnherr gewesen zu sein braucht, so doch wenigstens ihr Vorgänger. Das Levitengeschlecht Muschi nannte sich nach ihm und das Levitengeschlecht Gerschom nach seinem Sohne. ]\Ian muß bedenken, daß nach der wahren Chronologie die Zeit Moses' nicht weit ablag von der Periode, in der Israel von den Philistern bedrängt wurde und das Königtum entstand.

Wir haben allerdings nur eine dunkle Kunde von Moses, keine authen- tische Zeugnisse, am wenigsten von seiner eigenen Hand. Die beiden Dekaloge sind viel jünger als das Lied der Debora; sie stammen nicht von Moses. Was wir von ihm sagen können, beschränkt sich darauf, daß er die folgende Geschichte eingeleitet haben muß. Also aus der alten Geschichte selber müssen wir Aufschlüsse über ihren Ausgangspunkt zu gewinnen suchen. Der Anfang läßt sich zwar nicht sicher von der Fort- setzung unterscheiden, doch aber lassen sich gewisse primäre Voraus- setzungen und gleichbleibende Triebe der Entwicklung erkennen. Die Theokratio Jahvc der Gott Israels und Israel das Volk Jahves das ist zu

sondern national', allen Zcitcn der kurzc Inbegriff der israelitischen Religion gewesen. Mit der Entstehung dieses Verhältnisses beginnt die Geschichte Israels. Es wurde späterhin auf einen bestimmten Akt der Bundschließung zurück- geführt, während es ursprünglich als natürlich galt, nicht als vertrags- mäßig und lösbar. Die Teile waren älter als das Ganze, das Volk. Die Stämme und Geschlechter wurden zu einer nationalen Einheit zusammen- gefaßt durch die Religion, durch Jahve, als dessen sichtbarliche Erschei- nung die heilige Lade galt: die Lade war der Repräsentant Jahves selber und nicht ein Kasten zur Aufbewahrung der Gesetzestafeln. Jahve war zwar schon da, ehe Israel entstand; er hatte nach alter Vorstellung seinen Sitz auf dem Sinai oder auf dem Horeb denn nicht erst durch die mosaische Gesetzg'ebung wurde dieser Berg heilig, sondern, weil er der Gottessitz war, wurde die Gesetzgebung dorthin verlegt. Aber erst zur Zeit Moses' wurde Jahve der creator spiritus des Volkes Israel und bekam damit zugleich selber einen neuen, nationalen und geschichtlichen, Inhalt, während sein altes Naturwesen in den Hintergrund trat. Sein Name scheint darauf liin/udcuten, daß er ursprünglich ein Wettergott war. vSicher ist er nicht von Natur der universale Gott gewesen und dann zu einem nationalen Gott verengert; diese Vorstellung, die allerdings bei der

II. Das Anfangssladium di-r Volks- und Roligionsgcschichtc. n

Bundschließung einspielt, ist unmöglich und wird durch die spätere Geschichte widerlegt.

Jahve der Gott Israels und Israel das Volk Jahves das ist, was man unter Theokratie zu verstehen hat, wenn der Name etwas Richtiges bedeuten soll. Er ist erst von Josephus gebildet und kommt im Alten Testament nicht vor; dort ist nur vom Volke, nicht vom Reiche Jahves die Rede. Die Theokratie ist in der alten Zeit nichts weniger als Hiero- kratie; weder steht ein Hoherpriester an der vSpitze, noch ein Priester- könig nach Art des Melchisedek; gerade der gänzliche Mangel einer Unterscheidung zwischen Geistlich und Weltlich ist charakteristisch. Sie besteht überhaupt nicht in einer besonderen Organisation. Das alte Stamm- und Geschlechterwesen bleibt zunächst völlig in Kraft, eine lose Aristokratie der Ältesten, eine Art milder Anarchie, die man patri- archalisch zu nennen pflegt. Aber ebenso gut verträgt sich jede andere Verfassungsform mit der Theokratie, auch die Monarchie. Der mensch- liche König widerspricht nicht dem göttlichen König; Jahve selber wird sogar in der alten Zeit niemals König genannt, so nahe uns das zu liegen scheint. Die Theokratie ist nichts weiter, als das, was man früher Parti- kularismus zu nennen pflegte. Die heiligen Angelegenheiten sind die nationalen. Die Gottheit hat es nicht mit dem einzelnen Menschen und nicht mit der Welt zu tun, sondern mit einem bestimmten durch das Blut zusammengehaltenen Kreise, mit dem Volk Israel. Israel ist das Korrelat zu Jahve, die Religion ist das israelitische Volkstum, zwar nicht wie es in jedem Augenblick wirklich ist, sondern wie es sein soll. Aber der darin liegende Gegensatz tritt erst mit der Zeit schärfer hervor; erst allmählich taucht aus der natürlichen Kongruenz die moralische Differenz zwischen Gott und Volk auf.

Das Volk fühlt sich selber als Blutsgemeinschaft, als erweiterte KricR. fiericht

, und Kultus als

Familie. Es erscheint (nicht immer als Ganzes sondern gewöhnlich nur Aneeieg-nheiten

^ ° , der Religion.

gliedweise) unter mehreren Aspekten: als Kultusgemeinde, als Gerichts- versammlung und als Heer. Die Berechtigten und Verpflichteten sind immer dieselben, nämlich die waffenfähigen freien Männer. Auch beim Gottesdienst haben sie den Vorzug; Krüppel und Kranke sind aus- geschlossen. Ebenso gehen die bürgerlichen Rechte mit den Kriegs- pflichten zusammen, Erbrecht und Beuterecht stehen auf einer Linie. Umgekehrt ist nicht bloß die gottesdienstliche, sondern auch die Gerichts- versammlung heilig, beide werden mit demselben Worte (Kahal) bezeichnet, und auch zur Gerichtsversammlung muß man sich durch Fasten heiligen (i. Kön. 2 1, 9). Und was uns am meisten befremdet: ebenso heilig ist das Kriegslager. Das deuteronomische Gesetz darüber (Deuter. 20) beruht auf uralten Grundlagen. Der Kriegszustand weiht die Teilnehmer und bringt für sie allerlei Abstinenzen mit sich; das Heer ist um ein Heiligtum gruppiert, und alles Unreine wird von dem Lager fem gehalten.

In der alten Zeit ist gerade der Krieg vorzugsweise das heilige

lO Julius Wellhausen: Israelitisch -jüdische Religion.

Geschäft. Dabei tritt am ersten, wenn es die Not erfordert, das Volk als Gesamtheit auf, und dabei zeigt sich der Gedanke am wirksamsten, daß Jahve an seiner Spitze stehe. Seine Lade ist eine Art Camiccio, sie zieht mit zu Felde und läuft infolge davon Gefahr, eine Beute der Feinde zu werden (i. Sam. 4). Im Liede der Debora kommt der Xame Israel gar nicht vor; Jahve ist es vielmehr, der an der Spitze der Stämme gegen Sisera kämpft. Die Kriege Israels heißen die Kriege Jahves; ein altes Buch, das die Eroberung Kanaans zum Gegenstande hatte, führt den Titel: „das Buch der Kriege Jahves." Immer ist der Krieg das Hauptfeld von Jahves Wirksamkeit geblieben, solange Israel als Volk bestand. Die Thora. Im Frieden wirkt Jahve hauptsächlich durch die Thora. Sie ist

nicht ein festes Gesetz, sondern lebendige Weisung von Fall zu Fall. Jahve ist der eigentliche Weiser, die Mittler aber sind die Männer Gottes so werden sie genannt und nicht etwa Männer Jahves. Es sind Priester und Seher in einer Person. Als ihr Prototyp in Israel gilt Moses. Ihr Hauptamt ist die Erteilung der Thora am Heiligtum. Dadurch konnten sie freilich auch auf die Kriegführung Einfluß üben. Nämlich auch diese richtete sich in gewissem Maße nach dem eingeholten Rat der Priester und Seher, wozu besonders die Erzählung über Saul und David Beispiele liefert: vor jedem Feldzug wird die Gottheit gefragt, ob er unternommen werden solle und wie er ausfallen werde. Denn die Thora war anfangs Orakelerteilung, namentlich durch Losen vor dem gegenwärtigen Numen; die bekannten Urim und Thummim der Priester waren nach i. Sam. 14, 41 (Septuaginta) ursprünglich Lose, jedenfalls Medien der Orakelerteilung. Im Verlauf der Zeit, nach David, ver- schwinden die Medien mehr und mehr; die Thora wird eine Tradition im Besitz der Priester, nach deren Analogie sie sich richten können, ist aber noch immer im Wachsen und Werden und kein abgeschlossenes, öffentliches und jedem bekanntes Gesetz. Die Priester erteilten Bescheid in großen und kleinen Dingen, über alles, womach sie gefragt wurden. So in Rechtsfragen, die für die gewöhnlichen Autoritäten, die Altesten der Geschlechter oder der Städte, zu schwierig waren; namentlich aber in den Fragen über Reinheit und Unreinheit: was erlaubt oder verboten, wer rein oder unrein sei. Diese Fragen waren nicht erst für die späteren Juden, sondern schon im Altertum von höchster Bedeutung, wie z. B. aus einigen südarabischen Inschriften und auch aus Num. 12, 14 16 erhellt. Die Teilnahme der einzelnen am Kahal, d. h. nicht bloß am Gottesdienst, sondern am ganzen öffentlichen Leben hing davon ab. DasVorwieRrn l^s lag allcs in den Windeln des Kultus. Der Begriff des Sakramen-

des Kultus. 1 r n ' r^

talen faßte das Materielle und das Geistige in eme Einheit zusammen. Körperliches Kontagium übertrug geistige Eigenschaften und Kräfte. Wer aber das Heilige berührte, konnte dadurch nicht bloß heilig, sondern auch unrein werden. Das Heilige ist nämlich zugleich das Verbotene

II. Das Anfangssladium der Volks- und Rcligionsgcschichtc. I i

und berührt sich dadurch mit dem Unreinen, während das Reine, als das Erlaubte, zugleich das Profane sein kann. Auch die Moral war keines- wegs autonom. Der Begriff der Schuld hatte mit dem, was wir darunter verstehen, wenig zu tun. Man verschuldete sich nicht dadurch, daß man dem Nächsten Leid oder Unrecht zufügte so wie der Dekalog Exod. 20 es auffaßt , sondern dadurch, daß man das Heilige verletzte, d. h. die Gottheit oder vielleicht auch die Volks- und Blutsgemeinschaft. Das konnte nicht bloß absichtlich geschehen, sondern auch unbewußt, und es geschah gewöhnlich unbewußt. Man merkte die Verschuldung sehr oft erst dadurch, daß die Gottheit zürnte, und mußte dann erst mühsam erforschen, warum sie zürnte, worin die Verschuldung bestand und wer sie begangen hatte. Diese Auffassung behauptet sich bis in späte Zeiten hinunter. Nach unserer Empfindung liegt in den Fällen Genes. 12 und 20 die Schuld durchaus auf Seiten des Erzvaters, der aus P'eigheit seine Frau verleugnete und preisgab; sie wird aber dem Könige beigelegt, der un- bewußt sich an dem Eigentum des Mannes Gottes vergriff, Beispiele da- von, daß aus dem Zorne Gottes eine vorhandene Schuld erschlossen und dann gesucht und ermittelt wird, finden sich i. Sam. 14 und 2. Sam. 21.

Man darf also nicht etwa glauben, Moses habe das Recht und die Moral über den Kultus emporgehoben. Die alte israelitische Religion war, wie jede andere Volksreligion, vorwiegend Kultus, erst die Propheten haben begonnen, sie zu etwas anderem zu machen. Und der Kultus wurde der Gottheit wegen geübt, um sie zu erfreuen und ihr Angesicht zu glätten, er war nicht im Interesse der Israeliten selber von der Gottheit vorgeschrieben, um sie in Banden zu halten und vor dem Heidentum zu bewahren.

Ebenso wenig freilich darf man meinen, erst Moses habe durch seine Thora den israelitischen Kultus gegründet. Die Thora hat den Kultus schon vorgefunden und höchstens einigermaßen darauf eingewirkt. Die Praxis des Kultus ist überhaupt unerfindbar und jedenfalls viel älter als Moses; sie stammt aus der Urzeit, die Jahrtausende vor aller Geschichte liegt. Richtiger als die Vorstellung des Priesterkodex ist in gewisser Hinsicht die der Genesis, womach schon lange vor Moses die Patriarchen die Gottheit an den heiligen Stätten von Bethel, Sichern, Hebron usw. ebenso verehrt haben, wie später ihre Nachkommen. Der Kultus ist der allgemein ethnische Ausgangspunkt der Religion auch bei den Israeliten, er trennt sie nicht von den Heiden, sondern v^erbindet sie mit ihnen. Das gilt nicht bloß von dem Opfer und dessen Riten, sondern z. B auch von der Beschneidung und vom Sabbat: sie wurden erst verhältnismäßig spät zu Unterscheidungszeichen des Judentums. Der Kultus blieb auch bis auf das babylonische Exil alle Zeit die Pforte, wodurch das Heidentum in Israel eindrang; man machte neue Moden mit, die man auswärts kennen lernte, nicht um Jahve zu ärgern, sondern um seinen Dienst auf zeit- gemäße Höhe zu heben und nicht rückständig werden zu lassen. Die

12 Julius Wellhausen: Israelitisch -jüdische Religion.

Besonderheiten, die der israelitische Ritus etwa aufweisen mochte, machen ihn jedenfalls nicht artverschieden. Art und Mit der allgemeinen Kulturstufe hängt es zusammen , daß dem isra-

des ältesten elitischcn Gottesdienst zu Anfang eine große Einfachheit eigen war; Kultus. später verlor sich dieselbe mehr und mehr oder wurde doch nur von einer Minorität grundsätzlich und protestierend fest gehalten. Es gab keinen ausgebildeten Klerus und keinen schroffen Unterschied zwischen Klerus und Laien. Priester waren nur wenige vorhanden, und das ihnen eigentümliche Geschäft war nicht das Opfern (das jedem frei stand), sondern die Thora, die Erteilung von Orakeln und Bescheiden beim Heiligtum. Die Lade schloß andre Heiligtümer Jahves nicht aus; es gab ihrer mehrere an verschiedenen Stätten. Eigentliche Bilder Jahves waren ursprünglich nicht vorhanden und darum auch keine Tempel, d. h. Behausungen der Bilder. Die eherne Schlange, welche sich in der Königszeit in Jerusalem befand, rührte so wenig von Moses her, wie das goldene Kalb, welches in Bethel verehrt wurde, von Aharon. Die Patriarchen, deren Kultus der Reflex des altisraelitischen ist, haben keine Tempel und Bilder, sondern nur heilige Stätten unter freiem Himmel. Zuweilen liegen sie an einem Quell, oft an einem großen und gewöhnlich immergrünen Baum. Der künstliche Baum, die Aschera, wird in der Genesis nicht erwähnt, ist aber vielleicht von späterer Zensur unterdrückt. Dagegen findet sich vielfach die Masseba, der heilige Stein, der auch bei den alten Arabern der wichtigste Zubehör der Kultusstätte ist. Er vertritt zugleich das Gottesbild und den Altar. Der Altar war ursprünglich kein Herd, es brannte kein Eeuer darauf. Der Opferritus war nicht das Verbrennen, sondern das Ausschütten des Blutes auf den Altar (i. Sam. 14, T)2 35), ein Ritus, der sich nicht bloß bei den Sündopfem und dem Pascha, sondern auch bei den profanen Schlachtungen der Juden und der Araber erhalten hat, bis auf den heutigen Tag. Die blutigen Opfer wurden durchaus vorgezogen und die andern ihnen teils untergeordnet, teils früh dadurch verdrängt. Das Blutstreichen auf den Altar bedeutete ebenso wie das zum Opfer gehörige Mahl eine Verbrüderung mit der Gottheit. Die Idee der Bundschließung mit der Gottheit prävalierte über die Idee der Gabe an die Gottheit, namentlich bei den blutigen Opfern; die Kommunion mit der Gottheit stiftete zugleich eine Kommunion unter den Opfernden. Feste. Die Opfer wurden zumeist bei regelmäßig von Jahr zu Jahr wieder-

kehrenden Anlässen dargebracht, d. h. bei Pesten, nicht von einzelnen, sondern von Gemeinschaften, von Sippen und Geschlechtem, wenn auch nicht vom ganzen Volk zusammen an einer Stelle. Das Pest heißt bei den Hebräern wie bei den Arabern Hagg; der Name erklärt sich viel- leicht aus der vSitte des Umganges, des Reigens, um das Heiligtum. Das älteste israelitische Pest, das einzige, welches schon vor der Ansiedlung im Lande Kanaan von Nomaden gefeiert sein kann, ist wohl das Pascha, das Opfer der tierischen Erstgeburten im Prühlinge, nachdem das Vieh

II. Das Anfangsstadium der Volks- und Roligionsgcschichtc. I ^

geworfen hat. Auch das Opfer der menschlichen Erstgeburten wurde gefordert. In Exod. 22 heißt es: die Erstgeburt deiner Söhne sollst du mir geben; in Exod. 34 dagegen: die Erstgeburt deiner Söhne sollst du lösen. An der ursprünglichen Identität dieser Varianten läßt sich nicht zweifeln, die Lösung kann dann nur als Milderung der Dahingabe d. h. Opferung verstanden werden. Eine derartige Opferung ist allerdings sonst nirgends bezeugt. Die Phönizier und Karthager entrichteten in historischer Zeit nicht regelmäßig einen solchen Blutzoll, sondern nur bei außerordentlichen Anlässen; freilich könnten die zahlreichen Bilder von Kindern, die in einem neuerdings aufgegrabenen Tempel von vSidon ge- funden sind, als Ersatz für wirkliche Kinder gedeutet werden. Die grau- same Sitte scheint auch in Israel zur Zeit der großen Propheten nicht mehr im Schwange gewesen zu sein und wurde erst später künstlich wieder belebt. Eine ältere Spur davon läßt sich noch erkennen in der von Jahve befohlenen Opferung Isaaks, des Erstgeborenen der Sara, der dann im letzten Augenblick durch einen Widder gelöst wird.

Man sieht, solche Besonderheiten des altisraelitischen Kultus machen oer

, altisraelitische

ihn nicht eben besser als den anderer Volker und begründen keinen prin- Hegriff von

Jahve und an-

zipiellen Unterschied. Wenn in der Tat ein Unterschied vorhanden ist, deren göttlichen

Wesen.

SO liegt er nicht in der Art des Kultus, sondern in dem Dativ, dem er geweiht wird. Israel widmet ihn nicht dem Baal, sondern dem Jahve. In der älteren Periode geschah das aber noch nicht so ausschließlich wie später; Jahve war in gewissen Grenzen noch toleranter. Nur wo es sich um die Nation im Gegensatz zu andern Nationen handelte, um den Krieg, die Politik und die Geschichte, da war Jahve der Gott und kein andrer. Aber außerhalb dieser seiner eigenen Provinz, auf andern Gebieten und in andern Kreisen, hatten andre Götter neben ihm Platz. Sie hatten ein jeder in seinem Volke und Lande das gleiche Recht wie er in Israel. Man dachte nicht, daß Jahve auch außerhalb Israels verehrt werden müsse oder auch nur könne. Verließ ein Israelit sein Vaterland, so begab er sich damit nicht bloß in die Gemeinschaft eines andern Volks, sondern auch eines andern Gottes (i. Sam. 26, ig). Und auch im israelitischen Lande selber hatte Jahve Nebenbuhler. Bei der Eroberung Palästinas verschwanden die kanaanitischen Landesgötter nicht, sondern blieben be- stehen und wurden an ihren alten Stätten auch von den Israeliten verehrt. Diese glaubten damit ihrem Volks- und Heergotte, dem Jahve, nicht zu nahe zu treten. Ebenso behielten .sie neben ihm die Teraphim, die Familien- und Geschlechtsgötter, bei, wie man aus der Geschichte Davids ersieht. Auch davon abgesehen wurde Jahve nicht in einsamer Höhe gedacht, sondern umgeben von seinem Geschlecht, den sogenannten Gottessöhnen (Ben Elohim). Er war nicht ein einzigartiges Wesen, sondern der Oberste einer Gattung. Die Gattung der Götter sind die Dämonen, ungezählte und zunächst namenlose Geisteswesen, die im Wind und Wetter, in Gestirnen, in Steinen und Quellen, in Bäumen und Pflanzen und auch in

lA Julius Wellhausen: Israelitisch -jüdische Religion.

Tieren erscheinen. Durch den Kultus, durch die Kenntnis und die An- rufung ihres Namens an den Orten wo sie wohnen, werden sie zu Göttern; aus ihnen tauchen die Götter auf und in sie versinken sie wieder, wenn ihr Kultus aufhört. Die Dämonen, zu denen auch die abgeschiedenen Seelen gehören, sind unheimliche Wesen, die man durch allerlei Künste fernhalten und auch in Dienst nehmen kann. Die Israeliten hatten diesen Glauben und die damit verbundenen Praktiken, die vielfach dem Kultus zugrunde liegen und darin veredelt sind, mit aller Welt gemeinsam; sie dachten sich Himmel und Erde voll von dem Heer der Geister; Zauber und Wahrsagung, Bannen und Beschwören war ihnen nicht etwa von Haus aus unbekannt. Ethnischer Das Volk Isracl hat sich nicht von Anfang an in einem inhaltlichen

der Gegensatz zu allen andern Völkern gewußt und sie als Heiden von sich Rehgion und abgewicscn. Es ist nicht mit einem Sprunge zur Zeit Abrahams oder zur Differenzierung. Zeit Moscs' aus dem Heidentum ausgewandert, sondern hat sich langsam daraus empor gearbeitet, Jahve hat einen Kampf zu bestehen gehabt mit den andern Mächten, mit denen er sich anfangs vertrug, und hat sie über- wunden. Und er selbst ist in diesem Kampfe gewachsen. Der Dämonen- spuk mit seinem Hokuspokus zog sich allmählich ins Dunkel zurück vor der öffentlichen Religion Jahves; Zauber und Beschwörung und Wahrsagung fingen an, als unisraelitisch zu gelten (Num.23, 2^). Die abgeschiedenen Seelen wurden in die Hölle (Scheol = Hades) verbannt und von jeder Beziehung zu der Welt des Lichtes abgeschnitten; die Toten hatten mit der Religion gar nichts mehr zu tun, Jahve kümmerte sich nicht um sie. Die dämo- nischen Tiergestalten, in denen er in der Königszeit abgebildet wurde, als Stier oder als Schlange, erschienen später als seiner unwürdig; er wurde lieber in Menschengestalt vorgestellt. Er streifte mit der Zeit die Rudimente ab, die ihm z. B. in Genes. 6, i 4, ;^2, 2 5 ff., Exod. 4, 2 4 f. anhaften. Er verdrängte die Familien- und Geschlechtsgötter; die Teraphim siedelten aus den Häusern in die Tempel über, wurden zu Beisitzern (Trdpebpoi) des Volksgottes degradiert und dadurch unschädlich gemacht. Die Götter fremder Nationen konnten sich immer weniger mit ihm messen, er wurde mindestens unvergleichlich mächtiger als sie. Freilich behielt er seinen ethnischen Eigennamen Jahve, der nicht besser war als Kamos, Hadad und Dagon; auf die Kenntnis und auf das Rufen dieses Namens wurde großes Gewicht gelegt, als sei er der Schlüssel des Zugangs zu ihm und offne die Pforten des Himmels. Und es dauerte lange, bis er zum Schöpfer der Welt erhoben wurde (Genes, i). Die Natur war nicht sein Werk, wenngleich er über sie schaltete (Genes. 2). Er war vorzugsweise der Herr des Lebens und der Geber des Lebens. Das Leben war sein Atem und sein Geist; darum auch heilig, wie das Blut, an welches das Leben bei Menschen und Tieren gebunden ist. Erst beim Untergang des Volks, der von den Propheten vorausempfunden wurde, erhob er sich hoch über dessen Grenzen zum Gott der Menschenwclt und der Welt

III. Die Periode der Richter und der älteren Könige. je

Überhaupt. Erst dann wurde er für seine Person ganz unabhängig vom Kultus. Damit entstand die Art von Religion, welche im Neuen Testament der Gottesdienst im Geist und in der Wahrheit genannt wird. Der alte Jahve darf nicht mit dem „Vater unsers Herrn Jesu Christi" gleichgesetzt werden.

Daß aus verdeckten Spuren im Alten Testament noch eine Ent- wicklung zu erkennen ist, hat zwar unleugbare Vorteile; die israelitische Geschichte wird erst dadurch zu einer wirklichen Geschichte und bleibt nicht außerhalb aller Analogie mit der Geschichte der ganzen übrigen Menschheit. Aber selbst w^enn w'ir diese Entwicklung genauer und sicherer verfolgen könnten, würde dadurch doch im Grunde nur wenig erklärt werden. Warum wurde z. B. nicht Kamos von Moab zum Gott der Ge- rechtigkeit und zum Schöpfer des Himmels und der Erde? Eine genügende Antwort kann man darauf nicht geben. Aus Ägypten oder Babylonien kann Jahve nicht importiert sein, weder als nationaler noch als universaler Gott. Man muß sich darauf beschränken, zu sagen: die Thora der Priester und hernach der Propheten hat auf die Volksreligion von Anfang an einen korrigierenden Einfluß geübt; eine gewisse Spannung zwischen erlesenen Geistern und der Volksmenge hat von je bestanden und sich langsam ausgewirkt, in kontinuierlicher Steigerung. Es ist der Kampf der Riesen gegen die Zwerge. Unzählige anonyme Zwerge schaffen die Kultur. Die Riesen setzen zwar ihre Arbeit voraus, räumen aber den Schutt weg, der sich unvermeidlich dabei einstellt. Der religiöse Fortschritt besteht ge- wöhnlich darin, daß der Schutt weggeräumt, und auf das Wesentliche, das unmittelbar Evidente, der Ton gelegt wird. Daher steht die Religion in einer gewissen Feindschaft gegen die jeweilige Kultur. Das Wesentliche und Evidente ist zwar im Grunde selber nur das innere Ergebnis der Kultur, aber verhüllt durch Reste früherer Stufen und durch Neben- produkte, und obwohl es gebunden im allgemeinen Bewußtsein schlummert und keine absolut neue Wahrheit ist, muß es doch entdeckt werden. Woher aber kommen in Israel (und analog in Griechenland) diese Männer des Geistes? Die Israeliten sagen: Jahve hat sie erweckt, es sind die Männer Gottes. Eben in diesen Männern sehen sie die Offenbarung Gottes, eine Offenbarung außerhalb solcher lebendiger Träger kennen sie nicht. Über diese Antwort werden auch war schwerlich hinauskommen, obwohl das gottbegnadete Individuum dabei Mysterium bleibt. Denn wenn man von innerer Anlage der Griechen und der Israeliten redet, so ist das keine Lösung des Rätsels, sondern nur eine Verschiebung. Noch weniger freilich werden die Israeliten dadurch begriffen, daß sie Semiten, oder die Griechen dadurch, daß sie Indogermanen sind.

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111. Die Periode der Richter und der alteren Konige (ca. 1150 mit der goo). Nach dem Tode Moses' erfolgte die Ansiedlung in Palästina. Die Bevölkerung Kanaaniten wurden nicht mit einem Schlage vertilgt, sondern allmählich auf- ihres Kultus.

l5 Julius Wfxlhausen: Israelitisch -jüdische Religion.

gesogen. Die Eroberer nisteten sich weniger in den Städten der Urein- wohner ein, die vielmehr großenteils noch lange ununterworfen blieben, als in ihren Dörfern. Aus wandernden Hirten, die sie gewesen waren, wurden sie in Palästina zunächst zu Bauern. Diese Veränderung ihres Lebens beeinflußte auch ihre Religion. Wie sie die Wohnstätten und Höfe, die Felder und Gärten, die Keltern und Tennen von ihren Vor- gängern übernahmen, so auch die Heiligtümer, die sogenannten Bamoth, mit ihrem Zubehör, nicht selten wohl auch mit ihren alten Priesterfamilien. Wie wir gesehen haben, verrät sich noch in den Patriarchenlegenden der Genesis das Bewußtsein davon, daß die Altäre bei der Eroberung und Ansiedlung schon vorgefunden wurden. Sie konnten auch gar nicht an beliebigen Orten neu gegründet werden; denn die Kultusstätten mußten sozusagen von Natur da sein, sie hafteten am Boden und behielten bei allem Wechsel der Völker und der Götter ihre inhärente Heiligkeit. Ur- sprünglich wurden wohl auch die alten Landesgötter von den Israeliten vielfach an dem Bamoth weiter verehrt. Jahve blieb am Sinai, in der Wüste, wohnen und ließ nach Exod. ;i^ nur seinen Repräsentanten, die Bundeslade, mit den Israeliten nach Kanaan ziehen. Erst nachher wurde er aus dem Volksgott auch der Landesgott und absorbierte die Baale. Indem nun mit den Stätten der Baale auch die Form ihrer Verehrung auf Jahve übertragen wurde, veränderte sich dadurch der alte einfache hebräische Kultus. Die Altäre wurden Brandstätten und die Opfer Feuer- opfer. Kostbare Bilder Jahves entstanden, und Häuser, in denen sie auf- gestellt wurden (zu Ophra, Beth Micha und Dan). Am wichtigsten war die Übernahme der Feste von den Kanaaniten. Abgesehen vom Pascha gründen sie sich allesamt auf den palästinischen Garten- und Feldbau, können also insofern nicht aus der Wüste mitgebracht worden sein. Ostern und Pfingsten feiern den Anfang und das Ende der Getreideernte, da- zwischen liegen die sieben Wochen der Mahd. Laubhütten ist das ab- schließende PIrntefest und besonders das Fest der Weinlese. Nach dem Dekaloge von Exod. 34 und auch nach dem ZeugTiis des Amos und namentlich des Hosea waren aber diese Feste im alten Israel der Inbegriff des ganzen volkstümlichen Jahvedienstes: dreimal im Jahr sollte jeder Mann mit Opfern und Gaben vor ihm erscheinen. Lauter Jubel, Rausch und Ausgelassenheit herrschte dabei wie bei einer Kirmes; man freute sich vor Jahve, man und trank in seiner Gegenwart, wie im Deutero- nomium die Ausdrücke lauten. Die P'este trugen also einen ausg^esprochen dionysischen Charakter, den sie nicht von Jahve, sondern von Baal hatten. Baal war der ursprüngliche Spender von Korn, Wein und Öl, er wurde von den Griechen mit Dionysus gleichgesetzt.

Die Aufnahme der neuen Kultur war zwar unvermeidlich, brachte aber doch eine gewisse Überladung an Stoff mit sich, der nicht sogleich verdaut werden konnte. Es entstand dadurch eine Theokrasie, wie sie häufig und keineswegs erst in jüngeren Phasen der Religionsgeschichte auftritt, eine

III. Die Periode der Richter und der älteren Könige. i<i

Mischung zwi.schen dem Baal und Jahve, die noch zur Zeit de.s Propheten Ho.sea (um 740) nicht überwunden war. Inde.s.sen gingen doch mehr die Funktionen des Baal auf Jahve über als umgekehrt; Kanaan und der Baal waren der weibliche, Lsrael und Jahve der männliche Teil in dieser Ehe. Auch drang die Mischung nicht so allgemein durch, daß der Unterschied von Israel und Kanaan, Jahve und Baal völlig vergessen wurde. Das Bewußtsein dieses Unterschiedes blieb vielmehr und wurde hier und da mit Absicht gepflegt. Die Spannung zwischen zwei Polen, die später den Verlauf der israelitischen Geschichte beherrscht, wird in ihren Anfängen hoch hinauf reichen.

Eine andere und für den Augenblick größere Gefahr, welche mit der Die geglückten Eroberung eintrat, bestand darin, daß nun unter den fned- .eine kritische

^ . f.. .. Übergangszeit.

lieberen Verhältnissen der kriegerische Bund der Stämme sich aufloste. Die Ansiedlung zerstreute die durch das Feldlager Geeinigten, der krie- gerische Aufschwung wich der trivialen Arbeit, wodurch die einzelnen Tribus und ihre Unterabteilungen, jede in ihrem Kreise, in dem neuen Gebiet Wurzel fassen und in die neuen Verhältnisse sich einleben mußten. Aber unter der Asche erlosch das religiöse Gesamtbewußtsein doch nicht ganz, es zu entfachen war die Geschichte das Mittel. Sie machte fühlbar, daß der Mensch nicht allein von Brod und Wein und Ol lebt, und daß es noch andere Güter gibt als die Baalsgaben; sie brachte den heroischen Gott der Nation wieder zu Ehren.

Die Verschmelzung der neuen Bevölkerung mit der alten bildete den Zentralisierung wichtigsten Inhalt der Richterperiode, obwohl die Überlieferung davon Religion durch wenig berichtet, weil sie allmählich und geräuschlos vor sich ging. Es Die Philister.' war eine kritische Ubergang.speriode, chaotisch, aber doch auch schöpfe- risch. Das Ende war nicht der Niedergang, sondern der Aufschwung der Nation. Sie tauchte schließlich gestärkt aus den Wassern hervor. Sie behauptete und verfestigte sich im Kampfe, nicht bloß gegen die Kana- aniten, sondern auch gegen auswärtige Völker, die sich die Lage zunutze machen wollten. Die letzten und gefährlichsten Feinde waren die Phi- lister, die in der Küstenebene am Mittelländischen Meer zwischen den Phöniziern und den Ägyptern wohnten. Um sie abwehren zu können, wurden die bisher fast nur durch ein ideelles Gemeingefühl verbundenen israelitischen Stämme veranlaßt zu einer politischen Einigung in einem Reich unter einem Könige. Das Königtum erwuchs aus dem durch die Not rege gemachten Patriotismus. Und der Patriotismus war damals die Religion, Jahve ging durchaus Hand in Hand mit der Nation. Von der jüngeren Tradition wird allerdings die Wahl eines menschlichen Königs als eine Verwerfung Jahves und als ein Abfall von ihm betrachtet. Nach der älteren aber ersah vielmehr gerade Jahve den König, ehe das Volk daran dachte, und ließ dem Benjaminiten Saul seine Bestimmung zu hohen Dingen ankündigen, ehe er selber eine Ahnung davon hatte. Erst später wurde die Religion in gewissem Grade königsfeindlich, ursprünglich

Die Kultur üer Gegenwart. I. 4. 2

l8 Julius Wellhausen: Israelitisch -jüdische Religion.

war sie königsfreundlich. Der König war nicht der Nebenbuhler, sondern der Vertreter Jahves, der vom Volk Gesalbte auch der Gesalbte Jahves, eine geheiligte Person in viel höherem Grade als etwa der Priester. In der Tat, ohne den König und das Reich hätte sich auch Jahve nicht halten können; auch er wäre eine Beute der Philister geworden. Die Auflösung der Nation hätte auch ihn betroffen; die politische Zentralisation kam auch ihm zugute und stärkte ihn nicht bloß gegenüber den fremden Völkern und ihren Göttern, sondern auch gegen die inneren zentrifugalen Kräfte, denen immer zugleich auch eine polytheistische Tendenz inne wohnte. Mit dem Reich erhob sich auch ein Reichskultus Jahves, der im hohen Maße beitrug zur Hebung der nationalen und historischen Be- deutung Jahves. David, der das von Saul angefangene Werk glücklich ausführte, gilt als Reichsgründer mit Recht zugleich als Vollender der Theokratie. Er machte die Reichshauptstadt Jerusalem, die von ihm zwischen Juda und Israel auf neutralem und erst von ihm eroberten Ge- biet gegründet war, zugleich zum Zentrum des Kultus, indem er die Bun- deslade, das alte echt israelitische Heiligtum, dorthin überführte. Salomo tat einen weiteren Schritt und baute den Tempel dazu, der für die wei- tere Zentralisierung des Kultus sehr förderlich wurde. Kindringen der FrciUch darf man sich den Anfang dieser Zentralisierung nicht im

ausländischen . ^ . ,, _

Kultur. späteren Licht vorstellen. Der Tempel Salomos, so groß und prächtig er für seine Zeit sein mochte, war doch zunächst nur ein Teil seiner großen Burg auf dem Sion, ein Tempel des Königs. Er sollte die anderen Heiligtümer nicht verdrängen und verdrängte sie in der Tat nicht; die Differenzierung Jahves durch den Kultus blieb bestehen. Nicht einmal die Verehrung fremder Götter auf israelitischem Boden wurde aus- geschlossen; Salomo selber baute auf dem Olberge bei Jerusalem Altäre für heidnische Frauen, die er geheiratet hatte, und sie standen dort Jahr- hunderte lang. Das Königtum einigte nicht bloß die Nation, sondern brachte sie auch eben dadurch mehr auf gleichen Fuß mit fremden Nati- onen. Das israelitische Reich trat mit benachbarten Reichen in eine Reihe; die Könige betrachteten sich schon im Altertum, trotz aller gelegentlichen Feindschaften, als Pairs unter einander. Aus den politischen Beziehungen erwuchs überhaupt ein lebhafterer Verkehr mit dem Auslande, auch mit dem entfernteren. Schon David war mit Hirom, dem Könige von Tyrus, befreundet. Salomo bezog von ihm Material und Künstler für seine großen Bauten. Sein Tempel, wie er im Buch der Könige und bei Ezechiel be- schrieben wird, läßt überall das phönizischc (ursprünglich äg3'ptische) Muster erkennen, sowohl in der Konstruktion, als in den Einzelheiten. Die Bundeslado wurde überschattet von Keruben, die ihre Flügel zu beiden Seiten über die ganze Cella ausbreiteten. Sie waren nicht bloß ein Ornament, sondern bedeuteten auch etwas. Sie hüteten den Garten Gottes, den der Gottheit geweihten Bezirk, in welchem sie wohnte, gleich- viel ob ein Tempel darin stand oder nicht.

III. Die Poriodo der Richter und der älteren Könifje. jq

Mit dem Königtum drang also die Kultur der großen Welt, deren Brennpunkte Ägypten und Babylonien waren, in Israel ein. Das war un- vermeidlich und im ganzen segensreich, wenn auch allerlei schädliche Folgen mit unterliefen und begreiflichen Anstoß gaben. Wenn Salomo in seinem Hoftempel den Glanz des Jahvedienstes durch heidnische Ein- richtungen erhöhte, wenn er z. B. einen ehernen Altar machte statt der aus Erde oder aus unbehauenen Steinen aufgeschichteten, so mochten zu seiner Zeit die richtigen alten Israeliten daran Ärgernis nehmen (Exod. 20, 24. 25); dennoch ist eben dieser Tempel hemachmals der Stützpunkt des legitimen Kultus geworden. Wenn allerhand fremde Vorstellungen und Mythen Eingang fanden, so erwies sich die Jahvereligion im Verlauf doch mächtig genug, um sie sich zu eigen oder doch unschädlich zu machen.

Auch die Aufsaugung der Kanaaniten, die schon vorher begonnen Aufsaugung der

Kanauniten.

hatte, machte m der Königszeit entschiedene r ortschritte. Ihre Städte, die sich bis dahin noch zu einem großen Teil ihre Unabhängigkeit be- wahrt hatten, büßten diese jetzt ein; wenn sie auch anfangs meist nur Tribut bezahlten, so wurden sie doch bald völlig israelitisch; unter Ahab (um 850) scheint der Unterschied schon verschwunden gewesen zu sein. Das mußte auch für die Religion von Bedeutung sein. Auch diese Erstar- kung Israels führte zur Erstarkung Jahves als des öffentlichen, nationalen und historischen Gottes.

Nach dem Tode Salomos (um 950) rissen sich die nördlichen zehn Stämme Politische, aber

, . nicht religiöse

von Juda los. Juda trat in den Hintergrund zurück, in dem es früher ge- Spaltung der

Nation; das

Standen hatte und aus dem es erst durch David hervorgezogen war. Der Xordreich. politische Schwerpunkt verlegte sich wieder an seine natürliche Stelle, in das Gebiet von Joseph, d. h. namentlich von Ephraim, wo auch die Haupt- stadt (seit ca. 900 Samarien) lag. Joseph erscheint schon in der Genesis als der Herrscherstamm. Der heilige Xame Israel blieb an dem Nordreich haften, und dort wurde auch die theokratische Geschichte fortgesetzt. Dort wirkten die großen Propheten bis auf Amos (um 750), und Amos selber, ob- wohl aus Juda stammend, richtete sein Interesse noch lediglich auf Israel. Schismatiker waren eher die Judäer als die Israeliten. Bethel und Dan waren ältere und nicht weniger legitime Kultusstätten als Jerusalem, und dasselbe gilt von den dortigen Priesterfamilien im Vergleich zu den jeru- salemischen. In Bethel und nicht in Jerusalem sollten nach Genes. 28 die Nachkommen Jakobs den Zehnten entrichten. Es war kein Frevel, daß die Könige dort einen Reichstempel gründeten und ein Stierbild Jahves aufstellten; Gottesbilder gab es auch in Jerusalem und an viele anderen Stellen (Jesaj. 2). Kein König des Nordreichs kam auf den Gedanken, an der Verehrung Jahves als Gottes Israels zu rütteln. Die mit Jahve zu- sammengesetzten Namen, die sich im Altertum selten finden, kamen zuerst bei den Königen in regelmäßigen Gebrauch, in Israel nicht minder wie in Juda. Nach dem Beispiel der Könige wurden sie dann allgemein. Die Kinder legten mit dem Namen, mit dem sie gerufen wurden, Zeugnis

20 Julius Wellhausen: Israelitisch -jüdische Religion.

ab für den nationalen Gott; an Hanania konnte man den Israeliten er- kennen, wie an Hannibal den Phönizier, oder an Henadad den Syrer. Juda hatte allerdings den Vorzug stabilerer Verhältnisse vor Israel voraus. Dort bildete sich eine feste Dynastie aus, in Israel fielen die Könige nach wenigen Generationen immer wieder der Revolution zum Opfer; es herrschte ein rasches, aufgeregtes Treiben. Aber der Strudel warf hier auch außerordentliche Männer aus der Tiefe hervor: auf diesem Boden erwuchsen zuerst diejenigen Propheten, die den Fortschritt in der Religion herbeiführten.

Ursprung der IV. Die gewöhnlichen und die außerordentlichen Propheten.

Der Bruch Jahves mit Israel und der Untergang des Nordreichs {ca. goo 700). Seher hat es in Israel, wie bei anderen alten Völkern, von jeher gegeben, aber keine Propheten, oder wie sie hebräisch heißen Nabiim. Diese letzteren tauchten zuerst auf in der erregten Zeit vor dem Ausbruch der Philisterkriege und der Entstehung des Königtums. Sie traten nicht ein- zeln auf, sondern in Schwärmen, und sie waren auch Schwärmer, hatten nichts Rationales an sich und wirkten nicht durch das vernünftige Mittel der Rede. Wie die Derwische im heutigen Orient, veranstalteten sie unter Musik Aufzüge und Tänze, in deren tollen Wirbel auch ganz nüchterne Menschen mit ansteckender Gewalt hineingezogen wurden, Sie waren anfangs so neu und fremdartig in Israel, wie die thrakischen Bacchanten in Griechenland, die dort zu gleicher Zeit erschienen sein mögen. Mit der Zeit aber bürgerten sie sich ein, konformierten sich der Jahvereligion und verähnlichten sich den alten Sehern, von denen sie ursprünglich unter- schieden werden. Manches von ihrem alten Wesen schliffen sie ab, aber das scharenweise Auftreten behielten sie bei. Sie lebten in Vereinen, die man nicht für Lehrschulen halten darf, wo das Gesetz und die heilige Geschichte getrieben wurde. Sie wurden von den Königen vor Unter- nehmungen zu Rate gezogen und weissagten gelegentlich zu Hunderten. Im ganzen gingen sie mit der öffentlichen Meinung und redeten den Leuten, namentlich den Königen, nach dem Munde, weil sie arm waren und ein Stück Brot verdienen wollten. Aber ab und zu erwuchsen unter ihnen Männer von selbständigem Geiste, die über den Stand hervorragten. Es waren Ausnahmen, aber eben sie hatten die größte geschichtliche Wir- kung und galten den Späteren mit Recht als die wahren Propheten. Das Kennzeichen der wahren Propheten ist nach Jeremias, daß sie Unheil ver- kündeten, gegen den Strom schwammen und den Befragern nicht sagten, wonach ihnen die Ohren juckten. Oppositionelle Dcr patriotlsche Charakter der Religion hatte sich durch das König-

in deTzeit "der tum noch gesteigert j Jahve war die Fahne für Volk, König und Reich. rani.ier r.eg.. j^.^^^^ Fahnc folgten auch die Nabiim, wenngleich sie wohl einmal mit dem Volk zusammen einen König stürzen halfen. Aber unter Ahab, der in der ersten Hälfte des neunten Jahrhunderts regierte, traten einzelne

i

IV. Die {jowöhiil. u. tl. außciord. l'iopliclcn ; d. ßriicli Jahvcs mit Israel u. d. Unlerf,'. d. Nordreichs. 2 I

Propheten in Opposition zu dem religiösen Patriotismus und begannen, Jahve in Gegensatz zu der Nation zu setzen. Es war die Zeit, wo die Aramäerkriege den Bestand Israfels in Frage stellten.

Vor seinem letzten Kampf gegen die Aramäer von Damaskus (851) fragte Ahab die Propheten Jahves in seiner Hauptstadt, vierhundert Mann, ob er zu Felde ziehen solle oder nicht, ob Jahve Sieg geben werde oder nicht. Sie weissagten einhellig Heil. Nur einer machte eine Ausnahme, Micha ben Jimla. Er verkündete immer Unheil und so auch diesmal. „Ich sah Israel zerstreut auf den Bergen wie Schafe ohne Hirten, und Jahve sprach: sie haben keinen Herrn mehr, sie kehren zurück, ein jeder nach seinem Hause." Er wurde von seinen Standesgenossen mißhandelt und von dem Könige in Haft gegeben, bis er glücklich heimkehre. Aber er kehrte nicht heim.

Bekannter und größer als Micha ben Jimla ist sein Zeitgenosse Elias Elias von Gilead. Auch er stand im Namen Jahves in Opposition gegen König und Volk. Das erhellt besonders aus der in i. Kön. 19 erzählten Theophanie. Elias klagt, sein Kampf für Jahve habe nur dazu geführt, daß er völlig vereinsamt und aus Israel verbannt sei; da erscheint Jahve und verheißt ihm, seine und Jahves Feinde, König und Volk von Israel, sollen bis auf einen kleinen Rest ausgerottet werden. Das ist ein Trost für ihn und bedeutet den Sieg seiner Sache: Jahve triumphiert über die herrschende Majorität.

König und Volk galten diesem Propheten als abtrünnig von Jahve. In Wirklichkeit hielt Ahab durchaus an dem Gott des Volkes und Reiches fest, er nannte seine Söhne nach ihm, er focht gegen die Aramäer in seinem Namen, er befragte seine Propheten, Er kann nicht, wie behauptet wird, alle seine Propheten verfolgt und umgebracht, oder alle seine Altäre zerstört haben. Er stiftete nur für seine Gemahlin Izebel, die aus Tyrus stammte, einen reich ausgestatteten Tempel des tyrischen Baal in Sama- rien. Ahnliches hatte Salomo hundert Jahre früher in Jerusalem getan, ohne dadurch für seine Zeit und auf lange hinaus Anstoß zu geben. Wenn Elias also eine solche Handlungsweise verabscheute, so war er über die populären Begriffe hinausgeschritten. Ahab stand auf der alten Stufe, er dagegen auf einer neuen. Wie es scheint, war Jahve in seinen Augen nicht bloß lokal (durch sein Anbetungsgebiet), sondern prinzipiell ver- schieden von den anderen Göttern, ganz unverträglich und ungleichartig mit ihnen. Er sah den Kampf der Götter nicht bloß als einen Kampf ihrer Völker an; der Gott Israels war mehr wert als die Nation und be- hauptete sich nicht bloß durch ihre Begünstigung, sondern gegebenen- falls auch durch ihre Vernichtung. Dies sind allerdings nur Vermutungen. Worin die Größe des Elias bestand, darüber finden sich nur schwache und sagenhafte Andeutungen. Daß er aber einsam über seine Zeit hervor- ragte, daß er eine ganz außerordentliche Erscheinung war, hat sich tief in die Erinnerung eingeprägt. Der Eindruck ist wohl nicht unrichtig, daß

2 2 Julius Wellhausen: Israelitisch -jüdische Religion.

mit ihm die Religionsgeschichte beginnt in ein neues Stadium zu treten. Nachdem Jahve bisher in einem mehr äußerlichen Kampfe die Nation und das Reich gegründet hatte, reagierte er jetzt innerhalb der Nation, auf geistigem Gebiet, entschiedener gegen die fremden Elemente, die bis da- hin ziemlich ungehindert hatten zutreten dürfen, nicht bloß gegen den aus Tyrus zu einem beschränkten Zweck frisch importierten Baal, sondern auch gegen die weit ältere schillernde Vennischung des Jahvekultus mit dem kanaanitischen Baalsdienst überhaupt. Die Eifersucht Jahves bekam einen anderen und tieferen Sinn. Ganz allein stand Elias nicht. Einen gleichzeitigen Propheten ähnlicher Richtung haben wir bereits in Micha ben Jimla kennen gelernt. Es kam femer damals der Orden der Recha- biten auf, die mit dem Nachfolger des Elias gemeinsame Sache machten. Sie protestierten im Eifer für Jahve gegen die ganze seit der Einwande- rung in das Land der Kanaaniten von den Israeliten übernommene Kultur, gegen die Seßhaftigkeit und namentlich gegen den Weinbau. Sie griffen grundsätzlich zurück auf das ursprüngliche Nomadenleben in der Wüste. Des Weines, der Hauptgabe des Baal-Dionysus, enthielten sich auch die von Amos mit den Propheten zusammengestellten Naziräer, ähn- lich wie später gewisse arabische Stämme, die sich im Osten vom Jordan angesiedelt hatten. Hierin tat allerdings Elias schwerlich mit, er sah in der Flucht aus der Kultur in die Wüste nicht das Heil und faßte den religiösen Gegensatz nicht so äußerlich auf: sonst wäre er wohl leichter begriffen worden.

Elias glich einem Vogel, der vor dem Morgen singt. Sein Jünger Elisa empfing sein Gewand, aber nicht seinen Geist. Was er von ihm ver- standen hatte, war, daß man den Baalsdienst in Samarien und das Haus Ahabs dazu mit allen Mitteln ausrotten müsse. Er unterstützte zu diesem Zweck den Meuterer Jehu, der die Aufgabe gründlich löste und dann selber den Thron bestieg. Er lebte nicht einsam wie Elias, sondern in enger Verbindung mit der Menge der Propheten. Er hatte seine Hand in den irdischen Händeln und genoß hohes Ansehen bei den Königen der Dynastie, die mit seiner Hilfe aufgekommen war. Wenn er auch ge- legentlich schroff gegen sie auftreten mochte, so begleitete er sie doch auf ihren Feldzügen und stellte seine Autorität in ihren Dienst und in den Dienst der Nation, Er war im Kampfe gegen die Aramäer so viel wert wie ein Armeekorps; das ist damit gemeint, wenn er „Wagen und Reiter Israels" genannt wird.

Die wahren Nachfolger des Elias traten erst hundert Jahre nach seinem Tode auf, als die aramäische Gefahr beseitigt war und die Nation eine viel schwerere Krisis zu bestehen hatte. Die Assyrer Dic Assyrcr warcn schon im neunten Jahrhundert einmal gegen Süd-

iind der Sturz ' ..,,,.-, i- •!.

Israels (721). Westen vorgedrungen. Damals bedrohten sie jedoch die Israeliten nicht, sondern befreiten sie vielmehr von den Aramäern. Im achten Jahrhundert erneuerten sie mit größerem Erfolge ihre Angriffe gegen die syrischen

IV. Die gewöhnl. u. d. außcrord. l'rophiHen; i\. Bruch Jahvcs mit Israel u. d. Untcrj;. d. Nordreichs. 2 X

Aramäer. Auch damit mochten die Tsracliten zunächst nicht unzufriedon sein. Aber die Aramäor waren in ^\''ah^heit doch ihre Vormauer gegen Norden, und als diese Vormauer in Verfall geraten war, eröffnete sich ihnen die Aussicht, selber den Anprall der unaufhaltsamen Lawine ge- wärtigen zu müssen. War die Nation, war ihr Gott dem gewachsen?

Arnos von Thekoa, kein Prophet von Beruf, sondern ein Hirt, hörte Amos die Frage, die von der Zukunft gestellt wurde, und beantwortete sie im voraus. Er war ein Judäer, aber das Geschick Israels stand im Mittel- punkt seiner Gedanken. Er erschien zu Bethel, dem vornehmsten Heilig- tum des Nordreichs, und überraschte die zu einem Fest versammelte Menge daselbst mit der Drohung, das Ende sei gekommen, Israel werde von einer fernen, überlegenen Großmacht vernichtet und deportiert werden. Er hatte die Assyrer im Auge, er trat auf gegen Ende der Regierung Jerobeams IL, w^ohl noch vor der Mitte des achten Jahrhunderts. Aber die Assyrer waren nach seiner Überzeugung nur ein Werkzeug in der Hand Jahves. Jahve geht nicht mit Israel unter, sondern triumphiert durch Assur über Israel, Amos nennt ihn niemals den Gott Israels, sondern den Gott Sabaoth, d. h. wahrscheinlich den Gott der Welt (eigentlich der Geisterheere, die die Welt erfüllen). Er läßt ihn sagen: Ihr Kinder Israels seid mir nicht anders wie die Mohren; wie ich Israel aus Ägypten geführt habe, so habe ich auch die Philister aus Kaphthor geführt und die Aramäer aus Kir. Er leugnet freilich durchaus nicht, daß Jahve sich seinem Volke durch Wort und Tat geoifenbart habe, wie keinem anderen Volk. Aber darum lege er nur ein desto strengeres Maß eben an Israel. Nach dem populären Glauben war Jahve durch den Kultus an Israel ge- bunden, weil er nur dort mit seinem Namen bekannt war, nur dort an- gerufen wurde, nur dort seine Wohnung und seine Altäre hatte. Dieses Band durchschneidet Amos. Jahve ist kein Gott, der der Opfer und Gaben bedarf, der sich durch sie bestechen läßt, der um des Kultus willen blind- lings die Partei seiner Verehrer und guten Bekannten ergreift. Was er von Israel verlangt, ist etwas Allgemeingültiges, nämlich die Gerechtigkeit; was er haßt, ist Unrecht und Frevel. Die Beleidigung der Gottheit, die Sünde, ist durchaus moralischer Natur; sie besteht nicht in der Unter- lassung der sakralen Leistungen, die ihr speziell und nur ihr zugute kommen sollen, sondern in der Verletzung der Pflichten, die der Mensch dem Menschen schuldet. Die Moral ist es, wodurch allein alle mensch- liche Gesellschaft Bestand hat. Sie ist kein Postulat, keine Idee, sondern Notwendigkeit und Realität zugleich, die lebendigste persönliche Macht Jahve Sabaoth. Zornig, zerstörend macht sich die heilige Realität geltend; sie vernichtet den Schein und das Eitle.

Israel fiel durch die Assvrer, wie Amos geschaut hatte (721). Juda Übergang

. der Geschichte

aber blieb bestehen und trat in das geistige Erbe. Hier setzte sich von uraei auf auch die von Amos eröffnete Reihe der Propheten fort, deren Thema der Zusammenstoß der heidnischen Weltmacht mit der Theokratie war.

2A Julius Wellhausen: Israelitisch -jüdische Religion.

jesaias Jesaias lebte in Jerusalem und war Judäer mit Leib und Seele. Das Xord- reich, dessen Sturz er erlebte, ließ er dahinfahren. Aber der Faden der heiligen Geschichte war für ihn damit nicht abgeschnitten; er spann sich fort in Juda. Was für seinen Vorgänger der Schluß des Dramas war, war für ihn nur der erste Akt, das Gericht über Samarien nur der x\nfang einer Reihe von Gerichten, und das Endziel der langen Krisis war posi- tiv. Aus Juda sollte ein Rest herausgesichtet werden, der die Gemeinde Jahves auf Erden fortsetzte; dieser Same der Zukunft sollte den Assyrem trotzen. Die Herstellung dieses Restes überließ Jesaias aber nicht allein den Gerichten Jahves; er arbeitete vielmehr auch selber daran, die Grund- lage zu legen. In politischer Hinsicht konnte er allerdings sein Ideal nur aussprechen; verwirklichen sollte es ein starker und gerechter König, auf den er in Bälde hoffte, der Messias, der bei ihm nicht utopisch erscheint, sondern Aufgaben löst, die innerhalb des kleinen Juda gelöst werden mußten und konnten. Auf dem Gebiete des Kultus dagegen, der durch den großen Tempel in dem kleinen Juda schon damals das Übergewicht hatte über die Politik, konnte er selber praktisch die Hand anlegen. Schon Hosea, der Nachfolger des Amos, hatte über die Verehrung Jahves im Bilde gespottet, Jesaias eiferte mit allen Kräften gegen die Anbetung des Menschenwerks an den Kultusstätten in Juda, Unter seinem Einfluß kam in der Tat eine entsprechende Reinigung des Kultus zustande, wenig- stens in der Hauptstadt. Der König Hizkia hieb die Aschera im Tempel von Jerusalem um und zertrümmerte die eherne Schlange Moses", der man bis dahin dort geopfert hatte; die heilige Lade scheint schon früher verschwunden zu sein. Schwerlich aber ist Hizkia weiter gegangen, als Jesaias (30, 22) sich träumen ließ, und hat durch die Zerstörung sämtlicher Altäre außerhalb Jerusalems seinem Urenkel Josias vorgegriffen. Wir wissen genau, daß die Altäre Salomos auf dem Ölberg bis auf Josias un- zerstört geblieben sind.

Die Auch darin zeigte sich Jesaias als praktischer Mann, daß er seine

prophetische

Refoimpartei. Hausgcnosscn, scmc Schüler und Anhänger um sich sammelte und sich in einer Partei einen Rückhalt zu schaffen suchte. Diese prophetische Partei erhielt sich nach seinem Tode und setzte seine Bestrebungen fort. Sie war der Keim der späteren Gemeinde der Frommen, das Vorspiel zu dem späterhin so bedeutsamen Unterschiede zwischen dem wahren und dem nominellen Israel.

Kciiktion unter V. Dic prophetischc Reformation in Jerusalem und

Manassc.

der Untergang des Reiches Juda (721 586). Mit Jesaias be- trat die Prophetie in Juda den Weg der Reform; es dauerte lange, ehe sie damit zum Ziel gelangte. Als nach dem Tode Hizkias sein Sohn Manasse zur Regierung kam (bald nach 700), trat eine Reaktion ein. Der populäre Jahve wehrte sich gegen den prophetischen. Es erfolgte nicht etwa ein Abfall von Jahve, sondern die hergebrachte

V. Die prophetische Keformation in Jeiiisalem und der UnlerKanj,' des Reiches Jiida. 25

Art seiner Verehrung suchte sich gegenüber der Reform zu behaupten. Die abgeschafften HerrUchkeiten wurden wieder hervorgeholt und neue Moden aus Assur und Babel eingeführt; der Gott des Himmels wurde mit dem Heer des Himmels (d. h. den Sternen) umgeben und bekam eine Königin des Himmels (den Planeten Venus) beigesellt, die passenderweise besonders von den Weibern verehrt wurde. Auch längst abgekommene heidnische Bräuche wurden neu belebt; die Forderung, zu opfern, was zuerst die Mutter bricht und männlichen Geschlechtes ist, wurde wieder auf die menschliche Erstgeburt ausgedehnt. Im Tal Geenna bei Jerusalem befand sich ein Altar von ganz besonderer Heiligkeit, auf dem man die geschlachteten Kinder verbrannte. Das geschah zur Ehre Jahves, um seinem Gebote in vollem Umfang zu genügen (Ezech. 20, 25. 26, Micha 6, 7). Man sieht, auch diese halbheidnische Reaktion nahm es streng mit der Forderungen der Religion.

Ein Dokument aus der Zeit Manasses, worin der Standpunkt der da- mals unterdrückten und verfolgten prophetischen Partei zum Ausdruck ge- langt, besitzen wir wahrscheinlich in Micha 6, 6 8. „Womit soll ich Jahve entgegenkommen, mich beugen vor dem Gott der Höhe? Soll ich mit Brandopfem vor ihm erscheinen, mit jährigen Kälbern? Hat Jahve Ge- fallen an Tausenden von Widdern, an Myriaden von Ölbächen? Soll ich meinen Erstgeborenen als meine Buße geben, meines Leibes Frucht als Sühne für mich selbst?" Die Antwort des Propheten auf diese Frage stellt andere Forderungen; es ist vielleicht von Bedeutung, daß sie nicht an Israel, sondern an den Menschen gerichtet wird. „Es ist dir gesagt, Mensch, was frommt und was Jahve dein Gott von dir verlangt: vielmehr Recht üben und Güte, und demütig wandeln vor deinem Gott." Vielleicht stammt aus dieser Zeit auch der Dekalog von Exod. 20, der das Bilder- verbot an die Spitze setzt, über den Opfer- und Festkultus schweigt und fast nur solche Gebote (oder vielmehr Verbote, denn die Moral ist von Natur negativ) zum Grundgesetz für Israel macht, die für alle Menschen insgemein Gültigkeit haben.

Erst mit Josias, dem Enkel Manasses, der im Jahre 636 als achtjähriges josias und die

, Auffindung des

Kind den Thron bestieg, brach eine neue Zeit für Juda an. vSie wurde em- Deuteronomium geleitet durch die weltgeschichtliche Katastrophe des assyrischen Reichs. Die Scythen versetzten demselben den ersten gewichtigen Schlag. Ihr Ein- bruch rief die drohende Stimme der Propheten wieder wach, die während einer langen ereignislosen Periode geschwiegen hatte. Sie drangen bis Ägypten vor (626), zogen aber, wie es scheint, an Juda vorbei oder streiften es nur. Die Sündflut verlief sich und hinterließ für die Judäer sogar den Vorteil, daß sie das assyrische Joch los wurden. Die eingetroffene und doch noch gnädig abgewandte prophetische Drohung scheint einen großen Eindruck gemacht zu haben. Jedenfalls trat ein Umschwung zugunsten

der reformatorischen Partei ein. Sie trat mit einem Programm hervor.

Im Jahre 62 1 wurde das Gesetzbuch Moses', d. h. das Deuteronomium,

2 0 Julius Wellhausen: Israelitisch -jüdische Religion.

entdeckt und dem noch jugendlichen König Josias in die Hand gespielt. Es machte den größten Eindruck auf ihn, er verpflichtete das Volk darauf durch eine feierliche Bundschließung vor Jahve und tat was in seinen Kräften stand, um den so lange ignorierten göttlichen Forderungen endlich Geltung zu verschaffen. Er reinigte den Tempel und die Hauptstadt von den „Greueln", die sich dort eingenistet hatten. Alle Anbetungsstätten Jahves außerhalb Jerusalems aber entweihte und zerstörte er. Was bisher das Heiligste gewesen war, woran die Erinnerungen an die lieben Vor- fahren und an die Erzväter hafteten, das wurde nun wie eine böse Wurzel ausgerodet. Das Motiv dieser Konzentration des Kultus war der Mono- theismus. Man verzweifelte daran, die ursprünglich kanaanitischen Lokal- heiligtümer von dem heidnischen Unrat säubern zu können. Es war genug, wenn das beim Tempel Salomos gelang, einer rein israelitischen Stiftung, wo die Bedingungen günstiger lagen. Und aus dem Monotheismus schien die Folge zu fließen, daß der eine Gott auch nur an einer Stelle auf Erden wohnen und angerufen werden könne, jeremias Noch dreizehn Jahre überlebte Josias sein großes Werk. Es war eine

glückliche Zeit äußeren und inneren Wohlbehagens. Die Herrschaft der Assyrer schrumpfte zusammen und reichte nicht mehr über Palästina. Man hatte das Gesetz Jahves und man glaubte es zu halten. Nur der Prophet Jeremias ließ sich von der allgemeinen Stimmung nicht anstecken. An der Einführung des Deuteronomiums hatte er mitgewirkt, zeitlebens eiferte er gegen die illegitimen Altäre in den Städten Judas und gegen die Verehrung der heiligen Bäume und Steine. Aber mit den Wirkungen der Reformation war er doch nicht zufrieden. Nichts schien ihm gefahr- licher, als das Vertrauen, welches sie erzeugt hatte, auf den Besitz des Gesetzes Jahves und seines einzig wahren Tempels. Anders als Jesaias betonte er geflissentlich, Juda sei nicht besser als Israel und der Tempel von Jerusalem verdiene kein anderes Schicksal als der alte ephraimitische in Silo, der damals längst in Trümmern lag. Die erfolgte Bekehrung sei nur äußerliches Scheinwerk geblieben, ein Säen unter die Domen, kein tiefes Umpflügen des verunkrauteten Ackers. Welthistorische Josias fiel bei Megiddo (608) im Kampfe gegen die Ägypter, die während

Situation, , _,

die chaidäer. dcr Bclagcrung Nineves durch die Meder und die Chaldäer nach Norden vorgedrungen waren. Sein Untergang erschütterte den Glauben an die Wirksamkeit des Bundes mit Jahve auf Grund des Gesetzes. Das Deutero- nomium fand tatsächlich keine Nachachtung mehr, die Höhen, d. h. die Lokal- hciligtümer lebten wieder auf. Der Nachfolger des Josias, Jojakim, lenkte in die Bahnen Manasses ein. Er empfing die Herrschaft aus den Händen der Ägypter. Nach dem Fall der assyrischen Hauptstadt jedoch wurden diese von den Chaldäem am oberen Euphrat geschlagen (604) und demnächst aus ganz Syrien und Palästina verdrängt. Jojakim wurde nun der Vasall des Nabukodrossor (Nebukadnezar), Nach einigen Jahren aber hielt er den Tribut zurück; ein durch religiösen Fanatismus ent-

V. Die prophetische Deformation in jcMisalem und der Unterfj.inf,' des Reiches Jiida. 2 7

zündetes Freiheitsfieber durchglühte das Volk und ergriff auch den König. Darauf erschienen im Jahre 597 die Chaldäer vor Jerusalem. Die Stadt mußte sich ergeben; der junge König Jechonia, der Sohn des inzwischen verstorbenen Jojakim, wurde gefangen. Mit ihm wurden 10 000 Jerusalemer fortgeschleppt und in Babylonien angesiedelt, die Blüte und der Kern der Bevölkerung; zum Könige über den Rest wurde Sedekia ben Josia ge- macht. Es war ein gehöriger Aderlaß. Aber das Fieber wurde dadurch nicht unterdrückt. Eine Reihe von Jahren sträubte sich zwar Sedekia gegen den Freiheitsdrang. Als sich jedoch im Jahre 588 eine bestimmte Aussicht auf die Hilfe des Pharao Hophra (x\pries) eröffnete, \var kein Halten mehr. Der Abfall erfolgte binnen kurzem lag ein chaldäisches Heer vor Jerusalem. Ein Entsatzversuch der Ägypter wurde abgeschlagen, nach anderthalbjähriger Belagerung fiel die Stadt (Juli 586). Sie wurde zerstört, die Mauer niedergerissen, der Tempel eingeäschert. Von der Bevölkerung, diesmal nicht bloß der Stadt, sondern auch des Landes, wurde wiederum ein erheblicher Teil nach Babylonien verpflanzt. Viele vornehme Gefangene wurden hingerichtet, der König Sedekia geblendet. Mit dem Reiche Juda war es aus, die Hauptstadt blieb in Trümmern liegen. Nur ein Rest der ärmeren Bevölkerung w'urde im Lande zurück- gelassen, unter einem chaldäischen Beamten jüdischer Herkunft, der aber nicht in Jerusalem residierte.

Dieser rasche Wechsel von Katastrophen rief in Juda eine begreifliche ner Untergang

des Reiches

Aufregung hervor. x\us der Enttäuschung erhob sich immer wieder die juda und die

Stellungnahme

patriotische Illusion, die sich an Jahve und an seinen Tempel klammerte, des jeremias

dazu.

Man jubelte über die Niederlage der Ägypter, die dem kurzen Traume der nationalen Unabhängigkeit unter Josias ein Ende gemacht hatten. Noch viel mehr über die Zerstörung Nineves, wodurch endlich die Rache an Assur vollstreckt zu werden schien. Das bittere Ende kam freilich nach, als an Stelle der Assyrer die bis dahin ganz unbekannten Chaldäer sich erhoben. Aber bald wich die Niedergeschlagenheit darüber wieder einem Aufschw^ung des Fanatismus. Nur Jeremias taumelte nicht mit, so tiefes Mitgefühl mit seinem Volke er auch hatte. Er empfand den Unter- gang des Reiches und des Tempels als göttliche Notwendigkeit. Er hatte ihn von vornherein fest ins Auge gefaßt und ließ sich durch nichts daran irre machen, weder durch Ereignisse, die seine Unglücksweissagungen zu widerlegen schienen, noch durch den allgemeinen Spott und Haß, den er sich zuzog. Er sah in den wahnsinnigen Empörungen gegen die Chaldäer Zuckungen der Agonie. Er tat dagegen was in seinen Kräften stand, aber er wunderte sich nicht, daß der Tod eintrat. Für ihn stimmte die Rechnung. Die Verzweiflung, die nach dem letzten vSchlage das Volk erfaßte, hatte er schon hinter sich; jetzt antezipierte er im Geist eine tröstliche Zukunft.

Seine Arbeit am Volk war vergeblich gewesen. Aber mochte auch das Wort Jahves, das er zu verkündigen hatte, ihm Hohn und Verfolgung

2 8 Julius Wellhausen: Israelitisch -jüdische Religion.

eintragen die Gewißheit, daß Jahve zu ihm sprach, hielt ihn aufrecht und erquickte ihn. Aus seinem Mittlertum zwischen Jahve und Israel entstand, da Israel davon nichts wissen wollte, ein individuelles Verhältnis zwischen seiner Person und Jahve, worin nicht bloß Jahve sich durch ihn dem Volke offenbarte, worin er vielmehr auch selber, in all seiner Menschlichkeit, sich vor Jahve ausschüttete. Sein bewegtes Leben mit Gott machte er nun freilich nicht zum Gegenstand seiner Verkündigung, er legte nur das göttliche Recht vor und drohte mit dem göttlichen Gericht, wie die übrigen Propheten. Aber als ob er doch die Bedeutung der Vorgänge in seinem Inneren geahnt hätte, zeichnete er einzelnes davon auf. Sein Buch enthält mitunter auch Konfessionen über seine Anfechtungen und inneren Kämpfe, in denen er sich wenngleich nicht zur Ruhe und Seligkeit, so doch zum Bewußtsein des Sieges in der Niederlage durchrang. Er ist der Vater des wahren Gebetes, in dem die arme Seele zugleich ihr untermenschliches Elend und ihre über- menschliche Zuversicht ausdrückt. So löste sich aus der Prophetie nicht bloß das Gesetz aus, sondern zum Schluß auch noch die indivi- duelle Religiosität.

Er.echiei VI. Das babylonische Exil, die Restauration und die Ent-

(seit 590).

stehung des Judentums (586 ca. 400). Im babylonischen Exil wurde der Rest der Nation durch die Prophetie aufrecht erhalten. Die Prophetie hatte bis dahin den Untergang des Gemeinwesens geweissagt; schon das war tröstlich, daß sie denselben als notwendig im Namen Jahves voraus- gesehen und verstanden hatte. Jetzt aber, als die Notwendigkeit Tat- sache geworden war, schlug die Weissagung um. Man sieht das deutlich bei dem Priester Ezechiel, der sich unter den Verbannten von 597 befand. Solange die heilige Stadt noch stand, verkündete er ihren nahen Sturz und hielt seinen Landsleuten, die noch immer nicht daran glauben wollten, ihre und ihrer Väter Sünden vor. Sobald sie aber gefallen war, änderte er den Ton vollständig und sprach keine Drohungen mehr aus, sondern nur noch Verheißungen. Er ist der Anfänger der exilischen und nachexilischen, wesentlich durch die Schrift und nicht mehr durch das lebendige Wort wirkenden Prophetie, deren messianischen und eschato- logischen Charakter er begründete. Er ergeht sich teilweise in aus- schweifenden Hoffnungen über die Vernichtung der den Juden feindlichen Welt. Teilweise aber entwirft er ein positives Bild von der künftigen Theokratie. Er stellt sie sich wesentlich als Kultusanstalt vor, mit dem Tempel von Jerusalem als Zentrum. Dabei hält er sich trotz allerhand spekulativer Extravaganzen im ganzen doch so in den Schranken des von der Zeit Vorgezeichneten, daß dieses Zukunftsbild tatsächlich das Programm für die Organisation der nachexilischen Gemeinde und ihre Gesetzgebung hat werden können. üngeif?[^^nre ^^^ jüngerer Zeitgenosse Ezechiels war der große Anonymus, von dem

VI. Das babylonische Exil, die Restauration und die Kntsteluinj,' des Judentums. OQ

die erste Hälfte des Anhangs am Buch Jesaias (Kap. 40 55) stammt. Er schrieb gegen Ende des Exils, als Cyrus seinen vSiegeslauf begonnen hatte und auch das chaldäische Reich bedrohte. Er sah in dem Perserkönig das Werkzeug Jahves zur Erlösung Israels oder Sions denn Sion war damals schon gleichbedeutend mit Israel geworden. Er lenkte den Blick der Juden von der traurigen Vergangenheit, unter deren Last sie seufzten, weg auf das lebendige heilbringende Tun Jahves in der bewegten Gegenwart. Sein strafendes Werk hat nach ihm der Weltgott an Sion vollbracht, jetzt baut er es wieder auf. Denn trotz allem vertritt Israel doch den Heiden gegenüber die Sache Jahves, die wahre Religion und wird um deswillen wieder auferstehen; um die Wahrheit und den Einen Gott in der Welt zur Anerkennung zu bringen, als Missionar für die Heiden. Es gibt keinen Gott außer Jahve, und Israel ist sein Knecht, d. h. sein Prophet.

Cyrus eroberte in der Tat Babylon und gab den Juden die Erlaub- Die Perser;

•Ti T-'v-' r-' ^ t Cyrus erlaubt

nis heimzukehren, etwa im Jahre 538, Diejenigen, die davon Gebrauch die Rückkehr

der Juden

machten ein großer Teil blieb in Babylonien siedelten sich in und (um 538). bei Jerusalem an. Sie mußten in der verwüsteten Heimat einen schweren Kampf um ihre Existenz kämpfen und konnten lange Jahre nicht daran denken, den Tempel wieder aufzubauen; nur einen Altar errichteten sie. Die Zeit des Heils, die ja nach dem Fegefeuer des Exils anbrechen sollte, entsprach nicht den Erwartungen. Man wohnte zwar wieder im Lande der Väter, aber in den elendesten Verhältnissen und unbefreit von dem Joch der Heiden. Das Gefängnis war gewandt, und doch mußte die eigentliche Wendung noch kommen. Jahves Zorn lastete noch auf seinem Volke, er war noch immer nicht in sein von den Fremden beherrschtes Land zurückgekehrt.

Im zweiten Jahre des großen Darius (521/20) trieben die Propheten Der ivmpeibau

, unter Oarius

Haggai und Zacharias die Mutlosen an, endlich Hand an den Tempel Hysuspis. zu legen; dann werde auch Jahve in sein Haus einziehen eine große Krisis kündige sich an, aus welcher das Heil erstehen werde. Der Tempelbau wurde wirklich unternommen und im sechsten Jahre des Darius vollendet. Mit der Zeit besserten sich auch die Verhältnisse, wenngleich die überschwänglichen Hoffnungen sich keineswegs erfüllten. Die Kolonen aus Babylon lebten sich allmählich ein. Sie traten in Verbindung mit den in der Heimat verbliebenen Brüdern und nahmen sie in ihre Gemeinde auf. Sie waren auch nicht spröde gegen die Samarier und gegen andere Nachbarvölker, wenn diese sich an sie heranmachten. Dadurch büßten sie indessen an der strengen Abgeschlossenheit ein, die sie in Babylonien gelernt hatten und die zu üben ihnen dort, in einer ganz fremden Um- gebung, leichter g^emacht wurde als in Palästina unter Verwandten und Halbverwandten. Eine strenger gerichtete Minorität sah darin die größte Gefahr für den Bestand der jüdischen Gemeinde und ihrer Religion.

Dieser Gefahr wurde begegnet durch den Schriftgelehrten Ezra, der unter Longimanu».

j T-» * '1 Kzra und

der Regierung des Artaxerxes Longimanus (464 24) aus Babylonien kam Nehemia.

(um 430).

TQ JuLirs AVellhausen: Israelitisch -jüdische Religion.

und neuen Zuzug von dorther mitbrachte. Er hätte indessen gegenüber dem Widerstreben der Majorität und auch der jerusalemischen Aristokratie schwerHch etwas ausgerichtet, wenn nicht Xehemia nachgekommen wäre. Xehemia war ein eifriger Jude, und in Gunst bei Artaxerxes, dessen Mundschenk er war. Er wurde mit voller Gewalt vom Königshof zu Susa nach Judäa geschickt und konnte die Autorität der persischen Regierung für die Bestrebungen der Exklusiven einsetzen. Es gelang ihm das Werk durchzuführen, dessen Anfänger Ezra war, und die Juden vor der Vermischung mit Heiden und Halbheiden zu schützen. Ezra und Nehemia sind, unter der Ägide des Schahänschah, die wirklichen Gründer des Judentums geworden. Der eigentliche Gründer freilich sollte Moses sein; die Reformation wurde gekrönt durch die Einführung eines neuen Gesetzbuches Moses', das Ezra aus Bab3'lonien mitgebracht haben soll. Kinführung des Dicscs Buch, das dem unter König Josias veröffentlichten Deutero-

priesterlichen .. r-.. i-r-.'iii -i-

Gesetzes nomium jetzt zur beite trat, war der rriesterkodex, der, wie bereits gesagt ist, den umfangreichsten Teil des Pentateuchs ausmacht und dem Ganzen das Gepräge gibt. Er befaßt sich ausschließlich mit dem Kultus, und zwar nicht bloß mit dem kleinen Kultus der frommen Exerzitien des täglichen Lebens, den auch die Laien kennen und üben mußten, sondern sogar vorzugsweise mit dem großen Kultus am Altar; er macht die Praxis der Priester am Altar und das Ritual des Tempeldienstes, die etwa in einem Manuale sacerdotum hätte dargestellt werden können, zum Hauptinhalt des allgemeinen und jedermann zu wissen nötigen mosaischen Gesetzes. Er redet nicht mehr vom Volke Lsrael, sondern nur noch von der Gemeinde. Die politischen Angelegenheiten sind derselben durch die Fremdherrschaft abgenommen, nur die kultischen sind ihr geblieben. Der Kultus wird streng zentralisiert und zugleich vollkommen uniformiert, die unbedeutendsten Riten werden gesetzlich festgelegt und vorschriftsmäßig geordnet. Der Begriff des Korrekten und Legitimen beherrscht das Ganze und drückt einen spezifisch jüdischen Stempel auf das an sich indifferente Material. An der Spitze der heiligen Gemeinde steht nicht ein König, sondern der Hohepriester. Der Klerus ist autonom und scharf getrennt von den Laien. Innerhalb des Klerus werden die Söhne Aharons von den Leviten unterschieden, letzere sind nicht zum Opfern, sondern nur zu niederen Dienstleistungen berechtigt. Damit wird die Vorschrift des Ezechiel erfüllt, daß die Leviten, d. h. ursprünglich die Priester der Lokal- heiligtümer außerhalb Jerusalem, zu bloßen Hierodulen der Tempelpriester degradiert werden sollen, und die Verordnung des Deuteronomiums außer Kraft gesetzt, daß sie ihr Priestertum, nach Abschaffung der Lokal- heiligtümer, in Jerusalem fortsetzen dürfen, neben der erbgesessenen jerusalemischen Priesterschaft. Der Priesterkodex geht also an der Hand Ezechiels über das Deuteronomium hinaus, wahrscheinlich dem wirklichen Verlauf der Entwicklung folgend. Er schließt die Bewegung ab, die vom Deuteronomium eröffnet wird. Er ist nicht das Programm einer Re-

VI. D:\s babylonische F.xil, die Restauration und die Entstehung des Judentums. 5 i

formation, sondern steht schon über dem Kampf. Er fordert nicht, wie die Theokratie sein soll, sondern beschreibt sie, wie sie seit Moses immer gewesen sei. Er gibt seine Gesetze in historischer Form, so als seien sie von allem Anfang an erfüllt gewesen, als habe z. B. schon in der Wüste der Tempel als Stiftshütte bestanden, und ebenso Jerusalem als kon- zentriertes Lager der Gemeinde um die Stiftshütte herum. Das ist nicht bloß archaisierende Manier. Er setzt in der Tat das geistliche Gemein- wesen als bereits fungierend und in den Hauptzügen richtig fungierend voraus; er gibt ihm nur die abschließende gesetzliche und schriftliche Unterlage. Allerdings unterwirft er dabei das Ganze mit phantastischer Pedanterie einer gewissen Schematisierung. In einigen wichtigen Punkten zieht er auch Konsequenzen, die zu seiner Zeit faktisch noch nicht be- standen, sondern sich erst anbahnten. Zu seiner Zeit hatte der Hohe- priester noch nicht die Stellung, die er ihm zuweist; und die Rangordnung der verschiedenen Klassen des Klerus war noch nicht säuberlich voll- zogen.

Der Kultus war ursprünglich das heidnische Element in der Religion Benutzung

^ ° °. des Kultus zur

Jahves. Er wurde von den großen Propheten bekämpft, aber er ließ sich Organisation des

Judentums, zur

nicht einfach abschaffen. Es entstand vielmehr die Aufgabe, ihn zu kor- Abschiießung

von den Heidrn

rigieren. Die Reformation begann mit dem Deuteronomium; im Priester- und zur Ver- schalung des kodex ist sie so vollständig durchgedrungen, daß das ursprüngliche Motiv, Monotheismus.

die Korrektur des Kultus im Interesse des Monotheismus, vergessen scheint über dem Erfolge, der Legitimierung desselben und der vollständigen Auf- nahme in das Gesetz. Dem Kultus wird dadurch eine Wichtigkeit gegeben, wie er sie größer auch in alter Zeit nicht besessen hatte: das ist unleugbar ein Zugeständnis an die herrschende Richtung der Menge, ein Kompromiß von den Kompromissen, wie sie in der Religionsgeschichte häufig sind. Er ward jedoch zugleich dadurch auch ungefährlich gemacht. Die alten Bräuche werden entgiftet und entseelt; was übrig bleibt, sind leere Formen und tote Werke, die nicht an sich, sondern nur dadurch Sinn und Wert haben, daß sie von Gott befohlen sind und genau nach Vorschrift verrichtet werden. Und man muß hinzunehmen, daß es damals kein anderes Mittel gab, um die zerschmetterte Nation vor gänzlichem Zerfall zu bewahren. Die Organisation, die Fassung und Abschließung des Judentums, war die nächste und dringende Aufgabe der Zeit. Ihr diente der Tempel, der Klerus und der Opferdienst, ihr diente die Disziplin der religiösen Übungen, durch welche die Laien zusammengehalten und abgesondert wurden, ihr diente überhaupt die Heiligung dessen, was ursprünglich allgemein ethnisch war, jetzt aber zum Abzeichen des Judentums erhoben wurde. Die ein- fachen prophetischen Ideen ergaben nicht das Mittel zur Gründung einer Gemeinde, sie bedurften vielmehr selber einer Verschalung, um nicht der Welt verloren zu gehen. Der gesetzliche Kultus lieferte diese Verschalung; aus ursprünglich heidnischem Material wurde ein Panzer für den Mono- theismus der Moral geschmiedet. Der Widerspruch, daß der Gott der

■J2 Julius Wellhausf.n : Israelitisch -jüdische Religion.

Propheten sich jetzt in einer kleinhchen Heils- und Zuchtanstalt verpuppte und statt einer für alle Welt gültigen Norm der Gerechtigkeit ein streng jüdisches Ritualgesetz aufstellte, war für diese Zeit praktisch gerechtfertigt. Verleugnen tut sich auch im Priesterkodex der universale moralische Monotheismus keineswegs. Er ist zwar verhüllt unter der aus altem ab- getragenen Stoff neu gewebten Decke Moses', aber bisweilen leuchtet er klar und deutlich hindurch. So in der Weisung für Noah: wer Menschen- blut vergießt, dessen Blut soll wieder vergossen werden, denn nach seinem Bilde hat Gott den Menschen gemacht; und in der Offenbarung an Abraham: Ich bin der Allmächtige, wandle vor mir schlicht und recht! Namentlich aber in der Schöpfungsgeschichte, wo die Welt durch Gott aus dem Nichts hervorgerufen und die Natur zur Sache erniedrigt, der Mensch aber ihr gegenüber und auf die Seite Gottes gesetzt wird, wenn- gleich auch er Kreatur ist. Die hier zum Ausdruck gelangende einfache Weltanschauung hat dem menschlichen Handeln für lange Zeit eine ge- sunde theoretische Grundlage gegeben. Die jüdische VII. Die jüdische Frömmigkeit. Die merkwürdige rituelle Diszi-

Hoffnung und -• * _ ®

ihre Dogmati- plin, der sich die Juden unterwarfen, hatte Erfolg. Sie behaupteten ihre

sierung.

Besonderheit in dem Chaos des Weltreiches, in welchem damals die Nationen und die Religionen sich aufzulösen begannen. Die Gesetzes- arbeit befriedigte sie aber nicht, sie war nur ein Mittel zum Zweck und ein Angeld auf etwas Größeres. Es genügte ihnen nicht, daß sie nur eine Kultusgemeinde waren und politisch unter dem Joch der Heiden standen; sie wollten wieder eine Nation und ein Reich werden wie zur Zeit Davids. Neben dem Gesetz blieb die im Exil entstandene eschatologische Hoffnung. Sie ist utopisch, sie malt sich ein Ideal, zu dem von der Wirklichkeit keine Brücke hinüberführt, welches durch ein plötzliches Eingreifen der Gottheit in die Welt gesetzt werden soll. Sie empfindet nicht das schon im Werden Begriffene voraus und stellt keine Ziele des Handelns auf, die schon in der Gegenwart Geltung haben oder haben sollten. Sie schaut nicht das lebendige Tun der Gottheit, sondern hält sich an den heiligen Buchstaben, in welchem sie die Verbriefung ihrer Wünsche sieht, und behandelt denselben als Quelle für ihre fixen Ideen. Die älteren Weissagungen waren mit der Erlösung aus dem Exil nur scheinbar erfüllt, da die bitter empfundene Fremdherrschaft ja doch bestehen blieb und der Druck der Zeiten nicht aufhörte; sie bedurften erst noch der wahren Erfüllung. Von diesen unerfüllten Weissagungen geht die Eschatologie seit Ezechiel aus; sie prolongiert den nicht ein- gelösten Wechsel auf einen späteren und immer wieder auf einen späteren Termin. Zur weiteren Ausmalung des Bildes benutzt sie Züge der alten heiligen Geschichte, da ja die Zukunft Revenant der ideal gedachten Ver- gangenheit sein sollte. Das war der feste Aufzug des phantastischen Gewebes. Dazu lieferte die Gegenwart jeweilen einen wechselnden Ein- schlag. Denn ein bloßer Locus der Dogmatik war die jüdische Eschato-

VII. Die jüdische Frömmigkeit. -i -i

logie doch noch nicht; sie war noch immer von den variablen Zeitver- hältnissen beeinflußt; sie bedarf zur Erklärung der historischen Datierung. Verhältnismäßig untergeordnet sind allerhand mythologische Elemente, die dem großen vorderasiatisch -ägyptischen Magazin entnommen werden; sie verhüllen und veranschaulichen zugleich das wirklich Gemeinte oder haben auch wohl nur ornamentalen Wert. Man darf aber nicht glauben, daß die Hoffnung schon bei den Juden so transzendent war, wie später bei den Christen. Sie erwarteten von dem großen Zusammenbruch der Heiden- macht das irdische Heil, und zwar nicht der Einzelnen, sondern der Nation.

Trotzdem begann die Religion ihren Schwerpunkt von der Gesamt- nie individua- heit in das Individuum zu verlegen. Im Altertum und im ganzen auch Religion, noch in der Zeit der großen Propheten war sie gemeinsamer Besitz des Volkes, etwas Selbstverständliches und Natürliches. Jetzt mußte sich der geborene Jude doch noch selbst zum Juden machen, in bewußter Arbeit. Die Gemeinschaft beruht darauf, daß gleichgesinnte Individuen sie tragen und erhalten. Das Ideal ist die Gerechtigkeit. Sie beschränkt sich nicht auf das Recht, das von der Obrigkeit gehandhabt wird und das Funda- ment der Gesellschaft ist. Sie besteht auch nicht bloß in der genauen Beobachtung äußerlicher Vorschriften, so ernst es damit auch genommen werden mag. Ihr Kern ist vielmehr die individuelle Moral. Die Moral und nicht der Kultus gilt als die Quintessenz der göttlichen Forderungen; das zeigen besonders die Psalmen und das Buch Hiob, die beide aus der nach- exilischen Zeit stammen. Daraus, daß Jahve im Tempel wohnt und die Juden seine Beisassen sind, wird nicht gefolgert, daß sie ihm Opfer bringen, son- dern daß sie ihre Pflichten gegen den Bruder erfüllen, reine Hände und reine Herzen habenmüssen. Die Verschmitzten und Verzwickten sind dem Herrn ein Greuel, die Geraden und Einfältigen gefallen ihm. Auf nichts wird größeres Gewicht gelegt, als auf Simplizität, Treue und Redlichkeit wahrscheinlich weil diese Eigenschaften tatsächlich dringendes Desi- derium waren. Die sittlichen Anforderungen sind im Buch Hiob (Kap. 31) fast so streng wie im Evangelium, gewöhnlich jedoch nicht übertrieben, in den Sprüchen vSal. sogar ziemlich mäßig. Sie gelten nicht für unerfüllbar; das gute Streben erzeugt Befriedigung und nicht Verzweiflung über das Mißverhältnis von Wollen und Können; das Sündengefühl entsteht nicht aus dem Gesetz, sondern aus der Strafe, d. h. aus dem Unglück. Das Motiv der Moral, wodurch sie religiös wird, ist die Furcht Gottes. Aber die Furcht des Herrn, so schwer sie auf seinen Knechten lastet, hat doch nichts Niederdrückendes; sie befreit von jeder andern Furcht und be- rechtigt zum Vertrauen. Wer unter dem Schatten des Höchsten sitzt, erschrickt vor keinem Gespenst, vor keiner schleichenden Seuche, vor keiner plötzlichen Gefahr.

Was hat nun der Einzelne davon, daß er sein Leben im Dienste Probleme der

,,.,.. rc Religion.

Gottes verbringt? Er erwartet, daß es ihm gut gehe auf Erden, irmt

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-iA Julius Wellhausen: Israelitisch -jüdische Religion.

ihn ein Unglück, so trägt er es zunächst geduldig, als vorübergehende Züchtigung, deren Recht er anerkennt, auch wenn er es nicht einsieht. Aber wenn er nun im Unglück stecken bleibt und darin stirbt, wie dann? Hoffnung auf ewiges Leben hat allein die Gemeinde, der Tod an sich ist ihm natürlich, schrecklich nur der Tod im Unglück und Elend, durch plötzliche Katastrophe oder durch verrufene Krankheit. Dieser böse Tod wird als endgültiges Verdammungsurteil, gewissermaßen als göttliche Hin- richtung aufgefaßt. Der Stachel liegt nicht in dem physischen Leiden, sondern in der Seelenqual, daß Gott den Frommen nicht anders behandle wie den Gottlosen. Und diese Seelenqual empfinden mit dem zunächst Betroffenen auch alle andern Frommen, während die Gottlosen trium- phieren. Denn innerhalb der nachexilischen Gemeinde ist der Riß, der schon im alten Israel durch die Propheten entstand, viel breiter und stärker geworden. Die eifrigen Juden stehen den bloß nominellen in bitterer Feindschaft entgegen, sie bezeichnen sich als die Frommen und die andern als die Gottlosen. Der Gegensatz geht über in einen Prin- zipienstreit. Die Gottlosen sind der Meinung, daß Gott sich nicht groß um die Menschen kümmere; wenn sie es nicht geradezu sagen, so handeln sie doch darnach. Von den Frommen wird das als tatsächliche Leug- nung Gottes angesehen. Für die Menschen existiert Gott nicht, wenn er zwischen dem, der ihn sucht, und dem, der nicht nach ihm fragt, keinen Unterschied macht. Die Frömmigkeit bedarf des Lohnes, nicht um des Lohnes willen, sondern um zu wissen, daß sie keine Illusion sei, daß sie ihre Hand nicht in die leere Luft strecke, sondern einem Arm vom Himmel entgegen. Die Gnade Gottes aber und sein Zorn wird in irdischer Erfahrung geschmeckt und gesehen; wenn diese Erfahrung dem Glauben, daß die Frömmigkeit zu etwas nütze sei, widerspricht, so wird er aufs schwerste erschüttert. Daß Jahve sein Volk in den Untergang dahin gab, war das Problem der prophetischen Periode gewesen; daß er den einzelnen Frommen den Tod des Gottlosen sterben ließ, war das Problem der nach- exilischen. Nachdem man glücklich so weit war, anzuerkennen, daß die Moral die religiöse Forderung sei, ergab sich weiter die schreckliche Auf- gabe, Stellung dazu zu nehmen, daß die Moral nichts nützt. Ein Anfang dazu wird im Buch Hiob gemacht. Das Buch Hiob. Hiob Icidct nicht unter Krankheit und Tod, sondern unter der Ver-

kennung seiner Unschuld. Und sein Fall widerspricht nicht der Regel, ist keine unerhörte Ausnahme; nirgend zeigt der Weltlauf die Harmonie mit der Gerechtigkeit, welche der Glaube fordert. Er tröstet sich jedoch nicht mit der Allgemeinheit des Leidens; es wird ihm dadurch der Wider- spruch nur objektiver, den er in sich selber erlebt. Denselben durch Leugnung Gottes zu beseitigen, fällt ihm nicht ein. Er zweifelt keinen Augenblick an ihm; er schwört: so wahr Gott lebt, der mir mein Recht entzogen! Er leugnet nur den Gott seiner Freunde, dessen Gerechtigkeit sich überall in der Welt offenbaren soll. Sie verdrehen die Tatsachen der

VIT. Die jüdische Frömmigkeit. le

Erfahrung, sie nehmen für Gott Partei und lügen für ihn, Bedarf er solcher Advokaten? Es schimmert der Gedanke durch, daß Gott die Wahrheit schon ertragen werde, so vernichtend sie scheint. Wenngleich Hiob den Widerspruch der Wirklichkeit gegen die angebliche moralische Weltordnung rückhaltlos darlegt, kann er doch den Glauben an den Sieg der Moral durch Gott nicht aus sich losreißen. Er tut den ersten Schritt, ihn über die äußere Erprobung hinaus zu heben. Er traut seinem eigenen Gewissen mehr als dem Urteil des Geschickes, das ihn trifft, und dem Urteil der Welt, das sich darnach richtet; und neben dem schrecklichen Gott der Wirklichkeit, der seine Unschuld mordet, gewinnt der Zeuge im Himmel Raum, der noch einmal für sie eintreten wird, der gnädige und gerechte Gott des Glaubens, Eine positive Lösung des Rätsels durch transzendente Spekulation wagt er indessen doch nicht. Er bescheidet sich am Ende, Gottes Wege nicht zu verstehen. Das ist ein negativer Ausdruck dafür, daß er trotz allem an ihm festhält. Zu kühnerem Schwung" erhebt sich der Schluß des 73. Psalms. Gegen alle äußere Erfahrung, gegen Tod und Teufel, wird hier die innere Gewißheit der Gemeinschaft des Erommen mit Gott in die Wagschale geworfen, ohne daß die geringste Hoffnung auf ein Jenseits sich äußert. Das ist freilich ein Enthusiasmus, der sich nicht dogmatisch einpökeln läßt, ein Stand- punkt, der nur für wenige Wahrheit hat. Jedenfalls ist damit die Grenze des Judentums weit überschritten. Die Juden sind im ganzen auf dem Standpunkt der Freunde Hiobs stehen geblieben, wie man aus den großen und kleinen Interpolationen des nach ihm benannten Buches sieht; sie sind grundsätzlich mit ihnen einverstanden und tadeln an ihnen nur, daß sie ihre richtigen Grundsätze bei Hiob auf die falsche Person anwenden.

Gegenstand des Nachdenkens wurde indessen die Religion auch bei Die jüdische der Menge der jüdischen Frommen. Sie ist nicht mehr bloßes praktisches der universale Herkommen, sondern auch theoretische Lehre. Die Zeit steht unter dem Zeichen der Weisheit. Obwohl durchaus religiös und jüdisch will diese Weisheit doch allgemeingültig sein und hat den universalistischen Grund- zug an sich, welcher der Reflexion natürlich ist. Wenn auch die Juden nach dem Exil sich geflissentlich wieder in ihre abgetragenen alten Kleider einhüllten, um sich von den Heiden zu unterscheiden, verlieh der moralische Monotheismus ihrer Denkweise doch einen rationalen und internationalen Zug. Sie sträubten sich nicht dagegen, das was sie mit den Heiden gemeinsam hatten anzuerkennen; sie freuten sich darüber, daß eine all- gemeine Tendenz zur Verehrung des einen und wahren Gottes überall in der damaligen Welt sich regte. Sie begannen sogar, sich ihres alten Jahves zu entledigen. Es heißt zwar, daß fromme Scheu sie bewogen habe, den Namen nicht mehr auszusprechen; sie hätten ihn aber doch nicht aufgeben können, wenn ihr geschichtlicher, nationaler, ihnen allein eigener Gott noch wahrhaft lebendig gewesen wäre. Statt des besonderen Eigennamens kamen allgemeine Namen bei ihnen in Gebrauch, gleiche

3*

■>() Julius "Wellhausen : Israelitisch -jüdische Reli^on.

oder ähnliche wie bei den sie umgebenden Völkern: Gott, Herr, der

Höchste, der Gott des Himmels, der Himmel. Veränderung Dazu kommt noch eine wichtige Veränderung, die im öffentlichen

Gottesdienstes, Kultus vor sich ging. Ncbcn Tempel und Altar traten die Synagogen,

dä-s Gebet.

neben das Opfer die Vorlesung und das Gebet. Der Gottesdienst kam damit auf eine andere Grundlage zu stehen. Er wurde von dem heiligen Lokal unabhängig; Synagogen durfte man überall errichten, auch in heid- nischem Lande; die Zerstörung des Tempels und die Aufhebung der Opfer hat für die Juden tatsächlich nicht soviel zu bedeuten gehabt, wie man gewöhnlich meint. Mit der Liturgie des Gebetes und der Vorlesung haben sie den Christen und den Muslimen das Vorbild gegeben. Das Gebet war noch wichtiger als die Vorlesung, die selber darunter ein- begriffen wurde; die Synagogen hießen auch Bethäuser, und der Gottes- dienst schlechtweg Gebet, nicht bloß im Islam. Diaspora und VIIL Letzte Vcrsteifung des Judentums im Kampfe geg'en den

Propaganda,

Gefahr der Hcllcnismus. In der Zurückhaltung gegen alles Fremde, die ihnen durch das Bedürfnis der vSelbstbehauptung auferlegt war, wurden die Juden weniger ängstlich, seitdem sie äußerlich und innerlich erstarkt waren und sich durch- gekämpft zu haben glaubten. Sie gaben ihre alte heilige Sprache auf und nahmen die aramäische an, die damals in der semitischen Kulturwelt fast die Alleinherrschaft besaß: wie hätte Nehemia sich darüber entsetzt! Sie breiteten die Arme weit aus, um die Heiden aufzunehmen, die sich ihrer Gemeinschaft als Mitglieder oder Hospitanten anschließen wollten. Sie waren überall in der heidnischen Welt, wohin sie auswanderten oder ver- schlagen wurden, Missionare. Die Diaspora und die Propaganda nahm namentlich seit der großen Umwälzung einen gewaltigen Umfang an, die durch Alexander d. Gr. für den Orient eingeleitet wurde. Aber die Griechen, mit denen die Juden nun gezwungen oder freiwillig in nahe und vielfache Beziehung kamen, unterschieden sich von den Völkern, die sie bisher ge- kannt hatten. Bei diesen konnten sie ihrer Überlegenheit sicher sein; bei jenen gerieten sie in Gefahr, nicht zu assimilieren, sondern selber assimi- liert zu werden. Diese Gefahr verwirklichte sich in der Tat; es war die letzte und schwerste, die sie zu bestehen hatten. Sie wurde vorzugsweise Antiociius dadurch abgewendet, daß Antiochus Epiphanes (175 163) ihre Hellenisierung"

Kpiphanes

von Syrien, rasch Und mit Gewalt herbeizuführen suchte, statt dem spontanen Prozeß seinen natürlichen und langsamen Lauf zu lassen. Es trat eine Reaktion ein, welche Epoche machte und die Entwicklung des Judentums abschloß. Re^iktion. Eine Minorität der Frommen hielt eifrig an der alten Religion fest,

als die Aristokratie und die Menge sie verleugiiete und der König sie mit blutiger Strenge unterdrückte. Die wunderlichen Bräuche und Formen kamen im Kampf, als Bekenntnis und Abzeichen, wieder zur Geltung; nach einer Periode der Weitherzigkeit, wie sie durch die Weisheitsliteratur und einen Teil der Psalmen charakterisiert wird, verengte und versteifte sich nun das Judentum wieder; der Rabbinismus und der Pharisaismus bahnte

VIII. Letzte Versteitun)^ ilcs Judentums im Kampfe f^egen den Hellenismus. -i-j

sich an. Das Motiv zum Ausharren in der Gesetzestreue war der Glaube, daß die Not und die Verfolgung nicht lange dauern könne: auf viertehalb Jahre berechnete sie das Buch Daniel, das damals (vor 164) entstand. Dieses »as Buch gab der eschatologischen Hoffnung eine frische Ausprägung, die für die (vor 104). Folgezeit Muster oder Thema wurde. Es wird beherrscht von der Anti- these der Herrschaft der Heiden und der Herrschaft Gottes über die Welt. Das heidnische Weltreich hat seit der Zerstörung Jerusalems durch die Chaldäer seine Feindschaft gegen Gott und gegen die Juden beständig gesteigert. Jetzt, in seiner vierten, griechisch-mazedonischen Phase, ist es auf dem Gipfel der Bosheit angelangt, jetzt wird es zusammenbrechen und der Herrschaft Gottes Raum machen. Die alte Ära schneidet pl(")tz- lich ab und die neue beginnt durch ein göttliches Wunder. Das Reich der Heiligen des Höchsten (d. h. der Juden), repräsentiert durch einen Menschen wie die Weltmonarchien durch wilde Tiere, kommt vom Himmel herab auf die Erde. Es ist ebenfalls irdisch und nur eine neue Epoche der Weltgeschichte. Es ist für die jüdische Nation bestimmt, die Hoffnung richtet sich noch immer auf die Herstellung der Nation im alten Glanz und in alter Reinheit, das Gericht ergeht nicht über die Einzelnen, sondern schafft der jüdischen Nation Recht gegen die Heiden, die sie unterdrücken. Vom Jenseits und von allgemeiner Verantwortung, von Paradies und Ge- enna ist im Buche Daniel noch nicht die Rede. Auch nicht vom Satan; das Reich der Welt gehört den Heiden und nicht dem Satan; der Dua- lismus ist geschichtlich und nicht transzendent.

Die in Daniel ausgesprochene Hoffnung wurde erfüllt, freilich nicht ^>er Aufsund

der Makkabücr

durch unmittelbares Eingreifen des Himmels, sondern durch Menschenhand. (167) und das

hasmonäische

Die Juden griffen zu den Waffen und erkämpften sich die Freiheit, unter Reich (bis j;)- kluger Ausnützung der bösen Lage, in der sich damals das Syrer- reich befand. Sie wurden dadurch aus einer politisch unselbständigen Kultusgemeinde wirklich wieder ein Volk und ein Reich; die Priester, die an ihrer Spitze standen, verwandelten sich in Kriegsfürsten und in Könige. Damit entgleisten sie nun aber aus der Bahn, in die sie durch ihre heilige Konstitution, seit dem Exil und seit Ezra, gewiesen waren. Das ganz auf weltlichem Fuße eingerichtete Reich der Makkabäer oder der Hasmonäer widersprach vollständig dem gesetzlichen Ideal der heiligen Gemeinde, Der Widerspruch wurde je länger je mehr empfunden und führte zu einer grimmigen Opposition gegen das hasmonäische Regiment. Deren Wortführer waren naturgemäß die Vertreter des Gesetzes, die Schriftgelehrten, und sie fanden einen mächtigen Rückhalt namentlich in den bürgerlichen Kreisen der Stadt Jerusalem. Ihre Partei führte den Namen der Pharisäer, während die hasmonäisch Gesinnten Sadduzäer Pharisäer und

Sadduzäcr.

genannt wurden. Die Pharisäer siegften wenigstens innerlich über ihre Gegner. Ihr Einfluß überwog im Volk. Sie sprachen das letzte Wort und gaben dem Judentum die definitive Ausgestaltung. Ihr Ein und Alles war das Gesetz. Sie suchten das Leben bis in das geringste Detail hinein

7 8 Julius Wellhausen : Israelitisch-jüdische Religion. VIII. Letzte Versteifung d. Judentums etc

gesetzlich zu ordnen, sie vergrößerten beständig das Netz der Satzungen und verdichteten die Maschen, sie beschränkten Schritt für Schritt den Kreis des Erlaubten durch Gebot und Verbot. Sie standen den Welt- menschen feindlich gegenüber, unterschieden sich aber auch sehr von der Menge, die vom Gesetz und namentlich von seiner Weiterbildung durch die „Überlieferung der Altesten" nichts wußte. Sie vergalten ihr die Verehrung, die sie ihnen zollte, mit unverhohlener Verachtung, Denn die Frömmigkeit war in ihren Augen ein Studium und eine Kunst, sie mußte schulmäßig gelernt und virtuos betrieben werden. Lebendige Es ist jcdoch nicht richtig zu glauben, daß nun sofort unter dem

lisierung der Joch dcs Gcsetzcs alle anderen Triebe des geistigen Lebens verkümmert A ufersteh ungs- wärcn. Dicse Wirkung trat nur allmählich ein. Erst nach der Zerstörung Jerusalems durch die Römer verschrumpfte das Judentum mehr und mehr im Pharisaismus ; vorher war es geistig doch noch sehr rege. Die Pe- danterie und die strenge Disziplin beherrschte höchstens die Praxis, aber auf dem Gebiete des Glaubens und der religiösen Vorstellungen ließ sie der Freiheit und der Entwicklung vollen Raum. Statt der alten nüchternen Weisheit bildete sich damals auf dem Grunde der allgemein orientalischen ein spezifisch jüdische Gnosis aus, die sich mit der Entstehung der Welt und des Bösen, mit Gott und dem Teufel, mit den Engeln und den Dä- monen abgab und stark war in Personifizierung und Namengebung.

Und der religiöse Individualismus tat einen großen Schritt vorwärts. Noch im Hiob und im Psalter kommen alle Menschen unterschiedslos in den Hades; damit ist das Leben gänzlich aus und auch die Gemeinschaft mit Gott: er ist noch immer ein Gott nur der Lebendigen. Nach Daniel sollen zwar die Märtyrer, die ihre Treue für das Gesetz in der syrischen Religions- verfolgung mit dem Tode gebüßt haben, aus dem Grabe auferweckt werden, um an der in Kürze bevorstehenden neuen und glücklichen Ära teil- nehmen zu können, und ebenso sollen auch die Erzbösewichter auferstehen, um die Peinigung noch nachträglich zu erleiden, der sie durch einen zu frühen Tod entgangen sind. Beide sollen aber, wie es scheint, doch nur für eine Weile noch einmal in das irdische Leben zurückgerufen werden, um wiederum zu sterben, nachdem sie ihren Lohn und ihre Strafe nach- geholt haben; die Auferstehungshoifnung ergänzt hier also nur in einem untergeordneten Punkte die messianische Hoffnung auf die Wieder- herstellung des Volkes. Jetzt aber geht sie weit darüber hinaus; die eschatologischen Vorstellungen werden in eine höhere Lage transponiert. Da erscheint die allgemeine Auferstehung der Toten, das Gericht über alle Menschen, die je auf der Welt gewesen sind, das Paradies und die Geenna (statt oder nach dem Hades). Das Volk tritt zurück hinter den Individuen, die zukünftige Welt ist jenseitig, überirdisch und ewig ge- worden. Dieser Umschwung leitet vom Altem zum Neuen Testament über. Das Judentum bereitet damit den Boden vor, auf dem das Christen- tum von vornherein fußt.

Literatur.

Erst neuerdings hat sich die für die isreahtische Religionsgeschichte grundlegende Erkenntnis Bahn gebrochen, daß der Pentateuch aus mehreren Schichten besteht, und daß dessen Hauptmasse, das Gesetz a potiori, ein Produkt des Judentums ist, nicht des alten Israel, und seine zeitliche Stellung hinter den Propheten und vor den Psalmen hat. Zweifel daran, daß Moses den ganzen Pentateuch geschrieben habe, haben sich zwar früh geregt und sind im 17. Jahrhundert sehr kräftig aufgetreten. Aber der eigentliche Begründer der wissenschaftlichen Kritik auf diesem (Gebiet war erst Jean Astruc, ein französischer Arzt (1753). Er zweifelte nicht an der Autorschaft Moses', sondern wies nur nach, daß derselbe verschiedene ältere Quellen benutzt haben müsse. Er beschränkte sich dabei auf die Genesis und unterschied in dieser zwei Hauptfäden der Erzählung nach dem Wechsel der Gottesnamen Elohim und Jahve. Zu diesem Merkmal traten andere, begleitende hinzu; die Hypothese Astrucs bestätigte sich und wurde der fruchtbare Ausgangspunkt der weiteren Untersuchung. Freilich die Versuche, sie zu modifizieren und auf den ganzen Pentateuch zu übertragen , glückten nicht alsbald. Erst in der zweiten Hafte des vorigen Jahrhunderts kamen sie zum Ziel, durch Hupfeld, Nöldeke und Kuenen. Inzwischen aber war die histo- rische Kritik der analytischen an die Seite getreten. De Wette zeigte, daß das mosaische Gesetz der auf Moses zunächst folgenden Zeit unbekannt ist. Aus einer genauen Ver- gleichung, die er zwischen den Büchern Samuelis und der Könige einerseits und der sog. Chronik andererseits anstellte, erhellte, daß die Abweichungen der Chronik sich nicht erklären durch die Heranziehung anderer Quellen, sondern nur aus dem Bestreben der jüdischen Schriftgelehrten, die geschichtliche Überlieferung mit dem (iesetz in Einklang zu bringen und dem Gesetz in der Geschichte die Stellung zu verschaffen, die es zu ihrer Verwunderung in den alten historischen Büchern nicht einnahm. Der Nachfolger und Voll- ender de Wettes, größer als er, war der Hegelianer Vatke. Aber er wurde nicht verstanden, und die Wahrheit drang erst durch, seit Graf für sie eintrat und Kuenen ihm zu Hilfe kam. Kuenen hat auch das Verdienst, die Ergebnisse der historischen Kritik und die der litera- rischen Analyse in das richtige Verhältnis gesetzt zu haben. Vgl. HOBBES, Leviathan (London, 165 1). Peyrerius, Prae-adamitae (sine loco, 1655). Spinoz.\, Tractatus theo- logico-politicus (Hamburg [Amsterdam], 1670). R. Simon, Histoire critique du Vieux Testa- ment (Paris, 1678). Jean Astruc, Conjectures (Bruxelles, 1753). W. M. L. de Wette, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament (Halle, 1806. 07). H. Hupfeld, Die Quellen der Genesis (Berlin, 1853). K. H. GR-AF, Die geschichtlichen Bücher des Alten Testa- ments (Leipzig, 1866). Th. Nöldeke, Untersuchungen zur Kritik des Alten Testaments (Kiel, 1869). Abr.\h.\M Kuenen, Bijdragen tot de geschiedenis van den Godsdienst van Israel (in der Leidener Theol. Tijdschrift, 1867 fif.). Derselbe, Bijdragen tot de critiek van Pentateuch en Jozua (ebendaselbst, 1877 AT.). Einen Überblick über die Geschichte des Problems gibt Kuenen in der Leidener Theol. Tijdschr. 1870 S. 391 ff., und A. Mkrx jm Nachwort zur 2. Aufl. von Tuchs Kommentar zur Genesis (Halle, 1871).

40

Literatur.

Der vorstehende Aufsatz beruht in der ersten Hälfte auf Wellhausen, Die Kompo- sition des Hexateuchs und der geschichtüchen Bücher des Alten Testaments (Berlin 1876 78), und auf dessen Prolegomena (Berlin 1878); die zweite Hälfte ist ein Auszug aus der Israelitischen und jüdischen Geschichte desselben Autors (Berlin, 1894, 5. Aufl. 1904). Von anderen direkten oder indirekten Darstellungen der israelitischen Rehgionsgeschichte sind zu nennen: Wilhelm Vatke, Die biblische Theologie wissenschaftlich dargestellt (Berlin, 1835). Heinrich Ewald, Geschichte des Volkes Israel (3. Ausg. Göttingen, 1864 ff.). A. Kuenen, Godsdienst van Israel (Haarlem, 1869. 70). B. DUHM, Die Theologie der Pro- pheten (Bonn, 1875). W. Robertson Smith, The Old Testament in the Jewish Church (Edinburgh, 1881 und 1892). B. Stade, Geschichte des Volkes Israel (Berhn 1887. 88). E.Renan, Histoire du Peuple d'Israel (Paris, 1887 ff.). RUDOLF Smend, Lehrbuch der Alttestamentlichen Religionsgeschichte (Freiburg i. B., 1893 und i{

Hauptquellen sind das Alte Testament und die sonst erhaltene jüdische Literatur bis auf Josephus. Die Nebenquellen (assyrisch -babylonische und ägyptische Inschriften, Stele des Mesa, griechische Historiker) einzeln aufzuführen, ist hier kein Anlaß.

DIE RELIGION JESU UND DIE ANFÄNGE DES CHRISTENTUMS BIS ZUM NICAENUM.

Von Adolf Jülicher.

Einleitung. Wenn wir die erste Periode in der Geschichte des Christentums mit der Synode von Xicäa (325) abgrenzen, so können wir uns nicht bloß auf das Vorbild des ersten Kirchenhistorikers, des gelehrten und treuen Bischofs Euseb von Cäsarea berufen, die Rechtfertigung liegt in der Sache selber. Gewiß ist der Einschnitt zwischen Jesus, in dessen Herzen die neue Religion erwuchs, und seinem Apostel Paulus, der sie hinaustrug in die weite Welt, und wiederum der zwischen Paulus oder dem paulinischen Zeitalter und den nächstfolgenden beiden Jahrhunderten, die seine Freiheit des Geistes durch ein neues Gesetz, durch eine Reihe fest ausgeprägter Formen und Formeln ersetzten, deutlicher als der zwischen der letzten vor- nicänischen Generation, die sich zu offiziellem Eingreifen in die unseligen theologischen Streitigkeiten verführen ließ, und den ersten nachnicänischen, die ihre beste Kraft in diesem Gezänk verzehrten: Jesus, Paulus, die werdende katholische Kirche sind drei sehr verschiedene Größen. Aber erst sie zusammen stellen die Anfänge der christlichen Kirche dar; bis Nicäa reicht die Urzeit, zu der sich noch heut alle christlichen Kirchengemein- schaften bekennen. Um 325 tritt die Kirche aus dem Schatten heraus und wird eine Staatsinstitution, dadurch in ganz neuer Weise mächtig und abhängig zugleich; die ökumenische Synode von Nicäa ist mehr als bloß die erste in einer Reihe solcher Synoden, sie gilt in Wahrheit als die Synode schlechthin, welche die echte kirchliche Lehre ein für alle Mal festgestellt hat: die späteren haben sie nur auszulegen, nicht etwa zu korrigieren. Um 325 fühlt sich die Kirche fertig, insofern mit Recht, als nachher völlig neue Linien nicht mehr gezogen worden sind, Ausgestaltung und Umgestaltung zwar massenhaft, aber keine Xeuschöpfung aus anderem Geist oder in anderer Richtung. Solch ein Endpunkt ist am wenigsten bei Jesu Tod, doch vor Nicäa überhaupt nie erreicht gewesen.

Mit allen Urzeiten hat die des Christentums das gemein, daß sie zum großen Teil im Verborgenen liegt. Während vom 4. Jahrhundert an uns

A2 Adolf Jülicher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

Urkunden und literarische Produkte in großer Zahl, auch recht wertlose, erhalten sind, sickern die Quellen für die ersten 300 Jahre meist spärlich; je weiter wir zurück schreiten, um so schmerzlicher mehren sich die Lücken unseres Wissens. Wir müssen zufrieden sein, daß es noch mög- lich ist, in großen Zügen den Gang der Entwicklung nachzuzeichnen, zuerst die großen, schöpferischen Persönlichkeiten zu erkennen, später die Ver- hältnisse und Kräfte aufzufassen, die das Erbe der Unsterblichen zur Ver- teilung und Aneignung inmitten einer bescheideneren Menschheit gelangen ließen.

A. Jesus ( ca. 30). Außerbiblische I. Die Qucllcn für die Geschichte Jesu. Trostlos trübe erscheint

Quellen. . .

auf den ersten Blick die Aussicht, der Wahrheit über Jesu Person, Wollen und Wirken nahe zu kommen. Er selber hat keine Zeile hinterlassen, noch weniger den Auftrag an andre, für unverfälschte Wahrung seines Andenkens zu sorgen. Der Geschichtschreiber des Judentums jener Zeit, Josephus, läßt ihn unerwähnt denn die schon von Euseb zitierten Para- graphen mit dem Christuszeugnis Archäologie XVIII 3, 63 f. verraten sich auf den ersten Blick als christliche Interpolation , und noch weniger nehmen griechische oder römische Historiographen Notiz von dem jüdischen Schwärmer, der bei Lebzeiten außerhalb seiner Heimat nicht einmal dem Namen nach bekannt geworden sein mochte. Das Wissen der späteren jüdischen Gelehrten, der Talmudisten, ist aus den Evange- lien erborgt, nicht minder die Schandgeschichte, die der Christenfeind Celsus um 176 mit Vergnügen einem Juden nacherzählt, Jesus sei im ehe- brecherischen Verkehr der Braut eines jüdischen Zimmermanns mit einem römischen Soldaten Pantheras erzeugt worden. Legenden hat auch die spätere Kirche noch in reicher Fülle produziert, namentlich um die Kind- heit und die letzten Tage des Gottessohnes mit wundersamen Farben ihres Geschmacks zu zieren; allein ein Korn echter Überlieferung steckt darin nicht. Und wenn sich unter den Jesusworten, die, ohne im Neuen Testa- mente zu stehen, gelegentlich von alten Autoren zitiert werden („Agrapha"), auch einiges Glaubwürdige findet, so werden sie doch eher die vom Kri- tiker schon mitgebrachten Eindrücke verstärken, als sie irgendwo umzu- bilden vermögen. Die vier Kvan- Demnach haben wir nur die vier in das Neue Testament aufgenom-

gelien. ^

menen sog. „Evangelien" als Quellen für eine Erkenntnis der geschicht- lichen Bedeutung Jesu: bloß ein paar Berichte von Parteigenossen über einen Mann, der doch gerade so viel grimmigen Haß wie vielleicht blinde Liebe entzündet hat!

Nun stammen zwar jene vier Evangelien sicher aus dem ersten Jahr- hundert nach Jesu Tod, und zwei unter ihnen tragen gar den Namen von vertrauten Jüngern Jesu, Matthäus und Johannes, Aber das Johannesevan- g^lium, das jüngste unter den vieren, scheidet mit dem ihm eigentümlichen

A. Jesus ( ca. 30). I. Die Quellen für die Geschichte Jesu. a-)

Inhalt als Goschichtsquelle von vornherein aus: es will (s. S. 94 ff-) nicht so- wohl Vergangenes erzählen als Ewiges deuten, geschichtliche Tatsachen als Symbole und AUegorieen für die eine Wahrheit, die Fleischwerdung Gottes in Christus, ohne die es kein Heil gibt, verstehen lehren; im Vollgefühl der Souveränität des Geistes über den Buchstaben schaltet der unbekannte Ver- fasser unglaublich kühn mit der älteren, über große Strecken hin ohne wei- teres durch eigene Schöpfungen ersetzten Tradition. Und das Evangelium nach Matth. kann, schon weil es unter Benutzung griechischer Vorlagen griechisch geschrieben ist, nicht von dem Palästinenser Matthäus herrühren, dem der „apostolische Vater" Papias (f ca. 165) ja nur ein aramäisch ver- faßtes Evangelium zuweist. Was Lukas von sich ausdrücklich zugesteht, daß er die evangelische Geschichte nicht als Augenzeuge darstelle, das haben wir ebenso auch von Matthäus und Marcus anzunehmen; alle drei, die man wegen der Ähnlichkeit der Komposition unter dem Namen „Syn- optiker" zusammenfaßt, haben schon mit schriftlichem Material gearbeitet; was sie uns bieten, ist das Wissen der zweiten und dritten Generation nach Jesus. Keins dieser Werke ist vor der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 vollendet worden; Paulus hat um 60 noch kein solches Evangelium gekannt.

Mögen nun die Gewährsmänner dieser drei oder des Ältesten von Geschichtswert

der Synoptiker.

ihnen, des „Marcus", von dem die beiden anderen wieder stark abhängig sind, die zuverlässigsten gewesen sein, in letzter Linie vielleicht Petrus und Matthäus durch seine Sammlung der Worte Jesu („Logia"): die unmittel- baren Berichte können sie uns doch nie ersetzen. Wie vieles in der Er- innerung schon unsicher geworden war, zeigen die Widersprüche zwischen diesen „Synoptikern" bei ganz gleichgültigen Dingen wie Namen oder An- gaben über Ort, Zeit, Veranlassung einer Rede. Hinzu kommt trübend das religiöse Interesse als einziges Motiv ihrer Schriftstellerei, das doch so völlig verschieden von dem des unbefangenen Historikers ist ! Die Evan- gelien sind ja keine Geschichtsbücher, sondern Lehr- und Werbeschriften. Berücksichtigung des historischen Zusammenhanges bei ihnen vorauszu- setzen wäre unbillig, noch unbilliger freilich, von ihnen ein objektiv ge- schichtliches Verständnis der Religion Jesu zu verlangen. Ihnen liegt daran, das Übernatürliche, das Unvergleichliche und Unbegreifliche an ihrem Stoff kräftig herauszuheben: nicht das in unserm Sinne Bestbeglau- bigte hat für sie den höchsten Wert, sondern was am geeignetsten scheint, Zweifel an Jesu Göttlichkeit zu unterdrücken, das Vertrauen zu ihm und seiner Sache zu stärken, wie die Geschichte von seiner Verklärung, seinem geöffneten Grab, seinen Totenauferweckungen.

Daß man an den Texten dieser drei Evangelien, trotzdem sie bald Kanonisiert wurden, nachträglich noch vielerlei herumkorrigiert, gestrichen, eingeschoben hat, und zwar mit durchschlagendem Erfolg, beeinträchtigt aufs neue ihren Wert als Quellen; das Sondergut der einzelnen Evan- gelisten, wie der Missions- und Taufbefehl bei Matth. 28, 18 ff., die volks- tümlich poetische Geschichte seiner Geburt und Kindheit Luk. i. 2 und

AA Adolf Jülicher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

die ganz andersartige gelehrte bei Matthäus, ist ohnehin am meisten ten- denziöser Einfügung verdächtig. Indessen sicher haben auch in ihrer Ur- gestalt schon die drei Evangelien viel Legendenhaftes enthalten. Zwar ihre bona fides steht außer Zweifel; aber mußte nicht der Heiland der Welt seine Heilkraft gegenüber aller irdischen Not und Schwachheit erwiesen haben, wie an den Krankheiten des Leibes und der Seele, so an Armut, Hunger, Desperation: und wenn die Dämonen vor ihm flüchteten, durften dann die Elemente, Wind und Wellen, ihm ungehorsam gewesen sein? Am tiefsten erregten das Gemüt die Vorgänge bei Jesu Leiden und Tod; immer neue Kreuzesworte tauchen auf; die Überzeugung von seiner Unschuld muß schon hier Herodes, dort Pilatus und sein Weib gehabt haben: die ganze Welt entsetzt sich über den Greuel seiner Ermordung. Wer die Entwicklung der Taufgeschichte bei den Synoptikern verfolgt, wer beobachtet, welche breit ausgemalte Darstellung von Jesu Versuchungen in der W^üste Matthäus und Lukas bieten, wo Marcus sich noch mit dem schlichten „er wurde vom Satan versucht" begnügt, der begreift, daß hier in kürzester Zeit aus beschei- denen Keimen, ja aus einer dunklen Vorstellung heraus kräftig substan- ziierte Geschichten erwachsen. Alttestamentliche Vorbilder haben dabei mitgeholfen, zumal wirkliche oder vermeintliche messianische Weissagungen, deren Erfüllung der Glaube doch in einem „Evangelium" um jeden Preis aufgezeigt haben wollte, nicht immer so unglücklich wie Marc. 4, 1 1 f . bei der Bestimmung von Jesu Parabelreden nach Jesaj. 6, als hätte er es dabei abgesehen auf die Verstockung der Hörer. Die vielfachen Hinweise Jesu auf seinen nahen Tod verraten sich schon durch ihre Monotonie als Kom- position eines Späteren; das Motiv: Jesus muß seinen Tod ebenso voraus- gesagt wie gewußt und gewollt haben. Und nicht bloß über das Daß, auch über das Warum seines Sterbens muß er im klaren gewesen sein: „als Lösegeld zur Vergebung unsrer Sünden", belehrt er seine Getreuen, Anderswo fordern praktische Bedürfnisse der ältesten Gemeinde ihr Recht; z. B. kann der Meister doch nicht seinen Nachfolgern überlassen haben, über Fortbestand oder Aufhebung des Mosegesetzes zu verfügen: so legt man ihm Matth. 5, 17 ig eine programmatische Entscheidung darüber in den Mund. Die Geheimnisse der Zukunft dürfen ihm nicht verschlossen geblieben sein: daher die Ankündigung der dem Weltende vorhergehenden „Wehen" durch Jesus unentbehrlich. Mit einer Abschiedsrede muß er seine öffentliche Wirksamkeit geschlossen haben: so wird eine herrenlos um- laufende jüdische Apokalypse kurzerhand als solche zurechtgestutzt, wobei dann die christlichen Zutaten die Unechtheit fast noch herausfordernder zeigen als der jüdische Urtext. Daß Jesu einzelne Worte älterer jüdischer Lehrer, in denen man einen Hauch seines Geistes verspürte, zugeschrieben worden sind, z. B. das vom Sabbat, der um des Menschen willen da ist, kann a priori auch nicht bestritten werden. Und endlich finden wir zumal den Matthäus und Lukas schon ernstlich bemüht, durch exegetische Glossen, die sich als Jesusworte geben, ihre Auffassung vom Sinn einer bestimmten

A. Jesus (- ca. 30). I. Die Quellen für die fieschichtc Jesu. ac

Stolle durchzuset/en: daher Matth. 12, 40 die mißglückte Deutuncf des Jonazeichens, Matth. 13, 37 if. die pedantische Ausdeutung des Unkraut- gleichnisses, Luk. 16, 10 12 die Lobrede auf die Treue anläßlich der Pa- rabel vom untreuen Haushalter, Matth. 16, 19 neben 18, 18 die Bevor- zugung des Petrus vor den übrigen Jüngern.

Trotz all dieser Mängel bleiben die drei Evangelien eine wertvolle Quelle nicht etwa bloß für die Geschichte der Gemeinde, die ihr Christus- ideal darin niedergelegt hat, sondern und zwar in höherem Grade für die Geschichte Jesu. Meist hebt sich das Fremde von dem Ursprünglichen so deutlich ab, der Diamant von dem geschliffenen Glas, daß das Ver- trauen zu diesem Echten, das neben allem glitzernden Schein seine einzig- artige Leuchtkraft behauptet, wahrlich kein leichtfertiges ist. Den Jesus des Johannes könnte man für den Helden einer religiösen Dichtung halten, in den synoptischen Evangelien ringen die Schriftsteller zu stark mit einem von ihnen oft nicht verstandenen, oft geradezu widerstrebenden Stoff; der wirkliche Jesus, den sie empfangen haben, steht so erhaben über dem, dessen Bild sie dann mit Zutaten aus dem Alten Testament oder baby- lonischer Mythologie, aus jüdischer Literatur und Volksweisheit oder ur- christlicher Theologie und Dichtkunst herrichten, daß der Gedanke, hier lägen bloß verschiedene Schichten einer und derselben Mythen oder Ideen personifizierenden Tätigkeit vor, mehr als geschmacklos ist. Die Zeit, wo man in der Wissenschaft fragen durfte, ob es einen „geschicht- lichen" Jesus gegeben hat, ist vorüber. Für jeden der Synoptiker ist eine starke Gebundenheit durch einen verhältnismäßig fest überlieferten Stoif unleugbar: wo bleibt da die Zeit für die Erfindung dieses Stoffes, der längst, ehe Marcus zur Feder griff, also als noch Zeitgenossen des angeb- lichen Jesus genug am Leben waren, fertig gewesen ist? Und der Jesus, der den Kern der Evangelien bildet, müßte als Phantasieprodukt noch viel wunderbarer wie als wirkliche Persönlichkeit erscheinen, weil er alles andre eher ist als ein Typus. Die jüdische Phantasie, die unsem Jesus geboren haben soll mit dieser P'üUe von unerfindbar Individuellem, sie wäre das größte Rätsel, das uns die Geschichte Israels aufgäbe, vielmehr, das wir aus purem Eigensinn uns selber aufgeben. Und wiederum, welche Tragödie, daß dies Kunstwerk eines unbekannten Genius, diese Jesusfigur, sofort nach seiner Entstehung wieder in Trümmer geschlagen worden wäre! Denn wenden die Evangelisten nicht eben ihre beste Kraft daran, um einige kostbare Stücke dieses Schatzes, in einen brauchbaren Rahmen gefaßt, für die Nachwelt zu retten? Nein, der Zauber frischen Lebens, der das Bild Jesu noch in den ungeschickten Holzschnitten der Synoptiker umwebt, spottet jeder Hypothese, die ihn zu einem bloßen Produkt reli- gionsgeschichtlicher Faktoren oder gar zum Helden eines pseudogeschicht- lichen Romans degradieren will. Der Eindruck der einzigartigen Persön- lichkeit ist doch gewaltiger als der zahlreicher Schwierigkeiten, den uns die Geschichte der Tradition von ihm zurückläßt. Nicht eine Idee, nicht

a() Adolf Jülicher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

ein Traum, sondern ein Mensch mit geheimnisvoller Größe steht hier wie überall an dem Wendepunkt der Geschichte,

Zwar wissen wir nicht viel von diesem Jesus, nicht genug, um eine Biographie von ihm entwerfen zu können, aber genug, um ihn zu wür- digen. Glücklicherweise reicht das, was wir von ihm haben, eine Reihe kurzer pointierter Kernsprüche, daneben Musterstücke echter Volksrede unter ihnen ragen durch gute Überlieferung und an Zahl die Parabeln hervor weiter als was uns über ihn berichtet wird. Die schöne Kom- position der Bergpredigt Matth. 5 f. wollen wir dem Evangelisten gut- schreiben; als Meister des Stils werden wir den Aramäer Jesus bloß nach griechischen Übersetzungen seiner Reden ja doch nicht voll erfassen. Um so günstiger aber steht es um den Gehalt der Gedanken. Obgleich wir auf die Angaben über den Anlaß zu diesem oder jenem Worte kaum bauen können, bleibt nur Weniges von dem, was gewissenhafte Kritik als Reste seiner Reden übrig behält, dunkel; eine Geheimsprache hat bei ihm auch der beste Wille der Späteren nicht zustande gebracht. So ist es kein vergebliches Beginnen, die Grundzüge seiner geistigen Eigenart und seiner religiösen Bestrebungen zu entwerfen; bei seinem Lebensgang müssen wir uns mit matteren Umrissen begnügen.

Jesu Vor- II. Der äußere Verlauf des Lebens Jesu. Jesus stammte aus

Nazaret, einer galiläischen Landstadt; wenn Matthäus und Lukas seine Geburt nach Bethlehem verlegen, geschieht das, um die Verheißung Micha 5, I , daß aus Bethlehem der Messias kommen werde, buchstäblich zu bewahrheiten. Wenige Jahre vor dem Beginn unsrer Ära wird er geboren sein, da doch ums Jahr 30 seine Laufbahn vollendet war und er nach jüdischem Herkommen zu öffentlichem Auftreten des Mindest- alters von 30 Jahren bedurfte. Weder er noch seine Mutter, noch seine nazarenischen Landsleute wissen etwas von übernatürlicher Geburt, ge- schweige von einer Präexistenz im Himmel; für einen Davididen hat er sich auch nicht gehalten. Er wird das Gewerbe seines Vaters Joseph, das eines Zimmermanns, ergriffen haben, moderne Leute sagen lieber: eines Baumeisters, bei andrem Geschmack: eines Ackermanns. Der Vater starb anscheinend früh; nur die Mutter, Maria, und vier Brüder begegnen uns in den Quellen, höchst bekümmert über das von ihnen als Wahnsinn ge- deutete Gebaren Jesu. In einem echtjüdischen Hause ist er groß g^e- worden: die alte Legende von seiner Erzeugung durch den heiligen Geist hatte viel mehr Sinn als die neueste Rede von dem Jesus indo- europäischer Rasse. Höhere Bildung hat er nicht genossen, schwerlich die griechische Sprache verstanden. Mit den heiligen Schriften seines Volks, Psalmen und Propheten zumal, ist er ziemlich vertraut, wird also wohl auch des Hebräischen, das längst nicht mehr die Umgangssprache der Juden war, einigermaßcMi mächtig gewesen sein; solche Kenntnis konnte er sich aber ohne Schulunterricht aneigiien. Tieffrommen Sinn hat

A. Jesus (—ca. 30). II. Der äußere Verlauf des Lebens Jesu. aj

er aus dem Elternhaus mitgebracht; er ist aufgewachsen in der Atmo- .sphäre gesunder, gut alttestamenthcher, nicht durch den Pharisäismus ver- knöcherter Gesetzestreue. Essenische oder gar hellenistische Einflüsse sind bei ihm schlechterdings nicht zu spüren, auch nichts von Beschäfti- gung mit der pseudepigraphen Literatur apokalyptischer Schwärmer. In der Stille ist er herangereift, ohne auffallige Erschütterungen; nicht ein- mal in der Eamilie haben sie ja seine Größe geahnt.

Er war ein Mann von etwa 30 Jahren, als in Judäa Johannes (der Jesus und jo- Täufer) aufstand, um sein Volk aus behaglicher Ruhe gründlich aufzu- rütteln. „Nahe ist das Himmelreich", lautete sein Ruf; das hieß: die von Euch so lange und heiß ersehnte Umwälzung auf Erden steht bevor, die bisherigen Weltherrscher werden gestürzt werden, und Gottes auserwähltes Volk erhält die Führerrolle, Doch war in dem Munde des düsteren As- keten diese Botschaft weniger Evangelium als Strafdrohung: wehe allen, die beim Eintritt des Himmelreichs nicht rein sind, ob Juden oder Heiden, über sie kommt dann nur unheilbares Verderben; darum Buße tun, so- lange es noch Zeit ist! Sein Wort schlug wuchtig ein; Tausende pilgerten zum Jordan, bekannten ihre Sünden und nahmen vor des Johannes Augen die Taufe, wie wenn sie Heiden wären, die durch solch einen Lustrations- akt den Zutritt zu Israel erst nachsuchten. Auch Jesus ist zu Johannes gewandert und hat sich taufen lassen, gewiß nicht bloß, um eine fromme Übung mitzumachen, sondern um nichts zu versäumen, was ihm bei dem ersehnten Anbruch des Himmelreichs dessen Seg^nungen sichern konnte. Nach den Evangelien beginnt mit diesem Taufakte die neue Periode in Jesu Leben: er empfängt den heiligen Geist, bewahrt ihn sich auch in 4otägigem Ringen mit dem Satan. In der Tat scheint jene Wallfahrt gen Süden für das Bewußtsein Jesu epochemachend geworden zu sein, nicht zufällig bezieht er sich so oft und warm auf den großen Johannes; auch wäre es psychologisch leicht verständlich, daß er, nachdem er bei der Taufe einen großen Entschluß gefaßt, nachher mehrere Wochen hindurch in der Einsamkeit erst allerhand Bedenken hat niederkämpfen müssen. Keinenfalls aber hat Johannes irgendwie mit Bewußtsein eine Art von Ordination an ihm vorgenommen oder auch nur von dem, was in Jesus vorging, etwas bemerkt.

Alsbald nach der Heimkehr widmet sich Jesus dem neuen Beruf Jesu öffentliches eines Propheten; daß gleichzeitig Johannes vom Schauplatz abgetreten ist, könnte auf Zufall beruhen; vielleicht hat aber auch für Jesu Gewissen die Kunde, wie dem Johannes rohe Gewalt den Mund für immer ge- schlossen, das letzte Schwanken bezüglich seiner eignen Aufgabe behoben.

Nazaret lag ungünstig für eine in die Weite trachtende Wirksam- keit; nach Kapemaum, der blühenden Stadt am See Genezaret, zieht Jesus, um da seine Stimme erschallen zu lassen und von dort aus die Erweckung des ganzen Volkes anzugreifen. Freilich reicht für das Werk, das ihm vorschwebt, die Kraft eines Einzigen nicht aus; so sammelt er

/lg Adolf Jüucher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

einen Kreis von Arbeitsgenossen, gewiß absichtlich gerade 12, entsprechend der Zahl der Stämme Israels, meist galiläische Fischer, kleine Leute wie er, dadurch geeignet, das Vertrauen der andern Kleinen zu gewinnen. Die Berufung von Petrus und Andreas, Johannes und Jakobus, die in den Evangelien an der Spitze der Berichte aus Jesu Berufstätigkeit steht, war natürlich nicht der Anfang seines Wirkens, denn einem gänzlich Unbekannten wären die Brüderpaare nicht aufs Wort gefolgt; aber es ist das eine erfreuliche Bestätigung für die Herkunft unsrer synoptischen Überlieferung aus dem Kreise seiner Jünger: nur was die Jünger mit- erlebt haben, haben sie weitererzählt. Sie bilden alsbald die dauernde Geleitschaft Jesu; er widmet sich eifrig ihrer Erziehung, doch nicht zu einer ecclesiola von Extrafrommen, auch nicht zu einer theologischen Musterschule, sondern zu Mitarbeitern am Volke, wie er sie denn auch einmal probeweise mit klaren Instruktionen, sonst aber selbständig, zum Predigen hat ausziehen lassen. Das Objekt der Arbeit ist das ganze Israel, keiner ausgeschlossen, am wenigsten „Zöllner und Sünder" oder das „Volk des Landes", die von den Extrafrommen im Judentum her- kömmlich vernachlässigten Massen. Wo irgend sich Gelegenheit bietet, ergreift Jesus das Wort, in der sabbatlichen Versammlung und an jedem Werktag, sobald Aufmerksame sich bei ihm einfinden, auf dem Berg, am Seeufer oder im gastlichen Haus. Seine Reden machen tiefen Eindruck, man vergleicht sie mit den gewohnten Vorträgen der Schriftgelehrten und findet ihn gewaltig: ganz unerhört diese Verbindung von herz- andringender Wärme und überzeugender Kraft. Bald erzählte man sich auch merkwürdige Fälle von Heilungen, die ein Gebetswort von ihm, ja sein bloßes Erscheinen herbeigeführt hatte, vor allem bei psychisch Kranken; und je mehr man ihm zutraute, desto mehr setzte er durch. So wuchs sein Ruhm, und er konnte sich in Galiläa oft kaum noch des Andrangs der enthusiasmierten Menge, darunter viele Frauen, erwehren und mußte, um sich in der Stille zu sammeln, über den galiläischen See hin flüchten oder sonst weit hinauf nach Norden, Nordwesten und Osten. Da- bei hat er wiederholt heidnisches Gebiet betreten und auch hier, wenn er gebeten wurde, der Not abgeholfen; davon aber, daß er seinen Arbeits- plan über Galiläa hinaus erweitert hätte, nehmen wir nichts wahr. Der Konflikt mit Jcsus ist nicht als Herold einer neuen Religion aufgetreten, er wollte

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bloß mit der alten Ernst gemacht wissen, damit auch Gott mit seinen Gnadengütern Ernst machen könne. Und doch kam er mit den bisherigen Hütern der Religion rasch in schweren Konflikt. Die Eifersucht der Be- rufstheologen wurde durch seine Erfolge entzündet; indirekt war seine gesamte Tätigkeit ja eine Anklage gegen den Pharisäismus auf grobe IMliclitversäumnis. Sogleich die ersten Debatten ergaben die Unmöglich- keit einer \'ereinigung, etwa durch Übergang des einen ins andre Lager; jede Begegnung verstärkte bei beiden Teilen den Eindruck: die haben einen andern Geist als wir. Und da Jesus nicht der Mann war, aus Vor-

A. Jesus ( ca. 30). IT. Der äußere Verlauf des Lebens Jesu. ^g

sieht mit seiner Kritik zurückzuhalten, sondern um der Wahrheit willen die Krebsschäden der herrschenden Pseudofrömmigkeit schonungslos offen- legte, ihren Dünkel, ihre Verblendung, ihre Armseligkeit und nicht zuletzt ihre Schuld an der sittlich-religiösen Verwahrlosung des Volks, so traf ihn der grimmige Haß der maßgebenden Pharisäerpartei, deren Elite die Schriftgelehrten bildeten. Mit allen Mitteln der Autorität und der Macht hetzten sie die öffentliche Meinung wider den gefährlichen De- magogen auf, der seine nicht wegzuleugnenden Wunderkräfte dem wSatan verdanke; mit dem Reiz der Neuheit nahm ohnehin bei den Gedanken- losen und Halben, die auch damals in der Mehrheit waren, die Anziehungs- kraft seines Wortes ab: betrübt erlebten seine Freunde, daß, wo er nicht Glauben fand, ihm gar keine Wunder gelangen. Sein Mut aber wird nicht erschüttert, einzelne bittere Worte wie das über Kapemaum, Cho- razin und Bethsaida Matth. 11, 21 ff. sind ein Erguß vorübergehender Stim- mungen: sein Glaube bleibt des Gesetzes eingedenk, daß immer unter vielen Geladenen nur wenige Auserwählte sind; diese wenigen sich zu gewinnen, steigert er mit dem Widerstände die Energie seiner Arbeit. Ja, er entschließt sich nach einer Weile, den Feind in dessen eignem Lager zur Schlacht herauszufordern. Er wallfahrtet mit seinen Getreuen zum Passafest nach Jerusalem, weniger weil er als frommer Israelit gemeint hätte, dies höchste Fest an der heiligsten Stätte auf Erden, vor den Toren des Tempels feiern zu müssen, sondern weil Jerusalem der Sammelpunkt seiner Gegner, die Hochburg aller an der Erhaltung des religiösen Maras- mus in Israel interessierten Mächte war: wer sie erstürmte, hatte das Volk in seiner Hand; das Schicksal Israels schien nur in Jerusalem entschieden werden zu können. Um eine Schlacht zu schlagen, zog er also hinauf, nicht um sich kreuzigen zu lassen; eher mit dem stillen Gedanken, daß, wenn der unfruchtbare Feigenbaum dort von Gott mit Verdorrung ge- schlagen sein würde, er zur Stelle sein wolle, um auf dem Zion die Führung im wahren Gottesstaat zu übernehmen. Wie lange Jesus vor diesem Zuge öffentlich gewirkt hatte, wissen wir nicht, ein Jahr nach der wahrschein- lichsten Vermutung. Denn einen Frühling hat er in Galiläa erlebt, und mehr als ein Besuch in Jerusalem ist für ihn nicht zu erweisen, eben .der, der ihm den Tod gebracht hat. Ganz genaue chronologische Daten lassen sich überhaupt nicht geben; wnr kennen den jüdischen Kalender jener Zeit zu wenig, um das Jahr seiner Hinrichtung etwa aus der unbestrittenen Tatsache errechnen zu können, daß er an einem Freitag gestorben ist. So- lange nicht außer dem Wochentag der Monatstag zweifellos feststeht, würde uns nicht einmal der jüdische Kalender viel helfen. Aber Frühling 30 für seine Kreuzigung, Frühling 2g für sein erstes Auftreten sind Daten, die von der Wahrheit nicht weit ab liegen können.

Als Jesus in der Hauptstadt eintraf, wohl schon zu Anfang des Passa- , nie monats und früher als die großen Festpilgerzüge, bemerkte ihn ein Haufe fum 30). galiläischer Landsleute und bereitete ihm eine stürmische Huldigung. Sie

Dia Kultur dkr Gegenwart. I. 4. 4

CO Adolf Jülicher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

begrüßten ihn als den König der Zukunft, und wie ein König trat er denn auch im Tempel auf, jagte die Händler von der heiligen Stätte fort und zwang Jerusalem, klare Stellung zu ihm einzunehmen. Natürlich erweckte bei der sadducäischen Priesteraristokratie sein kecker Eingriff in ihre Rechte ungemeine Empörung; die pharisäische Opposition brauchte nicht erst noch von Jesus durch scharfe Strafreden provoziert zu werden: die sonst feindlichen Parteien verbündeten sich, alles an die Beseitigung dieses frechen Revolutionärs zu setzen. Gewalt mußte man anwenden; andrer- seits empfahl sich heimliches Vorgehen nicht minder als schleuniges, damit die Jesu günstig gesinnten Massen der Auswärtigen sich gleich vor eine vollendete Tatsache gestellt sähen. Nach der Überlieferung hätte sich einer von den zwölf Jüngern dazu hergegeben, den Feinden Jesu seinen Aufenthaltsort bei Nacht zu verraten. Das klingt wie spätere Dich- tung; jedenfalls aber ist Jesus in einer der Nächte der Passazeit von den Polizisten des Hohenpriesters überrascht, festgenommen, zur Vorunter- suchung geschleppt, vom obersten jüdischen Gerichtshof, dem Synedrium, im eiligsten Verfahren des Todes für schuldig befunden und sofort weiter an den römischen Prokurator Pilatus abgeliefert worden, der allein Todes- strafen vollstrecken lassen durfte. Da dieser keinen Anlaß hatte, das Synedrium durch Ablehnung seines Gesuchs zu verletzen, wurde Jesus noch am selben Tage gekreuzigt und ist nach mehreren Stunden schwerer Qual verschieden.

Daß darüber kein Aufruhr ausbrach, lag an der kopflosen Verzweif- lung der Jünger. Als Jesus g-efangen genommen war, ohne daß Gott ihn durch ein Wunder befreite, als vollends das Gerücht seine Verurteilung zum Tode meldete, gaben sie seine Sache verloren und stürmten davon, ein jeder für sich auf die Heimat zu. So fehlten dem Volke, das vielleicht gern für Jesus demonstriert hätte, die Führer: ihre Treue hat damals die Probe nicht bestanden. Die letzten Liebesdienste haben dem schmählich Hingemordeten wenige dankbare Frauen erwiesen; doch hat über der Stätte seines Grabes früh ein rätselhaftes Dunkel geschwebt, aus ver- schiedenen Gesichtspunkten für uns leicht zu erklären, da Jesu Verächter sein Grab um keinen Preis zur Kultusstätte werden lassen, seine Gläu- bigen dem Grabeshügel des Auferstandenen keine Andacht widmen durften.

Waren die Jünger vom Schauplatz verschwunden, so können wir eine gute Berichterstattung über die letzten Ereignisse im Leben Jesu gar nicht erwarten. Das einzige einigermaßen glaubhaft überlieferte Wort aus dem Munde des Sterbenden ist: mein Gott, mein Gott, warum hast du mich ver- lassen, — scheinbar ein Schrei verzweifelnder Anklage, in Wahrheit wohl ein den Umständen entsprechendes Gebetswort, denn Jesus wird den ganzen Psalm 2 2, der so anhebt, aber mit dem Bekenntnis festen Gottvertrauens schließt, zum Trost in seinen Schmerzen sich vorgehalten haben. So überraschend wie den Jüngern ist ihm sein Untergang nicht gekommen; die ganz unerfindbare Szene seines Kampfes in Gethsemane kurz vor der

A. Jesus (—ca. 30). II. Der äußere Verlauf des Lebens Jesu. c f

Gefangennahme zeigt ihn ja bereit, mit Gottes Hilfe das Schwerste zu er- tragen; und nicht minder zuverlässig ist der Bericht von dem Passamahl, das er noch mit seinen Jüngern gefeiert und bei dem er, wie man es zum Abschied tut, Brot und Wein als Sinnbilder eines unzerreißbaren Bandes zwischen ihnen und ihm herumgereicht, zuletzt auch noch ein Wiedersehen bei höherer Feier in Aussicht genommen hat. Er war zu klug, um nicht bald zu erkennen, wie die Entwicklung in Jerusalem seinen Erwartungen immer weniger entsprach, und zu fromm, um die Erfüllung seiner Hoffnungen Gott einfach zu bestimmter Frist vorzuschreiben. Daß er sich vor dem jüdischen Gerichtshof auf keine löbliche Untenverfung, vor dem heidnischen Landpfleger auf kein Bitten um Gnade einließ, entsprang nicht dem Eigen- sinn der Verzweiflung, sondern dem Verständnis für den neuen Weg, den er geführt wurde. Wenn er sich aber bei jenem Prozeß, bei seiner Exe- kution das Geringste vergeben hätte, wäre es doch dem rabiaten Christen- feinde Saulus, dem Pharisäer, zu Ohren gekommen: Jesu Kreuz hätte dann niemals das Panier seines Glaubens w^erden können. Also ist Jesus gestorben, verlassen und doch ungebeugt, seines Sieges so sicher wie beim Einzug in die heilige Stadt, vielmehr sicherer, weil Gott unschuldig Blut nicht ungesühnt lassen konnte: nur wäder Erwarten hinausgeschoben war der Tag der Weltumwandlung, abgesagt konnte er nicht werden.

Weniger bestimmt als über Jesu Haltung und Bewußtsein während jener Tage vermögen wir uns über die begleitenden Umstände auszusprechen. Einstimmig lassen ihn die Synoptiker in der Nacht nach der Passamahl- zeit, d.h. vom 14. zum 15. Nisan (erster Frühlingsmonat = März/ April), in die Gefangenschaft geraten; dann hätten die Synedristen an einem ihrer höchsten Feiertage das Prozeßverfahren gegen ihn durchgeführt. Ich würde den Pharisäern jener Zeit solch einen Verstoß gegen die Sabbatgebote zutrauen, wo die Verschleppung schon um einen Tag allen Erfolg aufs Spiel setzen mochte; wem das unglaublich dünkt, der mag einen spä- teren Tag in der Osterwoche für die Katastrophe annehmen: nur der johanneische Ansatz Jesu Tod vor dem Passaabend ist lediglich dogmatisch motiviert.

Aber wegen welches Verbrechens ist denn Jesus zum Tode verurteilt Der Rechts-

grund für Jesu

worden? Pilatus soll (Marc. 15, 26) durch die Aufschrift an seinem Kreuz Verurteilung. „Der Juden König" seine Schuld wohl zur Abschreckung dem Volke be- kannt gegeben haben. In der Tat konnte in seinen Augen Jesus nur da- durch todeswürdig werden, daß er ihm als ehrgeiziger und verblendeter Unruhestifter galt, der die politische Befreiung Israels von der römischen Herrschaft sich vorgenommen hatte. Allein für das Synedrium, das nach jüdischen Gesetzen richtete, war ein Unternehmen dieser Art kein todes- würdiges Verbrechen, Und wenn Jesus auf die Frage des Hohenpriesters sich „Christus, den Sohn des Hochgelobten" genannt hat, so war das viel- leicht Wahnsinn, doch nimmermehr Blasphemie. In einem formell korrekten Prozeßverfahren muß aber Jesus der Gotteslästerung schuldig befunden worden

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sein; da die Akten jenes Prozesses nie ein Christ eingesehen hat, dürfen wir vermuten, daß ihm ein Wort aus den letzten Tagen in Jerusalem, etwa wie Marc. 1 3, 2 , es werde vom Tempel kein Stein auf dem andern bleiben, den Tod gebracht hat. Indes der Wortlaut der offiziell wider ihn er- hobenen Anklage ist für uns ziemlich gleichgültig; die Richter waren ja bereits, ehe sie zusammentraten, entschlossen, ihn dem Henker auszuliefern ; und die nervöse Erregtheit, mit der sie ihren Entschluß ausführen, zeigt, wie hoch sie die Gefahr schätzten, die sein Weiterwirken, überhaupt schon sein Fortleben für ihr Volk, für die Religion bedeutete. Mit dem Hinweis allein auf ihre Rachbegierde wegen seiner schonungslosen Kritik an ihrer Heuchlerfrömmigkeit oder wegen seines anmaßenden Auftretens in ihrem Herrschaftsgebiet werden wir ihnen dabei noch weniger gerecht als mit dem auf politische Erwägungen. Die Pharisäer und Schriftgelehrten, die die Mehrheit im jerusalemischen Synedrium bildeten, waren nicht bloß Egoisten und Heuchler, sie haben nicht einfach aus Zweckmäßigkeitsgründen oder aus gekränkter Eitelkeit ein Todesurteil gesprochen. Sie haben geglaubt ihre Pflicht zu tun, wenn sie Jesus beseitigten; und wie immer sie seine vSchuld vor sich, vor ihren Volksgenossen, vor Pilatus formuliert haben mögen, der wahre Grund ist gewesen, daß er nach ihrer Überzeugung ein Verräter an der väterlichen Religion war und die beste Aussicht hatte, das ganze Volk irre zu machen. Sie mußten ihn töten, um dem Volke die Religion zu erhalten. Jesus urteilte über sie kaum anders als sie über ihn; nur daß er sie nicht mit Gewalt ausgerottet hätte, weil er den vollen Glauben an die Zukunft besaß, während sie mit Angst und Sorge dorthin schauten. Der Vorwurf: Volksverführer, Religionsfrevler flog hin- über und herüber.

Dieser unausgleichbare Gegensatz zwischen der Religiosität Jesu und der des Pharisäismus, wobei beide Teile von der Legitimität ihres Stand- punktes gleich fest überzeugt waren, ist der feste Punkt, an den wir uns halten müssen bei jedem Versuch, den geschichtlichen Jesus zu begreifen und ihn einzuordnen in die Geschichte der Religion zunächst der jüdi- schen, neben und außer der er keine gekannt hat. Das Wesen seiner Religion kann da nicht richtig bestimmt sein, wo nicht mit gleicher Klarheit das eine Ergebnis herausspringt, daß er an religiösen Gedanken zu viel des Neuen und zu Wichtiges gebracht hat, um den Nonnalfrommen seiner Zeit nicht als der gefährlichste Zerstörer zu erscheinen, wie das andre, daß er sich für den treuesten Sohn seines Volkes gehalten hat.

Jüdisches und III. Dic RcHgion Jesu. Ehedem hat man sich das Verständnis Jesu

in Jesus, dadurch verschlossen, daß man fast bloß das Außerjüdische an ihm beachtete, in ihm den Stifter der neuen Religion feierte, in die man gewandt alle Lehren der eigenen Konfession hineindefinierte; und als langsam der Platz für ein unbefangenes Verfahren frei wurde, hat man, halb in der alten Bahn bleibend, Jesus aus l'aulus erklärt, ja ihn geradezu zum Antijudaisten, zum

A. Jesus (—ca. 30). III. Die Religion Jesu. ei

Erlöser vom Joche des jüdischen Gesetzes, zum Propheten des Individualismus in der Religion gestempelt. In der Gegenwart ist die Reaktion gegen diese Einseitigkeit so weit über das Ziel hinaus geschossen, daß der beinahe noch schwerere Fehler in der Wissenschaft herrscht, Jesus auf das Niveau eines Durchschnittsjuden seiner Zeit herabzudrücken. Er heißt „der klassisch- jüdische Mann"; im besten Falle preist man ihn als Reformator, der die Losung ausgegeben habe: zurück von der Entartung des Pharisäismus zu den großen Propheten; die meisten erblicken in ihm einen besonders begabten Vertreter der apokalyptisch gestimmten Minorität im Spätjudentum, der Leute, die nur von der Hoffnung lebten, so wie der Pharisäer vom Gesetz. Hier liegt ausnahmsweise die Wahrheit zwischen beidem: Jesu Wurzeln strecken sich tief hinein in jüdischen Boden, er hat sich genährt mit allen Lebensmitteln, die die alttestamentliche Religion ihm bot; aber seine Wipfel ragen weit hinaus über das Höchste, was in jenem Walde je ge- wachsen war, in überjüdische Regionen: oder haben etwa bloß Phari- säer und Sadducäer den Fluch über den Fremdling ausgerufen und nicht auch unzählige von den Stillen im Volke, von den Freunden des Henoch- buchs und der Baruchapokalypse? Wenn er bloß Zukunft predigte, jüdisch wie sie, warum sind sie ihm denn nicht zugefallen?

Die Keimzelle seines Evangeliums ist allerdings die sichere EnvartungoasGouesreich. der Nähe des Gottesreichs. Ein jedem frommen Juden willkommener Ge- danke, auch wenn die Vorstellungen über dieses Reich äußerst schwankend waren. Ob dies Reich auf unsrer Erde, vielleicht bloß im gelobten Lande, aufgerichtet werden würde, so daß Rom sein Imperium an Jerusalem ab- zutreten hätte, oder ob es ein jenseitiges sein werde; ob Gott durch einen menschlichen Statthalter (Messias) oder durch himmlische Vertreter oder persönlich ein Geist unter Geistern das Regiment ausüben; ob dies Reich ein Definitivum oder wieder nur ein Vorläufiges darstellen, demgemäß ob Totenauferstehung und Weltgericht vor Beginn des Reichs eintreten oder später folgen würden über solche Grundfragen bestand ratloser Zwie- spalt. Die Phantasie der apokalyptischen Schriftsteller des Spätjuden- tums hatte da schönen Spielraum für ausschweifende Schilderungen alles Einzelnen, für Berechnung der Vorzeichen; ihr Ethos betätigte sich im Aufspüren der Gründe, warum Gott immer wieder mit der Verwirklichung zögere. Jesus begnügt sich mit dem kräftigen, immer erneuten Hinweis auf das Daß; die Neugierde enttäuscht er durch Betonung der Unbe- rechenbarkeit von Zeit und Stunde, verwendet diese aber zugleich zu ernster sittlicher Mahnung: darum heißt es wachsam, allezeit gerüstet sein. Die Bereitschaft wiederum besteht in nichts anderem als in Gerechtigkeit, Reinheit von Sünden und einem Schatz guter Werke; ohne solche ist der Eintritt in das Reich versperrt.

Bis hierher würde Johannes der Täufer von Jesus nicht abgewichen sein; die dringende Mahnung zur Buße, damit noch beizeiten die Sünden vergeben werden, als Korrelat zur Reichspredigt ist erst recht in seinem

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Sinn; auch in die Drohung würde er sich gefunden haben, daß die jetzigen Führer Israels, weil sie Gottes Forderungen schnöde mißachten, vielleicht das ganze gegenwärtige Geschlecht, demnächst die letzte Aussicht auf Zulassung verloren haben. Wo etwas von Jesu Vorstellungen über das Gottesreich zum Vorschein kommt, trägt es genuin jüdische Farbe. Matth. 19, 28 klingt, als ob bloß die zwölf Stämme Israels die Unter- tanen im neuen Reiche sein würden; dazu paßt, daß Jesus Marc. 7, 27 dem syrophönicischen Weibe ein Wort hinwirft, wonach er das Verhältnis von Heiden und Juden wie das von Hunden und Kindern zu taxieren scheint; und die Aussendungsrede Matth. 10, 5—7 und 2^, iff. beschränkt ausdrück- lich sein Interesse an der Reichspredigt auf das jüdische Volk.

Indessen unterscheidet sich das Reichsgottesideal Jesu von dem der Juden dadurch, daß er es auf den Boden der Gegenwart, in den Lauf der Geschichte transponiert. Zwar darf man sich dafür nicht auf Parabeln wie die vom Unkraut unter dem Weizen oder von dem Netz mit guten und faulen Fischen berufen wollen; der Schein entsteht da nur durch einen ungeschickten Ausdruck in der Einleitung: Jesus proklamiert nicht etwa für die Vollendungszeit ein Nebeneinander von Guten und Bösen, nein, bis das Himmelreich kommt, müssen wir uns in dies Nebeneinander schicken, statt mit übelangebrachtem Fanatismus auszurotten, was Gott noch wachsen lassen will. Das berühmte Wort Luk. 17, 20 f.: das Reich Gottes kommt nicht mit bloßem Warten, noch so, daß man sich zurufen läßt „hier" oder „dort", sondern siehe es ist in Eurer Mitte, hat ursprünglich gewiß nicht die Idee eines unsichtbaren, womöglich von Ewigkeit her exi- stierenden Gottesreichs an Stelle der volkstümlichen Vorstellung einsetzen sollen, sondern den Fragestellern in feiner Form zu Gemüte führen, daß sie das Reich schwerlich je sehen werden, nicht weil sie irrig darüber denken, sondern wegen ihres verkehrten Handelns. Das tiefsinnige Gleichnis von der langsam und ohne menschliches Zutun reifenden Saat (Marc. 4, 26 2 g) könnte die Dämpfung eschatologischer Überspanntheiten beabsichtigen: erst die Aussendung der Sichel wäre gleich dem Eintritt des Reichs. Aber die Gleichnisse vom Senfkorn und vom Sauerteig lassen die An- wendung auf eine jenseits des geschichtlichen und hinter dem jüngsten Gericht liegende Größe nicht mehr zu, und doch wollen sie das Wesen des Gottesreichs veranschaulichen. Wenn man sich (Matth. 11, 12) seit Johannes um das Himmelreich förmlich reißt, wenn Jesus (Matth. 12, 28) die Ver- treibung der Dämonen durch Gottes Geist als ein Zeichen dafür in An- spruch nimmt, daß „das Reich sonach zu Euch gelangt ist", so läßt er gewissermaßen das Reich schon in die Gegenwart hineinreichen und schiebt den Begriff einer Entwicklung, der das genaue Gegenteil von allen jüdischen ReichsvorstcUungen ist, auch in das Gottesreich hinein. Messiauisches Das volle Verständnis hängt hier ab von der Klarheit über die Ver-

Selbstbewußt- ,., tt i -i-» ii t->'ii 111

sein. bmdung, die Jesus zwischen seiner Person und dem Reiche hergestellt hat, d. h. über sein Selbstbewußtsein. Daß Gott ihm als einem Propheten des

A. Jesus (—ca. 30). III. Die Rfügion Jesu. ce

Reichs einen Ehrenplatz in diesem sichern würde, war ihm natürlich nie zweifelhaft; auch der Märtyrertod änderte daran nichts: wozu gab es eine Auferstehung von den Toten? Aber beides galt ebenso von Johannes, dem Größten unter den von Weibern Geborenen. Wollte Jesus nur eine neue Auflage von Johannes sein, ein dritter Elias nach diesem zweiten? Unbedingt nicht. Für ihn ist Johannes die letzte, zugleich größte Gestalt einer vergangenen Welt; sich selber rechnet er schon zu einer neuen, gegenüber deren Riesenhaftigkeit alle Größenmaße der ehemaligen ver- sagen. Jesus fühlt sich nicht mehr als einen Propheten, der die neue Welt ankündigt, sondern als einen, der sie bereits in vollen Zügen genießt, und nicht als einen unter vielen andern, sondern als den Ersten, Obersten unter allen, kurz als den Bringer des Gottesreichs. Er hat diesen An- spruch zwar nicht laut erhoben, sich überhaupt keine klingenden Titel bei- gelegt; aber nur bei dieser Annahme wird sein Berufsbewußtsein uns er- klärbar. Längst hatte die jüdische Theologie für den von Gott mit der Herstellung des neuen Reichs Betrauten den Namen Messias (Christus, Gesalbter) aufgebracht, vielleicht auch schon auf Grund von Daniel 7, 13 den Namen „Menschensohn". Die Evangelisten lassen Jesus denn auch häufig von sich selber in dritter Person als vom Menschensohne sprechen, andere. Jünger, Heilsbedürftige, böse Geister bekennen geradeheraus sein Messias- tum. Ein Mißverständnis ist bei den Menschensohnsprüchen gewiß unterge- laufen, insofern der Name z. B. in den Worten vom Menschensohn als Herrn des Sabbats und vom Recht des Menschensohns, Sünde zu vergeben, ursprüng- lich nicht Jesus, sondern den Menschen überhaupt bezeichnen sollte. Aber auch wenn wir die Selbstbezeichnung Jesu als Menschensohn aus der Ge- schichte streichen, und wenn wir seine seltsame Haltung gegenüber den Messiasanreden, die er bald mit Freude begrüßt, bald aufgeregt zurück- weist, schon im ältesten Evangelium als Verdachtsmoment wägen, wenn der spätere Ursprung einer Stelle wie Matth. 2^, 10: auch Führer sollt Ihr Euch nicht nennen lassen; Einer, der Messias, ist Euer F'ührer, auf der Hand liegt: fest steht doch, daß Jesus als Messias in Jerusalem ein- gezogen, als Messias von Pilatus gekreuzigt worden ist und bei Cäsarea Philippi von Petrus den Ruf: „Du bist der Messias" Marc. 8, 29 entgegen- genommen hat. Mit andern Worten: Jesus hat sich die im Himmel- reich — nächst Gott wichtigste Rolle zugeschrieben. Denn mögen auch die Messiasvorstellungen der Juden in Jesu Zeit das krauseste Gebilde gewesen sein: der Unterschied zwischen dem König im Reich und einem Propheten, der das Reich bloß ankündigt, war nie zu verwischen; der Prophet wird vielleicht nachträglich in das fertige Reich zum Lohne herein- geholt, herauf von den Toten, der Messias aber hat das Reich herzustellen.

Schwerlich jedoch hat Jesus gleich von Anfang an sich als Messias, oder sinnderOottes- als dazu bestimmt es später zu werden gefühlt; und auch nachdem er, wohl in der Überzeugung, einer göttlichen Offenbarung gegenüberzustehen, den Titel hingenommen hatte, ist er messianischen Huldigungen so weit als

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möglich aus dem Wege gegangen. In dem was die Leute Messias nannten, steckte zu viel ihm Unsympathisches, mit seinem Wesen Unvereinbares. Ein Kultus seiner Person war ihm verhaßt, die Herr-Herr-Sager ihm verdächtig ; sogar die Anrede „guter Lehrer" verbittet er sich, weil niemand gut sei außer Gott; und Matth. 2;^, 8 f. bestätigt, daß er obwohl der Evangelist das Wort anders deutet auch die Ehrentitel „Meister" und „Vater" unter den Menschen abgeschafft, Gotte ausschließlich vorbehalten haben will. Der Grundsatz, daß die Größe sich im Dienen offenbart (Matth. 2^, 11 u. 20, 28), erleidet in ihm nicht etwa eine Ausnahme; die Ehrenplätze an seiner Seite in der Herrlichkeit auszuteilen kommt nicht ihm zu, sondern dem Vater im Himmel, vor dem auch er wie seine Genossen im Gebete sich beugt: „Dein Reich komme" und „Vergib uns unsre Schuld". In die Rolle des Weltrichters Matth. 25, 31 ff. hat ihn erst, mit sehr leichter Umbiegung aller- dings, spätere Reflexion gebracht; selbst dort aber bleibt der Spender des Segens und der Souverän im Reiche „der Vater". Freilich „sein Vater", aber damit wechselt beliebig „Euer Vater" und „unser Vater": eine meta- physische Gottessohnschaft, ein einzigartiges Sohnesverhältnis zu Gott, das von keinem anderen erreicht werden konnte, hat Jesus sich nicht zu- geschrieben; das eine Wort Matth. 11,27. Luk. 10,22: niemand erkennet den Vater denn der Sohn usw., in dem ohnehin der rhythmische Klang auffällt, genügt nicht, um diese paulinische Idee als Bestandteil von Jesu Bewußtsein wahrscheinlich zu machen. Unter dem Glauben, der die Be- dingung der Sündenvergebung ist und Berge versetzen kann, hat Jesus trotz Luk. 12, 8 f. niemals den Glauben an sich, etwa an seine Messianität verstanden; das Objekt des Glaubens kann nicht verschieden sein von dem Adressaten des Gebets. Sollte Jesus verlangt, erlaubt haben, daß man zu ihm bete?

Nein, Gott gegenüber fühlt er sich mit allen übrigen Menschen eins: das Endschicksal hängt für keinen davon ab, wie er sich zum Namen Jesu gestellt, ob er den anerkannt oder verleugnet hat, sondern vom Tun des Willens Gottes (Matth. 7, 2 1 ff.), am erhabensten in dem Welt- gerichtsdrama Matth. 25, 31 46 durchgeführt. Selbst wenn im Kreise Jesu einmal das Wort von seinem Reich (Matth. 20, 21) gefallen sein sollte, wäre er dafür nicht verantwortlich. Er hat nicht sich verkündigt, nicht seine Autorität neben die Gottes gerückt, sondern den Vater hat er verkündigt und vom Vater sich abhängig gefühlt, allen ein Muster durch die Kraft des Glaubens an den gemeinsamen Vater, durch die Energie des Gebets zu ihm, durch die Sicherheit der Hoffnung auf seinen Schutz, seine Gnade, auch auf sein Erbarmen. Daß er bei wichtigen Entschei- dungen ein „Ich" ruhig, die Jünger mit einrechnend, in „Wir" übergehen läßt, z. B. Marc. 9, 39 f., ist kein Zufall: niemals würde er durch ein ähn- liches „Wir" sich mit dem Vater zusammenordnen. Das Gefühl der Und doch zwiugt ihn etwas auch immer wieder, sich von den übrigen

Kinzigartigkeit. "^ ..-.""

Menschen, selbst semen Jüngern, abzusondern. Em sozialistischer Ideolog,

A. Jesus ( ca. 30). III. Die Religion Jesu. cy

dem die Nebel der Theorie alle Höhenunterschiede verdecken, war er nicht; er stellt mit nüchternem Urteil fest, daß die „Pfunde" unter die Menschen ganz verschieden verteilt sind, und daß das gleiche Wort bald 30-, bald 60-, bald loofältig Frucht trägt. Noch im Himmelreiche be- stehen ihm diese Gradunterschiede; es gibt da einen „Kleinsten", also wohl auch einen Größten, und höhere Plätze wechseln mit niederen. Auch unter seinen Jüngern bevorzugte er einige vor der Mehrzahl, und wenn der Jünger nicht über seinen Meister hinauswachsen kann, so war wie ihnen vor allen ihren Schülern, so ihm vor den Zwölfen der Vorrang ge- sichert. Allein er geht weiter als nur dahin, sich etwa so dem Petrus überzuordnen wie Petrus dem Andreas übergeordnet sein mag; er ist so ehrlich, eine ihm allein eigentümliche Größe, etwas Unvergleichbares, das er fühlt, ganz offen zu bekennen. Ihnen allen gegenüber ist er allein der Gebende, sie bloß empfangend; was sie anderen reichen, nehmen sie von dem Seinigen. Er schöpft es aus den Tiefen des eigenen Herzens, daher behält er zeitlebens auch für die Intimsten etwas erhaben Fremdes; sie verstehen ihn nicht oder fürchten w^enigstens ihn nicht zu verstehen, und er empfindet schmerzlich etwas von Einsamkeit in ihrer Mitte, trotz all ihrer Liebe. Das macht ihn aber nicht etwa irre an seiner Sache, eher bestätigt es ihm ihre Göttlichkeit; denn (Matth. ig, ii) von einem großen Wort gilt immer: nicht alle erfassen es. Und um Beweismittel, wie andre sie sammeln, den Widerspruch oder das Mißverstehen zu be- kämpfen, bemüht er sich nicht; weder Vemunftgründe noch die bei den Juden sonst unentbehrlichen Schriftbeweise führt er auf; mit souve- räner Sicherheit stellt er seine Sätze hin, deren Inhalt ausreichend für sich selber spricht: „Ich aber sage Euch" ist die F'ormel, mit der er seine Auffassung der Gebote, ja seine Gesetze aller bisherigen Auslegung, dem Buchstaben des Alten Testaments selber gegenüber sanktioniert. Er mag nicht so viel von sich geredet haben, wie es nach den Evangelien scheint; aber im Herrscherton Folge mir nach, Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich, Wer nicht Vater und Mutter, Weib und Kinder, ja sein Leben hasset, kann mein Jünger nicht sein, ist meiner nicht wert, treffen sie das Richtige. In dem Worte: kommet her zu mir alle, die Ihr mühselig und beladen seid, ich will Euch erquicken (Matth. 11,28) hat ein Dichter den wundervollsten Ausdruck für das Gefühl Jesu von seinem Können gefunden.

Dieses Bewußtsein von seiner Majestät entfesselte in ihm nicht tyran- nische Gelüste, noch weniger reizte es ihn zur Eifersucht wider Gott; bei seiner tief sittlichen Anlage wurde es ein Kraftmotor höchsten Ranges: nur in Pflichten und Aufgaben offenbarte er den Übermenschen. Aber eben von hier fällt ein Licht auf seine anscheinend zwiespältige Stellung zur Gottesreichsfrage. Wenn das Reich vor der Tür stand, dann mußte ihm, dem Einzigartigen, die Führerstellung im Reich zugedacht sein; und hatte Gott für den Führer den Messiastitel zuvorersehen, so durfte er ihn nicht

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ablehnen. Jedoch seine Größe ist auf keinen Fall erst eine zukünftige; Güter, Genüsse, Erfolge mögen ihm in der Zukunft noch zuwachsen, die Hauptsache, den Geist, die Kraft, die Freiheit von der Welt besitzt er schon gegenwärtig. Schon gegenwärtig lauter Dinge, die vor ihm in ähnlichem Maß niemand, selbst ein Johannes nicht, besessen hatte: er hätte sich selbst belügen müssen, wenn er den großen Strich, der zwischen zwei Weltalter zu seiner Zeit gezogen werden mußte, vor sich gesehen hätte. Er sieht ihn hinter sich, er ist schon der Messias, soll sich nicht erst dazu ausbilden; und wenn Messias und Gottesreich nicht ohne einander bestehen können, ist auch das Reich schon da, zwar für alle diejenigen nicht sichtbar, die von seiner Erhabenheit nichts sehen, aber so ist der Sauerteig im Mehltrog auch verborgen und wirkt doch unfehlbar. Die Generation, zu der er gekommen ist, hat in ihm das Reich „mitten unter sich": statt halb apathisch halb aufgeregt auf das Herabkommen des Reichs zu lauem, statt hier- und dahin zu rennen, wo etwa ein Pseudomessias sich melden möchte, sollten sie nur sehen, was in ihm bereits da ist, den Reichsgeist erkennen, der in ihm walte, sich innerlich ihm nähern.

Jesus mag sich, ein Mann der Tat wie er war, der Inkonzinnität, die seinem Begriff vom Gottesreiche dadurch anhaftete, daß es halb zukünftig halb gegenwärtig war, nicht bewußt geworden sein: in seiner Person, die der Zukunft und der Gegenwart angehörte, versöhnten sich die Gegen- sätze. Ein apokalyptischer Schwärmer, der sich in Sehnsucht verzehrte, kann er schon aus diesem Grunde nicht gewesen sein, obwohl auch für ihn bei den jämmerlichen Zuständen in seinem Volk, bei dem Verharren der großen Mehrheit in Stumpfsinn, Hochmut und Roheit, genug zu hoffen, von Gottes allmächtigem Eingreifen zu erwarten übrig blieb. Für uns, die wir seine Eigentümlichkeit zu begreifen wünschen, ist aber wichtiger als solche Hoffnung, die Millionen mit ihm teilten, das Gefühl, das er allein vertrat, wonach der entscheidende Schritt schon getan war, die Weltum- wandlung schon begonnen hatte. Marc. 2, 19 verteidigt Jesus seine Jünger wegen ihres Nichtfastens damit, daß sich Fasten für die Gäste bei einem Hochzeitsmahle nicht zieme v. 20 ist Interpolation , also ist die Freudenzeit bereits angebrochen; noch deutlicher stellt er v. 2 1 f . die Religion der Seinigen der von Pharisäern und Johannesjüngem als das Neue dem x\lten gegenüber. Nun, darin liegt das lösende Wort: Jesus fühlt sich nicht, wieder bloß wie Johannes, gesandt, um Nahebevorstehendes anzukündigen, ihm ist der Beruf geworden, das Neue, nicht nur ein Neues, sondern das einzige Neue, das für das Interesse frommer Israeliten in Frage kam, die Ordnung der Weltverhältnisse lediglich nach Gottes Willen, herbeizuführen, und er lebt ganz in der Luft dieses Neuen: rätsel- haft zwar, daß um ihn her die Wegräumung des Alten so bescheidene Fortschritte macht, aber ihm nicht unerklärbar, für ihn keinenfalls ein Grund irre zu werden an seiner ganz einzigartigen Mission.

A. Jesus ( ca. 30). III. Die Religion Jesu. e.n

So eint sich in Jesus das Jüdische mit dem Überjüdischen. Vom Da» Neue im

Evangelium.

Gottesreich schwärmte jeder Israeht, der sich einen rehgiös-sitthchen Ideal- zustand am Ende der Welt ausmalte, und ein Vertreter Gottes, der Messias, mußte im Mittelpunkte des Reichs stehen. Jesus bedient sich beider Vor- stellungen, und nicht etwa aus diplomatischer Kondeszendenz, sondern naiv das von göttlicher Offenbarung Gewährlei.stete annehmend. In Wahrheit je- doch steckt hinter seiner Reich.spredigt und seinem Auftreten als Messias die Erbauung einer neuen Welt der Religion. In der Schöpferhand Jesu werden die alten Vorstellungen, von denen ein frommer Jude nicht lassen konnte, obwohl sie längst aufgehört hatten, sittlich fruchtbar zu wirken, mit völlig neuem Gehalt ausgefüllt. Die Verbindung ist wundervoll; das Neue erhält vom Alten einen würzigen Erdgeruch, seine konkrete Be- stimmtheit, aber das Alte wird nur durch den neuen Geist vom Unter- gang errettet, einer großen Zukunft zugeführt: denn gäbe es ohne Jesu Tat all das Große, was vor dem Auge des denkenden Historikers auf- blitzt bei den Worten: „Christus ist mein Leben" und „das Reich muß uns doch bleiben"? Wer Ernst macht, hat bei Jesus nur die Wahl zwischen dem Zugeständnis eines neuen Gei-stes voll neuer Gewalt, der natürlich auch die Zukunft für sich in Anspruch nahm, oder einer wahn- sinnigen Selbstüberhebung, die kein eschatologischer Enthusiasmus ent- schuldigt, einem verblendeten Verkennen seiner Zeit, das ein Zutrauen zu dem Urteil des so schwer Enttäuschten auch sonst nicht duldet.

Wenn wir mit Grund das Erste wählen, drängt sich aber sofort die Frage auf: worin besteht das Neue, das Jesus gebracht hat? War es nicht auch bloß eine Illusion, daß er neu nannte, was längst in der Welt, viel- leicht höchstens Wiederemeuerung von verlorenem Alten war? Unsre erste Antwort lautet: das Neue war er selber, seine Persönlichkeit. Wer sie nicht ergreift, kann auch sein Neues nicht ergreifen; Paulus hat die Sachlage verstanden, wenn er i. Kor. 11, i die Christen in Korinth auf- fordert, seine Nachahmer zu werden, wie er ein Nachahmer Christi ge- worden sei. So gebührt es sich für den echten Messias, das Ideal eines Gottesreichsmenschen zu sein, ein Mensch, in dem jeder Mißklang, die Folge von Sünde und Not, aufgelöst ist in eine großartige Harmonie, in ein Gleichgewicht von Seligkeit und Pflichterfüllung, von sittlichen Leistungen und religiösen Genüssen. Das Schicksal hat es dem Jesus der Geschichte versagt, die volle Harmonie zu erreichen: nicht bloß die Freude an unerschöpflicher Kraft, an teilweise wunderbaren Erfolgen, nicht bloß unerschütterliches Vertrauen auf Gott, nicht bloß kühner Wage- mut und rührende Liebe finden in den Überresten seiner Reden Aus- druck, sondern auch pessimistisch düstere, bittere, ja harte Worte sind uns aus seinem Munde erhalten; das Bild der Pharisäer hat er unbillig ins Schwarze gezeichnet, die Reichen beinahe wie lauter heillos verlorene Mammonsknechte behandelt, die weder ein Herz haben noch ein Ge- wissen — das sind Narben, die den Krieger bisweilen entstellen, aber nicht

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schänden. Der Gesamteindruck seiner Persönlichkeit ist doch überwältigend. Man sollte sich abgewöhnen, nach den einzelnen „Lehren" zu spähen, die er der reinen Religion der Propheten noch hinzugefügt oder die er in biblischer Reinheit wiederhergestellt habe; das Evangelium, das Neue Testament, ist weder durch Addition noch durch Subtraktion noch durch Verbindung von beidem aus dem Alten abgeleitet worden. Der ganze religiöse Gehalt des Alten Testaments hat sich in Jesu Seele hineinge- senkt und ist aus ihr hervorgekommen so eigenartig umgestimmt, daß er allen, die Jesus nicht verstehen, empörend verdorben, denen, die seines Geistes sind, zauberhaft verschönt erscheint. Jesus hat keine Flickarbeit am Judentume geleistet, er hat gleichsam aus einem unförmigen Haufen kostbaren Seidenstoffs, den er hinter Schloß und Riegel liegen fand, sich ein Kleid bereitet, das sich wundervoll dem Ebenmaß seiner Glieder anschmiegt. Aber nur wer Sinn für die Schönheit dieses Körpers hat, wird den Meister loben. Die eschatoiogi- Wenn wir im folgenden versuchen, mit einigen Strichen sein Werk

sehen Bestand- ,

teile des ZU charakterisieren, so muß an der Spitze der schärfste Protest gegen die

Evangeliums.

ärmliche Definition seines Evangeliums stehen, wonach es in nichts Weiterem als in Ankündigung des nahen Reichs und Ermahnung zu der für die Er- langung des Reichs erforderlichen Buße bestanden habe. Gewiß hat Jesu öffentliche Arbeit mit solcher Bußpredigt begonnen, auch noch die öffent- liche in Jerusalem; aber seine Bußpredigt ist alles andre als die eintönige Wiederholung eines: tut Buße, mit der gleich stereotypen Begründung: denn das Himmelreich ist nahe. Solch ein bloßer Bußruf hätte denen auch wenig genutzt, die den guten Willen sich zu bessern längst hatten, aber vergeblich Belehrung über das rechte Sollen, das Wie der Besserung er- sehnten. Und sodann hat Jesus die meisten seiner Reden, die solcher Sehnsucht entgegenkamen, so eingerichtet, daß sie nicht bloß für den Augenblick, sondern für jede Zeit zu wirken geeignet waren. Ob die Hörer des Glaubens lebten, das Reich Gottes w^erde in wenigen Monaten sich vom Himmel herabsenken, oder ob sie wußten, erst nach vielen Jahr- tausenden werde an ihnen, den aus langem Todesschlaf dazu Auferweckten, das Endgericht vollzogen werden, war eine unerhebliche Nebenfrage, zumal Jesus nicht unterließ, daran zu erinnern, daß ja noch heute Nacht Gott jedem von uns seine Seele abfordern könne, eine Wahrheit, die den Ernst des „Nur nicht zu spät" eindringlicher markierte als bestimmte Ankündigungen der Abrechnung für irgend einen, immer noch Aufschub gestattenden Termin. Was hat der Grundgedanke von Matth. 25, 31 ff.: was Ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, sehe ich an als mir getan, mit der Nähe des Reichs zu schaffen, was der von Matth. 25, 14 ff.: wer viel empfangen hat, von dem wird desto mehr gefordert werden, von jedem aber, daß er seine Gaben treu ausnutze? Auch wenn Jesus voraus- gesehen hätte, was er nicht voraussah, daß nach ihm eine christliche Kirche durch viele Jahrhunderte sich entwickeln werde, daß diese Rieht-

A. Jesus ( ^ca. 30). III. Die Rolijjion Jesu. 61

linien brauche, um vor den schwersten Abirrungen geschützt /ai sein, konnte er nichts Besseres bieten, als was er der Jüngergemeinde geboten hat, von deren Mehrheit er (Marc. 9, i) annahm, sie würden den Tod nicht schmecken, bis sie das Reich Gottes gesehen hätten, gekommen in Macht. Darin Hegt der beste Beweis dafür, wie wenig von eschatologischer Schwärmerei sein Denken beherrscht wurde. Die Grundsätze, die er proklamiert, sind nicht nur für außergewöhnliche Zeiten geeignet, sie reichen aus, die Menschheit in allen Zeitaltem aufwärts zu geleiten.

Freilich hat Jesus über die Pflichten der Landesverteidigung und der Jesu

•1 ••11/- \\r Kinseitigkeit.

Kolonisation keine Anweisung hinterlassen; sein viel berufenes vVort Marc. 12, 17: gebet dem Kaiser was des Kaisers ist und Gotte was Gottes ist, stellt nicht einmal den Versuch dar, die Gebiete des Staats und der Kirche reinlich zu scheiden; von nationalökonomischen, geschichtlichen, geographischen Kenntnissen verrät er kein höheres Maß als andere Galiläer seines Standes; eine soziale Frage hat er, trotzdem in Palästina damals die Verarmung bedenklich zunahm, nicht angerührt. Wer solche Dinge im Ernste bei Jesus vermißt, soll ihm auch vorwerfen, daß er von der Kunst nichts verstanden und den Plato nicht gelesen, daß er keine Eisen- bahn gebaut und die Pockenimpfung nicht eingeführt hat. Jesus ist nicht ein Allerweltsheiland gewesen, sondern groß nur auf einem Gebiet, und in vollendeter Weisheit überschreitet er niemals diese Grenzen: das Neue, das ihn erfüllt, beschränkt sich auf die Religion und Ethik, genauer, es liegt in der Einheit von beidem, denn Jesus hat die Versittlichung der Religion bis zum Ende geführt und der Sittlichkeit im ganzen Umfange die religiösen Triebkräfte gesichert.

In dem Gottesbegriffe Jesu tritt der alttestamentliche Untergrund am Jesu deutlichsten hervor. Mit den Propheten hat er den sittlichen Monotheismus gemein; als Herrn der ganzen Welt und fürsorgenden, ebenso liebevollen wie allmächtigen Vater hat seinen Gott nicht Jesus zuerst erkannt. Er betont nachdrücklich nach alttestamentlichen Mustern, wie Gott ein strenger Richter ist, der die Unbußfertigen unnachsichtig straft, freilich nicht als ob der Zorn eine unaustilgbare Eigenschaft Gottes wäre; in Ewigkeit un- trennbar vom Wesen Gottes ist nur die Liebe, die keine größere Freude kennt als gute Gaben geben, Gnade üben, von seinem Reichtum austeilen, selbst an den armseligsten Sperling auf dem Dach. Was es mit Gottes Straflust auf sich hat, illustrieren Parabeln wie Matth. 18, 23 ff., wonach Gott gar nicht freigebig genug, falls man ihn bittet, Schuld erlassen kann, nur unter der einen Bedingung, daß die von ihm Begnadigten auch ihrer- seits Gnade üben; noch ergreifender zeigen die drei Parabeln vom Ver- lorenen (Luk. 15), wie Gott unermüdlich den Sündern nachgeht, wie er um sie wirbt, trotzdem sie ihm den Rücken kehren, wie er durch ein einziges Wort der Abbitte, durch die Erkenntnis der Schuld mehr als bloß ver- söhnt ist und keinen Unterschied der Liebe kennt zwischen den aus dem Schlamm Herausgezogenen und alten Getreuen.

02 Adolf Jülicher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

Jesu Vorstellung Aber wir sind hier schon auf dem Weg zu der Kardinalfrage, an

deren zutreffender Beantwortung das Verständnis für das Eigentümliche in Jesu Frömmigkeit, also wohl auch für das Wesen des Christentums hängt. Es ist die Frage nach Jesu Vorstellung von dem rechten Verhältnis zwi- schen Menschen und Gott. Ins Himmelreich werden kommen nur, „die den Willen tun meines Vaters im Himmel". Das war auch die Meinung der Pharisäer. Und diesen Willen kennen lehren uns Gesetz und Propheten, deren ganzen Inhalt das Doppelgebot umschließt: liebe Gott von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst. Wiederum eine Wahrheit, die der Schule jüdischer Schriftgelehrsamkeit entstammt. Daß der reiche Tor (Luk. 12, i6 21), der sein Leben einrichtet, als ob es keinen Gott gäbe, dafür durch plötzliche Abberufung büßen muß, ist ebenfalls ein rein alt- testamentlicher Gedanke. Gott verlangt den Menschen sogar ganz, aus- schließlich für sich; daher ist kein Sowohl Alsauch zulässig, etwa halb Gott halb die Welt unser Herr, halb Gott und halb der Mammon: die Reichen, die der Mammon mit seinen Verführungskünsten umstrickt, bringen aber das Opfer, ihre Güter zu haben, gleich als hätten sie sie nicht, natürlich besonders selten zustande. Auch das, in der Theorie wenigstens, im Sinne der Pharisäer. Und doch ist die religiöse Haltung Jesu auf jedem Punkte grundverschieden von der dieser Superfrommen. Das Tun des Willens Gottes gilt ihm nicht als eine dem Menschen auferlegte Last, auf deren glückliche Bewältigung er sich etwas Gehöriges einbilden mag, sie ist ihm innerstes Bedürfnis; er kann sich darin auch nie genug tun man denke an das wundervolle Gleichnis Luk. 17,7 10 und verlangt nicht größere Anerkennung dafür, daß er längere Zeit als andere in Gottes Diensten gestanden hat, Matth. 20, i ff. Damit ist der pharisäischen Frömmigkeit die Wurzel abgeschnitten. Bei ihnen ist Religion ein Geschäft, das der Mensch mit Gott abschließt; genau wird jeder Posten in Debet und Kredit verrechnet; was ja zur Voraussetzung hat, daß kompakte Größen, opera operata, diese Posten bilden: Gefühle, Entschlüsse u. dgl. eignen sich nicht dazu. Je raffinierter der Fromme sich seine Spezialleistungen nach dem Buchstaben des Gesetzes heraussucht, wie etwa Zehntenzahlung selbst von Minze, Dill und Kümmel, um so höher darf er sie taxieren. Strenge Be- obachtung der Zeremonialgesetze, der Sabbatheiligung, der Reinigkeits- vorschriften hat den höchsten Wert, weil das Leistungen sind, die kein NichtJude aufbringt; die Absonderung von den Unbeschnittenen, den Zöll- nern, dem gemeinen und unreinen Volk ist heilige Pflicht. Der Lohn- Das gerade Gegenteil bei Jesus. Zwar hat er den Lohngedanken

{jc'da'ike in Jesu . -i-i ti n i-i i -it f ^

Religion, nicht ctwa, subtiler Reflexion zuliebe, aus der Religion gestrichen; er verwendet ihn verhältnismäßig oft, weil das natürliche Denken ihn immer wieder produzieren muß; aber er hat ihn religiös ungefährlich gemacht. Nicht bloß, indem er nach alttestamentlichen Vorgängern die Unabhängig- keit des irdischen Schicksals von der religiösen Haltung kräftig einprägt (z. B. Luk. 13, I fF. u. 16, 19 ff.) und eine Belohnung erst im Jenseits (eventuell

A. Jesus (-ca. 30). III. Die Religion Jesu. ()■>

im „Reich") in Aussicht stellt. Sondern noch mehr, indem er die Torheit des mit Gott Rechnenden von dem Standpunkt eines geläuterten Gewissens aus als Überschätzung der eigenen Leistungen und Unterschätzung dessen, was Gott von uns verlangen muß, aufzeigt. Was in Jesu Evangelium als Lohn übrig bleibt, das ist die freundliche Anerkennung, die ein Vater seinem Kinde gewährt, daß er mit ihm zufrieden sein wolle: in diesem Sinne darf auch das bescheidenste Kind sich einer Belohnung versichert halten, in diesem wird sie der Vater gern leisten. Und das Kind in seiner Einfalt zieht Jesus gern heran, um zu veranschaulichen, wie Gott uns haben will, Marc. 10, 14 16; beim Handeln des Kindes hat er von dem juristi- schen Scharfsinn des Pharisäers nichts zu befürchten. Dessen „gute Werke" unterzieht er unerbittlicher Kritik; ihm sind sie eher böse Werke, weil über Kleinigkeitskrämerei die Hauptsachen, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Treue (Matth. z^, 23) vernachlässigt werden; und selbst wo dieser Vorwurf nicht trifft, sind die Werke nicht gut, weil Gott nicht auf die Tat als solche sieht, sondern auf die innere Beschaffenheit des Täters. Darauf allein kommt es an, auf die Gesinnung, auf die Beweggründe zum Tun; wenn die irreligiös sind, wie bei den Pharisäern, die mit ihrem Almosen- geben, Fasten, Beten förmlich hausieren gehen oder doch eingestandener- maßen das Gute tun, um es im Himmel angeschrieben zu bekommen, so ist die Tat keine Erfüllung von Gottes Willen. Denn zu solcher gehört nach dem fundamentalen Doppelgebot Liebe; die Selbstliebe aber, die nicht bloß sich selbst behaupten, sondern sich unbekümmert um Gott und Nächsten be- reichem will, d. h. der Egoismus, auch in Form der eitlen Ruhmbegier, ist das Gegenteil von jener Liebe.

Unter den Korrekturen, die Jesus an der jüdischen Frömmigkeit an- gebracht hat, ist aber die wichtigste noch nicht die, die dem gewaltigen Ernst seines Pflichtgefühls entspringt, die Selbstzufriedenheit ausrottet und die kleinen Teilzahlungen, wo Gott doch alles haben will oder nichts, dem Abscheu preisgibt. Zwar ist es erhaben, wie er einerseits der tatenstolzen Judenschaft klar macht, daß eines Menschen innerste Art in seinen Worten sich unmittelbarer widerzuspiegeln pflegt als in seinen Werken und daß kein gutes Werk sein kann was einer mit lieblosen Worten begleitet, und andrerseits veranschaulicht, wie Gotte ein Mensch, der zuerst ihm zwar den Gehorsam verweigert, nachher aber trotz der bösen Worte hingeht und Gottes Willen tut, viel lieber sein wird als der eifrige Ja-Ja-Sager, der aber ausbleibt, wo es Taten gilt; und es ist erhaben, wie er in Matth. 5 nicht erst das Totschlagen, sondern schon das Exkommunizieren, das Beschimpfen, das Zürnen auf den Bruder, nicht erst die ehebrecherische Tat, sondern schon das x\uf keimenlassen der ehebrecherischen Begierde mit schwerer Strafe bedroht. Immerhin liegt das Alles noch in der Linie prophetischer Erkenntnis, Völlig neu dagegen ist der sittliche Zweck, den Jesus für jede Tat, um sie als fromm anzuerkennen, verlangt, und die Rücksichtslosigkeit, mit der er diese Zwecke, die bei ihm alle in die Liebe

64 Adolf JÜLTCHER : Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

ZU Gott und zum Nächsten zusammenlaufen, auch auf Kosten der bisher so bevorzugten gottesdienstUchen Handlungen durchsetzt. Er verbietet das Opfern nicht: aber wer seine Zeit dem Opfern widmet und darüber es versäumt, mit einem Widersacher sich zu versöhnen, tut Sünde. Der Sabbat mag gefeiert werden: aber jemanden einen Tag länger Not leiden lassen, bloß weil man die Sabbatruhe zu verletzen fürchtet, heißt er gottlos. Die Reinigkeitsvorschriften werden von ihm nicht außer Kraft gesetzt: aber durch den Grundsatz hebt er sich in Wahrheit über sie hinaus, daß nicht Speisen, die von außen in den Menschen eingehen, ihn unrein machen, son- dern die bösen Gedanken, die aus seinem Innern hervorgehen; also gibt es gar keine sittlich unreinen Sachen, sondern nur unreine Menschen, und mich kann auch kein andrer Mensch unrein machen als ich selbst. Neue Sünden- kataloge endlich stellt er nicht auf: aber den Samariter Luk. 10, 30 ff. hätte vor ihm niemand als Typus echter Frömmigkeit abgemalt, den Mann, der doch bloß seinem Mitleid nachgab und dabei der abscheuliche Ketzer blieb. Die Betätigung von Liebe gegenüber allen Menschen ohne Unter- schied, wie sie Matth. 5, 43 ff. gefordert, Matth. 25,31 ff. als allein über unser Schicksal in Ewigkeit entscheidend beschrieben wird, als einziges unzweifelhaftes Kennzeichen der Liebe zu Gott proklamieren, den Wert des Menschen vor Gott lediglich nach dem Maße seiner der Gesamtheit geleisteten Dienste oder seiner Dienstwilligkeit einschätzen, das bedeutet die Entdeckung einer neuen Welt. Ethik Jesu. Die scharf zugespitzte Form, in der Jesus gern seine Gebote vorträgt,

ist mit daran Schuld, daß man ihm einen sich überschlagenden Idealis- mus zum Vorwurf gemacht hat, Mangel an Verständnis für die Existenz- bedingungen der Menschheit, zu denen der Selbsterhaltungstrieb jedes Individuums vornehmlich gehört. Geistreiche Philosophen haben den Kern der Ethik Jesu in einem dem buddhistischen Evangelium der Selbst- vemichtung wesensverwandten Asketismus gefunden. Der Mann müßte aber doch bodenlos konfus gewesen sein, der die herzlichste Freude empfand an der liebevollen Rettung eines Schwerverwundeten durch jenen Sama- riter, der die Speisung eines Hungernden, die Bekleidung eines Frierenden für wichtig genug hielt, um darüber alle Sabbatvorschriften hintanzusetzen, und zugleich die Vernichtung des eigenen Lebens ersehnt hätte! Noch dazu, wo er jeden so dringend mahnt, für die Erhaltung der Seele, d. h. der Per- sönlichkeit, im Reich der Vollendung Sorge zu tragen. Matth. 8, 2 2 „laß die Toten ihre Toten begraben" ist natürlich ein singulärer Fall, bei dem Jesu Motive aber nicht allzuschwer zu erraten sind; kindisch wäre es, ihm des- halb Gleichgültigkeit gegen die unangreifbarsten Pietätsakte zuzutrauen; den Haß gegen Vater und Mutter usw. Luk. 14, 2 6flf. hat er nicht etwa als das Normale betrachtet, sondern nur die Fähigkeit verlangt, in einem Falle, wo dem Menschen bloß die Wahl bleibt zwischen der Liebe zu Eltern und Kindern und dem ihm von Gott gewiesenen Beruf, auf das von Natur Liebste zu verzichten: übrigens gewiß ein Beleg mehr dafür, daß Jesus

A. Jesus ( ca. 30). III. Die Rclijjion Jesu. 65

verschiedene Grade sittlicher Kraft und religiöser Entwicklung annimmt; wir dürfen getrost von einer Sonderfrömmigkeit der Jünger reden, die Jesus voraussetzt. Von den Männern, die sich selbst „entmannt" haben um des Himmelreichs willen Matth. 19, 12, war auch er einer; aber ihm fiel nicht ein, bloß solchen das Reich zu öffnen: wer die Ehescheidung so streng wie Jesus verbot, kann kein prinzipieller Gegner der Ehe ge- wesen sein. Seine Gesamtstimmung hat nichts von Weltüberdruß, von dumpfer Ergebung; er freut sich an schönen Blumen auf dem Eelde, er sitzt auch, im Unterschied von Johannes, der „nicht und nicht trank", fröh- lich zu Tisch, und dem Weibe in Bethanien rechnet er es hoch an, daß sie ihr Geld, statt es, wie die Banalität der Tischgenossen wünschte, in Almosen zu verteilen, für Ol ausgab, um den Meister zu salben, und ihm so eine wenn auch bloß kurze Freude bereitet. Das feste Gottvertrauen, das Jesum beseelte, und vor dem Versinken in Angst und Sorge bewahrte, die Überzeugung, daß Gott die Seinen nie verläßt und jedes rechte Gebet bei ihm Erhörung findet, daß dem Glauben nichts unerschwinglich ist, brachte schon so viel Sonnenschein in sein Wesen, daß der Geist mön- chischer Selbstzerfleischung ihm gar nicht nahen konnte. Gewiß, er hat heroische Entsagungen gefordert, doch nie der Entsagung als solcher zu- liebe, sondern zu höherem Zweck, sei es die Begierden des Fleisches zu dämpfen, sei es, weil große Arbeit ohne große Opfer nicht getan werden kann.

Aber der Ehrbegriff Jesu, sagt man, und sein Verständnis für den Paradoxie«n. sittlichen Wert jeder Berufsarbeit seien dürftig- entwickelt gewesen. Luk. 6, 29: wenn jemand dich schlägt, biete ihm auch die andre Backe dar usw. würde allerdings, wenn es das letzte Wort von Jesu praktischer Weisheit darstellte, Bedenken erregen; Luk. 6, 30: gib jedem, der dich bittet, fordere von dem, der dir dein Eigen wegnimmt, es nicht zurück, klingt direkt ge- fährlich. Aber wer spürt denn hier nicht die Auflehnung gegen die her- gebrachte Übung, dem Beleidiger mit gleicher Münze heimzuzahlen und allerwärts sich auf sein Recht zu versteifen? Ist jenes Wort Jesu nicht bloß der konkrete Ausdruck für die These, die wir bei Paulus Rom. 12,21 bewundem: laß dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse durch Gutes? Lieber einmal auf sein gutes Recht verzichten, als sich vom Bösen dessen Kampfesweise aufnötigen lassen: wirksam ent- waffnen wirst du den, der dich vergewaltigt, nur, wenn du dich als von seiner Gewalt unerreichbar zeigst! Daß ein anderer mit ungerechtfertigten Backenstreichen mir meine Ehre nehmen könne, ist nach Jesus genau so unmöglich wie daß er mit seiner Unreinheit mich unrein machen kann: wenn wir Heutigen beides noch so schlecht begreifen, offenbaren wir nur, wie wenig es mit unsrer Autonomie im Sittlichen auf sich hat, und wie tief wir noch unter dem Idealismus Jesu stehen. Und dann: zur Arbeit habe Jesus nicht ermahnt. In der Tat, die Sprüche Sal. rücken dem Faulen kräftiger auf den Leib als er. Aber seine Strafrede gegen

Die Kultur dür üküünwari. I. 4. 5

66 Adolf JÜi.icher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

das Sorgen um Speise und Nahrung hätte doch nicht verdient, als Recht- fertigung der Trägheit, die sich die Spatzen zum Vorbild nimmt, mißdeutet zu werden bei dem Manne, der die Treue, die Pflichterfüllung, das werktätige Zugreifen (z. B. Matth. 25, 14 ff., Luk. 15, 4. 8, 2 5 ff. u. 13, 8) so stark betont, der selbst gegenüber dem Gottesreich die Passivität des bloßen Wartens so unangenehm empfindet! Daß er freilich die einzelnen Berufe, etwa des Fischers, des Geldwechslers, des Hirten ^er Reihe nach durch- genommen und die strenge Erfüllung der durch sie gegebenen Pflichten religiös gleichwertig der Arbeit für das Himmelreich, der Verkündigung des Evangeliums genannt hätte, ist ein wenig zu viel verlangt von jemand, der den Enthusiasmus entflammen wollte, auszutreten aus dem bisherigen Beruf und in seiner Nachfolge nur Seelen zu werben für die neue Welt: Jesus wäre geradezu ein Schemen statt einer so bloß an diesem einen Punkte der Geschichte wirklichen Persönlichkeit, wenn er eine in dem Maße vollständige Ethik gelehrt hätte, daß für Spätere nichts zu lehren übrig bliebe. Allein der Grundsatz Marc, g, 35: „wenn jemand der Größte sein möchte, so sei er aller Diener" reicht aus, um, in Jesu Sinn auf andre Zeiten und andre Bedürfnisse angewendet, auch diese Lücke zu stopfen. Schon weil das Asketentum, das alle Kraft des Lebens in reli- giösen Übungen und der Vernichtung der natürlichen Triebe sich ver- zehren ließ, so absolut egoistisch ist, so entfernt von dem Gedanken an die Pflicht, den anderen, allen zu dienen, kann es nur eine Entartung der evangelischen Sittlichkeit darstellen, die mit diesem Gedanken ihres Herz- bluts beraubt ist. Einheit von Für die unlöslichc Einheit, zu der bei Jesus Sittlichkeit und Religion

Sittlichkeit und .

Religion. Sich verschmelzen, gibt es keinen klareren Ausdruck als in dem Wort Matth. 5, 48: „Ihr sollt vollkommen sein wie euer himmlischer Vater voll- kommen ist". Mit diesem Grundsatz: Gott selbst die einzige Nomi für unser Verhalten, gut bei uns nur das, aber wiederum auch alles das, was bei ihm gut heißt, hat Jesus Ernst gemacht, vor allem in seiner Person, dann soweit seine Kräfte reichten, andre zur Nachahmung aufgerufen. Bei Gott verträgt das Gute natürlich keinerlei Differenziierung in religiös Gutes und sittlich Gutes. Gott übt keine Kultushandlungen, er kennt kein Verzagen, keine Sorgen, keine Begierden, keinen Haß; er widmet sich mit uner- schöpflicher Liebe seinem großen Werke, der Welt, dessen Krone die Menschheit ist, und richtet es so ein, daß alle, die nicht bis zum Ende Widerstand leisten, der nahen Seligkeit froh werden. In diesem Spiegel schaut Jesus sein eigen Bild, Es muß verzeichnet sein, wenn man ihn als den schmerzlich Wissenden, den trauervoll Stillen, die Personifikation der , erhabenen Melancholie des Geistes, ewig fremd allen Trieb- und Affekt-

menschen charakterisiert; da verwechselt man das Vorübergehende mit dem Wesentlichen. Jesus ist vor allem eines seligen Gottes seliges Kind. Die Lasten, die die Pharisäer den Leuten auflegen, sind schon darum verwerflich, weil Lasten und Schikanen gegenüber dem natürlichen Be-

A. Jesus ( ca. 30). III. Die Religion Jesu. 5?

dürfen nicht fromm heißen können. Aber der sittliche Einschlag scheidet auch wieder seine Freudigkeit von bloßem Heitersein. Wie Gott kennt er keine Seligkeit, die sich nicht mitteilen müßte; darum gehört sein Leben dem Dienst an dem, was den anderen zum Heile gereicht, eine Selbstaufopferung, die die Fröhlichkeit nicht mindert, sondern allerwegen zum Siege bringt. Fromme Menschen wie er fühlen sich so wohlig wie Kinder im Hause eines ebenso liebevollen wie großen und weisen Vaters; selbst die edelste Art von Furcht, die, daß sie Gutes und Böses einmal verwechseln könnten, bleibt ihnen erspart. Der Katechismus Jesu ent- hält kein Hauptstück von Sakramenten, durch die wir Gott erst künst- lich nahe gebracht werden müßten, keins vom „Glauben", der in Artikeln auszulegen wäre; er besteht aus zwei Sätzen: Handle immer so, daß man das seinem Vater ähnliche Kind Gottes in dir erkennt, und: Bist du des Vaters unwürdig geworden oder in Sorge, du könnest es werden, so bete zu ihm, und er wird dir verzeihen oder dich aus der Gefahr erretten.

So glaubt Jesus das Ideal des frommen Menschen, des Gotteskindes, jesuPersöniich-

. . keit sein

als Nachbildung des himmlischen Vaters bestimmt zu haben; noch richtiger Evangelium. ist, daß er seinen Gottesbegriif, ins Himmlische potenziert, nach dem gestaltet hat, was er in dem frömmsten Menschen, den er kannte, in sich selber erlebt hatte: wieder ergibt sich seine Persönlichkeit als das Maß seiner religionsgeschichtlichen Bedeutung.

Und wiederum endlich bestätigt sich wunderbar als ihm eigen die jüdi- Die Humanitäts-

»-,-.. religion.

sehe Überwindung des Jüdischen. Er lehnt sich nicht etwa gegen Echtjudi- sches auf; wenn er die Pharisäer bekämpft, so doch keineswegs in ihnen das Alte Testament, das er als göttliche Offenbarung hochhält. Er besucht Tempel und Synagogen, verletzt nicht unnötig jüdisches Empfinden, ob- wohl ihm die bloße Kultusfrömmigkeit als eine ganz unzulängliche Er- füllung des Willens Gottes erscheint. Wo dabei wahre Liebe zum Vor- schein kommt, ehrt er sie: die arme Witwe Marc. 12, 41 ff., die ihr letztes Scherflein in den Opferstock tut, tadelt er nicht etwa wegen Ver- geudung ihrer Habe zugunsten einer satten Priesterschaft, er bewundert die Gesinnung, aus der heraus sie handelt. Indes nur diese Gesinnung, der Gott etwas zuliebe zu tun die höchste Freude bereitet, empfiehlt er zur Nachahmung, nicht die Spenden für die Tempelkasse.

Mit solchen Anschauungen befreit er die Religion von allen bloß jüdi- schen Bestandteilen, das Objekt der Religion sowohl wie ihr Subjekt wie das religiöse Verhältnis zwischen beiden selbst, und dies alles so zart und schonend, daß er die Wandlung selber kaum bemerkt, im übrigen durchaus von dem Weltbild der andern Juden beherrscht, z. B. in den Vorstellungen von Engeln, Satan, Dämonen, von Himmel und Hölle. Während das Objekt der Religion Israels immer in erster Linie ein starker, eifriger Gott ge- wesen war, und auch die größten unter den Propheten gute Gründe hatten, ihrem Volk zuvörderst die Ehrfurcht und Scheu vor Jahve einzuprägen, der, je mehr er vom nationalen zum Weltgotte wurde, immer mehr darauf aus

58 Adolf Jülicher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

war, die Entfernung' zwischen dem Heiligen in der Höhe und uns unreinen Menschen zu steigern, ist der Gott Jesu die Liebe selbst, väterlich für- sorgend sogar für das Blümlein auf dem Acker, wie viel mehr für den Menschen mit seiner unsterblichen Seele. Daß er dabei die Strafgewalt gegen Ungehorsame behält, ist nicht jüdisches Überbleibsel: ein Gott ohne solche wäre statt eines Vaters ein Trottel. Als Subjekt seiner Reli- gion scheint Jesus zwar, alten Vorurteilen von einem auserwählten Volke getreu bleibend, bloß Juden gelten zu lassen, denn bloß an sie hat er sich mit seinem Evangelium gewandt. Aber auch ohne daß wir aus Parabeln wie denen von den bösen Weingärtnem oder vom hochzeitlichen Mahl die Idee eines Ersatzes der Juden durch gläubige Heiden herausläsen, müssen wir anerkennen, daß auch nicht der geringste Zug die Menschen, von deren Stellung zu Gott Jesus handelt, als etwas andres wie bloß als Menschen, daß er sie als Juden beschreibt. „Der Mensch" ist z. B. Marc. 8, 36 Gegen- stand seiner Reflexion: nicht der Jude, sondern „die Seele" oder „der Leib" das, was in die Seligkeit hinübergerettet werden soll. Und wenn er Gott als den Gott von Vögeln und Sträuchem feiert, kann er ihn dann den Heiden als ihren Gott entziehen? Wenn er sich von Mutter und Brüdern Marc. 3, ^2 35 abwendet mit dem großen Wort „wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder, Schwester und Mutter", hat er dabei die stille Reser- vation gemacht: vorausgesetzt, daß es kein Heide ist? Der Samariter Luk. 10, 30 ff, hätte im Gericht von Matth. 25,31 ff. schön bestanden, und ein Messen mit zweierlei Maß wird doch Jesus seinem Gott nicht zu- gemutet haben. Endlich das religiöse Verhältnis zwischen Gott und Menschen hat er so gründlich von jüdischer Belastung befreit, daß ein wei- terer Schritt in dieser Richtung sich nicht mehr ausdenken läßt. Unbedingte Abhängigkeit des Menschen von seinem Gott, absolute Unterwerfung unter seinen Willen; aber dieser enthält nichts Heteronomes, willkürlich etwa nur als Probe dem Menschen Auferlegtes, sondern besteht allein aus dem, was der Mensch selber als das Vollkommene einschätzt: darum das Tun des Willens Gottes für uns die vollendete Seligkeit. Maßgebende Rolle spielen dabei nur Dinge, die aus dem Herzen kommen, Äußerung einer Liebesgesinnung gegen Gott und die übrigen Menschen: Selbstsucht und Gleichgültigkeit gegen die Brüder sind mit der Religion Jesu noch weniger verträglich wie das armselige Haften an den Lüsten dieser Welt. Besonders wertvoll ist aber noch bei Jesus im Gegensatz zu der späteren Entwicklung seiner Kirche die Unbefangenheit, mit der er das Kindes- verhältnis als das religiöse Grundverhältnis auch gegenüber der Tatsache der Sündenmacht aufrechterhält. Gewiß gibt es keine „Sündlosen" (Joh. 8, 7) unter uns, eine Wahrheit, die wir nie vergessen dürfen, wo andere sich an uns versündigen: da ist keiner, der nicht Gottes Barmherzigkeit, Nachsicht, verzeihende Gnade bedürfte. Aber die pietistische Sündenangst, die im Menschen seit dem Sündenfall nichts als Gemeinheit erblickt und jede edlere Regung als glänzendes Laster verspottet, ist Jesus gänzlich

B. Paulus und das apostolische Zeitalter ( ca. 125). T. Der Glaube an Jesu Auferstehunp. 5q

fremd. Die guten und die faulen Bäume sind das nicht nach ewigem Ratschluß und nicht unabänderlich; Jesus appelliert an den Willen der Menschen und traut ihm, eigener Erfahrung folgend, ungeheure Kraft zu: Gott hat seine Kinder nicht zu Sklaven erniedrigt, wenn sie auch als Kinder natürlich ohne seinen väterlichen Beistand, der gläubigem Gebet nie versagt wird, nicht groß werden könnten.

Man braucht diese Religion nicht erst mit der affektierten, reglemen- tierten und gelehrt ausstaffierten des Pharisäismus zu vergleichen, um ihre Art zu würdigen; auch dem ganzen Alten Testament gegenüber ist sie in ihrer Verbindung von Wärme, Kraft, Einfalt und Gesundheit ein Neues, so wie der Mann, in dessen Herzen sie geboren war, ein neuer Mann war. Stammt von ihm selbst das Programmwort Matth. 5, 17: ich bin nicht gekommen Gesetz und Propheten aufzuheben sondern zu erfüllen, so adelt ihn diese anspruchslose Pietät; wir aber erinnern uns, daß die Art, wie er das Alte erfüllte, etwas außerordentlich Neues war. Jesu Hoffnungen auf die dicht bevorstehende Weltumwandlung haben sich nicht erfüllt: der vermeintliche Messias ist als Verfluchter ans Kreuz geschlagen worden. Aber in anderem Sinn als er geahnt hatte, ist das Neue, was er in sich spürte, lebendig geblieben. Die Geschichte hat trotz der Tragik seines Schicksals ihm Recht gegeben, der es (Marc. 4, 26 29) genügend fand, wenn ein Mensch den Samen zur rechten Zeit aussät: alles Weitere, Halm, Ähre, voller Weizen kommt dann von selbst.

B. Paulus und das apostolische Zeitalter ( ca. 125). I. Der Glaube an Jesu Auferstehung. Alle unsre Evangelien- Die neu-

testamentlicheii

bücher schließen mit Berichten über Jesu Auferstehung: ohne solchen Auferstehungs-

berichte.

Schluß w^ürden sie sich nicht als Evangelien erschienen sem. Nur der blinde Inspirationsglaube will nicht sehen, wie wir in diesen Schluß- abschnitten mit ihren unausgleichbaren Widersprüchen den festen Boden guter Überlieferung, auf dem w^ir uns vorher bewegten, verlassen. So haben wir allein auf den ältesten Zeugen, Paulus, zu hören, der I. Kor, 1 5 in feierlichem Ton wie bei einer Sache, die er schon oft mit denselben Worten vorgetragen hat, verkündigt, Christus sei am dritten Tage den Schriften gemäß auferweckt worden, zunächst dem Petrus, darauf den Zwölfen erschienen, wieder später mehr als 500 Brüdern auf einmal, dann dem Jakobus, dann allen Aposteln, zu allerletzt auch ihm, dem Brief- schreiber.

Eine sichere geschichtliche Beglaubigung der Auferstehung Jesu darf Psychologische man freilich diese lange Reihe von Erscheinungen nicht nennen: den Auf- Auferstehungs- erstandenen haben nur Gläubige geschaut, der Glaube aber ist wenig qualifiziert, das objektiv und das subjektiv Wahre in seinem Erleben aus- einanderzuhalten; die Wirkungen sind ja bei beidem die gleichen. Für den Historiker reicht zur Erklärung alles weiteren die Tatsache aus.

yo Adolf Jülicher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Cliristentums bis zum Nicaenum.

daß wenige Tage nach Jesu Tod unter seinen ehemaligen Anhängern sich die Gewißheit verbreitete, er sei aus dem Tode zu höherem Leben zurückgekehrt; und ich dächte, wenn wir den Gekreuzigten nicht völlig verkannt haben, ist diese Überzeugung und ihre schnelle Ausbrei- tung nicht etwa ein psychologisches Rätsel, eher so selbstverständlich, daß es nicht einmal zahlreicher Visionen bedurft hätte. Als sich Petrus von dem ersten lähmenden Schrecken erholt hatte und sich einsam ver- tiefte in Nachdenken über das Große und Furchtbare, was die Ostertage gebracht hatten, schämte er sich seiner Verzagtheit, dieser feigen Unter- werfung unter den bloßen Schein: oder konnte es mehr als Schein sein, wie Satan ihn auszunutzen liebt, daß Gott seinen Messias verlassen und die Sache seines Reiches aufgegeben hätte? Entrüstet warf er den letzten Verdacht, daß Jesus ihn, daß Jesus sich getäuscht hatte, als er die mes- sianische Laufbahn einschlug, von sich weg: dann blieb nur der Aus- weg, daß Jesu Tod die Verwirklichung seiner Reichshoffnungen nicht hindere, vielmehr fördere, daß er, durch den Tod eingegangen in himm- lisches Leben, alsbald mit göttlicher Kraft hinausführen werde, was er begonnen. Um sich ganz fest zu machen, vergegenwärtigte er sich die unvergeßlichen Momente, wo der Geliebte sein Herz erobert, verwandelt hatte, und genoß noch einmal in seliger Verzückung den Zauber solcher Stunden; er müßte nicht Petrus gewesen sein, wenn der Meister da nicht lebendig vor ihn getreten wäre und ihm zugerufen hätte: ich bin nicht tot, gehe hin und verkündige den Auferstandenen!

Jubelnd ist der Begnadete dann umhergeeilt und hat die zerstreute Jüngerschar wieder um sich gesammelt; als er ihnen die empfangene Offenbarung verkündete, wiederholte sie sich in ihrem Kreis: was sie von Petrus schildern hörten, sahen sie zugleich selber, und natürlich ist es nicht bei diesen beiden Erscheinungen geblieben. Die Erzählung der Himmelfahrt des Auferstandenen am vierzigsten Tage, von der lediglich die Apostelgeschichte zu berichten weiß, ist ein nachträglicher Versuch, das Ausbleiben gleicher Erscheinungen in der späteren Zeit rationell zu erklären und die Erde frei zu machen für die Wirksamkeit des heiligen Geistes, der zum Ersatz für den Sohn Gottes wiederum zehn Tage später auf die Gläubigen ausgegossen worden sein soll. Ursprünglich fragte man nicht danach, wo der Auferstandene weile, man war zufrieden, daß er da war, und für einen Auferstandenen gab es unterhalb des Himmels doch keine Wohnstatt, mochte er auch frei wie die Engel jederzeit, wo die Seinen ihn bedurften, sich zeigen auf der Erde.

nie rfingst- IL Die jerusalemische Urgemeinde. Die von Paulus (I. Kor. 15) er-

gescliichte.

wähnte Erscheinung vor den 500 Brüdern wird man mit großer Wahrschem- lichkeit dem Pfingstwunder, das Lukas Apgesch. 2 allerdings reichlich aus- schmückend erzählt, gleichsetzen. Auf das Datum kommt wenig an, auch nicht auf die Zuverlässigkeit der bei Lukas gegebenen Deutung der Glosso-

B. Paulus und das apostolische Zeitalter ( ca. 125). II. Die jcrusalemische UrRcmeindc. yi

lalie, jenes ekstatischen Stammeins verzückter Frommen, das in der Periode des ersten Enthusiasmus so oft in den Versammlungen die ehrfürchtig lauschenden Gläubigen wie ein Rauschen des Geistes erbaute, während Lukas es als ein Reden in allen auf der Erde gebrauchten Sprachen zugleich ver- standen wissen möchte. Das Entscheidende ist in diesem Fall der Ort: die Fünfhundert, die den Kern der ältesten Christengemeinde darstellen, haben sich in Jerusalem befunden. Ihre Heimat ist die Hauptstadt natürlich nicht; also haben sie sich, wohl auf Antrieb der Zwölfe, dorthin begeben, Heimat und Beruf aber verlassen. Das Motiv kann nicht eine schwärmerische Verehrung für die heilige Stadt gewesen sein, die durch ihres Meisters Leiden und Sterben für sie noch heiliger geworden wäre, sondern, falls nicht ein Offenbarungswort des Auferstandenen für sie jeden Zweifel aus- schloß, die Überzeugung, daß der Messias eben da, wo er scheinbar sein Werk hatte fallen lassen müssen, es wieder aufnehmen werde, daß seine nahe bevorstehende Wiederkunft vom Himmel her nur auf dem Berge Zion erfolgen könne. Dort wollten sie ihn erwarten, um wenigstens dies- mal in einem großen Augenblick zur Stelle zu sein.

Ihre Geduld wurde auf harte Proben gestellt, aber sie nutzten die Rechtferti-

. , gungsversuclie

Zeit aus, um ihren Glauben mit Bollwerken zu schirmen. Den furchtbaren für den Tod des

Messias.

Anstoß, den die Hinrichtung eines Messias für jüdisches Denken lieferte, entfernten sie, indem sie beim Forschen in der Schrift herausfanden, daß dort dem Messias eine Zeit des Leidens und der Verachtung längst vorausverkündigt worden war, daß sich also in Jesu Schicksal nur Gottes Wort erfüllt habe, und sie spürten vielleicht sogar Stellen auf, die ahnen ließen, warum der Messias zuerst leiden, danach verherrlicht werden sollte, nämlich um als Unschuldiger die von den andern verdiente Strafe auf sich zu nehmen, um die Sünden des ganzen Volkes zu sühnen. In Jesu Sinn wurden solche schriftgelehrten Tifteleien nicht gerade aus- geführt, weder der Form noch der Sache nach er hatte nie von einem Bedürfnis, für Sünden Genugtuung zu leisten, gesprochen , aber sie erfüllten damals den Zweck, nicht bloß die alten Anhänger Jesu endgültig mit Golgatha auszusöhnen, sondern ihnen die Fortsetzung ihrer Werbe- arbeit trotz der Niederlage des Königs zu ermöglichen: wurde doch all- mählich sogar eine ganze Zahl von Pharisäern von den Argumenten über- wunden, die für den Messias den Weg durch die Hölle zum Himmel und von da wieder herab auf die Erde zur Aufrichtung des Reichs als den gottgewiesenen ergaben, und schloß sich, da nun das Sterben Jesu seine Messianität mehr bestätigte als untergrub, den Genossen des Gekreuzigten an. Jesus ist dennoch der Messias gewesen, und Gott muß ihn alsbald in Himmelsglorie als solchen aller Welt offenbaren: das wurde das Stichwort in der jungen Gemeinschaft, zugkräftig, insofern es der Sehnsucht aller echten Juden die großartigsten Aussichten eröffnete, heilsam, indem es zu scharfer Scheidung zwischen denen, die für und die wider Jesus waren, nötigte. Allein es hatte den Nachteil, den Hauptnachdruck auf ein Stück

•7 2 Adolf Jülicher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Xicaenum.

im Evangelium zu legen, das Überrest des Alten war; diese Formel konnte man unterschreiben, ohne einen Hauch von Jesu neuem Geist verspürt zu haben. Zum Glück war Jesus eine so scharf ausgeprägte Persönlichkeit gewesen, daß er, solange Leute lebten, die ihm ins Auge geschaut hatten, gar nicht hinter dem Christus der Schrift und dem der Hoifnung ver- schwinden konnte. Er hatte zwar nicht lange genug auf seine Jünger ein- gewirkt, um seine Religion als Ganzes ihrem Geiste unverlierbar zuzu- eignen, aber was von seinen Worten in ihren Herzen gehaftet hatte, das ließen sie nicht los, damit stärkten und erfrischten sie sich untereinander, darin weihten sie die Neuhinzutretenden ein und haben so, trotzdem sie manches falsch verstanden, weniges in seinem vollen Wert erkannten, das Evangelium des wirklichen Jesus am Leben erhalten neben dem Evan- gelium vom Messias: jener Urgemeinde von Jerusalem verdanken wir, was wir irgend an glaubwürdigen Nachrichten über Jesus von Nazaret besitzen. Neue Einrich- Lti Übrigen sind wir über die Verhältnisse in jener Gemeinde äußerst

Urgemeinde. mangelhaft unterrichtet. Der einzige Berichterstatter ist Lukas in der ersten Hälfte seiner Apostelgeschichte. Aber so ausgezeichnete Quellen er in der zweiten, wo des Paulus Missionsarbeit beschrieben wird, benutzen kann, so blaß und allgemein gehalten sind seine Schilderungen im Anfang. Lange Reden, die er entworfen hat übrigens mit einem Maße von Takt^ das bisweilen die historische Kritik vollständig ersetzt verhüllen den Mangel an greifbarem Material, bestätigen freilich auch, daß der Verfasser nicht etwa Tatsachen drauflos erdichtet, wo die Überlieferung ihm keine bot. Unklar bleibt die Stellungnahme der neuen Religionsgemeinschaft zu der offiziellen jüdischen. Keinenfalls haben die Jesusgläubigen sich als aus dem Judentum ausgetreten betrachtet und demgemäß etwa den Tempel als die Stätte eines ihnen fremden Kultes; wahrscheinlicher ist, daß sie ihr Anrecht auf Tempel, Judentum, Gesetz Sabbatfeier, Be- schneidung, Reinigkeits Vorschriften! mit Wort und Tat leidenschaft- licher als je zu Jesu Zeit betonten, denn sie wollten die wahren Kinder Gottes sein, Davids Erben und das echte Israel. Aber undenkbar ist, daß sie die Gottesdienste in den Synagogen der Nichtgläubigen mitgemacht hätten, wo eine bloß passive Teilnahme sie geschändet, aktives Ein- treten für ihren Messias aber furchtbaren Streit entfesselt hätte. vStatt dessen versammelten sie sich womögUch täglich um Gottes Wort und ihre teuren Erinnerungen; der Wochentag, auf den sie Jesu Auferstehung verlegten, der Sonntag, mag schon bei ihnen als besonders heiliger aus- gezeichnet worden sein. Im Brotbrechen wiederholten sie allabendlich die unvergeßliche Feier des letzten Passa und erneuerten die Bundesgemein- schaft mit ihrem Meister, früh werden sie auch, weil irgend ein Ritus, durch den ein Neuhinzutretender der Gemeinde feierlich eingegliedert wurde, unentbehrlich war, vielleicht nach dem Vorbilde der damals auch noch gesondert existierenden Johannesjünger, die Taufe eingeführt haben. Im Kultus, in den liturgischen Formen, Gebet und Fasten mit frommem

B. Paulus und das apostolische Zeitalter ( ca. 125). Tl. Die jertisalcmische Urgcmcinde. -7 •?

jüdischen Brauch zu brechen, hatten sie keine Veranlassung, nur daß sich von selbst ihr messianisches Bewußtsein auch dort durch Zusätze und Änderungen warmen Ausdruck verschaffte. Noch weniger haben die ältesten Christen ihre Lebensformen grundsätzlich umgewandelt; die Güter- gemeinschaft ist nicht proklamiert worden, sondern weil die plötzliche Zuwanderung von 500 Galiläem nach Jerusalem, meist armen Leuten, die beim besten Willen daselbst ihrem Beruf z. B. als Fischer nicht nachgehen konnten, also auf Almosen angewiesen waren, außerordentliche Verhältnisse schuf, wurden den wenigen Wohlhabenden große Opfer für die Allgemeinheit zugemutet. Und um die verfügbaren Mittel zweck- gemäß zu verwenden, stellte sich die Einsetzung von Vertrauensmännern, den berühmten sieben Diakonen, als notwendig heraus, der erste Ansatz zu eignen Verfassungsgebilden in der neuen Gemeinde, die sich sonst durchaus wie eine wSynagogengemeinde in der Fremde organisiert haben wird. Daß unter den Gemeindevorstehern der zum Glauben an den Messias bekehrte Bruder Jesu, Jakobus, den ersten Rang erhielt, fast als Jesu Stellvertreter geachtet wurde, ist auf jüdischem Boden, wo man die Blutsverwandtschaft so hoch schätzt, keiner Erklärung bedürftig; ebenso versteht sich von selbst, daß die überragende Autorität der Zwölfe unangetastet blieb.

Ruhige Entwicklung war freilich dem stillen Häuflein nicht beschieden, oemeindea von

. . , Cjläubigen

Schon ihr Dasem war denen, die sich irgendwie für Jesu Hinrichtung -lußerhaib Jeru- salems, verantwortlich wußten, eine stete Anklage, ihr Wachstum regte den Arger

auf zu heftigem Zorn. Die Massen waren leicht gegen die Abtrünnigen aufzuhetzen; so ist ein Martyrium wie das des Diakonen Stephanus (und später das des Apostels Jakobus) wohl nur eins unter vielen gewesen redet doch Paulus ausdrücklich von einer Verfolgung der Gemeinde, an der er sich als Pharisäer mit echtem Zelotengeist beteiligt hatte. Zeit- weise jagte man die Gläubigen aus Jerusalem heraus; sobald der Sturm nachließ, kamen sie doch wieder, und der Erfolg war nur, daß sie die Fluchtperioden benutzt hatten, um auch auswärts dem Messias Anhänger zu sammeln, hin und her in Judäa, ja bis nach Damaskus. Solche kleinen Nebengemeinden sind anderswo dadurch entstanden, daß jüdische Fest- pilger aus dem Auslande bei einem Besuch in Jerusalem sich mit dem Evangelium befreundeten und die neue Hoffnung mit nach Hause nahmen: die Forderung, daß sie auf Hab und Gut, Familie und Beruf daheim ver- zichten und sich den Wartenden zu Jerusalem beigesellen müßten, wagte man ihnen nicht mehr zu stellen, nachdem der erste Enthusiasmus, der von einem Tage zum andern die „Parusie", Christi Wiederkunft, erwartete, verflogen war. Einzelne von diesen aus Jerusalem als Messiasgläubige zurückgekehrten Diasporajuden haben, ohnehin mit religiöser Agitation vertraut und ergriffen von der Schönheit der neuen Aufgabe, in ihren Kreisen draußen Propaganda für die messianische Hoffnung getrieben: Rom. 16, 7 z. B. erfahren wir zufällig die Namen von zwei solchen Apo- steln, die es schon vor Paulus gewesen sind und keineswegs zu den Zwölfen

y^ Adolf Jülicher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

gehören. In den Großstädten mit starker jüdischer Bevölkerungsquote wie Alexandria, Antiochia, Ephesus, Rom hat es wahrscheinlich schon um 35 kleine Messianergemeinden gegeben. Aber selbst wenn Proselyten, über- getretene Polytheisten sich darunter befunden hätten, wäre das kein Beweis dafür, daß unter den Jesusgläubigen die Eroberung der Welt ins Programm aufgenommen worden war. Die freilich alte Legende von der Verteilung aller Nationen des Erdkreises als Missionsgebiet unter die Zwölfe ist eine Fiktion, schlechthin unmöglich wegen des Motivs, das die Zwölfe nach Jerusalem geführt und so oft wieder dorthin zurückgeführt hat. Die „Urgemeinde", die wir bisher kennen gelernt haben, war trotz ihres Reichtums an Heldenmut, Glaubenskraft und treuer Liebe zu dem, der sie so früh verlassen hatte, nicht das geeignete Werkzeug, um Jesu Sache zum Siege zu führen, sie stellte, alle ihre Dependenzen in der weiten Welt mit eingerechnet, nur eine verschwindende Minorität des Judenvolkes dar, die für einen gestorbenen Alann ihrer Nation göttliche Ehren forderte und auf die Nähe des Weltendes rechnete. Veranstaltungen, um ihren Glauben der ganzen Menschheit anzubieten, traf sie nicht, und der Sauerteig einer neuen Religion, den Jesus ihr als Erbe hinterlassen hatte, war in Gefahr, in ihrer Hand seine säuernde Kraft einzubüßen. Das Konventikel der Urgemeinde wäre nach zwei oder drei Generationen, wenn die Hoffnung immer wieder getäuscht wurde, gleich wie die Sekte der Johannesjünger aus Mangel an Anziehungskraft, an Eigencharakter ausgestorben. Der Mann, der das verhindert hat, war Paulus.

Quellen. HL Paulus. Lebcnsgang und Arbeit. Paulus ist für uns die klarste

Gestalt im Neuen Testament, eine der klarsten aus der gesamten alten Kirchengeschichte. Das den Taten der Apostel gewidmete zweite Buch des Lukas weiß von ihm auf Grund genauer Information, nach dem Reise- tagebuch eines Augenzeugen und Arbeitsgenossen des Paulus zu berichten, gerade in den Details am zuverlässigsten; außerdem hat uns die Kirche eine Reihe von Paulusbriefen erhalten, zum Teil von großem Umfang, fast mehr Lehrschriften als Korrespondenzstücke: auch wenn wir einiges als unecht, wie die Pastoralbriefe, unbenutzt lassen, und ebenso den II. Thessalonicher- und den Epheserbrief, die stark angezweifelt werden, verbleiben noch 8 Briefe an verschiedene Gemeinden und Freunde, von wunderbarer Mannigfaltigkeit des Stoffes und des Tones: mehr bedarf man nicht, um einem Manne wie Paulus, der in allem, was er schreibt, seine ganze Seele ausschüttet, ins Herz zu sehen. vorKoschichte Er War zu Tarsus, der großen cilicischen Handelsstadt, nur wenige

des Paulus. t i

Jahre später als Jesus geboren. Seine Eltern waren Juden streng phari- säischer Richtung, schwerlich niedrigen Standes, denn der Sohn Saul- Paulus hat eine gute Bildung erhalten. Zwar nicht die eines vornehmen Hellenen, aber doch auch nicht bloß die enge eines Rabbi in Jerusalem; von den Gedanken der griechischen Zeitphilosophie ist mancherlei an ihn

B. Paulus und das apostolische Zeitalter (ca. 125). III. Taulus. Lebensganj,' und Arbeit, y c

gelangt, und wie meisterhaft er die griechische Sprache handhabt, obwohl er daneben sicher auch syrisch gesprochen und das Hebräische verstanden hat, zeigen Stücke seiner Briefe wie I. Kor. 13, das Hohelied auf die Liebe, oder II. Kor. 4, 7 if. Er ist sogar ein großer Schriftsteller, trotz zahlreicher Fehler, die die damalige Schulmeisterei ihm nachgesagt haben würde, trotz seines Ringens mit dem Ausdruck, wodurch vieles dunkel bleibt, und trotz peinlicher Anakoluthieen, Denn, wenn er auch in der Erregung nicht selten übertreibt, ist ihm doch völlig fremd der Krebs- schaden der damaligen schulmäßigen Literatur, die Phrase; er sagt nichts, weil es schön klingt oder einen guten Eindruck zu machen verspricht, sondern alles, weil er davon, daß es gesagt wird, das Heil der Leser abhängig glaubt. Er ist groß, weil er reich ist an eigenen, großen Ge- danken.

Als Schriftgelehrter wollte der iunge Saul seine Kraft in den Dienst Bekehrung

° J ö jgj, Paulus

der väterlichen Religion stellen; um sich auf der hohen Schule dafür vor- (um 35). zubereiten, nahm er, sicherlich erst nach Jesu Tod, seinen Wohnsitz in Jerusalem. Er hatte nach gutem Brauch ein bescheidenes Handwerk er- lernt, um nicht etwa einmal sein Leben fristen zu müssen von der Reli- gion; das wurde später für ihn wächtig, wo er als Apostel sich durch Handarbeit als Zelttuchweber sein tägliches Brot erwarb und niemandem von den Brüdern zur Last fiel. Die erste Bekanntschaft mit der Messianer- gemeinde entzündete in ihm heftige Wut: welche Schande, dem aus- erwählten Volk einen Gekreuzigten als Messias aufdrängen zu wollen! Zwar machte ihn einiges, was ihm die Verhaßten von Schriftbeweisen entgegenhielten, stutzig, noch mehr wohl, was ihm von Worten und Taten des Gekreuzigten berichtet wurde und was doch so gar nicht nach Wahn- sinn und Gottlosigkeit klang; aber er verscheuchte diese Stimmen in seinem Gewissen durch ein volles Eintreten in die Aktion als Verfolger in Jerusalem und später in Damaskus. Allein hier in Damaskus schlug ihm die Stunde: der Auferstandene zeigte sich ihm und nahm ihn sofort in seine Dienste als Apostel, d. h. das Göttliche im Bilde Jesu setzte seine Anerkennung im Geiste des Paulus durch. Nun mußte er durch unermüd- liche Arbeit für Jesus wieder gut machen, was er bisher durch Zerstörung seiner Gemeinden gesündigt hatte.

Man wird aber nicht mit einem Tag aus einem erbitterten Feinde der Zus.immenstoß

. des Paulus mit

größte Apostel. So sind fast 1 7 Jahre vergangen, während deren Paulus in judaisten.

° ^ ' •' ö ö ' Apostelkonvent

Arabien, Damaskus, Syrien, Cilicien als Prediger des Messias tätig ist, als (um 52). sich herausstellt, daß er das Werk Jesu in ganz neuem Stil aufgenommen hat. Offenbar ist er damals in den Kreisen der Brüder auf Bedenken, wenn nicht scharfe Opposition gestoßen. Rasch entschlossen bringt er das Rad ins Rollen, geht hinauf nach Jerusalem, damit die dortige Gemeinde, die Zwölfe voran, ihr Urteil sprächen, ob sie ihn als echten Apostel Jesu anerkennen oder nicht. Diese Zusammenkunft, die man nicht ganz glück- lich den Apostelkonvent zu nennen pflegt, hat ungefähr im Jahre 5^

"7 5 Adolf Jülichf.r: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

stattgefunden, demnach Pauli Bekehrung etwa 35. Aus dem Bericht des Paulus Gal. 2 ersieht man, daß auf der Tagesordnung die Frage stand, ob ein Heide, der christusgläubig werde, sich beschneiden lassen müsse. Man erfährt außerdem, daß Paulus bis zu dieser Zusammenkunft keine Vereinbarungen mit den Brüdern in Jerusalem getroffen, geschweige Vor- schriften und Aufträge von dort empfangen hatte; nur einmal hatte er seit seiner Bekehrung, und zwar drei Jahre darnach, ein paar Wochen heim- lich (dies offenbar aus Rücksicht auf die widerchristliche Majorität) in Jerusalem verweilt, sich aber bloß mit Petrus ausgesprochen und den Bruder Jesu, Jakobus, flüchtig kennen gelernt. Er zog auch jetzt nicht hinauf, um sich von einem Kirchenhaupt Entscheidung zu erbitten, sondern um seinen Widersachern die fernere Berufung auf den consensus der Ur- gemeinde abzuschneiden, denn es deuchte ihm unmöglich, daß, wo der Geist Christi wohne, ihm Unrecht gegeben werde. Klug war es, daß er sich zum Reisegefährten den Titus wählte, einen von ihm bekehrten Hellenen, einen Mann von ungewöhnlicher Energie und Herrschergabe: diesem, trotzdem er nicht beschnitten worden war, den Geist abzu- sprechen, den sie, die beschnittenen Gläubigen, besaßen, ihm also die Zu- gehörigkeit zur Gemeinde abzuerkennen, wo er den Beweis des Geistes und der Kraft erbrachte, sahen sich die Führer in der Hauptstadt trotz aller Scheu vor den Konsequenzen von Gewissens wegen außerstande.

Paulus hatte richtig gerechnet. Die „Falschbrüder" verlangten zwar unbedingte Beobachtung des Gesetzes von jedem Messianer der Name „Christen" mag damals von griechischen Antiochenern aufgebracht worden sein, wenn ihn Paulus auch noch nicht gebraucht , also vor allem andern die Beschneidung. Die Apostel aber, die dazu doch lange genug an Jesu Seite gewandelt waren, empfanden bei dem NichtJuden Titus etwas mehr von dem Gemeinsamen als von dem Trennenden. Für eine Nach- giebigkeit gegen die Eiferer um des Friedens willen, die vorgeschlagen wurde, war Paulus nicht zu haben, weil er als Einziger deutlich sah, was auf dem Spiele stand; so trennte man sich mit der gegenseitigen Anerkennung göttlichen Auftrags für Paulus bei seinem Heidenevange- lium wie für Petrus und Genossen bei ihrem Beschneidungsevangelium. Nicht als ob Petrus sich bereit erklärt hätte, fortan die Beschneidung als eine für den Glauben gleichgültige Sache zu behandeln; er hielt an seinem Auftrage fest, der auf Gewinnung von Beschnittenen lautete. Aber wenn Paulus vom Auferstandenen mit anderem Bescheid zu den Heiden gesandt worden war und seine Erfolge, von denen man schon früher öfters mit Dank gehört, die Wahrheit seiner Sendung bestätigten, so fügten sich die Leiter in Jerusalem in das Unverstandene und Paulus war im Kampf mit den Fanatikern des Judaismus Sieger geblieben. In Jerusalem hat man diesen Standpunkt auch weiterhin loyal festgehalten; das sog. Apostel- dekret (Apgesch. 15, 28 f.), das zwischen 52 und 59 dort fixiert worden sein dürfte, will den Brüdern aus den Heiden keine weitere Last auf-

B. Paulus und ihis apusloliscbe Zeitalter (—ca. 125). III. Paulus. Lcbcnsfjang und Arbeit. yy

erlegen als Enthaltung von „Hurerei, Götzenopferfleisch, Blut und Er- sticktem": mithin nur so weit ein Entgegenkommen gegen jüdische wSitte, daß die Gemeinschaft zwischen jüdischen und heidnischen Bestandteilen einer Ortsgemeinde nicht zerschnitten war. In Wirklichkeit war damit aber der Judaismus grundsätzlich überwunden; denn wenn der Zutritt zu dem erhofften messianischen Reich für Heiden nicht abhing von Beobachtung auch nur der P'undamentalgebote des Mosaismus: unter welchem Titel wollte man dann Juden, welche gleiche Freiheit für sich beanspruchten und etwa meinten, daß für ihre Kinder Beschneidung nicht mehr nötig sei, sondern die Taufe als Eintrittssakrament genüge, diesen Zutritt verweigern? Die Extremen der jüdischen Partei haben denn auch Paulus seinen Sieg nie verziehen; fortan verfolgen sie ihn sein Leben lang und suchen in seinen Gemeinden, sobald er weitergezogen ist, ihr Banner aufzupflanzen, mit sehr verschiedenen Mitteln, bald offen die Prinzipienfrage aufrollend, bald vorsichtig mit böser Verdächtigung bloß die Person des Apostels angreifend, immer aber das Ziel vor Augen: die Festhaltung des Juden- tums innerhalb der neuen Religion. Wir werden diese Männer glimpf- licher als Paulus beurteilen; ihr Patriotismus entschuldigt sie, und die Argumente, die Paulus aus dem Alten Testament zur Stütze für sein Heidenevangelium beibrachte, konnten ihnen nicht sonderlich imponieren. Aber an ihrem Untergange hing die Zukunft des Christentums, und Jesus hätte, obgleich er die Frage nach der Entbehrlichkeit der Beschneidung für ein Mitglied des Reichs nie zu beantworten Anlaß hatte, sie als Erben seines Geistes nicht erkannt.

Dem Heidenapostel wuchsen, seitdem er den Krieg gegen zwei Weitmissions-

fahrteii des

Fronten zu führen hatte, die Schwingen. Ruhelos durchwandert er den i'.^uius. Orient von Antiochia aus durch Kleinasien, Macedonien, Achaia und auf andrer Route nochmals bis zu seinen westlichen Grenzen; er gründet in vielen größeren Städten christliche Gemeinden, deren Gedeihen er mit väterlicher Fürsorge beobachtete. Keine bittere Erfahrung lähmte seinen Mut. Als er, spätestens im Winter 58/59, die Erträge einer großen Sammlung in seinen Gemeinden für die Armen in Jerusalem dort abzuliefern unter- wegs war, schrieb er nach Rom, er hoffe bald zu ihnen zu kommen, denn da seine Arbeit im Osten jetzt vollendet sei, wolle er von Jerusalem über Rom nach Spanien reisen, natürlich um auch dem äußersten Westen das Licht des Evangeliums noch leuchten zu lassen, ehe der „Tag des Herrn" hereinbreche.

Seine Pläne wurden arg gestört. Er ist in Jerusalem durch jüdische Ende des Paulus

. , ("11 64».

Intrigen gefangen genommen und dem Prokurator überliefert worden; nach

langer Haft in Cäsarea hat ihn Festus endlich etwa im Herbst 61 nach Rom transportiert, wo er vom Kaiser gerichtet werden wollte; die An- kunft verzögerte sich infolge von Schiffbruch, der Bericht des Lukas Apgsch. 28 schließt mit der Notiz, Paulus habe zwei Jahre in Rom unter militärischer Bewachung, mithin relativ frei, das Reich Gottes verkündigen

yS Adolf JÜLICHER: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

können. Briefe von ihm aus dieser Zeit, wie der an die Kolosser, den Philemon, die Philipper bestätigen das, zeigen zugleich, wie seine Stimmung damals wechselte zwischen Müdigkeit bis zur Todessehnsucht und fröh- licher Zuversicht auf Freisprechung und neue Apostelfahrten. Plötzlich aber verstummen unsre Quellen. Mir ist das Wahrscheinlichste, daß nach den zwei Jahren der Prozeß in Rom zuungunsten des Paulus entschieden worden ist, vielleicht erst im Zusammenhange mit den im J. 64 nach dem Brande der Stadt von Nero unternommenen grausamen Mißhandlungen römischer Christen. Andere meinen, Paulus sei damals freigesprochen worden, auch nach Spanien gereist, später aber nochmals in Haft gelangt und nun als Märtyrer gestorben. Spuren hat diese recht zweifelhafte Schlußperiode seines Lebens jedenfalls nicht hinterlassen; aus der Ge- schichte verschwindet Paulus um 64. Und außer Zweifel steht, daß er unter Neros Regierung dem Henker verfallen ist. Ertrag der Die Frucht seincs Lebens läßt sich nicht in Zahlen ausdrücken; ob

Apostels, die Zahl der Christen im J. 64 sich schon auf 30000 belaufen hat, wird niemand ergründen. Aber absurd ist die Behauptung, es sei womöglich im ganzen ersten Jahrhundert noch kein echter Heide für Christus ge- wonnen worden, sondern außer Juden höchstens Proselyten. Nein, die von Paulus gestifteten Gemeinden haben, wie seine Briefe lehren, über- wiegend aus unmittelbar vom Heidentume hergeholten Seelen bestanden: bei seinem Tode war die Gemeinde der Messianer, die er als bescheidene Judensekte vorgefunden hatte, zu einer Kirche, in der die Hellenen die Mehrheit bildeten, umgestaltet. Und ausdrücklich war die Lossagung vom Judentum erfolgt durch Beseitigung aller Ansprüche des Mosegesetzes; was Paulus zurückließ, war eine Weltreligion, nicht sowohl wegen ihrer Verbreitung als nach ihrem Wesen, das keine nationale Schranke mehr anerkannte und die Offenbarung in Jesus als den Maßstab aller Gottes- offenbarung nahm. Eine gewaltige Tat hatte der kränkliche, arme, ruhe- los umhergehetzte Jude aus Tarsus vollbracht; auch die Urgemeinde hat sich dem Findruck seiner Größe nicht zu entziehen vermocht. Freiwillig wandert bald nach 52 Petrus nach Antiochia und vergißt dort in der Freude über die Menge der gläubig gewordenen Fremden seine jüdischen Speisevorschriften; später hören wir, daß Petrus ähnlich wie Paulus missio- nierend durch die Länder zieht; auf einer dieser Fahrten mag er ja dann seinen Tod in Rom gefunden haben. Man fühlt also sogar in Jerusalem, daß der Boden von Judäa aufgehört hat, der für den Christusglauben er- giebigste zu sein; es hätte schwerlich des Ausbruchs des großen jüdischen Krieges im J. bb und der Zerstörung der Hauptstadt im J. 70 bedurft, um die noch übrigen Mitglieder des ältesten Jüngerkreises zum Aufsuchen neuer Arbeitsgebiete in der Diaspora zu bewegen; Rom und Asien wur- den von ihnen bevorzugt, weil sie eher erwünschten Anschluß an eine freier gerichtete Judenschaft versprachen. Mit Paulus war der Geist der neuen Religion aus dem jüdischen Vaterlande hinweg und in die weite

B. Paulus und das apostolische Zeitalter ( ca. 12 5). IV. Religion und Theologie des Paulus, rq

Welt hinaus g-ezogen, hatte sich losgemacht von der Scholle äußerlich zu- gleich und innerlich. Wie sich aber im Geiste des Paulus dieser Fort- schritt vermittelt hat und wie religionsgeschichtlich seine Position im Verhältnis zu der Stellung Jesu zu beurteilen ist, erfordert noch eine die Hauptsachen zusammenfassende Darstellung.

IV. Religion und Theologie des Paulus. Mit der ihm eigentüm- Das Evangelium

T^ -r^ T-»i i*'i*ii- ^^^ Paulus das

liehen Energie des Denkens hatte Paulus von vornherein sich nicht damit wort vom zufrieden gegeben, Entschuldigungsgründe für den eigentlich programm- widrigen Tod des Messias aufzufinden und zu sagen: trotz des Todes ist Jesus der Messias. Nicht trotz, sondern wegen seines Todes ist er's, lautete sein Bekenntnis. Aus dem scandalum für den Juden Saul wurde für den Christen Paulus der einzige Heilsgrund: unter dem Titel „das Kreuz des Messias" faßte er das ganze Evangelium zusammen. Natürlich konnte, wenn selbst die Auferstehung für ihn neben dem Kreuzestod keiner aus- drücklichen Erwähnung bedurfte, dieser nicht ein Erlebnis sein wie sonst Leiden eines Frommen; in radikaler Durchführung einer Idee, der sich die theologische Reflexion der Urgemeinde schon genähert haben mochte, er- klärte Paulus, dieser Tod sei die conditio sine qua non der Erlösung des Menschen: ohne Christi Tod für uns keine Vergebung der Sünden, ohne Sündenvergebung- keine Zulassung zum nahen Gottesreiche.

In den schwärzesten Farben schildert er zu dem Zwecke die aus- Christi Tod nahmslose Herrschaft der Sünde über das gesamte Menschengeschlecht, von sünde und

Tod.

die seit Adams Fall nur immer entsetzlichere formen angenommen hat; der Sünde aber folgt nach ewigem Gesetz auf dem Fuße der Tod; soll der beseitigt werden und ein Gottesreich, an dessen Untertanen der Tod noch Anrechte hatte, wäre für Paulus eine Absurdität, das Gottesreich ist ewiges Leben , so muß zuvor die vSünde fortgeschafft sein. Diese Fortschaffung kann nur einem Sündlosen gelingen, und dies Prädikat stand für den paulinischen Messias von vornherein fest, so fest wie das ewiger Lebendigkeit. In der Tat hat Jesus dem Zwillingspaar Sünde und Tod durch sein Sterben den Garaus gemacht: mit halsbrecherischer Rabulistik weiß Paulus die Mißhandlung des unschuldigen Jesus jenen beiden als die Übersünde aufzubürden, um derentwillen sie nach ihrem eignen Rezepte gestraft werden müssen; nach solcher Gewalttat haben Sünde und Tod ihre Existenz verwirkt. Daß man von dieser Wirkung des Todes Jesu auf Erden bisher noch wenig merkt, da sogar eine Menge von Gläubigen bereits entschlafen sind, und doch auch unter den Anhängern der neuen Religion die Sünde nach wie vor bekämpft werden muß, stört den Paulus nicht in seiner Überzeugung. Gottes Mühlen mahlen langsam, der Spruch ist gefällt und muß au.sgeführt werden: mit felsenfestem Vertrauen sieht er dem Tage entgegen, wo mit der letzten Sünde auch der Tod aus der Welt verschwindet, nicht etwa dadurch, daß alles sich in Nichts auflöst, was ja gerade der höchste Triumph des Todes wäre, sondern dadurch, daß alles

8o Adolf Jülicher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

voll ausgefüllt wird von göttlicher Lebenskraft, Gott alles in allen. Die Menschen sind vorher, wie er Rom. 1 1 entzückt w^eissagt, allesamt ge- rettet, d. h. durch Christus erlöst worden, zuerst die Heiden, nach ihnen der Rest von Israel. Dann ist die Menschheit reif, um den Christus in seiner Herrlichkeit in ihrer Mitte zu begrüßen. Die getreue Menschheit an seiner Seite, führt dieser den Vemichtungskampf gegen die Heere der bösen Geister, den Satan, den Tod zu Ende, um dann selber zurück- zukehren in Gott. Das ist der Abschluß des Erlösungsprozesses, der in verschiedenen Stadien verläuft, aber immer aufwärts, und der anhebt auf Golgatha. Apokalyptische Phantasieen, in die sich hier die Reichshoffnung trotz aller Lebhaftigkeit und Bestimmtheit der Sehnsucht aufzulösen scheint, und doch wie erhaben! Da bleibt kein Raum für eine Hölle mit ewigen Qualen der Verdammten, nicht einmal dem Satan wird ewige Pein zu- gedacht: die von der Sünde nicht lassen konnten, versinken eben in den Tod, d. h. in das Nichts, und wenn kein Objekt für diesen Vemichter mehr übrig ist, ist er sich selbst anheimgefallen; auf dem Platz bleiben nur Gott und die Guten. Was aus der Erde wird, in welchem Räume wir das neue Leben von Christi Parusie an führen werden, womit die Seligen im neuen Aon sich beschäftigen, das alles sind für Paulus unter- geordnete PYagen; religiös wichtig ist nur der unbedingte Optimismus, mit dem er die weitere Entwicklung betrachtet; und die Unbegrenztheit seines Erlösungsgedankens. Die Erlösung kommt nicht bloß aller Mensch- heit zugute, sondern sogar der ganzen untermenschlichen Kreatur. Diese braucht zwar nicht von der Sünde erlöst zu werden, für die sie ja, weil ohne Bewußtsein, nicht zugänglich ist; aber der „Eitelkeit", der Vergäng- lichkeit ist auch sie unterworfen worden im Zusammenhang mit dem Fall der Menschheit, der das Paradies in eine Stätte des Elends verwandelte: mit ergreifender Innigkeit spricht Paulus Rom. 8 von dem Seufzen und Sehnen der Kreatur nach Wiederherstellung' ihres Urstandes, welche ab- hängt von der Erlösung der Menschen. Ist diese Bedingung erfüllt, so wird es in aller Welt kein Sterben mehr geben, die Rosen blühen ewig- lich, und kein schwarzes Gewölk hindert die Sonne zu leuchten und die Sterne zu funkeln. Die Kräfte versagen uns sogleich beim ersten Ver- suche, diese Mystik in Wirklichkeit umzudenken; aber be wundem werden wir nicht nur den Dichter in Paulus, mehr noch den religiösen Denker. Kriösunjc der In SO großem Stil nimmt er den Begriff der Erlösung, daß er sie gar

nicht auf das religiös-sittliche Gebiet zu beschränken vermag. Wo etwas leidet, um Verlorenes trauert, vor drohendem Untergang sich fürchtet, muß ihm Erlösung zuteil werden, denn der Messias Gottes tut keine halbe Arbeit. Diese Erlösung kann bei der „Natur" und für uns Menschen, soweit auch wir der Natur zugehören nur in einer vollständigen Um- wandlung des Wesens bestehen: so verständig war Paulus bei aller Schwärmerei, um zu begreifen, daß der Säugling, der Löwe, die Rebe, der Tropfen am Eimer nicht so, wie sie mir eben erscheinen, mit ewigem

H. I'iiulus und (ias apostolische Zeitallcr (- ca. 125). IV. Relifjion und Thoolofjic dos T'aulus. gj

l.eben ausgestattet werden können. Kr braucht dafür den Ausdruck: sie hören auf fleischhch zu sein und werden geistUch, pneumatisch. Ver- gänghchkeit und Fleisch sind Wechselbegriffe, eins vom andern schlecht- hin unlösbar, darum für Paulus das Dogma von der Auferstehung des Fleisches barer Unsinn. Das Fleisch gehört für seine spekulative Welt- anschauung gar nicht zum Wesen des Menschen, überhaupt nicht zum Wesen irgend eines Stückes der Schöpfung Gottes, denn Gott hat nach seinem Bilde geschaffen, und was er schuf, war gut: die Fleischlichkeit ist erst mit der Sünde in die Welt gekommen, wird daher auch mit ihr wieder aus der Welt verschwinden. Geschaffen hat mich Gott als Seele und Leib; dieser ist an sich nicht fleischlich, er ist es erst geworden, als die Sünde mich erobert hatte; da brach über mich das Trieb-„leben" herein, mit diesem fürchterlichen Drängen nach Veränderung, nach Neuem, mit dieser Un- ruhe und Unzufriedenheit, die in ihrer Gier nach Leben nur auf die Selbst- vemichtung losrast. Gottes Absichten mit mir, die durch Christi Er- lösungswerk auf riesigen Umwegen um so großartigere Erfüllung finden, entspricht ein Dasein in Gottähnlichkeit; ich werde es kennen lernen, wenn ich das Fleisch ausgezogen habe und dafür umkleidet worden bin von der himmlischen Materie, aus der der Geist ist, für irdische Augen unsichtbar, aber doch noch Materie, eine Art feinsten Äthers, von Paulus meist böEa genannt: Herrlichkeit, Glorie, oder einfach die Substanz Gottes selber.

Ein Blick auf diesen grotesk anhebenden, aber grandios endenden Gedankenzug wird klar machen, wie Paulus Apostel der Heiden geworden ist. Sobald er den Gedanken von dem Erlösungswert des Todes Christi mit den Ansprüchen, die seine Weltanschauung an eine Erlösung stellte, durchgedacht hatte, war für ihn eine Beschränkung des Heils auf ein kleines Völkchen, wie es die Juden waren, unerträglich. Entweder alles oder nichts; da der Mensch durch Sünde und Tod der Erlösung bedürftig geworden ist, nicht bloß der Jude, muß auch dem Menschen, nicht bloß dem Juden, das Erlösungsw^erk zugute kommen: auf darum, dies Evange- lium, solange es Zeit ist, denen zu verkünden, denen man es bisher vor- enthalten hat! So hallte es wider in seinem Gewissen, darum zog er aus zu den Heiden, und er hätte auch den Bäumen im Walde und den Steinen am Weg die Erlösung verkündigt, wenn eins von ihnen der An- bietung erst noch bedurft hätte.

Aber bei aller Mächtigkeit ist dies erst die eine Linie, die Paulus Christi Tod

. , .-r^.,.,. _. . _. unsre Versöh-

vom lode des Messias in die Ewigkeit hinaufzieht; eine andre, für ihn nung mit Gott, nicht minder wichtige, läuft daneben her. Warum hat Gott denn auf so viele Jahrhunderte hinaus seine Schöpfung ihren grausamen Feinden ausgeliefert statt die Sünde sogleich mit allmächtigem Arm zu zer- schmettern, warum hat er überhaupt ihre Entstehung zugelassen? Auf die zweite Frage weiß Paulus keine Antwort ; es steckt da in seinem Welt- bild ein Einschlag von Dualismus, den erst seine Eschatologie mühsam

DiK Ki:LTfR DKR GEGENWART. I. 4. 6

82 Adolf JÜLICHER : Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

Überwindet: gekommen ist das Böse nicht von Gott und nicht aus dem Menschen selber, sondern von außen an ihn heran, an den Menschen vielleicht durch den Verführer Satan; aber woher an diesen, der doch nicht von Ewigkeit her als eine Art böser Gott existiert hat? Das andre Warum dagegen erledigt ihm seine jüdische Theologie: Gott hat nicht geholfen, weil der Mensch durch die Übertretung seinem Zorn verfallen war, und weil die Gerechtigkeit, welche Schuld nicht unbestraft läßt, wie die Wahrhaftigkeit, die keine Drohungen zum Spaß ausspricht, Gott ver- pflichteten, den furchtbaren Ernst seines Zümens der Welt vor die Augen zu halten. Der Zorn Gottes, trotz aller Langmut und Freundlichkeit, die er im einzelnen betätigte, der entscheidende Zug in seinem Verhalten zu den sündhaften Menschen, hatte bei diesen einen förmlichen Abfall von Gott, offene Auflehnung zur Folge; nicht bloß ab und zu ließen sie sich von der Leidenschaft übermannen, sondern gaben durch alle Arten von Frevel und durch Verleugnung Gottes in dem elendesten Götzendienst ihrem Haß gegen ihn geflissentlich Ausdruck. Gott und die Menschheit liegen seit Adams Fall im offenen Krieg. Die Juden machen davon keine Ausnahme, selbst die nicht, welche die Schuld der Götzenanbetung nie auf sich geladen haben; auch von ihnen gilt der Satz: „Da ist keiner, der Gutes tue", alle gleich rettungslos der Sünde verfallen, ja, alles Tun aller ist nichts als Sünde! Diesem Zustand hat Christi Tod ein Ende gemacht: er hat Gott versöhnt, seinen Zorn für immer in Liebe verwandelt und dadurch die Wege geebnet, die zu ewigem Frieden zwischen Gott und der Menschheit führen. Diese Versöhnung hat aber nach dem oben Bemerkten durch eine objektive Leistung stattfinden müssen, nicht etwa durch Um- stimmung Gottes und Fürbitte: Christus ist als Sühnopfer gestorben, er hat die Strafe für die Sünden der Menschheit auf sich genommen; da- durch ist der Gerechtigkeit Gottes Genüge geschehen. Die Satisfaktions- lehre auf Grund der Stellvertretungstheorie ist im paulinischen Gedanken- gefüge unentbehrlich: nicht bloß uns zu Liebe, sondern an unsrer Statt ist der Erlöser gestorben; als das erste völlig unschuldige Glied der Mensch- heit in Gottes Augen ein zureichender Ersatz für die nun zu erlassenden Strafen unzähliger Schuldiger. Eine wieder fast abschreckende juristische Rechnerei; allein wieder führt sie uns hinein in die tiefsten religiösen Ideen des Apostels. HeiJsnotwendig- Stellvertretung kann man nämlich nicht leisten ohne Wissen und Willen

keit des

Glaubens, des Vertretenen. vV ie die Erlösung wohl der Menschheit, doch darum noch nicht allen Menschen, z. B. dem Kaiphas und dem Judas nicht, zuteil wird, so wird zwar durch Christi Tod die Menschheit mit Gott versöhnt, aber aus der Menschheit doch auch nur die Personen, die sich von ihm versöhnen lassen, die sich in solche Beziehung zu ihm setzen, daß er sie einschließt in die Schar der von ihm Vertretenen. Diese Beziehung wird hergestellt durch den Glauben, den Glauben an Jesus Christus. Das Geringste in diesem Glauben ist der Akt des Intellekts, der etwa die paulinische Auffassung vom Heils-

B. Paulus und das apostolische Zeitalter (—ca. 125). IV. Religion und Theologie des Paulus, ß^

werke Christi plau.sibel findet; hinzukommen muß die Tat de.s Willen.s, durch die der Mensch sein ganzes Vertrauen auf Christus setzt, ihm sein Opfer da- durch dankt, daß er sich nun auch ganz in seine Arme wirft, nichts anderes als von ihm abhängig sein will, ihn bittet, sich als seinen vSklaven be- trachten zu dürfen. Der Name „Herr", der im Alten Testament Gotte vorbehalten wird, ist bei Paulus der Lieblingsname für Jesus, ihm noch wichtiger als der Name Messias-Christus, und natürlich für hellenische Hörer des Evangeliums viel leichter zu erklären und sittlich fruchtbar zu machen. Aber Piiulus w^eiß, daß jeder Name und jede Formel bloß ein Stück Wahrheit enthalten. Der Glaube nennt Christum nicht den Herrn im gewöhnlichen Sinn des Worts; er weiß sich durch diesen Herrn befreit nicht zu dem Zweck, daß er in andre Knechtschaft eintrete: dieser „Herr" verlangt von seinen Knechten nur eine Dienstleistung, daß sie ihn, seinen Geist, seine Unschuld, seine Herrlichkeit der Reihe nach annehmen, daß sie sich mit ihm mehr und mehr vereinigen, dadurch auch untereinander eins werden, lauter Glieder an einem Körper, wo er, Christus, das Haupt darstellt. Die Christusmystik, die hier einsetzt, kennt keine Grenzen: an Christum glauben heißt in Christus sein; die lokale Zusammengehörigkeit wird dabei durchaus ernst genommen, mit der Seele im Himmel bei dem verklärten Heiland, oder so, daß dessen Geist, unendlicher Teilung fähig, sich in die Gläubigen auf der Erde hemiedersenkt. Gläubig werden heißt Christum nacherleben, Christi Sterben, Christi Auferstehung, Christi Er- höhung zur Rechten Gottes. Der Wandel im Glauben ist ein Vergottung.s- prozeß, erhaben beschrieben IL Kor. 3, i8: „Wir alle, die wir auf unver- hülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn widerspiegeln, werden in das gleiche Muster (schon jetzt auf Erden!) umgewandelt von einer Herr- lichkeit zur anderen, als von dem Herrn aus, der Geist ist." Wer aber so eng mit dem geliebten Sohne Gottes verbunden ist, wie konnte der vor Gott noch Furcht haben, was konnte seinen Frieden stören?

Das Gefühl der Heilssicherheit wird bei Paulus zur Unerschütterlichkeit Prädestinations- gesteigert durch seine Gnaden wahltheorie: jeder Gläubige ist nach ewigem Ratschluß Gottes zum Heil auserwählt, so daß jedes Wiederverlieren des Gewonnenen so abenteuerlich wäre wie das Mißlingen eines göttlichen Planes oder ein Irrtum bei dem Allweisen. Die, welche nicht zum Glau- ben und dadurch zum ewigen Leben, das es außer Christus nicht gibt, gelangen, haben kein Recht sich zu beklagen, sie empfangen im Tod, was ihre Taten wert sind; da sie, nachdem sie dem verdienten Nichts an- heimgefallen sind, auch nicht einmal für unser Mitleid existieren, hat der Prädestinatianismus des Paulus nicht den Anstrich von Grausamkeit wie bei späteren Kirchenlehrern, er ist lediglich mächtige Stütze der Heils- zuversicht unter denen, die sich mit Christus eins wissen. Nur kann dieses Wissen nicht Selbsttäuschung sein? Für den Glauben eines Paulus nicht, denn die Anzeichen der Umgestaltung des alten Sündenknechts in einen Christusträger waren zu sicher; ob mir die Sünden vergeben worden

g/i Adolf Jülicher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

sind, ob Gott mich als gerechtfertigt ansieht oder nicht, darüber könnte ich zweifeln; aber nimmermehr darüber, ob ich den Geist Christi empfangen habe, der sich auf verschiedene Weisen, z. B. in Wunderkräften, Zungen- reden, Heilungsgaben, Offenbarungen äußert, unter allen Umständen jedoch als das direkte Gegenteil von der Art des fleischlichen Menschen. Während in diesem die Sünde haust und die niedrigsten Begierden entfesselt, hat den Christusmenschen die Lust am Guten ergriffen: er kann gar nicht anders als in Christi Fußtapfen den Willen Gottes tun, „das Gute, Schöne, Vollkommene" (Rom. 12, 2). Antinomisraus. Hier würdc nun ein Judenchrist eingesetzt haben: Ja wohl, nun endlich

den Willen Gottes tun, das Gesetz Gottes erfüllen. Doch empört hätte ihm Paulus geantwortet: Zur Freiheit hat Euch Christus befreit, nicht damit Ihr Euch abermals knechten lasset! Seine Stellungnahme frappiert zunächst, denn warum soll die Erfüllung des Gesetzes, in dem ja doch Gott seinen Willen offenbart hat, für den Menschen eine unwürdige Sklaverei darstellen, wenn er so stolz darauf ist, Christi, somit erst recht Gottes Knecht zu sein? Aber die Dialektik des Apostels verfährt folgerichtig. Erfüllung des Ge- setzes, Tun der Gebote bedeutet in der ganzen Geschichte der Religion, die er übersieht, nur den Erwerb der Gerechtigkeit, des Heils aus eigener Kraft. In einer Religion aber, die alles, Vergebung der Sünden, Fähigkeit das Gute zu tun, Gewinnen von Leben und Seligkeit aus Christi Tod ableitet, auf deren Fahne das „Christus allein" prangt, bleibt für jene Gesetzesgerechtigkeit kein Platz. Hätte sie auch nur einem Einzigen wirklich ausgereicht zum Heile, so würde dieser ja für sich Christum nicht bedürfen, und damit wäre die Absolutheit des Heils in Christus zerstört. Und nicht einmal ein Sowohl Alsauch kann Paulus dulden, etwa ein Gerettetwerden durch Glauben und Halten der Gebote; denn wiederum würde dadurch die Größe des Werkes Christi zerstört, als ob es nur ein Faktor unter anderen wäre, der uns bei der Errettung mit hülfe. Ebenso energisch wie er im Briefe nach Kolossae die dort aufgetauchte Neigung tadelt, einen Kultus von Engeln oder sonstigen überirdischen Mächten zuzulassen, weil es für den Gläubigen nur einen Herrn geben darf, durch den das All besteht und insbesondere wir durch ihn, muß er auch eine Herrschaft des alten Gesetzes neben der Herrschaft des neuen Christusg'eistes ausschließen. Daß das Gesetz in seiner Ohnmacht vor Christus keinen Menschen zur wirklichen Erfüllung seiner Ansprüche befördert hat, steht ihm durch die Schriftlehre von der allgemeinen Sündenverderbnis der Menschheit außer Zweifel; daß dies Ohnmächtige plötzlich nach Christus, wo eine Zeit der Kraft für den Menschen ang-ebrochen ist, in der Religion eine unentbehrliche Potenz darstellen sollte, leuchtet ihm erst recht nicht ein. Es ist ja auch kein Bedürfnis nach solchen Krücken mehr vorhanden, wo man durch Christus frei zu laufen gelernt hat. Und mit der Schwierigkeit, die die Zugehörig- keit des Gesetzes zum heiligen Buch ergab, findet sich Paulus durch einen kühnen Handstreich ab: gewiß ist das Mosegesetz mit all seinen Zeremo-

R. Paulus und das apostolische Zeitalter ( ca. 125). IV. Religion und Thcolofjlc des Paulus. 8^

nialgeboten von Gott offenbart und bedeutet wie alle übrig-e Offenbarung- eine großartige Bevorzugung des israelitischen Volkes; aber Gott hat es nicht offenbart in der Meinung, es könne und werde einmal gehalten werden, sondern gerade um durch die von ihm vorausgewußte Unerfüll- barkeit in den Juden die Sehnsucht nach dem Heiland zu erwecken; die geschichtliche Bestimmung des Gesetzes war die eines Erziehers auf Christus hin. Mit Christi Kommen ist die Rolle des Erziehers ausgespielt; das Gesetz gilt nicht mehr, ein Größeres bildet überreichlichen Ersatz. Dies nicht etwa bloß der Form nach, so daß wir als Gläubige zwar all das täten, was das Gesetz vorschreibt, aber nicht darum, weil es im Gesetz steht, sondern weil der Geist Christi es uns eingibt; nein, inhaltlich ist die neue Sittlichkeit und Religion von der durch das Gesetz normierten fundamental unterschieden; alle Leistungen bloß um der Leistung willen wie Beschneidung, Opfer, Reinigkeits Vorschriften sind für den Gläubigen sittlich indifferent oder gar, wenn mit irgend einem Anspruch geübt, gottlos. Was jetzt gut heißen will, muß sich als aus dem Prinzip aller Sittlichkeit, der Liebe zu Gott und zum Nächsten, geflossen erweisen; und nicht von draußen darf ich mir die Maßstäbe für mein Handeln holen, sondern aus meinem Gewissen, das der Geist des Herrn schon nicht irre gehen lassen wird. Weil aus meinem Gewissen allein, kann so der Fall eintreten, daß für mich Sünde ist, was es für einen anderen nicht ist, z. B. teilnehmen an heidnischen Festen, Fleisch essen, Wein trinken: an sich durchaus unan- stößig, aber, sobald mein Gewissen daran Anstoß nimmt und ich es trotz- dem übe, vielleicht dem Beispiel andrer oder ihrer Lehre, und wenn es auch die eines Apostels oder Engels wäre, folgend, ein Frevel.

Rückwärtsschauend erkennen wir Heutigen, daß ohne die Eliminie- Das Christentum

Weltreligion.

rung des Mosegesetzes aus der neuen Religion ihre Erhebung zur Welt- religion nicht durchführbar gewesen wäre; eine mit so viel Ballast, wie dies Gesetz ihn mitschleppt, behängte Sittlichkeit hätte die höher ent- wickelte griechisch-römische Kultur nimmermehr für sich gewonnen. Aber Paulus hat diese Eliminierung nicht aus praktischen Rücksichten vollzogen, um sich die Propaganda zu erleichtern. Eher mag auf ihn, ihm unbewußt, eingewirkt haben ein aus der griechischen Atmosphäre mitgenommenes Gefühl des Respekts für sittliche Ideale und Persönlichkeiten auch in der außerjüdischen Menschheit; er mußte ehrlicherweise (Rom. 2, i4f. u. Phil. 3, 8) im Menschenherzen einen trotz aller Fleischesmacht unausrottbar verblie- benen Zug zum Guten und Edlen anerkennen, sowenig dies Gute und Edle vielleicht mit mosaischen Grundgeboten übereinstimmte. Als Christ aber wird er sich öfter von seinem Gewissen er nannte es den Geist des Herrn gezwungen gesehen haben, etwas zu unternehmen was das Gesetz ihm verwehrte, und etwas zu unterlassen was das Gesetz freistellte; daher die Einsicht, daß der Wille Gottes nicht ohne weiteres mit dem im Ge- setzesbuchstaben eingeschlossenen Sittenkodex zu identifizieren sei. Allein den Mut zum völligen Bruch mit dem Gesetzesdienst hat er nur aus seiner

86 Adolf Jülicher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

Religion gewonnen: die Religion hat hier den kolossalen Aufschwung von der heteronomen Gesetzesknechtschaft des Pharisäismus zu der autonomen Freiheit des Christenmenschen veranlaßt; weil Paulus von seinen reli- giösen Grundthesen: „Kein Heil außer Christus" und „Alles Heil allein durch Christus" nichts abmarkten lassen durfte, mußte der Konkurrent Christi, das Gesetz, gefallt und für das sittliche Handeln des Menschen die alleinige Abhängigkeit von dem Christus in ihm stabiliert werden. Das „sola fide" des Paulus, noch heut erbärmlich mißverstanden als ein Ruhepolster für sittliche Trägheit, ist in Wahrheit das Triumphgeschrei der Allianz zwischen Religion und Sittlichkeit, des Sinnes: keine Sittlichkeit mehr ohne Religion, ohne das Gefühl der eigenen Ohnmacht, ohne die Er- fahrung vom Widerstreben der Natur, der Begierde wider das Ideal, das Göttliche, ohne Abhängigkeit von Übermenschlichem, von göttlicher Gnade, die mir freiwillig schenkt, was ich zum Heile bedarf; aber ebenso auch keine Religion mehr ohne Sittlichkeit, ohne die Frucht eines neuen Lebens, in der Kraft, in der Freiheit, in der sich selbst überwindenden Liebe. Neue Christo- Schlechthin christozentrisch ist die Religion des Paulus, das haben

logie des Paulus.

wir bei unsem Wanderungen durch die weiten Kreise seiner Erlösungs- und Versöhnungslehre mit allem, was daran hängt von Vorstellungen über Gott und Mensch, über Gottes Willen und unser Verhältnis zu ihm, deutlich wahrgenommen. Daß der Christus, der so die Welt aus den Angeln hebt, in der Vorstellung des Paulus kein gewöhnlicher Mensch gewesen sein kann, versteht sich von selbst. Zwar von einer übernatürlichen Erzeugung weiß er noch nichts: der Halt seines Glaubens ist nicht was Christus auf Erden gewesen ist, sondern was er nach vollbrachtem Heilswerk geworden ist, der majestätisch im Himmel thronende Gottessohn. Wenn er Christus als Nachkommen Davids ansieht, so hat er das nicht historisch begründen können; für ihn stand a priori fest, daß der Messias Davidide war. Aber Jesus ist nach Paulus doch noch etwas anderes als ein mit den höchsten Aufträgen Gottes ausgestatteter später Sproß des glorreichen Königshauses, er hat als Sohn Gottes längst, ehe es Menschen gab, im Himmel existiert. Auch in die Geschichte hat er bereits in Urzeiten eingegriffen: der Felsen, aus dem beim Zug durch die Wüste, so oft Moses mit dem Stab daran schlug, Wasser für das dürstende Volk quoll, und der so wunderbar immer zur Stelle war, wenn Wasser fehlte, war der Christus (L Kor. lo, 4); den Urmenschen, den Gott sich zum Ebenbilde (Genes. 1,26) erschuf, scheint Paulus auf Christus gedeutet zu haben; Christi Teilnahme an der Welt- schöpfung wird L Kor. 8, 6 unleugbar vorausgesetzt. Kräftiger noch be- tont der Kolosserbrief die kosmologische Bedeutung Christi, wo er der „Erstgeborene aller Kreatur" heißt, übergeordnet als solcher schon allem, was von unsichtbaren Mächten und Gewalten Einfluß auf unser Schicksal üben könnte. Aber auch im Philipperbrief Kap. 2 wird unzweideutig die Präexistenz Christi Jesu in Gottesgestalt gelehrt: erst als die Zeit gekom- men war, legte er diese ab und nahm als Mensch Knechtsgestalt an, um

B. Paulus und das apostolische Zeitalter ( ca. 125). IV. Religion und Theologie des Paulus. 87

in demütigem Gehorsam zugleich sich den Lohn der Erhebung zum „Herrn" zu verdienen und uns ein Vorbild zu hinterlassen. Die Kombination der- artiger Aussagen mit der tiefsinnigen Idee Rom. 5, 12 ff., wo Christus als zweiter Adam eingeführt wird, von dem lauter Gerechte und Selige ab- stammen, wie von dem ersten lauter Sünder und Kinder des Verderbens, liegt nahe. Christus ist der Himmelsmensch, um den her Gott als Trabanten die übrigen Himmelsheere schuf, wie um seinen Schatten, unsem Stamm- vater Adam, die Erde und die sonstige sichtbare Welt; ein Mensch wie wir, bestehend aus Seele und Leib, aber beides von himmlischer Sub- stanz, von eben der Substanz, die in der Vollendungszeit auch die unsre sein wird. Ihn hat Gott bei allen seinen Werken als Mittelsperson heran- gezogen; das größte von diesen hat er in der kurzen Zwischenperiode, die er auf Erden zugebracht hat, vollendet: wenn ein so ungeheurer, durch nichts als Liebe motivierter Verzicht schon in seinem Geborenwerden, erst recht in seinem Sterben zum Ausdruck kommt, begreifen wir eher die ungeheuren Wirkungen seiner Menschwerdung und seines Kreuzes- todes. Hier scheint Paulus freilich schon mit mythologischen Gedanken zu arbeiten. Indes er verläßt den Boden der spätjüdischen Engel- und Geister- lehre nicht; für sein Empfinden, das wir nicht mit dem heutigen ver- wechseln dürfen, hält er die Grenzlinie zwischen Gott und Christus streng inne. Er hat Christus niemals Gott genannt, ihm nicht die gleichen Ehren wie Gotte zuerkannt. Es bleibt dabei: Gegenstand unsrer Anbetung bloß Gott, Gott der letzte Grund und das letzte Ziel von allem; Christus die vornehmste unter den vermittelnden Kräften, der, durch den das All aus Gott herausgeführt worden ist zur Sonderexistenz, der, durch den es einst wieder in Gott zurückgehoben werden soll, wxnn alles Sondersein auf- hört. Wundersame Spekulationen, aber erklärt durch das Verlangen, den Heilsmittler in einer dem Heile selber entsprechenden Größe vorzustellen, und im Grunde gerade in der Überschreitung der spezifisch religiösen Interessensphäre folgerichtig: konnte der Christus, dem die ganze Welt einst ihre Erlösung verdanken wird, kleiner sein als die Welt, wirklich nur wie jeder Mensch ein Stücklein Welt? Dabei für Paulus bezeichnend, daß er sich nicht mit der physischen Größe seines Heilands begnügt, sondern den Hauptakzent auf die ethische legt: darin gerade ist Christus das reine Gegenstück zum Satan.

Das ist in den Grundzügen das Evangelium des Paulus und seine DerPauUnismus

... •• kein fertiges

Theologie. Es fehlt nicht an Disharmonieen; bisweilen tauchen noch Über- theologisches

System.

reste jüdischer Denkweise auf, die in das neue Gebilde schlecht passen, vor allem mehrfache Hinweise auf die gerechte Vergeltung, die am jüngsten Tage einen jeden, Gute wie Böse, treffen solle. Daß Paulus so inkonse- quent ist, seine jungen Gemeinden in Fällen der Ratlosigkeit gegenüber sittlichen Problemen nicht auf ihren Geist zu verweisen, sondern ihnen fast in der Form streng formulierter Gebote seine eignen Überzeugungen aufzulegen, daß er die Tatsache eines allmählichen Hineinwachsens aus dem

88 Adolf Jülicher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

Fleischeswesen in das Leben nach dem Geist, obwohl sie zum System wenig paßte, hinnahm und sich bescheiden vor den Tatsachen beugte, ehrt ihn nur. Befangenheit in allgemeinen Vorurteilen seiner Zeit, wie das der Unterordnung des Weibes unter den Mann trotzdem I. Kor. 7, 2 16 immer wieder gleiche Rechte und gleiche Pflichten für Weib und Mann! oder das der Dämonenfurcht, und in speziellen, die seine Religiosität in ihm erzeugte, wird man ihm billigerweise nicht schwer anrechnen. Ohne Einseitigkeiten geht bei Menschen so ungemeine Konzentration von Kraft nicht vonstatten: so unterschätzt Paulus das sittliche Vermögen des natürlichen Menschen und stellt sein vorchristliches Leben Rom. 7 (natürlich erst unter späterer Beleuchtung) als einen hoffnungslosen Kampf zwischen gutem Wollen und bösem Tun dar was er schon durch Phil. 3, 6 selber widerlegt. Seine Verachtung des Fleisches wesens, kurz gesagt alles dessen, was der Mensch unmöglich in den Endzustand bei Gott mit hinübemehmen kann, was auch bloß durch den Sündenfall Adams Bestandteil der menschlichen Natur geworden ist, verführt ihn dazu, z. B. I. Kor. 7 von der Ehe recht geringschätzig zu sprechen, die er nur als Schutzmaßregel gegen Unzucht würdigt. Sehr massive Vorstellungen von fast zauberhafter Wirkung eines Exkommunikationsdekrets verrät er I. Kor. 5, 4 f.; Taufe und Abendmahl als eigentliche Sakramente, heilige Handlungen mit physisch-sittlicher Wirkung auf jeden Teilnehmer hat er, durch seine Christusmystik unterstützt, die in beiden eine unmittelbar per- sönliche Vereinigung des Menschen mit dem Erhöhten erlebte, in den Mittelpunkt eines neuen Kultus gerückt; ich zweifle nicht, daß er auch von feierlicher Handauflegung unter Anrufung des Namens Christus eine Übertragung höherer Kraft auf das Objekt erwartete: rühmt er sich doch auch selber im Streite mit judaistischen Gegnern, Zeichen und Wunder getan zu haben, Exorzisationen werden darunter in vorderster Reihe stehen. Aber gefährliche Wirkungen dieses Wunderglaubens sind bei ihm aus- geschlossen durch die Überordnung der Liebe, die nicht bloß das höchste Ziel alles Strebens unter den Gläubigen bleiben soll, sondern auch den allein zweifellosen Prüfstein für die Echtheit aller sonstigen religiösen Er- lebnisse und Betätigungen bildet, die sogar noch größer ist als Glauben und Hoffen. Und sein sittliches Empfinden ist durchweg feiner als sein ethisches Denken; denn L Kor. 7, 11. 14 verrät er unbewußt, wie er Mann und Weib in der Ehe als von einem Bande des Friedens umschlossen und ihre Beziehungen zu einander als so heilig ansieht wie die einer Mutter zu ihrem Kind. Verhältnis des Wenn wir endlich die Religion des Paulus mit der Religion Jesu

Paulinismus zur _ _ *"

Religion Jesu, vcrglcichcn, SO ist der erste Eindruck allerdings der einer weiten Diffe- renz. Der großartigen Einfachheit und Unmittelbarkeit bei Jesus steht bei Paulus eine komplizierte Systematik gegenüber, eine mit unzähligen Syllo- gismen operierende Theologie, die besonders unglücklich in den von uns beiseite gelassenen Schriftbeweisen alle Fehler jüdischer Schriftgelehrsam-

B. Paulus und das apostolische Zeitalter (—ca. 125). IV. Rclij^'ion und Thcolofjic des Paulus, gn

keit aufhäuft. Zu den christologischen Konstruktionen des Paulus liegt bei Jesus kein Ansatz vor: einen Gott, dessen Zorn erst durch riesige Opfer eines Vertreters der Menschheit versöhnt werden müsse, kennt er nicht, sein Gott ist in jedem Augenblick ohne Gegenleistung bereit, jedes Menschen- kind zu erlösen. Daneben gibt es andererseits jedoch Punkte, wo Paulus als der Fortgeschrittenere erscheint: die Heidenmission ebenso wie die Ab- schaffung des Mosegesetzes als einer nur für eine gewisse Zeit zur Erziehung getroffenen Einrichtung hat Jesus noch nicht ins Auge gefaßt. Aber sind auch der Differenzen zwischen beiden nicht wenige, dennoch hat Paulus den Meister, den er mit leiblichem Auge nie geschaut, besser verstanden als die Zwölfe, dennoch ist er der Erbe seines echten Geistes. Die Fülle dessen, was er zum Evangelium Jesu hinzugebracht hat, bezeugt ihm, daß er nicht bloß nachspricht, sondern weiterarbeitet und für neue Aufgaben neue Lösungen findet; und daß seine Individualität in der Art, wie er's angreift, kräftig heraustritt, bezeugt der neuen Religion schon in ihrem ersten Entwicklungsstadium, daß sie nicht Avie der Islam eine einfür- allemal fertige, bewegungsunfähige Masse ist, sondern eine neuentdeckte Triebkraft, die gar nicht genug verschiedene Formen und Arten ihrer Verwendung finden kann, eine geschichtliche Größe, die wie alles Ge- schichtliche wächst und sich wandelt, eine Religion für freie Geister. Und in der Hauptsache ist Paulus mit Jesus eins. Es ist doch auch bei ihm Gott der Vater, den wir nicht mehr zu fürchten haben, und der für alles und alle in der Welt zuletzt sein eignes Wesen als Heimstatt bestimmt hat; auch bei ihm jeder, der glauben will, Gotte willkommen; auch ihm die Reichshoffnung nicht ein erwünschtes Feld, die Phantasie spazieren zu führen, sondern erledigt mit der Gewißheit, daß wir zu Christus kommen und mit Gott eins sein werden, bald definitiv wie schon jetzt in der Hauptsache; auch ihm Religion und Sittlichkeit zu untrennbarer Einheit verbunden durch die Liebe, die der Geist in uns wirkt, und die mit allen niedrigen Trieben auch den gefährlichsten, die Liebe zum eignen Fleisch, verzehrt. Höchstens darin spüren wir bei Paulus eine leise Neigung zum Einschränken, daß er so selten die Liebe gegen jedermann, so viel häufiger die gegen die Heilsgenossen, die „Brüder", einprägt und an Stellen wie I. Kor. 5. 6 fast in gleichgültigem Tone von „denen da draußen" und ihren Lastern redet. Wie tief gleichwohl in ihm die Liebe zu seinem Volke saß, hat er Rom. 9, 3 gerade in einer fast blasphemischen Hyperbel aufs rührendste kundgegeben, und was anders als Liebe zu den Heiden hat ihn denn hinaus- getrieben in die Welt? W^er seine Abstriche vom Evangelium Jesu und seine Zutaten dazu wägt, soll beachten, daß Paulus dies Evangelium inmitten einer fremden Welt in Verteidigung und im Angriff vertritt, und daß die harte Wirklichkeit ihn nötigt, vom Ideal, weil er wahr und nüchtern bleiben will, einiges nachzulassen. Für den halbwegs Unbefangenen ist es schwer, zu verkennen, daß der Schöpfer Jesus ist, Paulus der Empfänger. Jesus reicht den Goldbarren hin; Paulus prägt ihn in glühendem Feuer zu edler Münze

QO Adolf Jülicher: Die Religion Jesu und die Anfange des Christentums bis zum Kicaenum.

aus; schon bei der Umschmelzung geht einiges verloren; die Münze muß, um Gangbarkeit zu gewinnen, sich dem herrschenden Geschmack an- passen, und das Schicksal, abgegriffen zu werden, bleibt ihr nicht erspart. Die Aufgabe, die Jesus sich gestellt hatte, die Welt für Gott und den wahren Gott für die Welt zu erobern, die hat Paulus in einem langen Arbeitsleben kraftvoll in Angriff genommen, seines Meisters getreuester Schüler, außer in dem einen, daß er der metaphysischen Spekulation über die Person des Christus, seine Übermenschlichkeit und seine Gottähnlich- keit das Feld eröffnete, wo Jesus bloß Verständnis und Liebe für seine Sache wünschte.

Paulus großen- V. Das D UT chs chni tts chri s t c n tu m in den alten Gemeinden.

verstanden. Um cinc Religion zu verstehen, reicht es aber nicht aus, sie in ihren großen Vertretern anzuschauen; man muß auch die Formen beobachten, die sie bei dem Durchschnitt ihrer Anhänger annimmt. Der Abstand zwischen dem religiösen Niveau einer paulinischen Christengemeinde wie w4r sie aus den Briefen des Apostels ja ziemlich genau kennen lernen und dem des Apostels selber war gewaltig. Wohl das meiste von seinen Theologumenen haben die wenig gebildeten Hellenen und Syrer, die im ersten Jahrhundert unter den Christen weit überwogen, unverstanden hin- genommen: immerhin hatte es die Wirkung, ihnen den Eindruck eines imposanten Reichtums an Gedanken und eines Hochflugs der Anschauungen zu erwecken, wie ihn die Sendboten andrer Religionen nicht aufzuweisen vermochten. Schlechthin niemand konnte sich alles, was Paulus gedacht hatte, aneignen, noch heute hat ja die Christenheit nicht den gesamten Stoff aufgearbeitet, den die beiden Gewaltigen am Anfang, Jesus und Paulus, hinterlassen haben: aber für jeden war etwas da, was ihn besonders fesselte, diesem die Phantasie, jenem das Gemüt, diesem den reflektierenden Verstand, jenem das Gewissen. Äußerungen der Am Stärksten anziehend und überzeugend haben gewirkt das Bild

den Gemeinden, der glorioscu Zukunft, die Sicherheit des angebotenen Heils, die Äuße- rungen des neuen Geistes. Wenn da ein schlichter Handwerksmann plötz- lich von einer höheren Gewalt ergriffen wurde, so daß er aufstand und zu den Genossen redete nicht in der Sprache der Straße, die sonst sein eigen war, und von den täglichen Nöten, sondern wie ein Meister des Worts, wie ein gottbegnadeter Dichter halb in Rhythmen von der Schön- heit des Paradieses, von der Herrlichkeit der oberen Welt, wenn selbst ein armes Weib erzählen konnte, wie sie entrückt worden sei hinauf zu dem Herrn hinweg über alle Himmel, und wenn dieser Enthusiasmus vor den Augen des skeptischen Zuschauers auf einmal von dem einen auf die übrigen übersprang und Kräfte entband, von denen vorher niemals etwas sichtbar gewesen, dann hatte die neue „Lehre" für jene Generation und jene Kreise den vollgültigen Beweis ihrer Wahrheit geliefert.

Über die Vermittlung mit den alten religiösen Vorstellungen, die man

B.Paulus u. d.apostol. Zeitalter ( ca. 125). V. Das Durchschnittschrislcntum i. d. alten ricmcindcn. ni

mitgebracht hatte, zerbrach man sich nicht den Kopf: die Hauptstichworte des Evangeliums hielt man fest und rechnete darauf, daß mit der Zeit das Dunkle hell werden würde. Daß in den Gemeindeversammlungen der Christen, die mindestens einmal wöchentlich, am Tage des Herrn, alle an einem Orte wohnenden Gläubigen vereinigten während sich son.st zu täglichen Erbauungsstunden kleinere Abteilungen, sog. Hau.sgemeinden, abends zusammenfanden , kein Unterschied von arm und reich, von vornehm und gering, von Herr und Sklave zu Recht bestand, höchstens der durch die natürliche Pietät gebotene von alt und jung, von Lehrer und Schüler, war bei der Seltenheit wahrhaft demokratischer Vereine in jener Zeit vor den Augen der Niedrigen eine wirksame Empfehlung; die brüderliche Liebe, mit der in der Gemeinde für jedes Mitglied, das in Not geriet, gesorgt wurde, warb ihr allerwegen Freunde, und der Ernst, mit dem man dort auf ehrbaren Wandel drang und seelsorgerlich denen beistand, denen es sauer wurde von der Welt loszukommen, fesselte die Besten. Und auch wenn eine Gemeinde von ihrem Stifter früh sich selbst überlassen wurde, war sie ja doch nicht ganz auf sich selbst ge- stellt und auf die immerhin fragliche Verläßlichkeit des in ihr erschienenen Geistes; einige von den heiligen Büchern Israels waren ihr sofort aus- geliefert worden; von denen ging ein eigener Reiz aus, teils durch die edle Frömmigkeit, die sie lehrten, teils durch ihre fremdartige Darstellungs- form, die verhinderte, daß man ihrer rasch überdrüssig wurde. Die Hilfe, die das aus dem jüdischen Mutterboden mitgenommene Alte Testament bei der Christianisierung der hellenischen Welt, u. a. zur Herstellung einer gemeinsamen neuen religiösen Sprache, geleistet hat, kann kaum zu hoch eingeschätzt werden. Sorgten schon diese Bücher dafür, daß es an Er- bauungsstoff nicht fehlte, selbst wenn der Geist einmal ausblieb, so bot der Synagogengottesdienst noch allerhand anderes, was man gern über- nahm, liturgische Formeln, Gebete, kultische Bräuche, wobei bloß keines- wegs immer Paulus der Vermittler gewesen sein muß.

Die Urformen einer gemeindlichen Organisation finden sich ganz früh: Gemeingefühl. Vorsteher, die die Gemeinde nach außen repräsentierten, den Verkehr mit anderen Gemeinden vermittelten, auch die Korrespondenz etwa mit dem Apostel-Stifter, und für Ordnung in den Versammlungen sorgten, wohl auch männliche und weibliche Helfer, die sich der Pflege von Armen, Kranken, Fremden widmeten; in der Regel werden die Erstbekehrten eine Art Beirat der Vorsteher in wichtigen Fragen gebildet haben. Paulus tat das Mögliche, um das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit aller Gemeinden, aller Gläubigen überhaupt zu stärken, praktisch durch die Sammlungen für Jerusalem, theoretisch durch seine Lehre von dem einen Leibe, dem wir alle als Glieder angehören. So zeigt sich denn auch das Gefühl der Verantwortlichkeit nicht bloß der Gemeinde für ihre Mitglieder, sondern der einen Gemeinde für die übrigen mit, ein christliches Gemeinbewußt- sein in gesunder Entwicklung, wie u. a. der i. Clemensbrief bestätigt, in

Q2 Adolf Jülicher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Xicaenum.

dem kurz vor dem Jahre loo die römische Gemeinde der korinthischen ernst ins Gewissen redet wegen der Unruhen, die dort durch Unbotmäßig- keit „der Jungen" hervorgerufen waren, Sittlichkeit. Daß gewisse sitthche Vorstellungen der Hellenen dem neuen Geist

besonders zähen Widerstand leisteten, daß erst recht in der Praxis das alte Wesen, Unzucht, Schwelgerei sogar bei den heiligen Mahlzeiten, Habsucht, Rachbegierde, Eitelkeit usw. gar langsam dem neuen Geiste wichen, hat Paulus mit Kummer wahrgenommen und durch unermüdliches Zureden dem entgegengearbeitet. Bedenkliche Folgeerscheinungen des Übertritts zur neuen Religion wie die Faulenzerei, da täglich die Welt- umwandlung erwartet wurde, oder die Eifersucht zwischen den verschie- denen Charismatischen, oder der Hochmut der vermeintlich vom Geist sonderlich Bedachten, sind ihm auch nicht entgangen. Eine andre Gefahr, die sein SakramentsbegrifF unter den Korinthern herbeiführte, hat er merkwürdigerweise nicht als solche gewürdigt: dort ließen sich Leute für verstorbene Angehörige taufen, um den Toten dadurch noch den Segen der Taufe, die mit dem Geist ausstattet und den Eintritt ins Reich freigibt, zu verschaffen, eine durch die Stellvertretungstheorie des Apostels ja leicht beschönigte Superstition als ob ein religiöser (und sittlicher) Akt im Christentum, wo alles nur als Frucht der Gesinnung gewürdigt wird, je- mandem zugerechnet werden könnte, der von der Sache nichts weiß, geschweige daß er sie aus seinem Herzen erzeugte!

Saat auf Hoffnung, hieß es auch hier: mehr in dem Neuen, Un- erhörten, Heroischen bewies in den alten Gemeinden sich die Kraft des Geistes, als in der gleichmäßigen Hebung des gesamten sittlichen Lebens über die bisherige Stufe hinaus. Mut im Bekennen, wo der Haß der Juden Verfolgungen über die Gemeinde brachte, eine förmliche Märt3'rerrabies, wie der Römerbrief des Ignatius sie kennen lehrt, große Opfer für Werke der Liebe, Akte entsagender Größe wie die, daß ein Brautpaar beschloß, ohne Konzession an Fleisch und Welt in Jungfräulichkeit lebenslang bei- sammen zu bleiben, dergleichen drängt sich uns im Bilde der alten Christen lebhafter auf als das, was Paulus mit dem Satze: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur" verlangt, die Umwandlung des ge- samten Menschen nach dem Bilde des Idealmenschen.

Paulinische VI. Die Entwicklung der paulinischen Theolo2"ie in den

Elemente in aller ... .

Theologie der beiden nächsten Generationen. Die literarische Hinterlassenschaft

ältesten Kirche. .

der beiden Generationen nach Paulus, die noch mit einigem Recht dem apostolischen Zeitalter zugerechnet werden dürfen, bestätigt in erster Linie die fast unheimliche Macht, die ein Mensch über die Massen ge- winnen kann. Jedes Schriftchen aus der nachpaulinischen Zeit verrät, wenngleich in sehr verschiedenem Grade, den EinÜuß des Paulus. Zwar hat der Haß, mit dem er im Leben zu kämpfen gehabt, den Toten nicht verschont: die pseudoclementinischen Romane, deren Grundstock uralt sein

B. Paulus un<l(l:is;iposlolischeZritallcr( ca. 125). VI.Dic iMitwicklunfjder jxuilinisclicnThcolojjie. n^

dürfte, zeichnen unter dem Namen des Magiers Simon eine Karikatur des Paulus, den der echte Gottesbote Petrus von Ort zu Ort jagt und zu- letzt vernichtet, und die Apokalypse des Johannes (ca. 95) atmet auch in den nicht direkt aus jüdischen Quellen übernommenen Bestandteilen jüdi- schen Geist, wie vollends die Farbe ihrer Hoffnungen durchaus jüdisch ist. Im Jakobusbrief (ca. 130) wird die Herleitung des Heils aus dem Glauben allein als vemunft- und schriftwidrig bekämpft, w^eil Glauben auch die Dämonen haben könnten: „Glaube und Werke" soll das Programm des wahren Frommen lauten; da wird Paulus fast so gröblich mißverstanden, wie bei Pseudo- Clemens mißhandelt. Was aber alle schweigend von ihm übernehmen, ist Heidenmission und Aufhebung des Mosegesetzes; und auch das ist paulinisch, daß die Apokalypse die neue Religion als den Glauben an Christus definiert, daß Christus ihr nicht bloß der König der Könige und Herr der Herren, sondern sogar der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende ist.

Freundlicher zur gesamten paulinischen Theologie stellen sich die PauUnischer

. o JT ^ Einschlag in den

drei Synoptiker; der Tod Jesu als Lösegeld für viele, Worte wie Marc. 13, 10: synoptischen

Kvangelien.

zuvor muß das Evangelium an alle Heiden verkündigt werden, gehören in das Programm des Paulus; vollends in seinem Sinne gestaltet ist die Ge- schichte von der Tempelsteuer, die Jesus für sich und Petrus entrichtet, trotz- dem sie als Söhne frei sind, bloß um niemandem Anstoß zu geben Matth. 17, 2 4 ff.; in Lukas ist der Paulusschüler ja nie bestritten worden. Einzelne judaistische Reste in der synoptischen Überlieferung wie Luk. 16, 17, Matth. 5, IQ, gegen die Paulus Protest eingelegt haben würde, beweisen vielmehr, daß man zur Zeit der Redaktion von Matthäus und Lukas solche Worte von der Unverletzlichkeit jedes Tüpfelchens im Gesetz nicht mehr ernst nahm; die Frage w^ar praktisch längst erledigt.

Bei der eigentlich deuteropaulinischen Literatur, zu der außer den pseudo- Deuteropauu-

, nische Briefe.

paulinischen Briefen und dem Hebräer- und dem Barnabasbrief auch der erste Petrus- und der erste Clemensbrief gehören, überwiegt die Anlehnung an paulinische Anschauungen weit das Bedürfnis und die Fähigkeit eigner theologischer Produktion. Einzelne Erweiterungen erfährt der Paulinismus zwar, wie in i. Petr. durch das Theologumenon von Jesu Höllenfahrt, bei Barnabas durch den schroffen Antijudaismus, der mit Hilfe schrankenloser AUegorese alle Zeremonialvorschriften aus dem Mosegesetz fortdisputiert, so daß nicht das Gesetz durch Christus aufgehoben werden mußte, sondern nur das geistliche Verständnis anstatt des buchstäblichen, grobjüdischen durchzuführen war. Im ganzen aber wollen jene Autoren bloß einzelne Sonderinteressen ihrer Gemeinden, ihrer Zeit, ihres eigenen Gesichtskreises nach paulinischer Methode und von seinen Voraussetzungen aus besprechen; es bildet sich zumal gegen Ende der Periode, wo die Beschäftigung mit den Briefen des Paulus zunahm, eine Art paulinischer Phraseologie, bis- weilen wunderlich gemischt mit anderen Typen. Die Motive zum Schreiben sind durchweg praktische, die Glaubensgenossen zu stärken im Streit um

QA Adolf Jl'LICHer: Die Religion Jesu und die Anfange des Christentums bis zum Nicaenum.

ihre gute Sache wider jüdische und heidnische Gegner, ihnen Waffen dar- zureichen zu eigener Verteidigung ihrer ReUgion gegen fremde Angriffe, auf Ordnung, Zucht, Ruhe neben den spezifisch christUchen Tugenden in den Gemeinden zu dringen und so die „Apostellehre" in möglichst schlichter Form, katechismusartig zusammenzustellen, was ein Christ wissen soll über seine sittlichen Pflichten, über den Kultus sowie die Einrich- tungen in der Gemeinde, natürlich immer unter kräftiger Verweisung auf den himmlischen Lohn aller Treue, Das vierte ludes eine wirklich originelle Gestalt treffen wir noch in diesem

Kreise von Hilfsarbeitern an; es ist der Unbekannte, der das 4. Evange- lium und wohl auch den i. Johannesbrief geschrieben hat. Daß diese Werke auf griechischem Boden und erst im 2. Jahrhundert entstanden, daß sie dem nach Asien übergesiedelten Apostel Johannes zugeschrieben worden sind und auch selbst als Vermächtnis* eines Lieblingsjüngers, der Jesu ins Herz geschaut hat, also als höhere Wahrheit angesehen sein wollen, steht wohl außer Zweifel: halb Abhängigkeit von den älteren Evangelien und von Paulus charakterisiert sie, halb Gegensatz zu ihnen; zwar kein feindseliger, aber im Sinne eines Überbietens durch die Entfernung auch der letzten Hüllen. Es ist für den Verfasser be- zeichnend, daß er diese Enthüllung in einer i.\rt von Geheimsprache vor- nimmt, die dem nicht ganz in sie eingeweihten Leser fortwährend Rätsel aufgibt; eigentliche und bildliche Rede fließen ineinander über, selbst die mitgeteilten Tatsachen sind nur Einkleidung von Gedanken, und die Fremdartigkeit des feierlich monotonen Stils wird für uns erhöht durch den Wechsel von breiten Wiederholung-en und abruptem Fallenlassen des Themas. Der „Theologe" Johannes steht auf den Schultern des Paulus; von den Juden redet er, obwohl er dem Blute nach sicher zu ihnen ge- hört, nur in der dritten Person als von den Anhängern einer fremden Religion; Auseinandersetzungen über die Gültigkeit des Mosegesetzes sind überflüssig, alles Heil kommt durch Christus allein und hängt am Glauben. Den Spiritualismus des Paulus, die Verachtung des Fleisches und alles Vergänglichen scheint er noch stärker zu betonen als dieser. Aber die religionsgeschichtlich bedeutsamen Differenzen sind etwa folgende: die größere Hälfte der theologischen Hilfskonstruktionen des Paulus, so die von der Versöhnung Gottes durch den Sühnetod Christi, von dessen stell- vertretender Leistung, von dem Prozeß zwischen Christus und der Sünde, beseitigt Johannes mit feinem Takt, lauter Stücke, die als echte Produkte jüdischer Schriftgelehrsamkeit das hellenische Denken viel mehr abstoßen als gewinnen mußten. Um so energischer vertritt er die Christusmystik: Christus in uns und wir in ihm, wie die Reben im Weinstock. Er spinnt sie weiter aus, so daß es sogar zu pantheistisch klingenden Äußerungen bei ihm kommt und man fast keinen Platz für ein wirklich seiendes Böses in der Welt findet. Aber andrerseits erleichtert er es dem Leser auch wieder, den erhöhten Christus zur Rechten Gottes thronend sich vorzu-

B.Paulus und das apostolischr Zeitalter ( -ca. 125). VI. Die Entwicklung; der paulinischcn Theologie, g^

stellen und zugleich die Herzen der Gläubigen erfüllend; nach Johannes läßt sich der auferstandene Christus auf Erden durch den „Parakleten", den himmlischen Helfergeist, vertreten, der nichts aus sich nehmen wird, son- dern nur was der Sohn ihm darreicht, der aber zugleich ein Prinzip des Fortschritts darstellt, insofern er Dinge, die Christus nicht von Anfang an mitzuteilen für gut fand, zur rechten Zeit verkünden wird: eine hoch- wichtige Idee, die eine Entwicklung im Christentum, ein Hineinwachsen in immer neue Wahrheit für alle Zukunft rechtfertigt. Nach dem un- bekannten Verfasser hat der Jesus der Geschichte, d. h. der synoptischen Evangelien, noch nicht das letzte Wort göttlicher Offenbarung gesprochen. Von eschatologischem Drang ist bei Johannes nichts mehr zu spüren; die Vollendungszeit ist für alle, die Christum besitzen, schon jetzt angebrochen; an einen bestimmten Ort ist die Vollendung überhaupt nicht gebunden, ist sie doch etwas rein Geistiges, die vollkommene Gemeinschaft mit Gott, das „Gott Schauen": Glaube und Hoffnung sind hier nahezu eins.

In der Christologie geht Johannes einen Schritt über Paulus hinaus Logos-

r^ y— t -i r 1 Christologie.

in der Annäherung Christi an Gott; „alles was der Vater hat, ist mein", darf der auf Erden wandelnde Jesus sprechen, und: „ich und der Vater sind eins". Zugleich verleiht er dem präexistenten Gottessohn einen neuen Rang in der himmlischen Hierarchie; er ist der „Logos", der nicht bloß der Erstgeborene heißt unter vielen Brüdern, sondern der Einzige („mono- genes"), der nicht nur der Erstling aller Kreatur ist, sondern im Anfang schon da war: die göttliche Vernunft, die Weltidee, nicht bloß der Idealmensch, das Licht und das Leben, seit Ewigkeit bei Gott, ja sogar selber Gott. Allerdings nur „ein Gott", w^ährend der Vater „Gott" bleibt; unablässig wird betont, daß Jesus alles, was er hat, vom Vater empfangen habe, daß ihn der Vater in die Welt gesandt hat, damit er den Menschen, die nicht aus der Welt sind, sondern etwas vom Wesen des Logos an sich tragen, den Vater offenbare, und hierdurch die Liebe edelster Art, wie sie zwischen dem Vater und dem Sohn besteht, auch von ihnen Besitz er- greife. Den später in Nicäa (s, S. 1 2 i f.) zur Annahme gelangten terminus der Homousie, der Wesensgleichheit von Vater und Sohn, hätte Johannes ungern akzeptiert, weil ihm alles daran liegt, einen Unterschied zwischen beiden festzuhalten, der ihm allein die irdische Episode im Leben des Logos begreiflich macht: Gott hat niemand je gesehen; damit dennoch die Menschen den Zugang zu ihm fänden, mußte der Logos, der den Vater so genau wie sich selber kennt und seinem Wesen nach der sichtbaren Welt, die ihm ihre Entstehung verdankt, nicht so völlig fern steht, Fleisch werden und unter uns wohnen und seine Herrlichkeit uns enthüllen, durch die für uns zuletzt ja die volle Majestät des Vaters hin- durchleuchtet. Mit der Einführung des LogosbegriflFs, den er der grie- chischen Philosophie entnommen hat, hat Johannes hellenischem Denken eine gewaltige Konzession gemacht; den vornehmsten Philosophen, die über die jüdischen Engelklassen und Dämonenheere lächelten, imponierte

q5 Adolf Jülicher: Die Relig^ion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum,

diese Konstruktion; auch die Unbefangenheit, mit der Johannes die Fleisch- werdung seiner Idee (eigentlich der Gottheit in ihrer der Welt zugewandten Seite, des Weltplans als Objekts göttlichen Entzückens und Subjekts einer göttlich schöpferischen Tätigkeit) lediglich konstatiert, ohne Grübeleien über das Wie oder ein Zweifeln an der Möglichkeit zuzulassen, hatte einen großartigeren Anstrich als die dem griechischen Volksgeschmack entgegenkommenden halb rationalistischen, halb mythologisierenden Ver- suche bei Matthäus und Lukas, die Doppelnatur Christi, das Gottmensch- liche in ihm von dem Akt seiner Erzeugung her zu erklären. Und wenn Christus ja der eigentliche Gegenstand christlichen Glaubens ist und die Höhe einer Religion sich nach der Höhe dessen richtet, der ihr Gegenstand ist, so scheint Johannes am kühnsten die Göttlichkeit der christlichen Religion verfochten zu haben mit seiner Logostheorie, die ihn doch nicht vergessen ließ, daß wir nicht bloß Allmacht, Wahrheit, Ge- rechtigkeit, Leben in unserm Gott brauchen, sondern mehr als das alles, für Religion wie Sittlichkeit die Liebe. * Trinitutsidee. Allein Johauncs ist auch der eigentliche Schöpfer des Trinitäts-

gedankens, denn indem bei ihm von Kap. 14, 16 an neben Vater und Sohn-Logos als vollkommener Ersatz des zu Gott zurückgekehrten Sohnes der Paraklet tritt, der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht und un- sichtbar das Werk des Sohnes in der Welt fortführt, ist die Dreiheit von Personen fertig, die für unser Wissen oder Ahnen das Göttliche darstellen, an die sich unser Glaube hängt, auf die wir unsre Hoffnung richten, an die wir uns wenden in unsem Gebeten. Wir können uns nicht wundem, daß man alsbald auch die Taufe vollzog auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, statt, wie ursprünglich, auf den Namen des Herrn Christus. Der Gott der Christen war nun der trinitarische, ein Mittelding zwischen dem Monotheismus des Alten Testaments wie Jesu selber auf der einen Seite und dem Polytheismus der Heiden wie dem Pantheismus der Zeitphilosophie auf der andern. Indes wie immer heut diese Entwicklung des Gottesbegriffs von Jesus bis Johannes gewertet werden mag: dem Zeugnis der Geschichte gegenüber kann man nicht leugnen, daß sie auf lange Zeit der Religion selber im Christetitum furchtbaren Schaden gebracht hat. Denn die Unausdenkbarkeit dieses dreieinigen Gottes hat die Geister in metaphysischen Tifteleien festgehalten, die die Interessen der Religion und der Ethik schwerlich förderten: wieder kam die Rechen- kunst und der dialektische Scharfsinn, den Jesus aus der Religion, wie die Krämer aus dem Tempel, hatte ausfegen wollen, auf den vornehmsten Platz in der Rehgionslehre, wieder wurde über der Verzehntung von Minze, Dill und Kümmel die Hauptsache in der Offenbarung zurück- gesetzt, das freie Genießen des religiösen Friedens und das fröhliche VorzuK des Arbeiten an dem Werk der sittlichen Erneuerung.

chHs"usbiid7s Paulus hat mit seiner A-erhängnisvollen, wenn auch noch so groß ge-

pauUnilTen. dachteu Übertragung der Prädikate, die Jesus dem Evangelium zuwies,

C. Die christliche Religion in der Kirche von ca. 125 bis ca. 325. I. Das Christentum der Epigonen. 07

auf den ßringer des Evangeliums die Vergottung- Christi begonnen, Johannes hat sie weiter geführt fast bis ans Ende: leider haben die Theo- logen der folgenden Jahrhunderte gerade da sich auch mit Johannes noch nicht zufrieden gegeben. In der gleichgültigen Kälte, mit der Johannes spricht von denen, die nicht glauben, von „der Welt", für die Jesus ob- wohl durch ihn alles geschaffen worden ist, Joh. i, 2 wie bei Paulus nicht einmal mehr ein Wort der Fürbitte einlegt, zeigt sich eine peinliche Steigerung der schon bei Paulus beobachteten Verengung der Nächsten- liebe. Indes als großer Vorzug der johanneischen Theologie vor der paulinischen bleibt außer der erwähnten Vereinfachung und Konzen- tration doch noch ein Punkt übrig, der zugleich klar macht, warum Johannes seine Lehre nicht etwa bloß in der Form von Briefen nach dem Muster des Paulus sondern in der einer Geschichtserzählung vortrug. Die Einseitigkeit, mit der Paulus das Interesse an dem historischen Jesus auf dessen Sterben und Kreuz beschränkt, hat Johannes überwunden, in- dem er das Heilsgut, das Christus darstellt, in seiner Fleischwerdung und in allem, was er als unter uns Wohnender dargereicht hat, zu erfassen lehrt. Die Werke, die Jesus getan hat, die Worte, die er gesprochen, die Ge- bote, die er gegeben, gelangen nun wieder wenigstens grundsätzlich zu ihrem alten Recht, sogar, soweit das bei einem Johannes überhaupt mög- lich ist, seine Persönlichkeit, seine Individualität als normative Offenbarung des Idealen.

Johannes hat das Leben Jesu in ein Strahlenmeer getaucht, in dem wir von den Zügen des wirklichen Jesus kaum noch einige Umrisse wieder- erkennen; aber er hat dafür gesorgt, daß in der christlichen Theologie das Bedürfnis, den geschichtlichen Jesus kennen zu lernen, das bei Paulus fast verschwunden war, feierliche Anerkennung fand: es wäre unbillig zu bestreiten, daß er den Paulus in ebenso wichtigen Beziehungen korrigiert, wie er anderswo seine Fehler gesteigert hat. Für die älteste Christenheit aber und für die Fülle flutenden Lebens in ihr ist es ein erhabenes Zeugnis, daß so bald nach Paulus noch ein so unabhängiger, freier und großer Mensch wie „Johannes" auftreten, ganz eigene Bahnen einschlagen und sich Anerkennung verschaffen konnte. Natürlich haben die, die ihn kanonisierten, zum großen Teil auch nur aus der Tiefe zu ihm empor- geblickt; gleichwohl ehrt es die Gemeinschaft, daß sie das Bedeutende herausfühlt: durch dies Feingefühl hat sich die alte Kirche ausgezeichnet vor all ihren Konkurrenten.

C. Die christliche Religion in der Kirche von ca. 125 bis ca. 325.

L Das Christentum der Epigonen. Spätestens um 125 hat in der Allmähliche Christengemeinde die Periode geendet, die man poetisch die Zeit der ersten Liebe nennt. Die leidenschaftliche Sehnsucht nach einer nahen Parusie wurde nicht befriedigt, man gewöhnte sich an geduldiges Warten;

Die Kultur der Gegsnwart. I. 4. 7

q8 Adolf Jüucher: Die Religion Jesu und die Anfange des Christentums bis zum Nicaenum.

die Zahl derer, die in der neuen Religion nach vergeblichem Irren und Suchen endlich Trost und Frieden gefunden hatten, nahm ab, während die zunahmen, die wie in das Reich und die Stadtgemeinde so auch in die christliche Religionsgemeinschaft hineingeboren waren und infolge davon den Abstand zwischen dieser Religion und anderen nicht aus Erfahrung kannten. Überhaupt aber versiegte allmählich der Enthusiasmus, der ja doch eine übernormale Erregtheit des religiösen Empfindens war: wie bei den Hussiten, Quäkern und Irvingianem folgt nach einem höheren Gesetz auf eine Flut die Ebbe, Solange der Geist mit seinen wundersamen Wirkungen in den Gemeinden mächtig war, brauchte man sich vor ein- zelnen Torheiten, die der Geist eingegeben haben sollte, nicht zu fürchten: der Geist korrigierte sich durch sich selber. Aber mit der Zeit blieb der Geist aus. Am frühesten versiegte die Zungenrede; die Prophetie wurde nur noch von einigen mit ihrer Kunst handwerksmäßig Umherziehenden geübt, aber die Wanderlehrer sind schon der „Apostellehre" ein Objekt des Mißtrauens; gewissenlose Betrüger fangen ja an, mit gottseligen Reden die auf fremde Meister harrenden Gemeinden auszubeuten. Diese Ernüchte- rung ist an sich keine Schande für das Christentum; wie es den Reiz des Neuen nur eine kleine Weile behalten konnte, so mußte es auch den Reiz des Pikanten, den die Erscheinungen des Geistes gebracht hatten, verlieren; und das Eindringen von Falschheit und Fälschung datiert, wie 2. Kor. 10—13 lehrt, nicht erst aus nachapostolischer Zeit. Aber auffällig ist, daß in der er- baulichen Literatur des 2. Jahrhunderts so viel gewarnt wird vor den groben und gröbsten Sünden, die doch endlich aus den Gemeinden verschwinden müßten, daß so wenig herausklingt von Jubel über die Welt und Menschen umwandelnde Kraft des Evangeliums: wie eine Stadt, die auf dem Berge liegt, will uns die Christenheit dieser Zeit, wo alles von einem Grau der Alltäglichkeit und Kleinlichkeit bedeckt ist, nicht gerade erscheinen. Geistige Armut. Und doch, die Einleitung- eines verhängnisvollen Verweltlichungs- und

Hellenisierungsprozesses der neuen Religion sollte man diese l'eriode von ca. 125 bis 200 auch nicht nennen. Es ist vielmehr eine Periode der Ar- mut, nach dem Übermaß eine Zeit des Mangels an Geist und Kraft. Die Zensur: „klein an Geist", die Euseb einem der interessantesten Autoren um 150 erteilt hat da vielleicht am wenigsten in unserem Sinne , gibt den Eindruck wieder, den beinahe alles in der christlichen Literatur des 2. Jahrhunderts auf uns macht, sobald wir vom Neuen Testament aus zu ihr kommen. Es ist nicht ein Bruch mit der besten Überlieferung, nicht ein Einbiegen auf neue Geleise, nicht ein Kokettieren mit dem Hellenismus oder der Versuch einer wohlfeilen Versöhnung von Religion und Kultur: der Schein des Unterchristlichen, eines tiefen Falles entsteht dadurch, daß die Wortführer der Christenheit in dieser Zeit unfähig sind, den Reichtum von Gedanken, der sich ihnen darbot, zu verarbeiten; sie begnügen sich mit dem Herausheben von Einzelnem, wobei sie die Aus- wahl nach ihrem Geschmack oder nach bestimmten praktischen Zwecken

('. Die christliche Rcliijion in der Kirche von ca. 125 bis ca. 325. I. Das Christentum der Epigonen, gg

trctfen. Was sie als Christentum vorstellen, sind dürftige Exzerpte für den Schulgebrauch: Unmündige treten hier auf als Lehrer noch Unmün- digerer. Aber genau die gleiche Art von Unmündigen i.st im apostolischen Zeitalter in der Überzahl gewesen und der Unterschied lediglich der, daß, während damals die Unmündigen zwischen einigen Großen stehen, jetzt die Kleinen im Himmelreich allein das Feld behaupten. Wie sehr sich dies Geschlecht auch seiner Unfähigkeit, den Bedürfnissen der Zeit ge- recht zu werden, bewußt war, geht m. E. daraus hervor, daß es mit solchem Eifer sich half durch Aneignung spätjüdischer Literaturwerke. Die Testa- mente der 12 Patriarchen, Henoch, die Sibyllinenbücher werden, ein wenig christlich ausgeschmückt, Modewaren in einem Zeitalter, das sich rühmt, dem Judentum für immer den Laufpaß gegeben zu haben. Das 2. Jahr- hundert ist geradezu die klassische Zeit der Interpolationen, der Textver- fälschungen, der Ergänzungen der religiösen Literatur durch apokryphe Wucherptianzen: kann man die eigene Ohnmacht deutlicher offenbaren?

Der Zeit übrigens, wo die neue Religion sich gegen die giftigsten Entschuidi- Verleumdung-en von jüdischer wie heidnischer Seite, gegen die Wut der Massen, die diesen „Gottlosen" jede Schandtat zutraute, und gegen die von Marc Aurel (um 170) an unverkennbare Mißgunst der Staatsbehörden zu wehren hatte, wo jeder Christ täglich bereit sein mußte, sein religiöses Bekenntnis mit dem Tode zu büßen, und wo die Treue, mit der sie zu ihrer Fahne standen, auch den Gegnern Bewunderung abnötigte, darf man keine Vorwürfe machen, wenn sie nicht gerade eine Zeit des Fortschritts in Weiterentwicklung christlicher Gedanken gewesen ist. Sie hat die ihr überlieferten Pfunde nicht sonderlich verzinst, aber sie hat sie doch auch nicht vergraben. Retten, erhalten für spätere glücklichere Zeiten, hieß die Losung; den Wackeren, die ihre Aufgabe erfüllt haben, wollen wir manches Ungeschick im Zugreifen zugute halten.

Als Typen für die Religiosität dieser Zeit mögen neben der letzten Typen der

Frömmigkeit im

Redaktion der „Apostellehre" gelten der „Hirte" des Römers Hermas, 2. Jahrhundert. ein um 140 verfaßtes umfängliches Buch, das sittliche Mahnungen und theologische Belehrung im Rahmen einer Apokalypse vorträgt, die Er- innerungen des Palästinensers Hegesippus und die Briefe des Korinther- bischofs Dionysius, soweit Euseb sie uns erhalten, die als 2. Clemensbrief umlaufende altchristliche Predigt, nicht zuletzt die Werke der „Apologeten" von 140 bis iQo, eines Aristides, Justinus, Tatian, Athenagoras, Theophilus von Antiochia.

Die Apostellehre glaubt schon bestimmte Gebetsformeln wie ein täg- lich dreimaliges Beten vorschreiben zu müssen; in dem Eifer, mit dem sie die Abgabe der Erstlinge „dem Gebot gemäß" an die Propheten, „die Eure Hohepriester sind", einprägt, spüren wir eine Zeit heranrücken, wo sich ein Klerus in der Kirche von den Laien ernähren läßt; aber aus dem „Evangelium unsers Herrn" allein will der Verfasser christliche Gebote geschöpft wissen. Dem Hermas ist Glaube an den einen Gott nebst

lOO Adolf Jülicher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Xicaenum.

Furcht vor ihm und Enthaltsamkeit der Kern christhcher Frömmigkeit. 2. Clemens wagt den Satz: Plasten ist besser als Gebet, und Almosen besser als beide, Almosen wird eine Erleichterung der Sünde; die Idee einer Übertragung überschüssiger Verdienste auf das Konto eines Bruders wird mindestens gestreift; das Evangelium vorwiegend sichere Belehrung über die Tugenden, deren Erwerb zur Erlangung des ewigen Lebens unbedingt erforderlich ist, als „neues Gesetz"; und guter Wille, durch aufrichtige Buße nach begangenen Fehlem bewährt, wird als teilweiser Ersatz zugelassen.

Solch hausbackenem Moralismus entspricht ein ebenso hausbackener Intellektualismus in der Darstellung des Religiösen: das Element des Vertrauens, des Wollens, des Genießens wird im Glaub ensbegrifif ignoriert und als christlicher Glaube das Wissen von der Einheit und dem wahren Wesen Gottes sowie von der Sendung seines Sohnes auf die Erde mit den Haupttatsachen der evangelischen Geschichte definiert; an Gott wird vor anderm die Allmacht, Weisheit, Bedürfnislosigkeit und Barmherzig- keit g'epriesen. Zur Verbindung von Religion und Sittlichkeit dient die Hoffnung, und zwar auf eine Auferstehung des Fleisches nicht bloß, wie Paulus will, der Leiber; weil man die Enttäuschung durch das Aus- bleiben der Parusie wettmachen mußte, wurde die Wonne des Daseins im tausendjährigen Reich oder im Jenseits in den stärksten Farben ausgemalt. Das ganze Leben ist darauf einzurichten, daß man im Endgericht besteht und zur Seligkeit gelangt; als Märtyrer sterben wiegt natürlich sogar ein langes Leben in Sünden auf. '"^chriftentums^^ Pcinlich dürftig gibt sich besonders das Christentum der Apologeten,

iier Apologeten, eben wcil man bei ihnen, die ihre Religion mit den fremden vergleichen, um deren Minderwertigkeit zu erweisen, eine enthusiastische Hervor- hebung des Neuen im Christentum für selbstverständlich ansähe. Mit wenigen Ausnahmen beschränken sie sich aber darauf, in Nachahmung stoischer und epikureischer Kritiker den Blödsinn der Götterfabeln zu verspotten, den Hellenen den Vorwurf einer Züchtung^ des Gemeinen durch die Religion zurückzug'eben und das Christentum herauszustreichen als die echte Philosophie. Was die größten Philosophen der Vorzeit gesucht haben, großenteils vergeblich, darum einander widersprechend, das kann der schlichteste Gläubige im Evangelium finden, ohne jede Beimischung von Irrtum. Und man ist stolz darauf, die anerkannte Tatsache, daß z. B. Plato schon vieles von dem gelehrt habe, wiis das Evangelium lehre, so zu erklären, daß man Pythagoras, Plato und ihre Nachfolger als Plagia- toren der biblischen Offenbarungsliteratur betrachtet. Der Gedanke, daß auch hellenische Philosophen und Dichter einen göttlichen Funken in sich getragen haben und eine Vorbereitung- auf die Religion Jesu gewesen sind, ist des Apostels wahrlich würdig, der Rom. 2, 14 ff. von den Heiden schrieb, die sich, ohne ein Gesetz zu haben, selber das Gesetz sind. Aber er bekommt bei den Apologeten nicht bloß durch die Hereinziehung" der

C. Die christliche Ilclif,'ii)n in der Kirche von ca. I 25 bis ca. 325. I. Das Christcnluni der I^jij^'oncn. joi

Abhängigkeitsfrage eine grote.ske Form, die alles andere eher als Nicht- gläubigen imponieren konnte, er ruiniert geradezu das Verständnis der christlichen Religion; denn hineingezwungen in eine Parallele mit der griechischen Philosophie in der Absicht, jene überall als Karikatur auf- zuzeigen, verliert das Christentum seine wichtigsten Stücke, weil bei denen solche Vergleichung ganz ausgeschlossen ist. Jesus als den größten Philo- sophen predigen heißt beinahe ihn verraten; Paulus hatte mit feinerem Instinkt die Wahrheit paradox so formuliert, daß der echte Christus den Heiden eine Torheit sein müsse wie den Juden ein Ärgernis. Auch das letztere haben die Apologeten vergessen, die durch langweilige und nach jüdischen Methoden zurechtgeklügelte Schriftbeweise die Juden von der Identität (nicht bloß Verträglichkeit!) der neu- und alttestamentlichen Offen- barung zu überführen gedachten; an beiden Stellen verbauen sie sich selber den Weg, Das Neue, das weder bei Hellenen noch bei Juden Da- gewesene in Jesus hätten sie in den Vordergrund rücken sollen; statt dessen nahmen sie die Miene an, als ob bloß ein bißchen gesunder Menschenverstand dazu gehöre, um Christ zu werden, und nur etwas Ge- fühl für Anstand und Sitte, um den Forderungen Gottes zu genügen.

Doch dies ist ein Fehler der Taktik, für den die Generäle die Ver- antwortung tragen. Den Geist des Heeres dürfen wir immerhin höher einschätzen. Die Kriegserklärungen sagen trotz aller Redseligkeit von dem eigentlichen Kampfobjekt verzweifelt wenig, nichts von der gegen- wärtigen Seligkeit des Friedens mit Gott, den der Fromme genießt, nichts von der Stimmung des: „Ist Gott für mich, wer kann wider mich sein", von der Sicherheit des Heils, von der Garantie dafür, die der Besitz des heiligen Geistes bildet, nichts von dem demütigen Stolz des gläubigen In- dividuums, das unbekümmert um die ganze Welt mit ihrer Weisheit wie ihrem Recht so handelt, wie das eigene Gewissen es ihm vorschreibt; und statt für den Jesus der Evangelien interessiert man die Leser lieber für den vorweltlichen Logos und seine Stellung zwischen Gottvater und Welt.

Kleinliche Züge fehlen ja der Kirche des 2. Jahrhunderts auch sonst En.iurteii nicht, z. B. der, daß man die Trennung vom Judentum durch Verrücken der zwei wöchentlichen Fasttage von Montag und Donnerstag auf Mitt- woch und Freitag markiert und in einem Zusammenfallen der christ- lichen Osterfeier mit dem jüdischen Passafest ein der Christen unwürdiges Judaisieren verabscheut. Indes, man hat doch keinen Posten, den die Alten besetzt hatten, aufgegeben, nicht die Armseligkeiten offiziell glori- fiziert und das Große mit dem Anathem belegt; weil der Prediger in 2. Clem. wie der Apologet Aristides, oder auch der Prophet Hermas und der das Auferstehungsdogma untersuchende Athenagoras sich höchstens als Ausleger fühlen, nicht als Spender, dürfen sie sich auf das beschränken, was nach ihrem Urteil damals leicht übersehen wurde; die Beschränktheit ihres Urteils ist keine Folge ihrer Religion. Unter der Schwelle des Be- wußtseins wirken die frischen Kräfte der alten Zeit noch nach; sonst hätte

I02 Adolf Jülicher: Die Religion Jesu und dis Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

die Gemeinde die lange Zeit der furchtbarsten Kämpfe nicht so erfolgreich durchschritten. Die wenigen Ruhmesblätter aus diesen Kämpfen, Berichte und Akten über Martyrien und Verfolgungen, legen ein weit glänzenderes Zeugnis für das Christentum jener Geschlechter ab als alle Apologieen und Predigten. Was aber die Kämpfe so besonders furchtbar machte, war, daß nicht bloß nach außen hin, gegen Juden, Heiden, Staat, Philo- sophie und auch die neuen Konkurrenzreligionen, wie die Mysterien des Mithras, der Isis, der Magna Mater, die Waffen zu kehren waren, sondern daß im Innern selbst ein Kampf auf Leben und Tod ausgebrochen war, ein Kampf, bei dem in der Tat das Wesen des Christentums auf dem Spiele stand.

DieGnosisniciit II. Der Kampf gegen die Gnosis, seine Gefahr und sein

Produkt. Segen. Es ist ein im 2. Jahrhundert sich dem Christentum aufdrängender Bundesgenosse, der seine Existenz am ernstlichsten bedroht hat, der Gnostizismus. In alten Ketzerkatalogen werden uns mehr gnostische Irr- lehrer aufgezählt, als wir kirchlich anerkannte Lehrer aus der gleichen Zeit kennen: ein Beweis, welch ein regsames Element die Gnostiker dar- stellen, und wie sie es überwiegend auf literarische Propaganda abgesehen haben. Aber insofern verschulden jene Kataloge einen noch heute nicht ausgerotteten Irrtum, als sie die Gnosis einfach als Häresie, d. h. Entartung des Christentums, betrachten. Denn der Gnostizismus ist nicht erst auf christ- lichem Boden erwachsen, er ist längst vor dem Christentum dagewesen. Die mandäische Religion, die wir aus ihren heiligen Urkunden ziemlich gut kennen, ist eine heidnisch-gnostische; heidnische Ophiten hat es neben christlichen Naassenern noch zur Zeit des Origenes gegeben; auch das Judentum, das der Gnosis doch wenig günstig lag, ist von ihr, wie der Elke- saitismus belegt, erfolgreich umworben worden. Zahlreiche Spuren gnosti- scher Anwandlungen werden in der Religionsgeschichte jener Jahrhunderte, deren Quellen so dürftig fließen, für uns ausgelöscht sein; doch dürfen wir aus der Heftigkeit, mit der die Kirche gegen den Gnostizismus zu kämpfen gezwungen war, schließen, daß die christliche Religion nicht bloß, weil sie die neueste war und weil sie am entwicklungsfähigsten er- schien, auf ihn die stärkste Anziehungskraft ausgeübt hat.

Das weseni- Eine alles umfassende Definition vom Gnostizismus zu geben ist un-

liebe in aller ..,.,, . -i-vt i •'t-'-ii /-• -i -i 11

Gnosis. möglich; dazu ist der Name, den nur ein ieil der „Gnostiker^* sich selber beigelegt hat, zu oft willkürlich angewendet worden, Gnostische Zentral- lehren gibt es nicht. Nur ist allen echten Gnostikern das gemein, daß sie das Ziel der Religion, die Erlösung der Geister von allem Materiellen, durch Mitteilung einer Geheimwissenschaft erreichen wollen, deren Inhalt in erster Linie kosmogonische Spekulationen, in zweiter Anweisungen zu rascher Erledigung des Vergottungsprozesses bilden. Insbesondere die christlichen Gnostiker fühlen sich keineswegs als Religionsphilosophen, die durch die Vernünftigkeit oder die logische Folgerichtigkeit ihrer Ge-

C. Die christliche Rcli^jinn in der Kirche von ca. 125 bis ca. 325. II. Der Kampf gepen die Gnosis. 103

daiikenreihoii zu überzeugen hoffen; sie wollen Apostel oder Propheten einer Offenbarungsweisheit sein, die sie je nach Geschmack bald von gleichzeitigen Ekstatikern, bald von sonst wenig bekannten Apostelschülern, bald aus uralter, bisher geheim gehaltener Literatur bezogen haben. Fast allgemein begegnet ein starker Einschlag babylonisch -persischer Vor- stellungen, die in den Mysterienkulten jener Glanzzeit des religiösen Synkretismus mit hellenischen Gedanken seltsame Mischungen eingegangen waren. Demgemäß die Grundlage der Weltanschauung ein durch poly- theistische Arabesken schlecht verdeckter schroffer Dualismus, dem Geist und Materie, Gott und Welt als absolute Gegensätze erscheinen, die Heils- prozesse lediglich naturhaft mit Ausschaltung der sittlichen Kräfte, die Individuen höchstens passive Zuschauer beim Spiel der die Welt bewegen- den Kräfte.

Von den angeblichen Stiftern der Gnosis, Simon dem Magier oder Äuere

' . . guostisclie

dem Samaritaner Menander, auch noch dem Asiaten Cerinth wissen wir Systeme. höchstens, daß sie die Welt nicht als Schöpfung des obersten Gottes, sondern einer himmlischen Kraft (Engel) ansehen. Satomil in Antiochia um 120 hat den unbekannten Allvater von dem Judengott, dem Schöpfer des armseligen Menschen, unterschieden und in der alttestamentlichen Ge- schichte das Ringen dieses ohnmächtigen Schöpfergottes gegen Satan, der die Menschen durch Aufreizung sinnlicher Begierde völlig in die Materie herunterziehen möchte, beschrieben gefunden. Der vom Unbekannten zur Rettung herabgesandte Christus kann nur ein Scheinmensch gewesen sein: die Rettung gelingt bei denen , die sich belehren lassen über die ver- hängnisvolle Wirkung des Heiratens, Fleischessens und jeder Unterwerfung unter die Materie. Ungefähr von den gleichen Prämissen aus gelangen Karpokrates und sein siebzehnjährig gestorbener Sohn Epiphanes, Verfasser eines Traktats über die Gerechtigkeit, zu den entgegengesetzten Resultaten : Jesus überwindet die weltschöpferischen Archonten durch Einführung des Kommunismus an Stelle des alttestamentlichen „suum cuique"; was uns die Archonten als sittHche Pflicht zur Erhaltung der Ordnung eingeredet haben, gilt es mit Füßen zu treten, weil die Welt eben nicht erhalten bleiben darf.

Etwas stärker von philosophischem Geist beeinflußt ist sicher Basilides »asiiides

'^ '■ _ 'um 125).

um 125 gewesen. Er sieht den Gott der Juden nur als einen von den 365 Äonen an, welche ihr Dasein wiederum den sieben Geistern, die in Ur- zeiten vom ungezeugten Vater ausgeflossen sind, verdanken. Wir bemerken bei Basilides ein ernstes Bemühen, die evangelische Geschichte in plausible Verbindung mit seinem System zu bringen. Den Höhepunkt aber erreicht die gnostische „Theologie" in Valentinus, der um 140 in Alexandria und v,iientini.s Rom gelehrt und eine Reihe hervorragender, selbständig weiterarbeitender Schüler hinterlassen hat. Er findet ein Motiv für die Emanationen: aus dem ursprünglich Einen, dem Bythos, dem schweigenden Urgrund, geht ein erstes Äonenpaar, Vernunft und Wahrheit, herv^or, weil jener sich nach Objekten seiner Liebe sehnt; da dies Objekt aber Gottes ganz würdig sein muß.

I04 Adolf Jülicher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

folgen weitere Äonenpaare so lange, bis mit dem 15. Paare ein ideales „Pleroma", d. h, die Fülle göttlicher Größe, vorhanden ist. Eine Regung des Übermuts in einem dieser 30 Äonen hat einen Absturz eines Stückchens von Gottheit in das grenzenlose Nichts, das unter dem Pleroma lagert, zur Folge; trotz des Eingreifens eines neuen Äonenpaars, Christus und Geist, behält dieses Stück, die untere Weisheit („Achamoth"), einen Platz draußen, wo es sich in Sehnsucht nach der Heimat verzehrt. Unsre Welt wird in ihm von dem Demiurgen geschaffen, deshalb trägt sie den Mischcharakter von Nichts und Gottesfülle zugleich. Aber die durch Jesus, den Boten des Pleroma, eingeleitete Erlösung leitet auch die Abtrennung der göttlichen Bestandteile in der Welt von den materiellen ein; das Ende wird eintreten, wenn durch die Erleuchtung aller Geistesmenschen sämtliche Reste von Weisheit in das Pleroma zurückgebracht worden sind: dann mag das nichtige Überbleibsel in Nichts zerfallen. Während die übrigen Gnostiker die Menschen unbedenklich in Pneumatiker und Hyliker teilen, d. h. in die Adepten ihrer Weisheit und in die Unbelehrbaren, für das Nichts Ge- borenen, und sich über Mißerfolge damit trösten, daß den Massen der Hyliker eben von Natur die Gnosis, wie alles Geistige, unzugänglich sei, setzt bei Valentin das kirchliche Gemeingefühl sich so weit durch, daß er zwischen jene beiden Klassen noch eine dritte, die der Psychiker einstellt, die keine Gnosis, wohl aber Glauben und gute Werke aufbringen, d. h. die kirchlich Frommen; ihnen wird auch ewiges Leben zugesichert, zwar nur am Rande des Pleroma, doch ohne daß sie ein Gefühl der Inferiorität in ihrer Seligkeit störte. Der Ein Nachkömmling des wurzelechten Gnostizismus ist die etwa seit

Älanichäismus ^r ■,■ ^ ••• ^ t-, i- tj

(seit ca. 242). 242 von dem Perser Mani gepredigte manichaische Religion, die denn auch alle noch vorhandenen Reste gnostischer Sekten in sich aufgenommen hat, „ein glühend prächtiges Natur- und Weltgedicht". Gleich ewig stehen sich Licht und Finsternis gegenüber als Riesenreiche, das Licht persönlich als Erster, Herrlicher mit zweimal fünf Gliedern, der sich einen Licht- himmel und eine Lichterde schafft, während im Reich der Finsternis sich erst in der Zeit der Urteufel bildet. Seine Gier unternimmt einen Ein- bruch in die Lichterde, wobei er einen Teil von Lichtelementen entführt und schleunigst mit Finsterniselementen zusammenmischt. In unserer aus vielen Himmeln und Erden bestehenden Welt, die von guten Geistern zum Zweck der Loslösung der gefangenen Lichtteile aufgebaut worden ist, stellen Sonne und Mond Riesenbehälter bereits befreiten Lichtes dar, Licht- schiffe, und unaufhörlich setzen die himmlischen Räder ihr Ausscheidungs- werk fort. Am schwierigsten ist die Arbeit an dem Menschen, den der Teufel nach seinem Bilde unter Assistenz von Habgier und Wollust mit perfider Einschließung aller Lichtkräfte geschaffen hat. Aber Sendboten von oben, wie Abraham, Zoroaster, Buddha, Christus, als letzter und Voll- ender aller Offenbarung Mani, belehren die Menschen über die Wahrheit, und die Auscrwählten unter ihnen entziehen sich durch die drei Siegel, die

('. Die christliche Religion in der Kirche von ca. 125 bis ca. 325. II. Der Kampf gf'K«'" '''c (inosis. 105

sie auf Busen, Mund und Hand legen, allen materiellen Genüssen, und lehren die andern, die Massen der Hörer, sich auf ein Leben in gleicher Askese vorbereiten. 80 naht langsam der Tag, wo die Weltgeschichte ihr Ziel erreicht, alle Lichtteile erlöst sind und die Engel nun die Welt in ungeheurem Brande zusammenstürzen lassen. Alsdann auf ewig getrennt hoch oben das Reich des Lichts, in der Tiefe das des Dunkels.

Man frasft: wie konnten nur diese Ausgeburten zügelloser Phantasie nie .vn/ieiimigs-

'^ 00 kr.-ift der Gnosis.

dem Christentum gefährlich werden? Die Antwort fällt schwer, wenn man bloß die Berichte der kirchlichen Häresiologen liest oder den geschwätzigen Blödsinn der noch erhaltenen koptisch - gnostischen Werke. Aber der lediglich gelehrte Apparat der Aonenreihen und -zahlen hat in der Predigt der gnostischen Missionare sicher nicht im Vordergrunde gestanden. Die Mischung mythologischer Phantasieen mit geschichtlichen Elementen ent- sprach dem damaligen Zeitgeschmack, der Zauber des Geheimnisvollen, den diese Gnosis sich gab, reizte viele, und noch mehr werbende Kraft endlich wird der aristokratische Zug in dieser Religionsform geübt haben: wem schmeichelte es nicht, sich durch die bequeme Zustimmung zu einer Lehre als Geistesmensch versiegelt zu wissen? Der Dualismus, an dem wir heut Anstoß nehmen, ist für naives Denken über die Welt immer die einfachste Erklärung ihrer Rätsel gewesen, und so pessimistisch über Menschen und Erde zu urteilen, daß man dem wahren Gott ihre Schöpfung nicht mehr zutrauen darf, liegt in Zeiten der Ermattung nahe; das Christen- tum hatte solche Stimmung durch manche Äußerungen selber befördert. Die Betonung der Minderwertigkeit der alttestamentlichen Offenbarung, wie sie bei den Gnostikern durchweg üblich ist, konnte als letzter konse- quenter Schritt auf dem Wege der Befreiung des Christentums von jüdischer Befangenheit erscheinen: die hohen dem Erlöser Jesus Christus erteilten Prädikate entschädigten für jene Einbuße. Der Widerstreit gegen das Mose- gesetz steckte dem Heidenchristentum von den Anfängen her im Blut; in der libertinistischen Form, die ja abschreckend wirken mußte, wird er sich nur selten in praxi bewährt haben; man stellte deshalb bloß die Theorie auf, für die auch die Kirche Sinn hatte: das Fleisch mißbrauchen! Den Erlösungsgedanken nehmen Basilides und Valentinus nicht nur ernst, sie führen ihn in größtem Stil, an Paulus Rom, 8 anknüpfend, für die ganze Welt durch; auch bei ihnen ist das letzte Ziel, daß Gott sei alles in allen. Uns erscheint es zwar ärmlich, daß nach ihnen die Welt eigentlich nur durch ein Versehen, bei Mani durch Mangel an Wachsamkeit, zur Existenz kommt, und daß nur eine Entwicklung zunäch.st nach unten und dann rückwärts zu dem Ausgangspunkt, aber nicht wahrhaft zu Neuem, Größerem zugelassen wird; allein die biblische Theorie vom Sündenfall und von der Wiederherstellung des Urstandes beruht auf der gleichen, genuin antiken Weltanschauung: der Schüler ist nie über seinen Meister. Auch den Hoch- mut der Erkenntnisleute endlich wollen wir nicht überstreng beurteilen; sie haben ja nicht behufs Austeilung ihrer Gnosis die Verleugnung der

Io6 Adolf Jölicher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

bisherigen Pistis verlangt, sondern, wie die Christusapostel in Korinth zu Paulus' Zeiten, ihre Weisheit als die Krönung des bisherigen Glaubens, als die Deutung der von ihm übrig gelassenen Rätsel gepriesen. Eindringen des Die Stärksten Beweise für die verführerische Kraft der gnostischen

Gnostizismus in . . i-t-»i'ii-t m ir

die Kirche. Gcheimweisheit liefern einmal die Beliebtheit der von ihnen massenhart in die Gemeinden geworfenen Tendenzliteratur in Romanform, neuer Evan- gelien, Apokalypsen und Apostelgeschichten, die ihr Gift nur tropfenweise, aber um so gefährlicher abgaben, und sodann die Tatsache, daß gerade die selbständigsten Geister unter den Theologen des 2. Jahrhunderts vom Gnostizismus mehr oder minder stark infiziert worden sind. Schon daß Clemens Alexandrinus um 200 den Ehrentitel eines wahren Gnostikers um keinen Preis aufgibt, ist lehrreich; aber Männer, die aus den lautersten Motiven Christen geworden waren und berufen schienen, eine führende Stellung in der Kirche einzunehmen, figurieren bald in allen Katalogen als Gnostiker: Marcion, Bardesanes und Tatian. Der Assyrier Tatian um 170 hat die gesamte Kirche mit seiner Angriffsschrift gegen die Hellenen beschenkt, speziell die syrische mit einem Evangelienbuch, das er aus den vier großen geschickt zusammengearbeitet hatte, und das in der syrischen Welt durch zwei Jahrhunderte unangefochten das offizielle Vorlesebuch gewesen ist: aber zur Begründung seiner strenge Enthaltsamkeit, Verbot der Ehe, des Fleischgenusses fordernden Ethik hat er gnostische Thesen ver- treten und so seine Ausstoßung aus der römischen Gemeinde herbeigeführt. Bardesanes um 200 hat das Verdienst, eine selbständige syrische Literatur geschaffen, das Muster für christliche Kirchenlieder gegeben zu haben, und in seiner Schule wurde die Freiheit des Willens und die Selbstver- antwortlichkeit des Menschen für seine Taten energisch verfochten. Gleich- wohl ist er als Gnostiker verfemt worden, weil er sich wohl einige von Marcion ihren kosmogonischen Ideen angeeignet hatte. Und vollends Marcion, der opferfreudige Paulusenthusiast um 140 in Rom, bringt als Resultat seiner Auslegung der paulinischen Briefe und des paulinischen (Lucas-) Evan- geliums heraus, der Gott des Alten Testaments, der zürnende und strafende Gott der Gerechtigkeit könne nicht mit dem Gott des Neuen, dem Vater Jesu, dem Gott der Güte und Liebe identisch sein, von dem jener in seiner Beschränktheit nicht einmal etwas wußte, daher er denn auch den Messias, der das Gegenteil von seinem verheißenen darstellte, kreuzigen ließ: so zerbricht Marcion kurzweg den Monotheismus und leugnet jede positive Beziehung der neutestamentlichen Offenbarung zu der alttesta- mentlichen! Daß die gnostischen Sätze bei ihm nicht der Ausgangspunkt sind, sondern erst später zugekommen, zeigt sich an dem Fehlen jedes Mysterienapparats: Marcion hat keine Offenbarungen empfangen und leitet auch das Heil nicht aus dem Wissen, sondern allein aus dem Glauben ab. Aber in der Materie kann er, die paulinische Verwerfung des Fleisches noch übertreibend, nur schlechthin Böses erkennen, im Gesetz des Alten Testaments nur einen in seiner Halbheit ohnmächtigen Kampf mit dem

(". Die christliche Religion in der Kirche von ca. 125 bis ca. 325. II. Der Kampf fjegen die Gnosis. 107

absolut Bösen; und so macht er reinen Tisch und erklärt nicht bloß das Mosegesetz, sondern den Gott dieses Gesetzes für „zwischeneing-ekonimen". Der wahre Gott ist an dem Dasein dieser erbärmlichen Welt unschuldig-, in seiner Güte nur bemüht, was in ihr zu retten ist, zu erlösen; doch kann dazu nichts Materielles gehören; daher ist auch für den Wandel der Gläubigen absolute Weltflucht oberstes Gebot.

Die Halbheit von Marcions Standpunkt zeigt deutlich, was für die uie GeWir

. . . des Knostischen

christliche Religion auf dem Spiele stand, als die Gnosis sie mit Be- Angriffs. schlag belegen wollte: der Monotheismus wäre aufgegeben worden, das Christentum hätte aufgehört eine sittliche Religion zu sein, es hätte den geschichtlichen Boden unter den Füßen verloren. Die zweite Konsequenz hat Marcion zwar vermieden, weil er da sittliche und religiöse Forderungen stellte, wo die echten Gnostiker sich mit Anbietung von Weisheit be- gnügten, die erste hat er in aller Form gezogen; wie sehr auch die dritte, ist ihm nur nicht zum Bewußtsein gekommen. Aber der Paulus der Briefe wie der Jesus der Evangelien, kurz die geschichtlichen Gründer der christlichen Religion haben das Alte Testament als Urkunde göttlicher Offenbarung verehrt: man kann nicht ihr Altes Testament durchstreichen und ihr Neues behalten. Wir rühmen an Marcion nicht bloß die Tapfer- keit und Treue, mit der er für seine Überzeugung gelitten und andere freudig für die Wahrheit zu leiden gelehrt hat, wir rechnen es der Kirche des 2. Jahrhunderts zur Ehre an, daß ein Marcion durch sie den Gott des echten Evangeliums kennen und lieben gelernt hat ein Beweis, daß sie mehr besessen hat, als die Überbleibsel ihrer damaligen Literatur ver- raten — , wir bewundern an diesem Halbgnostiker den Wahrheitssinn, der, statt sich durch exegetische Kunstsprünge zu beruhigen, wie sie die Gnostiker ja spielend zur Beseitigung unbequemer Einwände vollzogen, den Gegensatz zwischen den Urkunden der jüdischen Religion und denen der christlichen, wie er ihn empfand, auch zum Ausdruck brachte, und wir tadeln ihn nicht, daß er die einzig haltbare Ausgleichung dieses Widerspruchs, die Idee einer allmählichen Entwicklung der religiösen Wahrheit von niederen Stufen zu höheren, als Mensch seiner Zeit nicht gefunden hat. Aber die Kirche, die den Marcion von sich abschüttelte, offenbarte nicht nur mehr Klarheit des Denkens, insofern sie jene naive Mischung von Buchstabenglauben an die alttestamentliche Offenbarung und von erbarmungsloser Kritik an ihrem Inhalt, die den Marcion charak- terisiert, sich verbat, sie besaß auch gesunderen religiösen Instinkt, wenn sie sich die Idee von der Erfüllung alttestamentliche r Verheißung durch das Evangelium nicht nehmen ließ.

Vergewaltigung von geschichtlich Gegebenem ist auch in der Kirche Die Geschichts- nichts Seltenes gewesen; aber der Gnostizismus ist in all seinen Formen gnostischen

.... Religion.

die Verneinung des geschichtlichen Elements in der Religion überhaupt: in ihrem überspannten Antijudaismus setzt die Gnosis an die Stelle der geschichtlichen Persönlichkeiten personifizierte Ideen, konstruierte Figuren,

Io8 Adolf JClicher: Die Religion Jesu und die Anfange des Christentums bis zum Xicaenum.

Gestalten, teilweise wundervoll gebaut, historische Schauspiele schön anzu- sehen, aber alles nach der Phantasie des Dichters gemodelt: in dem, was sie als christliche Religion anboten, steckte nur die Religion der Schul- häupter, gar zu wenig von dem wirklichen Jesus und seinem Evangelium. Die Kirche tat recht daran, daß sie ihre Überlieferung gegen die Invasion eines radikalen geschichtslosen Subjektivismus verteidigte, daß sie sich trotz aller Antipathie gegen das damalige Judentum ihre alttestament- liche Vorgeschichte nicht rauben ließ. Nur dadurch hat sie ihren Platz in der Geschichte der Religionen behalten und sich nicht aufgelöst in Philosophie: in der Tat hätte sie gegenüber dem Xeuplatonismus , der im 3. Jahrhundert aufkam, keine Existenzberechtigung behalten, wenn sie der Gnosis anheimgefallen gewesen wäre; denn was die Gnosis neben In- teressen des Welterkennens noch an religiösen und sittlichen Bedürfnissen befriedigte, wurde von Plotin oder Porphyrius in höherem Maße, im Rahmen ernster Wissenschaft, erfüllt. Wer für sein religiöses Leben nicht den wirklichen Jesus und den wirklichen Paulus brauchte, der fand bei den Neuplatonikem eine der christlichen ziemlich gleich gestimmte Reli- giosität und nahe verv\'andte sittliche Ideale, Segensreiche Eine segensrcichc Folge für das Christentum hat der schwere Kampf,

Wirkung des ..—...

gnostischen den CS mit den Gnostikem führen mußte, sofort gezeitigt Die Kirche ist

Kampfes. , , . . ^-^ . ,

ZU energischer Kraftentfaltung auf vernachlässigten Gebieten gezwungen worden, und eine kirchliche Wissenschaft ist wunderbar schnell aufgeblüht. Die eifrige Propaganda der miteinander wetteifernden gnostischen Schulen hatte alle möglichen Formen der antiken Literatur in ihren Dienst ge- nommen: Romane für den Geschmack der kleinen Leute und Oden vor- nehmsten Stils, Predigten, Briefe, große wissenschaftliche Abhandlungen dogmatischen, polemischen und exegetischen Inhalts. Die Kirche, die den Erfolg solcher Vielseitigkeit beobachtete, konnte nicht dahinter zurück bleiben; auch sie verlegt sich seit etwa 150 auf Herstellung von religiöser Unterhaltungshteratur für die verschiedenen Stände: daß die apokr}TDhen Apostelakten kirchlichen Ursprungs bisweilen den gnostischen bis zum Verwechseln ähnlich sehen, ist kein Wunder, wenn doch ihr einziger Zweck war, jene zu verdrängen. Die Anfänge Mit bloßeii Ketzcrkatalogen aber waren die Häresieen nicht geschlagen;

einer kirchlichen ^ , . ». ...

Wissenschaft, es galt, im einzelnen ihre Irrtümer aufzuzeigen, die \\ illkürlichkeit ihrer Schriftauslegung, die Abenteuerlichkeit ihrer Weltbilder und die Wider- sprüche in ihren Systemen. Das zu leisten waren nur wissenschaftlich geschulte Köpfe fähig, und es ist kein Zufall, daß die erste große theo- logische „Schule", die von Alexandria, um 170 entstanden ist. Das um- Tertuiiian faugrciche Werk, das TertuUian nach 200 gegen Marcion veröffentlichte,

(um 200). j j- L'

verdient auch als wissenschaftliche Leistung- ge wertet zu werden; die Sorg- falt, mit der er da die kanonischen Texte aus der Bibel seines Gegners Vers für Vers vornimmt, um ihm, einmal ihre Echtheit und Zuverlässigkeit vorausgesetzt, den Widerspruch seiner Lehre zu jenen Urkunden zu demon-

C. Die christliche Religion in der Kirche von ca. 125 bis ca. 325. IT. Der Kampf <,'e{jen die Gnosis. iqq

strieren, imponiert nicht woniger als die advokatorische Kunst, mit der er das Gewonnene ausbeutet. Irenaeus, Bischof von Lyon, Kleinasiat von irenaeus Geburt, hat um i go ein großes Werk zur Widerlegung der falschen Gnosis verfaßt, in dem er als Erster den Fehler aller früheren apologetisch-pole- mischen Literatur vermeidet und statt des ewigen Herumstreitens um ein- zelne Irrtümer des Gegners ihn vielmehr durch Nebeneinanderstellung seiner leeren Phantasieen und der so fest fundamenticrten und so inhaltsreichen kirchlichen Glaubenssätze vernichtet. Hippolytus, Bischof von Rom um Hippoiytus

(um 222).

222, und gleichzeitig der Palästinenser Julius Africanus denken schon juiiusAfricanus an etwas wie kirchliche Gcschichtschreibung; von Africanus ist ein Brief erhalten, der, ein Meisterstück literarischer Kritik, die Unechtheit der Susannageschichte im Danielbuch aufweist; und Hippolyt hat in Form von Predigten und Kommentaren Schriftauslegung für die Gelehrten wie für die Gemeinden und Belehrung über dogmatische Einzelfragen mit redlichem Eifer betrieben.

Aber die Sterne bleiben doch die Meister von Alexandria, Clemens nie großen

Alexandriner:

um 200 und Origenes von 202 bis 254, in den letzten 11 Jahren allerdmgs ciemens

... , iuni 200',

nicht in Alexandria, sondern im palästinischen Cäsarea forschend, leh- Ori^enes

(202—254). rend und schriftstellemd. In der „Schule" zu Alexandria wurde, wie an

vielen anderen Stellen seit Jahrhunderten, wißbegierigen Männern und Frauen in Vorträgen, Übungen sowie im persönlichen Verkehr eine uni- versale Bildung gegeben: das Neue ist, daß jetzt Christen die Leitung solch einer Schule als Lebensberuf wählten, und daß sie sich bald begeisterte Liebe auch heidnischer Zuhörer erwarben. Was sie über Logik, Rhetorik, Physik und Mathematik vortrugen, wird sich schwerlich von dem, was heidnische Kollegen boten, unterschieden haben; aber die Krone bildete bei ihnen Metaphysik, Religionslehre und Ethik auf der Grundlage der heiligen Schriften; und wenn sie da mit hellenischen Philosophen ihrer Zeit konkurrieren wollten, bedurften sie selber einer philosophischen Bildung, einer wissenschaftlichen Weltanschauung, der Fähigkeit, die Ergebnisse ihrer sonstigen Forschung mit den Grundsätzen ihrer Religion systematisch zu einem Ganzen zusammenzuarbeiten. Clemens vermeidet in seinem großen dreiteiligen Werk zwar noch das System; absichtlich führt er seine Leser wie in einem riesigen Irrgarten lustwandeln, wenigstens in den für die Reifsten bestimmten „Teppichbeeten". Nicht nur die zahlreichen Aus- einandersetzungen mit gnostischcn Werken, noch mehr das geheimnisvolle Halbdunkel der zwischen selbstgefälliger Redseligkeit und orakelhafter Knappheit abwechselnden Rede zeigen, daß Clemens hier auf fremden Geschmack eingeht, er wnll eben Ersatz für gnostische Liebling.slektüre schaffen. Es fehlt dem Buch aber nicht an Abschnitten, wo er in wunder- barem Schwung des Ausdrucks bald die Sehnsucht nach Wahrheit, bald die Seligkeit des Besitzes von Heil und Frieden schildert: der beste Be- weis dafür, daß in der Kirche trotz alles Eiferns wider Schönheit, Kunst und Feingeschmack der Sinn für edle Form nicht ausgestorben ist. Mit

1 lO Adolf Ji'licher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

solchen Stücken gehört Clemens unter die größten Prosaisten der griechi- schen Literatur. Sein Nachfolger Origenes schreibt immer im Tone des Lehrers; aber unter den Gelehrten der Kaiserzeit steht er in der vorder- sten Reihe, nicht bloß durch die Unermüdlichkeit seines Fleißes und die Fülle seines Wissens, sondern auch durch die Größe und Bedeutung des von ihm Geleisteten und durch die Wahrhaftigkeit und vornehme Be- scheidenheit, die ihn wie den Leser ganz in der Sache aufgehen läßt. Fanatische Beschränktheit späterer Orthodoxen hat das Meiste von seinen Werken vernichtet, und eine ökumenische Synode hat 553 ihn den Häre- tikern zugerechnet; aber ihr Bestes haben die Späteren in der alten Kirche doch letzthin, wenn auch ohne es zu merken, von ihm gelernt. Das Riesen- werk der Hexapla, eine Sammlung sämtlicher überlieferten Formen des Alten Testaments als Grundlage zur Herstellung eines von allen unklaren oder falschen Lesarten gereinigten Textes, würde bei anderen ein volles Leben ausgefüllt haben: Origenes hat außerdem in einer Unzahl von Kommentaren verschiedenen Stils die gründliche Beschäftigung mit der Bibel in den Mittelpunkt theologischen Interesses gerückt und schon als junger Mann in den 4 Büchern de principiis eine Art von christlicher Glaubenslehre entwickelt. Freilich seine textkritische Arbeit mußte miß- ling'en, weil sie von einem falschen Vorurteil zugunsten der Inspiriert- heit der LXX-Übersetzung^ ausging; als Exeget hat er die schlechteste aller Methoden, die allegorisierende oder die von dem mehrfachen Schrift- sinn und die von dem unendlichen Heilswert jedes, auch des gleich- gültigsten Bibelwortes zum Prinzip erhoben; und als Dogmatiker hat er hellenischem Denken enorme Konzessionen gemacht: sein Spiritualismus, Intellektualismus, Optimismus, Moralismus stammen nicht aus urchristlichem Boden. Alles Materielle, auch die Leiber, führt er aus, hat nur vorüber- gehenden Bestand, die wahre Welt, die Welt der Ideen ist ewig, und da alle Menschen ihrem besseren Teil nach ihr angehören, werden auch sie, ja sogar der Teufel, einst zu Gott zurückgeführt werden; die Sünde ist die Abwendung von Gott, d, h. von dem Idealen, und die Erlösung erfolgt im Grunde durch die PLinsicht des Subjekts in diese Ursache seines Elends und seine Rückwendung zu Gott: der geschichtliche Christus hat eigentlich keine andre Aufgabe wie der ewige Logos, nämlich uns die Augen zu öifnen über die Zwiespältigkeit unseres Wesens und die Einheit Gottes; die Gnade Gottes als unentbehrlich zum Heil wird kräftig betont, aber doch bleiben die paulinischen Begriffe von der dämonischen Macht der Sünde und darum dem verzweifelten Ringen zwischen Gutem und Bösem in der Seele für Origenes unverstanden. Das Verhältnis In drei Stücken vertritt Origenes die entschiedenste Opposition gegen

des Origenes zur , ,-, . . -ii /-- i-- i 1-1 1- j -o t_

Gnosis. den Gnostizismus: er stellt Gottes Emheit unangreirbar lest und weife auch die Lehre vom Logos und vom Geist so zu gestalten, daß der Monotheis- mus dadurch nicht gefährdet wird; er weiß sein Bild von der Weltent- stehung zu zeichnen ohne Benutzung aus fremder Religionsphilosophie er-

('. Die christliche Rclifjion in der Kirche von ca. 125 bis ca. 32 v Tl. Der Kampf trogen die Gnosis. i j j

borgten Materials, genau auf da.s sich beschränkend, was er aus den bibH- schen Berichten glaubt erheben /ai müssen die Äonenreihen und -paare fallen fort , und endlich ist auch jede Anwandlung von dualistischer Stimmung bei ihm ausgeschaltet. Aber nicht bloß als Abrechnung mit der Gnosis offenbart sich sein System, er steht doch auch direkt unter ihren Einflüssen: wie bei ihr so sehen wir auch bei ihm im Vorder- gründe des Interesses die Fragen der Erkenntnis Gottes, der Welt, des Menschen; mit ihr teilt er den aristokratischen Zug, indem er sich und die Wissenden von den Massen in der Kirche unterscheidet als die, die Gott im Geist, von denen, die ihn zu Jerusalem anbeten; wie ihr so fehlt auch ihm das rechte Verständnis für die individuellen und geschicht- lichen Elemente in der Religion, er beschreibt nur typische Prozesse. Spätere Theologen, von Methodius (um 300) an, der heftig für die Auf- erstehung der Leiber eintrat, haben Einzelheiten im Origenismus erfolgreich bekämpft; im ganzen ist die griechische Theologie nicht über ihn hinaus- gekommen, auch in der Exegese erst im nachnicänischen Zeitalter. Allein Origenes hat nicht für uns, sondern für seine Zeitgenossen geschrieben, und da hat er die rechte Sprache gefunden. Ein ehemaliger Gnostiker Ambrosius war es, der durch seine fürstliche Freigebigkeit die wissen- schaftliche Tätigkeit des Origenes ermöglichte; nur durch eine Mischung von Biblischem und Hellenischem konnten solche Männer der Kirche zurückgewonnen, konnte der Gmosis für die Zukunft das Wasser abge- graben werden: eine buchstäblich getreue Darstellung der Weltschöpfung nach Genes, i und 2 hätten die Gebildeten nicht ertragen.

Und da Origenes ja nur einen Versuch der Welterklärung unternahm, nicht daran dachte, sie als allein wahr anderen aufzudrängen, verdient er keinen Tadel; unter seinen vSchülern hat am ehesten weitherziger Geist in theologischen und kirchlichen Fragen gewaltet, wenig erpicht auf eine bestimmte Formel; wie weit umschauend erweist sich der Origeni.st Bischof Dionysius von Alexandria in den Verhandlungen mit Rom; wie charakteristisch ist es für den Origenisten Euseb von Caesarea, daß er in so wichtigen Fragen wie bei der Abgrenzung des Neuen Testaments nichts dekretiert, sondern den Leser selber, dem er möglichst umfassendes Material vorlegt, entscheiden lassen will!

Auf jeden Fall hat Origenes als Persönlichkeit wie durch seine Werke Das Christentum

, seit 200 ein

das Christentum in der Achtung der remstehenden ungemem gehoben. Kulturfaktor. Wie nachhaltig er als Mensch gewirkt hat, lehrt uns der Panegyriku.s, mit dem der Kappadokier Gregorius ihn beim Abschied aus seinem Unter- richte feiert: rührend bricht da durch alle rhetorischen Phrasen die innigste Verehrung und Liebe hindurch. Und wenn ein Mann von solchem Weltruf wie Origenes die Vernünftigkeit und Göttlichkeit der christlichen Lehre vertrat, konnten ernste Heiden wie Porphyrius dieser Religion trotz aller Abneigung ihren Respekt nicht mehr versagen; sie fangen nun an die Urkunden des Christentums gründlich zu studieren und erkennen auch

112 Adolf JOucher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Xicaenum.

damit seine geistige Bedeutung an. Kurz, seit das Christentum Werke wie die des Clemens und Origenes besaß, war es über den Verdacht, das Produkt einer barbarischen Seele zu sein, erhaben. Im Abendlande, wo man den Origenes nicht kannte, wo ein TertuUian, mit der Kirche zer- fallen, seine mächtige Originalität in Stil und Gedanken nicht zur Geltung bringen konnte und die anderen kirchlichen Autoren wie C}^rian' und Novatian doch mehr Gelegenheitsschriftstellerei für kirchliches Publikum trieben, mochte noch nach 300 Lactanz es nötig finden, durch ein Buch in feinem Ton, seine „göttlichen Unterweisungen", den Beweis zu liefern, daß es auch christliche Bildung gebe: im Orient ist um 200 die Religion der Christen bereits ein Kulturfaktor ersten Ranges geworden. Das hob auch das Selbstgefühl aller der Christen, die an solchem Fortschritt persön- lich nicht teilnahmen; die Verlockungen gnostischer Sekten und synkre- tistischer Apostel verloren dadurch viel von ihrer Gefahr, So hatte die Gnosis das Verdienst, in der jungen Kirche das Organ zur Entwicklung gebracht zu haben, durch das sie überwunden worden ist: eine theolo- gische, mehr noch, eine christliche Wissenschaft.

Zusammenhang III. Die V c r kir chll c hung des Christentums seit den gnosti-

chungsprozesses schcn Kämpfen. Eine in ihrem Kern ang'egriffene Religion darf aber nicht der Wissenschaft die Verteidigung allein überlassen. Am wenigsten hat das die christliche im 2 . Jahrhundert getan. Es fehlt in ihr nicht an un- mittelbaren Reaktionen, an Versuchen der Abwehr, die das fromme Gefühl aus sich selbst unternimmt; wir können sie unter zwei Hauptbegriffe zu- sammenfassen: Bildung fester Normen christlichen Glaubens und Schaffung von Organen zum Schutz dieser Normen. Apostolische Tradition, Kanon heiliger Schriften, apostolische Glaubensregel kommen für das erste in Betracht; die hierarchische Verfassung der Gemeinden mit monarchischer Spitze, der Zusammenschluß dieser Gemeinden in der katholischen Kirche für das andere. Ihr Verhältnis zu der gnostischen Bewegung ist ein anderes als das der in Alexandria geborenen kirchlichen Wissenschaft. Diese ist ganz und gar Gegenschlag gegen Ansprüche des Gnostizismus und verrät sich als solcher in ihrem Gesamtgepräge: sie ist Aneignung des religiös Annehmbaren aus der gnostischen Agitation. Natürlich wäre sie iiuch ohne das Auftreten des Basilides und Valentin einmal gekommen, aber sie hätte dann ein anderes Aussehen erhalten; wir dürfen sie heut aus ihrem Zusammenhang nicht loslösen. Dagegen gilt von den Bildungen, die heut für uns die Verkirchlichung des Christentums darstellen, daß die Gnosis sie lediglich beschleunigt hat. Sie waren bereits im Anzüge und hätten sich, falls es auch keine Gnosis gegeben hätte, kaum anders ent- wickelt. Denn sie lagen durchaus in der Richtung, die das Christentum vun 100 eingeschlagen hatte, und entsprachen seinem Wesen. Dieapostüiischo Pictätvollc Anhänglichkeit an das von ihren Gründern ihnen Mit-

Tradition. ., ... ^ . . . , -,

geteilte dürren wn- ni jeder der alten Gemeniden voraussetzen, und diese

C.Dicchrisll.Rolifjioiii.d.Kirchcvonca. I25bisca.325. III. DieVcrkirchlichungdcsChristcnUinis. i j 7

Gründer führten den Titel von Aposteln. So gab bei Meinungsverschieden- heiten, falls er zu erreichen war, der Apostel den Ausschlag. War er tot, so fragte man einen anderen Apostel, ging auch das nicht mehr an, dann solche, die mit apostolischer Lehre und Meinung Bescheid wußten. Die Möglichkeit eines Zwiespalts zwischen den Aposteln war ausgeschlossen (trotz Gal. 2!), da sie ja Träger göttlicher Offenbarung waren: daß es nur ein Evangelium, einen Christus, einen Geist geben könne, hatte Paulus nachdrücklichst eingeschärft. Schon um 55 ist ihm die Idee von Säulen- Aposteln geläufig, das Jesuswort von dem Felsen = Petrus tat das Seinige, um sie zu stärken; „apostolisch" hat gewiß alles sein wollen, was in einem christlichen Kreise etwa um 100 gelehrt und verfügt wurde. Da der Name Apostel bald darnach fast nur noch von den Zwölfen, mit Einschluß des Paulus und Ausschluß des Judas, gebraucht wurde, eignete er sich dazu, das sicher von Christus Kommende zu bezeichnen, denn seine zwölf Jünger hatte Jesus beim Abschied als seine Stellvertreter auf Erden eingesetzt.

Als nun die Gnostiker mit ihrer neuen Weisheit auf die Kirche ein- stürmten, hielt diese ihnen als erste Wehr die Gleichung von alt = apostolisch entgegen: was früher nicht gelehrt, nicht geglaubt worden war, konnte nur lügnerischerweise sich als christlich ausgeben. Die aposto- lische Tradition, die in den Gemeinden lebendig geblieben, konnten die neuen Irrlehrer niemals zu ihren Gunsten ins Feld führen, wollten es auch gar nicht; so wurde sie das Palladium für alle, die, ohne Gründe angeben zu können, die Gnosis mit Abscheu als etwas Fremdes und dem Christen- tum Feindliches empfanden. Der Prioritätsanspruch der Kirche ist im Prozeß mit der Häresie so durchschlagend, daß es eines weiteren Ver- fahrens gar nicht bedarf, hat Tertullian in einer seiner glänzendsten Streit- schriften ausgeführt; auch Cyprian findet allen Streit zwischen Kirche und Schismatikern dadurch entschieden, daß „nicht wir uns von jenen, sondern jene sich von uns getrennt haben, und Häresieen und Schismen später (als die Kirche) entstanden sind". Dies Festhalten an Überliefertem war damals sehr heilsam, aber es entwickelte sich dabei eine grundsätzliche Abneigung gegen alles Neue, gleichviel ob es Freunde oder Feinde dar- boten. Mit seinem Mißbrauch der Gedankenfreiheit hat der Gnostizismus die Kirche auf endlose Zeit herübergedrängt nach der anderen Seite, zu einem förmlichen Kultus der Tradition, zu einem schließlich bornierten Zorn gegen jede neue Knospe oder gar Blüte.

Natürlich mußte man den Begriff der apostolischen Tradition aber Die Bildung

eines neu-

auch mit Inhalt erfüllen. Eine Kirche, die es ernst nahm mit ihrem Stolz testamentiic-hen auf solchen Besitz und noch nicht in Versuchung kam, alles Mögliche, was ihr bequem lag, sei es in Liturgie oder Verfassung, in Kirchenrecht oder Dogma, als von jeher und überall in der Kirche anerkannt zu usur- pieren, sondern nur verteidigen wollte, was angegriffen war, wußte auch den richtigen Weg einzuschlagen, um jedermann ein objektives Urteil über das zu ermöglichen, was apostolische Tradition sei: sie suchte alle noch

DiK Kultur dkr Gbc.knwart. I. ^. JJ

IIA Adolf Jülicher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Xicaenum.

aufzutreibenden Schriftstücke aus der kirchlichen Urzeit zusammen und stellte sie neben die vom Judentum mit herübergenommenen heiligen Bücher des Alten Testaments als das Neue, beides zusammen ein Kanon von göttlicher Autorität, ein Maßstab, an dem gemessen werden müsse, was christlich zu heißen verlange. Apostolische Schriften konnten allein in Betracht kommen; es hat lange gedauert, bis man sich über den Um- fang des echt Apostolischen definitiv einigte, einzelne Bücher waren hier, andere dort zu wenig bekannt oder geradezu unsympathisch, aber in den Hauptstücken ist die Einigkeit, weil eben die Not drängte, wunderbar rasch hergestellt, die vier Evangelien, die Apostelgeschichte von Lucas, 13 Paulusbriefe. Der große antignostische Streiter um 190, Irenaeus, sieht diesen Kanon Neuen Testaments, zu dem bei ihm außerdem die Offen- barung des Johannes und einige „katholische" Briefe gehören, als mit dem Christentum gleichzeitig erschtiffen an, obwohl er erst bei seinen Lebzeiten, zweifellos unter dem Einfluß von Marcions Kanon, sich durchgesetzt hatte. Die Apostolizität mehrerer von diesen Büchern ließ sich schon damals leicht anfechten waren denn Marcus und Lucas Apostel gewesen? , aber der Takt, mit dem die Kirche ihr Bestes aus der Masse von Oifenbarungs- und beliebten kirchlichen Lesebüchern ausgewählt hat, macht weniger ihrem kritischen Sinn als ihrem religiösen Verständnis Ehre: die Christen des 2. Jahrhunderts das wird hier offenbar haben wohl gefühlt, daß ihre Religion mehr enthielt, als Apologeten und Erbauungsschriftsteller, Prediger und Evangelisten der letzten Generationen davon zu sagen wußten. Norm für die Freilich erwuchs aus dem Dasein des apostolischen Kanons die neue

erkiärung: Aufgabe, durch zuverlässige Auslegung ihm die Wahrheit zu entnehmen;

Glaubensregel. . . , . -n,^- i -i i i^-l- i

die junge Iheologie, vor allen ürigenes, hat mit brennendem Eiter sich dieser Pflicht unterzogen. Die Ergebnisse lauteten bei den verschiedenen Lehrern nicht etwa gleich; durfte das Schicksal der Religion nun dem guten Willen und dem Können der Gelehrsamkeit überlassen bleiben? Zum Glück für alle Teile ist das in einem Zeitalter, wo die exegetischen Methoden so verkehrt wie möglich waren, nicht geschehen. Das kirch- Hche Bewußtsein behielt sich ein Oberaufsichtsrecht vor, und es schuf sich zugleich mit dem Kanon, wenn nicht gar vorher, eine Art von oberster Norm für die Erklärung des Kanons, eine kurze, auch dem einfachsten Laien verständliche Formel, die den Kern der Glaubenssätze knapp zu- sammenfaßte, die „Glaubensregel". In welchem Verhältnis der Verwandt- schaft oder Abhängigkeit die Urformen der orientalischen Taufbekennt- nisse, nach denen das einzige wahrhaft r)kumenische „Bekenntnis" der christlichen Kirche, das Nicaenum, gestaltet worden ist, sich zu dem rchni- schen „Apostolicum" befanden, ist eine Frage von gering-erer Bedeutung: entscheidend bleibt, daß es um 200 wohl in allen Kirchen solche nur den Gläubigen bekannt gegebenen und darum mit einem besonderen Zauber geheimer Heiligkeit bekleideten Formeln gab, an denen der Christ fremd-

C. Dicchrisll.Reli<^ioni.(l.Kirchcvonca. l25bisca.325.IlI.T)ic VorkirchlichungdosCliristcnlums. i i :^

artige J. ehren messen mochte. Das hatten alle; diese rVjrmehi tremein, daß sie den Monotheismus, die Erschaffung der Welt durch Gott und die Hauptmomente aus dem irdischen Leben Jesu kräftig betonten; die Front ist eben gegen die Gnosis mit ihrem Dualismus und ihrer Mißachtung des jüdischen Erbes und des geschichtlichen im Christentum gerichtet. Was wir in dieser Glaubensregel vermissen, ist nicht immer darum fortgeblieben, weil man es für wertlos achtete, sondern weil es damals außer Debatte stand: Vorwürfe der Art dürfen erst der späteren Kirche gemacht werden, die das Bekenntnis vervollständigen wollte zu einem für alle Zeiten gleich maßgebenden Minimum dessen, was Inhalt des seligmachenden Glaubens sei. Wer das Apostolicum im Rahmen seiner Entstehungszeit würdigt, darf seine Schöpfung kaum niedriger einschätzen, als die des neutestament- lichen Kanons.

Indessen selbst die besten Geschütze helfen nicht, wenn man keine Das kirchliche Bedienung für sie hat. Die Willkür wird zuletzt mit jeder Formel und mit jeder Tradition fertig, falls ihr kein fester Wille gegenübersteht. Solcher Wille lebt nur in Menschen. Bewundernswert still und leicht hat die christliche Religion die Mannschaft für ihre Festungswälle geworben und sie streng militärisch org^anisiert. Jede Gemeinde zerfällt um 150 in Leitende und Geleitete, in Gebende und Empfangende, in Klerus und Laien. Die Ursprünge der klerikalen Institutionen reichen in die Urzeit zurück (s. S, 73), ihre sicher nicht in allen Provinzen gleichartige Entwick- lung liegt im Dunklen; die verschiedenen Grade, aus denen der Klerus besteht, haben verschiedene Rechte, hie und da rechnen sich weibliche Elemente, Witwen, Diakonissen, zum Klerus, und in großen Gemeinden werden, weil man neuer Kräfte bedarf, immer wieder niedere Stufen (Subdiakonen, Exorzisten, Lektoren) unter die alten geschoben. In Anti- ochia und zum Teil in Asien ist aber schon bald nach 100, um 200 aller- wärts, die Entwicklung so weit gediehen, daß die Regierung der Gemeinde in der Hand eines einzigen Bischofs liegt, dem ein Presbyterkolleg be- ratend zur Seite steht, und den eine Anzahl jüngerer Männer, Diakonen, in seinen Funktionen, seines Winkes gewärtig, teils unterstützt, teils ver- tritt. Die Kleriker sind Berufsbeamte, allesamt auf Lebenszeit berufen, für ihren Unterhalt sorg^ die Gemeinde, die sich wenigstens den Bischof selber wählt, aber ihn nicht etwa absetzen kann. Durch einen sakramen- talen Akt von ähnlicher Wirkung wie die Taufe werden die Kleriker in ihr Amt eingeführt; den Bischof ordiniert einer oder einige von seines- gleichen, alle anderen Kleriker darf nur der Bischof, und zwar der ihrer Heimatsgemeinde ordinieren: die monarchische Verfassung der Einzel- gemeinde ist vollendet, der Herrscher in seinem Gebiet fast unumschränkt, Auflehnung gegen ihn gilt als Auflehnung gegen apostolische Autorität und gegen Gott, der ihm das Siegel verliehen hat.

Die oberste Forderung an den Bischof ist, daß er über die Erhaltung Der Episkopat

. Hüter der reinen

des apostolisch Überlieferten in seiner Gemeinde wache; es hat einzelne Lehre.

I l6 Adolf Jülicher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

häretische Bischöfe gegeben, aber im allgemeinen hat sich das Vertrauen der Kirche zu diesem Amt als Hüter des guten Alten glänzend bewährt; das innerste Wesen des Episkopats war ja auch nichts anderes als Ver- tretung der Autorität gegenüber der Subjektivität, des Allgemeinwillens gegen Einzelstrebungen.

Bischofssynoden Und noch gesteigert wurde diese Garantie durch die schon um 175

poiiten. hin und wieder bezeugte Abhaltung von Synoden der Bischöfe einzelner Provinzen, wo zweifelhafte Fragen beraten und entschieden wurden: je mehr diese Institution sich festigte, um so näher kam man dem Ideal einer Einheitskirche; denn die Beschlüsse der einen Provinz wurden an die Nachbarn, wofern es sich um allgemeinere Interessen handelte, weiter- gegeben mit der begründeten Aussicht, dort ebenfalls als Rechtsnorm an- erkannt zu werden. Das Aufkommen der Provinzialsynoden hat ohne weiteres zur Folge, daß der Metropolit, der Bischof der Provinzialhaupt- stadt, in der man sich natürlich, nach dem Beispiel der Provinziallandtage versammelte, den Vorsitz führte und etwaige Verhandlungen nach auswärts übernahm. Bald forderte der Metropolit, der anfangs kaum merklich über seine Kollegen hinausragte, es als sein Recht, die Bischöfe in seiner Provinz zu ordinieren, ein besonders auch der Laienschaft deutliches Zeichen der Oberhoheit. Die Pyramide spitzte sich immer höher zu: ein- zelne Metropoliten wie die von Ephesus, Alexandria, Rom haben auch um 300 schon mehr bedeutet, als die von Ancyra oder Tarsus; die Patri- archate als Zusammenfassung größerer Komplexe von Provinzen sind, schon ehe Kaiser Diocletian das Reich in vier Präfekturen teilte, im Werden, und daß unter diesen mindestens der Ehrenvorrang Rom ge- bühre, würde wohl um 300 niemand bestritten haben.

Montanistische Aber ehe es soweit kam, war in der Christenheit ein scharfer Protest

^darÄmt.^^" gegen diese Umgestaltung erhoben worden. Um 156 war in Phrygien ein gewisser Montanus aufgetreten, der unter Berufung auf Visionen, wie sie, von ihm angesteckt, auch Frauen in seiner Umgebung, Priscilla und Maxiniilla, erlebten beanspruchte, als der von Jesus angekündigte Para- klet gehört zu werden, und als solcher über Ordnung und Sittlichkeit in diesen letzten Zeiten Verfügungen traf, die an dem Herkömmlichen arg rüttelten. Er begann nicht etwa mit einer Anathematisierung des Klerus; nur als der Klerus dem anmaßenden Eindringling die Türe wies, forderte er dazu auf, die rechten Merkmale für den Besitz des Geistes zu suchen, er fand sie bei den neuen Propheten und nicht bei den beamteten „Geist- lichen". Die grundsätzliche Differenz zwischen den Montanisten und der übrigen Kirche, die sie fast in allen Provinzen, teilweis nach heftigem, auch literarischem Kampf, herausdrängte, hat am klarsten ihr beredter Anwalt, der Presbyter Tertullian in Karthago, erkannt; jene glaubten wie in der apostolischen Zeit den Geist, dem allein das letzte Wort gebühre, an keine Person gebunden, wehend wo er will; die Majorität suchte ihn nur beim Amt: wer anders kann Gesetze für die Kirche erlassen,

C.Dicchristl. Kcli<,'i()ni.il. Kirche von ca. i 25 bisca.325. III. Die V(Mkiichlichuii<,Mlrs(;hrislcnlums. i j y

als die Männer, die in Taufe und Abendmahl uns alle lieilsgüter ver- mitteln ?

Der Montanismus hat mit seiner nicht mehr zeitgemäßen Repristi- Ausbildung der nation apostolischer Ideale nur die Klerikalisierung der Kirche beschleunigt; Pnestertum und jetzt legen sich die Bischöfe (und Presbyter, sofern sie die Sakramente Kirche, auch verwalten) den Titel Priester bei, und die Theorie wird ausgebildet, wonach kein Laie ohne Hilfe des Priesters zum Heile gelangen kann. Diese Idee bildet den Eckstein im Bau der katholischen Kirche. Der Name war aufgekommen im 2. Jahrhundert; die Majorität hielt sich diesen Schild gegen die Gnostiker vor, daß sie die über die ganze Welt hin verbreitete Gemeinde Gottes sei, während jene nur hin und her ihre Kon- ventikel stifteten. Dem Sinne nach ganz ähnlich dem später auch so viel umstrittenen „ökumenisch" sollte das Beiwort „katholisch" die Kirche, d. h. die Gesamtheit der im rechten Glauben verbliebenen Gemeinden als uni- versale bezeichnen, in die Universalität war die Einzigkeit eingeschlossen, mit beiden! wäre schon Paulus freudig einverstanden gewesen. Einheit und Einigkeit liegen ebenfalls schon in der Idee des Paulus von der Ge- samtkirche, dem Leibe Christi; spätere Geschlechter faßten, zumal man durch die Angriffe der Gnosis nervös geworden war, die Einigkeit als Ver- neinung aller individuellen Eigenart auf; Bischof Victor von Rom (um IQ5) meinte bereits nicht mehr dulden zu dürfen, daß irgendwo in der einen Kirche, z. B. in Ephesus, Ostern an einem andern Tage gefeiert und die Eeier anders eingerichtet würde, als in Rom. Dem w^idersprachen doch noch die Besonnenen auf allen Seiten, aber die Reflexion über den Um- fang dessen, was einheitlich an der Kirche trotz ihrer gewaltigen Aus- dehnung sei, schritt fort und hat in Cyprians Traktat „de catholicae ecclesiae unitate" einen klassischen Abschluß gefunden. Die These von der Aposto- lizität der Kirche, die nach :Matth. i6, i8 selbstverständlich ist, verlegt die Einheit der Kirche in ihr einmütiges Festhalten an allem Apostolischen, und apostolisch ist nicht bloß die im Neuen Testament und der Glaubens- regel niedergelegte Lehre, sondern fast noch gewisser das Amt. Denn die Apostel haben sterbend ihre Vollmachten, die Gott seiner Kirche nie entziehen durfte, ihren Nachfolgern, den Bischöfen übergeben, die da- von an ihre Gehilfen, Presbyter und Diakonen, abgeben mögen. Die unitas ecclesiae stellt sich in der Einheit und Unteilbarkeit des Episkopats sicht- barlich dar.

Trotz aller Bitterkeiten, die Tertullian über diesen numerus episcopo- Heiisamkeitdes

... „Amtes".

rum au.sgießt, der sich an die Stelle der Kirche setze, ist die Einrichtung des Bischofsamts für die Kirche ein Segen, sie ist unvermeidlich gewesen. Bei der Menge von Aufgaben, welche die Gemeinden sich gestellt hatten, waren Menschen nötig, die nicht nur gelegentlich sich ihnen widmeten: die Abhaltung der Gottesdienste, die Auslegung der Schrift, die Prüfung auftretender Lehrer, die UnterAveisung der Taufkandidaten, die Propaganda unter den Ungläubigen, die Seelsorge unter den Gläubigen, Aufsicht über

I l8 Adolf Jülicher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

die sittlichen Zustände in den Familien, Pflege der Armen und Kranken, Fürsorge für würdige Bestattung der Toten, Aufrechterhaltung des Ver- kehrs mit anderen Gemeinden erforderten die volle Kraft von mehr als einem Manne; und je bedrängter die Lage der Kirche war, um so größere Vollmacht mußte sie ihren Leitern anvertrauen. Die Bischöfe der ersten Jahrhunderte haben zum größeren Teil das ihnen geschenkte Vertrauen auch gerechtfertigt. Daß besonders hohe sittliche Anforderungen an sie gestellt und bei jeder Gelegenheit eingeschärft wurden, geschah nicht etwa wider ihren Willen, und bei den Verfolgungen, die sich immer in erster Linie, zuletzt beinahe ausschließlich gegen die Spitzen des Klerus richteten, haben sie durch Tapferkeit und Treue ein gutes Beispiel ge- geben. Nicht alle besaßen hohe Bildung, aber daß fast alle kirchlichen Schriftsteller dieser Zeit dem höheren Klerus angehört haben, hängt da- mit zusammen, daß noch nicht Ehrgeiz, Habgier und Familientradition, sondern Liebe zur Sache die Bewerber um Bischofsstühle inspirierte, und bei der Wahl die an der Gemeinde bewährte Fähigkeit entschied. Alundus vult decipi, hat man gesagt. Richtig ist: die Gemeinden um 200 wollten regiert werden, darum wurden sie regiert; der Klerus hat sich in die Kirche nicht räuberisch eingeschlichen, sondern ihr nur den Willen getan. Durch das monarchische Regiment wurden den Gemeinden die zumal auf hellenischem Boden sonst grassierenden Parteitreibereien erspart, und wie sollten zweifelhafte Fragen der Lehre oder Disziplin auf Synoden anders entschieden werden als durch Majoritätsbeschlüsse der berufenen Vertreter der Gemeinden wenn eben ihre definitive Entscheidung als dringendes Bedürfnis erschien? Konsequenzen Solangc sich der Klerus wie einst der Apostolat in Paulus nur zum

aus dem neuen ' ,.-,_.,.

Kirchenbegriff. Dicustc der Gcmcmdc berufen wußte, brauchte er kein Hindernis gesunder Entwicklung von Frömmigkeit und Ethos zu sein. Viel bedenklicher aber ist die Versteifung des Kirchenbegriffs, welche die Verleihung des Priester- charakters an das Amt zur Folge hatte. Was bei Paulus eine ideale Größe ist, die nur durch den Geist zusammengehaltene Gesamtheit der Gläubigen, das ist in der katholischen Kirche um 200 ein nach dem Muster des Staats organisierter Verband von Gemeinwesen geworden, aus- gestattet mit Gesetzen und Polizei und bald geübt im Vollziehen von Strafen bis zur Ausstoßung auf immer, gleichwohl in der Theorie nach wie vor eine Gemeinde von Heiligen! Zwar bröckelte von dieser Heilig- keit ein Stück nach dem andern ab; Bischof Callist von Rom gewährte um 2 1 7 Ehebrechern kirchliche Verzeihung, nach der decischen Verfolgung mußte man, weniger aus Erwägungen der Billigkeit als um die Kirche nicht zu entleeren, den „Abgefallenen" die Wiederaufnahme zugestehen. Eine scheinbar rigorose Partei zwar, nach ihrem Führer Novatianer ge- nannt, die sich Jahrhunderte lang- in schismatischen Gemeinden erhalten hat, bekämpfte diese Neuerung. Dabei trat aber der Mangel an Folge- richtigkeit in ihrem Kirchenbegriff zutage. Wenn die Kirche jedem ihrer

C.Dicchristl.Rclifjioni.d. Kirchcvonca. 125 bisca. 325. lII.Dic VcikirchlichunfjdcsC'hristcntunis. i j q

Mitglieder zwar die ewige Seligkeit garantieren konnte, ohne sie aber den außerhalb der Kirche befindlichen, für die Gottes Gnade ja immer noch besondere Wege erfinden mochte, abzusprechen, dann durfte man ohne Grausamkeit Todsündern det; Wiedereintritt in die Kirche verschließen, damit diese ihre Reinheit nicht verliere; allein weder das eine noch das andere paßte zu den Grundanschauungen der Christen um 250. Cyprian hat diese aufrichtiger bloßgelegt, indem er die Kirche als eine Erziehungs- anstalt für den Himmel betrachten lehrte, wo Böse neben Guten, Unkraut mitten zwischen dem Weizen ständen darum die Zugehörigkeit zur Kirche keineswegs schon Hcilssicherheit bedeute , indem er andrerseits aber aufs schroffste das: „außerhalb der Kirche kein Heil" proklamierte: das machte die endgültige Exkommunikation eines gefallenen Bruders ja ganz unmöglich; wer durfte einem andern, der sich nach Gott sehnt, den Zugang zu Gott auf ewig versperren?

Cyprian hat die Konsequenz für sich, aber diese Vergöttlichung der Ketzertaufstreit

und Donatismus.

Kirche, durch die in Wahrheit sie die Heilsmittlerin geworden ist und der Gott der Gnade depossediert für die ganze außerhalb der Kirche liegende Welt, offenbart sogleich noch bei ihm verhängnisvolle Eolgen. Im Streit mit Rom, der später zuungunsten Cyprians entschieden wurde, hat dieser die Forderung verfochten, Häretiker und Schismatiker, die zur Kirche übertreten wollten, seien nochmals zu taufen, da sie in Wirklichkeit keine Taufe außerhalb der Kirche hätten empfangen können, die Kirche also diese Pseudotaufe auch nicht gültig machen dürfe. Im Jahre 3 1 1 bestand die Majorität der afrikanischen Christen, bald eine große Sonderkirche, die der Donatisten, darauf, die Ordination des ihnen widerwärtigen Bischofs Caecilianus von Karthago für nicht erfolgt zu erklären, weil der eine seiner Ordinatoren ein in der Verfolgung gefallener Bischof, also ein Tod- sünder gewesen, durch solche Sünde aber aus der Kirche, zum mindesten aus dem Amt, ausgeschieden und keine Amtsgnade zu verwalten mehr fähig gewesen sei: man begriff nicht, daß dadurch g"erade, wenn man doch das Heil auch wieder so ängstlich an die Kirche und ihre Sakramente band, jedermann die Heilssicherheit genommen wurde; denn wie konnte einer wissen, ob er nicht von einem nur als solcher noch nicht erkannten Tod- sünder getauft, das hieß aber unwirksam getauft und außerhalb der Kirche geblieben sei?

Mit der durch Cyprian markierten Wendung im Begriff der „katho- Kirche und lischen" Kirche ist der Abfall vom Evangelium vollendet; gewiß bona fide, denn die ihn vollzogen, wollten die Ehrfurcht vor der Kirche, der weitaus die meisten Christen ihr Bestes verdankten, steigern. Aber die Zugehörig- keit zu einer bestimmten Gemeinschaft von Menschen zur conditio sine qua non der Sündenvergebung und des ewigen Lebens zu machen, dadurch das Schicksal des Einzelnen in die Hand von Menschen zu legen, die durch Mehrheitsbeschluß doch exkommunizieren konnten und exkommu- niziert haben, ja, es sogar in Abhängigkeit von dem Zufall zu bringen.

I20 Adolf Jüucher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

ob der Einzelne, der den Anschluß an die Kirche wünscht, einem echten Organ der Kirche oder einem bloß scheinbaren in die Hände fallt, das ist die völlige Umkehrung des paulinischen „aus Glauben allein". Nicht, daß man den Glauben mißachtet hätte, aber man beschränkt ihn auf den Kreis derer, die zur Kirche gehören, oder vielmehr man schiebt ihm einen anderen Sinn unter: den Eintritt in die von Gott auf Erden für Heilswillige gegründete Heilsanstalt. Damit war der Heilsprozeß, der bei Jesus ein so überaus einfacher Vorgang ist, ganz allein zwischen der Seele und ihrem Gott, ausgestaltet zu einem komplizierten System mit allerlei Schranken zwischen Gott und dem Menschen: die Kirche hatte die Rolle des Erlösers übernommen; an der Stelle, wo ursprünglich das Evangelium gestanden hatte, wohin bei Paulus und Johannes „der Herr" getreten war, steht fortan die katholische Kirche, statt einer idealen Größe ein Haufe fehlbarer Menschen. Das Herdengefühl hatte die erhabene Regung des Individualismus auf religiösem Gebiet wieder erstickt. Die Sittlichkeit Auch diesmal war die Praxis nicht ganz so schlecht wie die Theorie. Es

in der Kirche .

um 325. war noch kern Sklavengehorsam, den die Kirche von ihren Mitgliedern ver- langte, und im Ausstoßen war man, außer bei falscher Lehre, durchaus nicht übereifrig. Allerdings mußte die sittliche Energie nachlassen, wenn man immer wieder hörte, daß denen, die in der Kirche blieben, der Weg zum Heil nie verschlossen sei. Auch die scharfe Unterscheidung von Todsünden und läß- lichen Sünden machte g'egen „kleine" Übertretungen, und zu denen zählten die schwersten Äußerungen der Gemeinheit, g'leichgültig; außerdem hatte man ja die Sakramente! Und wenn die Kleriker, wie später die Mönche, immerfort zu hervorragenden sittlichen Leistungen aufgefordert wurden, deuteten die Laien das so, als würden an sie gleiche Ansprüche im Ernst gar nicht gestellt. Bevormundet zu werden gewöhnt sich das Milieu immer gern, zumal auf sittlichem Gebiet, wo die neuen Gebote und ihre Auslegung, die Kasuistik, die schon damals einsetzt mit immer detaillier- teren Vorschriften für einzelne Stände und Verhältnisse, es zweifelsohne bequemer machen als das eigne Gewissen, Immerhin hat die Kirche er- folgreich gegen die heidnischen Laster und für Bruderliebe, Demut, Fried- fertigkeit gekämpft. Aber die Leistungen in sittlicher Hebung des Volks, auf die sie am stolzesten war, Ehelosigkeit, Verzicht auf Eigenbesitz, strenge Fasten u. dgl. stellen die schwächste Seite an dem Ideal des Paulus dar; in der „Bedürfnislosigkeit" hatte Jesus nicht die Vollkommen- heit erblickt, die uns dem Vater ähnlich macht. Seine neuen ethischen Grundsätze sind völlig vergessen: die Kirche wägt die Werke nicht nach Zwecken und Motiven, sondern zählt sie; einen Samariter, d. h, Häretiker als Muster guter Tat kann sie sich nicht vorstellen; daß gottesdienstliche Handhmgen im Streitfall hinter Ptiichten der Nächstenliebe zurücktreten müßten, ist ein unerschwinglicher Gedanke: es ist beinahe bloß ein neuer Pharisäismus an die Stelle des alten getreten.

C. Dir ein ist! . Rcli<,'i(>iii.(l. Kirche von ca. i 25 bisca. 325. III. Die VcrkircliliclumK<lcs(1irislciUunis. j 7 i

in der Religion ist das Resultat noch betrübender. Die Einheit Die Religion in

. . P^ . der Kirche um

Gottes und ein von jüdischen Beschränktheiten befreiter Gottesbegrifr sind 325. gerettet; aber aus dem Objekt liebevollen Vertrauens ist Gott, soweit nicht Gegenstand der Furcht, für die meisten Gegenstand grübelnden Nach- denkens geworden. Nicht wie ein Jünger Jesu glauben soll, sondern was er zu glauben hat, schreibt ihm die Kirche vor. Der Glaube an den Vater- gott im Himmel hat sich zu einer Orthodoxie entwickelt, die ihren ganzen Inhalt in korrekter Formulierung des Trinitätsdogmas erschöpft findet. Die Streitigkeiten um die richtige Fassung des Verhältnisses Christi zu Gott dem Vciter stehen im Vordergrunde des religiösen Interesses: kaum ein Standpunkt, den nicht einmal jemand vertreten hätte. Die J.aienschaft hielt sich die trinitarischen Subtilitäten noch eher fern; ein massiver Modalismus war das Populärste, weil Jesu Würde dadurch am höchsten geschraubt wurde, daß man in ihm nur eine andere Erscheinungsform des- selben Einen Gottes sah, den wir als Weltschöpfer Vater, als unsern Erlöser Sohn nennen. Die großen Theologen in Alexandria und Afrika blieben mit ihrem Subordinatianismus der paulinischen Christologie näher, aber gelöst haben sie das Geheimnis auch nicht, und die Ketzerprozesse, die dieser Kampf zeitigt, offenbaren eine jammervolle Verkennung des Unter- schiedes zwischen theologischen Hypothesen über Gott und religiösem Er- leben. Angesichts dieser Zänkerei berühren fast noch wohltuend die Anwandlungen von Überdruß an .solchem Di.sputieren über Dinge, in denen allein Herz und Willen entscheiden sollte wie bei Tertullian in der Richtung auf ein „credo quia absurdum" hin oder die Beschränkung des Glaubens auf einen Punkt, der nicht einmal spezifisch Christliches dar- stellt, nämlich die Auferstehung des Fleisches. Wissen und Hoffnung machen sich breit, wo die Religion hingehörte, in den Predigten, in der Literatur für Hohe und Niedrige: Virginität und Auferweckungsglauben hält der Durchschnitt für die entscheidenden Eigentümlichkeiten des Christentums, Von inbrünstiger Liebe, von einem warmen sich Gott ans Herz Werfen kommt gelegentlich in den Martyrien etwas zum Vorschein, doppelt rührend, weil es ganz gegen die Mode ist.

Die Verfolgungen haben der Kirche überaus wohlgetan, Ma.ssen von nie nicänische Spreu aus ihr weggeweht, alten Enthusiasmus neu entfacht, und in den (325). zum Tode Bereiten den Sinn für das Große in ihrer Religion hinter dem Kleinen, das sie alltags umgab, geschärft. Durch Kaiser Konstantin nahm diese Zeit 313, endgültig 324 ein Ende. Er schenkte der Kirche volle Bewegungsfreiheit und gewöhnte sie durch Berufung der stolzen Gesamt- synode zu Nicäa (325), wo 300 Bischöfe aus allen Provinzen auf Reichs- kosten tagten, ihre inneren Streitigkeiten als Staatsangelegenheiten ober- ster Ordnung zu betrachten. Damals hatte ein Presbyter Arius in Alex- .vrius. andria über das Verhältnis des Sohnes zum Vater Thesen aufgestellt, die seinen Bischof Alexander empörten die Eifersucht zwischen anti- ochenischer und alexandrinischer Schule spielt hier zum erstenmal hinein,

12 2 Adolf Jülicher : Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

Arius hatte in Antiochia seine Bildung empfangen ; Arius nannte den Sohn, um jede Vermischung mit dem Vater auszuschheßen , ein Geschöpf mit zeitlichem Anfang, dem Vater im Wesen unähnlich, nur im Willen völlig eins mit ihm und vom Vater schon in der Präexistenz vergöttlicht. Als der Unerschütterlichste im Kampfe gegen diesen Halbgott - Sohn des Arius offenbart sich uns auf der vSynode der jugendliche Diakon des greisen Alexander, der Äg^'pter Athanasius. Friedliche Einigung war nicht zu erreichen. Die Mehrheit der Synodalen wünschte die Unbe- stimmtheit biblischer Formeln. Doch ohne lange Verhandlungen wurde von den wenigen Okzidentalen, hinter denen aber der Kaiser mit seinem mächtig'en Einfluß stand, ein Glaubensbekenntnis durchgesetzt, das den schärfsten Gegensatz zum Arianismus vornehmlich durch das Prädikat „dem Vater wesensgleich" (homousios) für den Sohn repräsentiert. Um dieses Stichwort tobt fortan der Streit. Zwischen die strengen Nicäner deren Sache Athanasius, bald nach der Synode selber Bischof von Alex- andria, mit höchstem Eifer führt, und die radikalen Arianer, die bei dem „unähnlich dem Wesen nach" (Anhomöer) verbleiben, schieben sich ver- schiedene Mittelparteien ein, bald um ein „ähnlich", etwa noch mit dem Zusatz „nach der Schrift" oder „in allem" (Homöer), bald um ein „wesens- ähnlich" (Homöusianer) geschart. Macht in der Kirche des Ostens haben sich diese Outsiders zeitweilig errungen, Vertrauen zu ihrer Rechtgläubig- keit aber nie; dazu hatte Nicäa den Homousianismus als Kirchenlehre zu klar verkündet, so klar wie Paulus die Aufhebung des Gesetzes oder Johannes die Menschwerdung des Logos.

Und die spätere Kirche konnte die nahezu einstimmig gefaßten Beschlüsse ihrer ersten allgemeinen Synode in der Glaubenssache un- möglich widerrufen, schon deshalb nicht, weil sie sich für die gleichzeitig dort vorgenommene taktvolle Erledigung praktischer, auch verfassungs- rechtlicher Fragen zu höchstem Danke verpflichtet fühlte: selbst ohne die Tapferkeit eines Athanasius, allein seines Ursprungs wegen, wäre das nicä- nische Symbol für das kirchliche Bewußtsein der folgenden Jahrhunderte ein rocher de bronce geblieben. Bei dem Gedanken an Nicäa schlugen die Herzen höher, nicht bloß wegen der Huldigung, die dort der Kaiser den Bischöfen, d. h. der Staat der Kirche dargebracht, sondern weil seit Nicäa die Kirche wußte, wie sie in Zukunft über Wahrheit und Irrtum, über gut und böse zu entscheiden habe: wenn es nicht anders gelang, durch M£!Joritätsbeschluß einer ökumenischen Synode. Die Verweit- So ist uui 325 die kathoUschc Kirche fertig. Jesus hat die christ-

lichung der ... o ^

Religion Jesu, lichc Roligion geschaffcn, Paulus sie zur Weltreligion erhoben, definitiv vom Judentum abgelöst und sie theologisch unterbaut, die von ihm ge- stiftete christliche Kirche ist durch die Arbeit der Generationen bis 325 zu einer mächtigen Festung erwachsen, deren Wälle, gut bewacht, jedem Feinde Trotz zu bieten vermochten. Der Fortschritt liegt da nicht bloß in dem Zuwachs an Gebieten und Macht: die Verweltlichung, die man der

C.Diochrisll. Rfli},'ioiii.tl. Kirche von ca. 125 bis ca. 325. III. Die \'crkirchlichuii<(dcs('liiislcntums. j 2 2

Kirche dieser Jahrhunderte nachsag-t, enthält auch ein gesundes Moment. Von der Religion allein können Millionen nicht auf die Dauer leben; daß man sich mit der hellenischen Wissenschaft in ein Bündnis einließ, sich bemühte, die verschiedensten Interessen, besonders die des Verstandes zu befriedigen, energisch ans Werk ging, das gesamte l.eben der Hinzeinen wie der Völker christlich zu normieren, war ein Verdienst, Einseitigkeiten sind genug übrig geblieben, aber eine Weltreligion muß sich der Welt auf allen Punkten gewachsen zeigen. Und ein Korn Wahrheit enthält doch die veraltete Idee von dem consensus quinquesaecularis, sobald man sie auf die vornicänische Zeit beschränkt: die Mutterschaft dieser Kirche braucht keine der vorhandenen christlichen Kirchen abzulehnen. Sie war noch bildungsfähig, noch nicht festgefahren auf toten Geleisen: wie sie den Geist Augustins ertrug, hätte sie auch den von Luther noch ertragen. Die Besseren empfanden die hierarchischen Formen und die theologischen Formeln noch als bloße Mittel zu höherem Zweck, und die Gestalt des ehrwürdigen Paphnutius, der zu Nicäa vor zwangsweiser Einführung des Cölibats warnte, verbürgt uns das Fortwirken eines Bewußtseins um indi- viduell verschiedene Arten sittlicher Betätigung und eine Abneigung gegen Gewissenszwang.

Als Hellenisierung darf man die Entwicklung des Christentums von Die Heiienisie-

rung der

Paulus bis Athanasius charakterisieren, nur braucht das nicht bloß ein Tadel Religion Jesu. zu sein. Die Hellenisierung, die schon bei Paulus begonnen hat, mußte kommen, sobald das Christentum sich der hellenischen Welt bemächtigte, wie die Germanisierung im Mittelalter kam, doch auch nicht zum Schaden des Katholizismus. Aber die Weite des Abstandes zw^ischen dem Ideal von Religion, das Jesus verkörpert, und der Wirklichkeit, die von den Vätern um 325 als Ideal gepriesen wurde, ist ungeheuer, und da ein Werturteil hier unumgänglich ist, kann man nur eine fortschreitende religiöse Verarmung konstatieren. Den Abstand hier wie im 2. Jahr- hundert durch Ungeschick der öffentlichen Wortführer der Kirche zu er- klären, geht nicht an; die Kirche der letzten 125 Jahre hat genug Männer, die im vollen Umfange wiedergeben, was in ihnen lebt, und über das kirchliche Wesen und Treiben in diesem Jahrhundert sind wir aus- reichend informiert. Zur bjitschuldig-ung gereicht der Kirche, daß sie zur Erziehung großer Völkermassen starke Mittel nicht entbehren konnte, daß es praktische Politik war, lieber das nur Bessere durchzusetzen, als durch starres Verharren auf dem Besten alles zu gefährden. Darin liegt denn auch das erklärende Wort für diesen Verlauf: das Christentum hat sich auf die Mittelmäßigkeit eingerichtet, nicht gerade bewußt, sondern weil dem Hochfluge seiner Schöpfer nur wenige hätten folgen können. Gefährlich wird diese Kondeszendenz erst dadurch, daß man das Unter- christliche nicht kräftig als solches unterstreicht, sondern eher in allen Formen bewundert und fördert. Was die neue Religion gemein hat mit vorchristlichen Religionen, Judentum und Heidentum, und selbst, was gar

124 -^JJOLF Jülicher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Xicaenum.

nicht zur Religion gehört, wie Kosmogonie und Engellehre, das drängt sich in den Vordergrund. Da stoßen wir auf den Dünkel der Aus- erwählten, den juristischen Einschlag in den Religionsbegriff, das blinde Vertrauen auf magische Wirkung kultischer Akte, aus dem allerhand derbe Superstition sich früh entwickelte, eine doppelte Sittlichkeit und die Überzeugung, daß Märtyrer, Konfessoren und Asketen von ihrem Über- fluß abgeben können, die Wurzel der Heiligenverehrung. Neigungen zu all dem sind sicher bereits in den ersten Gemeinden vorhanden gewesen: nicht ihr Dasein ist das Neue im Bilde der Kirche um 300, sondern ihr maß- gebender Einfluß. Den aber haben sie gewonnen durch die Annahme des Majoritätsprinzips in der Kirche, ja durch die Verkirchlichung des Christen- tums. Für Jesus und Paulus sind das Prius durchaus die einzelnen Persön- lichkeiten; eine Kirche Christi kann nur da sein, ist aber auch überall da, wo von Gott ergriffene Menschen sind. Um 300 ist das Prius die Kirche; fromme Menschen können nur da sein, wo die katholische Kirche ist: niemand kann Gott zum Vater haben, der nicht die Kirche zur Mutter hat. Damit ist die später dann ausdrücklich gelehrte Präexistenz der Kirche postuliert, eine gnostische Idee zu Recht anerkannt, und ein neuer Heils- faktor konstituiert. Ob ich das Heil erlange, hängt mindestens zur Hälfte davon ab, daß die kirchlichen Heilsapparate gut funktionieren, an deren magische Wirkung man dachte, wenn man von Wiedergeburt und Heiligung redete, höchstens zur Hälfte noch von meinem Entschluß, meiner Gesinnung, meinem Glauben. Diese Verteilung der Aktion auf beiden Seiten gebend Gott und die Kirche, empfangend die Kirche und der Gläubige ist das spezifisch „Katholische", eine Verleugnung der Universalität zu- gunsten eines neuen, wenn auch nicht wie im Judentum nationalen Par- tikularismus, gerade in dem Augenblick, wo man die Fahne der Katholizität prunkvoll entfaltete.

Solange noch Männer wie Origenes und Tertullian, wie Novatian und Eusebius geistige Führer der Kirche hießen, waren das aber keine irreparablen Schäden. Und der Kirche dieser drei Jahrhunderte bleibt das Verdienst, um des willen man ihr einige Selbstüberschätzung verzeihen darf, die Kontinuität der geschichtlichen Entwicklung gewahrt und die hohen Schätze des Evangeliums, die sie freilich nur mangelhaft verwertete, für spätere Zeitalter treulich gehütet zu haben. Für ein Zeitalter zunächst, das den Weg vom Nicaenum zu Johannes und Paulus zurückfand. Aber auch für ein Zeitalter darnach, das, noch im Werden begriffen, aus eben diesen Schätzen Kraft und Freudigkeit schöpfen wird, um auch den letzten Schritt zu tun, damit sich der Kreislauf vollende: den Schritt von Paulus zurück zur Religion Jesu.

Literatur.

Es hat lange gedauert, bis die von der Reformationsbewegung eigentlich provozierte geschichtliche Erforschung der neutestamentlichcn Bücher in Angriff genommen worden ist. RlCH. Simon, ein französischer Ordenspriester, hat 1689^1693 die erste (beschichte des Neuen Testaments verfaßt, wesentlich aber auch nur die an der Peripherie gelegenen Auf- gaben gefördert. Gleich wichtig war als Vorbereitung für Größeres die Befreiung der Exegese von verkehrter Überlieferung und dogmatischem \'orurteil durch Calvin (-|- 1564; und HuGO Grotius (-j- 1645). Um die Kritik der Überlieferung des Neuen Testamentes, vor allem seines Textes haben sich auch Orthodoxe und Pietisten (J. A. Bengel f 1752) verdient ge- macht. Aber erst die Zerstörung des Inspirationsbegriffs durch den Rationalismus (J. D. Michaelis und J. S. Semler, beide 1791 f) hat eine sichere Grundlage für eine neutesta- mentliche Wissenschaft geschaffen, die somit kaum mehr als 100 Jahre alt ist. Die tradi- tionelle Anschauung von der Entstehung des neutestamentlichcn Kanons hat bereits Semler selber radikal revidiert, seit 1800 wurden die Untersuchungen über die Entstehung der ein- zelnen Bücher, Bestreitung ihrer Echtheit, Zuverlässigkeit u. dgl. häufiger. De Wette, K. A. Credner, f. Bleek, Ed. Reu.SS, B. Weiss stellen mit der Fülle ihrer exegetischen wie literargeschichtlichen Monographieen und mit ihren zusammenfassenden Werken die ver- schiedenen Typen dieser neuen bis heute reichenden Periode dar. Die Tübinger Schule, F. Chr. Baur, Zeller, Schwegler, Hilgenfeld, Volkmar, Schölten, Colani u. a., hat inzwischen definitiv mit der Isolierung des Neuen Testaments gebrochen, in großem Stil die neutestamentlichcn Schriften als Produkte einer (beschichte und zugleich als dürftige Über- reste dieser Geschichte mit allen Unvollkommenheiten von solchen gewürdigt: die Geschichte der Religion erhielt hier den gebührenden Vorrang vor der Geschichte der Literatur. Aber Un- kenntnis der hinter dem Christentum liegenden Geschichte des Spätjudentums wie das Vorurteil von einer in dem Schema von Satz, (^egensatz und höherer Synthese sich notwendig voll- ziehenden Selbstentwicklung der Idee des Christentums führte die Tübinger zu einseitigen Ergebnissen. Einige Extreme in Holland wie LOMAN und van Manen denen Bruno B.MJER in Bonn aber schon um ein Menschenalter zuvorgekommen war, haben, freudig be- grüßt von einzelnen Denkern verschiedener Kulturländer, die das Negativste für das selbst- verständlich Wahrscheinlichste hielten, den Kultus der Idee so weit getrieben, daß sie im Neuen Testament gar keine echten Schriften mehr anerkennen, im Grunde keinen Jesus und keinen Paulus mehr, sondern nur eine von Unbekannten uns vorgemalte Christusgestalt und eine in Pseudonymen Briefen niedergelegte Paulus-Theologie. Unter den ,, positiven" Gegnern Baurs hat die geschichtsphilosophische Konstruktion keine geringere Rolle wie bei ihm gespielt. Doch scheint es jetzt der nüchternen, bloß auf das Wirkliche und Nachweisbare bedachten Wissenschaft durch Zusammenfassung der Kräfte aus allen Lagern im wesent- lichen gelungen zu sein, trotz der hier entsetzlich grassierenden Überproduktion von Seiten Unberufener das Neue Testament als die maßgebende Quelle für die Urformen der christlichen Religion zu würdigen und die Zerstückelung der Interessen und der Arbeit (Exegese, Literarkritik , Religionsgeschichte) zu überwinden. Die ernstesten Differenzen bestehen zur Zeit in der Textkritik.

Ausgaben des Neuen Testaments: The New Testament in the original Greek. Ed. by Westcott and Hort. 2 Bde. (^London 1896. 98). Novum Testamentum graece rec.

12 0 Adolf Jülicher : Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

Tischendorf ed. VIII. critica maior. 3 Bde., der dritte von Gregory (Leipzig, 1869 1894), unentbehrlich für das Studium der Überlieferung des Textes, aber selbst der dort verzeichnete gewaltige Apparat von \'arianten ist längst nicht vollständig, am wenigsten bezüglich der syrischen und lateinischen Versionen. Die Schriften des Neuen Testaments in ihrer ältesten erreichbaren Textgestalt will H. VON SODEN herstellen, doch ist bisher bloß I, I (Berlin, 1902) erschienen. Meisterhafte Übersetzung des Neuen Testaments: C. Weizsäcker, 9. Aufl. (Freiburg i. B. , 1899). Neutestamentliche Apokryphen (darunter auch die ,,Apostohschen Väter") übersetzt und mit Einleitungen in Bd. 2 ein Handbuch dazu herausgegeben von E. HENNECKE (Tübingen, 1904).

Exegese: Das einzige vollständige große Kommentarwerk zum Neuen Testament ist der Kritisch-exegetische Kommentar über das Neue Testament (Cöttingen, 1832 ff.), angelegt von H. A. W. Meyer, in 6. bis 9. Aufl. von B. Weiss, H. H. Wendt, Heinrici u. a. bearbeitet; die einzelnen Abteilungen von sehr verschiedenem Wert.

Literaturgeschichte: H. J. HOLTZMANN, Lehrbuch der historisch-kritischen Ein- leitung in das Neue Testament, 3. Aufl. (Freiburg i. B. 1892).— JÜLICHER, Einleitung in das Neue Testament, 3. Aufl. (Tübingen, 1901). Th. Zahn, Einleitung in das Neue Testament; grundgelehrt und eigenwiUig, vom konservativen Standpunkt aus, 2. Aufl. (Leipzig, 1900).

Religionsgeschichte: Statt der vorher üblichen Reihe von Lehrbegriffen Geschichte der christlichen Religion nach den neutestamentlichen Quellen H. J. Holtzmann, Lehrbuch der neutestamentlichen Theologie, 2 Bde. (Freiburg i. B., 1897). O. Pfleiderer, Das Ur- christentum, seine Schriften und Lehren, 2 Bde., 2. Aufl. (Berlin, 1902). P. Wernle, Die Anfänge unserer ReHgion, 2. Aufl. (Tübingen, 1904).

Leben Jesu: Linie von David Friedrich Strauss über Renan zu Keim, Hase, B. Weiss, Beyschlag. Oscar Holtzmann, Leben Jesu (Tübingen, 1901). P.W.Schmidt, Die Geschichte Jesu, 2 Bde. (Freiburg i. B. u. Tübingen 1899 u. 1904). H. Weinel, Jesus im 19. Jahrhundert (Tübingen, 1903).

Evangelienkritik: E. RENAN, Les evangiles et la seconde generation chretienne, (Paris, 1877). C. Weizsäcker, Untersuchungen über die evangelische Geschichte, 2. Aufl. (Freiburg i. B. , 1901). W. BRANDT, Die evangelische Geschichte und der Ursprung des Christentums (Freiburg i. B., 1893). P. Wernle, Die synoptische Frage (Freiburg i. B., 1899).

Paulus: O. Pfleiderer, Der Paulinismus, 2. Aufl. (Berlin, 1890). W. Wrede, Paulus. (Religionsgeschichtl. Volksbücher 5/6 [Halle a. S., 1905].)

Urchristentum: C. WEIZSÄCKER, Das apostolische Zeitalter der christhchen Kirche, 2. Aufl. (Freiburg i. B., 1892).

Kirchen-, Literatur-, Dogmen- und Kultusgeschichte der nachapostolischen Zeit s. die Literatur in dem nachstehenden Artikel von A. Harnack, Kirche u. Staat, S. 159 f.

S. 42, Z. 16. Josephus-Interpolation : EUSEB, Kirchengeschichte I, 11, 7 f.

S. 42, Z. 22. Talmudisten: Laihle, Jesus Christus im Talmud, 2. Aufl. (Leipzig, 1900).

S. 42, Z. 31. Agrapha: \'ollständigste Sammlung von Resch, gesichtet von ROPES, bequemste Übersicht bei Preuschen, Antilcgomena (Gießen, 1901) S. i 104; vgl. auch oben: Neutestamentliche Apokryphen.

S. 42, Z. 42. Johannesevangelium: W. Wrkde, Cliarakter und Tendenz des Johannes- evangeliums (Göttingen, 1903).

S. 45. Br. Bauer: Kritik der evangelischen Geschichte, 2. Aufl. (Leipzig, 1846); Kritik der Evangelien und Geschichte ihres l'rsprungs, 4 Bde. (Berlin, 1850 52); Christus und die Cäsaren (Berlin, 1877). Behufs billiger Beurteilung s. Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien (Göttingen, 1901) S. 280 282. Dürftige Nachahmung jüngster Zeit: A. Kalthoff, Das Christusproblem, 2. Aufl. (Leipzig, 1903).

S. 46. Jesus indoeuropäischer Rasse: H. St. Chambeklain, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, 2. Aufl. (Stuttgart, 1900), S. 210 219.

S. 49. Todestag Jesu : Neueste Berechnung auf 7. April 30 bei E. PreuSCHEN, Zeitschr. f. d. neutcsl. Wissenschaft i^Gießen, 1904, i 17).

I-itcratur.

127

S. 52. Jüdisches und Cbcrjüdisches in Jesus: Harnack, Das Wesen des Christentums (Leipzig, 19CX)) S. 33 95. J. Wellhausen, IsraeHtische und jüdische Geschichte, 5. Aufl. (Beriin, 1904), Kap. 23.

S. 53 f. Gottesreich: J. Weiss, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, 2. Aufl. (Göt- tingen, 1900). P. Wernle, Die Reichsgotteshoffnung in den ältesten christUchen Dokumenten und bei Jesus (Tübingen, 1903).

S. 54 f. Das messianische Selbstbewußtsein Jesu Christi. Festrede von E. SchüRER (Göttingen, 1903).

S. 55. Menschensohn: ein Jesu erst nachträglich beigelegter Titel nach Lietzmann, Der Menschensohn (Freiburg i. B. , 1896). WELLHAUSEN, Skizzen und Vorarbeiten. H. \'I (Berlin, 1899), S. 187—215, u. V— VII. O. Pflehderer, Das Urchristentum, 2. Aufl. (Berlin, 1902), I 670 6.

S. 60. Ärmliche Definition des Evangeliums: A. Loisv, Evangelium und Kirche, Übersetzung nach der 2. Ausg. (München, 1904), S. 39 ff.

S. 61. Marc. 12, 17: s. Wellhausen, Das Evangehum Marci (Berhn, 1903), S. loi, über das Urteil Ranki:s, Weltgesch. III, i, S. 161 (Leipzig, 1883).

S. 61. Jesu Einseitigkeit: W. Herrmann, Die sittlichen Weisungen Jesu (Göttingen, 1904), S. 27 ff.

S. 64. Schopenhauer, z. B. Die Welt als Wille und Vorstellung, 3. Aufl. (Leipzig, '859), I 385; II 188. 706. 7i5f. 725 f.; ähnlich RiCH. Wagner und Nietzsche; am ein- seitigsten Tolstoi; nicht frei davon Fr. Naumann, Briefe über Religion (Berlin, 1903).

S. 72. Urgemeinde und Judentum: Nach Hegesippus' Bericht bei EuSEB., hist. eccles. II 23, 6 Jakobus, der Bruder des Herrn unablässig im Tempel, um Sündenvergebung für das Volk bittend.

S. 75, Z. 16. Zeit der Ankunft des Paulus in Jerusalem: I. Kor. 9, i und II. Kor. 5, 17 sind kein Beweis für persönliche Bekanntschaft des Paulus mit Jesus.

S. 76. Aposteldekret: Harnack, Das Aposteldekret (Act. 15, 29) und die Blasssche Hypothese. (Sitzungsber. d. K. preuß. Akad. der Wissensch., Phil. -hist. Kl. 1899. XI 150— 176.)

S. 78, Z. 9. Reise nach Spanien, zuerst bezeugt im MuRATORischen Fragment von etwa 200 n. Chr., Z. 38 f. (neueste Ausgabe von Lietzmann, Bonn [1903]), von Harnack und Zahn als geschichtlich verteidigt.

S. 78, Z. 31. Missionsfahrten des Petrus: I. Kor. 9, 5 und in zahlreichen Apokryphen.

S. 84 f. Bruch mit dem Gesetzesdienst: kleine Inkonsequenzen abgerechnet, wie I. Kor. 9, 8 ff. die Berufung auf eine Vorschrift in Deut. 25, 4.

S. 88. Sakramente: Heitmüller, Taufe und Abendmahl bei Paulus (Göttingen, 1903). Vgl. auch I. Kor. 7, 14 „geheiligt ist der ungläubige Mann durch sein (gläubiges) Eheweib".

S. 92. Ignatius' Römerbrief: s. Patrum Apostolicorum opera edd. v. Gebhardt, Har- nack, Zahn, Bd. II (Leipzig, 1876) S. 56—58.

S. 98. Klein an (^.eist: so heißt Papias, Bischof von Hierapolis, bei EuSfc;Blus, hist. eccl. III, 39, 13.

S. 100, Z. 2. IL Clemens: cap. 16 s. Patrum Apostol. opera (zu S. 92) I, 1876, p. i34ff-

S. 100, Z 20. IOCX3 jähriges Reich: der in der späteren Kirche perhorreszierte Chilias- mus beherrscht förmlich die christlichen Schriftsteller des 2. Jahrhunderts ; darum hat man so viele ihrer Werke untergehen lassen.

S. IOC, Z. 25. Apologeten: vorläufig allein vollständig bei J. C. Th. von Oito, 9 Bde., 3. Aufl. (Jena, 1876 ff.).

S. 102, Z. 12. Gnosis: s. außer den Abschnitten in Harnacks Dogmengeschichte I und Pfleiderers Urchristentum 11: LiECHTENHAN, Die Offenbarung im Gnostizismus (Göt- tingen, 1901).

S. 102, Z. 23. Die mandäische Religion: W. BRANDT (Leipzig, 1889).

S. 102, Z. 24. Ophiten, Naassener: beides gnostische Schlangenanbeter.

S. 104. Manichäismus: K. Kessler, Mäni, Bd. I Berlin, 1889). Noch nicht entbehr- lich Flügel, Mani, seine Lehre und seine Schriften (Leipzig, 1862).

128 Adolf Jülicher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum.

S. III, Z. 8. Origenes' aristokratischer Zug: s. seinen Johanneskommentar XIII i6, 98, hsg. von Preuschen (Leipzig, 1903), S. 240.

S. III, Z. 37. Des Gregorios Thaumaturgos Dankrede an Origenes, hsg. von KOET- SCHAU (Freiburg i. B., 1894).

S. 113. Prioritätsanspruch der Christen: Tertullians Schrift de praescriptione hae- reticorum; Cyprian de catholicae ecciesiae unitate c. 12.

S. 113 f. Kanon: Th. Zahn, Grundriß der Geschichte des neutestamentlichen Kanons, 2. Aufl. (Leipzig, 1904). Eine der wichtigsten Quellen bleibt EuSEB., hist. ecci. VII, 25 u. III, 25.

S. 114, Z. 13. ,, Katholische", d.h. ,, allgemeine" Briefe nennt man seit dem 3. Jahr- hundert die (7) von andern Aposteln als Paulus verfaßten Briefe, weil sie nicht wie die großen paulinischen an einzelne Gemeinden gerichtet, sondern für die ganze Kirche be- stimmt sind.

S. II 4 f. Glaubensregel: F. Kattenbusch, Das apostolische Symbol, seine Entstehung, sein geschichtlicher Sinn, seine ursprüngliche Stellung im Kultus und in der Theologie der Kirche, 2 Bde. (Leipzig, 1894 u. 1900). Texte bei Hahn, Bibliothek der Symbole u. Glaubensregeln der alten Kirche, 3. Aufl. mit Anhang von Ad. Harnack (Breslau, 1897).

S. 117. Einheit des Episkopats: s. Cyprian de cath. eccl. unitate c. 5.

S. 119. Wiedertaufe: s. Cyprian schon de cath. eccl. unit. c. 1 1 , ,,dort (im Schisma) werden die Menschen nicht abgewaschen, sondern vielmehr beschmutzt, ihre Sünden werden nicht fortgenommen, sondern gehäuft."

S. 124. Präe.xistenz der Kirche: s. Cyprian de cath. eccl. unit. c. 7.

KIRCHE UND STAAT BIS ZUR GRÜNDUNG DER STAATSKIRCHE.

Von Adolf Harnack.

Einleitung-. Das Christentum als Religion im eigentlichen Sinn des Wortes enthielt nichts, was dem römischen Staat unerträglich erscheinen mußte, im Gegenteil nachdem er längst einen modus vivendi mit der jüdischen Religion gefunden hatte, konnte es nicht schwer erscheinen, einen solchen mit der christlichen Religion herzustellen; denn dieser fehlten manche Elemente, die dem Staate am Judentum besonders an- stößig waren.

Auch die Exklusivität der christlichen Religion und ihre Organisation in Form von Kirchen waren an sich nichts Unerträgliches; aber sie wurden es, weil das Christentum Anspruch auf die gesamte Bevölkerung des orbis Romanus erhob und weil seine Organisation demgemäß das ganze Reich zu umspannen suchte. Erst in der Kombination der Exklusivität und der Organisation mit dem Universalismus erschienen die Christen als Reichs- feinde und waren es vom Standpunkte des Staates wirklich.

Ein Ausgleich auf dem Boden des antiken und nationalen Staats war unmöglich, d. h. dieser Staat konnte nicht er selbst bleiben und zugleich die Kirche dulden. Allein er erlebte ganz unabhängig von der Zer- störungsarbeit der Kirche im dritten Jahrhundert eine Umbildung: er verlor das nationale Element, das er noch besaß, und hörte in Wahrheit auf, römischer Staat zu sein. Die Kirche aber erlangte im Laufe des dritten Jahrhunderts wirklich eine universale Organisation. Sicheres war für sie indessen damit noch nicht gewonnen; denn ohne Anlehnung ver- mag sie nicht zu leben. Sie kann in einem ihr feindlichen Staat exi- stieren, aber nicht in einem aufgelösten. Auch in dem feindlichen findet sie die Anlehnung, die sie braucht; mit dem verfallenden müßte sie bald selbst verfallen; denn sie zieht die Kräfte ihrer universalen Organisation zum größten Teil eben aus dem Staat.

Dies war die Situation, in die Diokletian eintrat: er schuf wieder einen Staat, zwar nicht mehr den alten, aber doch einen wirklichen und zentra- lisierten. Dieser neue Staat war der Kirche darin ähnlich, daß er alles

Die Kultur der Gegenwart. I. 4. g

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Adolf Harnack: Kirche und Staat bis zur Gründung der Staatskirche.

nivellierte und eigentlich an keine Nation als herrschende mehr gebunden war. Nachdem er geschaffen, sollte die Organisation der Kirche zertrümmert werden. Die Verfolgung des Diokletian, Maximinian, Galerius und Maxi- minus Daza ist die heftigste und längste, welche die Kirche erlebt hat; aber diese zeigte sich der Verfolgomg überlegen. Sie erhielt sich, man kann sagen ungeschwächt. Der entnationalisierte Staat vermochte der universalen Theokratie der Kirche ebensowenig Herr zu werden wie der frühere halbnationale. Diese Lage hat Konstantin vorgefunden, und er tat den einzigen Schritt, der zu tun möglich war: er verkuppelte den diokletianischen Staat mit der Kirche. In der Form einer Unterordnung dieser unter jenem konnte die Vereinigung sich nicht vollziehen; die Kirche war zu mächtig. Also mußte ein kompliziertes System von Über- und Unterordnung eintreten, und als ein solches System stellt sich in der Tat nicht erst die Schöpfung des Gratian und Theodosius, sondern schon die Konstantins dar. Auf einer Reihe von Linien des öffentlichen Lebens erscheint der Staat als der übergeordnete, aber in einer anderen Reihe steht die Kirche an der Spitze und hat die Leitung in den Händen. Ein Gleichgewicht sollte hergestellt werden, und man kann zugeben, daß es bis zu einem gewissen Grade erreicht und festgehalten worden ist. In- dessen es liegt in der Natur der Dinge, daß bei einem solchen Verhältnis der Staat nicht die Kirche stets in Gefahr steht, seine Autorität zu verlieren und aufgelöst zu werden; denn wenn er eine göttliche Mission der Kirche auf dem Gebiete der öffentlichen Ordnung anerkennt, so hat er selbst damit im Grunde bereits abgedankt. Was er dann noch dem „göttlichen" Recht der Kirche entg-egenzusetzen vermag, ist schwach und eindruckslos. Geschlagen auf dem Felde der Idee, in mühsamer Sophistik sein souveränes Recht verteidigend, sind Polizei und Militär die einzigen Stützen, die ihm bleiben. Nur wenn es dem Herrscher gelingt, den wirk- lichen, nicht nur den titulären Oberpontifikat an sich zu reißen, vermag er der Kirche Herr zu werden. Aber damit ist dann auch die Peripetie zu ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrt: die Kirche als selbständige Größe verschwindet dann wieder. Man kann aber auch sagen, daß der Staat verschwindet: eine Art von Theokratie tritt an die Stelle beider, die man beliebig einen verkirchlichten Staat oder eine verstaatlichte Kirche nennen kann. Im ganzen christlichen Orient, d. h. im Gebiete der orientalischen Kirche, ist dieser Zustand eingetreten, und er ist durch die Invasion und Etablierung des Islams daselbst noch verstärkt worden. Selbständig-e staat- liche und nationale Gesichtspunkte sind dort in einem solchen Maße ver- kümmert, daß die Konfessionsfrage alles bestimmt und beherrscht. Jeder Konfessionswechsel ist dort einem Wechsel der Nationalität gleich: der Mensch ist zunächst nicht Türke oder Grieche oder Armenier, sondern er ist Muslim oder Orthodoxer oder Anhänger des armenischen Bekennt- nisses. Nur scheinbar spielt im Abendland infolge der imponierenden Stel- lung des römischen Stuhles die Kirche eine größere Rolle; in Wahrheit ist

I. Enlstehung der Rcchtsbildung in der Kirche. I ^ i

ihre Macht viel geringer; denn im Abendland hat sich wieder eine selb- ständige Staatsg-ewalt entwickelt, und die Nationalitäten sind als solche ohne ein religiöses Bekenntnis wichtige Faktoren. Theokratisch ist nur der Orient geworden; im Abendland beruht das politische Leben in hohem Maße auf den Spannungen zwischen der Kirche einerseits und den natio- nalen und staatlichen Faktoren andererseits.

Doch diese Entwicklungen liegen außerhalb des Rahmens unserer Betrachtung. Sie möchte den Blick bei den drei Jahrhunderten fest- halten, die ihren Abschluß in der konstantinischen Schöpfung gefunden haben, in jenem System von Über- und Unterordnung des Staates und der Kirche, das die folgenden Jahrhunderte beherrscht hat.

I. Entstehung der Rechtsbildung in der Kirche. In einen Alter der

* ° . . Rcchtsbildung

Konflikt mit dem Staate kann die Kirche nur treten, wenn sie seme in der Kirche. Rechtsordnungen verletzt oder eigne Rechtsordnungen ausbildet, die den staatlichen entgegenstehen. Wie alt ist die Rechtsbildung in der Kirche? Als Religion im strengsten Sinne des Wortes vermochte das Christentum kein oder nur ein streng sakrales Recht zu erzeugen; denn es war geistig, innerlich und jenseitig. Dennoch ist es schon frühe zu Rechts- bildungen gekommen. Wie sind sie entstanden?

Augenscheinlich gehen ihre Anfange nicht auf eine Wurzel zu- Jesus, rück, und vollends aussichtslos ist es, irgend einen Ausspruch Jesu hier an die Spitze zu stellen, selbst wenn die Sprüche, auf die man sich zu berufen pflegt, zuverlässiger wären als sie es sind. Die am häufigsten herbeigezogenen Matth. i6, i8 und i8, 17 die einzigen, in denen das Wort „Kirche" sich im Munde Jesu findet sind als echt nicht zu halten. Dazu, aus Matth. 16, 18 läßt sich, auch angenommen, der Spruch sei echt, schlechterdings nichts deduzieren, w^as für die Anfänge einer Rechtsbildung in der Kirche in Betracht kommen könnte; denn der Ausspruch gilt der Person des Petrus und ihr allein und ist außerdem nicht rechtlicher Natur, auch wenn man dem Begriff des Rechts die w^ei- teste Fassung gibt. Ungefähr dasselbe ist von der Stelle Joh. 21, 15 17 zu sagen. Sie hat es nur mit Petrus zu tun, und nichts weist darauf hin, daß später einem anderen zukommen soll, was diesem Apostel zugesagt ist. Auch wird ihm nicht ein Recht eingeräumt, sondern eine Pflicht auf- erlegt, aus der man allerdings auch Rechte nach Belieben, aber ohne Ge- währ, zu deduzieren vermag. Matth. 1 8, 1 7 legt der Kirche, d. h. der Ge- meinde, allerdings eine Disziplinargewalt bis zum Ausschluß bei; allein der Spruch stammt, wie bemerkt, nicht von Jesus, sondern aus der Ge- meinde. Es bleiben nur die wesentlich identischen Sprüche Matth. 16, ly; 18, 18 und Joh. 20, 2^. Sie sprechen den Apo.steln (bez. dem Petrus) die Gewalt zu, die Sünden zu vergeben oder zu behalten. Auch diese Sprüche sind kritisch nicht unverdächtig; indessen sie mögen echt sein. Aber die Vergebung hat ihrem eigentlichen Wesen nach mit dem Rechte nichts zu

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tun; es müssen vielmehr erst rechtliche Momente von außen hinzukommen, um ihr eine rechtliche Natur zu verleihen. Also sind auch diese Sprüche an sich ungeeignet, als Ausgangspunkte für die Rechtsbildung in der Kirche zu dienen. Die wirklichen Die wirklichen Ausgangspunkte muß man in der Haltung der ältesten

der Rechts- Gemeinden suchen. Nimmt man aber den Standort bei diesen, so macht ^' man sofort dieselbe Beobachtung wie in bezug auf so viele andere An- fäng^e kirchlicher Einrichtungen: sie erscheinen fast vom ersten Moment an höchst kompliziert, weil die Kirche nicht in jeder Beziehung eine Neu- schöpfung gewesen ist, sondern auch die Transformation eines älteren Ge- bildes darstellt, femer weil sie das Leben von Anfang an in seiner ganzen Breite ergriff und mit Beschlag belegte, endlich weil sie in ein hochkulti- viertes Zeitalter eintrat, dessen Rechtsordnungen ihr zum Teil anstößig und feindlich, zum Teil willkommen und förderlich waren.

Sie war eine Transformation der Judenkirche und der Synagoge: von hier aus erklärt sich wie der Antrieb zu gewissen Rechtsbildungen so auch die Form, in welche sie sie faßte.

Sie legte Beschlag auf das gesamte Leben und Denken ihrer Gläubig^en sowie auf ihr gesellschaftliches Verhältnis zueinander und suchte alles einer festen Ordnung zu unterwerfen: damit aber war eine Rechtsbildung notwendig gefordert.

Sie sah sich einem hochkultivierten Staate gegenüber, zu dessen Rechte sie aber von Anfang an ein eindeutiges Verhältnis nicht zu gewinnen ver- mochte. Hätte sie einfach auf ihn eingehen können, so wäre es zu einer eigenen Rechtsbildung nur in sehr bescheidenem Umfange gekommen; hätte sie ihn umgekehrt in jeder Beziehung negiert, so wäre sie bald von ihm zertrümmert worden. Eben weil ihr Verhältnis zu ihm ein kompli- ziertes war, weil sie sich zugleich ihm unterordnete und ihn bekämpfte, ihn sich zum Vorbild nahm und ihn negierte, kam es zu dauernden Rechtsbildungen in ihrer Mitte.

Hiermit sind bereits drei Wurzeln des werdenden Kirchenrechts auf- gedeckt; es fragt sich, wie sich die einzelnen Rechtsgebiete zu ihnen ver- halten und ob sie sich reinlich auf sie verteilen lassen. Diese Frage wird zu verneinen sein; es wirkten vielmehr die angegebenen Elemente zum Teil in der gleichen Richtung und verstärkten sich gegenseitig.

Man kann der Kirche vorwerfen, daß sie, in dem Maße als sie sich ausbreitete, durch ihre Rechtsordnungen den Staat geschwächt hat; allein man darf nicht vergessen was sie ihm brachte, indem sie ihn einschränkte. Der Bund zwischen christlicher Kirche und Staat hat die zivilisierte Menschheit auf eine höhere Stufe gehoben. Erst in diesem Bunde ist der Mensch im Menschen zur Anerkennung gelangt und sind der geschichtlichen Entwicklung die Ziele gesteckt worden, zu denen sie sich jetzt bewegt. Der wahre Kosmopolitismus, die Ideen der geistigen Freiheit, der Gleich- heit und Brüderlichkeit sind erst auf diesem Boden eine Macht geworden.

II. Die Kirche im ersten Jahrhundert (ca. 30 130). j tj

und die christliche Gottes-Idee bestimmte als ein still aber mächtig wir- kender Koeffizient den Gang der Geschichte und sicherte wie den Adel so die Verantwortlichkeit der Persönlichkeit.

Auf den folgenden BLättern habe ich den Versuch gemacht, zu zeigen, wie sich in den ersten drei Jahrhunderten Kirche und Staat immer näher gekommen sind, bis sie sich endlich gefunden haben. Es ist üblich, die Geschichte des Verhältnisses der beiden Größen in diesem Zeitraum fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des Kampfes zu betrachten; aber diese Betrachtung kann nicht die des Universalhistorikers sein. Was unter und durch Konstantin geworden ist, muß eine lange Vorbereitung gehabt haben, und die Stadien dieser Vorbereitung müssen sich nachweisen lassen. Nichts Dauerndes in der Geschichte kann improvisiert gewesen sein. Man muß hier freilich zwischen den Zeilen zu lesen verstehen; denn die zeit- genössischen Berichterstatter haben gewöhnlich und so auch hier von dem, was sich vorbereitet, keine Kenntnis. Sie hören und sehen nur die vS türme, die über das Land brausen; aber daß sich in diesen Stürmen ein neuer Frühling ankündigt, werden sie nicht gewahr.

II. Die Kirche im ersten Jahrhundert (ca. 30 130) in ihrem Verhältnis

. zum Staat:

Verhältnis zum Staat und zur Kultur. Die Christen des ersten Jahr- Ablehnung. hunderts verzichteten auf ihr irdisches Bürgerrecht, wenn sie es auch nicht preisgaben. Sie empfanden sich als Fremdlinge in der Welt und darum auch als Fremdlinge im Staat. Sie hatten einer überirdischen Bot- schaft Glauben geschenkt, daß sie Bürger eines himmlischen Reiches seien, daß diese Welt demnächst aufhören und das neue Reich, die sicht- bare Herrschaft Gottes auf Erden, anfangen werde. Welches Interesse konnten sie noch für das Diesseits und für den Staat haben? Aber nicht nur etwas Gleichgültiges war ihnen der vStaat. Da er die Götzendiener beschützte und den Götzendienst in Kraft erhielt, so stand er offenbar unter dem Einfluß der Dämonen, und sofern er die wichtigste Stütze des Polytheismus war, war er augenscheinlich der Hauptsitz des Teufels. Liegt die ganze Welt „in dem Bösen", so auch der Staat. Zwischen Kirche und Staat, Christus und Belial kann es keine Gemeinschaft g'eben. In diesem Sinne hat z. B. Johannes seine Offenbarung geschrieben.

Allein neben dieser Betrachtung gab es andere, die in eine ganz an- Verhältnis

* * ' =• zum SUat:

dere Richtung führten, und auch sie machten sich mit zwingender Gewalt Zustimmung. geltend. Hat nicht dieser Staat mit seinem Augustus die Völkerwelt ge- einigt, der Welt den P>ieden gebracht und darin eine göttliche Mission bewährt? Bestraft er nicht die Bösen und hemmt er nicht die Ungerech- tigkeit? Hat er nicht in vielen Fällen die Christen vor der wilden Leiden- schaft des Pöbels geschützt, vor allem auch vor dem Haß des gott- verlassenen Volkes, das seinen Messias verworfen hat? Hat er nicht die Weissagung Christi erfüllt und das Gericht vollzogen an diesem Volke der Juden, ihren Tempel zerstört, ihre Stadt dem Boden gleichgemacht und

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sie selbst zerstreut? Endlich hat nicht Jesus Christus selbst den Römern Gehorsam bewiesen: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist", und hat nicht sein großer Apostel gelehrt: „Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat"? Ja, nicht nur zum Gehorsam gegen den Staat w^aren die Christen angewiesen, auch beten sollten sie für das Reich und den Kaiser. Und sie taten, was ihnen befohlen war: sie beteten in jedem Gottesdienste für sie. Compiexio Was wir heute, sei es kopfschüttelnd, sei es bewundernd, am Katho-

opposi orum. j-^j^j^^^g bcobachten, die complexio oppositorum, geht in seinen Anfangen bereits auf das älteste Christentum zurück. Es zeigt sich auf allen Linien der Lebensbewegung der neuen Religion, also auch auf der politischen: der Thron des Satan ist in Rom aufgerichtet, und hinter jedem Kaiser- bilde lauert der Dämon; das ganze Reich geht dem Untergang entgegen und wartet auf die Flammen, die es verzehren sollen. Aber eben dieses Reich hat einen göttlichen Auftrag, und sein Herrscher, der es geeinigt hat und regiert, strahlt in seiner irdischen Monarchie die himmlische Mon- archie selbst ab! Kann ein und dasselbe Gemüt beides empfinden, ein und derselbe Kopf beides nebeneinander denken? Unnütze Frage! So haben sie empfunden, wechselnd oft in jähem Übergang zwischen der Tages- und der Nachtansicht. Schlimm nur, wenn beide sich ver- mischten: eine argwöhnische und unwahrhaftige Reichsfreundlichkeit mußte die Folge sein.

Vorhäitnis zur Mit dem Staat war die Kultur aufs innigste verflochten. Zwar war der

Abiebnung. Staat längst nicht mehr Grund, Klammer und Ziel aller geistigen Betäti- gungen. Die „Philosophie" hatte das unermeßliche Gebiet neben ihm ent- deckt und ging auf selbstgebahnten Pfaden ihre eigenen Wege zu eigenen Zielen; aber doch gab es noch eine freilich immer mehr sich auflösende Einheit des Politischen, des Religiösen und des Intellektuellen. Eben des- halb aber empfand das jugendliche Christentum dieses alles als ein Fremdes und Verwerfliches. Es war doch alles vom „Götzendienst" durchsetzt, und dazu mußte die „Forschung" denen als ein Unnützes und Verwegenes er- scheinen, die in ihrem Glauben alles Wissens würdige bereits zu besitzen meinten. „Lasset euch nicht durch die Philosophie verfuhren", mußte hier die Losung sein. Gott hat die Weisheit der Weisen durch das Evange- lium zu Schanden gemacht!

Vorhüitnis zur Allciu nur im heißen Kampfe konnte diese T>osung ausgegeben werden.

l'hilosophie: c>iii -iii-i r ^ -r- ••!-»»

Zustimmung. Sobald er sich abschwächte, forderten andere Erwägungen ihr Recht, Lehrt jene Philosophie nicht so manches, was auch der Glaube lehrt? Ist sie nicht bis zum Begriff des einen, geistigen Gottes vorgedrungen? Ist nicht auch ihr das Gute das Beste und Mächtigste? Hat es nicht Phi- losophen gegeben, die sich den Irrtümern der Menge und den verwerf- lichen Meinungen des Tages entgegengestellt haben? Hat es nicht Einen gegeben, der für seine Überzeugung gestorben ist? Und weiter: Knüpft der christliche Glaube nicht an die Vernunft und Freiheit des Menschen

II. Die Kirche im ersten Jahrhundert (ca. 30 130). 1? =

an, an jene Vernunft und Freiheit, die Gott geschaffen hat? Ist die Seele nicht von Natur eine Christin? Wenn sie das aber ist, wie darf man ver- nachlässigen, was sie bezeugt? Was aber ist die Philosophie anders als die Sprache des Geistes und der Seele? Und wie kann man die christ- liche Lehre verkündigen und nahe bringen, ohne an das heilige Gut an- zuknüpfen, welches der Geist unverlierbar in sich besitzt?

Auch hier also ist eine complexio oppositorum gegeben! Eben die Compiexio Philosophie, die in ihrer Verflechtung mit dem Götzendienst etwas Dämo- nisches hat, ist doch auch ein Inbegriff anfangender Wahrheiten, eine Ab- strahlung der Wahrheit mitten im Schatten des Todes. Man mochte den Schatten noch so stark empfinden, aber man mußte doch auch das Licht sehen. Eine Religion, welche sich zu Gott, dem Herrn Himmels und der Erde, bekennt, welche den Anspruch erhebt, nicht Volks-, sondern Welt- religion zu sein, kann sich auf die Dauer nicht bloß negativ zur Geschichte der Menschheit und dem, was in ihr erarbeitet worden ist, verhalten. Sie kann auch nicht dabei verharren, ihre eigne Vorgeschichte nur auf der schmalen Linie der Geschichte einiger Propheten oder eines kleinen Volks anzuerkennen. Schon in der Apostelgeschichte wird dem Petrus das Wort in den Mund gelegt: „Xun erfahre ich in der Wahrheit, daß Gott die Person nicht ansieht, sondern in allerlei Volk wer ihn fürchtet und recht tut, der ist ihm angenehm." Und der große Heidenapostel Paulus hat gelehrt, daß Gott sein Wesen und seinen Willen überall offen- bart habe. In Momenten hoher Begeisterung und Freudigkeit konnte er der kleinen Schar seiner bekehrten Brüder zurufen: „Alles ist Euer."

Der enge Zusammenschluß der Christen untereinander, der Abschluß Feste kirchliche gegen die „Auswärtigen", die Grundsätze einer heiligen Lebensführung- und das Vorbild der Synagogen, denen man entstammt war, mußten mit innerer Notwendigkeit besondere Ordnungen erzeugen, in denen sich be- reits die Kirche als ein Staat im Staate darzustellen anfing. Die wich- tigsten dieser ursprünglichen Ordnungen waren folgende: i) Eine feste Kultusregel, welche die Gläubigen verpflichtete, täglich zusammenzukommen, 2) eine gemeinsame Kasse (für jede Gemeinde besonders), aus der die Armen und Hilfsbedürftigen unterstützt wurden, 3) Gemeindebeamte, welche teils als Disziplinärbeamte das sittliche Leben überwachten, teils als Kultus- und Wohlfahrtsbeamte wirkten, 4) eine feste und strenge Ehe- und Fa- milienordnung, welche über die staatlich festgesetzten Regeln weit hinaus- ging, 5) die Anfänge einer eignen Prozeßordnung den Christen wurde es untersagt, bei den heidnischen Gerichten in Zivilstreitigkeiten, die unter ihnen ausbrachen, Recht zu suchen; außerdem finden wir bereits eine Strafordnung in Kraft mit Ermahnungen, Warnungen und dem Banne, der den kirchlichen Tod der Betreffenden bedeutete, 6) die Anfänge von inter- ekklesiastischen Ordnungen, welche die weit verstreuten Gemeinden durch Kollekten und brieflichen Austausch miteinander verbanden, ihren reisen-

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den Gliedern Gastfreundschaft und Arbeitsnachweis zusicherten und eine Gemeinsamkeit der Entwicklung in allen wichtigeren Fragen verbürgen sollten. Berufsmäßige Missionare hielten zudem noch die Verbindung der Gemeinden miteinander aufrecht. Ein einheitliches Zentrum, wie es das Judentum in Jerusalem besaß, solange der Tempel bestand, hatte die älteste Christenheit nicht, wohl aber mehrere Zentren, unter denen bald die Welt- hauptstadt das wichtigste wurde. Die römische Die römischc Obrigkeit mußte frühe auf diese Bewegung aufmerksam

Obrigkeit wird . . . . . , . . .

aufmerksam. Werden. Dic Zeit, m der sie sie als eine rem innerjüdische Erscheinung beurteilt hat, dauerte nicht lange. .Sobald sie diesen Irrtum abgestreift hatte, war sie auch prinzipiell von der Staatsgefährlichkeit der Kirche überzeugt; denn ihre Mitglieder erschienen als Atheisten, verweigerten die Verehrung der Kaiserbilder und bildeten eine geheime Gesellschaft im Sinne des Gesetzes. Allein die prinzipielle Überzeugung von der Staats- gefährlichkeit der Christen hatte nicht die Folge, daß der Staat sie auf- suchte, um sie auszurotten. Daraus kann man entnehmen, daß er die fak- tische Gefahr, mit der sie das Staatswesen bedrohten, noch nicht hoch an- schlug. Mehr unter dem Druck der öffentlichen Meinung und des Pöbels, die der neuen Religion sehr feindlich waren, und auf Grund jüdischer Denuntiationen und Verleumdungen schritt er in einzelnen Fällen blutig gegen die Christen ein. Darüber freilich ließ er die Christen nicht im Zweifel, daß sie als Majestätsverbrecher sämtlich das Leben verwirkt hätten und daß er auf Grund des Gesetzes jeder Zeit in der Lage sei, sie blutig zu unterdrücken.

III. Die Kirche im zweiten Jahrhundert (ca. 130 230) in ihrem Verhältnis zum Staat und zur Kultur. Das zweite Jahrhundert des Bestehens der christlichen Gemeinden (ca. 130 bis ca. 230) zeigt bereits auf allen Linien eine Entwicklung, die sich dem Staate und der Gesellschaft entgegenbewegt. An der Verfassung der Gemeinden und ihrem Leben, an der Lehre und der Literatur, an der Frömmigkeit und dem Kultus, endlich auch an der Beurteilung des Staats und an den Rechtsordnungen, die sich ausbildeten, ist dies nachzuweisen. Die Verfassung i) Die Verfassung der Gemeinden hatte schon in dem ersten Jahr-

der Gemeinden. j n t-it

hundert die größten Wandlungen in rapidem Fortschritt durchgemacht. Ursprünglich mögen die Gemeinden auf dem Boden der religiösen Gleich- heit ihrer Mitglieder sehr verschieden verfaßt gewesen sein (die einen lehnten sich mehr an die Synagogen an, die anderen an die Ordnungen freier Kultvereine, die dritten an einen hervorragenden Patron oder Evan- gelisten usw.), aber allmählich erzeugten in den größer werdenden Ge- meinden die gleichen Bedürfnisse gleiche Organisationen. Neben den Missionaren und Geistträgem hatte sich ein Rat der Alten etabliert, der bald zu einem gewählten Presbyterkollegium wurde; aber auch Beamte für das Ökonomische, die Armenpflege und den Kultus waren hervorgetreten.

III. Die Kirche im zweiten Jahrhunilert (ca. 130 230). i ^y

Unter diesen Beamten hatte sich schon frühe einer als der eig-entlich Leitende jreltend gemacht, und da er auch Sit/, und Stimme im Presbyter- kollegium hatte, welches für die Ordnung und Zucht in den Gemeinden sorgte, verstärkte sich seine Stellung. Als die berufsmäßigen Evange- listen, Propheten und Lehrer immer seltener wurden und die Missions- Organisation der Kirchen in eine streng lokale überging, wurde dieser Kultusbeamte auch Lehrbeamte. Damit war die monarchische Stellung des Bischofs erreicht und entschieden. Sie hat sich aller Wahrschein- lichkeit nach zuerst in Syrien und Kleinasien ausgebildet, aber um das Jahr 150 scheint sie sich überall in den Kirchen durchgesetzt zu haben. Dem Bischof zur Seite stand das Presbyterkollegium; dienende Beamte des Bischofs bei dem Kultus und der Armenpflege waren die Diakonen.

Kaum war diese Ordnung' gfewonnen, so entwickelte sie sich zu einem oer Klerus ein

° * o , '/ •'^'a.nd über den

Stande über den Gemeinden. Dies lag m der Natur der Sache. Zwar Gcmeindt-n. wurden die Beamten von den Gemeinden gewählt, aber die Wahlhandlung lag faktisch sehr bald in den Händen der Beamten selbst, bez. des Bischofs, und jenen blieb nur ein ziemlich wertloses Recht der Zustimmung oder Ablehnung. „Geehrte" hatte es stets in den Gemeinden gegeben; ursprüng- lich waren es die Geistträger und asketischen Heroen gewesen. Der Wandel, daß nun die Beamten in erster Linie die „Geehrten" wurden, wurde daher nicht so stark empfunden, wenn er sich auch nicht ohne Gegenwirkungen vollzogen hat. Am stärksten wurde er durch die Tat- sache befördert, daß sich eine stets wachsende Anzahl der Christen durch ihre Lauigkeit selbst von der Leitung der Gemeinde ausschloß. Weil sie ihre Pflichten vernachlässigten, verloren sie auch ihre Rechte auf diesem Wege hat sich stets die Umwandlung der Demokratie in die Aristokratie bez. Monarchie vollzogen. So entwickelte sich aus einer Verbindung, in der ursprünglich der „Geist" und die Bruderliebe allein regiert hatten, eine rechtlich verfaßte, aristokratisch-monarchische Gemeinschaft, deren Ordnungen in vielen vStücken mit den Ordnungen der Stadtverwaltungen, in anderen mit den Ordnungen der Philosophenschulen übereinstimmten, und deren Beamte (voran der Bischof) in ihren Kreisen mächtiger waren als die städtischen Beamten in den ihrigen.

Die Entwicklung- der Verfassung blieb aber bei der Organisation derzusammenschiuB

^ * . * . d>-r Gemeinden.

Emzelgemeinde nicht stehen; die Anpassung an die bürgerlichen und rrovinziai-

. i o o ^ kirchen.

staatlichen Ordnungen griff weiter um sich. Es lag das ebenso m der Natur der äußeren Verhältnisse wie in der Natur der christlichen Religion, die auf einen größeren Bruderbund angelegt war und ihn wirksam zum Ausdruck bringen mußte. Schon die ältesten Missionare waren nicht nur in die Städte, sondern auch in die Provinzen gegangen, d. h. wie sie ihr Arbeitsfeld in Provinzen geteilt vor sich sahen, so paßten sie sich mit ihrer Tätigkeit dieser Einteilung an. Korinth wurde das Zentrum für die Mission in Achaja, Ephesus für die in Kleinasien, wie schon vorher Jeru- salem den Mittelpunkt der judäischen, Antiochia den der syrischen und

I^g Adolf Harnack: Kirche und Staat bis zur Gründung der Staatskirche.

kilikischen Mission gebildet hatte. Im Laufe des zweiten Jahrhunderts schlössen sich nun die Gemeinden einer Provinz noch enger zusammen und bildeten einen größeren Verein, ohne die Selbständigkeit der Einzel- gemeinde preiszugeben. Das wichtigste Mittel für diesen Zusammenschluß wurden die Provinzialsynoden, die zuerst in Asien und Phr}'gien gehalten worden sind nach dem Vorbilde der provinzialen Landtage , aber sich bald überallhin verbreiteten. Diese Provinzialsynoden sind die Vor- aussetzung-en gewesen für die Entstehung des Metropoliten, d. h. des Ober- bischofs (in der Regel war er der Bischof der Provinzialhauptstadt), der ein gewisses Recht der Aufsicht über die Christen der ganzen Provinz samt ihren Beamten erhielt, vor allem aber die Befugnis, bei der Bestel- lung der Bischöfe der Provinz mitzuwirken. Durch die provinziale Orga- nisation wandelte sich die Kirche aus einem fast schon unübersehbaren Haufen von Einzelgemeinden in ein System von Provinzialkirchen. Sie wurde dadurch ein politisch bedeutend wichtigerer Faktor. Die große Allein auch diese Zusammenfassung konnte noch nicht die endgültige

antignostische . _,

Konföderation, scm. Der idcalc Gedanke des neuen Geschlechts, der neuen Menschheit als Einheit mußte noch weiter treiben, und der römische orbis terrarum zeigte den Weg und enthielt bereits die Form zukünftiger Verbindung. Indessen hätte sich die nähere Verbindung aller Kirchen untereinander wohl verzögert, wenn sie nicht ein gemeinsamer Kampf zusammen geschlossen hätte. Das Christliche nahm im Laufe des zweiten Jahrhunderts sehr ver- schiedene Gestalten an und suchte sich mit den verschiedensten Denkweisen und Mysterien zu verbinden. Hieraus entwickelten sich Kultvereine und Schulen, die zwar dem Bekenntnis zu Jesus Christus als der höchsten Offen- barung Gottes treu blieben, aber sich sonst von der alten Überlieferung weit entfernten. Den Bischöfen und der ]\Iehrzahl der Christen erschienen diese „gnostischen" Bildungen (Näheres über sie S. 102 ff.) höchst gefährlich, und in der Tat drohte die neue Religion hier in die Zeitvorstellungen zu zer- fließen. Man suchte sich daher durch feste Ordnungen gegen dieses „falsche" Christentum abzusperren. So schloß sich seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts und während der ersten Hälfte des dritten eine große Anzahl von Gemeinden in West und Ost zu einer Konföderation zu- sammen. Grundlagen derselben wurde „die apostolische Glaubensregel", die man aus der Überlieferung zusammenstellte, „der apostolische Schriften- kanon" (das Xeue Testament), den man aus den gelesensten und zuver- lässigsten Schriften bildete, und die Anerkennung des apostolischen Amts der Bischöfe. Man erklärte nun, daß nur diejenigen wirkliche Christen seien, welche dieser Konföderation angehören und sich damit jenen Regeln unterwerfen. Um das Jahr 220 gab es nicht mehr nur eine ideale, geistige Kircheneinheit die in der Welt zerstreuten Kinder Gottes, die Bürger einer himmlischen Gemeinschaft sind und auf die Offenbarung des Reiches Christi warten , sondern es gab eine sichtbare, vom Euphrat bis nach Spanien sich erstreckende Kirche, die auf festen Ordnung^en und Gesetzen

III. Die Kirche im zweiten Jahrluindert (ca. 130 230). j ^q

ruhte, also ein politischer Organismus war. Einen anerkannten Mittelpunkt besaß diese Kirche nicht, aber unter Führung" der römischen Gemeinde war die große Konföderation zustande gekommen. In ihrer Mitte hatten sich zuerst die neuen Maßstäbe für die neue Kirchlichkeit ausgebildet; sie überlieferte diese Maßstäbe sie waren dem Geiste des römischen Wesens gemäß geprägt den Schwestergemeinden. So besaß sie eine Art von moralischem und damit fast einen politischen Primat. Seit dem Ausgang des zweiten Jahrhunderts kam ihr dieser auch deutlich zum Bewußtsein, und sie fing an, eine gewisse Autorität den anderen Kirchen gegenüber in Anspruch zu nehmen. Durch diese Entwicklung kam die Kirche um einen gewaltigen Schritt dem Staate näher, zwar zunächst als sein Rivale aber Rivalen stehen auf einem Boden. Daß die Kirchen zu einer Kirche wurden und daß diese Kirche sich mit äußeren, also politischen Formen umkleidete, die sie mit ihrem Heilsbesitz identifizierte, w^ar das Neue. Die ideale, eine himmlische Kirche war zu einer realen, irdischen geworden.

Das christliche Leben soll „unbefleckt von der Welt" sein. Die Das Loben der

. -^ n Christen; ihr

meisten Christen der ersten Zeit verstanden das so, daß sie so wenig" wie Verhältnis zur

Welt.

möglich oder vielmehr nichts mit der „Welt" zu tun haben sollten. Das war ihnen auch nicht schwer; denn die große Mehrzahl bestand aus geringen Leuten, deren Leben die „Gesellschaft" nicht kontrollierte und die selbst an der „Welt" kaum einen Anteil hatten. Zur „Gesellschaft" gehörten nur wenige unter ihnen; daher war es dieser gleichgültig, wel- cher Religion sie anhingen und wie sie ihr Leben führten. Wer küm- merte sich um das Leben des Hafenarbeiters, des Handwerkers, des Bauern und des Sklaven, wenn sie nur still und fleißig ihre Pflicht taten ? Aber allmählich wurde es anders : durch die Mission wurden Menschen aus allen Ständen der Kirche zugeführt. Bereits zur Zeit der Antonine gab es Christen in allen Ständen, auch unter den Beamten und Gelehrten, den Vornehmen und Reichen. Die Frage, wie man sich zur „Welt" stellen solle, die früher nur für diesen oder jenen einzelnen ein schweres Problem war, wurde mehr und mehr ein Problem für die Ge- samtheit. Es kam dazu, daß die staatliche Polizei und die Gesellschaft (vor allem der Pöbel) viel aufmerksamer geworden waren: wer sein Christen- tum offen bekannte, setzte sich großen Gefahren, ja selbst dem Tode aus. In den großen Städten war zeitweilig kein Christ vor Beschimpfungen, Stein würfen und vSchlimmerem sicher. Was soll die Kirche tun? Soll sie ihren Gläubigen sagen: Ihr müßt unter allen Umständen bekennen, und ihr müßt jede Berührung mit dem Götzendienst, auch die äußerlichste, vermeiden? Die Konsequenz war klar: der Soldat mußte dann die Fahne verlassen, denn sie trug ein heidnisches Abzeichen; der Beamte mußte sein Amt niederlegen, denn er durfte nicht gegen den Kaiserkultus pro- testieren; der Lehrer mußte aufhören zu lehren, denn er konnte die mytho- logischen Stoffe nicht vermeiden; der Dachdecker mußte sein Handwerk lassen, denn er durfte an keinem Tempel arbeiten; der Goldschmied, der

140 Adolf Harnack: Kirche und Staat bis zur Gründung der Staatskirche.

Tischler, der Kaufmann sie alle standen in Gefahr, dem Götzendienst irgendwie Vorschub zu leisten. Die Strengen in den Gemeinden ver- langten wirklich, daß jeder Christ seinen Beruf aufgebe, wenn ihm auch nur von ferne die Berührung mit dem Götzendienst drohe. Tertullian hat in seiner Schrift „De idololatria" diese Forderung bestimmt ausgesprochen; er ließ sich auch nicht durch die Gegenrede irre machen: „Wir werden Hungers sterben". „Wer hat euch denn verheißen, daß ihr leben sollt?" erwiderte er ihnen. Der Christ soll die gegenwärtige Gesellschaftsordnung negieren in der Erwartung des nahen Gerichts, des neuen Himmels und der neuen Erde, Eine große Bewegung man nennt sie die montanistische wollte jedes Band zwischen Christentum und „Welt" zerschneiden, ja es fehlten selbst Unternehmungen nicht, die Christen aus den bürger- lichen Verhältnissen herauszuführen: in der Wüste sollten sie auf die Wiederkunft Christi harren. Relative Allein die große Mehrzahl der Christen und vor allem die Leitenden,

Verweltlichung. . r. .,., , ••/— -tt i-l

die Bischöfe, entschieden sich anders: es genügt, Gott im Herzen zu haben und ihn dann zu bekennen, wenn ein offenes Bekenntnis vor der Obrig- keit unvermeidlich ist. Es genügt, den wirklichen Götzendienst zu fliehen; im übrigen darf der Christ in jedem ehrlichen Berufe bleiben, darf in dem- selben sich auch äußerlich mit dem Götzendienst berühren und soll klug und vorsichtig handeln, so daß er weder sich selbst befleckt noch eine Verfolgung über sich und andere heraufbeschwört. Diese Haltung nahm die Kirche seit dem Anfang des dritten Jahrhunderts überall an: der Staat gewann dadurch zahlreiche ruhige, pflichttreue und gewissenhafte Bürger, die, weit entfernt ihm Schwierigkeiten zu machen, vielmehr die Ordnung und den Frieden in der Gesellschaft stützten. Daß sich die Christen durch ihre Sittlichkeit auszeichnen, hat schon im Zeitalter des Marc Aurel der berühmte Arzt Galen anerkannt. Somit entwickelte sich die Kirche, indem sie ihre streng ablehnende Haltung gegenüber der „Welt" aufgab, zu einer staatserhaltenden und staatsver- bessernden Macht. Darf man eine moderne Erscheinung zum Ver- gleich herbeiziehen: die weltflüchtigen Fanatiker, die auf den himmlischen Zukunftsstaat warteten, wurden zu Revisionisten der bestehenden Lebens- ordnung. Die christiicbo 2) Die christlichc Lehre umschloß keine Elemente, die dem Staate

gefährlich oder auch nur anstößig erscheinen mußten. Zwar lautete die Verkündigung von dem „Könige" Christus auch „imperator" wurde er genannt und vom neuen „Reiche" bedenklich, aber bald überzeugte man sich, daß dies nicht politisch und revolutionär gemeint war. Der vom Pöbel gehegte Verdacht, daß die christliche Lehre zu Gebräuchen Anlaß gebe, die gegen die guten Sitten verstoßen, erhielt sich zwar über ein Jahrhundert lang, aber die Gerichte scheinen doch nur selten von ihm Notiz genommen zu haben. Nicht weil sie anstößig, sondern weil sie so fremd war, war man der christlichen Lehre übel gesinnt: das Dogma von

Iir. Die Kirche im zweiten Jahrhundert (ca. 130 230). 14 j

der Auferstehung' des Fleisches, die Erwartung des allgemeinen Welt- brandes, dazu die Predigt von dem tleischgewordenen Gottessohn, von der jungfräulichen Geburt, der Auferstehung und der Himmelfahrt eines ge- kreuzigten jüdischen „Sophisten" das waren „ausländische Mythen und Fabeln", unwürdig und letztlich auch unerlaubt, wenn sie sich vor- drängten und aus den Handwerkerstuben in die bessere Gesellschaft auf- stiegen.

Allein die christliche Lehre bestand nicht nur in jener Verkündigung. Allem zuvor war sie Predigt von dem einen geistigen Gott, von der lün- heit der Welt, der göttlichen Weltschöpfung und -leitung, der Einheit und Würde des Menschengeschlechts, der Vernunft und Freiheit, der Unsterb- lichkeit und dem ewigen Leben. Sofern sie das war, erschien sie als Phi- losophie, und zwar als eine erhabene Philosophie und stand in Wahl- verwandtschaft mit der geistigen Kultur des Staates. Diese Seite der christlichen Lehre aber wurde in den Vordergrund gerückt durch die Apologeten, die seit dem Zeitalter Hadrians und Antoninus' Pius' auf- traten. Sie suchten den Bew^eis für den vernünftigen Charakter des Christentums zu erbringen, indem sie das Historische in seinen Lehrsätzen an die zweite Stelle rückten oder in den Beweisapparat aufnahmen. Vor allem aber unternahmen sie es, die Anbetung Christi dadurch zu recht- fertigen, daß sie ihn als die körperliche Erscheinung des Logos faßten, der von Anfang an das schöpferische Prinzip der Welt gewesen sei und sie als Verunft und Weisheit durchwalte. Indem die kirchlichen Lehrer, welche seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts die Glaubenslehre gegen- über dem Gmostizismus fixierten und ausgestalteten, ihnen folgten, wurde das Dogma für immer auf den Boden der idealistischen Philosophie der Griechen gepflanzt oder doch aufs innigste mit ihr verbunden. Die erste große kirchliche Schule, die Katechetenschule von Alexandria, bearbeitete die christliche Lehre bewußt und erfolgreich in dieser Richtung. Damit war der Zaun niedergerissen, der das „Heidentum" und das Christentum trennte, wenn auch die griechische Philosophie den christlichen Lehrern nur als Vorhalle der Wahrheit bez. als die J.eiter galt, die zu ihr führe. Clemens Alexandrinus konnte mit jedem griechischen Lehrer seiner Zeit an umfassenden Kenntnissen, Freiheit des Geistes und Klarheit der reli- gionsphilosophischen Erkenntnis rivalisieren, und Origenes übertraf alle an ausgebreiteter Gelehrsamkeit, Schärfe der philologischen Kritik und ge- staltender Kraft der Spekulation. Daß er in bezug auf Gott und die Welt wie ein Grieche denke, hat ihm Porphyrius ausdrücklich bescheinigt, frei- lich hinzufügend, daß er diesen Erkenntnissen fremde Fabeln unterschiebe. Wenn wir hören, daß eben dieser Origenes von einem Provinzialstatthalter eingeladen wurde, ihm religiöse Vorträge zu halten, daß die Kaiserin- Mutter Mammäa ihn kommen ließ, damit er sie über die Unsterblichkeit belehre, und daß seine Lehrkurse auch von vielen Nicht-Christen besucht wurden, wenn uns von der Korrespondenz einer Kaiserin mit dem römi-

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Adolf Harxack: Kirche und Staat bis zur Gründung der Staatskirche.

sehen Lehrer Hippolyt berichtet wird, wenn nach glaub würdiger^ Über- lieferung der Kaiser Alexander Severus Christus zu den großen" Heroen des Menschengeschlechts gerechnet und seinen' Worten besonderen^Beifall geschenkt hat so sind das einleuchtende Beweise für die Tatsache, daß die christliche Lehre, mochte sie im einzelnen auch noch so viele Anstöße bieten, anfing ein Band zu werden, durch welches Griechentum und Christen- tum miteinander aufs nächste verbunden wurden. Das aber konnte in bezug auf das Verhältnis von Staat und Kirche nicht ohne Wirkung- bleiben; denn der Staat vennag auf die Dauer nicht, eine feindselige Hal- tung gegen eine geistige Bewegung zu bewahren, die in weiten Kreisen seiner Bürger Hochachtung genießt. Die christliche Und was von der Lehre gilt, das gilt auch von der christlichen Lite-

ratur. Solange die Christen nur über Evangelien, einige Briefe und einige Apokalypsen verfügten, vermochten sie in die literarische Bewegung nicht einzugreifen. Das Alte Testament, so imponierend es nach der einen Seite auch den Griechen erschien, enthielt doch andererseits zuviel Unverständ- liches, Kleinliches und Anstößiges, um eine reine Wirkung hen-orzubringen. Dazu war es kontrovers, ob die Christen überhaupt berechtigt seien, sich auf dies Buch zu berufen und es als ihren Kodex zu produzieren. Endlich hörte man von der Mehrzahl der Christen gewöhnlichen Schlages, alle Literatur sei vom Übel und ihre Lektüre sei zu vermeiden. Diese Situation änderte sich noch nicht, als sich hervorragende Lehrer in gnostisch-christ- lichen Kreisen im Zeitalter der Antonine der Formen der griechischen Literatur bemächtigten und fast mit einem Schlage eine christliche Lite- ratur schufen (die wissenschaftliche MonogTaphie, den gelehrten Kommentar, die systematische Darstellung, den wissenschaftlichen Dialog, den Lehr- brief, den Roman, die Ode, den Hymnus usw.). Diese Literatur, wie sie schnell untergegangen ist, hat auch in ihrer Zeit nur einen ganz be- schränkten Erfolg gehabt. Da die große Kirche sie ablehnte, blieb sie auch der großen literarischen Welt unbekannt und änderte noch immer nichts an dem Urteil, daß das Christentum doch ganz wesentlich eine literatur- und daher kulturlose Erscheinung- sei. Aber eben diese gnostische Bewegung nötigte die große Christenheit, sie mit gleichen Waffen zu be- kämpfen. Langsam und vorsichtig begann auch sie, die Rüstung- der Literatur Stück für Stück anzulegen. Auch hier waren die Apologeten die ersten; doch hatte schon Lukas in seiner „Apostelgeschichte" (der Titel stammt schwerlich vom Verfasser selbst) ein wirkliches Geschichtswerk geschaffen, das den Vergleich mit profanen Geschichtswerken nicht zu scheuen brauchte. Die Apologeten brachten den großkirchlichen Christen die wissenschaft- liche „Abhandlung" und den „Dialog". Justin, Melito ^^um 170), Irenäus und Clemens schrieben die ersten christlich - wissenschaftlichen Mono- graphien, Julius Afrikanus und Hippolyt am Anfang des dritten Jahr- hunderts die ersten Geschichts werke, Origenes das erste Sj-stem. In den um das Jahr 180 entstandenen „Acta Pauli" erschien der erste erbauliche

ITI. Die Kirclio im zweiten Jahrluindert (ca. 130 230). j^i

historische Roiium, utuI christliche Gedichte verschiedener Art fehlten nicht. Vor allem aber war in Alexandria eine Bibelwissenschaft be- gründet worden, die das Erbe der Bemühung-en der hellenistischen Juden in sich aufgenommen hatte und mit Hilfe des gelehrten Apparats der Griechen Ausgezeichnetes leistete. Beim Ablauf des zweiten Jahrhunderts der Geschichte des Christentums besaß die griechisch sprechende Christen- heit eine Literatur, die sich neben der sinkenden Schriftstellerei des Zeit- alters sehen lassen konnte und der nur noch weniges fehlte. Im latei- nischen Sprachgebiet freilich herrschte noch Dürftigkeit. Zwar hatte die lateinische Kirche einen Schriftsteller von besonderer Eigenart und Energie, Tertullian. In seinem „Apologeticum" hat er ein geistesmächtiges Werk geschaffen; aber selbst seinen Glaubensgenossen war er zu eng und fa- natisch: eine Wirkung auf das große Publikum blieb seinen Büchern daher versagt. Die lateinische Kirche blieb eine Kirche mit sehr spärlicher Lite- ratur. Während in der Osthälfte des Reichs der geistige Austausch zwischen Christentum und Weltliteratur sich zu vollziehen begann, blieb die West- hälfte zurück. Die Folge war, daß vornehme Römer seltener zum Christen- tum übertraten als vornehme Griechen, und daß die römische Beamten- welt die Kirche lange und zähe unter dem Gesichtspunkt einer prole- tarischen Bewegung betrachtet hat. Hier war es nicht sowohl die geistige Kraft des Christentums als vielmehr seine Organisation und Disziplin, welche die Hochmögenden erst stutzig machten und dann gewannen.

3) Zur Brücke, welche Christentum und Welt verbinden sollte, wurden Die Frömmigkeit aber auch allmählich die Frömmigkeit selbst und ihre eigentümliche Aus- gestaltung im christlichen Kultus. Zwar gemessen an der patriotischen Frömmigkeit der antiken Zeit war die christliche etwas Fremdes und Un- verständliches, und ihr bildloser Gottesdienst, ihre ursprüngliche Beschrän- kung auf Gebet, Gesang, Schriftverlesung und Predigt hatten mit dem herrschenden Opferdienst nichts gemeinsam. So rätselhaft und verdächtig erschien der großen Menge diese rein geistige Haltung des christlichen Gottesdiensts, daß sie hinter ihr groben und abscheulichen Unfug witterte und bald aufs bestimmteste behauptete, die Christen trieben im geheimen in ihren Zusammenkünften die schlimmsten Dinge, gäben sich der wildesten Unzucht hin, ja fräßen selbst kleine Kinder; auch irgend welche ver- borgen gehaltenen Idole vermutete man, obszöne oder läppische.

Allein längst war in der großen Welt neben der alten Kultübung eine neue aufgewachsen; denn die Art und die Bedürfnisse der Frcnnmigkeit hatten sich gewandelt. Aus dem Verfall der politischen Kulte und dem Synkretismus hatte sich unter dem Einfluß eines neuen Weltbildes und der Philosophie eine Disposition für den Monotheismus entwickelt. Religion und individuelle Sittlichkeit wurden enge verknüpft. Veredelung des Men- schen, Idee der sittlichen Persönlichkeit, des Gewissens und der Reinheit, geistige Gottesverehrung diese Richtlinien traten nun scharf hervor. Buße und Entsühnung wurden von Wichtigkeit, innere Verbindung mit der

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Adolf Harnack: Kirche und Staat bis zur Gründung der Staatskirche.

Gottheit, Sehnsucht nach Offenbarung, Sehnsucht nach leidlosem, ewigem Leben im Jenseits (Vergottung). Dem gegenüber versank das gegenwärtige irdische Leben als bloßes Scheinleben. Allen diesen in sich zusammen- hängenden Stimmungen kam die christliche Frömmigkeit kraftvoll entg'egen und gewährte ihnen Halt und ^Sicherheit; ja sie paßte sich ihnen aufs engste an und modifizierte ihre eigenen Richtlinien und ihren Inhalt nach ihnen. Sofern aber gerade die sublimste und vergeistigte Religiosität doch wieder nach Mysterien und nach geheimnisvollen Mitteln damals umschaute, um sich das Göttliche wirklich anzueignen und zu versichern, vermochte die christliche Religion auch diesem Zuge der Zeit Rechnung zu tragen. Von ihrem Ursprünge her besaß sie zwei heilige Handlungen, die es zu fordern schienen, daß man sie als Mysterien ansah und ausbaute die Taufe und die Feier des Abendmahls. Dies geschah, und zwar liegen die Anfänge dieser Betrachtung und Behandlung (nach dem Schema der Mysterien) schon in der allerfrühesten Zeit, aber im zweiten Jahrhundert erfolgte die volle Ausgestaltung. Der geistige Charakter der Handlungen sollte dabei gewahrt bleiben, aber er erschien aufs festeste und sicherste an die sinn- lichen Medien gebunden. An Eindruck waren diese Sakramente schwer- lich durch andere Mysterien zu übertreffen: die Taufe, durch Untertauchung in sinnvollster Weise vollzogen, bedeutete und gewährleistete vollständige Reinheit von Sünden, also die kräftigste Entsühnung, und beim Abendmahl und trank man unter dem Brot und Wein himmlische Speise und himm- lischen Trank, Elemente göttlichen Lebens, die diesen sterblichen Leib in einen unsterblichen umzubilden die Kraft hatten. Das verstand die Zeit, und je mehr sie nun den christlichen Gottesdienst kennen lernte in seiner geistigen Darreichung des Wortes (als Lehre, Gesang und Gebet) und in seiner sakramentalen Feier, um so höher schätzte sie ihn. Die christliche Gottesverehrung, die ursprünglich so fremd war und so fremd schien, offen- barte nun eine besondere Anziehungskraft.

Aber die christliche Religion kam ihrerseits den Stimmungen der Zeit nicht nur durch die Behandlung von Taufe und Abendmahl als Mysterien entgegen, sondern sie schlug auch noch andere Brücken; denn erstlich bildete sie im Zusammenhang mit dem Abendmahlsdienst seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts einen besonderen Priesterstand aus, den sie auch ausdrücklich so nannte, zweitens lehrte sie, die Feier des Abend- mahls als einen Opfer dienst zu betrachten, und schuf sich in dieser Hand- lung ein solennes Sacrificium, drittens verlegte sie ihre Gottesdienste spätestens seit der Zeit des Septimius Severus aus den Privathäusem in besondere gottesdienstliche Gebäude und viertens begann sie zahlreiche Symbole, heilige Elemente und Riten zuzulassen das Kreuz und das Kreuzschlagen galt schon sehr frühe als wirkungskräf- tiges Zeichen , durch die sie es allmählich vergessen ließ, daß sie keine Abbildungen der Gottheit zur Anbetung duldete. Durch diese Entwicklung machte sie ihre Frömmigkeit der sie umgebenden \Velt immer verstand-

Ordnungen.

III. Die Kirche im zweiten Jahrhundert (ea. 130 230). I 1 e^

licher oder vielmehr: sie .sclb.st rezipierte, weniger bewußt als unbewußt, die religiöse lünpfindungsweise und Ausdrucksformen ihrer Umgebung. Indem sie endlich alles in einem feierlichem und festen Ritual zusammen- faßte, vermochte sie mit jedem Kulte in seiner Art zu wetteifern und blieb ihm doch durch den Ernst, die Fülle und die Kraft ihrer geistlichen Darbietungen überlegen. Auch diese Veränderungen aber mußten auf das Verhältnis von Staat und Kirche einen Einfluß ausüben: die christliche Religion nahm eine Haltung an, durch die sie auf die weitesten Kreise einzuwirken vermochte; sie milderte damit indirekt ihre Exklusivität, die sie doch noch immer festzuhalten entschlossen war.

4) Die Beurteilung des Staates seitens der Christen hat von den Die Beurteilung

. . rr T '^^^ Staats und

Tagen an, in denen der Romerb rief und die Offenbarung Johann is ge- der Rechts- schrieben, bis zur Regierungszeit des Alexander Severus geschwankt, aber im ganzen ist sie eine günstigere geworden. Der Verdacht, ja das Urteil, das römische Reich sei das Satansreich, der Kaiser der Antichrist, tauchte immer wieder auf, aber sie wurden zurückgedrängt. Apologeten wie Justin und Tertullian glaubten in den „guten" Kaisem Freunde und sogar Beschützer der wahren Religion sehen zu dürfen, ja die Meinung muß beim Au.sgang des zweiten Jahrhunderts weit verbreitet gewesen sein, daß Trajan, Hadrian und die beiden x\ntonine für ihre Person nichts Feindliches gegen das Christentum unternommen haben. Z\\ar in Zeiten der Verfolgung brach der Haß gegen Kaiser und Reich immer wieder hervor, und der Schriftsteller Hippolyt hat im Sinne der Offenbarung Jo- hannis, wenn auch versteckter, wider sie geschrieben. In dem Universalismus des römischen Reichs sah er eine dämonische Nachäffung des universalen himmlischen Reichs Christi. Aber den Maßnahmen der Kaiser zur Her- stellung guter Sitten blieb die Anerkennung der Christen nicht versagt, und diesem und jenem Christen erschien der Staat selbst, der für den Frieden und die Wohlfahrt sorgte, als ein wertvolles Gut. Als eine staats- erhaltende Macht empfahlen einige Apologeten das Christentum der kaiser- lichen Regierung. Am weitesten ist in dieser Hinsicht der Apologet und Bischof Melito von vSardes (um d. J. 176) gegangen in einer Schutzschrift, die er dem Kaiser Marc Aurel eingereicht hat. Seine Worte verdienen es, hier eingeschaltet zu werden. Er schreibt: „Diese unsere Philosophie hat zwar zuerst unter einem fremden Volke gegrünt. Als sie aber darauf unter der gewaltigen Herrschaft Deines Vorgängers Augustus in den Pro- vinzen Deines Reiches zu blühen begann, brachte sie Deinem Reiche in besonderer Weise reichen Segen. Denn es hat ja von der Zeit an das römische Reich immer an Größe und Glanz zugenommen, dessen er- wünschter Beherrscher Du bist und sein wirst zugleich mit Deinem Sohne, wofern Du diese unter Augustus begonnene und zugleich mit dem Reiche großgezogene Philosophie, welche auch Deine Vorfahren neben den an- deren Religionen in Ehren gehalten (? ?), beschützen willst. Und zum stärk- sten Beweise, daß unsere Religion zugleich mit der so glücklich be-

DiE Kultur der Gegenw.vrt. I. .4. 10

Ia6 Adolf Harnack: Kirche und Staat bis zur Gründung der Staatskirche.

gonnenen Monarchie zu deren Wohle aufgeblüht, dient der Umstand, daß diese seit der Regierung des Augustus von keinem Unglücke betroffen worden ist, sondern daß im Gegenteil nach dem allgemeinen Wunsche alles nur deren Glanz und Ruhm vermehrte. Die einzigen Kaiser, welche, durch übelwollende Menschen verführt, unsere Religion in üblen Ruf zu bringen suchten, waren Nero und Domitian, und von diesen an hat sich auch die verleumderische Lüge in Ansehung der Christen nach einer Ge- wohnheit des Volkes, ohne alle Prüfung Gerüchte zu glauben, weiter ver- breitet."

Diese merkwürdige Geschichtsphilosophie erscheint wie eine Weis- sagung auf die Zukunft. Eusebius hat sie im Zeitalter Konstantins wieder- holt: „Sogleich als der Erlöser unter die Menschen ging, ereignete es sich, daß auch die Macht der Römer wuchs, da in jener Zeit Augustus zuerst Alleinherrscher vieler Völker war. Denn seit jener Zeit bis jetzt ist das seit Ewigkeit und sozusagen seit dem ersten Samen der Menschen be- stehende Reich in Ag\'pten ausgerottet. Seit jener Zeit wurde auch das Volk der Juden den Römern Untertan und ebenso das der Syrer, der Kappadokier, der Makedonier, der Bith^'nier und der Griechen, und um es zusammenfassend zu sagen, all der übrigen, die in die Hand der römi- schen Macht kamen. Daß nicht ohne Gott dies zusammen mit der Lehre unseres Erlösers sich ereignete, wer wollte dies nicht bekennen, indem er bedenkt, daß es den Jüngern nicht leicht war, in fremden Ländern zu reisen, da alle Völker gegeneinander gespalten waren, und da es keinen Verkehr unter ihnen gab weg^en der vielen Satrapen an jedem Ort und in jeder Stadt. Infolge ihrer Vernichtung aber taten die Jünger bald und ohne Furcht und in Ruhe das, was ihnen befohlen war."

Merkwürdig ist auch, wie sich die Sprache Melitos an die asiatische Sprache der Kaiser\-erehrung anlehnt. „Gott", „Heiland", „Friedefürst" nannte man in Asien den Kaiser und redete von seiner Erscheinung wie von der Epiphanie der Gottheit. Namentlich eine jüngst in Priene entdeckte Inschrift vom Jahre q vor Christi Geburt, die zum Gedächtnis der Einführung des julianischen Kalenders und zur Verherrlichung des Kaisers Aug-ustus vom Landtag gesetzt worden ist, hat uns die Sprache des kleinasiatischen Kaiser- kultus kennen gelehrt. Sie zeigt zugleich aufs deutlichste, daß die kirchliche Sprache der Anbetung und Verehrung- schon frühe von dieser Sprache beeinflußt worden ist. Die wichtigsten Sätze der Inschrift lauten: „Dieser Tag hat der ganzen Welt ein anderes Aussehen gegeben; sie wäre dem Untergang verfallen, wenn nicht in dem nun Geborenen für alle Menschen ein gemeinsames Glück aufgestrahlt wäre. Richtig urteilt, wer in diesem Geburtstag den Anfang des Lebens und aller Lebenskräfte für sich er- kennt; nun endlich ist die Zeit vorbei, da man es bereuen mußte, geboren zu sein. Von keinem anderen Tage empfängt der einzelne und die Gesamtheit so viel Gutes als von diesem allen gleich glücklichen Geburts- tage. Unmöglich ist es, in gebührender Weise Dank zu sag'en für die

III. Die Kirche im zweiten Jahrhunciert (ca. 1^0 230). x aj

SO großen Wohltaten, die dieser Tag gebracht hat. Die Vorsehung, die über allem im Leben waltet, hat diesen Mann zum Heile der Menschen mit solchen Gaben erfüllt, daß sie ihn uns und den kommenden Geschlechtern als Heiland gesandt hat; aller Fehde wird er ein Ende machen und alles herrlich ausgestalten. In seiner Erscheinung sind die Hoffnungen der Vorfahren erfüllt; er hat nicht nur die früheren Wohltäter der Menschheit sämtlich übertroffen, sondern es i.st auch unmöglich, daß je ein Größerer käme. Der Geburtstag des Gottes hat für die Welt die an ihn sich knüpfenden Freudenbotschaften (Evangelien) heraufgeführt. Von seiner Geburt muß eine neue Zeitrechnung beginnen." Aus diesen Anschauungen zog Melito den Schluß, daß zwischen dem Kaiser und Chri.stus eine „prästabilierte Harmonie" bestehen müsse, da sie in derselben Sprache und mit denselben Prädikaten gefeiert wurden.

Die Kirche kam endlich aber auch dadurch dem Staate näher, daß sie sich gezwungen sah, immer sicherer und umfassender Rechtsordnungen auszubilden. Nur scheinbar oder vielmehr nur temporär geriet sie damit in stärkere Spannung zu ihm. In Wahrheit bereitete sie aber durch die Erstarkung als Rechtsorganismus ihren Übergang in den Staat vor, mochten auch noch heftige Krisen vorangehen. Das freilich vermochte sie schwerlich durchzusetzen, daß ihre Mitglieder in Zivilstreitigkeiten die staatlichen Gerichtshöfe stets vermieden, aber sie griff selbst an mehreren Punkten in die Sphäre des bürgerlichen Rechts über und zwang ihre Gläubigen, sich ihrem kirchlichen Recht zu fügen. Erstlich befestigte sie die Kompetenzen ihrer Bischöfe und Kleriker unter dem Gesichtspunkte von „iura" und bildete ihre Absolutions- und Bannkompetenz als „ius" aus. Im Zusammenhang damit entwickelte sie die Prinzipien eines kirch- lichen Prozeßverfahrens und setzte ihre Strafen auch für solche Vergehungen fest, welche der Staat bestrafte. Sodann begann sie das Ehe- und Familien- recht z. T. im Gegensatz zum staatlichen auszubauen: der römische Bischof Kallist erklärte, daß er Geschlechtsverbindungen zwischen vornehmen christlichen Frauen und christlichen Sklaven als Ehen anerkenne. Endlich fingen die einzelnen Gemeinden an, liegende Gründe und Gebäude zu erwerben, und erreichten es, daß der Staat sie vielleicht indem er sich Strohmänner gefallen ließ als rechtsfähige Subjekte faktisch an- erkannte.

So näherte sich die Kirche bis zur Zeit des Kaisers Alexander Severus {222 235) auf allen Linien dem Staate; aber dennoch standen sich beide Größen rechtlich noch ganz ferne. Der Staat hielt daran fest, daß man der intoleranten christlichen Religion prinzipiell Duldung nicht gewähren könne obgleich viele Statthalter und einige Kaiser sie stillschweigend tolerierten , und die Kirche war noch weit davon entfernt, mit dem Ge- danken, den Melito ausgesprochen hatte, wirklich Ernst zu machen. Nur an einem Hauptpunkte hat sie niemals geschwankt: wie sie in ältester Zeit,

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als die Monarchie noch nicht staatsrechtlich befestigt war, nie republikani- schen Neigungen gehuldigt hat, so hat sie in der Folgezeit auch stets dem faktischen Herrscher Recht gegeben und an ihrem Teile die Entwicklung des Reichs zur Despotie befördert. Ihre religiöse Weltanschauung, die eine streng monarchische war, leitete sie zu einer politisch-monarchischen Hal- tung an und befestigte sie in derselben.

IV. Die Kirche im dritten Jahrhundert (ca. 230 311) in ihrem Verhältnis zum Staat und zur Kultur, In den 70 80 Jahren, die zwischen dem Tode des Alexander vSeverus und dem Auftreten Konstantins liegen, sind nirgendwo Rückschritte in bezug auf die Entwicklung der Kirche in der Richtung auf den Staat zu konstatieren, vielmehr kam sie ihm auf allen Linien immer mehr entgegen. Die kirchliche i) Was dic Fortbildung der kirchlichen Verfassung betrifft, so kommt

folgendes in Betracht. Erstlich gelangte die Ausgestaltung der Kirche als Bischofskirche damals zu ihrem Abschluß, d. h. die Bischöfe er- schienen nunmehr namentlich im Abendland als der eigentliche Kern der Christenheit. Cyprian hat dies so ausgedrückt: „Die Kirche ist in dem Bischöfe, nicht nur ist der Bischof in der Kirche." Damit war eine lebendige, persönliche Autorität von nahezu absoluter Kraft aufge- richtet; die einzelnen Gemeinden standen fast bedingungslos ihren Bischöfen zur Verfügung. Zweitens aber schlössen sich diese Bischöfe noch enger zusammen und erweiterten dabei den Kreis ihrer Konföderation. In wichtigen Fragen berief man nicht mehr nur Provinzialsynoden, sondern lud zu Konzilien ein, die die Bischöfe mehrerer Provinzen umfaßten. In der Mitte des dritten Jahrhunderts haben in Antiochia Konzilien getagt, die von Bischöfen aus Armenien, Kappadokien, Syrien, Phönizien, Palästina und Ägypten besucht waren. Auf römischen Konzilien trafen sich die Bischöfe aus ganz Italien. Wichtige kirchliche Fragen wurden, bevor sie entschieden wurden, in bischöflichen Korrespondenzen vorberaten. An der Regelung des Bußverfahrens arbeiteten die großen Bischöfe von Rom, Kar- thago, Alexandria und Antiochia gemeinsam in steter Fühlung. In dem Ketzer- taufstreit des Abendlandes forderte Cyprian in Karthago ein Gutachten des Bischofs von Cäsarea in Kappadokien. Spanische und gallische Gemeinden wandten sich in ihren Krisen nach Rom und Karthago, Gemeinden der Pentapolis geg'en ihren Oberbischof in Alexandria ebenfalls nach Rom. In eben derselben Zeit, in der der Staat auseinanderzufallen drohte, wurde die politisch-ökumenische Einheit der Kirche zur Tatsache, und während dort die Autorität dahinsank, etablierte sich hier eine besonders kräftigte, weil göttliche Autorität und schlang ein festes Band um fast alle Teile der Kirche. Die bischöfliche Konföderation, welche die Gemeinden regierte, wurde ein internationaler Staat im Staate. Sie schob sich an die Stelle des zentralen römischen Militarismus; denn dieser versagte nicht nur, son- dern wurde, indem er auseinanderfiel, eine Hauptursache des Verfalls

IV. Die Kirche im dritten Jahrhundert (ca. 230 311). 140

des Staats: die Legionen waren die permanenten Herde der Revolution und die Generale die geborenen Prätendenten. Der Staat hat die Gefahr dieser Entwicklung der Kirche wohl erkannt eine Gefahr war sie für ihn, solange sie ihm feindlich war. wSchon Maximinus Thrax erließ ein Reskript, das sich ausschließlich gegen die Vorsteher der Kirchen richtete und ihre Ausrottung anbefahl; von Decius wird das Wort berichtet, daß er in Rom lieber einen Gegenkaiser ertragen wolle als einen christlichen Bischof. Die Verfolgungen des Valerian und Diokletian galten in erster Linie den Bischöfen. Drittens vermehrten die Gemeinden in dieser Zeit die Zahl ihrer Beamten immer mehr, entsprechend ihrem rapiden Wachs- tum; sie bildeten neben dem Stand der höheren Kleriker auch einen Stand niederer Kleriker aus, der zu einer Pllanzschule wurde und zugleich den Bischof in Fühlung erhielt mit dem niederen Volke. Dazu wurden Land- bistümer und Pfarreien auf dem Lande gegründet und das Xetz der kirchlichen Organisation immer enger geknüpft. Auch numerisch wurden die Christen in einigen, und zwar besonders wichtigen L^rovinzen (nament- lich des Orients) so zahlreich, daß ihre Religion um das Jahr 300 der mächtigste und verbreitetste Kultus daselbst war. Endlich war es für die Einheit dieses ganzen kirchlichen Organismus bedeutsam, daß die römische Kirche und der römische Bischof an Ansehen immer mehr gewannen: sie hauptsächlich vermittelten den Verkehr und Austausch der Gemeinden; ihre Praxis wurde immer mehr vorbildlich für die der anderen Kirchen, und die Cathedra Petri erhielt obgleich eine dogmatische Entschei- dung über ihre Würde noch fehlte und nirgendwo akzeptiert worden wäre faktisch ein Übergewicht über alle Kirchen.

Das christliche Leben unterschied sich in der zweiten Hälfte des dritten t)as christliche

Leben.

Jahrhunderts, abgesehen von den kultischen Übungen, wenig mehr von dem weltlichen. Daß es Christen in allen Berufen gebe, hatte zwar schon Ter- tuUian um das Jahr 200 konstatiert, aber er hatte in seiner Schrift „De idololatria" den Christen vorgeschrieben, wie sie sich in diesen Berufen zu verhalten haben (s. S. 1 40) und das kam fast einem Verbote gleich. Jetzt spürte man kaum irgendwelche Unterschiede mehr. Selbst die Geistlichen, ja Bischöfe bekleideten hohe Beamtenstellen im Staat und in den Kom- munen und benahmen sich dort kaum anders als ihre heidnischen Kol- legen. Auch in den Kreisen der Händler und Kaufleute waren sie zu finden. Brach eine Verfolgung aus, so zeigte der ungeheure Abfall, daß ein großer Teil der Christen nicht mehr gewillt war, das Leben für ihren Glauben zu opfern; erst wenn die Verfolgung anhielt, entwickelte sich aufs neue der Opfermut wie in den Tagen der Väter. Die Mahnungen ernster Bischöfe in Friedenszeiten und die Anordnungen der Synoden in bezug auf das sittliche Leben und die Strafen für Unsittlichkeit zeigen, daß die Er- ziehung zur Moral, die früher dem Eintritt in den Christenstand voraus- gegangen war, jetzt häufig erst bei den Getauften einsetzen mußte. „Ge- meinden von Heiligen" waren diese Kirchen in keinem Sinne mehr. Wer

I CQ Adolf Harnack: Kirche und Staat bis zur Gründung der Staatskirche.

heilig sein wollte, wurde „Asket", und schon begannen diese Asketen nicht nur die Welt, sondern auch die Weltkirche zu verlassen und in die Wüste zu gehen. Nur in einem Stücke hob sich diese Christenheit noch immer kräftig von ihrer Umgebung ab in ihrem Gemeinsinn und in ihrer Sorge für die Schwachen und Armen, die Witwen und die Waisen. Jede Gemeinde übte nicht nur Armenpflege, sie war ein Institut für Armen- pflege.

Die Exklusivität der Christenheit bestand nur noch in ihrem Glauben, nicht mehr in ihrem Leben: die Christen waren, im ganzen genommen, gewissenhaftere und zuverlässigere Bürger als die meisten anderen; die Struktur und die öffentlichen Funktionen des gemeinschaftlichen Lebens wurden eben deshalb von ihnen an keinem Punkte gestört. Der christliche z) Abcr selbst dcr Glaube, sofern er sich als Lehre darstellte, hatte

Lehre. viclcs von Seiner Exklusivität verloren. Zwar das Bekenntnis zu Jesus Christus, dem Gottessohn, war dasselbe geblieben, aber es war immer spe- kulativer ausgestaltet und in ein religionsphilosophisches System eingestellt worden. Dieses, wie es namentlich Origenes ausgebildet hatte und seine Schüler vertraten, rivalisierte mit dem neuplatonischen System, in welchem damals die antike Philosophie ihr letztes Wort sprach. Es war nun nicht mehr möglich, das Christentum als eine Religion der Handwerker, Sklaven und alten Weiber zu beurteilen. Die „Mythologie" des Christentums, die soviel Anstoß erregte, wurde freilich nicht geändert, aber sie wurde durch die allegorische Methode vergeistigt und durch die Rezeption „heidnischer" Mythologie (in leichter Umformung und Umnamung) verständlicher gemacht. Daß die Religionen aber aus zwei Schichten bestehen, einem „Mythos" und einem „Logos", daß der erstere durch Sublimierung zu vergeistigen sei, daß aber die Gottheit selbst sich häuflg des Mythos bediene, um zum Logos zu führen, waren damals geläufige Vorstellungen. Xach diesem Schema wurde selbst die Person und die Geschichte Jesu Christi behandelt, und zugleich wurde er in der antiochenischcn Schule und von einem Teile der Origenes-Schüler als ein nur halbgöttliches Wesen aufgefaßt. Er wurde so scharf vom höchsten Gott unterschieden, daß sogar die polytheistischen Neigungen hier ihre Rechnung finden konnten. Es gab eigentlich nur noch drei Punkte, an denen sich die christliche Philosophie von der neu- platonischen unterschied: jene lehrte die zeitliche Erschaffung der Welt, die Menschwerdung des Logos und die Auferstehung des Fleisches; diese lehnte diese Lehren ab. Indessen faßten manche Origenes-Schüler diese Theologumena so, daß ihre Behauptung einer \'crncinung sehr nahe kam und sie selbst sich von den Neuplatonikern nur noch wenig unterschieden. Trotzdem haben die Neuplatoniker durch Porphyrius, ihren großen Führer, das Christentum heftig bekämpft. Sieht man aber näher zu, so liegt hinter der Bekämpfung ein nicht geringes Maß der Anerkennung und vor allem die sorgfältigste Beachtung. Porphyrius (wohl auch schon Plotin) hat sich die verschiedenen Erscheinungen innerhalb des Christentums und die

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Stadien ihrer Jüitwicklung' nicht entgehen lassen. Er spielte sie wider einander aus und suchte das Christentum durch Christus, Paulus und Jo- hannes durch die Synoptiker, die spätere Kirche durch die frühere usw. zu bekämpfen. Aber in einem wichtigen Punkte machte er mit der Kirche gemeinsame Sache: wie sie suchte er mit großer Energie die christlichen Gnostiker zu widerlegen, deren pessimistisches und abschätziges Urteil über das Weltganze ihm unverschämt und irreligiös erschien. Schulter an Schulter haben christliche Theologen und neuplatonische Philosophen die Zusammengehörigkeit von Gott und Welt verteidigt. Diese Solidarität offenbarte eine tiefliegende Gemeinschaft zwischen den sonst so feindlichen Kämpfern.

x\uch die christliche Literatur entwickelte sich in der Richtung weiter, die sie bereits im vorhergehenden Zeitalter eingeschlagen hatte. Zahl- reiche Apostel-, Märtyrergeschichten und fromme Novellen wurden mit den Mitteln der alten Belletristik ausgeführt. Nur eingeflochtene Bibel- stellen und die asketische Tendenz verrieten die christliche Herkunft. Selbst Götter- und Heroengeschichten wurden nicht verschmäht, sondern christlich umgeformt, und die alten Reisebeschreibungen sind als Missions- geschichten verwertet worden. Die Formen des literarischen und brief- lichen Verkehrs unterschieden sich nicht mehr von den üblichen. Das ganze antike literarische Zeremoniell wurde rezipiert. An die Mahnung niemanden Herrn und Meister zu nennen, dachte man nicht mehr. Die Schulwissenschaft wurde den christlichen Schriftstellern ebenso geläufig wie den profanen; die christlichen Lehrer ließen sich nur noch in ihrem Gewände sehen. Die alte christliche Literatur wurde den Christen selbst so fremd wie ihren Gegnern; aber eben dies steigerte nur, soweit das noch möglich war, ihr Ansehen. Sie schien aus einer anderen Welt zu stammen und trug den Stempel ihrer Göttlichkeit an ihrer spröden Härte und Un- verständlichkeit.

i) Die Frömmigkeit und der Kultus sind in den letzten beidenoie FrümmigVeit

^' * . . und der Kultus.

Menschenaltem vor Konstantin von dem Hellenismus vollends durchtränkt worden. Die Anbetung „im Geist und in der Wahrheit" und der „ver- nünftige" Gottesdienst erhielten ein Prunkgewand. Der Ritus in bezug auf jede heilige Handlung wurde noch feierlicher und mysteriöser; die Gebete wurden kunstvoller und rhetorischer; Symbole und symbolische Handlungen häuften sich immer mehr. Besonders deutlich aber ist, wie sehr man den polytheistischen Neigungen entgegenkam. Engel, Patriarchen, Apostel und Märtyrer wurden zu Fürbittem erhoben, und schon begann man einen besonderen Kultus für sie einzurichten. Die Stätten, an denen die geistlichen Heroen gewirkt hatten oder wo sie gestorben waren oder begraben lagen, erschienen als heilige Orte, an denen Wunder geschahen. Ihre Gebeine und Reliquien erhielten eine besondere Bedeutung. Man schlief bei den heiligen Stätten. Totenklagen und Totenmahlzeiten wurden gehalten. Zaubersprüche und Amulette fehlten nicht mehr. Mit den heiligen

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Namen, mit Bibelsprüchen und Formeln suchte man auf Xatur und Ge- schick einzuwirken. Sauren Wein kann man süß machen, wenn man einen Apfel ins Faß legt, auf den die Worte eingeritzt sind: „Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist." Felder und Weinberge kann man gegen Wildschaden durch Psalmverse schützen. Aber noch mehr: man braucht die alten lokalen Feiern und Festtage nicht abzutun; man muß sie nur in „christliche" umwandeln. Der alte Xaturdienst konnte beibe- halten werden, nachdem man ihn in den Heiligendienst transformiert hatte. Die Bischöfe folgten hier nicht etwa nur dem Drängen des „christlichen" Volkes, nein das Verfahren des Bischofs Gregorius Thaumaturgus, eines ganz spirituellen Origenes-Schülers, im östlichen Pontus zeigt uns, daß die bedeutendsten Führer der Christenheit diese Entwicklung bewußt beförderten. Außer den blutigen Opfern wurden so ziemlich alle Stücke der alten Gottesverehrung rezipiert; aber für jene diente das Abendmahl, wie man es betrachtete, als Ersatz, und in einigen orientalischen, entfernt gelegenen Gebieten scheint man auch blutige Opfer eingeführt bez. festgehalten zu haben. Aus dem Alten Testamente vermochte man nachträglich viele dieser Rezeptionen zu legitimieren, oder man erfand apostolische An- ordnungen, durch die sie als beglaubigt g-alten. Um das Jahr 300 erschienen die christliche Gottesverehrung und der christliche Kultus nicht mehr wie eine Barriere zwischen der Christenheit und der Welt. Im Grunde war nur die christliche Toten- und Knochenverehrung anstößig; aber ge- rade sie war nicht sowohl eine christliche Hervorbringung als vielmehr ein letztes Wort der untergehenden Antike selbst. Die Beurteilung 4) Dcr Waudcl iu der Beurteilung des Staates zeigt sich an ver-

schiedenen Punkten. Als in Antiochia ein Streit innerhalb der Christen- gemeinde ausbrach, welcher von zwei Parteien das Kirchengebäude ge- bühre, wandte man sich zur Entscheidung an den Kaiser Aurelian. Was hätte Tertullian fünfzig Jahre früher gesagt, wenn er das gehört hätte? Derselbe Tertullian hat im Apologeticum ironisch ausgerufen: „Es müßten denn Kaiser Christen sein können!" Jetzt erzählte man sich alles Ernstes hier und dort, dieser oder jener Kaiser sei ein heimlicher Christ gewesen. Der Bischof Dionysius von Alexandria (um das Jahr 260) gibt nur eine weit verbreitete Meinung wieder, wenn er berichtet, Alexander Severus und Philippus Arabs hätten im Herzen den christlichen Glauben gehegt, ja dieser habe sogar Kirchenbuße getan. Er scheut sich auch nicht, eine günstige alttcstamentliche Weissagung auf den Kaiser Gallienus zu deuten, nachdem dieser das Reskript seines Vaters Valeriaii gegen die Christen zurückgenommen hatte. „Unseren geheiligten und gottgefälligen Kaiser" nennt er ihn dabei, als hätten die Christen nun nichts mehr aus- zusetzen oder zu wünschen und als lebten sie schon in einem christlichen vStaat. Übrigens hatte bereits Origenes sein großes Werk gegen Cclsus unter Philippus Arabs mit dem Ausblick geschlossen, das römische Reich werde auf dem stillen Wege der christlichen Mission allmählich zu einem

V. Die Flnlwicklunp des Staats in der Richtuii}^ auf die Kirche. I e i

christlichen werden. Was war dagegen den ältesten Christen sicherer gewesen als die Erwartung, daß das römische Reich vom wiederkehrenden Christus besiegt und gerichtet werden werde! Nun sank auch diese Erwartung dahin und wurde durch die friedlichere ersetzt, daß sich Christentum und Staat auf dem Wege der Geschichte finden und zusammenschließen werden. Die Rechtsordnungen der Kirche kamen in diesen siebzig Jahren zu einem vorläufigen Abschluß. Erstlich hatte sich das kirchliche Standes- recht fest ausgebildet: Rechte und Pflichten der Bischöfe, der Presbyter, der Diakonen, der Eaien waren genau bestimmt worden. Zweitens hatte sich seit der großen Verfolgung unter Decius, nach deren Ablauf die Möglichkeit der Absolution auch für die schwerste Sünde proklamiert worden war, das kirchliche Prozeßverfahren erst wirklich voll entwickelt. Weitschichtige und abgestufte Bestimmungen in bezug auf die Fülle der Delikte wurden getroffen. Mit und aus dem Prozeßverfahren entwickelte sich ein kirchliches Kriminalrecht. Drittens wurde wie die Lehrtradition (als regulae fidei et doctrinae) so auch der „kirchliche Kanon" für die Disziplin ausgearbeitet und unter die Autorität des Apostolischen gestellt. Endlich schickte die Kirche im Orient sich an, der neuen diokletianischen Reichsverfassung sich anzupassen. Man kann auch sagen, daß sie ihr durch die Bedeutung, welche Alexandria und Antiochia sowie der Zusammen- schluß mehrerer Provinzen zu einer Körperschaft bei ihr längst schon gewonnen hatten, teilweise zuvorgekommen war und daher keine Mühe hatte, sie nun bei sich vollständig durchzuführen.

Die Kirche war in jeder Hinsicht bereit; nichts fehlte ihr mehr: wie eine Braut mit reicher Mitgift wartete sie halb unbewußt aber sehnsüchtig auf den kaiserlichen P>eier. Sie war ihm ebenbürtig; sie war durch ihre göttliche Autorität und durch ihren Klerus so mächtig wie er durch seine Soldaten. Sie war mächtiger als er; aber ihre äußere Lage entsprach noch nicht ihrer Stellung, Konstantin hat sie erschaut und ihr die Hand zum Bunde gereicht. Er hätte es nicht gekonnt, wenn ihm nicht auch von der staatlichen Seite vorgearbeitet worden wäre.

V. Die Entwicklung des Staats in der Richtung auf die Kirche. Die schließliche Verschmelzung von Staat und Kirche unter Konstantin wäre nicht zustande gekommen, hätte nicht auch der Staat ein Verhalten beobachtet und eine Entwicklung erlebt, die ihn der Kirche nahebrachte. Folgende Linien kommen in Betracht:

i) Vielleicht das Wichtigste hier ist die Entnationalisierung des rö- Die Entnatiomi-

lisierung des rö-

mischen Staats im zweiten und dritten Jahrhundert. Dieser Staat streifte mischen Staats, bekanntlich in dieser Zeit immer mehr seinen römischen Charakter ab und wurde ein AUerweltsstaat. Bereits Caracalla hat dem Ausdruck gegeben durch die Verleihung des römischen Bürgerrechts an alle Provinzialen {212); sie bedeutete natürlich nichts anderes als die Neutralisierung dieses Rechtes,

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Adolf Harnack: Kirche und Staat bis zur Gründung der Staatskirche.

Der römische Staat geriet unter die Herrschaft der Provinzen. Er besaß schon im dritten Jahrhundert mehrere Hauptstädte, und Rom war nicht die wichtigste. Unter Diokletian trat das vollends hervor. Hörte der Staat aber auf ein nationaler Staat zu sein und entschwand ihm das natio- nal-patriotische Bewußtsein, so mußte ein anderes an seine Stelle treten. Das konnte nur ein universal-religiöses sein: tertium non datur. Hier bot sich das Christentum an. Die Religion z) Die Entwicklung, welche die römisch-griechische Religion in den drei

ersten Jahrhunderten erfuhr, war der Entwicklung des Staates insofern paral- lel, als auch in ihr das national-politische Element ausgeschaltet wurde. Die Richtung der Religion auf das Transzendentale und Jenseitige und wie- derum auf den Individualismus, ihre Verinnerlichung und Vergeistigung, hatten die Abstreifung des national-politischen Elements zur notwendigen Folge, und der Austausch der Religionen, vor allem das Einströmen der orientalischen Religionen, begünstigte diese Eliminierung. Nun suchte zwar der Staat in dem Kaiserkultus ein universales national-politisches Element in den Religionen festzuhalten, aber wie es an sich dürftig war, so entsprach es immer weniger den neuen aufstrebenden religiösen Ge- sinnungen. Das andere Mittel aber, die fremden Religionen, eine nach der anderen, zu rezipieren, feierlich aus den Provinzen nach Rom über- zuführen und mit dem Kulte der Staatsgötter zu verschmelzen, erzielte nur den Erfolg, daß sich das Religionswesen vollends zersetzte und eine Religionspolitik, die den Staat zu stützen geeignet wäre, überhaupt nicht mehr zuließ. Dieser Zustand hat schon im letzten Jahrhundert vor Kon- stantin zu Religionsexperimenten einzelner Kaiser geführt. Elagabal suchte gewaltsam alle Religionen seinem syrischen Gott zu unterwerfen und selbst die Staatsgötter ihm untertänig zu machen. Das Experiment mißglückte vollständig. Umgekehrt versuchte sein Vetter, Alexander Severus, allen Religionen das Bewußtsein ihrer wesentlichen Identität einzuflößen und sie in gegenseitiger Anerkennung zu vereinigen. Auch diese philosophischen Bestrebungen hatten natürlich keinen Erfolg. In beiden Fällen ist aber das monotheistische Interesse unverkennbar und ein deutlicher Fingerzeig auf das, was werden sollte. Höchst interessant ist das Unternehmen des Maximinus Daza, in jeder Provinz alle Religionen und Kulte administrativ zu vereinigen, unter einen staatlichen Oberpriester zu stellen, die Priester durch die Staatsregierung zu kontrollieren und den ganzen Stand zu heben. Eine Art von heidnischer Staatskirche in ihrer Verfassung ganz deut- lich der christlichen Kirche nachgebildet sollte so geschaffen werden. Überall zeigt sich hier das Verlangen nach einer gemeinsamen Religion und Kirche, die imstande wäre, die Bürger zusammenzuhalten und den Staat zu stützen. Diokletian freilich versuchte es noch einmal, mit dem römischen Religionswcsen auszukommen, soviel er nach seiner Neuordnung der Dinge von ihm übrig gelassen hatte, und so sehr dasselbe durch den Sonnen- und Mithrasdienst modifiziert war. Aber da er die politische

V. Die Kntwicklun}^ des Staats in der Richluiif^ auf die Kirche. jcc

Administration und Regierung des Reichs auf ganz neue Grundlagen ge- stellt und nach Auflösung des alten Staats eine neue, orientalisch despo- tische Staatsvenvaltung eingeführt hatte, war seine reaktionäre Religions- politik ein unbegreiflicher Fehler, nur geeignet die Unmöglichkeit einer solchen ad oculos zu demonstrieren. Sie mißglückte vollständig der neue Staat konnte unmöglich auf der dürftigen Grundlage der alten Kulte, die faktisch durch den despotischen Orientalismus vollends zertrümmert waren, bestehen , und Konstantin, der den Zusammenbruch als Beob- achter erlebte, zog aus ihm die allein richtigen Konsequenzen. Was die Zeit und der Staat verlangten, war eine universale, monotheistische Reli- gion — von pyramidaler Struktur, also mit breitester Basis und einer sicher ausgebildeten Spitze , „philosophisch" und sakramental zugleich. Warum sollte man eine solche Religion erst konstruieren oder erfinden? Sie war schon vorhanden das Christentum. In ihm war das alles viel besser gegeben, was Elagabal, Alexander Severus und Maxi- minus Daza gesucht hatten, und dazu besaß es ein mächtiges Priestertum, welches dem Staat die sichersten Kräfte zuzuführen vermochte. Die Religionsentwicklung innerhalb des Staats führte also direkt auf das Christentum.

3) Auch die besondere Religionspolitik des Staats gegenüber dem Die Reiigions-

r-L 1 T 1 1 1 t "1 '/ 1 Politik des Staats

Christentum zeigt im dritten Jahrhundert eine Annäherung. Zwar beginnen bezuc auf das

T^- 1- -1 irri -ITT--! i'i- Christentum.

erst mit Decius die systematischen Veriolgungen der Kirche, aber diese sind für den ganzen Zeitraum nicht das Charakteristische; sie erfolgten stoßweise und selten. Das Charakteristische ist, daß die trajanische An- weisung: „Christiani conquirendi non sunt" in der Regel im Sinne einer faktischen und vollkommenen Duldung ausgeführt wurde. Die Christen wurden nicht behelligt, entwickelten ruhig ihre Verfassung und Hierarchie, hielten regelmäßig ihre Synoden ab, erwarben Grundstücke, bauten Kirchen und Kapellen und bekleideten, wie oben bemerkt, zahlreiche Stellen in der Zivilvenvaltung und im Heere. Einzelne Kaiser und Statthalter gingen in der Duldung noch weiter: sie beschäftigten sich mit den christlichen Lehren, ja sie verhandelten mit der Kirche, als wäre sie eine anerkannte Korporation. Gallienus hat seine Zurücknahme der Reskripte seines Vaters gegen die Christen in einem besonderen Schreiben den ägyptischen Bischöfen mitgeteilt, und Aurelian (s. o.) hat das Amt eines Schiedsrichters zwischen den streitenden christlichen Parteien in Antiochia angenommen. Er ent- schied für die Partei, die in Gemeinschaft mit den Bischöfen von Rom und Italien stand, d. h. er suchte den römischen Einfluß in Syrien durch Begünstigung der römerfreundlichen Kirchenpartei in Antiochia zu stärken. Hat er damit nicht schon die Politik Konstantins vorweggenommen? Hat nicht schon er in dieser Entscheidung anerkannt, daß die Kirche politisch brauchbar sei und daher auch gebraucht werden müsse? Wie sinnlos war es dann aber, diese Korporation zu verfolgen, statt sie dem Staate zuzu- führen! Diokletian und seine Mitkaiser (außer Konstantius Chlorus) waren

ic6 Adolf Harnack: Kirche und Staat bis zur Gründung der Staatskirche.

SO blind, daß sie, was vor Augen lag-, nicht sahen; Konstantin sah es und handelte danach. Die Rechts- 4) In dcr Entnationalisierung des Staats, seiner Proletarisierung und

cutwicklung im . . . . ,

Staat. Orientalisierung, sowie m dem Gang, den die Religionsgeschichte inner- halb des Staats damals genommen hat, darf man nicht allein seine Entwicklung in der Richtung auf das Christentum erkennen. Unstreitig hat auch seine Rechtsentwicklung die Verbindung mit der Kirche vor- bereitet. Unter dem Einfluß des Stoizismus und von großen Juristen ge- leitet, ist sie sowohl im Kriminal- wie im Zivilrecht humaner geworden. „Menschenrechte" wurden ausgebildet; die Idee des gleichen Rechts gegen- über einer Klassenjustiz fing sich an durchzusetzen; philanthropische Ge- sichtspunkte wurden für die Rechtspflege maßgebend; die soziale und die individualistische Moral erhielten stärkeren Einfluß auf die Gesetzgebung. Auch hier beobachtet man die Emanzipierung von dem Nationalen und dem Patriotismus; aber an die Stelle trat ein moralischer Kosmopolitismus, der nicht zerfahren und schwächlich war, sondern neue Kräfte hinzuführte und ausbildete. Dieser moralische Kosmopolitismus hatte zu seinem Hinter- grunde eine monotheistische, mit dem Gewissen verbundene Religiosität. In diesem Sinne war er dem Christentum, nicht aber dem Mithrasdienst oder ähnlichen Kulten, innerlich verwandt, also eine Vorbereitung für das- selbe. Die Kirche, die ihre sittlich-sozialen Forderungen freilich bereits herabgestimmt hatte, konnte große Partien des römischen Rechts, wie es um das Jahr 300 ausgebildet war, einfach akzeptieren.

Konstantin VI. S chlußb ctrach tung: Von Konstantin zu Gratian und

(306 337).

Theodosius (306 395). Die Vollendung der Staatskirche. Konstantin

hat anfangs nichts anderes getan als die christliche Religion und die Kirche anerkannt; aber indem er sie anerkannte mit allen den Ansprüchen, die sie stellten, und mit der Organisation, die sie besaßen, kam die Aner- kennung bereits einer Privilegierung gleich. In den letzten Jahren seines Eebens ist er aber noch weiter gegangen: er hat die übrigen Religionen und Kulte als Eügenkulte bezeichnet; er hat unter allerlei Vorwänden Opferverbote erlassen, viele Tempel geschlossen, sie eingezogen, ihre Baulichkeiten und Güter der Kirche geschenkt und das „Heidentum" offen- kundig bedrückt. Niemand im Reiche konnte damals darüber im Zweifel sein, welchem Ziele die kaiserliche Politik zustrebte: die allgemeine To- leranz in bezug auf alle Religionen sollte, ohne Änderung des Titels, dem alleinigen Recht der Kirche Platz machen.

Hätte er das auch nicht gewollt und wäre er an dieser Entwicklung innerlich weniger beteiligt gewesen, als er es augenscheinlich war er hätte doch nicht anders gekonnt. Nicht nur das Wesen der Kirche, die er anerkannt hatte, zwang sie ihm auf: noch mehr wurde sie ihm aufge- nötigt durch den ihm selbstverständlichen Anspruch, daß er nun als Kaiser auch ein Recht der Aufsicht und Leitung über diese Kirche habe.

VI. \'on Konstanlin zu (iratian und Tlicodosius (306 395). |;'7

Zwar nannte er sich nicht „sacerdos" oder „pontifex maximus" der Kirche das duldete die kirchliche Überlieferung noch nicht , aber ein Titel, der die neue Einheit von imperium und sacerdotium ausdrückte, war bald gefunden: er nannte sich „Bischof für das Auswärtige". Der Titel ist schillernd; aber was er besagen sollte, war klar: der Kaiser nimmt an der Regierung der Kirche teil. In diesem Sinne hat er Gesetze gegen die christlichen Häretiker erlassen, hat das große Konzil nach Nicäa berufen und hat an Athanasius geschrieben: „Da Du nun meinen Willen kennst, gewähre allen, die in die Kirche eintreten wollen, den ungehinderten Zu- tritt. Denn wenn ich erfahre, daß Du einige verhindert hast, der Kirche anzugehören, oder ihnen den Eintritt verwehrt hast, so werde ich sofort einen Beamten senden, der Dich auf mein Gebot hin absetzen und an einen anderen Ort verbringen wird."

„Die Kirche regieren" das war sein Testament an seine Söhne. Konstamius Von ihnen hat Konstantius (erst im Orient, dann im ganzen Reiche) die ^ ^ Religionspolitik des Vaters bewußt und energisch fortgesetzt. Der Titel „Allgemeine Toleranz der Kulte" wurde noch nicht geändert, aber die Alleinherrschaft der Kirche wurde w'eiter ausgebildet, und der kaiserliche Wille leitete diese Kirche. War der Monarch überall verpflichtet, für den Frieden der Untertanen zu sorgen, um wieviel mehr auf dem Gebiet der Religion. Konstantius war der Hohepriester der Kirche, obgleich er sich nicht so nannte. Die von ihm unterdrückten kirchlichen Parteien prote- stierten gegen diesen Cäsaropapismus, aber eben nur sie. Als das Haupt der donatistischen Bischöfe ausrief: „Was hat der Kaiser mit der Kirche zu schaffen!", als Lucifer von Cagliari seine sardischen Pamphlete gegen den Monarchen veröifentlichte, mußten sie von den anderen Bischöfen hören, daß der Kaiser nur tue, was sein Recht ist: er sei der Nachfolger Davids und Salomos, und die Kirche sei im Staate, nicht der Staat in der Kirche. Überraschend schnell gewöhnten sich die Bischöfe an die neue Ordnung der Dinge. Anerkannt haben sie sie freilich immer nur so lange, als die kaiserliche Politik ihren Beifall fand. Glaubten sie ihr widersprechen zu müssen, so scharten sie sich alsbald zu einer Oppositions- partei zusammen. Die kaiserliche Theokratie und das „Zentrum" haben eine Geburtsstunde; sie sind feindliche Zwillinge.

Durch Julian erfuhr diese Entwicklung eine kurze Unterbrechung, und G^tian auch Jovian und Valentinian I. hemmten auf kurze Zeit ihren Fortgang, und indem sie sich streng an das allgemeine Toleranzedikt von Mailand banden. (379-395). Aber der von Priestern erzogene jugendliche Gratian und der von ihm zum Mitregenten erhobene Theodosius führten sie zum Abschluß. vSic stellten sowohl die Gottesdienste der christlichen Häretiker als die heid- nischen Kultübungen in den Städten unter das Strafgesetz und erklärten, daß der Rechtsschutz des Staates fortan nur den Christen, und zwar nur den orthodoxen, zukommen werde. Das Jahr 380 ist das Geburtsjahr der christlichen Staatskirche.

icg Adolf Harnack: Kirche und Staat bis zur Gründung der Staatskirche.

Eine wirkliche innere Ordnung erfuhr das Verhältnis von Kirche und Staat (Kaiser) in rechtlicher Hinsicht nicht. Das System von Über- und Unterordnung beider Größen war nur ein tatsächliches. Eine prinzipielle Begründung und Abgrenzung war durch die Natur beider Größen ausgeschlossen. In Wahrheit aber ist nun erst der absolute (neu)- römische Herrscher fertig geworden, der nicht nur über die Leiber und die Güter seiner Untertanen, sondern auch über ihre Seelen und ihre Ge- wissen herrschte. Die politische Zentralgewalt erhielt einen Machtzuwachs wie nie zuvor. Dieser allein hat es ihr ermöglicht, sich über ein Jahr- tausend zu behaupten und den Prozeß der Abbröckelungen der Provinzen zu verlangsamen. Freilich der Patriotismus und die politische Staats- idee mußten hinter den Idealen der Theokratie zurücktreten. Mit diesen, wenn die militärischen Kräfte versagten, mußten die Kaiser die zentrifu- galen Kräfte des wieder erstarkenden Nationalismus in den entfernteren Provinzen niederzuhalten versuchen. Aber auch diese Kräfte verstanden es, sich mit kirchlichen Programmen und mit Glaubensbekenntnissen zu verschmelzen und sie wider den theokratischen Herrscher in Byzanz aus- zuspielen.

Die Kirche politisch angesehen verlor und gewann durch die Verbindung mit dem Staate; aber sie gewann mehr als sie verlor. Auch wo sie in den folgenden Jahrhunderten dem Kaiser und dem Staate gegenüber unterlag, war sie oft genug heimlich die Siegerin. Die kaiser- liche Theokratie mußte mehr als einmal die Waffen strecken gegenüber der „Societe anonyme", die sich Kirche nannte und ihre göttliche Mission ein- drucksvoller zu erweisen vermochte als der Kaiser. Dennoch wäre sie niemals die große, einheitliche Kirche geworden und geblieben ohne die Hilfe des Staates. Uns erscheinen die Verluste, die sie durch Nestorianer, Monophysiten und vor allem durch den Islam im Orient erlitten hat, be- deutend, und sie sind es auch: aber was wäre von ihrer Einheit, wie sie noch heute dort besteht, übrig, wenn der apostelgleiche Konstantin und seine Nachfolger, mit Einschluß der Zaren, sie nicht gestützt hätten und noch stützten?

Literatur.

Die kritische Erforschung und universale historische Betrachtung der Geschichte der alten Kirche hat in der zweiten Hälfte des 1 8. Jahrhunderts begonnen; aber an Kenntnissen vermochten die (belehrten um das Jahr 1800 nicht mit denen des 17. Jahrhunderts zu wett- eifern; auch waren die Gesichtspunkte, nach denen sie (ieschichte schrieben, zwar in hohem Maße aufklärend (,, natürliche" (beschichte), aber abstrakt und dürftig. Für wirkliches geschichüiches Leben und für den Reichtum seiner Erscheinungen besaßen sie noch kein ausgebildetes Organ. Die Ausbildung dieses Organs, welches die Historik den Romantikern und den nachkantischen Philosophen verdankt, wurde am Anfang des 19. Jahrhunderts teuer erkauft, d. h. es wurden wertvolle Errungenschaften des 18. Jahrhunderts zunächst wieder preisgegeben. P'erdin.and Christian Baur und seine Schüler aber haben dieses Opfer nicht gebracht; daher sind ihre Untersuchungen und Darstellungen bahnbrechend geworden. Sie haben den geschichlichen Stoff als die ersten geistig durchdrungen, universalhistorische Ciesichtspunkte festgehalten und den Entwicklungsgedanken eingeführt, ohne die Würde der Geschichte zu profanisieren. Aber als grundlegend im vollen Sinne des Worts kann man ihre Arbeiten doch nicht bezeichnen, weil die HEGELsche Philosophie sie zu einer höchst einseitigen Betrachtung der Religion anleitete, ihnen die Augen für den wesentlichen Unter- schied von Philosophie und Religion verschloß und ihnen ein Schema in bezug auf den Entwicklungsgang der Geschichte aufnötigte, welches wichtige Partien des geschichtlichen Stoffs teils ganz ausschloß , teils neutralisierte und der Bedeutung der Persönlichkeit nicht gerecht wurde. Die Korrektur dieser Einseitigkeiten verdankt man nicht sowohl den genialen Bemühungen eines einzelnen doch sind in diesem Zusammenhang ROTHE, RiTSCHL, Renan und Overbeck, obgleich unter sich ganz verschieden, zu nennen , als vielmehr dem hingebenden und unbestochenen Studium des Stoffs unter den (iesichtspunkten , die er selbst aufnötigt, und die die Vertiefung und Erweiterung des geschichtlichen Sinns allmählich zum Gemeingut macht. Die Erforschung der Geschichte der Kirche in den ersten drei Jahrhunderten hat im letzten Menschenalter solche Fortschritte gemacht, daß die Literatur, die vorher erschienen ist, fast schon antiquiert ist. Dennoch erscheint das, was getan ist, noch immer gering gegenüber dem, was noch zu tun ist, ganz abgesehen von der Macht der \'orurteile, welche der Anerkennung der gewonnenen Ergebnisse im Wege stehen.

Quellen: Die lateinischen Kirchenväter werden von der Wiener, die ältesten grie- chischen von der Berliner Akademie herausgegeben. Texte und Untersuchungen zur altchristlichen Literaturgeschichte, herausgegeben von O. v. Gebhardt und A. Harnack. Bd. I— 25 (1883 ff.).

Quellenkunde; A. Harnack, Die Überlieferung und der Bestand der altchristlichen Literatur bis Eusebius. 2 Bde. (1893).

Chronologie: A. Harnack, Die Chronologie der altchristlichen Literatur bis Eusebius. 2 Bde. (1897. 1904).

Literaturgeschichte: Eine solche fehlt noch, s. die zahlreichen Einzeluntersuchungen, vornehmlich von Bonwetsch, Funk, Haussleiter, Hilgenfeld, Lightfoot, Lipsius, Overbeck, Zahn u. a. und die kritischen Referate von A. Ehrhard, Die altchristliche Lite- ratur und ihre Erforschung seit 1880 (1894 ff.j, O. Bardenhewer , Geschichte der altkirch- lichen Literatur (bis Eusebius). 2 Bde. ^1902. 1903). G. KRf'GER, Geschichte der altchrist-

I 5o Adolf Harnack : Kirche und Staat bis zur Gründung der Staatskirche.

liehen Literatur in den ersten drei Jahrhunderten (1895, Nachträge 1897). F. Ov'ERBECK, Über die Anfänge der patristischen Literatur, Histor. Ztschr. Bd. 48, N. F. Bd. 12, S. 417 fiF. (1882).

Ausbreitung: A. Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten (1902).

Kirche und Staat: K.J. Neu.manN, Der Römische Staat und die allgemeine Kirche bis auf Diokletian, i. Bd. (1890). Arbeiten von MOMMSEN (besonders der 5. Bd. der Römi- schen Geschichte), AuBE, Allard u. Overbeck.

Allgemeine Kirchengeschichte: Renan, Histoire des Origines du Christianisme, besonders T. V— VII (1877— 1882). Karl Müller (1892). Möller - v. Schubert (1902). O. Pfleiderer, Das Urchristentum, seine Schriften und Lehren. 2 Bde. 2. Aufl. (1902). P. Wernle, Die Anfänge unserer Religion. 2. Aufl. (1903).

Verfassungs- und Rechtsgeschichte: E. Hatch, The Organization of the early Christian Churches (1881), deutsch mit Zusätzen von A. Harnack (1883). Zahlreiche mono- graphische Untersuchungen haben sich an dies Werk, namentlich seit Entdeckung der ,, Apostellehre", angeschlossen. R. SOHM, Kirchenrecht Bd. i (1892).

Dogmengeschichte: Die Lehrbücher von F. Chr. B.\ur und A. Harnack, 3 Bde., 3. Aufl. (1894 1897), die kürzeren von F. LOOFS und R. Seeberg. H. Gunkel, Zum reli- gionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments (1903).

Kultusgeschichte: L. DuCHESNE, Origines du culte chretien (1889). Eine umfassende Darstellung fehlt noch. Eindringende Untersuchungen hat P. Drews begonnen.

Soziales: G. Uhlhorn, Die christliche Liebestätigkeit in der alten Kirche (1882).

S. 132. Ausgangspunkte der Rechtsbildung: A. Harnack, Ius ecclesiasticum. Eine Untersuchung über den Ursprung des Begrifils. (Sitzungsber. d. K. Preuß. Akad. d. Wissensch. 26. Febr. 1903.)

S. 139. Führende Stellung der römischen Gemeinde: A. Harn.\CK, Lehrbuch der Dogmengeschichte F S. 439—454, der Abschnitt über ,, Katholisch und Römisch".

S. 140. Galen über die Sittlichkeit der Christen: Abulfeda, Historia Anteislamitica p. 109 (ed. Fleischer).

S. 141. Der ,, gekreuzigte Sophist": LuciAN, Peregrinus Proteus c. 13. Die ,, ausländi- schen Mythen": Porphyrius (Eusebius, historia ecclesiastica VI, 19, 7). Ebenderselbe be- scheinigt (a. a. O.) den Hellenismus des Origenes. Das über Origenes sonst Bemerkte: auch in dem 6. Buch der Kirchengeschichte des EUSEBIUS.

S. 141 unten u. 142. Hierzu s. den Titel eines Werkes des Hippolvt, von dem noch einige Bruchstücke erhalten sind. Alexander Severus: s. die Biographie des Lamprhjius.

S. 143. Lactantius ist uns Zeuge dafür, daß im Abendland die Christen von den Ge- bildeten noch als eine kultur- und literaturlose Sekte betrachtet wurden.

S. 145. Hippolyt: in seiner Schrift über den Antichrist und seinem Kommentar zum Buch Daniel.

S. 145. Melito: bei Eusebius, historia ecclesiastica, IV, 26.

S. 146. Eusebius: in seiner Theophania V, 52.

S. 146. Die Inschrift von Priene: Mitteilungen des Kaiserlich Deutschen .Archäolo- gischen Instituts (Athen. Abteil.) Bd. 23, Heft 3, S. 275 ft".

S. 147. Kallist: bei HiPPOLYT, Philosophumena IX c. 12.

S. 148. Cyprian: in den epistulae, 46, i; 66, 8 (,,ecclesia in cpiscopo est").

S. 149. Das Wort des Decius: bei Cypri.vn, epistulae, 55, 9.

S. 151. Zum Kampf der Neuplatonikcr gegen die (luostiker: K.\RL Schmidt in den Texten und Untersuchungen zur altchristlichen Literaturgeschichte, Bd. 20 H. 4 (^1900).

S. 152. Gregorius Thaumaturgus : s. dessen Biographie, verfaßt von Gregorius Nyssenus.

S. 152 unten. Die Erzählungen sind dem 7. Buch der Kirchengeschichte EuSF.Bs ent- nommen.

GRIECHISCH - ORTHODOXES CHRISTENTUM UND KIRCHE.

Von Nathanael Bonwetsch.

Einleitung, Das Evangelium von Christus, durch die apostolische Verkündigung aus seiner israelitischen Heimat hinausgetragen in die hellenistische Welt, hat in dieser einen Eingang gefunden, der die hier entstehende Kirche bald zur vorzüglichsten Vertreterin der Christenheit machte. Die Ausgestaltung der Kirche auf diesem Boden hat sich dann in einer derartigen allmählichen Verschmelzung christlicher Elemente mit den der nationalen und kulturlichen Entwicklung angehörenden vollzogen, daß sie im eigenen Bewußtsein dieser Kirche zu einer unzertrennlichen Einheit geworden sind. Einzudringen in das christliche Verständnis Gottes und der Gemeinschaft mit ihm erschien fortan als die höchste und eigent- liche Aufgabe der Erkenntnis; ein Gepräge christlicher Religiosität sollten alle Lebensformen empfangen; sich einem ausschließlich religiösen Leben zu widmen ward zum Erweis vollkommenster Weisheit und Tugend. Die Zueigenmachung der Gedanken des Evangeliums erfolgte jedoch in einer Umbildung durch den hellenischen Geist. Griechische Spekulation ge- staltete das christliche Dogma. An der Entnahme sittlicher Impulse aus dem Evangelium und entsprechenden Erüchten fehlte es nicht, aber mehr zu religiöser Stimmung und zur Enthaltung von den Gütern der Welt wußte die Kirche anzuleiten, als daß sie positive, praktisch-sittliche Aufgaben und Ziele dem Leben der christlichen Völker gewiesen hätte. Sie verlieh vielmehr dem in der nationalen Entwicklung Gewordenen die Weihe, über- mittelte in ihrem bald fest formulierten Dogma einen den christlichen Charakter zu eigen gebenden Besitz und ließ in den wahrhaftigen Myste- rien ihres Kultus die göttliche Lebens Wirkung erfahren. In dieser Gestalt ward sie zum bestimmenden Faktor in der Geschichte des griechischen Volkes und der von diesem beeinflußten Nationen, besonders der russischen, Sie hat diesen Völkern in den Zeiten Jahrhunderte andauernder Knecht- schaft ihre Eigenart bewahrt und sie wieder zur Freiheit geführt und wird von ihnen als ihr wertvollstes Gut empfunden. Die ganze, hochbedeutsame

DiK Kultur der Gegenwart. I. 4. II

162 Nathanael Bonwetsch: Griechisch-orthodoxes Christentum und Kirche.

vStellung dieser Völker in dem religiösen, kulturlichen und politischen Leben der Geg'enwart steht mit ihrem Christentum in innigster Verbindung und kann nur von dessen Verständnis heraus voll erfaßt werden. Damit ist aber auch das Interesse gegeben, das die Geschichte des griechisch- orthodoxen Christentums für die Kultur der Gegenwart beanspruchen darf.

I. Die Grundlegung im 4. und 5. Jahrhundert. Als die Kirche im 4. Jahrhundert Reichskirche wurde, waren die Anfänge der für das griechische Christentum charakteristischen Züge bereits herausgebildet. Schon hatte die Kirche viel aus der hellenistischen Welt, in der sie sich erbaute, in ihr eigenes Wesen aufgenommen. Die Organisation, die sie sich gegeben, befähigte sie, mit der staatlichen in Rivalität zu treten. In dem nicänischen Bekenntnis verlieh sie eben jetzt ihrem christlichen Be- wußtsein den fortan maßgebenden Ausdruck. Es zeigt sich die Neigung, den Gottesdienst den Mysterienkulten anzugleichen. In dem heiligen Antonius ist der Einsiedler an die Stelle des in der Welt lebenden As- keten getreten, und Pachomius begründet zu Tabennisi am Nil eine organisierte Körperschaft gemeinsamen Mönchslebens. Die grundlegende Ausgestaltung dieser Anfänge gehört dem 4. und 5. Jahrhundert an, in denen die Kirche sich den Ertrag der Antike selbständig zu amalgamieren gesucht hat; diese beiden Jahrhunderte haben daher auch fortan die Stellung der klassischen und normgebenden Zeit behauptet. Die Die Christianisierung der östlichen Reichshälfte hat sich, als die Kirche

Christianisierung

der östlichen Reichskirchc geworden war, überraschend schnell vollzogfen, ein Beweis,

Reichshälfte. . , ^ . . . ö ' '

wie starke \\urzeln diese hier bereits zuvor geschlagen. Die entschiedene Begünstigung des Christentums durch Konstantin, das Vorgehen seiner Söhne gegen das Heidentum mußten die Massen der Kirche zuführen, und nach der vorübergehenden Reaktion Julians erfolgte nur ein um so stär- keres Einströmen, zumal seit der Regierung des Theodosius (379 395) durch Maßregeln derVerwaltung Tempel geschlossen oder zerstört und durch Edikte der heidnische Kultus untersagt und das blutige Opfer zum Majestätsver- brechen gestempelt wurden. Unter Arkadius verloren die heidnischen Fest- tage ihre Geltung, die Priesterschaften ihre Steuerfreiheit und Gerichtsbar- keit; die Heiligtümer auf dem Lande sollten ohne Tumult beseitigt werden. Die Ersetzung der Todesstrafe für heidnische Opfer durch Verbannung und Güterverlust 423 ist nur ein Zeichen, daß das Heidentum von selbst aus- zusterben begann. Mochte aber selbst ein Chrs'sostomus die Erlaubnis zur Zerstörung des berühmten Tempels von Gaza erwirken und ein Cyrill moralisch nicht unbeteiligt sein an der schauervollen Ermordung- der Hypatia durch den christlichen Pöbel: einen Einblick in die wirkliche Stellung zur antiken Kultur gewährt doch die Tatsache, daß die Bildung zunächst nach wie vor in den Rhetorenschulen weiter empfangen wird und daß auch die großen Leuchten der Kirche sich genährt haben an hellenischem Geiste. Auch an dem frommen Hofe Theodosius' IT, trug

I. Die Grundlegung im 4. und 5. Jahrhundert. l5^

man keine Bedenken, auch hellenische Wissenschaft zu pflegen, und die zur kaiserlichen Gemahlin erkorene athenische Professorentochter Athenais, die erst noch die Taufe vor ihrer Vermählung empfangen mußte, konnte bei ihrer Wallfahrt nach Jerusalem (438) im Senat zu Antiochia eine Lobrede auf die Stadt und ihre Geschichte halten und später die biblischen Ge- schichten in die Rhythmen Homers kleiden und die Legende vom Magier Cyprian dichterisch gestalten.

In der Verbindung mit dem Staat gelangte die Kirche zur Voll- Die endung ihrer eigenen Organisation, denn nun ermöglichte ihr der christ- liche Kaiser als ihr Schutzherr, in den sog, ökumenischen Synoden sich als einheitliche Kirche darzustellen und Gehorsam gegen ihre Be- schlüsse zu erzwingen. In der Hauptsache freilich war um 325 in nicht wenigen Gebieten der östlichen Reichshälfte, z. B. in Ägypten und Klein- asien, die Organisation der Kirche schon vollzogen. Nur war diese keines- wegs eine gleichartige. Hatte in Ägypten jeder Xomos nur Einen Bischof, so gab es in den Kirchen Kleinasiens und Syriens Bischöfe selbst in manchen Landg'emeinden. Mit dem 4. Jahrhundert aber verschwinden die Landbischöfe, denn nunmehr wird der Anschluß an die staatliche Gliede- rung noch konsequenter maßgebend als zuvor. Die Stellung des Bischofs ist jetzt eine durchaus monarchische. An den Rat des Presbyteriums ist er nicht gebunden. Zunächst sind ihm noch die Diakonen „Auge, Ohr und Hand", der Archidiakon sein eigentlicher Stellvertreter. Aber bald steht ihm ein großer Verwaltungsapparat von Schatzmeistern, Defensoren, Archivaren usw. zu Gebote, der die Aufgabe der Diakonen immer mehr auf den Kultus beschränkt. In dem Bischof ist jetzt die ganze soziale Wirksamkeit der Kirche konzentriert; wie er ihre Gerichtsbarkeit ausübt, so verfügt er über ihr Vermögen, bei ihm steht Wahl und Weihe des Klerus. Hatten sich schon in der vornicänischen Periode die auf den Provinzialsynoden präsidierenden Bischöfe der Provinzialhauptstädte, die Metropoliten, über die anderen erhoben, so gewinnen jetzt, wesentlich im Anschluß an die Reichseinteilung in Diözesen, die von Antiochia und Alexandria (als Patriarchen), von Ephesus, Cäsarea in Kappadocien und Heraklea in Thracien die überragende Stellung; die drei letzteren seit 451 zurückgedrängt durch den Bischof von Xeurom, welchem als dem der Kaiserstadt schon das Konzil von 381 die Ehrenstellung nach dem von Altrom zugesprochen hatte. Das Ringen der Patriarchate um die Herr- schaft ist eng verbunden mit den die Kirche des Ostens bewegenden dogmatischen Kämpfen.

Gerade als die Kirche zur bevorzugten Religionsgemeinschaft auf- Die

... . ... _ Ausgestaltung

ruckte, wurde sie durch die arianischen Kämpfe genötigt, sich auf das der Orthodoxie

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Wesentliche ihres Christentums zu besinnen. Förderten jene Kämpfe zwar tarischen und

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die Neigung, das Christsein in die Annahme bestimmter erkenntnismäßiger Kämpfen. Wahrheiten und entsprechender Formeln zu setzen, .so ward unter ihnen doch sichergestellt, daß das Christentum von Gott selbst gegebene Gottes-

164 Nathanafx Bonwetsch : Griechisch-orthodoxes Christentum und Kirche.

gemeinschaft ist. In Athanasius, dem „Vater der Rechtgläubigkeit", ward die Erkenntnis der Inhalt seines Lebens, daß die Erlösung des Menschen auf der Menschwerdung Gottes beruht, der als das wesentliche Leben selbst in die dem Tod verfallene menschliche Xatur eingegangen sei und so zu- gleich das Vorbild vollkommener Tugend vor Augen gestellt habe. Im Gegensatz zu des Arius Herabziehung des Logos in die geschöpfliche Sphäre, die dem Polytheismus zuzuführen drohte, hat das nicänische Konzil (s. S. 1 2 I f.) den Sohn als Eines Wesens mit dem Vater bekannt. Gegen diese Entscheidung, gefällt noch vor Austragung des Streites, erhob sich eine mächtige Reaktion, die gerade in der Mittelstellung des Logos zwischen Gott und Welt die Grundvoraussetzung alles zugleich wissenschaftlichen und religiösen Weltverständnisses zu besitzen glaubte. Für einen Atha- nasius aber handelte es sich nicht um die Frage der Welterklärung, son- dern um die der Gottesgemeinschaft. In der Anbetung Christi ist sie ihm entschieden; und wie der christliche Monotheismus so ist ihm auch die Erlösung vernichtet, wenn nicht Gott selbst sich der menschlichen Xatur geeint hat. Gerade unter der staatlichen Ungunst in den Tagen des Con- stantius erstarkte das Interesse an der vollen Gottheit des Sohnes als der Sache der Frömmigkeit. Selbst die Laienwelt der östlichen Reichshälfte nahm den regsten Anteil. Markt und Straßen der Stadt hallten wider so schildert es Gregor von Nyssa von Erörterungen über das Ver- hältnis des Sohnes zum Vater. Auch die wissenschaftliche Theologie, bis dahin durch Bedenken gegen die Wesenseinheit von Vater und Sohn von den strengen Nicänern getrennt, lernte jetzt in dem vom Vater be- stimmt unterschiedenen, aber mit ihm gleich wesentlichen Gott-Logos den Mittler des Weltverhältnisses Gottes zu erblicken. Athanasius aber, in dem entscheidenden Moment Sache und Formel unterscheidend, erkannte auf der alexandrinischen S)'node von 362 auch dieses Verständnis für ortho- dox an. Als Kaiser Valens, der noch einmal den Arianismus begünstigte, in der Schlacht bei Adrianopel (378) verschwand, war in der Reichskirche gegen den Arianismus entschieden.

Die Synode zu Konstantinopel 381, die später die Geltung' einer ökumenischen erlangte, hat das nicänische Bekenntnis erneuert. Eine im wesentlichen an dies sich anschließende Theologie blieb herrschend. Ihre Wortführer neben Apollinaris, dem Bischof des syrischen Laodicea, Diodor, Bischof von Tarsus, und anderen vornehmlich die drei Kappa- docier: Basilius, Bischof des kappadocischen Cäsarea, sein Freund Greg^or von Nazianz und sein Bruder Gregor, Bischof von Xyssa; sie alle genährt mit hellenischer Bildung und bestrebt, sie im Dienst christlicher Erkennt- nis zu verwerten. Aber in den Kämpfen um die Rechtgläubigkeit war auch eine Richtung emporgekommen, die das christliche Heilsverständnis und die kirchliche Überlieferung durch griechische Weisheit gefährdet glaubte. Den eigentlichen Repräsentanten der Durchsetzung christlicher mit hellenischen Gedanken sah sie in Orig-enes, und gegen ihn wandte sie

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sich mit leidenschaftlichem Eifer. So der gelehrte Bischof von Sidamis, Kpiphanius, und /ahlreiche Mönche Ägyptens. Deren Unterstützung nicht /u verlieren, nahm der alexandrinische Bischof Theojihilus den Kampf gegen den Origenismus auf, verfolgte nunmehr ihm mißliebig gewordene Personen als Origenisten und benutzte ihre Beschirmung durch den Bischof von Konstantinopel Johannes, später als Chrysostomus, „Goldmund", geehrt, zur Demütigung seines vom Hof ihm preisgegebenen Rivalen (404).

Das Bestreben der alexandrinischen Bischöfe, die kirchliche Vorherr- schaft — wenigstens in der östlichen Reichshälfte zu erringen, hat in den christologischen Kämpfen des 5. Jahrhunderts vorübergehend sein Ziel erreicht. Christliche und theologische Überzeugung und kirchenpolitischer Ehrgeiz sind hier unentwirrbar ineinander geschlungen, aber die tief- gehende Erregung, die jene Kämpfe hervorriefen, und ihre verhängnis- vollen Folgen zeigen, daß es sich in der Tat für die griechische Kirche um die Grundfrage ihres christlichen Bewußtseins, die Erlösung als Be- teiligung an dem ewigen Wesen Gottes, handelte. Den Anlaß zum vStreit gab der Protest des erst jüngst zum Patriarchen von Konstantinopel er- hobenen Antiocheners Nestorius gegen die Bezeichnung der Maria als Gottesgebärerin. Die Antiochener legten Gewicht auf die Selbständigkeit der Menschheit des Erlösers, der als der zweite Adam durch seine sitt- liche Lebensbewährung den Bösen, der einst den Menschen besiegt, über- wunden habe. Dagegen lehrten die Alexandriner ein wirkliches Eins- werden des Gott-Logos mit der angenommenen Menschheit, wie Feuer Eisen durchglüht. Cyrill von Alexandria sprach es scharf und bestimmt aus: Der Gott-Logos hat durch sein eigenstes Leiden in seiner Auf- erstehung die Vergänglichkeit abgetan und unserem Geschlecht die Gnade des unvergänglichen Wesens erworben. Wie als Dogmatiker, so war Cyrill auch als Kirchenpolitiker seinem Gegner weit überlegen. Er wußte auf dem zugunsten des Nestorius vom Kaiser nach Ephesus 431 aus- geschriebenen Konzil es schließlich zu erreichen, daß sein Gegner ver- urteilt ward, er dagegen nur eine Formel zu akzeptieren hatte, die er in seinem Sinn deuten konnte (433). Sein Nachfolger Dioscur aber erlangte für einen Moment wirklich die kirchliche Hegemonie im Orient. Auf der Synode zu Ephesus 449 später als Räubersynode gebrandmarkt konnte er die Einsprache des Papstes und seiner Legaten ignorieren und über den Bischof Flavian von Konstantinopel zu Gericht sitzen. Aber nach dem plötzlichen Tode Theodosius' IL beriefen in Gemeinschaft mit Papst Leo die Augusta Pulcheria und ihr Gemahl Marcian das Konzil zu Chalcedon (451), entsetzten Dioscur und nötigten der Kirche des Orients die in Leos berühmtem Brief an Flavian enthaltene christologische Formel zwei Naturen in Christo selbständig nebeneinander auf, eine Formel, die jedoch das christliche Erlösungsbewußtsein des Orients nicht zu un- verkürztem Ausdruck gelangen ließ.

War daher zu Chalcedon die Autorität des Staates über die Kirche

l66 Nathanael Bonwetsch: Griechisch-orthodoxes Christentum und Kirche.

gesichert, so hatten doch die zentrifugalen Kräfte im Reich nun eine religiöse Grundlage gewonnen und ließ sich fortan die Einheit der Reichs- kirche nicht mehr aufrecht erhalten. Nur vergebliche Bemühungen darum kennzeichnen die Geschichte der Kirche in den folgenden Jahrhunderten, zumal auch bald für einen Teil der „Frommen" das Chalcedonense mit der Weihe religiöser Autorität bekleidet war. Vorab die kirchliche Politik Justinians machte wie seine staatliche noch einmal mit dem Reichseinheits- gedanken ganzen Ernst. Sie hat den Zusammenhang mit Rom festgehalten, die Monophysiten nach vergeblichen Unionsversuchen verfolgt und ver- trieben und auch ihre wirklichen oder vermeintlichen Freunde in der Staats- kirche durch die Verdammung des Origenismus (543 und 553) getroffen, aber zugleich doch auch die Gegner der Christologie Cyrills in den „drei Ka- piteln" (553) verurteilt. Aber wie politisch die weite Ausdehnung der Reichsgrenzen das Hereinfluten der Barbaren mit zur Folge hatte, so ließ der allzusehr nach dem Westen gerichtete Blick Justinians es zu einer wirklichen Herstellung der kirchlichen Einheit im Osten nicht kommen. Gerade jetzt konstituierten sich die monophysitischen Kirchen, in denen das anatolische Christentum seine bestimmtere Ausprägung gefunden. Die Lebens- Die Bcdcutung der dogmatischen Kämpfe für die Entwicklung der

griechischen Kirche läßt die Rechtgläubigkeit als ihr eigentliches Charak- teristikum erkennen. Die Verbindung hellenischer Wertschätzung der Erkenntnis mit der Erfassung des Christentums als Religion der Erlösung durch die Menschwerdung Gottes führte dazu. Ein Theodoret konnte klagen, daß es scheine, als habe Christus nur Dogmen zu bewahren geboten. Dennoch genügt der Blick auf den Gelesensten und Gefeiertsten unter den Männern jener Tage, auf Chrysostomus, um wahrzunehmen, wie es zugleich an der Pflege christlichen Lebens nicht gefehlt hat. Seine alle Gebiete der Kirchenleitung, geistlicher und leiblicher Fürsorge und der Mission umspannende praktische Tätigkeit, wie insonderheit seine auf sittliche Lebensgestaltung dringenden Predigten geben den Beweis, daß trotz der vorherrschenden dogmatischen Tendenz dem Bekenntnis die Tat nicht fehlte. Umfassend ist vor allem die soziale Wirksamkeit der Kirche in dieser Zeit allgemeinen Niedergangs auch in der von den Kata- strophen der westlichen verschonten östlichen Reichshälfte. Die Kirche erweist sich als die Sachwalterin der Notleidenden auch gegenüber den Mächtigen der Erde, sie gewährt ein Asyl den Verfolgten, nimmt sich der Verurteilten an, übt eine Aufsicht über die Gefängnisse, kauft Gefangene los ein Chrysostomus hat es noch im Exil getan, und der Bischof Akacius von Amida selbst feindhche Perser befreit , schützt und ver- sorgt Witwen und Waisen, bekämpft mit ihrer ganzen Autorität den \Vucher, dringt auf Nachsicht gegen die Pächter und Steuerpflichtigen und auf Milde gegen die Sklaven. Den Mittelpunkt ihrer ausgedehnten Liebestätigkeit bilden jetzt Hospitäler, die „Häuser der Armen Christi", die es ihr ermöglichten dem Massenelend zu begegnen, mag schon viel-

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fach ihre Aniiciiversorgung- an die des heidnischen Roms erinnern. Auch die Gesetzgebung Justinians mit ihrem Streben nach Nachahmung gött- licher Milde und ihrer Bemühung um den Schutz weiblicher Würde läßt den Einfluß christlicher Gedanken nicht verkennen.

Aber dennoch war die Verbindung des Sittlichen mit dem Religiösen un- genügend. Bestand die Gottesgemeinschaft in der I^rkenntnis der Mensch- werdung Gottes und in der durch sie begründeten Beteiligung unserer Natur an der Unvergänglichkeit Gottes, dann bewährte sich die Frömmigkeit in erster Stelle in sorg"fältigem Festhalten an jenem grundlegenden Geheim- nis der Erlösung. Ein gegenwärtiger Anfang des wesentlich zukünftigen Heils aber wurde in den gottesdienstlichen Feiern erlebt, die man jetzt als Mysterien beurteilte und dadurch ihre wirkliche Umgestaltung in solche vorbereitete. Die positive sittliche Betätigung, obwohl erst durch die Gotteserkenntnis und kirchliche Gemeinschaft ermöglicht, erschien doch mehr nur als Bedingung des noch zukünftigen Heilempfangs. Der un- geheuren Aufgabe einer sittlichen Neugestaltung einer niedergehenden Welt zeigte sich die Kirche daher nicht gewachsen. Es fehlte ihr nicht an Ordnungen für die Erziehung der ihr sich zuwendenden Massen, aber sie waren unzureichend. Das Konzil zu Nicäa forderte, daß der Taufe ein mindestens zweijähriger Katechumenat vorangehe. Schon bei der Aufnahme unter die Katechumenen hatte eine gewisse Unterweisung statt; eingehend und zusammenhängend erfolgte sie vor dem Taufvollzug. Die Auslegung des Taufsymbols und die Erläuterung von Taufe und Abend- mahl in den Katechesen eines Cyrill von Jerusalem (348) zeigen, wie jene unter besonders günstigen Umständen sich gestalten konnte. Aber über- wuchert war die lehrhafte Unterweisung doch auf allen Stufen des Kate- chumenats von einem die Heilsgaben abbildenden liturgischen Handeln: Bekreuzung, Handauflegung, Exorzisation, Übergabe und Bekenntnis des Symbolums und des Vaterunsers, Absage und Gelöbnis, Taufakt und Salbung; die Pädagogie ward dadurch wesentlich Mystagogie, ihr Ziel mehr Teilnahme am Mysterium als sittliche Gottesgemeinschaft. Tatsäch- lich ist denn auch bei der Christianisierung mehr der Name als das Wesen gewechselt worden. Die schon in der früheren Periode begonnene An- passung an heidnische Sitten, Feiern, Vorstellungen und Aberglauben hat nun großen Umfang gewonnen, und dem „Christentum zweiter Ordnung" waren damit die Tore weit aufgetan. Die Züge antiker Frömmigkeit be- herrschen die Legenden des 4. und 5. Jahrhunderts. Eine zur Asketin sich wandelnde Aphrodite kehrt wieder in einer heiligen Pelagia, Marina, Margarita, Anthusa usw. Die Verehrung weiblicher Gottheiten wendet sich der „Gottesmutter" zu, in deren Namen das ganze Geheimnis der Er- lösung zu erblicken die christologischen Kämpfe lehrten. Der Heilige tritt an die Stelle des Heros; er bringt die Gebete vor Gott, vertreibt Dämonen, heilt Kranke. Nicht nur die Wohlgeruch ausströmenden Ge- beine der Heiligen, auch ihre Gräber und Schreine sprudeln Segen. Selbst

l58 Nathanael Bonwetsch : Griechisch-orthodoxes Christentum und Kirche.

ein Basilius und sein Bruder Gregor können nicht hoch genug die Kraft der Reliquien der „vierzig Märtyrer" preisen, die gleich Türmen das Land sichern. Kein Wunder, daß deren Namen allerwärts als Amulette begeg- nen, wie so vieles andere.

Mit aller Energie nahm die Kirche den Kampf auf gegen die Un- zucht. Die in dieser Hinsicht sittliche Haltung vieler Kaiser ist ein Zeichen für das, was die Kirche hierin erreichte. Aber eine Verchristlichung des Hauses ist nicht erfolgt. Ebenso blieb der Unterrichtsbetrieb vorchrist- lich. Die in vieler Hinsicht so glänzend vertretene Predigt verliert doch schon durch Rhetorik an lebenskräftigem Inhalt. Dazu erscheint schon jetzt das ganze Leben in der Ehe und im Beruf nur noch als ein halb- frommes, von dem daher ein völliges Durchdrungensein von christlichem Sinn nicht mehr gefordert werden kann. Das Möuchtum. Das sittlichc Ideal ist nämlich jetzt das Mönchtum. Das hellenische

Bild des asketischen Weisen, dem Orient entstammender Dualismus und der christliche Gedanke ungeteilter Hingabe an Gott sind hier unter einer neuen lebendigen Empfindung von der Größe der religiösen Güter zur Einheit verschmolzen. Viel schneller und vollständiger als im Abendland hat im Osten das Mönchtum den Sieg errungen. Die großen Männer der Kirche dieser Zeit waren alle selbst ganz oder zeitweilig Mönche oder doch energische Förderer des Mönchtums. Solche Charaktere und eine solche Mannigfaltigkeit von Bildungen wie im Abendland hat dies hier nicht hervorgebracht, aber doch vornehmlich darum, weil es hier seinem eigentlichen Ziel Lösung von der Welt, nicht Arbeit in und an der Welt viel treuer g'eblieben ist. Ein jenseitiges Leben schon auf Erden sucht es mit ganzem Ernst zu verwirklichen. Daher die Ertötung der Affekte, der Verzicht auf die menschliche Gemeinschaft, auf die natür- lichen, ja auch auf die sittlichen und selbst die kirchlichen Güter. Ein- samkeit, Selbstpeinigungen, Torheit um Christi willen, üble Nachrede, alles, was vor der Welt verhaßt und verachtet ist, wird hier erwählt. Die Zucht wendet sich doch auch gegen die Gefährdung der Seele durch Traurigkeit, Verdrossenheit und geistlichen Hochmut, und sie wird unter- stützt durch rücksichtsloses Bloßlegen aller vSeelenzustände vor dem Seelen- arzt und durch willige Unterstellung unter die etwaigen Strafen des Vor- stehers der Mönchsgemeinschaft. Um die Heroen mönchischer Tugend sammeln sich nämlich nacheifernde Schüler, oder es schafft ein Meister eine fester organisierte Gemeinschaft, in der nicht die äußerste Askese gepflegt, aber ein gewisses Maß von allen Gliedern gefordert wird. Neben den großen Mönchsniederlassungen Ägyptens haben besonders die Ere- mitenkolonien Palästinas Glieder aus allen Teilen der Christenheit in ihrer Mitte vereinigt. Aber immer bleibt das gemeinsame Leben nur Vorstufe oder durch Rücksicht auf Schwächere bedingt; der wahre Mönch lebt als Eremit ausschließlich dem Umgang mit Gott. Versuche ununter- brochener Andacht sind von der Kirche abgelehnt worden, aber die b^-^

II. Die Auspräj^uiifj d. hy7..(liristeiitunis seil Jiislinian u. im /.citallor d. Bilclerstrciti<,'k. (seil 527). 160

stimmten Ordnungen der Gebetsübung in den Mönchskolonien und die Ab- lösung im Gebet bei den späteren Akoimetenmönchcn sind doch nur durch das wirkliche I>eben abgenötigte Ersatzformen dafür. Auch die neben dem Gebet geübte Arbeit ist zunächst notwendiges Übel, doch zugleich Mittel der Askese und soll \on der Welt unabhängig machen, und nur solche Arbeit geziemt, die stete Beschäftigung mit g()ttlichen Dingen ge- stattet. Die Beteiligung an den dognicitischen Kämpfen will vornehmlich der Verkehrung der Lehre durch irdische Weisheit wehren. Denn schließ- lich noch mehr als durch Forschen über die göttlichen Geheimnisse be- währt sich durch \^erzicht auf Erkenntnis der Jünger der „allerwahrsten Christus gemäßen Philosophie".

II. Die bestimmtere Ausprägung des byzantinischen Christen- tums seit Justinian und im Zeitalter der Bilderstreitigkeiten (seit 527). Die Zeit Justinians bezeichnet einen Einschnitt in der Entwicklung der Kirche wie des Reichs. Der Kaiser ist jetzt Priester und König; „wider den Willen des Kaisers darf nichts in der Kirche geschehen", bestimmte die Synode von 536. Von ihm durchaus abhängig ist der nunmehrige Reichspatriarch zu Konstantinopel. Mit den heidnischen Resten, auch der platonischen Akademie zu Athen wird jetzt aufgeräumt. Aber schon etwa um 500 hatte ein von neuplatonischen Anschauungen erfüllter Christ unter dem Namen des Areopagiten Dionysius (Apg. 17,34) ^s unternommen, dem Bedürfnis seiner Zeit Genüge gebend, das Christentum zu einem die heidnischen überbietenden Mysterienkult zu gestalten. Von dem Mensch- gewordenen gehe ein Lebensstrom aus, der durch Vermittlung der Hie- rarchie alles mit Unvergänglichkeit durchdring-e. Heilige Formeln und priesterliche Weihehandlungen leiten göttliches Leben über in die Einzu- weihenden. Fortan besteht in der Feier der Mysterien das Wesen des Gottesdienstes, jede kultische Handlung und Formel wird zum Träger und Mittler göttlicher Lebenskraft und deshalb in ihrer überkommenen Form sakrosankt. Die noch zumeist, selbst von den Herrschern geübte Predigt dient zur rhetorischen Verherrlichung des Dogmas ohne zweckvolles Ein- gehen auf das christliche Leben, oder hält sich an die Autoritäten des 4. und 5. Jahrhunderts unter Verzicht auf Eigenes. Auch ohne jenen Bruch mit der früheren Entwicklung, wie er im Abendland erfolgte, zeigt sich hier der Eintritt des Mittelalters in der Autorität der Überlieferung und in dem noch mehr als im Abendland theologischen Gepräge des ganzen geistigen Lebens. Die Synode zu Konstantinopel von 692 stellt die vier ersten Konzile den vier Evangelien zur Seite und will, daß man in Pre- digt und Exegese sich durchaus an die Väter halte. Auch die kirchlichen Kämpfe werden durch die Autoritäten der früheren Zeit entschieden. Kaiser und hohe Staatsbeamte sind jetzt Theologen, und die Dichtkunst, ihr Heros Romanos, blüht nur weiter als theologische und kirchliche.

Noch einmal ist der Versuch gemacht worden, den durch die Ent-

170

Nathanael Bonwetsch : Griechisch-orthodoxes Christentum und Kirche.

Scheidung zu Chalcedon entstandenen Zwiespalt zu überwinden. Als He- raklius den Persern das heilige Kreuz wieder entrissen, nahm er eine wie staatliche so kirchliche Reform in Angriff. Es schien 633 in der Tat, als solle es diesmal gelingen, die Einheit herzustellen. Auf Grund der mono- theletischen Formel, daß Christus alles durch eine gottmenschliche Wirk- samkeit vollbracht habe, kehrten zahlreiche „Monophysiten" zur kirchlichen Gemeinschaft zurück. Aber der Widerspruch vornehmlich des später mit dem Ehrennamen des Bekenners geschmückten Maximus und des römischen Stuhls nötigte, nicht nur die Eintrachtsformel preiszugeben, sondern sogar auf dem Konzil von 680 die Lehre von einem doppelten Willensvermögen und einer göttlichen und menschlichen Wirkungsweise Christi festzustellen. Das tatsächliche Verständnis der Person Christi ist dadurch doch nicht geändert worden. Dagegen ließ die 692 als Ergänzung abgehaltene Syn- ode um so deutlicher erkennen, welche Züge das griechische Christentum jetzt entwickelt hat, denn ihren Aufstellungen eignet allen eine eigentüm- liche Wertlegimg auf die kultisch-rituelle Form.

Die gleiche Eigenart bekunden die Bilderstreitigkeiten, die jetzt die dogmatischen ablösen. Nicht daß die Wertung des Dogmas nachließe, aber es interessiert persönlich nur noch, sofern es in heiliger Form oder Formel das Geheimnis der Erlösung gegenwärtig macht. Im Bilde dagegen erblickte man eine Realpräsenz des Abgebildeten „Christus ist nicht Christus, wenn er nicht abgebildet wird" , in seiner Verwerfung eine Verneinung der Menschwerdung Gottes. Freilich auch der Kampf gegen die Bilder war eine kirchliche Reform, die mit einer staatlichen nach der fast wunderbaren Errettung Konstantinopels vor dem arabischen Ansturm 717/718 Hand in Hand ging. Zur durch den Bilderdienst gefährdeten geistigen Gottesverehrung wollten die bilderfeindlichen Kaiser zurück- führen. Rücksichtslos hat vor allem Leos IIL kraftvoller Sohn Konstantin V. die Bilder zu beseitigen und das sie schirmende Mönchtum zu unterdrücken gesucht. Aber die ränkevolle Irene wußte sie wird hierfür als Heilige gefeiert als Vormünderin ihres Sohnes 787 die Wiederherstellung des Bilderkultus zu erreichen: die ehrfurchtsvolle Verehrung der Bilder und der Heiligen widerstreite nicht der Gott allein gebührenden wahrhaftigen An- betung. Nach zeitweiliger Erneuerung des Bildersturms in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts ward 843 die Bilderverehrung restituiert; charakteristisch wird zur Erinnerung gerade daran das Fest der Orthodoxie gefeiert. Daß der Staat in der Bilderfrage nur durch Einlenken seine Autorität zu be- haupten vermochte, beweist das durchaus überwiegende religiöse Inter- esse an der Verehrung der Bilder. So konnten denn gerade unter dem herben Kampf für die Bilder christliche Persönlichkeiten erwachsen wie Theodor, der Abt des Klosters Studion, der charaktervoll wie kein zweiter auf griechischem Boden für die Freiheit der Kirche gestritten und zu dem Zweck die Autorität Roms der staatlichen entgegenzustellen gesucht hat.

III. Das byzantinische Clirislcnlun» in seiner ivusgebildclcn (iostalt seit Pliolius (seil 858). i^j

III. Das byzantinische Christentum in seiner ausgebildeten Gestalt seit Photius (seit 858). Seit dem Ende der Bilderstreitigkeiten „herrscht das einheitliche Eigenleben des byzantinischen Geistes". Gerade jetzt freilich beginnt man unter vorzüglicher Anregung des Photius, des „Wiederherstellers der alten Literatur", sich mit dem Altertum wissen- schaftlich zu beschäftigen; aber man kann das so unbedenklich tun, weil man ihm nunmehr innerlich frei gegenübersteht. Ohne Einfluß ist diese Beschäftigung mit dem Altertum nicht gewesen. Im 12. Jahrhundert sind Männer der Kirche, wie die Erzbischöfe von Thessalonich und Athen, Eustathius und Michael Akominatus, ein Beleg dafür, und ein Kaiser des 13. Jahrhunderts konnte den Kaiser und den Philosophen als die Träger des höchsten Ehrennamens bezeichnen. Zumal im 15. Jahrhundert zeigen ein Gemistus Pletho und Bessarion, wie Piatos Gedankenwelt sich als eine Macht gerade über die hervorragendsten Geister erwies und deren ganzes Sinnen zu beherrschen imstande war. Nie ward in Byzanz die Bildung so alleiniger Besitz der Mönche und des Klerus wie im Abendland. Das theologische Interesse ist freilich hier noch größer. Nur erwägt man nicht mehr, warum das Dogma ein solches, und untersucht nicht mehr, welches die rechte Gestalt von Kultus und Verfassung, son- dern alles ist durch die Überlieferung gegeben und deshalb als heilig und göttlich zu preisen. Im Nomokanon, der 883 zum Abschluß gelangte und g2o für die ganze Kirche verbindlich erklärt ward, war das was christlich ist für immer niedergelegt. Das Wesen des Christentums aber charakte- risierte Photius im Sinne seiner Kirche als Mathesis und Mystagogie, Ein- führung in die Gotteserkenntnis und die Mysterien. Das Halten am kor- rekten Dogma und das Vertrautsein mit ihm ist das Merkzeichen echten Christentums; lebendig beteiligt ist man an ihm aber nur, sofern es im Kultus eine Verleiblichung gefunden hat und einen gegenwärtigen Genuß der Gottesgemeinschaft ermöglicht. Es ist bezeichnend, wie kurz z. B. ein Symeon, Erzbischof von Thessalonich 14 10 1429, die Glaubenslehren und wie eingehend er die kirchlichen Mysterien in symbolischer Ausdeutung aller Zeremonien behandelt. Eben diese mystische Deutung der leben- spendenden Liturgie ist jetzt die vornehmste Aufgabe der Theologie.

Dies kultische Interesse zeigen auch die Auseinandersetzungen mit dem Abendland, die seit dem fast unmittelbar dem „Abfall" des Papstes vom „Kaiser" folgenden Zwist des Patriarchen Photius mit dem Papst Nicolaus (866) sich immer wieder erneuern, da sie nur den vorhandenen inneren Gegensatz des Christentums hier und dort zum Aus- druck bringen. Der Bruch des Patriarchen Michael Cärularius mit der Gesandtschaft Leos IX. 1054 verschärfte den Zwiespalt, und die Aufrich- tung des lateinischen Kaisertums 1204, das den Organismus der grie- chischen Kirche gewaltsam zerstörte, machte ihn unheilbar, denn es erfüllte die Gemüter der Griechen mit unauslöschlichem Haß gegen ihre barba- rischen Unterdrücker und mit der Überzeugung, allein die wahrhaft ortho-

172 Nathanaki. Bonwetsch: Griechisch-orthodoxes Christentum und Kirche.

doxe Kirche zu sein. Die Kaiser freilich sahen sich auch fernerhin ge- zwungen, mit Unionsversuchen um die Hilfe des Abendlandes zu werben. In Johannes Bekkus, Patriarch 1275 1285, und in dem Abt Barlaam (um 1339) fand diese Union auch tüchtige Anwälte; ein Bessarion war der AV^ortführer der Einheitsbestrebungen des Florentiner Konzils. Aber der Widerwillen des Volkes ließ eine Union, obwohl dem Xamen nach zu Lyon 1274 und zu Florenz 143g erreicht, nie wirklich werden. Die Hauptanklage gegen die Lateiner seit den Tagen des Photius blieb die Fälschung des Symbols durch Einschaltung des „filioque", d. h. durch die Lehre des Ausgangs des Geistes „auch vom Sohn". Ist hier der eigent- liche Frevel die Änderung der heiligen Formel, so werden auch im übrigen Abweichungen ritueller Art z. B. der Gebrauch des ungesäuerten Brotes beim Abendmahl als Abfall von der apostolischen Wahrheit dem Abendland vorgeworfen. Die Beibehaltung der kultischen Ordnungen bildet auf griechischer Seite ebenso die entscheidende Voraussetzung für jede Union, wie auf römischer die Unterordnung unter die päpstliche Autorität.

Die regimentlichen Aufgaben des Episkopats treten in der griechischen Kirche hinter den priesterlichen ganz zurück. In der griechischen bleibt der Episkopat seines Rechtes der Fürsprache, besonders für die oft durch eine unerträgliche Steuerlast Bedrückten eingedenk; aber auch seine edelsten Vertreter sind bereit, rhetorisch die verworfensten Kaiser zu verherrlichen.

Die Kirche ist nun das Band, das die slawischen oder slawisierten Völker, die jetzt auf der Balkanhalbinsel sich ausgebreitet hatten, mit dem griechischen zu einer Einheit zusammenschließt, wenn auch in Bulgarien und Serbien zeitweilig Autokephalkirchen entstehen. Auch die Literatur, die jenen Völkern durch Übersetzung gTiechischer Werke gegeben wird, ist eine fast ausschließlich theologische. Das lebendige religiöse Interesse dieser Slawen führt sie zahlreich den Sekten, besonders den Bogomilen zu. Bei allen dualistischen Theorien ist doch das Charakteristische des Geistes- christentums dieser Ketzer der Gegensatz zur Sakramentskirche. Taufe und Abendmahl, die Verehrung der Bilder wie des Kreuzes erklären sie für dämonischen Ursprungs. So bekundet aucli diese Polemik die kultische Art des von ihr bekämpften Christentums,

Das Mönchtum aber strebte gerade durch Frömmigkeit seine Ortho- doxie zu betätigen. Es erörterte nicht nur Dogmen, sondern auch die Fragen der Gemeinschaft der einzelnen Seele mit Gott. Es versucht nicht in die Geschicke der Völker einzugreifen, aber es will Seelenführer sein und durch beichtväterliche Beratung zum Umgang mit Gott anleiten. Selbst will es die zukünftige Gottesgemeinschaft bereits gegenwärtig erleben. vSo besonders auf dem Athos, der jetzt zum der Panagia geweihten heiligen Berge, d. h, zum Zentrum des Mönchtums, geworden, seit 963 Athanasius daselbst sein Kloster mit der Regel des Theodorus Studita begründet hatte, aus dem etwa 1100 ein unmittelbar dem Reich unterstellter Kloster-

IV. Seit dem Fall Konstantinopels (l4!;3V 17^

verband wurde. Die Einsiedler, die sogenannten Hesychasten und Asketen, hypnotisierten sich hier selbst durch Hinblicken auf die Herzgrube und Murmeln der Worte: „Herr Jesus Christ, vSohn Gottes, erbarme dich meiner", und glaubten so das vmerschaffene Licht zu sehen, das auf Tabor in Christi Angesicht geleuchtet. Während im Abendland die Mystik fast stets Gegenstand eines gewissen Mißtrauens gewesen ist, fand auf grie- chischem Boden dieser Hesychasmus in den Theologen und Synoden des 14. Jahrhunderts seine Beschützer. Gleichzeitig gewann doch die Idiorrhyth- mie, der Eigenbesitz, in den Athosklöstern Eingang und damit die Auf- lösung des strengen Klosterlebens, es fehlte die straffe Organisation des abendländischen Mönchtums.

IV. Seit dem Fall Konstantinopels (1453). Der Fall des „gott- behüteten" Konstantinopels mit seinen Kirchen und unvergleichlichen Reli- quienschätzen war ein schwerer Schlag für den byzantinischen Glauben. Aber die Lage der Kirche ward durch ihn noch keine in jeder Hinsicht ungünstige. Zwar hatte sie den Druck fremdgiäubiger Herrschaft ge- nügend zu empfinden. Bald wechselten die Patriarchen fast ununterbrochen (5omal 1625 1700), und bei jedem Wechsel galt es, reiche Geschenke zu bringen. Hart besteuert und schwer bedrückt, jeder Willkür preisgegeben, traten zahlreiche Christen über zum Lslam. Durch die Vernichtung der alten Bildungsstätten wurde der Quell jener Wissenschaft verschüttet, die so lange das griechische Volk dem Abendland überlegen gemacht. Aber zugleich erlangte die Kirche eine ihr bis dahin unbekannte Selb- ständigkeit, die es verstehen läßt, wie noch 1798 der Patriarch erklären konnte, die Vorsehung habe die Osmanen zum Heil der Kirche an die Stelle der Kaiser gesetzt. Die Regierung- der Rajah ward dem Patriarchen überlassen. Er hatte nicht nur selbständig die kirchlichen Angelegen- heiten zu verwalten, sondern überkam auch abgesehen von der end- gültigen Entscheidung in Strafsachen die bürgerliche Jurisdiktion über die Christen. Die Gefahr staatlicher ünionsversuche war jetzt vorüber. Bemühungen der Jesuiten und der „Propaganda" blieben vergeblich. Als Gregor XIIL die Annahme des neuen auch noch heute von der ganzen orthodoxen Kirche abgelehnten Kalenders forderte, erwiderte der Patriarch Jeremias, daß die kirchliche Überlieferung durchaus unverändert aufrecht zu erhalten sei. Ebenso aber wies er gegenüber protestantischen Annäherungsversuchen 1575 einfach auf das Erbe des Altertums hin, jede Neuerung sei Frevel. Nur einmal, bei dem Patriarchen Cyrillus Lukaris, begegnet eine ernstlichere Hinneigamg zum Protestantismus. Dem Aber- glauben, als dem tiefsten Schaden seiner Kirche, setzte Lukaris die alleinig-e Autorität der Schrift entgegen, und in seinem Bekenntnis (1629) suchte er calvinistischen Inhalt in der Form kirchlicher Lehre zu geben. Aber gerade die dadurch herbeigeführte Gegenbewegung, gipfelnd in der Synode zu Jerusalem 1672, hat die orientalische Kirche ihren (regensatz

IjA Nathanafx Bonwetsch : Griechisch-orthodoxes Christentum und Kirche.

gegen die Ideen des Westens und ihre Entschlossenheit, bei dem Über- kommenen zu verharren, zum Ausdruck bringen lassen.

Neue Gedanken und Bestrebungen treten um die Mitte des i8. Jahr- hunderts hervor. Im Athoskloster Vatopädi ward 1749 eine Schule be- gründet, die der Ausgangspunkt für die Neubelebung des hellenischen Geistes geworden ist. Insbesondere Eugenius Bulgaris verstand es hier in seiner freilich nur kurzen Lehrtätigkeit, ohne die Anschauungen seiner Kirche preiszugeben, die Erkenntnisse der abendländischen Aufklärung seinen Schülern in maßvoller Weise zu übermitteln. Seine Lehrbücher beherrschten die folgende Generation, und mit Korais hat er das Griechen- tum der Freiheitskämpfe herangebildet. Selbst der Kolywastreit unter den Athosmönchen, charakteristisch für die griechische Frömmigkeit mit seiner Frage, ob Gedächtnisfeiern für Verstorbene vom Samstag auf den Sonntag verlegt werden dürfen, war ein Zeichen erwachenden Lebens. Ein gewisses wissenschaftliches Streben ist der Kirche Griechenlands fortan erhalten geblieben. Ein Bryennius in neuester Zeit mit seinen epochemachenden Editionen ist dafür ein Beispiel. Die Theologen der Universität zu Athen und die theologische Schule zu Chalki bekunden auch den Einfluß protestantischer Wissenschaft. Freilich haben zumeist an dieser Bildung nur die nach höheren Stellen strebenden Zölibatäre An- teil. Der einfache, stets verehelichte Priester, dem ja auch kein festes Ge- halt seine Existenz sichert, hat gewöhnlich kaum eine Ahnung von ihr. Und daß die alten Gedanken des griechischen Christentums noch heute herr- schen, hat jüngst aufs neue der Widerspruch gegen die Verbreitung der Schrift in der Volkssprache gezeigt, die noch immer als Profanation des heiligen Textes empfunden wird. Ihre Befriedigung sucht die Fröm- migkeit auch heute in den durch strenges Fasten vorbereiteten Feiern des Kultus und seinen noch täglich geschehenden Wundern. In der geistigen und unblutigen Latrie der Eucharistie erfährt sie eine Lebens Wirkung, deren Voraussetzung die Menschwerdung Gottes als Eingehen in unsere Natur und die Anastasis als Überwindung des Todes; der Glaube wird hier zum Schauen, Verehrung der Gottesmutter und der Heiligen und Ehrerbietung gegen das Evangelium, das Kreuz und die Bilder, Älildtätigkeit und Einhalten der kirchlichen Fasten sind die sonderlichen Merkzeichen der Frömmigkeit; priesterliche Weihen heiligen alle Beziehungen auch des bürgerlichen Lebens. „Bei der Fülle des Gottesdienstes ist es be- greiflich, daß sich das Volk zum Teil auf Kosten der Priester entlastet hat." Aber auch diesem „ist des vorgeschriebenen Betens und Feierns zu viel, auch er begnügt sich, manche Akoluthie in der Kirche oder daheim bloß zu markieren". In seiner Verwaltung- der göttlichen Heilskräfte ge- nießt der Priester Verehrung, mag- auch sonst sein Ansehen unter einer gewissen Säkularisation des Volkes gelitten haben. Eine geschlossene Einheit aber stellt die Hierarchie auch der Balkanhalbinsel nicht dar. Vielmehr haben die national bedingten staatlichen Bildungen zu einer

\'. Das fjriochisch- orthodoxe Christontuni in Rußland (<)8q bis zur Gegenwart). j -- ;

Reihe autokephaler Kirchen geführt, ja zu einer Spaltung- zwischen der Bulgariens und Konstantinopels. Selbst in der Mönchsgemeinde des heiligen Berges drängt das nationale Moment sich hervor, doch auch dies entspricht dem Verwachsensein von Kirchentum und Volkstum. Das Ideal orthodoxer Frömmigkeit findet auf dem Athos noch heute seine Vertretung. Die Klöster mit Eigenbesitz freilich dienen zumeist als Ver- sorgungsanstalt, aber in den Zönobien sucht der Mönch unter dem Schutz der Panagia nur der Sorge um seine Seele zu leben. Voll weiß er jedoch das Ideal erst durch den Bewohner der vSkiten und noch mehr der Ein- siedler verwirklicht, da dieser den Kampf mit den versuchlichen Mächten sogar allein durchzuführen vermag. Hat gleich der Einfluß der Kirche im modernen Leben Einbuße erlitten, so ist doch der Charakter der Fröm- migkeit der alte geblieben.

V. Das griechisch-orthodoxe Christentum in Rußland (989 bis zur Gegenwart). Von Konstantinopel hat auch die russische Kirche, die heute als die Vertreterin griechisch-orthodoxen Christentums zu bezeichnen ist, ihr Christentum überkommen.

Schon 945 begegnen Christen unter der normannischen Gefolgschaft Die Zeit König Igors und gab es eine Kathedralkirche des hl. Elias in Kiew. (989-1238). " Igors Witwe Olga war bereits Chri.stin, als sie 957 (?) Konstantinopel be- suchte. Doch erst ihr Enkel Wladimir wandte sich dem Christentum zu. Es geschah, als auch Polen und Ungarn christlich wurden und damit sich der Kultur erschlossen, und im Zusammenhang- mit der Eroberung- Cher- sons (Juli 989) und mit seiner Vermählung mit Anna, der Schwester der byzantinischen Kaiser, die seiner Hilfe bedurften. Sein Streben nach Aufrichtung eines wirklichen Staatswesens zeigen seine vStädtegründungen, seine Befestigung der Grenze, vielleicht auch sein Versuch, die Todes- strafe durch ein Wergeid zu ersetzen. An die Spitze der russischen Kirche trat seit 991 ein von Konstantinopel gesandter Metropolit seit etwa 1040 in Kiew so gut wie ausschließlich ein Grieche; doch ward 105 1 durch eine Synode ein geborener Russe Hilarion zum Metropoliten gewählt; seine berühmte Rede „Von der Gnade und dem Gesetz" ist das älteste russische Literaturdenkmal, von hohem Schwung, aber im Stil spät- griechischer Rhetorik. Nur noch einmal wiederholte sich die selbständige Weihe (und zwar mit dem Haupt des Petrusjüngers Clemens) eines Russen zum Metropoliten. Die Bemühungen des Fürsten Andrej Bogoljubskij, seine Residenz Wladimir zu einer neuen Metropole zu machen, scheiterten. Aber mochten griechische Metropoliten auch dem Leben des russischen Volkes fremder als einheimische gegenüberstehen, so blieben sie doch davor bewahrt, in die fast ununterbrochenen Kämpfe der Fürsten unter- einander hineingezogen zu werden. Sie bildeten ein dauerndes Element im Verhältnis zu den zufolge der eigentümlichen Erbfolgeordnung fast beständig wechselnden Herrschern. Aber nie haben sie versucht, poli-

lyö Nathanael Bonwetsch: Griechisch-orthodoxes Christentum und Kirche.

tischen Einfluß zu gewinnen. Die Bischöfe werden ohne kanonische Wahl von den Fürsten eingesetzt. Doch nimmt das Gericht über den Klerus die Kirche für sich in Anspruch. Die niedere Geistlichkeit, in der zumeist der Sohn vom Vater das Amt und die Anleitung dazu überkam, dürfte noch für lange die intellektuelle und sittliche Höhenlage des völlig ununterrichteten Volkes nur wenig überragt haben. Bei diesem aber war Heidnisches und Christliches unzertrennlich verbunden. Klöster gab es noch wenig; obenan stand das Höhlenkloster zu Kiew, dem geistiger Ein- fluß auf die Umgebung nicht fehlte, aber der doch beschränkt blieb. Nur die Religion, nicht die Kultur überkam Rußland von Byzanz. Wla- dimirs Sohn Jaroslaw ließ Söhne von Vornehmen und Geistlichen unter- richten, auch Bücher ins Russische übersetzen und abschreiben; ähnliche Bemühungen begegnen aber nur noch bei dessen Enkel Wladimir Mono- mach (f 1125). Ein Mönch des Höhlenklosters, der Hebräisch, Griechisch und Lateinisch versteht, erscheint im Paterikon vom Teufel bestrickt. Geschrieben wurden in dieser Zeit nur einige Legenden, Mönchsbiogra- phien, Predigten, Annalen, Schilderungen von Pilg-erreisen nach Jerusalem. Dazu kam die Polemik gegen die Lateiner als arge Häretiker. Doch be- stand noch nicht die spätere schroffe Scheidung vom Abendland. Die Hoffnungen Gregors VIL freilich, Kiew zu einem päpstlichen Lehen zu machen, waren eitel, und auch der Gegenpapst Clemens IIL bemühte sich umsonst, die kirchliche Trennung zu beseitigen. Seit der mon- Den Zusammenhang mit dem Abendland zerstörte die mongfolische

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zur AufrichtunK Invaslou. Zwar suchte Rom gerade sie zur Ausdehnung seiner Herrschaft

des Patriarchats *-" ■=>

(1238-1588). 2u benutzen. Aber gegenüber Innocenz IV. erklärte der Großfürst Alexander, der Besieger der Schweden an der Newa, bei der Schrift und den ökumenischen Konzilen bleiben zu wollen. Daniel von Halicz nahm zwar die Königskrone „von Gott, von der Kirche der hl. Apostel und vom Stuhl des hl. Petrus und von seinem Vater dem Papst Innocenz" (IV.) an, aber das Ausbleiben eines Kreuzheeres löste auch seine Beziehungen zu Rom. Desto stärker ward jetzt der Einfluß des Orients. Durch die Gunst der „goldenen Horde" genoß die Kirche für ihren gesamten Besitz Steuerfreiheit und hatte sie ihre eigene Gerichtsbarkeit; auf ihrer Schmä- hung oder Schädigung stand Todesstrafe. Jetzt erst gewinnt das reli- giöse Moment volle Bedeutung im Leben des russischen Volkes. Die Klöster mehren sich und wachsen; Einsiedeleien werden Zentren für die Christianisierung, so z. B. das Dreifaltigkeitskloster des hl. Sergius bei Moskau. Nie aber wird der Versuch gemacht, die kirchliche Autorität der staatlichen überzuordnen. \'iolmehr helfen die Metropoliten, jetzt zu- meist nationale Russen, an ihrem nunmehrigen wirklichen Sitz Moskau rechtlich war es seit 1354 Wladimir den dortigen Großfürsten, Män- nern von zäher Zielstrebigkeit und berechnender Unterwürfigkeit gegen die tatarischen LIerrscher, „das russische Land zusammenzubringen". Ver- hinderte schon der religiöse Gegensatz die Festigung der polnischen

V. Das griechisch-orthodoxe (hrislenUiiii in Rußhind (980 bis zur Ge<,'en\v;irt'). i y •?

Herrschaft in den ehemals russischen Gebieten Littauens und den An- schluß von Nows^orod und Pskow an dieses, die Metropoliten haben auch direkt Bann und Interdikt im Dienst der Großfürsten gebraucht, und Synoden in deren Interesse g-ehalten (so zu Moskau 1448). Als der Metro- polit Isidor, ein Grieche und eifriger Mitarbeiter an der Florentiner Union, zu Moskau des Papstes in der Liturgie gedachte (144 1), beseitigte ihn kurzer Hand der Großfürst Wassilij. Dessen Sohn Iwan III. wußte sich völlig als Herrn auch der Kirche, zumal seit seiner Vermählung mit der paläologischen Prinzessin Sophie. Die Einheit, zu der nun Nationalität und Christentum zusammengewachsen, fand jetzt im Volksbewußtsein ihren Ausdruck in der Überzeugung von der unbeschränkten Gewalt des „Zaren" seit Iwan IV. (1534 1584). Auflehnung gegen diesen ist Frevel am Glauben, und umgekehrt Abweichen von der Kirchenordnung Majestätsverbrechen. vSo wurde die auch die Kirche nicht verschonende Gewaltherrschaft eines Iwan IV. möglich, der entsetzliche Greuel mit einer zur Schau getragenen Frömmigkeit zu vereinigen wußte. Wirkliche Pflege erfuhr freilich das kirchliche Leben, während der Pope Silvester Iwans geistlicher Berater war. Das diesem Silvester zugeschriebene Werk Domostroj, „Ökonomie", ein Haus- und Kirchenbuch, das aber gerade in den Abschnitten über das religiöse Leben schon älter ist, gewährt einen reichen Einblick in den Stand der Religion und Sittlichkeit im damaligen Rußland. Das gleiche tun die Bestimmungen der unter dem Einfluß Silvesters 1547 1551 ge- haltenen Synoden (die „Hundertkapitelsynode" 1551 wurde vom Zaren selbst eröffnet), sie zeigen aber eine fast noch ungebrochene Herrschaft heidnischen Aberglaubens und heidnischer Sitten. Gemahnt wird u. a., die Wohnungen mit Weihwasser zu besprengen, sie mit Heiligenbildern zu schmücken und diese durch häufige und tiefe Verbeugungen zu ehren, das Kreuz richtig zu schlagen, nicht zu schmatzen beim Abendmahl; den Bart sich zu schneiden ist unvergebbare Sünde. Der Gegensatz zu äußer- licher Frömmigkeit trug dem Griechen Maximus unter Iwan III. langjäh- rige Klosterhaft ein, noch früher der vielleicht nur auf verinnerlichte Re- ligiosität dringenden „Judensekte" strenge Verfolgung. Von Iwan IV. in seiner letzten Zeit (um 1582) mit Rom angeknüpfte Verhandlungen waren nicht ernst gemeint. Um so mehr schien in der „Zeit der Wirren" der Erfolg Polens und damit des römischen Katholizismus gesichert. Hatte sich dieser doch soeben durch die Brester Union (1596) die ortho- doxe Kirche Littauens geeint. Aber in Rußland scheiterte sein Streben an dem Widerstand des Patriarchen und des Sergiewschen Klosters und der Abneigung des russischen Volks.

Noch unter dem letzten Zaren aus Ruriks Hause wurde der Mos- Die russische

Kirche unter

kauer Metropolit Hieb zum Patriarchen erhoben (158g). Er erfuhr da- Patriarchen durch, obwohl schon längst tatsächlich unabhängig, eine Steigerung seines Ansehens. Vier Metropoliten und sechs Erzbischöfe, doch nur mit Ehren- vorrang traten ihm zur Seite. Zur Würde kam die Macht, als der Vater

Die Kultur der Gegenwart. I. 4. 12

1^8 Nathanafx BonwetscH: Griechisch-orthodoxes Christentum und Kirche.

des jugendlichen Zaren Michael, Philaret, einst zwangsweise zum Mönche geschoren, Patriarch wurde (1619); er war der wirkliche Regent und hieß „Großer Herr" wie der Zar. Eine ähnliche Stellung errang vorübergehend sein dritter Nachfolger Nikon durch die Macht seiner Persönlichkeit. Patriarch durch die Gunst des Zaren, übernahm er doch die Würde nur gegen die Zusage der Selbständigkeit der Kirche, und er wußte diese zu behaupten. Es ist das einzige Mal in der Geschichte der russischen Kirche, daß die hierarchische Gewalt mit der zarischen rivalisierte. Zugleich sind die nur 6 Jahre des tatsächlichen Patriarchats Nikons bezeichnet durch seine Verbesserung der liturgischen Texte. Die Änderungen waren nicht tiefgreifende: einige Worte im Symbol, ein dreimaliges Halleluja bei der Messe statt des nur zweimaligen, die Wiedergabe des Namens Jesu mit Jisus statt Issus, eine andere Form des Kreuzschiagens und des Kreuzes. Trägt jedoch die Formel das Heil sakramental in sich, wie man überzeugt war, so ist ebenso die Fürsorge für ihre Korrektheit die höchste Pflicht, wie ihre unberechtigte Änderung der größte Frevel. Daher kann noch heute die liturgische Reform als die „Reformation" der russischen Kirche gefeiert werden, daher aber auch die tiefe Erregung, die das russische Volk durchzitterte, als es von den Änderungen erfuhr. Die Kette, die die Gnaden vom Himmel auf die Erde leitete, schien durch das Preisgeben der überkommenen Form zerrissen, das Christentum vernichtet; es galt daher den Kampf und eventuell das Martyrium für den „alten Glauben". Ohne Bischöfe und daher ohne die Möglichkeit, sich Priester zur Sakra- mentsverwaltung zu weihen, entschlossen sich die Konsequenten unter den „Altgläubigen", die „Popenlosen", nun auf alle Sakramente zu verzichten, die anderen behalfen sich mit orthodoxen Überläufern. Sie alle aber waren überzeugt, daß die Kirche seit der Synode von 1666/67, die zwar den schon 1658 in Ungnade gefallenen Nikon abgesetzt, aber die litur- gische Änderung bestätigt hatte, die des Antichristen sei. Seit Der Widerspruch der „Altgläubigen" empfing reiche Nahrung durch

i'ctcrs d. Gr. die Reformcu Peters. Rücksichtslos und durchgreifend hat er die russische und der Volk-ssitte, die als heilig galt, geändert; der Mehrheit seines Volkes erschien „heiligen Synod" es wlc Abfall voui Glaubcn. Die kirchliche Hierarchie freilich wagte keine ernstliche Widerrede. Eine solche auch für künftig unmöglich zu machen, ließ Peter erst den Patriarchenstuhl zwei Jahrzehnte unbesetzt, dann über- trug er (1721) die Leitung der Kirche einer beständigen Synode, dem „heiligen dirigierenden Synod", bei welchem dem Vertreter des Staates nicht dem Namen aber der Sache nach das entscheidende Wort zusteht. Der Gehilfe Peters bei der kirchlichen Reform, der Erzbischof von Pskow Theophan Prokopo witsch, im Abendland gebildet, wurde der Begründer der neuen russischen Theologie, die eine Einwirkung des Pro- testantismus nicht verkennen ließ. Eine Reaktion brachte seit der ersten Hälfte des i y. Jahrhunderts den katholischen Charakter orthodoxen Christen- tums mehr zur (ieltung, aber im Laufe der zweiten Hälfte ward man sich

V. Das (jriochisch-orthodoxc ('hrislcntum in Rußland (089 bis /.ur Gegenwart). 1 yn

des Zusammenhang-s mit der protestantischen Theologie, abgesehen von der Sakranientslehre, wieder stärker bewußt. Namentlich in historischen und exegetischen Arbeiten ist man gegenwärtig bemüht, nicht hinter der abendländischen Wissenschaft zurückzubleiben; es darf hier an Gelehrte wie den 1900 verstorbenen Professor der St. Petersburger Geistlichen Akademie W. Bolotow erinnert werden, bei dem freilich das Philologische überwog. Im Volk selbst lebt ein gewisser Gegensatz gegen Rom, nicht gegen die nationale Religion der Deutschen, den Protestantismus; doch wird dieser kirchlich wegen seines Verständnisses der Sakramente als Rationalismus beurteilt.

Das russische Volksleben trägt ausgesprochen religiöses, freilich viel- Die

. .... Volksreligion.

fach nicht christlich religiöses, Gepräge. Auch dem schembar religiös indifferenten Gebildeten ist die Orthodoxie ein Teil seines nationalen Be- wußtseins, wie bei dem Volk die russische Nationalität in dem orthodoxen Bekenntnis ihre Weihe als die wahrhaft christliche besitzt. Die Frömmig- keit äußert sich vornehmlich in der Beteiligung an dem vom Klerus mit großer Würde und Feierlichkeit vollzogenen Kultus. Ohne das Einzelne der Liturgie und seine mystische Bedeutung zu verstehen, empfindet das Volk die heilige Handlung und wird durch sie in andachtsvolle Stimmung versetzt, es fällt ein mit dem „Herr, erbarme dich!", bringt Wachskerzen dar, bekreuzigt sich, verneigt sich oder wnrft sich zu Boden. Den Bildern des Erlösers, der Gottesmutter und der Heiligen von Christus oftmals nur sehr undeutlich unterschieden erweist es durch Kuß und Nieder- fallen die größte Verehrung; kein Haus, fast kein Zimmer ohne Heiligen- bild, dem die erste Begrüßung gilt, da in ihm „Gott" gegenwärtig ist. Unter den Bildern ragen die „nicht mit Händen gemachten" oder vom Evangelisten Lucas gemalten hervor. Obenan stehen die der kasanschen, wladimirschen und iberischen Gottesmutter. Neben die Teilnahme am Kultus tritt als Erweis der Frömmigkeit das weit ausgedehnte und vom Volk zum Teil noch mit äußerster Enthaltsamkeit geübte Fasten und williges und unterschiedsloses Spenden von Almosen. Übung der Barm- herzigkeit, ohne nach der Würdigkeit des Empfängers zu fragen auch der Verbrecher heißt nur „der Unglückliche" , erscheint als die vorzüg- lichste Christentugend. Pilgerfahrten, während deren alle sonst erlaubten Dinge, selbst alle weltlichen Gedanken zu meiden sind, führen zu den heiligen Stätten Rußlands (z. B. Kiew, Sergiew, Solowetzk im Weißen Meer) oder auf den Athos und nach Jerusalem, wo der Himmel am nächsten. Der Mönch bewährt sich als „irdischer Engel" durch leibliche und seelische Kasteiung und gottesdienstliche Übungen; Arbeit der Hände und des Geistes, Werke der Barmherzigkeit sind nicht seine eigentliche Aufgabe. Für den theologisch Gebildeten freilich bedeutet der Eintritt ins Kloster meist nur die Vorbereitung für eine höhere kirchliche Stellung, da zu einer solchen nur Glieder der „schwarzen" Mönchsgeistlichkeit, nicht des „weißen" verehelichten aber nur in einmaliger Ehe, wer als Diakon

l8o Nathanaf.l Bonwetsch: Griechisch-orthodoxes Christentum und Kirche.

verwitwet ist, rückt nie zum Priester auf Weltklerus gelangen. Diesen letzteren bringt zumeist die Kargheit seiner Existenzmittel in eine unter- geordnete soziale Stellung und Wertung, die eigentümlich kontrastiert mit seiner religiösen Qualifikation als Mittler aller göttlichen Gnaden und mit der Ehrfurcht vor ihm in seiner Verwaltung der Mysterien und in seinen Segen spendenden, allem Übel wehrenden Weihen. Sektenwesen. Bei dem Zurücktreten der sittlichen Unterweisung hinter das rituelle

Handeln ist der sittliche Einfluß der Kirche auf das Leben des Volkes gering". Daher dessen Neig'ung, in der Sekte Befriedigung des religiösen Bedürfnisses zu suchen. Noch erhält sich vornehmlich im Bauern- und einfachen Bürgerstand das große Schisma des 17. Jahrhunderts, der „Raskol", mit seiner unbedingten Verehrung des Vergangenen und Nationalen. Er ver- fügt über Reichtümer, hat auch Schulen, aber keine Wissenschaft, Die „Priesterlichen", seit 1846 im Besitz einer Hierarchie, sind durch ein ver- schiedenes Verhältnis zum Staat und zur Staatskirche gespalten. Ungleich zahlreicher sind die Spaltungen unter den „Popenlosen", zumeist wegen der Frage, ob es noch eine christliche Ehe gibt, oder ob jetzt jede Ehe Unzucht ist. Bei manchen unter ihnen muß noch heute der Neophyt sechs Wochen lang sich täglich 2000 Mal verneigen, und viel ward über die Buchstaben gestritten, die über dem Kreuz zu stehen haben. Und doch hat die Ver- werfung jeder nicht schlechthin „korrekten" Form zu Berührungen mit den „geistigen Christen" geführt, die ohne jede Form Gott nur im Geist anbeten wollen, ohne Kirchen, Kapellen und Bilder. Zum Teil gehören diese „geistigen Christen" offiziell zur Staatskirche. So die im Verborge- nen weit verbreitete mystische Sekte der „Gottesmenschen", die überzeugt sind, fortdauernd Menschwerdungen Gottes in ihrer Mitte zu erleben und deren Frömmigkeit sich in ekstatischen Tänzen kund gibt. Mystiker sind auch die Duchoborzen, „Geisteskämpfer", die als eine Art Quäkertum mit radikaler Tendenz auf innere Offenbarung sich gründen, sie selbst ebenso Kinder Gottes wie Jesus. Dagegen bilden Schriftverlesung, Gebet und Psalmensingen den Gottesdienst der sittlich hochstehenden Molokanen. Dürften bei den Duchoborzen Zusammenhänge mit den Bogomilen vor- liegen, so bestehen bei den Molokanen in der Wertung" der Schrift Berührungen mit dem Protestantismus. Eine nachweisliche Abhängigkeit von diesem besteht beim „Stundismus". Aber auch dieser hat vielfach einen mystischen und antiritualistischen Charakter angenommen und ist schon in einigen Zweigen seiner Entwicklungsstufen vom Duchoborzentum kaum zu unterscheiden. Auch die Opposition gegen die Orthodoxie trägt die Züge orientalischen Christentums, bewährt aber wie dieses und in vorzüglicher Weise auch die Fähigkeit, um des Glaubens willen zu leiden.

Literatur.

Für das Verständnis griechisch-orthodoxen Christentums haben, nach dem \'organg von Hkineccius in älterer, von VV. Gass in neuerer Zeit, A. Harnack und F. Kaitenbusch den wertvollsten Beitrag geliefert. Sie haben gezeigt, wie der Grundgedanke griechischen Christentums der ist, daß wir durch die Einigung unserer Natur mit der göttlichen in der Menschwerdung (iottes zur vollen Gotteserkenntnis gelangt und zur Unvergänglichkeit er hoben sind. Die rechte Erkenntnis Gottes und des Geheimnisses der Erlösung wird so der gegenwärtige Besitz des Christen , während der eigentliche Heilsgenuß ein zukünftiger und nur anfangsweise in den Mysterien des Kultus und in dem überirdischen Leben des Mönches vorhanden ist. So erklärt sich ebenso das hohe dogmatische Interesse der griechischen Kirche, wie daß dies hernach von dem kultischen verschlungen wird.

Quellenkunde: B.\rdenhewer, Patrologie* (1901). A. Ehrhardt in Kru.mbacher, Gesch. der byzantinischen Literatur* (1897). Phil. Meyer, Die theol. Literatur der griechischen Kirche im 16. Jahrhundert (1899). E. Le Grand, Bibliographie Hellenique (3 Bände über das 16. Jahrh. [1885 ff.], 4 Bände über das 17. [1894 ff.]).

Konfessionskunde: J. M. Heineccius, Abbildung der alten und neuen griechischen Kirche, 3 Tle. (171 1). Gass, Symbolik der griech. Kirche (1872). Kattenbusch, Lehrbuch der vergleichenden Konfessionskunde I: Die orthodox-anatolische Kirche (1892) und ,, Orientalische Kirche" in der Realenzyklopädie für protest. Theol. und Kirche^ XIV, 436 ff. F. LOOFS, Symbolik oder christl. Konfessionskunde I (1902).

Für Rußland: Leroy-Beaulieu , Das Reich des Zaren und die Russen, 3 Bde. 'übers. 1884—90).

Dogmengeschichte: Thomasius-Bonwetsch* (1886), A. Harnack' (1894), F. Loofs* (1893), Seeberg I (1895).

Christliches Leben: G. Uhlhorn, Die christliche Liebestätigkeit in der alten Kirche (1882). MÖLLER -V. SCHUBERT, Kirchengeschichte I (1902). v. Zezschwitz, Geschichte d. Katechetik (1863). V. Schultze, Geschichte des Untergangs des griechisch-römischen Heidentums II (1892). E. Lucius, Die Anfänge des Heiligenkults in der christlichen Kirche (1904).

Mönchtum: O. ZöCKLER, Askese und Mönchtum (1897). A. Harnack, Das Mönch- tum, seine Ideale und seine Geschichte'' '1901}. Grützmacher, Pachomius und das älteste Klosterleben 'i896\ J. Leipoldt, Schenute von .\tripe und die Entstehung des national- ägyptischen Christentums (1903). H. Usener, Der hl. Theodosius, .Schriften des Theodoros und Kyrillos (1890). A. Ehrhardt, Das griechische Kloster MarSaba in Palästina, seine Geschichte und seine literarischen Denkmäler (Römische Quartalschrift 1893). R. R.\abe, Petrus der Iberer (1895).

Byzantinisches Christentum: i. Seit Justinian und im Zeitalter der Bilder- streitigkeiten. .•\. Ehrhardt und H. Gelzer bei K. Krumbacher a. a. O. G. F. Herz- berg, Gesch. Griechenlands (1876 ff.) u. Gesch. der Byzantiner und des osmanischen Reichs (1883). K. Schwartzlose , Der Bilderstreit (1890). W. Nissen, Die Regelung des Kloster- wesens im Rhomäerreich bis zum Ende des 9. Jahrhunderts (1897). 2. Seit Photius. Gregorovius, Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter 1889). \V. Norden, Das Papsttum und Byzanz (1903). K. HOLL, Enthusiasmus und Bußgewalt beim griechischen Mönchtum (1898 .

l82 Nathanael Bonwetsch: Griechisch-orthodoxes Christentum und Kirche.

Phil. Meyer, Die Haupturkunden für die Geschichte der Athosklöster (1894;. W. Gass, Beiträge zur kirchlichen Literatur- und Dogmengeschichte des griechichen Mittelalters (1844, 1847). Die Mystik des Nikolaus Kabasilas 1849. F. Kattenbusch in der oben genannten Realenzyklopädie' XIII, 612 ff. (Mystagogische Theologie). XV, 374 ff. (Photius^,. 3. Seit dem Fall Konstantinopels. Phil. Me\'ER in Zeitschr. f. Kirchengesch. 1890 und in der Realenzyklop. \' 588 ff., XI 682 ff., XIV 62 f. Gelzer, Geistliches und Weltliches aus dem türkischen Orient (1900) und: Vom heiligen Berge und aus Mazedonien (1904 . E. V. D. Goltz, Reisebilder aus dem griechisch -türkischen Orient (1902). Beth, Die orienta- lische Christenheit der Mittelmeerländer (1902). A. ScHMiDTKE, Das Klosterland des Athos (1903). DiONYSiOS KvRiAKOS, Geschichte der orientaHschen Kirchen von 1453 1898, deutsch von E. Rausch (1902).

Russische Kirche. Bearbeitungen ihrer Geschichte von Makarij- 12 Bände^ und GOLUBINSKIJ* (3 Bände i9oif.), keine vollständig, beide russisch. Th. Schiem.^NN, Geschichte Rußlands in Onckens Allgemeiner Geschichte in Einzeldarstellungen f 1886 f.) L. K. (^ETZ, Das Kiewer Höhlenklöster als Kulturzentrum des vormongolischen Rußlands (1904). A. BRÜCK- NER, Iwan Possoschkow (1878). W. Palmer, The patriarch (Nikon) and the Tsar (i87if.;. Wallace, Rußland (18781. GoGOL, Betrachtungen über die göttliche Liturgie, deutsch bei A. VON Maltzew, Liturgikon (1902). POBEDONOSZEW , Streitfragen der Gegenwart^ (1897). L. TOLSTOjs Volkserzählungen, auch einige Erzählungen DOSTOJEWSKIJS, eröffnen einen vor- züglichen Einblick in russisches Christentum, die Petscherskij -Meljnikows in das russischer Sekten; über diese vgl. auch Bonwetsch in der Realenzyklop.^ XVI s. v. Raskolniken.

Zu S. 163 ob. s. Gregorovius, Athenais* (1882).

Zu S. 164. Gregor v. Nyssa, Orat. de deitate fil. et sp. s.: ,, Alles in der Stadt ist voll von solchen, die über die unbegreiflichen Dinge dogmatisieren : die Straßen, die Märkte, die Kleidertrödler, die an den Wechseltischen Sitzenden, die mit Eßwaren Han- delnden. Wenn du einen fragst, wie viel Obolen es beträgt, dogmatisiert er dir etwas vor über (^ezeugtsein und Ungezeugtsein. Wenn du nach dem Preise des Brotes fragst, ant- wortet er dir: 'Der Vater ist größer als der Sohn und der Sohn ist dem ^'ater subordiniert'. Wenn du fragst: 'Ist das Bad schon fertig', antwortet er dir: 'Der Sohn Gottes ist aus nichts geschaffen'."

Zu S. 173 vgl. H OLL, Die kirchhche Bedeutung Konstantinopels im Mittelalter in Zeitschr. für Theologie und Kirche (1901).

CHRISTENTUM UND KIRCHE WESTEUROPAS IM MITTELALTER.

Von Karl Müller.

Einleitung, Wie in der Kultur des römischen Weltreichs die Kirche ein mächtiger Faktor geworden ist, haben die vorang-ehenden Abschnitte gezeigt. Die Kirche hatte die heidnische Kultur in sich aufgenommen und entwickelte sich so zu einem Gebilde, das weit über die bloße Orga- nisation religiöser Zwecke hinausreichte. Dadurch wurde sie das haupt- sächliche Band, das unsere Gegenwart mit der Antike verbindet, auf keinem Gebiete mehr als auf dem der religiösen Kultur. Nicht nur erscheint im modernen Katholizismus neben allen christlichen Gedanken auch die Fortsetzung der antiken Religion und des antiken Reichsgedankens, son- dern auch im Protestantismus leben noch trotz aller ungeheueren Wand- lungen die Probleme, die die lateinisch christliche Religiosität vom 2. Jahrhundert an beschäftigt haben, und die Elemente, mit denen man damals und vollends vom 4. Jahrhundert an versucht hat, sie zu lösen. Der nachfolgende Abschnitt soll zeigen, wie sich aus dem römischen Reich und seiner Kirche die römische Kirche gebildet und in welchem Zustand sie die Schwelle der neuen Zeit betreten hat.

I. Lösung der westlichen Kirche von der östlichen. Von der Kirche Westeuropas als einer in sich geschlossenen Größe neben der des Ostens hat man jahrhundertelang nicht sprechen können. Die katholische Kirche fühlte sich in der ganzen Welt als eine Einheit. Fast alle offiziellen Einrichtungen, vom Dogma bis zur Verfassung, entwickelten sich gemeinsam und in lebendigem Austausch. In besonderem Sinn aber bildete die Kirche des römischen Reichs eine Einheit. Ja die Kirche hat ihre äußere Einheit im strengen Sinn nur durch das Reich gewonnen und behauptet, und über dessen Grenzen hinaus sind immer nur dünne Ver- bindungsfäden gegangen.

Dennoch gewinnt jeder Teil sehr früh fast auf allen Gebieten, vor- züglich aber in der Religiosität und der Theologie, seine Eigenart. Sie weist

I Sa Karl Müller : Christentum und Kirche Westeuropas im Mittelalter.

schließlich immer wieder auf die Verschiedenheit der Rasse wie der all- gemeinen Kultur der herrschenden Nationen, Römer und Griechen, zurück. Aber auch die verschiedene politische Entwicklung der beiden Reichs- hälften kommt in Betracht, vor allem vom 5. Jahrhundert an, wo der Westen der germanischen Eroberung und Besiedelung aller seiner Pro- vinzen preisgegeben war und die Verbindung mit dem Osten immer dünner wurde. In dieser Zeit, da das Reich im Westen auseinander- brach, wurde die innere Einheit der westlichen Kirchen immer bedeut- samer. Während die Kirchen des Ostens erst vom 4. Jahrhundert an wesentlich durch das Reich ihren besonderen Zusammenhang bekamen und zunächst doch immer mehrere große Metropolen nebeneinander blieben, hatte sich im Abendland Rom von Anfang an zur einzigen maßgebenden Hauptkirche emporgearbeitet, so daß es dem vielfach zerrissenen Osten g-egenüber fast immer geschlossen dastand. Erst als nach den Eroberungen des Islam und der Lostrennung der monophysitischen und nestorianischen Kirchen Konstantinopel die einzige große Metropole der griechischen Reichskirche und ihrer slawischen Töchter wurde, hing nach alter kirch- licher Sitte die Gemeinschaft der beiden Kirchenhälften an den Bezie- hungen der beiden Vororte. Riß nunmehr der Faden zwischen ihnen ab, so brach die Kirchengemeinschaft zwischen Osten und Westen überhaupt entzwei. Und so geschah es, als nach manchen Vorspielen um die Mitte des 1 1 . Jahrhunderts die ganze Erbitterung der längst verfeindeten Kirchen- hälften in einer literarischen Fehde ausbrach, politische Gegensätze sich einmischten und Papst Leo IX. schließlich am 16. Juli 1054 den Bann über den Patriarchen von Konstantinopel verhängte. Zwar wurden die Beziehungen zeitenweise wieder hergestellt. Aber als das Abendland 1204 61 mit allen Mitteln der Gewalt Reich und Kirche von Byzanz der lateinischen Rasse und Papstkirche unterwarf, da erwuchs vollends jener unversöhnliche Haß der Griechen gegen die Lateiner, an dem später, be- sonders 1274 und 1439, alle Versuche scheiterten, beide Kirchen wieder zu vereinigen, d, h. die östliche dem Dogma und Papsttum des Westens friedlich zu unterwerfen.

Stand zur Zeit II. Ausbrcituiig dcr lateinischen Kirche. Als Konstantin 314 die

d. Gr. Regierung des Abendlandes übernahm, war das Christentum jedenfalls in Rom, dem südlichen Mittel- sowie in Unteritalien, an der vSüdküste Gal- liens, in Africa proconsularis und Numidien in erheblicher Stärke ver- breitet. In Pannonien und Dalmatien, den lateinischen Provinzen zwischen dem mittleren Lauf der Donau und dem Adriatischen Meer, im nördlichen Mittel- und im östlichen Oberitalien, in den westlichen Provinzen Xord- afrikas, Mauretanien und Tingitanien, war es wesentlich schwächer. Im westlichen Oberitalien, in den Alpenländern, im mittleren und nördlichen Gallien und den germanischen Grenzgebieten sowie in Britannien bestanden wohl nur Anfänge und waren ohne Zweifel weite Gebiete noch unberührt.

(3M— 337)-

II. Ausbreitung; der lateinischen Kirche. 18=;

Trotz der staatlichen Maßregeln, die schon unter Konstantin und Kntwi.kiunK

bis zum Ende

seinen Söhnen und dann wieder seit Gratian und Theodosius gegen die alte des römischen

c^ rr TT- RiMchcs.

Religion unternommen wurden (s. oben S. 15611), gmg das Heidentum nur langsam vollends unter. Nicht bloß in der neuplatonischen Mystik als idealisierte Religion der geistigen Aristokratie, sondern auch als ausgesprochene Anhänglichkeit an die alten Götter und ihre verpönten Kulte bestand es in den Städten Italiens, namentlich in Rom selbst, in denen der afrikanischen wie der nördlichen Provinzen bis ins 5. Jahr- hundert fort, auf dem platten Land noch länger, vielfach selbst in ge- schlossenen Massen. Die barbarische, nicht romanisierte Bevölkerung, die Berbern Nordafrikas wie die Iberer Spaniens, die Kelten Galliens und Britanniens sowie die Germanen blieben bis zum Untergang des Reichs von der neuen Religion der Hauptmasse nach unberührt. So lange ist das Christentum die Religion der Römer und Romanen und damit vor allem der Städte geblieben.

Unter den germanischen Völkern ist vom Christentum zunächst, etwa Ostgcrmancn

und Franken.

im Anfang des zweiten Drittels des 4. Jahrhunderts, die westliche Hälfte des ostgermanischen Gotenstamms erreicht worden, der von der unteren Donau an am West- und Nordrand des Schwarzen Meeres saß. Weil damals im Reiche die arianische und halbarianische Partei herrschte, der spätere Umschwung der kaiserlichen Kirchenpolitik aber die Goten nicht mehr be- rührte, so blieben Bekenntnis und Kirchenwesen der Goten „arianisch" und gingen in dieser Form auch auf die verwandten Stämme der Ostgoten, He- ruler, Vandalen sowie der Sueven über. Wie durch Rasse und bäuerliche Kultur, so hielten sich diese Stämme wesentlich auch durch ihre Religion in ihren neuen Sitzen, in Spanien, Gallien, Italien, den östlichen Alpen- und Donauprovinzen dem katholischen Romanentum der Städte gegenüber fremd und unvermischt. Als aber die salischen Franken, die vom Niederrhein her in das Herz Galliens eingedrungen waren, unter ihrem jungen König Chlodowech 496 in die katholische Kirche eintraten, da füllte sich in ihrem Bereich auch das platte Land mit katholischen Christen fremder Rasse, und schon die politische Gefahr einer Verbindung zwischen den romanischen und fränkischen Katholiken gegen die arianischen Herrscher zwang die Burgunder (516 ff.) und Westgoten (586 ff.) der katholischen Kirche beizutreten. Und mit der Vernichtung der Vandalen (534) und Ostgoten (552 f.), sowie der allmählichen Katholisierung der Langobarden verschwand der Arianismus vollends ganz und wurde der Katholizismus die einzige Form des Christentums im Westen. Mit der kirchlichen Scheidewand aber fiel auch die nationale. Mit Ausnahme der alten frän- kischen Kernlande im Nordosten Galliens wurden die Germanen Spaniens, Galliens, Italiens rasch romanisiert. Und da die Hauptmasse auch der spanischen Iberer und der gallischen Kelten, wohl meist unter den Schrecken der Völkerwanderung und unter der germanischen Herrschaft, christianisiert und romanisiert worden waren, so wurden vom Ende des

I 86 Kakl Müller : Christentum und Kirche Westeuropas im Mittelalter.

6. Jahrhunderts an im europäischen festländischen Gebiet des ehemaligen Westreichs Religion und Rasse im wesentlichen einheitlich. Nur bei den Basken des nördlichen Spaniens und südwestlichen Galliens, sowie bei den Kelten der gallischen Armorika (Bretagne) und der britischen Inseln blieb auch unter dem Christentum die alte Sprache und Nationalität erhalten. j>ie britischen Auf den britischcu Inseln war in der südlichen Hälfte Britan-

Inscln.

niens das Christentum in den römischen Städten begründet worden und dann auch in die kelto-romanische Bevölkerung eingedrungen. Als diese dann aber durch die Angelsachsen in die Gebirgslandschaften der west- lichen Halbinseln zurückgedrängt wurde , verlor sich die romanische Bei- mischung rasch und trat das keltische Element wieder rein hervor. In Irland aber, wo das Christentum zuerst, von Britannien aus, im Südosten Fuß gefaßt hatte, sowie in Schottland, wohin es durch irische Mönche gekommen war, hat die Verbindung von Christentum und unvermischtem Keltentum dem ganzen Kirchenwesen seine Eigentümlichkeit gegeben.

Die Angel- Aber daneben erhob sich im Bereich der ehemaligen römischen Pro-

sachsen und die ....

deutschen vinz Britannien das rein germanische Kirchen wesen der Angelsachsen,

Stämme. . . .. ö »

eine unmittelbare Schöpfung des Papstes Gregors d. Gr., der 596 den römischen Propst Augustinus dorthin zur Mission geschickt hatte. Und von hier aus hat dann Wynfrith-Bonifatius 718 755 im inneren Deutschland das Christentum der Bayern, Thüringen, Hessen und Ala- mannen, das durch altrömische, iro-schottische und fränkische Einwir- kungen entstanden, aber immer zersplittert und wenig entwickelt geblieben war, mit Hilfe der karolingischen Hausmeier nach angelsächsich-römischem Vorbild organisiert und so der lateinischen Kirche zur Herrschaft verholfen. Karl der Große endlich (768 814) hat bei den bisher unabhängigen vStämmcn der Friesen und Sachsen die Bekehrung erzwungen und damit auch den Rest der westgermanischen Stämme der Kirche zugeführt.

K.aris d. Gr. Karl hat aber auch die Politik begründet, die von den Nord- und Ost-

kirchliche ° '

Missionspolitik, greuzeu des fränkischen Reichs aus die Mission durch Kirchen und Klöster

in die Nachbarländer vorschob, im Südosten in die östlichen Alpenländer und das Gebiet der mittleren Donau, weiter nördlich in die Länder jenseits des Böhmerwaldes, der vSaale, Elbe, Eider und Ostsee. Die Art dieser Mi.ssion ist in der fränkischen wie nachher der sächsischen Zeit immer dieselbe geblieben. Wesentlich politisch gedacht soll sie die Grenzen sichern, die Nachbarländer der fränkischen oder deutschen Herrschaft er- schließen, Ansiedlern aus dem Reich den Boden bereiten und einen festen Rückhalt geben, die wilden Heiden zähmen und den christlichen Ansied- lern gefügig- machen und so überall mit dem Christentum zugleich die Reichskirche und das Reich selbst zur Herrschaft bringen. Ausbreitung im So wurden in den nächsten Jahrhunderten überall im Osten und

Norden und

Nordosten Nordeu jenseits des Reichs Christentum und Kirche begründet. In

Europas. . "~

vSt eiermark, Kärnten und Krain geschah es zumeist durch christ- liche Ansiedler aus Bayern, die die slawischen Einwohner in die Kirche

II. Ausbroilunj^' der latrinischen Kiicho. jg?

nachzogen. Im äußersten Südosten wurden die slawischen Kroaten, die schon im 7. Jahrhundert christianisiert waren, im 9. Jahrhundert unter fränkische Oberhoheit und damit in die Gemeinschaft der westlichen Kirche gebracht. Bei den Ungarn führte Herzog Geisa (972 997) das Christentum unter Leitung der bayrischen Kirche zum Sieg. Unter den Tschechen Böhmens und Mährens drang es seit dem g. Jahrhundert von Süddeutschland aus durch. In Polen führte Herzog Mieceslaw seit 966 das Christentum von oben herab durch. In den nördlichen Slawenländern aber begründete nach langen und schweren Mißerfolgen endlich die deutsche Eroberung und Besiedelung die Kirche: in Meißen und der Lausitz, in Brandenburg, Mecklenburg und Pommern seitdem 12. Jahrhundert, in Preußen, Livland, Kurland und Estland seit dem 13. Jahrhundert. Im nördlichen Litauen gab 1386 die Heirat König Jagiellos mit der Polenkönigin Hedwig den Ausschlag. In den skandinavischen Reichen entschied die Taufe der Könige Harald Blauzahns von Dänemark (965), Olaf Tryggvessons von Norwegen (995) und Olaf Schoßkönigs von Schweden (1008). Und endlich wurzelte im 14. Jahrhundert von Schweden aus auch in Finnland das Christentum fest. Zur selben Zeit ergriff mit der polnischen Besiedelung die lateinische Kirche auch von einem guten Teil Galiziens und Wolhyniens Besitz, die früher dem russischen Reich und darum der östlichen Kirche angehört hatten.

Inzwischen hatte aber die lateinische Kirche im Süden und Westen veriust und

.... _ . Gewinn im

mit dem Islam wie mit der griechischen Kirche schwere Kämpfe um ihre Westen, südm

,-.,.. . und Südosten

Existenz zu führen gehabt. Im nordwestlichen Afrika ist sie durch die Europas. arabische Eroberung fast völlig untergegangen. In Spanien dagegen hat sie sich auch unter muslimischer Herrschaft erhalten und in jahrhunderte- langen Kämpfen, zuletzt durch die Eroberung des Reichs von Granada {1492) ihre alten Grenzen am westlichen Rand des Mittelländischen Meeres und am Atlantischen Ozean wiedergewonnen.

Auch im Verhältnis zur östlichen Kirche standen endgültiger Verlust und Wiedereroberung nebeneinander. Die Balkanhalbinsel, die seit Ende des 4. Jahrhunderts kirchlich unter Rom gestanden hatte, und das südliche Italien, Sizilien, Kalabrien und Apulien, wurde im ersten Bilderstreit, als der scharfe Konflikt zwischen Kaiser und Papst ausbrach, 732 durch Kaiser Leo den Isaurier unter Konstantinopel gestellt, und nur Süditalien wurde dem Papst im 11. Jahrhundert durch die Normannen aus den Händen der Griechen und Araber zurückerobert.

Der große Gedanke Gregors VII. (1073 85), den ganzen byzantini- schen und muslimischen Osten der lateinischen Christenheit als der einzig legitimen Fortsetzung der alten Kirche zurückzuerobern, ist in den Kreuz- zügen nur in sehr bescheidenem Umfang und nur für kurze Zeit ver- wirklicht worden. In den lateinischen Fürstentümern, Herrschaften und Kolonien Syriens und Palästinas, Griechenlands und der Küsten des Schwarzen Meeres gehörten nur die geborenen Abendländer der lateinischen

l88 Karl Müller: Christentum und Kirche Westeuropas im Mittelalter.

Kirche an. Die einheimische Bevölkerung blieb abgesondert und feind- selig. Und im Lauf der Zeit, bis zum Ende des Mittelalters, sind alle diese Gebilde wieder verschwunden. Auch die Unionen mit den Kirchen Rußlands und des südlichen Litauens (1439 ff.) wie mit den kleineren Kirchen der Balkanhalbinsel und der innerasiatischen Länder hatten kein oder kein dauerndes Ergebnis. Und die Missionen, die von den Bettelorden seit dem 13. Jahrhundert in den Gebieten des Islam sowie nach Indien, China und der Tatarei, zum Teil mit erheblichem Erfolg, unternommen worden waren, sind noch vor dem Ende des Mittelalters fast spurlos untergegangen. grenze am Ende So blieb die Kirchc Wcstcuropas durch das ganze Mittelalter hin-

durch im wesentlichen auf die Hauptmasse Europas beschränkt. Ihre Grenze gegen die östliche Kirche lief vom Warangerfjord südlich zum Ladogasee und östlichen Ende des finnischen Busens, dann an der Xarwa aufwärts, ließ das Deutschordensgebiet, das nordwestliche Litauen, Wolhynien und Galizien westlich, zog sich dann um die Karpathen herum an der mittleren Donau hin, die Sau und Una hinauf den Dinarischen Alpen entlang und mündete in einem schmalen Küstenstreifen an der dalmatinischen Küste etwas nordwestlich von Scutari, so daß sie von Wolhynien ab im wesentlichen mit der gegenwärtigen Grenze der öster- reichisch-ungarischen Monarchie zusammenfiel. Es sind die Grenzen, die noch heute bestehen.

Entstehung HI. Die Einheit der lateinischen Kirche. Die Einheit der

der Provinzial-

verfassung. ganzen katholischen Kirche war schon vor Konstantin durch das Be- wußtsein der inneren und äußeren Zusammengehörigkeit und den aus- gedehnten Verkehr der Gemeinden untereinander begründet worden. Aber eine einheitliche, gleichmäßig über das Reich verbreitete Organisa- tion gab es am Anfang des 4. Jahrhunderts noch nicht. Einzelne geogra- phische Gruppen hatten sich gebildet, in denen alte gToße Kirchen eine besondere Autorität ausübten. Aber erst seit Konstantin dem Großen verfolgten die Kaiser wie die kirchlichen Instanzen selbst das Ziel, über die ganze Reichskirche ein Netz der Organisation zu breiten, in der die Freiheit und Selbständigkeit der einzelnen Gemeinden zugunsten der Allgemeinheit eingeschränkt, Rechte und Pflichten der einzelnen Stufen aber immer schärfer bestimmt und so eine feste Gliederung des Ganzen, ein verfassungsmäßiger Aufbau und Zusammenhalt der einzelnen Stufen erreicht werden sollte. Schon auf dem ersten Reichskonzil von Nicäa 325 wurde verfügt, daß künftig in jeder Provinz des Reiches die Bischöfe jährlich zu Synoden zusammentreten sollten, um die erledigten bischöflichen Kirchen zu besetzen und über die kirchlichen Strafsachen zu richten. Obwohl diese Synoden in Wirklichkeit nicht so regelmäßig zustande kamen, wie in Aussicht genommen war, so blieb doch von da an die Organisation kirchlicher Provinzen im Anschluß an das Reich Tat-

HI. Die EinhiMt der lateinischen Kirche. 1 J^(\

Sache: die erste von der Kirche selbst eingerichtete Stufe der Gesanit- verfassung war erreicht. Der Bischof der Provinzialhauptstadt, der zu- nächst nur bei der Bischofswahl ein Vorzugsrecht vor den anderen Bi- schöfen erhalten hatte, trat bald als Metropolit an die Spitze der Pro- vinzialkirche.

Aber diese Organisation der Provinzen ist zunächst nur im Osten all- gemein durchgedrungen. Im Westen hatten bisher nur in Afrika Vor- stufen dafür bestanden; im Norden des Mittelländischen Meeres breitete sie sich erst seit Ende des 4. Jahrhunderts aus, und die Zeit bis zum Untergang des Reichs hat nicht ausgereicht, um sie in allen Provinzen durchzuführen. In Italien war die alte Obergewalt des römischen Bischofs schon zu fest; nur im Norden konnten sich am Ende des 4. und Anfang des 5. Jahrhunderts die Metropolen Mailand, Ravenna und Aquileja bilden. In anderen Provinzen standen ältere Vorrechte oder neuere ehrgeizige Be- strebungen auswärtiger benachbarter Kirchen sowie die mangelhafte kirch- liche Entwicklung einer Anzahl von Provinzen im Weg. Indessen war damit doch erreicht, daß die Provinzialverfassung auch im Westen als ein festes Stück kirchlicher Ordnung in die romanisch-germanische Zeit hinüberging.

Daß am Anfang des 4. Jahrhunderts der Bischof der Herr seiner Ge- Diü/esan-

Verfassung.

meinde und ihres Klerus war, ist schon erwähnt (s. oben S. 148). Die Diözesanverfassung aber, d. h. die Herrschaft des Bischofs über die Kle- riker des gesamten politischen Landkreises (dioeccsis) der Stadt, wie sie sich im Osten seit dem 4. Jahrhundert entwickelte, i.st im Westen zunächst einfach darum nicht durchgedrungen, weil die Landkreise zu wenig christia- nisiert waren. Erst später, im Norden insbesondere mit dem Eintritt der Germanen, wurde der Stadtkreis oder der germanische und keltische Gau auch kirchlich zu einer Einheit unter dem Bischof, und in den neu ge- wonnenen Ländern wurde dann überall sofort die Diözese die Grundlage der kirchlichen Organisation. Sie ist es in der katholischen Kirche bis heute geblieben, und auch in der großen Ungleichheit der Diözesen wirken die alten Verhältnisse nach. Daß die Bistümer Italiens und z. B. des südlichen Frankreichs im Verhältnis namentlich zu denen Deutschlands und der östlichen Länder klein und dicht gesät sind, hat seinen Grund darin, daß in den Bistümern Italiens noch heute die alten Stadtgebiete des römischen Reichs erhalten sind, während in dem dünn bevölkerten und noch nicht einmal ganz christianisierten Deutschland nur wenig Bi- schöfe nötig waren.

Noch an einem zweiten Punkt war die innere Verbindung mit dem staatliche

Untcrdrückunji

Reich von höchster Bedeutung für die Entwicklung der kirchlichen Ein- der kirchlichen

. Spaltungen.

heit Vor Konstantin hatte die Kirche nur moralische Mittel gehabt, um ihre Einheit gegen Ketzerei und Schisma zu behaupten. Sie aber ver- sagten, sobald unter den verwickeiteren Verhältnissen der neuen Zeit durch die großen dogmatischen und disziplinaren Gegensätze die Leiden- schaften erregt wurden. Jetzt drohte die Kirche wirklich in eine immer

igO Karl Müller: Christentum und Kirche Westeuropas im Mittelalter.

größere Anzahl von Gruppen auseinanderzubrechen, die in Fehde und Haß einander gegenüberstanden. Da hat nun eben das Reich die Ein- heit erzwungen. Es hat zwar zunächst unter Konstantin und seinen Söhnen die Verwirrung nur gemehrt, aber schUeßUch, vor allem seit Theodosius dem Großen (379/395), doch die Alleinherrschaft der Rich- tung, die von ihm allein als orthodox anerkannt wurde, durchgesetzt und den anderen mit allen Mitteln das Leben erschwert oder ausgeblasen und neue Abweichungen im Keime unterdrückt. Die Kirche wurde dadurch selbst ein Teil des Staates, ihr Dogma Staatsordnung, ihre Kanones ein Teil des öffentlichen Rechts, die Kaiser ihre obersten Richter und Gesetzgeber. Die Kirche und Zugleich aber wurde durch das Reich die Stellung- der Kirche und

die Gesellschaft ° , °

des Reichs, des Klcrus in der bürgerlichen Gesellschaft immer fester. Der Bischof wurde der Anwalt der christlichen Bevölkerung- dem Despotismus der Bureaukratie gegenüber. Er wurde durch das rasche Anwachsen des kirchlichen Vermögens in den Stand gesetzt, die Nöte zu lindem, die mit jedem Geschlechte höher stiegen und vom Staate nicht mehr gehoben werden konnten. Er erhielt schon von Konstantin ein privilegiertes Schiedsgericht, vor dem die korrupten staatlichen Gerichte bald in den Hintergrund traten und durch das die Hierarchie in immer engere Be- rührung mit dem Volksleben kam. Die Kirche bekam auch im Westen immer mehr die Bedeutung einer zweiten Organisation der römischen Ge- sellschaft. Und als das Reich zusammenbrach, trat sie an seine Stelle, wurden die Bischöfe von selbst auch die politischen Häupter und Ver- treter des Römertums, die die Abwehr der Barbaren und die Gemein- schaft der Hilfe gegen sie organisierten. Die römisch.-n An dic Spitzc dicser Hierarchie aber, als ihr Einheitspunkt, trat

Bischöfe vom

Kndedes^.jahr- fiun mehr Und mehr der römische Bischof. Daß ihm die erste

hunderts an.

Stellung in der Kirche und eine einzigartige Autorität zukomme, stand im Westen längst fest. Aber am Ende des 4. Jahrhunderts nahm die Politik der römischen Bischöfe, die diese Autorität in eine rechtlich be- gründete Herrschaft umzusetzen suchte, einen ganz neuen Aufschwung, und zumal bei den entlegeneren, von den Barbaren bedrängten, isolierten und anschlußbedürftigen Kirchen des Westens gelang es ihnen mehr und mehr, sich zu einer höchsten und letzten kirchlichen Instanz über den Bischöfen und Metropoliten zu erheben und die oberste Gesetzgebungs-, Aufsichts- und Gerichtsg-ewalt zu erlangen. Leo der Große (440 461) hat schließlich in allen Provinzen Gehorsam gefunden. Die alten Überliefe- rungen und neuen Satzungen Roms drangen in den Provinzen durch und halfen das kirchliche Recht, die kirchliche Sitte uniformieren. Die arianisch-germanischen Herrscher hinderten den römischen Einfluß in den katholischen Kirchen ihrer Reiche kaum. Niemals vorher war die abend- ländische Kirche so gleichförmig, so einheitlich gewesen wie jetzt, da sie als Erbin des Reichs, seiner Org-anisation und Kultur zugleich an

III. Die Einheit der lateinischen Kirche. j ( > I

seine Stelle trat und mit der lateinischen Bevölkerung- des Westens zu- sammenfiel.

Damals wurden in cfewissem Sinn, nur freilich aus ihrer reliifiösen Aunustins

* ' ^ De civitatc U.-i.

Idealität herabgezogen und veräußerlicht, zum erstenmal die Gedanken verwirklicht, die nicht lange vorher der größte Lehrer des kirchlichen Abendlandes, August in, in seinem Buch „Von der Gottesstadt" (De civitate Dei, zwischen 413 und 426) ausgeführt hatte: Die Kirche als die große Gemeinschaft himmlischen Ursprungs, aber weitester irdischer Geschichte, das Band der Zeit und Ewigkeit, die Einheit, zu der alle Menschen und Völker berufen sind, der himmlische Raum auf Erden, in dem die ein- zelnen wie die Völker gesammelt und geborgen werden, die Stätte, da die göttlichen Gnaden gespendet werden, und das Ziel, dem alle geschicht- liche Arbeit der Einzelnen wie der natürlichen Gemeinschaften gelten soll. Wie jener Zustand noch heute in der wStimmung der katholischen Welt nachwirkt, so sind auch diese Gedanken Augustins durch alle Jahr- hunderte hindurch der Leitstern der katholisch-kirchlichen Arbeit und Politik geblieben.

Mit dem Eintritt der Germanen und weiterhin der Slawen und Ungarn Erschütterung

. .. und Erneuerung

in die Kirche wurde die natürliche Grundlage dieser Emheit zerstört. Das der kirchlichen

. II' Einheit vom

Reich sowie die Gleichartigkeit und Geschlossenheit der herrschenden latei- 6. Jahrhundert

an.

nischen Gesellschaft und ihrer Kultur hörten auf. An ihre Stelle trat ein unübersehbarer Gegensatz der Kulturen, Anschauungen und Bestrebungen, dazu Bündel von politischen Gemeinwesen, die, verschieden an äußerer Bedeutung und innerem Zusammenhang, sich lange Zeit in immer neuen Gruppen verbanden und trennten. Die Lage der abendländischen Kirche glich jetzt derjenigen, die sich in der östlichen entwickelt hatte, seitdem die herrschende griechische Rasse die Führung in ihr verlor und die barbarischen Nationalitäten sich zu eigener Selbständigkeit und besonderer Bedeutung emporschwangen. Aber die nachfolgende Entwicklung der beiden Hälften der ehemaligen Reichskirche zeigt auch sofort, wie viel stärker als im Osten der Trieb und die Kräfte der Einheit im Westen waren. Im Westen hat die Kirche in jahrhundertelangem Kampf nicht geruht, bis sie trotz der neuen Grenzen, Unterschiede und Gegensätze auf dem Gebiet der Rasse und Nationalität, der Politik und Kultur wieder ein solches Maß von kirchlicher Gleichförmigkeit und Einheit erreicht hatte, daß nicht nur das Gefühl der Zusammengehörigkeit, sondern auch die wirkliche Einheit des Regiments und aller wesentlichen kirchlichen In- stitutionen darüber stand und die Kirche wieder ein einheitlicher Kör- per war.

Es war in dieser Beziehung von besonderer Bedeutung, daß die ersten Erhaltung der

Kontinuität.

germanischen Völker vom Ende des 5. Jahrhunderts an nicht nur das katho- lische Christentum angenommen hatten, sondern eben in die fertigen rö- mischen Provinzialkirchen eingetreten waren, in deren Mitte sie wohnten.

ig2 Karl Müller: Christentum und Kirche Westeuropas im Mittelalter.

Die Kirche brauchte eben darum keine neue Organisation zu schaffen; sie durfte nur die Maschen des vorhandenen Netzes enger machen. Die Germanen wohnten, abgesehen von den Stammsitzen der Franken, nicht als geschlossene Volksmasse, sondern zerstreut über weite Flächen des alten Reichs, der alten Kirche. Die kirchlichen Mittelpunkte blieben die alten römischen Städte mit ihren Bischöfen, den Erben der römischen Beamtenschaft und der ganzen römischen Kultur. Die Priester, die künftig die Germanen auf dem Lande zu bedienen hatten, stammten zunächst alle aus der lateinischen Kultur und verrichteten ihren sakralen Dienst nach wie vor in lateinischer Sprache. Wie dann allmählich germanischer Nach- wuchs in die Reihen des Klerus und Mönchtums trat, da wurde der Ger- mane für den kirchlichen und klösterlichen Dienst, soweit es nötig war, in die lateinische Sprache eingeführt und gebrauchte wie seine Vorgänger die lateinischen Formularien: die neuen Genossen fügten sich in die Ord- nungen des alten Hauses. Und so geschah es auch auf allen anderen Gebieten. Die Kontinuität riß nicht ab; die katholische Kirche ist bis heutigen Tages die lateinische geblieben.

Denn so ging es auch bei allen anderen neu gewonnenen Völkern. Überall kamen zuerst Bischöfe, Priester und Mönche der lateinischen Kultur hin und führten den einheimischen Nachwuchs wiederum in sie ein. So war es, als von Rom aus die Kirche der Angelsachsen, von Angel- sachsen aus die der deutschen Stämme, von Deutschland aus die der nördlichen und östlichen Nachbarn begründet wurde. Überwindung Gauz sclbstvcrständlich ist freilich diese Entwicklung durchaus nicht

der fremdartigen

Ansätze: gewcscn; vielmehr sind überall die persönlichen Kräfte zu spüren, die die

Ansätze zu ganz anderen Entwicklungen überwinden mußten, auf den Zunächst auf den britischen Inseln. Sie waren seit dem Ai\fang

britischen Inseln, ^

des 5. Jahrhunderts vom Festland und seiner lateinischen Kirche fast ganz abgeschlossen gewesen und deshalb von der Uniformierung, die eben da- mals von Rom aus begann, nicht mehr erreicht worden. Und doch ist auch hier unter der Herrschaft des Keltentums die lateinische Kultur nicht ganz untergegangen, sondern in wenigen Generationen wieder zu einer eigentümlichen Blüte g'ekommen. Und vom 7. Jahrhundert an drangen auch hier die sonst allgemeinen Formen ein und wurde der Zusammen- hang mit der abendländischen Kirche wieder mehr und mehr hergestellt, so daß schließlich im 11. Jahrhundert auch die wallisische, irische und schottische Kirche wieder lebendige Glieder der großen katholischen Kirche waren, in Deutschhind, Im inneren Deutschland sodann fehlte den Anfängen des Christen-

tums sowohl der organisierte Zusammenhang und die besondere Stellung des Klerus, als auch das eigentümliche kirchliche Recht der lateinischen Vergangenheit. Durch seine Formlosigkeit und den Mangel an Rückhalt hiitte es stets in Gefahr gestanden, sich in der alten Volksreligion wieder zu verlieren. Da trat dann die Tätigkeit des Angelsachsen \\'ynfrith-

III. Die Einheil der laloinischen Kirche. ig^

Bonifatius dazwischen (718 755), durch die nicht bloß die Einrichtung-en der alten lateinischen Kirche nach Deutschland übertragen wurden, son- dern auch der Weg frei wurde, auf dem ganz Mitteleuropa wieder zu einer kirchlichen Einheit zusammengeschlossen werden konnte.

Als Sohn der angelsächsischen, mit Rom eng verbundenen, nach den Vorbildern der römischen Zeit organisierten Kirche, ebenso wie als Diener und Bevollmächtigter der Päpste Gregor II. und III., durch den Gehorsamseid der römischen Provinzialbischöfe ihnen verpflichtet, führte er in den Stammeskirchen der Bayern, Hessen und Thüringer überall die römischen Ordnungen ein und brachte sie in Verbindung mit Rom. Sein Werk ist dann zuerst von den fränkischen Hausmeiern Karl- mann und Pipin, von Pipin auch als König {751 768), für das ganze fränkische Reich übernommen und fortgesetzt worden, und Karl der Große (768 814) hat seine ganze Kraft als Gesetzgeber und Regent daran gesetzt, die Formen und Institutionen des altlateinischen Kirchen- wesens überall in seinen Reichen wiederherzustellen, zu befestigen oder neu einzuführen. Durch ihn sind sie also in ganz Zentraleuropa wieder zu festem sicherem Dasein erhoben worden und von hier aus haben sie sich weiter nach Norden und Osten ausgebreitet.

Nur im skandinavischen Norden, in Schweden und besonders in im skandina-

. t ' 1 -1 1 vischen Norden.

Norwegen, wiederholte sich die Gefahr einer Sonderentwicklung unter ähnlichen Verhältnissen wie in den keltischen Kirchen. Aber auch hier ist sie im 13. Jahrhundert durch das Papsttum und seine Werkzeuge im nationalen Klerus überwunden worden. Damit ist dann auch der letzte Rest einer kirchlichen Entwicklung verschwunden, die in den Grundformen von der alten Reichskirche abwich.

Aber das gilt auch nur von den Grundformen. Denn daneben blieb noch Raum genug für Eigentümlichkeiten und insbesondere für eine nationale Abgeschlossenheit der Reich.s- und Nationalkirchen.

Solange die germanischen Könige Arianer gewesen waren, hatten sie Nationai-

t'iij* kirchentum do3

die katholischen Kirchen im ganzen ihre \\ ege gehen lassen. Sobald sie e.-s. jahr-

,. Hunderts.

aber deren Mitglieder geworden waren, verlangten und gewannen sie Ein- fluß auf sie, ernannten oder bestimmten die Bischöfe, beriefen Synoden, machten die Geltung ihrer Beschlüsse vom königlichen Willen abhängig und ließen dem römischen Bischof so gut wie keinen Einfluß auf ihre Kirchen. Außerdem aber traten Königtum, und Episkopat in die engste Verbindung. Wie der Bischof den königlichen Schutz nicht entbehren konnte, so bedurfte die Krone der mächtigen Kirchenfürsten. Als Vertreter des großen, rasch anschwellenden kirchlichen Grundbesitzes, als Häupter der städtischen romanischen Bevölkerung, als Inhaber der ganzen Macht, die die alte Kirche darstellte, wurden sie Mitglieder des königlichen Rats und gewannen jene Immunitäten, die ihnen eine Stellung zwischen dem König und den Hintersassen ihres kirchlichen Grundbesitzes verschaffte, durch die die großen Kirchen später Elemente der feudalen Verfassung und

DiK Kl'ltlr der Gegenw.xrt. I. 4. 13

IQA Karl Müller: Christentum und Kirche Westeuropas im Mittelalter.

in Deutschland schließlich Landesherren wurden. Von Anfang an sind sie damit tief in die politischen Geschicke des Landes hineingezogen worden. Im fränkischen, westgotischen und angelsächsischen Reich haben sich so Nationalkirchen gebildet, die in Sitte und Rechtsleben eine eigentümliche Art entwickeln und besondere Ziele verfolgen. Neuer Trotzdcm bahnt sich eine neue kirchliche Einheit an, in der die natio-

kirchlicher

Universaiismus nalc Absondcrung" ihre Schärfe verliert und ein neuer Universalismus

seit Karl d. Gr. . t-> n iit

sich vorbereitet. Dieser Prozeß hat eine doppelte Wurzel: die eine in der päpstlichen Politik, die im 8. Jahrhundert ihre alten Ziele mit neuer Kraft wieder aufnimmt; die andere im fränkischen Reich, das sich unter Pipin und vor allem unter Karl dem Großen zu einem Universalreich ent- wickelt und damit wieder der universalen Kirche und des Papsttums bedarf. Die Beziehung der germanischen Kirchen des Festlandes zu Rom war immer wenigstens soweit geblieben, daß der römische Bischof als der erste Bischof der Christenheit, als der Stellvertreter des Apostelfürsten g-alt. Dann aber war beim Übergang der fränkischen Krone von den Merowingern auf die Karolinger jener Bund zwischen fränkischem König- tum und römischem Papsttum geschlossen worden, der der deutschen Ge- schichte und Kirchengeschichte die Richtung geben sollte. Während Papst Zacharias die Thronrevolution 751 gut hieß und Stefan IL 754 die neue Dynastie salbte, übernahm König Pipin die Verpflichtung, den ita- lischen Domanialbesitz der römischen Kirche den Langobarden wieder abzunehmen und aus den Resten der byzantinischen Provinzen in Mittel- italien dem Papsttum ein eigenes Fürstentum zu gründen. Die fernere Frucht dieser Verbindung war dann, daß Karl der Große 774 mit der langobardischen Krone die Herrschaft über Mittel- und Oberitalien, mit der römischen Kaiserkrone (Weihnachten 800) auch die über Rom an sein Haus brachte. Von nun an konnte die karolingische Kirche ihrer Aus- dehnung nach in der Tat als die Fortsetzung der alten lateinischen Reichs- kirche erscheinen. Der Papst gewann in ihr wieder eine wirkliche all- gemeine Bedeutung. Freilich nicht die, die er selbst gehofft hatte. Denn er blieb von aller politischen Gewalt wie von allen kirchlichen Herrschafts- rechten ausgeschlossen, einfach der Untertan des Kaisers. Er hatte nur die oberste Aufsicht über den Glauben und die kirchliche Ordnung. Der Kaiser regierte seine Kirchen im Notfall auch ohne und gegen den Willen des römischen Bischofs. Aber gerade sein festes Regiment und die groß- artige Sorge für die Kirchen seiner Reiche hat die Einheit der mittelalter- lichen Christenheit und Kirche erst wirklich neu begründet und in dem Bund von Kaiser und Papst greifbar vor Augen gestellt. ,^'^"?''.^"'^-'''l Freilich, mit dem Tod des Kaisers begann alsbald die neue Zer-

Qcr r-iiincit nach ' ö

Karl d. Gr. setzuug. Mit dem karolingischen Reich zerfielen auch die universale ZerspTitTerung Kirchc uiid das Papsttum unaufhaltsam. Wieder erhoben sich überall i'.o-i"iindungder National- und Territorialkirchen, die ihre eigenen Wege gingen. ii.j'ährh'unXrt. Abcr daruiii war der reiche Ertrag der Zeit Karls des Großen doch

IV. Die Entstehun" der mittelalterlichen Theokratie.

1^5

auch hier nicht verloren. Die Gleichförmigkeit der kirchlichen Institutio- nen war durch sie stark gewachsen. Es war nicht nur so, daß die alten lateinischen Formen in der fränkischen Kirche wieder eingedrungen wären; auch eine Anzahl fränkischer oder vorher angelsächsischer Be- sonderheiten breiteten sich vom Norden her über die ganze Kirche aus: die neuen Züge der Bußinstitution, der heute gebräuchliche Text des apostolischen Symbols, das System der Eigenkirchen, die politische Stellung der Bischöfe und Reichsäbte u. a. Dazu war das Bewußtsein von der Einheit der Kirche und Christenheit in neuer Kraft erwacht und das Ge- fühl der höchsten Verpflichtung gegen die ganze, vor allem aber gegen die römische Kirche dem Kaisertum so fest eingeprägt, daß es sich nach dem traurigen \'erfall der späten Karolingerzeit sofort von neuem mächtig regte, als das Kaisertum selbst unter Otto dem Großen wieder mit einem starken Königtum verbunden wurde. Als Rom am Ende des g, Jahrhunderts fast zu einer kleinen Provinzialkirche herabgesunken und moralisch gänzlich verkommen war, da haben immer wieder die deutschen Herrscher versucht, das Papsttum seiner Bestimmung wiederzugeben, und schließlich war es Heinrich III. (s. S. 198), der die Wendung erzwang, durch die das Papsttum zu seiner neuen universalen Stellung empor- geführt und in den welterschütternden Kämpfen zwischen Kirche und .Staat die eigentliche Papstkirche begründet wurde.

IV. Die Entstehung der mittelalterlichen Theokratie, Die Kontinuität der geschichtlichen Entwicklung war also mit dem Eintritt der Germanen nirgends abgerissen. Aber doch war mit ihnen in die Kirche vieles eingedrungen, was als eine starke Umwälzung der alten Zustände erscheinen mußte. Nirgends war das mehr der Fall, als in der Stellung der einzelnen Kirchen und ihres Vermögens.

In römischer Zeit hatte der Bischof als einziger Vertreter des wahren Das Eigen-

. . r r~ r kirchenwesen.

Eigentümers, Gottes oder emes Heiligen, frei über die Einkünfte seiner Kirchen verfügt, sie mit Klerikern versehen und denen eine Entschädi- gung" angewiesen, so hoch sie ihm gut dünkte. Im fränkischen Reich aber und von ihm aus im ganzen Abendlande verbreitete sich seit der Mitte des 7. Jahrhunderts der Zustand, der aus dem germanischen Immobilienrecht entsprang, daß die Grundherren, also außer den Bischöfen auch Könige, Adel und Klöster, an den Heiligtümern und Klöstern, die sie auf ihrem Grundbesitz errichteten, jene Rechte der Bischöfe verdrängten und für sich selbst die ausgiebigsten Nutzungen und zugleich das Recht erwarben, als Kleriker oder Abt anzustellen, wen sie wollten. Seit Karl dem Großen und seinen Nachfolgern waren alle alten und neuen Kirchen und Klöster, auch die Bischofskirchen diesem Schicksal verfallen.

Die Folgen dieses Systems, das man neuerdings als das „Eigenkirchen- wesen" bezeichnet hat, griffen tief in die allgemeinen Verhältnisse der Kirchen ein. Eine Menge Kirchen und Klöster verdankten ihm ihre

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iq5 Karl Müller: Christentum und Kirche Westeuropas im Mittelalter.

Stiftung. Ihr Ausstattungsgut ging ja so der Familie des Stifters nicht verloren: es mehrte sich noch, wenn der vStiftung von anderer Seite Schen- kungen gemacht wurden, und trug noch weitere Zinsen durch die Obla- tionen, die die Gläubigen den Kirchen darbrachten. Auf der anderen Seite aber verminderte sich die bisherige Abhängigkeit aller Kleriker und kirchlichen Institute vom Bischof stark und wuchs im selben Maß ihre Ab- hängigkeit von den Grundherren. Die Fürsten als Eigentümer der größten Kirchen und Abteien gewannen einen Einfluß auf Auswahl und Leitung des hohen geistlichen Personals, wie nie zuvor: die Kirchen wurden da- durch mit dem ganzen politischen Leben der Reiche noch enger ver- flochten und ihr nationaler Charakter gefestigt. Wie dann durch den Zerfall der karolingischen Monarchie ein Teil der großen Kirchen und Klöster namentlich in Südfrankreich und Italien aus den Händen der Krone in die der aufsteigenden Zwischengewalten fielen, da wurden sie von ihnen viel rücksichtsloser als von den Königen behandelt und, ebenso wie die kleineren Kirchen und Klöster von ihren Herren, wie irgend welche Gutsverbände vergeben, ausgebeutet, verkauft und ihrer ursprüng- lichen Bestimmung entfremdet. Dadurch wie durch die gleichzeitigen Raubzüge der Araber, Normannen und Ungarn war am Ende des q. Jahr- hunderts das Klosterleben in ganzen Ländern so gut wie erloschen, das kirchliche Leben entsetzlich verwildert. Die deutsche Wie sich aus den Trümmern des karolingischen Reichs zuerst in Deutsch-

seit Otto d. Gr. laud uutcr Otto dem Großen (936 973) wieder eine gefestigte Monarchie erhoben hat, so auch die erste geordnete und geschlossene Xationalkirche. Beides stand im Zusammenhang. Otto hat jenen Bund zwischen Krone und deutscher Kirche geschlossen, der beiden ihre feste Stellung und innere Kraft für Jahrhunderte gab. Der König bekam in den kirchlichen Fürsten- tümern das stärkste Gegengewicht gegen die Stammes-Herzogtümer. Er blieb Eigentümer der Kirchen, behielt den entscheidenden Einfluß auf die Wahl ihrer Bischöfe und Äbte, investierte die Gewählten aus eigener Vollmacht mit dem Recht der Nutzung an den Kirchen und ihren Ein- künften und bezog für das Reich umfassende militärische und finanzielle Leistungen aus dem Kirchengut. Die Kirchen aber genossen dafür den sichersten Schutz gegen die Raublust des Adels, und im Verhältnis zum Reiche waren ihre Leistungen der Willkür entzogen, unter der die Kirchen Frankreichs und Italiens schwer litten. Sie wurden außerdem mit immer größeren Massen von Reichsgut und königlichen Herrschaftsrechten (Re- galien) ausgestattet. Die Reichsgüter wurden ihr Eigentum, blieben aber dem Dienst und Nutzen des Reichs erhalten, und durch die Verwaltung der Regalien wurden die Bischöfe erst recht zu königlichen Beamten.

Ähnlich wurden die Verhältnisse in England unter Wilhelm dem Eroberer (1066 1087). Im kaiserlichen Italien dagegen und namentlich im südlichen Frankreich htt noch um die Mitte des 11. Jahrhunderts ein großer Teil der Kirchen schwer unter den Händen des Adels.

IV. Die Entstehung der mittelalterlichen Theokratic. igy

Gegen beides zusammen, das Eigenkirchenwesen ebenso wie die Keform- nationale und territoriale Geschlossenheit der Kirchen erhob sich nun lound n.jahr-

I- liuiulcrt.

aber vom lo. Jahrhundert an eme Bewegung, die von verschiedenen Punkten anhebend sich allmählich konzentrierte und schließlich von Rom aus zum Angriff auf das ganze System vorging.

In Frankreich liegt die Heimat der mönchischen Reform, die ciuny. mit der Xeugründung von Cluny in Burgund 910 begann, in Frankreich, Lothringen und einem Teil von Italien das zerstörte Mönchsleben wieder aufrichtete und den Klöstern ein selbständiges und gesichertes Dasein schuf Hier ist dann zugleich die asketische und mystische Frömmigkeit der spätlateinischen Zeit wieder erweckt worden, die für die w^eitere Ent- wicklung des Mittelalters so entscheidende Bedeutung gewonnen hat. Die mißgünstige Art, wie die meisten Bischöfe sich zu dieser Reform stellten, ebenso wie der universale Zusammenhang der reformierten Klöster zwang aber auch insbesondere die Kluniazenser, ihren Rückhalt in Rom zu suchen und das Papsttum aus seiner Enge wieder herauszuziehen.

Der Kampf um das verlorene Klostergut hat natürlich schon hier Kampf gegen eine große Rolle gespielt. Umfassender aber und auf das Kirchengut Priesterehe. überhaupt gerichtet sind die Bestrebungen in dieser Richtung von der italienischen Reformpartei aufgenommen worden. Auch im Kampf gegen die Priesterehe handelt es sich neben den asketischen Motiven wesentlich um die Erhaltung des Kirchengutes, das sich in den Kleriker- familien zu vererben drohte; und in dem Schlagwort „Simonie" bekämpft man nicht nur die Praxis der Bischöfe, die für ihre Weihehandlungen Geldabgaben erheben, sondern auch die Sitte, die vom Standpunkte des germanischen Rechtes aus selbstverständlich ist, daß der Eigentümer die Leitung seiner Kirchen und Klöster und die Nutzung aller ihrer Güter nur gegen bestimmte Abgaben überträgt, damit investiert.

Aus Lothringen endlich kommen die kirchenrechtlichen Grundsätze, PsouJisidor. die gegen das ganze System der letzten Jahrhunderte ankämpfen. Schon im westfränkischen Reich, wahrscheinlich in der Provinz Rheims, hatte um 850 eine Gesellschaft von geistlichen Fälschern die kirchliche Rechts- sammlung der sogenannten pseudisidorischen Dekretalen fabriziert, die dem Episkopat die Waffen liefern sollten, um sich der drückenden fürstlichen wie der mit ihr verbündeten Metropolitan-Gewalt zu entledigen und die freie Regierung der Kirche wiederzugewinnen. Als Bundesgenossen der Bischöfe in diesem Kampf hatte die Fälschung das Papsttum aufgestellt, das nach ihr mit fast unbeschänkter Herrschergewalt an der Spitze der Kirche stehen sollte.

Diese Fälschung, die kaum ihresgleichen hat, war bald nach ihrem Erscheinen wieder fast völlig vergessen worden, wurde nun aber im II. Jahrhundert in den niederlothringischen Bischofsschulen wieder aus- gegraben und erfüllte bald die Köpfe des dortigen Episkopats mit den höchsten Anschauungen von der Würde des geistlichen Standes, seiner

ig8 Karl Müller: Christentum und Kirche Westeuropas im Mittelalter.

Erhabenheit über alle Aveltliche Gewalt und den grenzenlosen Rechten des römischen Stuhls. Hier vor allem erschienen auch die Ansprüche, die Adel und Reich an ihre Bistümer und Klöster stellten, als unvereinbar mit der geistlichen Natur dieser Anstalten.

Heinrich III. Daß schlicßlich alle diese Elemente in Rom vereinigt und im Papst-

1039 5 ^^^ ^^^ Herrschaft gebracht worden sind, ist das Werk des deutschen Königs Heinrichs III. (103g 56). Die Nachwirkung der alten karo- lingischen Überlieferungen, die Verbindung des deutschen Königtums mit dem römischen Kaisertum und dadurch mit dem Papsttum und das starke Gefühl der Verpflichtung gegen die universale Kirche haben es hier be- wirkt, daß gerade die Macht, die an der Spitze des politischen Europas stehend, die eigene nationale Kirche vollkommen beherrschte und jene neuen Strömungen von ihrem Gebiet scharf ausschloß, jenes theokratische Papsttum in den Sattel hob, das den entscheidenden Kampf gegen alle Nationalkirchen und gegen die weltliche Gewalt überhaupt auf- genommen hat.

Der dritte deutsche Bischof, den Heinrich seit 1046 in Rom als Papst eingesetzt hatte, um den dortigen argen Zuständen ein Ende zu machen, Leo IX. (1048 54) war nicht nur Kluniazenser, sondern auch Bischof im lothringischen Toul gewesen. Von nun an erhält das pseudisidorische Recht plötzlich die größte Bedeutung für Richtung und Begründung der päpstlichen Politik, und zugleich sammeln sich an Leos IX. Hof alle Kräfte der neuen Zeit. Die römische Kirche wird aus der Umklammerung der römischen Adelsgewalten gelöst und in jeder Beziehung mit dem Be- wußtsein ihres universalen Berufs erfüllt. Und während für Leo IX. das Kaisertum und deutsche Königtum noch den politischen Rückhalt für alle Reformbestrebungen gebildet hatte, erschien es bald nach Heinrichs III. Tode, als sein gei.stliches Gepräge unter dem jungen Heinrich IV. zurück- trat und sich die Ziele der päpstlichen Reform immer radikaler gestalteten, als der Feind, gegen den der Kampf mit aller Sorgfalt und Vorsicht vor- bereitet wurde. Es galt jetzt nichts mehr, daß die deutsche Kirche gerade durch ihre Verbindung mit dem Königtum jene innere Sicherheit, Ord- nung und Zucht besaß, die sie bisher zum Ideal der Reformpartei gemacht hatten. Die nationale Geschlossenheit der deutschen Kirche, deren Hort das deutsche Königtum war, erschien jetzt als ein Übel, als das Hemmnis, das sich den neuen Idealen entgegenstellte, der Reichsdienst der Bischöfe und Äbte als ein Zustand, der sich mit der geistlichen Würde nicht ver- trug, das Kaisertum und seine alte Gewalt über Rom und die Papstwahl als bloße Schranke und Gefahr für die römische Kirche.

Gregor VII. So hat Grcgor VII. (1073 85) den Kampf um die „Freiheit der

Kirche" vor allem gegen das deutsche Reich und seine Kirche geführt, schließlich aber dieselben Ziele in allen Reichen und Kirchen Europas verfochten. Seine Regierung hat das Angesicht der mittelalterlichen Welt verändert und das universale und politische Papsttum geschaffen, das bis

IV. Die Enlstchunfj der niitlclaltcrlichcn Theokratie. I qq

heute sein Wesen nicht verändert hat. Der Hauptgegenstand des Kampfes unter ihm ist die nationale Selbständigkeit der Kirchen und das System des Eigenkirchen Wesens, wie es nur am schärfsten im Verhältnis der großen Kirchen und Abteien zum Reiche hervortrat. Der Papst will der Regent der ganzen Kirche, der Herr aller Bischöfe, der oberste Gesetz- geber und Richter in allen geistlichen Fragen sein, der durch kein posi- tives Recht, auch nicht das pseudisidorische, gebunden, in aller Macht- fülle die kirchlichen Verbände und hierarchischen Stufen durchbrechen und überall unmittelbar regieren kann. Er will die Rechte der Laien an die Kirchen völlig aufheben und das gesamte Kirchengut mit allem, was die bisherigen Eigentümer daraus bezogen hatten, in letzter 1 Jnie im Papste konzentrieren. Es ist die gewaltigste Revolution, die auf dem Gebiet der Verteilung des Eigentums und der Macht jemals unternommen worden ist, die Expropriation der Mächte, denen gerade die großen Kirchen die Hauptmasse ihrer Ausstattung verdankten. Mit dieser Verfügung über das Kirchengut der ganzen Christenheit hätte er die ]\Iittel in Händen gehabt, um das zu sein, was seiner Idee nach der Papst sein sollte, der Fürst des irdischen Gottesreiches, der Inhaber der letzten Gewalt auf Erden, der Lehnsherr des Kaisers, der Gebieter aller Fürsten, die nur zum Dienst für Papst und Kirche berufen sind und nur in ihm die Legi- timation ihrer aus Sünde und Gewalttat entsprungenen Macht finden.

Für dieses Ideal hat Gregor mit allen Mitteln gestritten. Da das Erfolge des

Investiturstreits.

Papsttum selbst ohne politische Macht war, so wurden alle verfügbaren Mächte gegen den nächsten Feind, das Kaisertum und deutsche König- tum, zugleich aber die Untertanen gegen ihre Fürsten aufgeboten und Krieg und Revolution mit den geistlichen Mitteln der Kirche entfesselt.

Gregor hat seine Gedanken nicht in ihrem ganzen Umfang durch- setzen können. Aber seine Ziele und Mittel sind dem Papsttume geblieben. In den großen Ländern hat die Krone zunächst die Hauptpunkte ihrer alten Rechte über die Kirchen zu wahren vermocht, den Einfluß auf die Wahlen, die finanziellen und militärischen Pflichten der geistlichen Fürsten, zum Teil selbst den nationalen Verband ihrer Kirchen. Aber das Wormser Konkordat, in dem der deutsche Investiturstreit 1122 abschloß, und ähn- liche Vereinbarungen in anderen Ländern haben einen vorläufigen modus vivendi, keine endgültige Regelung des Verhältnisses gebildet. Die stille Arbeit oder der laute Kampf des Papsttums und einer Partei der Bischöfe selbst gingen immer fort, und die machtvolle Erhebung des Papsttums seit Gregor VII., seine wachsende Gewalt über die Hierarchie und die großen internationalen Orden, die ganze unerschütterte x\utorität der Kirche überhaupt, sowie der Gegensatz der Staaten untereinander, der das Papst- tum für jeden Kampf gegen eine Macht sofort Bundesgenossen bei den andern finden ließ, das alles gab dem Papsttum von vornherein eine Friedrich i. Überlegenheit, die ihm immer weiteres Vordringen ermöglichte. "und**"

Vor allem ist schließlich sein Sieg über das Kaisertum und deutsche " (r,"JL",j.

2 00 Karl Müller: Christentum und Kirche Westeuropas im Mittelalter.

Königtum vollständig gewesen. Friedrich I. (1152 90) hat noch ein- mal, wenn auch nicht mehr ganz in der alten Sicherheit und Vollständig- keit, die deutsche Kirche um sich gesammelt und zugleich den Versuch gemacht, durch die kaiserliche Herrschaft in der Lombardei und Tuscien, später auch durch das normännisch-sizilische Erbe seines Sohnes Hein- rich VI. (1190 97) das Papsttum zu umklammern und sich zu unterwerfen. Aber im Kampf mit Alexander III. (1159 81) ist er unterlegen, und an der Fortsetzung seines Ringens haben sich die Kräfte des staufischen Hauses und des deutschen Königtums verblutet, innocenz ui. Unter Innoccnz III. (iigS 1216) und seinem nächsten Nachfolger

und der Höhe- ist das Ziel Grcgors VII. zum großen Teil erreicht. Das Papsttum ist

punkt der päpst- lichen Theo- Wirklich die universale Macht geworden, unter der die abendländische

Christenheit vereinigt ist. Der päpstliche Hof, die Kurie, ist die größte Beamtenorganisation der Welt, der Sammelpunkt einer immer wachsenden Masse von Geschäften aus allen Ländern. Der Papst ist seit dem 1 3. Jahr- hundert der oberste souveräne Gesetzgeber der Kirche, durch keine andere Macht, kaum durch das kirchliche, von ihm selbst geschaifene Recht ge- bunden, der oberste Richter von Klerus und Laienstand. Die Hierarchie der ganzen Welt ebenso wie die großen internationalen Orden sind ihm unmittelbar dienstbar, seine Organe in allen Ländern. Bann und Inter- dikt, Absetzung und Kreuzzug zwingen die Fürsten fast immer zur Unter- werfung. Die alten Nationalkirchen sind zerstört; ihre Grenzen stehen dem päpstlichen Regiment offen. Die Provinzialverbände haben ihre alte Selbständigkeit verloren. Die Bischöfe sind durch den Gehorsamseid an ihn gebunden; auf ihre Macht übt er den entscheidenden Einfluß aus. Die alten finanziellen Verpflichtungen der Kirchen an das Reich sind freilich nur zum Teil, die militärischen gar nicht an ihn übergegangen. Auch in Deutschland, wo der Krone viel weniger geblieben ist, als in Frankreich und vor allem in England, hat sich zwar das ehemalige Reichskirchengut zu Territorien von wachsender Selbständigkeit ausgewachsen, ist aber dem Reich politisch dienstpflichtig geblieben.

Aber die Besetzung der Bistümer liegt jetzt in den Händen des Papst- tums: die Fürsten können darauf nur noch auf dem Umweg über Rom Einfluß gewinnen. Und über die Erträge des Kirchenguts übt jetzt wirklich der Papst überall die Rechte des obersten Eigentümers aus. Selbst einzelne Abgaben, die früher den Fürsten zugestanden hatten, erhebt er selbst, legt Steuern auf die Kirchen ganzer Länder, ja der ganzen Kirche und verfügt frei über ihre Einkünfte. Er vergibt Kirchen und Pfründen nach eigenem Willen und fordert dafür, ganz wie ehemals die „simonistischen" Fürsten, große Summen, bald nach festen Taxen. Er setzt den Grundsatz der weltlichen Steuerfreiheit der geistlichen Anstalten und Personen durch, indem er den Fürsten und Gemeinden verbietet, außer den althergebrachten Abgaben neue Steuern von ihnen zu erheben ohne Bewilligung der Kirchen selbst und ohne Vorwissen oder gar Zustimmung des Papstes.

V. Kultus und I*>ömmi{^k(Mt. 20I

Und diese Papstkirche stand da als ein Gemeinwesen ganz für sich, mitten in der Welt, neben den politischen Gewalten, aber auch über ihnen und mitten durch sie hindurch, mit eigenem Recht und Gericht, eigenem ungeheuren Vermögen, eigener Beamtenschaft. Ihre Institute wie ihre Beamten lebten iinnitten der politischen Gemeinwesen, aber gleichsam exterritorial, vom Papst oder seinen Organen ernannt, mit eige- nem Gerichtstand, dem Grundsatz nach frei von allen Abgaben. Das kirchliche Vermögen, bewegliches wie unbewegliches, ist aus dem bürger- lichen Gemeinwesen ausgelöst und steht in letzter Linie, ja immer mehr auch unmittelbar, zur Verfügung des Papstes. Die kirchlichen Gerichte urteilen in allen geistlichen und weltlichen Angelegenheiten, die das kirch- liche Recht ihnen zuspricht, ob es sich um geistliche oder weltliche Per- sonen handelt, nach geistlichem Recht. So erscheint das Ziel Gregors VII. im Lauf des 13. Jahrhunderts erreicht, der augustinische Gottesstaat unter dem Regiment des Papsttums aufgerichtet, das Leben des einzelnen wie aller Gemeinschaftskreise umschlossen, geregelt und geleitet von der Kirche und dem Papst, dem Statthalter Gottes.

V. Kultus und Frömmigkeit. Die Grrundlage aller dieser Macht Die Kirche als

* .... Heilsanstalt.

war schließlich die Tatsache, daß die Kirche durch die Hierarchie allein um die Geheimnisse des g-öttlichen Wesens und Willens wußte und in ihrem Kultus die übernatürlichen Kräfte spendete, von denen das ewige Heil jedes einzelnen und die Gottgefälligkeit aller sozialen Verbände und In- stitute abhing, daß sie die einzige und unumgängliche Heilsanstalt war.

Der Kultus des Abendlandes war zur Zeit Konstantins in seinen Der Kultus. Grundzügen fertig (vgl. oben S. 156!?.). Die beiden Hauptbedürfnisse der umgebenden heidnischen Welt haben sich in ihm durchgesetzt. Er soll durch seine Handlungen auf die Gottheit wirken, ihren Zorn abwenden, ihre Hilfe gewinnen, und er soll seine Genossen durch ein System der Mystagogie über die irdische Natürlichkeit und Sündigkeit hinausheben und mit himmlischen Lebenskräften füllen.

Als dann vom 4. Jahrhundert an die heidnische Welt rasch und massenhaft der Kirche zugetrieben wurde, machten sich ihre bisherigen religiösen Instinkte hier noch weit kräftiger geltend. Nicht nur trat jetzt die mystagogische Organisation des Gottesdienstes in ihre glänzendste Zeit, sondern es wurden auch eine Menge Stücke des heidnischen Kultus und der heidnischen Religion unmittelbar übernommen. An die Stelle der Götter, Halbgötter, Genien und Heroen tritt das Heer der Heiligen und Engel, in denen sich vielfach auch bestimmte Gestalten der alten Religion fortsetzen, so daß ihre Verrichtungen und Legenden, Attribute und Eigenschaften, Kultstätten und Festtage unmittelbar auf die neuen Patrone und Nothelfer übergehen und ein christlicher Kalender den heid- nischen ablöst. Der Kultus wird immer mehr die Welt des Wunders und Zaubers: er beschafft die Kräfte der religiösen Sühne und Gnade und des

202 Karl Müller: Christentum und Kirche Westeuropas im Mittelalter.

ewigen Lebens, aber er hilft auch zur Erfüllung aller Bedürfnisse und Wünsche, die auf natürlichem Weg nicht zu gewinnen sind. Das eucha- ristische Opfer tut alle Wirkungen des heidnischen. Auch der glänzende Schmuck der Kirchen, die Masse der Lichter, die Weihgeschenke an die Heiligen und Heiligtümer, die Bittgänge und Prozessionen, die Wallfahrten zu den großen Heiligtümern und Reliquien und unendlich viele Einzel- heiten sind unmittelbar aus der alten Religion übernommen als Mittel der Andacht wie zur Erfüllung selbstischer Wünsche.

Sittliche Anforderungen waren mit dem Kultus schon in alter Zeit verbunden gewesen. Nur „die Heiligen" hatten teil an den Gnadengütern. Schwere Sünden schlössen von ihnen, vor allem von der Eucharistie, dem Opfer und dem h. Mahl, aus und verlangten Sühne auch durch schwere persönliche Leistung. Aber abgesehen davon waren doch auch im Westen Kultus auf der einen, persönliche Religiosität und Sittlichkeit auf der anderen Seite im wesentlichen selbständig nebeneinander hergegangen, nur daß der Kultus eben auch ein Stück der göttlichen Ordnung war, der sich jedermann unterwerfen mußte. Die Was die Kirche des Westens von alters her von ihren Gläubigen

Frömmigkeit.

verlangt hatte, war m erster Linie zweierlei: i. Anerkennung ihrer gott- lichen Autorität und Benutzung ihrer Heilsmittel und 2. gute Werke. Diese Frömmigkeit hatte schon im 2. Jahrhundert die Prägung bekommen, die dem Westen eigentümlich geblieben ist. Sie ist viel weniger auf das persönliche Verhältnis von Mensch und Gott angelegt, als vielmehr durch Sachen bestimmt. Ihre Elemente sind die rechte Gotteserkenntnis, die geoffenbarte religiöse, sittliche und kirchliche Ordnung, der Erlaß der vor- christlichen Sünden und ihrer Strafen bei der Taufe auf Grund von Christi genugtuendem Tod, der ewige himmlische Lohn im Reich Gottes für die Christen, die ihn durch gute Werke verdienen, das ewige Gericht für die Ungläubigen, wie für die Christen, die Gottes Ordnung schwer übertreten und doch dafür keine Genugtuung durch besondere Leistungen der Buße gegeben haben. Augustin Aber im 4. Jahrhundert haben Ambrosius, Bischof von Mailand

(354 43**)*

gest. 397), und vor allem der größte Mann und die künftige höchste Auto- rität des Westens, Augustin (354 430), der lateinischen Kirche neue Ele- mente zugeführt, die dem Abendlande nie mehr ganz verloren gegangen sind und ihm vollends seine eigentümliche Richtung gaben. Es war vor allem die Erkenntnis, daß es sich in der Religion in erster Linie nicht um einzelne Sünden und Strafen, Leistungen und Verdienste handele, sondern darum, Gott als seinen Gott zu haben, daß aber hierzu der Mensch, von Adam her in der Sünde verknechtet, nicht von selbst kommen, daß er nur durch Gottes allmächtige und zuvorkommende Gnade aus dieser Knechtschaft herausgerissen werden und so die Freiheit und Kraft zum Guten, die Gottesgemeinschaft finden könne. Diese Gnade aber spendet Gott in der Regel durch die Kultushandlungen der Kirche, die Sakramente. Durch

\'. Kulliis und I'Vömniigkeit. 203

sie SO hat es dann namentlich die mittelalterliche Scholastik aus- geführt — wird dem natürlichen Menschen die Gnade, die ihn für die himmlische Welt, die Gemeinschaft mit Gott und die verdienstlichen Werke fähig macht, eingeflößt und gemehrt oder nach ihrem Verlust neu geschenkt.

Die älteren Elemente hat Augustin weder verdrängen wollen noch nie btid<n

...... .Stufen der

können; er hielt sie auch in seiner persönlichen Frömmigkeit als eme Art Krömmigki-it. Unterstufe fest und vererbte diesen Aufbau auf die ganze Folgezeit. Wesentlich auch durch ihn hat sich eine kirchliche Frömmigkeit fortge- pflanzt, die in den zwei Stufen der Mönche und der Weltleute bestand und doch nicht auseinanderbrach, weil der, der zu der Oberstufe empordringen wollte, niemals von dem sakralen System der Kirche und seinen Gnaden- spenden loskommen und auch der guten Werke nie entbehren konnte, die die Bedingung für weitere Begnadigungen waren.

Die untere Stufe dieses Systems hat sich im Mittelalter in allen Die Mittel des

Laien-

Hauptpunkten erhalten. Nur hat man immer neue Mittel, Weisen und Christentums. Formen gefunden, um den Gläubigen religiöse Anregung und Befrie- digung, Hilfe und Sühne zu schaffen und sie mit alle dem an die Kirche zu ziehen und, zumal seit dem Eintritt der neuen Völker, den kirchlichen Forderungen zu unterwerfen. Denn die Germanen hatten zwar mit der staunenden Bewunderung und dem ehrfürchtigen Stolz der Naturvölker die Pracht und Fülle, die vielgestaltige Zauberkraft der neuen Religion, ihres Gottes, ihrer Heiligen und Kirchen aufgenommen: ihnen war das alles fremder und darum viel mysteriöser und wunderbarer als den Rö- mern, die auch im Heidentum in einer ähnlichen Luft gelebt hatten. Aber mit ihrer ganzen bisherigen Sitte und sittlichen Anschauung, ihrer Phan- tasie und Empfindung standen sie auch den kirchlichen Forderungen fremder gegenüber und mußten daher in langem Prozeß erst lernen, sich ihnen zu fügen. Daher waren hier neue Mittel nötig.

Das Bedeutendste wurde zunächst die Buße. Beim Eintritt der Ger- Bußansuit. manen hatte die Kirche ein wichtiges Stück ihrer bisherigen Arbeit, den Katechumenat und damit den mystagogischen Charakter ihres Kultus da- durch verloren, daß die Kindertaufe nunmehr, da ganze Völker auf einmal getauft waren, ganz allgemein und selbstverständlich geworden war. Als Ersatz dafür trat nun in gewissem Sinne die Buße ein. Sie hatte im Altertum nur für ungewöhnlich schwere Vergehen bestanden und war daher verhältnismäßig selten gewesen. Jetzt wurde sie in den ersten Jahrhunderten des Mittelalters das vornehmste, insbesondere von Karl dem Großen gepflegfte Zwangsmittel, die neuen Völker im Sinne der Kirche zu erziehen, die Hauptanstöße der alten heidnischen Religion und Sitte bei ihnen auszurotten und das Christentum ihnen einzuprägen. Und als im 12. Jahrhundert das bisherige Buß.system zerfiel, da war nicht nur ein guter Teil der Arbeit schon getan, sondern es w^aren auch neue Mittel und Wege gefunden, um die Erziehung zu vollenden. Mit der allgemeinen

204 Karl ^Iüller: Christentum und Kirche Westeuropas im Mittelalter.

Kultur war auch das sittliche Niveau gestiegen. Das priesterliche Per- sonal war vermehrt, im 13. Jahrhundert noch durch die Bettelorden außer- ordentlich verstärkt worden. Die kirchliche x\rbeit an den Laien wuchs Predigt und mit den ersten Zeichen der beginnenden Emanzipation. Die Predigt, einst

religiöser

Volksunterricht, in der römischcn Zeit hoch entwickelt, dann im frühen Mittelalter ganz zerfallen, entwickelte sich seit dem 12. Jahrhundert von neuem. Xeben sie trat am Ende des Mittelalters der religiöse Volksunterricht. Die

Bruderschaften. Laien wurdcn in Bruderschaften organisiert, deren Mitglieder zu be- stimmten religiösen, sittlichen und kirchlichen Leistungen angehalten wurden. Ein Zweig- des alten Bußinstituts, die private Buße, entwickelte

Bußsakrament, slch zum Bußsakramcnt, das künftig für die Leitung der Gläubigen eine um so größere Bedeutung gewinnen sollte, je weniger sie nur auf schwere äußere Vergehen zugeschnitten war. Und schließlich schuf sich die Kirche ein höchst umfassendes System polizeilicher Überwachung vor allem in der jährlichen österlichen Beichte (seit 12 15) und eine Waffe furchtbarer Inquisition. Gewalt in der Inquisition, die sich seit dem 13. Jahrhundert immer erbarmungsloser entwickelte und mit eisernem Druck auf die gefährdeten Stellen der Kirche legte, um die Ketzerei zu ersticken.

So entwickelte sich die Frömmigkeit auf den alten Grundlagen weiter zunächst als eine Religion der Unmündigen, die nicht nur äußerlich in allem an die Leitung und Aufsicht der Hierarchie, sondern auch innerlich an das kirchliche Sakralwesen und wiederum in ihren guten Werken in erster Linie an die Sphäre der Kirche gebunden war. Mystik. Aber darüber erhebt sich nun für den, der in dieser Unterstufe sich

reichlich geübt hat und immer neue Kräfte aus ihr holt, die Mystik, die besondere Frömmigkeit des Mönchtums und des mönchisch g-eschulten Klerus. Durch seinen Beruf der Welt entnommen, durch seine Askese des Fleisches Herr geworden, kann sich hier der einzelne auf eine Stufe des seelischen Lebens erheben, wo er unmittelbar und bewußt mit Gott in Gemeinschaft tritt, seiner gewiß wird und damit die höchste Seligkeit schon jetzt in einzelnen Momenten genießt. Männer wie Hugo von Bernhard St. Victor (logy 1141), sowie die beiden großen Heiligen Bernhard von

von Clairvaux ^ ... 11 j-

(1093-115J) Clairvaux (1093 1153) und Franz von Assisi (1182 1226) stellen diese

Franz von Assisi Stufe der Frömmigkeit in einer Vollkommenheit dar, die für alle folgenden (1182 1226),

Jahrhunderte in der katholischen Kirche und darüber hinaus maßgebend

geblieben ist. Dabei wirken in der Farbe dieser Mystik zum Teil alte Überlieferungen aus der letzten Zeit der Antike nach, vor allem die Grundform aller Mystik, der Xcuplatonismus, der schon auf Augustin wesentlich gewirkt hatte und dann wiederum im g. Jahrhundert und aber- mals vom 12. Jahrhundert an in der Kirche mit voller Unmittelbarkeit aufgenommen worden war. Zum Teil aber haben auch eigentümlich christliche Motive gewirkt, insbesondere die zärtliche und leidenschaftliche Liebesgemeinschaft mit der Person des erniedrigten und leidenden Hei- landes und als Parallele dazu der schwärmerische Mariendienst, Hier

VI. Mönchtum und Ordenswesen. 205

haben sich also die Grundformen der religiösen Mystik entwickelt, die vom Zeitalter der Renaissance und der Reformation an in abg-eschwächter Ge- stalt auch in die Kreise der Laien überg-ing-en und in den evangelischen Kirchen bis heute neben und mitten unter den reformatorischen Motiven ihr Bürgerrecht bewahrt haben, obwohl ihre Voraussetzungen, die Kultu.s- mystik und die weitabgewandte Askese, läng.st dahin gefallen sind.

VI. Mönchtum und Ordens wesen. Wie die Frömmigkeit, so hat, Anfänne des

Münclitums.

wie schon angedeutet, auch das christliche Leben in zwei Stufen be- standen. Von Anfang an hatten sich aus der großen Masse der Christen Männer und Frauen herausgehoben, die der Welt ganz zu entsagen und auch auf solche Genüsse zu verzichten gesonnen waren, die das Christen- tum nicht verbot. Aus diesem vStand der Asketen heraus hat sich dann vom Ende des 3. Jahrhunderts an das Mönchtum entwickelt als der Ver- such, eine christliche Sonderwelt zu organisieren außerhalb der Be- dingungen und Formen der Gemeinschaft, die auf dem Boden und unter den Folgen der Sünde erwachsen waren, der Ehe, des Sondereigentums und der weltlichen Standesunterschiede. Seine Ursprünge liegen in den Wüsten, die das Niltal umgeben. Im Abendlande hat es sich erst seit dem zweiten Drittel des 4, Jahrhunderts eingebürgert, teils durch Griechen, die nach dem Westen kamen, teils durch Abendländer, wie Hieronymus, Rufinus u. a., die es im Osten kennen lernten, teils durch die Legenden und Romane, die vom Leben der neuen ägyptischen Heiligen Kunde gaben. Martin von Tours, Ambrosius, Augustin u. a. waren seine Haupt- anwälte. Noch lange gingen ältere und neuere Formen des asketischen Lebens nebeneinander her, bis sich schließlich der Typus durchsetzte, der künftig im Abendlande die Herrschaft gewann. Aus den verschiedenen östlichen und westlichen Regeln der älteren Zeit drang nämlich seit dem 7. Jahrhundert die des h. Benedikt von Nursia durch. Sie war in der Uenediktiner- ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts entstanden, durch Papst Gregor den Großen nach allen Seiten empfohlen, in der angelsächsischen Kirche ein- geführt, von Bonifaz nach Deutschland gebracht, durch Pipin und Karl den Großen im fränkischen Reich und damit schließlich in ganz Westeuropa zur Alleinherrschaft erhoben worden.

Die Klöster sind unter ihrer Herrschaft allgemein das geworden, was Das Münrhtum

benediktiaischor

sie zum Teil schon früher gewesen waren: Verbände von x'Ysketen, die Grundlage. der Welt und ihren Grundbedingungen, dem öffentlichen Leben, der Fa- milie, dem Eigentum entronnen, eine Sonderwelt bildeten, in der der Dienst Gottes und das eigene Seelenheil die einzige wSorge sein sollte. Der einzelne hat keine eigene Sphäre für sich, keinen eigenen Willen, keinen eigenen Besitz. Die Gemeinschaft und ihr Haupt, der Abt, nimmt ihn ganz und gar in Anspruch und versorgt ihn. Als geschlossene Welt und große Hau.sgemeinschaft erzeugt das Kloster auch seine eigenen Bedürf- nisse selbst. Neben Gebet und Betrachtung beschäftigen Landbau und

2o6 Karl Müller: Christentum und Kirche Westeuropas im Mittelalter.

Handwerk jeder Art alle Kräfte. Doch ist schon im 6. Jahrhundert, ins- besondere durch den Römer Cassiodor (490 583), auch die gelehrte Arbeit in den Klöstern von Italien bis Irland eingebürgert worden. So sind sie die Hauptstätten für die Überlieferung der antiken wie der alt- christlichen Kultur, der Handschriften, ihrer Literatur, ihrer enzyklopä- dischen Bildung, ihrer Kunst und Technik geworden. Daß auch hier die Fäden nicht abrissen, daß die Schriftsteller des Altertums auf uns ge- kommen sind, daß die antike Bildung dem Abendlande nicht verloren ge- gangen ist, ist vor allem ihr Verdienst. Karl der Große hat den Klöstem ebenso wie den neuen Kathedral- und Stiftsschulen die Pflege jener Kultur und des Unterrichts darin zu besonderer Pflicht gemacht. Seine Absicht, auch die Laienwelt für sie zu gewinnen, ist freilich im wesentlichen ge- scheitert. Aber im Klerus und Mönchtum hat er sie fest gegründet. Seit dem 11. Jahrhundert haben sie sich von neuem blühend entwickelt, und das Mönchtum hat darin im großen ganzen den ersten Rang behalten, bis ihm im 12. Jahrhundert die Überflügelung durch die Universitäten drohte.

Mönchsorden. Einen gemeinsamen Verband, einen Orden, haben diese Klöster jahr-

hundertelang nicht gebildet. Erst seit der großen Reformbewegung des 10. und 1 1 . Jahrhunderts haben sich Klöster, denen die gemeinsame Re- form und Richtung ein besonderes Gepräge gaben, näher zusammen- geschlossen. Aber der erste große internationale Orden ist erst im 12. Jahrhundert im Cisterzienserorden entstanden, der auf der Grund- lage der Benediktinerregel sich nach der Art der älteren Kongregationen seine besonderen Statuten gab und außerdem eine Verfassung schuf, durch die er sich über alle Länder der lateinischen Kirche ausdehnen und doch ein zusammenhängendes Ganzes bleiben konnte. Dieses Vorbild hat dann künftig auch auf die übrige Klosterwelt, insbesondere die rein benedikti- nischen Klöster gewirkt, so daß sich allmählich alle Klöster in Orden zusammenschlössen.

Klerikerorden. Auch ein Teil dcs Klcrus ist in diesen Prozeß hineingezogen

worden. Wie die asketischen Ideale, vor allem die Ehelosigkeit, sehr früh dem Klerus als Gesetz auferlegt worden waren, so sind auch die mönchischen Lebensformen vom 4. Jahrhundert an, wenn auch nur ab- geschwächt, an einzelnen Bischofskirchen, vom 8. und g. Jahrhundert an, zu- erst im Frankenkreich, auch an anderen Kirchen eingeführt worden, an denen mehrere Kleriker angestellt waren. In der zweiten Hälfte des 11. Jahr- hunderts wurde in einem Teil dieser Kollegiat- oder Stiftskirchen auch das Sondereigentum aufgehoben, und vom 12. Jahrhundert an schlössen auch sie sich zu großen Klerikerorden zusammen. So ist zuerst der der Prämonstratenser entstanden, der sich ebenso universal wie der Cister- zienserorden entwickelte. Betu-iord.-n. Dic taktisclicn Einheiten dieser Orden bildeten immer noch die einzelnen

Klöster oder Stifter. Erst in den Bettelorden des 1 3. Jahrhunderts, Minoriten

V'II. Dogma und Theologie. 2 07

(Franziskanern), Prcdig-orn (Dominikanorn), Augustinern und Karmelitern, hat sich das Abbild des alles umfassenden Papsttums ganz durchgesetzt. Erst hier ist der Orden als solcher die Einheit, die nur von sich aus einzelne Niederlassungen gründet, aber nicht als selbständige Anstalten, sondern nur sozusagen als Stationen der Ordensarbeit.

In diesen beiden Formen des Mönchtums spiegeln sich zugleich die wirtschaftliche

j- 1 Grundlaßen der

beiden wirtschaftlichen und sozialen Schichten des Mittelalters, die seit dem beid.n Formen

. des Müncbtums.

12. und 1 3. Jahrhundert vollkommen ausgebildet nebeneinander stehen. Zu- nächst auf der Grundlage der bäuerlichen Wirtschaft erwachsen, besonders unter den neuen Völkern mit ungeheurem Grundbesitz ausgestattet, ist das benediktinische Mönchtum für die Entwicklung des wirtschaftlichen Lebens und der sozialen Gliederung des Mittelalters ein mächtiger Faktor geworden. Die großen Klöster gehörten frühzeitig zu den großen Grundherrschaften und gingen schon in der fränkischen Zeit in dem Streben mit voran, die ursprünglich freie bäuerliche Bevölkerung abhängig zu machen und von der unmittelbaren Verbindung mit dem Königtum abzudrängen. Eben dadurch sind dann ihre Äbte in die Reihe des geistlichen Adels ge- kommen. Aber auch an den Fortschritten der Besiedelung und der wirt- schaftlichen Arbeit hatte sich schon das ältere benediktinische Mönchtum wesentlich beteiligt. Und vom 12, Jahrhundert an haben sich die Cister- zienser und Prämonstratenser insbesondere um die deutsche Kolonisation der slawischen Länder unvergängliche Verdienste erworben.

In den Bettelorden aber hat sich das Mönchtum auch den neuen Formen des städtischen Lebens angepaßt, indem es sich von der land- wirtschaftlichen Arbeit losmachte, seine Haupttätigkeit in den Städten suchte und die leichte Beweglichkeit schuf, die dafür erforderlich war. Sie waren es dann auch, die sich dem neuen Betriebe der gelehrten Arbeit anpaßten, der im 12. Jahrhundert an den Universitäten begonnen hatte. Sie sind von da an die eigentlichen Führer der wissenschaftlichen Be- wegung insbesondere in Philosophie und Theologie geblieben bis zum Schlüsse des Mittelalters.

VIT. Dogma und Theologie. Das Dogma der abendländischen Xrinitarisch-

.... christologisches

Kirche hat sich in zwei Hauptgruppen gebildet. Die eine, die trinitarisch- Dogma, christologische, ist aus den religiösen Interessen der Kirche des Ostens und den philosophischen Mitteln der griechisch-orientalischen Welt ent- standen, durch Einflüsse aus dem Westen nur modifiziert und von ihm nicht als Ausdruck und Stütze seiner Frömmigkeit, sondern eben als Dogma, heilige Satzung übernommen worden. Die Kämpfe, die zu ihrem Abschluß geführt haben, haben im 4. Jahrhundert zeitenweise die Kirche zerrissen, und auch das Ergebnis, wie es auf den Synoden von Xicäa 325, Konstantinopel 381, Ephesus 431, Chalcedon 451 und Konstantinopel 553 festgestellt und von der Theologie weiter entwickelt wurde, war im 0.sten und Westen nicht vollkommen gleich. Im Westen galt künftig, daß das

2o8 Karl Müller: Christentum und Kirche Westeuropas im Mittelalter.

Wesen, die Substanz der Gottheit von Ewigkeit her in drei einander gleichen und untrennbar unter sich verbundenen Personen bestehe, die sich gegenseitig bedingen und voneinander abhängig sind, so daß in jedem Akt die ganze Gottheit wirkt. Die zweite Person der Gottheit, der Sohn, ist Mensch geworden, d. h. er hat sich mit einer menschhchen Natur zu unauflösUcher Einheit der Person so verbunden, daß seine Gott- heit nicht vermindert w^urde, die Menschheit aber auch nicht in der Gott- heit zerging, sondern trotz aller Erhöhung in den Grenzen ihrer Xatur blieb. Während nun aber die griechische Auffassung in der angenom- menen Menschheit nur eine Art Naturmasse sah, hatte im Abendlande ursprünglich die menschliche Natur als ein voller, individueller Mensch gegolten. Doch hat sich vom 6. Jahrhundert an auch hier der Einfluß der griechischen Christologie geltend gemacht. In Rom ist sie durch die byzantinische Herrschaft unter Justinian durchgesetzt worden, und von Rom aus hat sie sich nach längeren, zum Teil schweren Kämpfen im ganzen Westen durchgekämpft. Erst im 12. Jahrhundert ist durch die Christusmystik sowie die ganze ethische Richtung, die Abälards Theologie einschlug, das menschlich-persönliche Bild Jesu wieder derart in den Vordergrund gestellt worden, daß sich die Theologie bis zum Schlüsse des Mittelalters in den Versuchen abmühen mußte, die beiden Überliefe- rungsreihen aufs künstlichste zu kombinieren. Zu einem Abschluß des Dogmas ist es jedoch dabei nicht gekommen. Aber die Grundelemente der Überlieferung sind in die neue Zeit hinübergegangen und wirken auch auf evang'elischem Boden immer noch nach.

Sünde und Die zwcite Gruppe des abendländischen Dogmas hat zu ihrem Mittel-

Gnade, o >-

Augustin. punkte Sünde und Gnade. Sie ist ganz aus der eigentümlichen Religio- sität des Westens, wie Augustin sie vollends begTÜndet hat, erwachsen und drückt deren ganzen praktischen Inhalt aus. Sie ist daher der eigentliche Kern auch der abendländischen Theologie geworden und bis auf den heutigen Tag geblieben. Auch die protestantische Welt ist in ihrer Grundeigenart davon noch heute bestimmt. Augustin hatte seine Anschauungen bis in die schroffsten Konsequenzen hinein entwickelt: die ganze Menschheit durch Adams Fall eine Masse des Verderbens, der Sünde, des Todes, der ewigen Verlorenheit, unfähig sich herauszureißen und irgend etwas zu ihrem Heil zu wirken, nicht einmal dazu imstande, das dargebotene Heil anzunehmen; daher alles auf die alleinige Wirk- samkeit Gottes gestellt, der von Ewigkeit her eine festbestimmte Anzahl von Menschen zu Gefäßen der Barmherzigkeit prädestiniert hat und im Lauf der Zeit aus der Masse des Verderbens herausreißt, während er die andern ihrem in Adam selbstverschuldeten Geschick überläßt. Na'ii- Aber an diesen äußersten Spitzen hat sich das Abendland trotz der

augustinisrhf

Entwicklung. Unvergleichlichen Autorität Augustins doch gestoßen. Aus den Kämpfen um seine Gnadenlchre vom 5. bis q. Jahrhundert ist nur so viel als Ge- meingut und Dogma hervorgegangen, daß die allgemeine Herrschaft von

VII. Dogma und Theologie. 20Q

Sünde und Tod als die Folge des Sündenfalls anerkannt und daraus die Unfähigkeit des Menschen abgeleitet wurde, sich selbst die Seligkeit zu erwerben. Dagegen hat man die Prädestination in Augnstins vSinn ab- gelehnt und die Allgemeinheit des göttlichen Gnadenwillens festgestellt. Die Gnade aber, ohne die der Mensch das Heil nicht gewinnen kann, wird in den kirchlichen Sakramenten, vor allem der Taufe, geschenkt. Allein die Taufgnade, die dem Kind noch im unbewußten Zustand einge- flößt wird und es durch ihre magische Kraft geistig umwandelt, trifft jetzt den einzelnen in der Regel nicht mehr, wie im Altertum, als außerordent- liche Errettung, sondern hält sich im großen ganzen innerhalb eines ge- schichtlich gegebenen Kreises, der Christenheit, und wird hier jedermann zuteil. vSie ruft bei dem Christen vor allem seine Selbsttätigkeit auf und weist ihn an die Benutzung der übrigen kirchlichen Gnadenmittel und Er- füllung der sittlichen und kirchlichen Pflichten. Sie wirkt also vor allem die Möglichkeit, Verdienste zu erwerben. Die Einzelheiten sind auch in der Gnadenlehre nicht mehr Dogma geworden. Nur im Gebiet der Sa- kramente ist noch ein Punkt 12 15 auf dem großen Laterankonzil Inno- cenzens III. dazu erhoben worden, die Transsubstantiation, d. h. die Lehre, daß im Abendmahl durch die priesterliche Weihe die Substanz von Brot und Wein in die Substanz von Leib und Blut Christi verwandelt werde und nur die Akzidenzien, Gestalt, Farbe, Geschmack usw. bleiben.

Aber die Theologie hat nicht nur an allen diesen Fragen unab- Geistliche und

..... , 1 -r /• T weltliche

lassig weiter gesponnen, sondern auch im Laufe der Jahrhunderte den Wissenschaft Kreis ihrer Probleme ungemein erweitert. Nach Augustin war ihre pro- augustinischen duktive Kraft rasch erloschen, und in kurzem wandte sie sich fast nur noch der Aufgabe zu, das Erbe der patristischen Vergangenheit zu sammeln und in Auszügen, Zitaten, Belegstellen oder Wiederholungen enzyklopädisch fortzupflanzen, wie das zur selben Zeit und zum Teil in denselben Kreisen auf dem Gebiete der weltlichen Wissenschaften geschah. Geistliche und weltliche Wissenschaft sind künftig in einer Hand, der Hand der Kirche, vereinigt und haben darum in den folgenden Jahrhun- derten eine gemeinsame Geschichte.

Auch für sie bedeutet das 11. Jahrhundert eine Zeit bedeutsamen Auf- Aufschwung im Schwungs: die Theologie tritt vor allem unter den Einfluß der Dialektik und des scharfen kritischen Sinns, der das Wahre und Echte der Über- lieferung von den Produkten der Verfallszeiten sondern will. Und es schien zunächst, als ob Berengar von Tours (gest. 1088) mit diesen Mitteln den bisherigen Traditionalismus durchbrechen sollte. Aber durch die beiden Oberitaliener Lan frank {gest. 1089) und Anselm (gest. 11 09), die später nacheinander in dem neuen Normannenreiche den erzbischöf- lichen Stuhl von Canterbury inne gehabt haben, ist er wieder fest be- gründet worden. Vor allem hat er die Dialektik ganz in den Dienst der Überlieferung gestellt, aber auch in seinem „Cur Deus homo" die Zu- versicht gehegt, mit ihren Mitteln den ganzen geschichtlichen und dogma-

DlE KlLTL'R DER GeGENWAKI. I. 4. I^

5JO Kari. Mii.l.ER: Christentum und Kirche Westeuropas im Mittelalter.

tischen Inhalt der Offenbarung als eine einheitliche Größe für jeden Ver- stand zwingend ableiten zu können. Erweiterung der Diese Zuvcrsicht hat nicht lange standgehalten. Aber im 12. Jahr-

12. jalTrhund^t: hundert sind die Mittel der Theologie reicher geworden und ihre Ziele (1079-1142). höher gegangen. Zugleich damit nimmt die ganze Theologie eine neue Wendung. Während nämlich die letzten Jahrhunderte immer nur einzelne Fragen des Dogmas literarisch behandelt hatten, hat Abälard (1079 1142), der glänzendste Geist dieser Zeit, ein ausgeführtes System der ganzen Theologie geschaffen, und Hugo von St. Victor (gest. 1141) ist ihm darin nachgefolgt. Es ist von da an die Aufgabe aller Schul- theologie geblieben. Neupiatonismus Li bcidcn Mänuem sind aber zugleich alte Gegensätze wieder aufge-

Aristo"teiismus. wacht. Der Neupiatonismus, der schon bisher als augustinisches Erbe in der kirchlichen Theologie fortgelebt hatte, bekam in der Schule von St. Victor bei Paris neues Leben. Dog^a und sakrale Mystik waren mit ihm von jeher verbunden gewesen. Aber die ethisch-persönlichen Li- teressen, die in ihm zu kurz kamen, fanden ihren Vertreter in Abälard: er griff daher wieder stärker auf Aristoteles zurück. Und als dann gar um die Wende des 12. und 13. Jahrhunderts zu dessen logischen Schriften auch die metaphysischen, naturwissenschaftlichen, psychologischen, ethischen und politischen hinzukamen, da nahm unter ihrem Einfluß die Theologie einen neuen glänzenden Aufschwung. Eine Fülle neuer Mittel und Pro- Gianzzeit der bleme, ja ganz neue Gebiete, eben die, die in den neuen aristotelischen ij.Vhrhünd'e™: Schriften behandelt waren, wurden der Theologie eingefügt. Die Theo-

Aibertd.Gr. loCTcn der neuen Bettelorden, Scholastiker wie Albert der Große (1193 (1193— 1280), "^ ^

Thomas 1280) uud Thouias von Aquin (1225 1274), haben daraus ein System

{r2°2"5-?2"74i. kirchlicher Wissenschaft geschaffen, das dieselbe Universalität der Arbeit und der Ansprüche zeigt, wie die Papstkirche jener Zeit, und mit den Problemen der Theologie und kirchlichen Praxis auch die der gesamten Philosophie, Kosmologie, Ethik und Sozialwissenschaft zu lösen versucht. Schon Abälard hatte die Überlieferung kritisch gesichtet und die Gegensätze in ihr bei allen Einzelfragen scharf hervorgehoben. Seine Schüler hatten dann begonnen, für sie einen Ausgleich zu suchen, und insbesondere Peter der Lombarde (gest. um 1160) hatte das auch für die beiden Hauptautoritäten seiner Zeit, Abälard und Hugo, getan. Seine „vier Bücher Sentenzen" wurden dadurch das maßgebende Lehrbuch der Schule, auf dessen Grundlage die Stoffe der alten und neuen Überlieferung immer neu, originell oder kompilatorisch, zu den großen Systemen ver- arbeitet wurden.

Vernunft und Die Zuvcrsicht, die ehemals Anselni zum Vermögen der Vernunft ge-

en arung. y^^^^ hatte, kehrt in diesen Systemen nicht wieder. Die Vernunft hat ihr

enges Gebiet abgesteckt erhalten : sie ist Meisterin über die natürlichen

Dinge. Die festen Traditionen, die auch hier bestehen, gelten an sich

nur, weil man zu der überlegenen Kunst der Vorgänger, insbesondere des

VIII. Die Ausgänge des Mittelalters. 211

großen Griechen, das höchste Zutrauen hat. Da aber beide Sphären doch von dem einen Gott umschlossen sind, der die natürHche auf die übernatürliche angelegt und für sie bestimmt hat, so muß schließlich auch die untere im Lichte der oberen angesehen werden und wirken die Grund- sätze, die hier gelten, auch dort. Insbesondere gilt das von dem ganzen Gebiet der sozialen Ethik, das ja auch im praktischen Leben der Regu- lierung der Kirche untersteht.

Vom Gebiete der Offenbarung ist die Vernunft zunächst nicht einfach ausgeschlossen. Sie kann die übernatürlichen Wahrheiten freilich nicht mehr a priori konstruieren, sondern nur durch die Autorität empfangen. Aber sie kann sie wenigstens nachträglich als angemessen und wider- spruchslos erweisen, ihre Anstöße entfernen und dadurch auch dem Fern- stehenden annehmbar machen. Erst am Ende des 13. Jahrhunderts drang besonders durch Duns Scotus (gest. 1308) der Eindruck durch, daß 0""*^-''^°'"* Dialektik und Vernunft notwendig andere Wege führen, als Glaube und Autorität. Und als zugleich mit Wilhelm von Occam (gest. um 1349) ^^^occLm die neue Erkenntnistheorie aufkam, die sich mit den bisherigen Grund- 'i" "■" '349)- lagen der Theologie nicht mehr vertrug, da fand die von ihm begründete nominalistische Theologie das Heil nur noch in dem Grundsatze, daß in allen übernatürlichen Fragen nur die Autorität entscheiden dürfe, weil hier die Vernunft zu ganz anderen Ergebnissen führe als die Offenbarung. So verwandte ein Teil der Theologen künftig allen Scharfsinn daran, zu zeigen, zu welchen glaubensfeindlichen Folgerungen die Vernunft führen müsse.

\T1I. Die Ausgänge des Mittelalters. In den beiden letzten Jahr- hunderten verschieben sich überall die Grundlagen der bisherigen Macht- verteilung wie Geistesrichtung vmd bilden sich neue Kräfte und Ver- hältnisse.

Zunächst auf politischem Gebiet. Der Untergang des starken Kaiser- ssni^en der pou-

'^ 00 tischen Macht

tums hat andere Staaten, vor allem Frankreich und England, um so mehr ^^^ Papsttums, emporsteigen lassen und überall den nationalen Eg^oismus entfesselt, der die ehemalige Einheit der abendländischen Christenheit immer mehr zer- setzte. An dem Versuch, die Ansprüche Gregors VII. und Innocenzens III. über alle Welt zu erneuern, ist Bonifaz VIII. 1303 gescheitert. Von da ab gleitet die politische Macht des Papsttums immer weiter herab.

Auf kirchlichem Gebiet dagegen ist es freier Herr, um so freier, je ^^'"^j'!,^^^!''''^''* mehr es schien, als ob ihm nur noch eine Seite an der Kirche in Betracht ^'^ Finanzen. käme, die finanzielle. Abgesehen von den weltlichen Patronaten, verfügt es durch seine „Provisionen" fast unbeschränkt über die Stellen und Pfrün- den aller Art, vergibt sie gegen schwere Taxen, erhebt von ihren Inhabern nach Bedürfnis Zehnten und schafft sich je länger je mehr in den Ab- lässen eine neue ergiebige GoldgTube. So wird es die erste Geldmacht der Welt, die alle anderen Geldmächte in Brot hält. Wie im 10. und

14*

2 12 Karl Müllf.r : Christentum und Kirche Westeuropas im Mittelalter.

II. Jahrhundert die Eigentümer ihre Klöster und Kirchen als Gutsverbände verschachert und ausgenutzt hatten, so behandelte jetzt das Papsttum die Pfründen fast der ganzen Welt als Renten, die man an Anhänger und Beamte vergibt, in den meisten Fällen ohne jede Rücksicht auf den Dienst, für den sie bestimmt waren. So schuf es sich die Mittel, ein un- übersehbares Heer von abhängigen Beamten in Rom und in allen Ländern zu halten und Unzählige in seinen gut bezahlten, für jedes Talent aus- sichtsreichen Dienst zu ziehen. Freilich hat nun diese ungeheuere Zentra- lisation an vielen Orten die höchste Erbitterung erzeugt, weil sie überall nur die fiskalischen und Machtinteressen gelten ließ, alle Stufen der Or- ganisation durchbrach und jede geordnete Verwaltung der einzelnen Ver- bände unmöglich machte. Aber die Staaten, auf deren Haltung doch alles ankam, taten nichts, um diese Praxis der Kurie einzuschränken, sondern sorgten nur dafür, daß sie einen möglichst reichlichen Anteil an den finanziellen Erträgnissen bekamen und daß die Päpste bei der Besetzung der vStellen ihre Wünsche berücksichtigten. Englische Nur in einem Land gingen die Dinge anders. In England haben seit

im 14. und Anfang des 14. Jahrhunderts Lords und Gemeine die alten, hier nie ver-

15. a r un er . g^gg^j^g^^ Grundsätzc Über das Kircheneigentum mit besonderer Kraft erneuert und die Könige gezwungen, sich ihrer anzunehmen. Das ganze 14. Jahrhundert hindurch werden die Gesetze erlassen, die den päpstlichen Provisionen und der päpstlichen Jurisdiktion namentlich in Pfründensachen zu Leibe gehen. Am Anfang des 15. Jahrhunderts ist die Herrschaft des Königs über die hohen Stellen ebenso festgestellt, wie die maßgebende Gewalt des Adels über seine Patronate. Die englische Kirche ist dem Papst im wesentlichen verschlossen.

Episkopalismus Noch eine andere Macht stellte sich seit dem 14. Jahrhundert dem

und l'apalismus. t i i i t^ i "i t >- i j

päpstlichen System entgegen, die theologische Doktrin über Kirche und Papsttum. In den Nöten der großen Kirchenspaltung, da sich seit 1378 jahrzehntelang zwei Päpste bekämpften und zugleich alle Schäden des Systems mit verdoppeltem Gewicht auf die Kirche drückten, griff man in Frankreich nach einer Theorie, die zuvor insbesondere Wilhelm von Occam in den kirchenpolitischen Kämpfen unter Ludwig- dem Bayer entwickelt hatte, um der Kirche die Selbsthilfe gegen das Papsttum zu ermöglichen. Nicht beim Papst, sondern bei der Kirche selbst, wie sie zuletzt durch die Summe aller ihrer größeren Institute und Verbände dargestellt und in der ökumenischen Synode vertreten ist, liegt die letzte und höchste Gewalt, Dem Papst kommt nur eine bevorzugte, aber fest beschränkte Gewalt zu. Die großen Reformsynoden von Konstanz (14 14 18) und Basel (1431 49) haben das zum Dogma erhoben. Die Päpste aber haben es sofort wieder mit aller Macht bekämpft, und jahrhundertelang rangen nun die beiden Sy- steme des Papalismus (Kurialismus) und Episkopalismus (Konziliarismus) mit- einander. Aber schon am Ende des Mittelalters war der Papalismus wieder im Vordringen, und 1870 hat er auf dem vatikanischen Konzil endgültig gesiegt.

VIII. Die Ausgänge des Mittelalters. 2 1 X

Vielleicht aus der Verbindung' dieser episkopalistischen Doktrin mit den Gaiiikanische

. . . -^ . . ,, Kirchen-

Grundsätzen der englischen Kirchenpolitik ist dann in Frankreich das System freihcitcn.

der gallikanischen Kirchenfreiheiten erwachsen. Als am Ende des 14. Jahr- hunderts das bisherige Bündnis zwischen Königtum und Kirche in die Brüche ging, übernahm man dort die englische Praxis als Programm einer allge- meinen Kirchenreform. Nur hat man sich dabei nicht auf das alte, in Frank- reich längst vergessene positive Recht berufen können, sondern nach dem Naturrecht gegriffen und danach die „ursprünglichen" Rechte der Kirchen gegen die usurpierte Gewalt des Papsttums vertreten. Auf diese Theorie gestützt, haben dann die Synoden von Kon.stanz und Basel versucht, die dic

. r, P . Reformsynoden

Zentralisation zu durchbrechen und den mittleren vStufen der kirchlichen <ies 15. Jahr- hunderts. Organisation, vor allem den Bischöfen und Kapiteln, wieder größere

Selbständigkeit und Verfügungsfreiheit zu geben. Aber die Kurie wie

die Staaten haben sich diesem Versuch entgegengestellt. Während sich

in England die Verhältnisse des 14. Jahrhunderts erhielten, eroberte sich Die Staaten

und die Kirchen

in Frankreich im Laute des 15. Jahrhunderts die Krone die entschei- am Knde des

^littclalters.

dende Stimme bei der Besetzung aller hohen Kirchenstellen, übte das Placet, ließ sich regelmäßig von Klerus und Mönchtum Steuern bewilligen, schuf sich in der „appellatio tanquam ab abusu" die höchste Gerichtsgewalt über den Klerus und überließ dem Papst nur eine Anzahl fest geregelter Einkünfte aus der französischen Kirche. Ähnlich ging es in Spanien unter dem katholischen Königspaar Ferdinand und Isabella und in einer Anzahl der kleineren Länder. So lenkten jetzt die Kurie und ihre pfründenbedürftigen Mitglieder ihre ganze Arbeit nach Deutschland, und die Reichsgewalt hatte weder den Willen noch die Macht, ihnen die Türen zu schließen. Nur die einzelnen Territorialgewalten, vor allem Fürsten und Städte, konnten durch Verträge oder eigenmächtiges Zugreifen für sich zum Teil statt- liche Vorteile über ihre Stifter und Klöster sichern, und aus den alten Rechten des Patronats und der Vogtei haben sich in Norddeutschland selbst an ehemaligen Reichsbistümern im kleinen ähnliche Zustände ent- wickelt wie in England und Frankreich, die Anfänge der neuen Landes- kirchen.

Noch an einem zweiten Punkte hat England am Ende des Mittelalters Katharcr und

Waldcnscr.

tief auf einen Teil der festländischen Kirchen gewirkt. Frühere häretische Bewegungen, wie sie seit dem 10. Jahrhundert in den Katharern in den romanischen Ländern, seit dem Ende des 12. Jahrhunderts in den Walden- sern auch in Deutschland immer bedrohlicher emporgekommen waren, hatte das Papsttum seit dem 13. Jahrhundert mit der fürchterlichen Waffe der Inquisition und mit Hilfe der Staatsgewalten fast völlig aus- gerottet, so daß sie im Geistesleben des Mittelalters kaum eine Spur hinterließen.

Aber in England entwickelten sich im letzten Viertel des 14. Jahr- wikiif * 'f M84)

hunderts neue geistige Kräfte, die nicht mehr verschwanden und schon und

vor der Reformation an einem Punkte die bisherige religiöse Einheit der 1369-1415).

21 A Karl Müller : Christentum und Kirche Westeuropas im ^littelalter.

abendländischen Kirche zerrissen. Johann von Wiklif, theologischer Professor in Oxford (gest. 1384), hatte als Vorkämpfer der Ansprüche, die Krone und Adel an das Kirchengut erhoben, begonnen, dann aber auf ältere, auch von den Waldensern vertretene, kirchliche Ideale, eine Kirche ohne festen Besitz, einen Klerus nach apostolischem Vorbilde mit armem Wanderleben zurückgegriffen, schließlich aber alle kirchlichen Institutionen, die nicht im Gesetze Gottes, der Heiligen Schrift, begründet seien, ebenso wie alle sakralen und regimentlichen Handlungen, die derselben Norm nicht entsprächen, für nichtig erklärt und damit Grundsätze aufgestellt, die Papsttum und Hierarchie, Kirchenrecht und Sakrahvesen in ihrem Grund erschütterten. In England selbst ist die Bewegung, die daraus entsprungen ist, nur in engen Grenzen geblieben; aber in Böhmen wurden Wiklifs Gedanken in einem Kreis tschechischer Gelehrten, in dessen Mittelpunkte bald Johann Huß (136g 141 5) stand, die furchtbare Waffe, mit der das tschechische Volk gegen das Papsttum und die bisherigen kirchlichen Institutionen ebenso wie gegen die alte überlegene Stellung des Deutschtums in Böh- men zu blutigem Kampf aufgerufen wurde (1419 ff.) Aus der hussitischen Revolution erstand die tschechische Xationalkirche, die getrennt vom Papst- tum und der katholischen Christenheit, unter der Herrschaft des Adels sich über den größten Teil Böhmens und Mährens erstreckte. Und aus ihr ist dann wieder die kleine Sondergemeinde der böhmischen Brüder ausgeschieden, die erste Kirche des Mittelalters, die ohne eigentliche Hierarchie und ohne viel sakrales Wesen nur mit einfachem Priestertum und enger Gemeinschaft ihrer Glieder ihren religiösen und sittlichen Idealen lebte.

Emporkommen Auch auf kirchlichem Boden ist mit der Entwicklung des Bürgertums

des Bürgertums.

ein neues Element eingetreten. Von Anfang an war es zum großen Teil auf Kosten der Kirchen emporgekommen. Die städtische Autonomie ist in den meisten Fällen den geistlichen Stadtherren abgerungen worden, und im Kampfe gegen die geistliche Steuerfreiheit und Gerichtsbarkeit haben allezeit die Städte vorangestanden. Das Patronatsrecht, das die Bürgerschaften und die verschiedenen Organisationsstufen der städtischen Gewerbe in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters in außerordent- lichem Umfang über die Kirchen und kleineren Heiligtümer, Stiftungen und Pfründen besaßen, brachte eine Menge geistlicher Personen in Ab- hängigkeit vom Bürgertum und machte es ihm möglich, auch in den kirch- lichen Kämpfen der folgenden Zeit eine entscheidende Rolle zu spielen, i.aicnkuitur. Vor allem aber schränkte die höhere Taienbildung, die sich seit

Kenaissancf. "~-

dem II. und 12. Jahrhundert langsam entwickelte, das frühere Monopol von Klerus und Mönchtum ein. Lesen und Schreiben, Kunst und Tech- nik, Latein und literarische Bildung drangen auch in dem Laienstand ein. Das geistige Leben verfeinerte sich, und an manchen Punkten waren schon vor der großen Entwicklung der Renaissance die geistlichen Stände

1

VIII. Dir Ausj^;inj;c des Mittelalters. 21^

von der Laionwelt erreicht und überflügelt. Mit Renaissance und Huma- nismus aber erhob sich in ganz Westeuropa eine einheitliche Bildung der höchsten Schichten, die in ihren ganzen Grundlagen, Motiven und Zielen aus dem Laienstand erwachsen und auf ihn zugeschnitten war. Sie stand in ausgesprochenem Gegensätze zu der bisherigen, ihrem Wesen und Ur- sprung nach geistlichen Kultur und kehrte zu der Stimmung zurück, die die alte Welt vor dem Zusammenbruch ihrer politischen, geistigen und sittlichen Kraft erfüllt hatte. Wohl nehmen Klerus und Mönchtum noch einige Generationen lang an ihr teil. Aber Führung und schöpferische Fähigkeit erweist in ihr bald nur noch der Laienstand. Die großen Künstler am Ende des Mittelalters sind überall, in Italien wie im Norden der Alpen, fast nur noch Laien. Die ganze Umformung der geistigen Eigenart, Bedürfnisse und Anschauungen droht die Kirche völlig aus ihrer bisherigen Stellung zu werfen. Auch in den Wissenschaften erfolgt ein mächtiger Umschwung, und vor allem eröffnen sich neue Bahnen in Religion und Theologie.

Die mächtige Entwicklung der Persönlichkeit und Individualität, die Der Humanis-

' . mus in der

die Renaissance überall mit sich brachte, hat bewirkt, daß sich der religiös Religiosität.

bedürftige Laie, der auf dem Boden der neuen Bildung stand, nicht mehr

mit einer Frömmigkeit begnügte, in der er immer unfrei und gebunden blieb

und es zu einer wirklichen, bewußten Gemeinschaft mit Gott nicht brachte.

Er verlangte nach einer Religion, die ihn auch im Verhältnis zu Gott frei

und sicher machte, die ihm in dem unmittelbaren Verkehr mit Gott alles

gäbe, wonach seine Seele verlangte. Die Grenze zwischen der religiösen

Oberstufe und der Massenreligion sollte verschoben werden, die Mystik

nicht mehr das Privilegium der Asketen sein. Dazu diente in Italien, wo

ja die Bewegung begonnen hatte, zunächst die neuplatonische Philosophie

und Mystik, die in der kirchlichen Theologie und Mystik längst ihre feste

Stelle gehabt hatte. Dann aber griff man zugleich nach Paulus und

Augustin, und der größte deutsche Humanist, Erasmus, ist außer auf Erasmus.

^ ._, . , (ca. 1466— 1536).

Paulus wesentlich auch auf den Jesus der Evangelien zurückgegangen und hat damit den Ausgleich zwischen den beiden Religionsstufen voll- endet, indem er im Neuen Testament eine Religiosität entdeckte, die so einfach war, daß nicht nur die humanistischen Aristokraten des Geistes, vsondern auch der schlichte Mann danach leben und sich einer Frömmig- keit erfreuen konnte, in der er alles hatte und doch selbständig seines Gottes sicher blieb.

Zugleich kündigt sich im Humanismus eine neue Epoche wie der all- Humauismus

... und Theologie.

gemeinen, so vor allem der kirchlichen Wissenschaft an. Die alten Über- lieferungen verlieren ihre Autorität, die bisherigen Größen ihr Ansehen. Aus der kritischen Stimmung der Vergangenheit gegenüber, aus dem ge- schichtlichen Sinn, der die Bewegung begleitet, erwächst die Erkenntnis, daß die Scholastik nicht, wie bisher für selbstverständlich gegolten hatte, die immer maßgebende Theologie und kirchliche Wissenschaft, sondern

2 1 6 Karl Müller : Christentum und Kirche Westeuropas im Mittelalter.

nur eine Epoche ihrer Entwicklung darstelle, und zwar eine Epoche bar- barischen Verfalls des ganzen geistigen Lebens, weit entfernt von den klassischen Zeiten der Religion wie der kirchlichen Schriftstellerei, des Neuen Testaments und der Väter. Damit ist die Bahn für einen un- geheueren Umschw^ung frei. Auch hier hat Erasmus das Größte getan. Ansätze Auch in den unteren Schichten des Volkes treten zumal in Deutsch-

kirchenfreicr . _

Frömmigkeit land Und England Spuren emer Religiosität auf, die sich von der Kirche losmacht oder ihr feindselig entgegentritt. Aus dem englischen Wiklifis- mus sind kleine Kreise hervorgegangen, die sich in stiller heimlicher Er- bauung an die religiösen Ideen des großen Reformers halten, und in Deutschland erinnert der mannigfach verbreitete Widerspruch gegen alles sakrale Priestertum ebenso an die schärfsten Schichten des Hussitentums, wie die drohende Erregung gegen die Kirche als die große soziale Macht, die jeder Änderung des gegenwärtigen Besitzstandes im Wege steht.

Stärke der Abcr allcs das ist doch nur eine Seite. Gerade am Ende des Mittel-

Kirche am Ende alters hat auch die kirchliche Frömmigkeit und die Energie kirchlicher

des Mittelalters. . . . i a r i

Arbeit wieder einen starken Auischwung genommen, nirgends mehr als in Deutschland. Die Reform der Klöster und Orden hat zeitenweise glänzende, nur nicht sehr nachhaltige Ergebnisse gehabt. Mit der Zahl der Kirchen und Pfründen hat sich auch die Zahl der Kleriker gewaltig vermehrt. Und wenn auch die große Masse dieser ebenso schlecht gebil- deten wie jämmerlich bezahlten „Meßpfaffen" ein ganz unzuverlässiges, auch sittlich minderwertiges Element darstellt, so ist doch das unaufhör- liche Anwachsen der geistigen Stiftungen ein Beweis, in welchem Maße das Leben des Volkes mit der Kirche verwachsen ist. Und auch das stete, von leidenschaftlichen Ausbrüchen begleitete Wachstum der volks- tümlichen Religiosität steht im großen ganzen in engem Zusammenhange mit dem kirchlichen Kultus und seinen Anstalten.

Ebenso ist das Einheitsbewußtsein der abendländischen Christenheit zwar durchbrochen, wurzelt aber immer noch tief Es hat nicht mehr die Macht, sich in politischen Unternehmungen durchzusetzen, aber es lebt auch nicht bloß in den Anschauungen der Theologen und Kirchenmänner. Das böhmische Staatswesen, das sich von der Einheit der katholischen Christenheit losgerissen hat, hat auch nach dem Sieg immer wieder gegen das ganze katholische Abendland um sein Dasein zu kämpfen gehabt. Und so bildet denn auch das Papsttum noch einen Machtfaktor, der nicht bloß für die politische Kombination in Betracht kommt und dem nicht einmal die entsetzliche Entartung der Renaissancepäpste Abbruch tun kann. Man unterscheidet zwischen der Institution und ihren Trägern. Das Papsttum gilt auch der Opposition als unentbehrlich: es soll nur im Sinne des Episkopalismus beschränkt werden. Auch die Hierarchie und die großen Orden stellen immer noch eine universale Organisation dar. So tief auch ihre einzelnen Gruppen in die nationalen Interessenkämpfe verflochten

VIII. Die Ausgänge des Mittelalters. 2 17

sein mögen, sie sind nicht nur durch reale Interessen, sondern auch durch dieselbe Bildung- und die ganze Fülle gemeinsamer Überlieferungen verbunden. Auch die soziale Macht der Kirche ist in allen Ländern noch gewaltig. Durch ihren Grundbesitz und ihre grundherrlichen Rechte ist sie mit der ganzen feudalen Organisation der Gesellschaft verwachsen. Durch ihren Klerus und ihr Mönchtum ragt sie tief in alle Schichten der Bevölkerung hinein. Mit ihrer Liebestätigkeit und ihren Stiftungen stellt sie immer noch so gut wie die einzige Organisation humaner Zwecke dar. Denn die städtische Armenpflege entwickelt erst ganz am Ende des Mittelalters ihre ersten Triebe.

Vor allem aber ist sie im großen ganzen immer noch die Inhaberin aller religiösen Kräfte und Heilmittel und gilt als solche. Ihr Verfall liegt vor aller Augen, und die eifrigsten Kirchenmänner klagen am schwersten darüber. Aber die Hoffnung auf Besserung bleibt doch lebendig, und alle Gebrechen erscheinen doch nur als Flecken an der Gemeinschaft, die nach wie vor als göttliche Stiftung und auch mit ihren hierarchischen Ordnungen als für die Ewigkeit bestimmt gilt. Die religiöse und kirch- liche Opposition hat bisher fast nirgends neue fruchtbare Gedanken erzeugt, die den großen Massen genügt und durch ihre überlegene Kraft ihnen festen Boden unter den Füßen gegeben hätte. Solange aber das nicht der Fall war, blieb alle Opposition ungefährlich. Der Sturz der mittel- alterlichen .Papstkirche konnte erst mit dem Augenblicke beginnen, da die Reformation mit ihren neuen religiösen Gedanken am Mittelpunkte einsetzte und alle vorhandenen Strömungen gegen den Bau führte.

Literatur.

Die Arbeit an der Erforschung des kirchlichen Mittelalters reicht schon ins 16. Jahr- hundert hinauf mit den großen kirchengeschichtlichen Streitwerken der Magdeburger Zenturien (1559—74) und vor allem ihres Gegners, des Kardinals Baronius mit seinen Annales ecclesiastici (1588 1607), die seit 1646 von Ravnaldus fortgesetzt wurden und je länger je mehr an den Schätzen des vatikanischen Archivs ihre einzigartige Quelle fanden. Die Hauptarbeit aber beginnt im 17. und 18. Jahrhundert. Hier haben die großen Gelehrten dieser Zeit, die Mauriner und Jesuiten (Bollandisten) , sowie einzelne Männer der römischen Kirche, daneben Anglikaner und Deutsche, vor allem das Quellenmaterial zusammengetragen und zu bearbeiten begonnen: Schriftsteller, Chroniken, Annalen und Urkunden, teils im all- gemeinen, was sich fand, teils für die einzelnen Länder und ihre Kirchen (z. B. Gallia christiana, Italia sacra u. ä.), teils für einzelne Gebiete der ganzen Kirche, die Leben der Heiligen (Acta Sanctorum), die Konzilien (Mansi u. a.), die Orden, die Liturgien u. a. Neben die Quellensammlungen, zum Teil mit ihnen verbunden, traten die gelehrten Be- arbeitungen, wiederum fast für alle diese Gebiete. Dazu für einzelne Institutionen wie das Pfründenwesen und damit einen großen Teil der kirchlichen \'erfassung (Thomassin, gest. 1697), das Bußwesen (MORIN, gest. 1659) u. a. gelehrte Darstellungen, im Stil dieser älteren Zeit, aber bis heute von ausgezeichnetem Wert. Während die Aufklärung dem Mittelalter besonders ungünstig gesinnt war und nur in wenigen Arbeiten, wie J. G. Planck, Geschichte der christlich - kirchlichen Gesellschaftsverfassung (1803 9), Werke von dauerndem Wert erzeugte, brachte ihm die Romantik besonderes Interesse entgegen. Aber die streng ge- schichtliche Forschung neuen Stils, die sich bald aus ihr entwickelte, kam viel mehr der politischen, der Rechts-, Literatur- und Kunstgeschichte zugute. Die Kirchengeschichte war zwar in Giesklers Kirchengeschichte mit vortrefiflichen Quellenauszügen bedacht , die zum Teil bis auf den heutigen Tag noch nicht genügend ausgeschöpft sind, und in F. W. Rett- BERGs Kirchengeschichte Deutschlands (2 Bde., 1846 u. 1848) war ein Werk begonnen, das den höchsten Anforderungen der Zeit an geschichtlicher Kritik und Forschung ent- sprach. Aber der frühe Tod seines Verfassers (gest. 1849) ließ seine Arbeit nur bis auf Karl den Großen kommen, und im übrigen war das Interesse derjenigen Theologen, die wirk- lich wissenschaftlich zu arbeiten verstanden, auf die alte Kirche und etwa die Reformations- zeit konzentriert. In den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts haben nur die Pro- pheten- und Heiligenbiographien Karl Hases in Jena und einzelne Arbeiten Döllingers auf die Höhe wissenschaftlicher Arbeit geführt. Und erst in den sechziger und siebziger Jahren beginnt mit H. Reuter u. a. das allgemeinere Interesse auch der Theologen an den kirchcngeschichtlichen Problemen des Mittelalters sich zu entwickeln. vSeither aber ist die Arbeit in allen Ländern und Lagern lebendig fortgeschritten und hat sich allen Gebieten zugewandt.

Geschieh teder abendländischen Kirche überhaupt: J.C. L. Gieseler, Lehrbuch der Kirchengeschichte Bd. i, 2*; Bd. 2, i*. 2*. 3*. 4'. K. H.\SE, Kirchengeschichte auf Grund akadem. Vorlesungen Bd. 1 und 2' (1885 und 1895}. ^^'- Möller, Lehrbuch der Kirchen-

Literatur.

2 ig

geschichte Bd. i' von H. v. ScnuntRT (1902;. 2- (1893). K. Müller, Kirchengeschichte Hd. I (1892), 2a (1902). H. V. SCHUHERT, (irundzüge der K.G. (1904). Die historischen Artikel der Ke;ilenzyklopädie fiir protest. Theologie und Kirche''.

Zu I. A. Harn.\CK, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten (1902). V. SCHULTZE, Geschichte des Unterganges des griechisch- römischen Heidentums. 2 Bde. (1887 und 92). G. 1$oissier, La fm du paganisme* (1902).

Zu 11 und 111. Für das fränkische Reich und Deutschland: A. Hauck, K. G. Deutsch- lands, bisher 4 Bde., bis zur staufischen Zeit (1887 flf.). - Kür die keltischen Inseln: H.Zimmer, Keltische Kirche (Rcalenzyklopädie für protest. Theologie und Kirche^ 10, 204 ff.). Fiir England und Frankreich existieren keine genügenden Darstellungen, ebensowenig für die östlichen Länder. Es muß daher im wesentlichen auf die Werke der politischen Ge- schichte verwiesen werden. Für die skandinavischen Kirchen: L. N. Helvec, Den danske kirkeshistorie til reformationen (1857 ff.). A. Chr. Bang, Udsigt over den norske kirkes historic under katholicismen (1887). H. Reutkrd.vhl, Den svenska kyrkans hi- storia 4. Bd. (1838). H. Hildebrand, Sveriges medeltid (1879 ff.).

Zu IV. Eigenkirchenw esen zuletzt: U. Stutz, Geschichte des kirchlichen Bcncfizial- wesens von seinen Anfängen bis auf die Zeit Alexanders III. Bd. i, 1 (1895). Cluny: E. Sackur, Die Cluniazenser, 2 Bde. (1892). Pseudisidor: Ausgabe von P. Hinschius (1863). Zu den neueren Verhandlungen über die Heimat der Fälschung s. G. LuRZ, Über die Heimat Pseudisidors (1898;. Investiturstreit: Im allgemeinen Hauck, K.-G. Deutschlands, Bd. 3 und 4; dazu G. Meyer von Knonau, Jahrbücher des Deutschen Reichs unter Hein- rich IV. und Heinrich V., bisher 5 Bde. (1890 ff.); über das Wormser Konkordat zuletzt D. Sch.^fer, Zur Beurteilung des W. K. (1905), wo die frühere Literatur angegeben ist. Päpstliche Theokratie: A. H.\UCK, Der Gedanke der päpstlichen Weltherrschaft bis auf Bonifaz VIII. (1904).

Zu y. Kultus: A. Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte ^, 3 Bde. (1894 ff.). L. DuCHESNE, Origines du culte chretien* (1898). E. Hatch, The influence of greek ideas and usages upon the cristian church' (1891), übers, von E. Preuschen, Griechentum und Christentum (1892). Die Forschungen von H. Usener, A. Dieterich, E. Maas, R. Wünsch u. a. über den Zusammenhang zwischen antiker und kirchlicher Religion. E. Lucius, Die An- fänge des Heiligenkults in der christlichen Kirche (1904;. N- BONWETSCH, Wesen, Entstehung und Fortgang der Arkandisziplin (Zeitschr. f. hist. Theol. 43, 203 ff. 1873). Buße: MORINUS, Commentarius historicus de disciplina in administratione sacramenti poenitentiae observata (Paris, 1651). H. Ch. Lea, A history of auricular confession and indulgences in the latin church. 3 Bde. (Philadelphia, 1896). Inquisition: H. Ch. Lea, A history of the inquisition of the middle ages (Newyork 1888) (französ. Übersetzung u. d. T. ; Histoire de l'inquisition au moyen age von S. Reinach (Paris 1900/2). Zu Franz von Assisi: K. Hase, F. v. A. Ein Heiligenbild. 1856 (Ges. Werke 5, 1). P. Sabatier, \'ie de St. P^angois d'A. Paris 1894. (Deutsche Übersetzung von M. L[lSCO] 1895.)

Zu V und \'I. Eine kritische Gesamtgeschichte der Mystik gibt es so wenig als eine solche der Askese und des Mönch tums. W. Preger, Geschichte der deutschen Mystik im Mittelalter, 3 Bde. (1879—93) und O- Zöckler, Askese und Mönchtum' (1897) genügen nicht. Die Anschauungen H. Weingartens über den Ursprung des Mönchtums im nachkonstan- tinischen Zeitalter (Zeitschr. f. K.-G. i 1876) sind heute überwunden; die Abhandlung selbst enthält noch manches \'ortreffIiche und hat stark auf die Forschung gewirkt. Die Einzel- literatur ist unübersehbar. Vgl. ZÖCKLER a. a. O. und Protest. Realenzyklopädie' 13, 214 ff. G. Kaufmann, Rhetorenschulen und Klosterschulen ... in Gallien während des 5. und 6. Jahrhunderts (Hist. Taschenb. 1869}. F. A. Specht, Geschichte des Unterrichtswesens in Deutschland ... bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts (1885). H. Denifle, Die Univer- sitäten des Mittelalters Bd. i (1885). G. Kaufmann, Die Geschichte der deutschen Uni- versitäten, bisher 2 Bde. 1888 und 95.

Zu VII. Dogma und Theologie: A. Harnack, Dogmengeschichte Bd. 3. F. LOOFS, Leitfaden der D.-G.* (1893). R. Seeberg, Lehrbuch der D.-G. Bd. 2 (1898).

2 20 Karl Müller: Christentum und Kirche Westeuropas im Mittelalter.

Zu VIII. J. LOSERTH, Geschichte des späteren Mittelalters von 1197 1492 (1903). Über Kirche und Staat am Ende des Mittelalters, namentlich die Entwicklung in Eng- land und Frankreich handelt vortrefflich J. Haller, Papsttum und Kirchenreform Bd. i (1903). Schisma: N. Valols, la France et le grand schisme d'occident 4 Bde. (Paris 1896 1902).

Für WiKLlF und Huss s. vor allem die Arbeiten Loserths, die in seinem vorhin ge- nannten Buch mit verzeichnet stehen.

Ablässe: H. Ch. Lea, A history of auricular confession and indulgences in the latin church Bd. 3 (1896). Th. Brieger in der Realenzyklopädie für prot. Theologie und Kirche' 9, 76ff. , wo die weitere Literatur. A. Schulte, Die Fugger in Rom, 2 Bde. (1904).

Renaissance und Humanismus: Die bekannten Werke von J. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance 2 Bde.^ (1896) und G. Voigt, Die Wiederbelebung des klassischen Altertums 2 Bde.* (i88of.).

KATHOLISCHES CHRISTENTUM UND KIRCHE WESTEUROPAS IN DER NEUZEIT.

Von Franz Xaver Funk.

Einleitung. Jede der verschiedenen christlichen Konfessionen erhebt mehr oder weniger den Anspruch, die wahre Form des Christentums zu besitzen, und je weiter sie in das Altertum zurückreichen, um so stärker sind sie von dieser Überzeugung erfüllt. Die griechisch - orientalische Christenheit gibt dies schon in ihrer vSelbstbezeichnung als orthodoxe Kirche zu erkennen. Nicht weniger beseelt dieses Bewußtsein die katho- lische abendländische Kirche, und demgemäß gelten ihr die Einrichtungen, auf denen ihr Wesen beruht oder sich ausgestaltete, als von Gott oder dem Stifter der Kirche angeordnet und unveränderlich. Man sah in diesem Lichte selbst solche Dinge an, die erst im Laufe der Jahrhunderte sich bildeten, indem bei ihrem verhältnismäßigen Alter und bei dem frühe- ren Mangel einer genügenden geschichtlichen Erkenntnis mit der Zeit leicht die Meinung entstehen konnte, sie beruhen, wie die Quadrages oder das vierzigtägige Fasten vor Ostern, auf apostolischer Anordnung, und sie seien göttlichen Rechtes, wie die verschiedenen Privilegien, die der Kirche und der Geistlichkeit allmählich zuteil wurden. Aus diesem Grund war die Kirche im allgemeinen auch stets bestrebt, das Überlieferte so viel als nur immer möglich zu erhalten; sie ist in ihrem ganzen Wesen kon- servativ. So sehr aber dadurch der Zusammenhang mit der alten Gestalt und Verfassung bewahrt wurde, so sehr wurde andererseits eine Reform erschw^ert, als gewisse Einrichtungen sich überlebt hatten, mehr als lästig und schädlich, denn als heilsam sich erwiesen; und wenn es auch an kleineren Reformen oder Versuchen dazu, indem wohl entsprechende An- ordnungen erlassen, aber nicht gebührend ausgeführt wurden, niemals fehlte, so kam es zu bedeutenden Maßnahmen tatsächlich nur aus Anlaß und unter dem Einfluß größerer Umwälzungen. Die Neuzeit kennt zwei derartige Ereignisse, die religiöse Neuerung, die im i6. Jahrhundert ein- trat und mit der man sie selbst gewöhnlich beginnt, und die französische

222 Franz Xaver Funk: Katholisches Christenlum und Kirche Westeuropas in der Neuzeit.

Revolution vom Jahre 1789. Dem entsprechend heben sich in der Ge- schichte der kathoUschen Kirche während dieses Zeitraumes zwei Stadien ab. In der ersten Periode verHert sie einen großen Teil ihres äußeren Besitz- standes und unterzieht sich einer zeitgemäßen Reform, während sie im wesentlichen die mittelalterliche Form bewahrt; in der zweiten erfolgt bei dem jetzt eintretenden politischen, staatlichen und sozialen Umschwung eine ziemlich weitgreifende Umgestaltung der Disziplin und der äußeren Rechtsordnung.

A. Von der Kirchenspaltung bis zur französischen Revolution.

Abfall und I. Das R c f o r m a t i o n sz 6 i t al t c r (15 17 1555). Umfaßte die Kirche

licscbränkunff

des ürnfangs. frühcr ganz Europa bis auf den der griechisch-orthodoxen Kirche angehö- rigen Osten, so sagte sich infolge der mit dem Auftreten Luthers im Jahre 1 5 1 7 beginnenden religiösen Bewegung eine Reihe von Völkern und Staaten von ihr los: Der Ordensstaat Preußen und ihm folgend Kurland, Livland und Estland, die skandinavischen Reiche Dänemark, Schweden und Norwegen, England und vSchottland, fast alle größeren weltlichen Staaten in Deutsch- land, der nördliche Teil der Niederlande oder Holland, der größere Teil der Schweiz. Mit den weltlichen Staaten gingen ihr in Deutschland nicht wenige geistliche verloren, zwei Erzbistümer und zwölf Bistümer. Irland geriet, wenn auch der größere Teil der Insel dem alten Glauben treu blieb, durch seine Zugehörigkeit zu England in die protestantische Macht- sphäre. Dazu kommen Verluste in Polen, Ungarn, Siebenbürgen und Frankreich, und sie blieben in letzterem Land auch noch zum Teil, nach- dem mit der Aufhebung des Ediktes von Nantes 1685 den Hugenotten die Ausübung ihrer Religion untersagt und das Bekenntnis des katholischen Glaubens verlangt worden war. Ihren Besitzstand bildeten hauptsächlich Italien, Spanien und Portugal, Frankreich, die südlichen Niederlande, die habsburgischen Länder, das Herzogtum Bayern, das Herzogtum Jülich- Cleve-Berg, das aber beim Aussterben der Herrscherfamilie i6og bereits seine Selbständigkeit verlor und nach langen Streitigkeiten durch den Erbvergleich vom Jahre 1666 zum Teil (Cleve, Mark, Ravensberg) an Brandenburg, zum Teil (Jülich und Berg) an die katholische Pfalz hei, eine Reihe von geistlichen Staaten in Deutschland, darunter die drei geistlichen Kurfürstentümer, Polen und Irland. Konzil von Trient Verlustc, wic sie damals eintraten, mußten die Aufmerksamkeit ernst- lich auf den inneren Stand der Kirche lenken. Schon seit zwei Jahr- hunderten fühlte man lebhaft die Notwendigkeit einer Reform, und seit dem 15. Jahrhundert widmeten sich Synoden dieser Aufgabe. Die Maß- nahmen, die getroffen wurden, entsprachen aber lange nicht dem bestehen- den Bedürfnis; sie gelangten auch nur ungenügend zur Ausführung, und so mahnte der jetzt erfolgende gewaltige Abfall eindringlich, das Ver- säumte nachzuholen. Papst Hadrian VI. (1522 1^ ließ auf dem Reichs-

A. Von der Kirchensiialtiini^' bis /.ur französischen Revolution. I. Das Reformations/.eitaltcr. ->->->

tag von Nürnberg 1522 das Reformbedürfnis ausdrücklich anerkennen und stellte ein allgemeines Konzil in Aussicht. Er hoffte mit seiner Er- klärung die Geister zu beschwichtigen und zum Einschreiten gegen Luther zu bestimmen. Die Erwartung ging nur wenig in Erfüllung, und bei seinem baldigen Tode ruhte der Konzilsgedanke zunächst in Rom. Seinem Nachfolger Klemens VII. (1523 34) flößte die Erinnerung an die Reform- synoden des 15. Jahrhunderts zu große Besorgnis für die Stellung des Papsttums ein, als daß er sich zu einem ernstlichen Schritt hätte ent- schließen können. Um so eifriger betrieb Kaiser Karl V. die Angelegen- heit, und beim nächsten Pontifikatswechsel nahm man auch in Rom wieder eine günstigere Stellung zu ihr ein. Paul III. (1534 49) schrieb das Konzil auf Pfingsten 1537 nach Mantua aus. Als aber der Papst der Sache näher trat, erhoben sich anderwärts Schwierigkeiten, sowohl gegen den in Aussicht genommenen Ort als gegen das Konzil selbst. Die Er- öffnung erfolgte erst im Jahre 1545, und zwar in Trient. Die lange Zeit, die es hierzu brauchte, zeigt die Schwierigkeit der Lage. Dieselbe äußerte sich auch im Gang des Konzils. So sehr man auch von seiner Not- wendigkeit überzeugt war, so sehr waren die Ansichten und Bestrebungen im übrigen geteilt. Die Kurie hatte sich nur widerstrebend auf Trient eingelassen; sie wünschte und betrieb stets eine Verlegung der Versamm- lung nach Italien, und als im Frühjahr 1547 das Peteschenfieber in Trient sich zeigte, gelang es ihr, das Vorhaben durchzusetzen. Das Konzil be- schloß, wenn auch nicht einstimmig, da hauptsächlich die Spanier pro- testierten, so doch in der Mehrheit von etwa zwei Dritteln die Über- siedlung nach Bologna. Bei dem energischen Widerstand des Kaisers ließ sich indessen die Maßregel nicht aufrecht erhalten, und im Frühjahr 1551, nachdem inzwischen Julius III. (1550 55), der bisherige Konzils- präsident del Monte, den päpstlichen Stuhl bestiegen, wurde die Tätigkeit in Trient wieder aufgenommen. Als ein Jahr später Moritz von Sachsen gegen Tirol vorrückte, trat eine zweite Unterbrechung ein, und sie währte noch länger als die erste, da die Ungunst der Zeit Verhältnisse sich nicht so bald hob, Marcell IL, der erste Nachfolger Julius' IIL, nur drei Wochen regierte und in Paul IV. (1555 59) wieder ein Papst folgte, der dem Konzil abgeneigt war. Erst unter dem Pontifikat von Pius IV. (155g 65) kam es mit Beginn des Jahres 1562 aufs neue zu einer Fortsetzung, und gegen Ende des Jahres 1563 fand der Schluß statt.

Gleich der äußeren war auch die innere Geschichte des Konzils eine Rcform-

.. , besi'hlüsse des

sehr bewegte. Über die Fragen, die zu erörtern waren, bestanden viel- Konziu. fach verschiedene Auffassungen, und es bedurfte öfters langer Verhand- lungen, bis es zu einer Verständigung und Entscheidung kam. Bei den Reformfragen spielte zudem das Interesse eine Rolle. Der römische vStuhl machte daher wiederholte Anstrengnngen, die Reform, wenigstens soweit sie die Kurie betraf, an sich zu ziehen, konnte aber doch nicht umhin, sie der Synode zu überlassen. Aber auch auf dieser herrschte vielfacher

2 24 Franz Xaver Funk: Katholisches Christentum und Kirche Westeuropas in der Neuzeit.

Widerstreit, und so begreift es sich, daß nicht alle Wünsche und Bedürf- nisse erledigt wurden. Der Kardinalpräsident Morone erkannte in seiner Schlußrede den Mangel selbst an. Immerhin kamen mehrere bedeutsame Beschlüsse zustande. Es wurden aufgehoben das Amt der Almosensammler oder Ablaßprediger, die Provisionen und Anwartschaften auf Kirchen- stellen, die mittelalterliche Sitte, Kinder mit der Verpflichtung zum Mönchs- stand dem Kloster zu übergeben, indem für die Profeßablegung ein Alter von wenigstens i6, bei Mädchen unter Umständen von 12 Jahren fest- gestellt wurde; die klandestine Ehe, indem nur eine vor dem Pfarrer und zwei oder drei Zeugen eingegangene Verbindung als gültige Ehe anerkannt wurde. Der Gottesdienst erhielt eine würdigere Gestalt, indem die ver- schiedenen abergläubischen Gebräuche, die sich im Laufe des Mittelalters mit ihm verbunden hatten, verboten, eine neue Ausgabe des römischen Missale angeordnet und in der Ritenkongregation eine höchste Instanz zur Beaufsichtigung des Kultus eingesetzt wurde. Indem die Errichtung von Seminarien vorgeschrieben wurde, ward für eine bessere Erziehung des Klerus, mit Anordnung von Konkursprüfungen für eine bessere Be- setzung der Pfarreien gesorgt. In zahlreichen anderen Anordnungen wur- den nur alte Kanones erneuert; während aber ihre Einschärfung im aus- gehenden Mittelalter vielfach unbeachtet geblieben war, kamen sie jetzt, wenn auch nicht alle, so doch zu einem beträchtlichen Teil zur Durch- führung, indem die neue und ernstere Lage der Kirche zu einer strenge- ren Handhabung der Disziplin führte. Der Kaiser Ferdinand I. und sein Schwiegersohn der Herzog Albrecht V. von Bayern unterbreiteten der Synode den Antrag auf Gestattung der Priesterehe und der Kommunion unter beiden Gestalten, und die Wünsche begreifen sich namentlich bei dem irenischen Bestreben des Kaisers, da auf die beiden Punkte von Seiten der Neuerung ein sehr großes Gewicht gelegt wurde und ohne ihre Gewährung an einen religiösen Ausgleich nicht zu denken war. Es wurde darüber auch zu Trient verhandelt; nach dem Schluß des Konzils wurde die Beratung in Rom fortgesetzt, und am 16. April 1564 in Breven an die Erzbischöfe von Mainz, Köln, Trier, Salzburg, Prag und Gran und an einige Bischöfe die Spendung des Laienkelches bewilligt, wenn die Empfänger im übrigen an die katholische Lehre sich halten und auch unter einer Gestalt das ganze Sakrament anerkennen. Das Indult behauptete sich aber nur einige Jahrzehnte, und die Priesterehe wurde gar nicht zugestanden, da das Zölibatsgesetz, so vielfach es auch tatsächlich mißachtet wurde, doch als solches zu weit in das Altertum zurückreicht, um, zumal nach dem Schluß des Konzils und durch den Papst allein, aufgehoben zu werden. Wenn es aber in diesen Punkten beim Herkommen blieb, so ist die Reformtätigkeit der Synode im übrigen eine beträchtliche. Nicht weniger wichtig war ihre dogmatische Wirk- samkeit, indem die katholische Lehre in den durch die Neuerung bedrohten Punkten festgestellt und damit etwaigen Zweifeln ein Ende bereitet wurde.

A. Von der Kirchcnspultunfj bis zur französischen Revolution. I. Das Reformationszeitaller.

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Das Konzil nimmt daher eine höchst bedeutsame Stellung ein; es bildete gewissermaßen den Grundstein der katholischen Kirche in der Neuzeit, und seine Wirkung äußerte sich sofort in dem stärkeren Selbstvertrauen und Einheitsbewußtsein, das jetzt an die Stelle der Depression und Zer- rissenheit der letzten Jahre trat.

Einen nicht geringen Anteil an diesem Um- und Aufschwung hat die jesuitenor.icn Gesellschaft Jesu, begründet durch den Spanier Ignatius von Loyola, der sich 1534 mit sechs gleichgesinnten Freunden zur Bekehrung der Un- gläubigen im heiligen Land oder, wenn dies nicht möglich wäre, zu jeder Mission nach Anweisung des Oberhauptes der Kirche verpflichtete und, als jener Plan an den Zeit Verhältnissen scheiterte, Predigt, Pastoration und religiösen Unterricht, besonders der Jugend, als Aufgabe übernahm, ohne übrigens die Heidenmission aufzugeben, und dafür in der Bulle Regi- mini militantis ecclesiae 1540 die päpstliche Genehmigung erlangte. In- dem sich der Orden rasch in erstaunlichem Maße vermehrte, so daß er bereits beim Tode des Stifters 1556 gegen 1000 Mitglieder in zwölf Pro- vinzen zählte und in den meisten größeren Städten Europas Häuser besaß, und auf die wissenschaftliche wie asketische Ausbildung seiner Mitglieder die größte Sorgfalt verwendete, führte er der Kirche eine Fülle von frischen und tüchtigen Arbeitskräften zu. Allmählich kam fast der ganze höhere Unterricht in seine Hände. Ignatius gründete noch selbst 1551 das Collegium Romanum, die Hauptunterrichtsanstalt der Gesellschaft, Gymnasium, Philosophie und Theologie umfassend, und 1552 das Colle- gium Germanicum, ein Seminar zur Heranbildung von tüchtigen deutschen Geistlichen. Indem der Orden die Glieder der Kirche belehrte und stärkte, hatte er sie auch gegenüber fremder Lehre zu schützen; das eine bedingt das andere. In Verhältnissen, wie sie im 16. Jahrhundert be- standen, galt es auch, Kreise, welche dem alten Glauben bereits mehr oder weniger verloren gegangen waren, für diesen so weit als möglich wieder zurückzuerobern, und die Jesuiten, Begeisterung und Eifer mit Tüchtigkeit paarend, leisteten auch in dieser Beziehung Erhebliches.

Gleichzeitig mit dem Jesuitenorden, zum Teil noch früher, entstanden weitere Orden. andere religiöse Gesellschaften, die zwar nicht zu derselben Bedeutung und Vertretung gelangten, immerhin aber um die Förderung des Klerus und die Pastoration des Volkes, Weckung des christlichen Sinnes und Belebung des katholischen Geistes nicht geringe Verdienste sich erwarben. Die bedeutendsten unter ihnen sind die Theatiner oder Kajetaner, ge- gründet 1524 durch Kajetan von Thiene und Bischof Peter CaraflFa von Theate, die Kapuziner, entstanden 1528 durch das Bestreben des Mino- riten Matthäus Bassi, die Stiftung des heiligen Franz von Assisi zu ihrer ursprünglichen Gestalt zurückzuführen, und ein selbständiger Orden seit 16 ig; die Oratorianer, Schöpfungen des heiligen Philipp Neri in Rom 1564 und Peters von Berulle, der nach dem Vorbild des italienischen Orato- riums röii eine ähnliche Gesellschaft in Paris gründete. Einige Gesell-

DiE Kultur der Gegenwart. I. 4. 1 1

2 20 Franz Xaver Fc.vk: Katholisches Christentum und Kirche Westeuropas in der Neuzeit.

Schäften suchten der religiösen und sonstigen Unwissenheit der Jugend zu steuern, indem sie Unterricht erteilten und vSchulen gründeten: die Väter der christlichen Lehre von Cäsar de Bus 1592, die Piaristen von Joseph Calasancza 1597. Andere widmeten sich der Fürsorge für die Armen und der Pflege der Kranken: die Ursulinerinnen von Angela von Brescia 1537, die Barmherzigen Brüder von Johann von Gott 1540, die Väter des guten Todes von Camillus de Lellis 1584; oder der Erziehung der Waisen, wie die Somasker von Hieronymus von Amiliani 1532. Der christliche Eifer und die hochherzige Gesinnung, die diese Gesellschaften im 16. Jahr- hundert ins Leben riefen, waren auch noch in der Folgezeit lebendig und fügten ihnen einige weitere Stiftungen in den nächsten Jahrhunderten an. Die hervorragendsten sind die Lazaristen oder Missionspriester von dem heiligen Vincenz von Paul 1624; die Redemptoristen oder die Kongregation des allerheiligsten Erlösers von dem heiligen Alfons von Liguori 1732; die Salesianerinnen von dem heiligen Franz von Sales und der heiligen Fran- ziska von Chantal 16 10; die Barmherzigen Schwestern von Vincenz von Paul 1633; die Englischen Fräulein, um die Mitte des 17, Jahrhunderts aus den Trümmern der Gesellschaft der Jesuitinnen der Engländerin Maria Ward hervorgegangen; die Schulbrüder von J. B. de la Salle 1680.

Gegen- II. Von der Gegenreformation bis zur französischen Revolu-

und tion (1555 1789). Die Erstarkung, welche die Kirche durch das Konzil von Trient und den Jesuitenorden erfuhr, äußerte sich in Deutschland als- bald, indem in manchen Gebieten, in denen die Neuerung bereits Eingang gefunden hatte, der katholische Glaube wiederhergestellt wurde. Die Geg^en- reformation, wie man später die Wendung nannte, weckte aber den Arg- wohn der Protestanten, und nach einiger Zeit ging- die Spannung zwischen den beiden Kirchen in offenen Kampf über. Der Krieg dauerte dreißig Jahre (1618 48). Der Plan des Kaisers Ferdinand IL, mit dem Restitutions- edikt vom Jahre 1629 den kirchlichen Besitzstand vom Jahre 1552 oder der Zeit des Passauer Vertrages wiederherzustellen, war nicht durch- zuführen, hatte vielmehr eine Erneuerung der Feindseligkeiten zur Folge, nachdem dieselben durch den Frieden von Lübeck 162g beendigt schienen. Im Westfälischen Frieden 1648 wurde der erste Januar 1624 als ent- scheidend für den kirchlichen Besitzstand festgesetzt. Die Waffen ruhten nun; der Krieg hatte aber zu lange gedauert und zu große Verheerungen angerichtet, um nicht noch geraume Zeit nachzuwirken. Unter diesen Umständen weist die katholische Kirche in Deutschland bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts nichts auf, was besonders bemerkenswert wäre. AufschwuiiK Dagegen entwickelte sich in Frankreich ein reiches Leben, nachdem

die religiösen Wirren daselbst durch Heinrich IV. mit dem Edikt von Nantes 1596 überwunden worden waren und das Land im Laufe des 17. Jahrhunderts einen großen Aufschwung nahm. Gleich der weltlichen Wissenschaft kam auch die kirchliche zu einer hohen Blüte. Fast alle

A.Von d.Kirchcnspallun;,' b.z. franz. llcvolutiun. IIA'on d.Gcfjonreformation b.z. franz. Revolut.

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Zweite der Theologie wurden mit einer bis dahin unbekannten Sorgfalt angebaut, Welt- und Orden.sgei.stliche beteiligten sich an der Arbeit, Die größten Verdien.ste erwarb sich die Benediktiner-Kongregation der Mauriner, 1618 errichtet und auf die wissenschaftliche Tätigkeit durch Dom d'Achery 1648 hingewiesen. Ihre Kirchenväter-Ausgaben behaupten ihren Wert zum großen Teil bis heute; die sog. Hilfswissenschaften der Ge- schichte sind eine Errungenschaft jener Zeit und hauptsächlich jener Kon- gregation, die Diplomatik eine Schöpfung Mabillons 1681, die Paläogfraphie ein Werk Montfaucons 1708. In den Bischöfen Bossuet von Meaux (f 1704), Fenelon von Cambrai (f 17 15), Flechier von Nismes (-{- 17 10) und Ma.ssillon von Clermont (f 1742) sowie in dem Jesuiten Bourdaloue (f 1704) erstanden Kanzelredner ersten Ranges,

Dasselbe Land sah auch die meisten und heftigsten theologischen und jansenisten- kirchenpolitischen Kämpfe, Der Jansenistenstreit spielte sich, wenn auch das Buch, das zu ihm den Anstoß gab, die unter dem Titel Augustinus sive doc- trina S. Augustini de humanae naturae sanitate aegritudine medicina adversus Pelagianos et Massilienses 1640 erschienene Monographie über die Gnaden- lehre Augustins, von dem niederländischen Bischof Kornelius Jansenius von Ypern ausging, vornehmlich auf seinem Boden ab und bewegte es mehr oder weniger zwei Jahrhunderte lang. Sofern es sich dabei um die Annahme der päpstlichen Entscheidungen handelte, die in der Angelegen- heit erflossen, besonders der Bulle Cum occasione 1653, in der fünf Sätze aus dem Werk des Jansenius als häretisch verworfen waren, und der Konstitution Unigenitus 1 7 1 1 , die zahlreiche Sätze aus dem Nouveau Testament avec des reflexions morales des Oratorianers Paschasius Quesnel verurteilte, einer Schrift, die nach der Ausgabe v. J. 1697 den Kampf aufs neue mit Macht entflammte, nachdem seit dem durch Papst Klemens IX. i()6g hergestellten Frieden wenn auch nicht eine völlige, so doch eine verhältnismäßige Ruhe geherrscht hatte, wurde durch den Streit auch das Verhältnis zum römischen Stuhl aufs empfindlichste berührt.

Nicht minder geschah dies durch die Erörterungen über den Umfang Die der päpstlichen Gewalt sowie die .Streitigkeiten über das Regalienrecht Freiheiten und und die Quartierfreiheit der Gesandten in Rom. Die größte Bedeutung kommt ersterer Kontroverse zu, Sie gelangte zwar erst durch den Rega- lienstreit zu ihrer vollen Entfaltung; die Fragen, um die es sich in ihr handelt, beschäftigten aber die Geister in Frankreich schon lange in höherem Grad. Die Steigerung der päpstlichen Gewalt begegnete hier schon im Mittelalter dem stärksten Widerstand; ebenso trat man ihr da- selbst am eifrigsten in der Neuzeit entgegen und verteidigte gegen sie die Rechte des Königtums und der Landeskirche, die gallikanischen Frei- heiten, wie man sich ausdrückte. Durch P, Pithou wurden diese Frei- heiten schon in der Heinrich IV. gewidmeten Schrift: Les libertes de l'eglise gallicane 1594 zusammengestellt; sie gpipfeln in den zwei Sätzen: Die Könige Frankreichs sind im Zeitlichen vom Papst unabhängig; die

15*

22 8 Franz Xaver Funk: Katholisches Christentum und Kirche Westeuropas in der Xeuzeit.

Gewalt des Papstes in Frankreich ist durch die Kanones beschränkt. P. Dupuy gab in den Traites et droits de l'egUse galHcane 163g und in anderen Schriften den Freiheiten eine historische Begründung. Da ein Teil der Theologen, besonders die Jesuiten und andere Ordensgeistliche, dem Papst eine Vollgewalt in der Kirche und auch eine Macht über die weltlichen Reiche, sei es eine direkte oder indirekte, zusprach, konnte es an Widerspruch nicht fehlen, um so weniger, als die gegenüber dem Papst in Anspruch genommene Freiheit mehrfach in eine übermäßige Abhängig- keit von der königlichen Gewalt überging. Andererseits behaupteten sich jene Ideen, und durch die bereits bestehenden oder in Bälde ausbrechen- den anderweitigen Streitigkeiten erhielt die Kontroverse neue Nahrung. Bei der Bedeutung, die sie hatte, nahm man auch auf der Seite des Hofes und der Regierung an ihr ein Interesse, und auf deren Drängen sprach sich die Sorbonne 1663 in sechs Sätzen über sie aus. Aus Anlaß des Regalienstreites befaßte sich die im Herbst 1681 zusammentretende General- versammlung des Klerus mit der Angelegenheit, und im Frühjahr 1682 kam es nach dem Entwurf des Bischofs Bossuet von Meaux zu den mit Die vier jenen sechs Sätzen im wesentlichen übereinstimmenden vier gallikanischen

gallikanischen . .

Artikel. Artikeln, nach denen i. die Fürsten m zeitlichen Dingen keiner kirchlichen Gewalt unterworfen sind, 2. die Vollgewalt des apostolischen Stuhles durch die Konstanzer Dekrete über die Autorität der allgemeinen Konzilien be- schränkt ist, 3. die Ausübung der päpstlichen Gewalt durch die kirch- lichen Kanones bestimmt ist und die Grundsätze und Gebräuche der gallikanischen Kirche in Kraft bleiben, 4. der Papst in Glaubenssachen zwar den vorzüglichsten Anteil, ohne den Konsens der Kirche aber nicht ein irreformables Urteil hat. Der König traf Anstalten, die Artikel zur allein- gültigen Lehre in Frankreich zu erheben. Da dies zugleich eine Achtung der entgegenstehenden römischen Lehre war, konnten die in dieser Rich- tung erlassenen Dekrete nicht aufrecht erhalten werden. Die Artikel selbst aber behaupteten sich. Sie wurden wohl in Rom und durch einen Teil der Theologen verworfen; indessen gelang es nicht, sie zu überwinden und zu beseitigen, und im 18. Jahrhundert machte sich die bezügliche Lehre mit Nachdruck auch in Deutschland geltend. stimmunRin Durch das Wiener Konkordat 1448 war das Verhältnis der deutschen

tvbronius(i763). Kirche zu Rom in einer Weise gereg'elt worden, die auf Jahrhunderte maß- gebend sein sollte. Aber trotz seiner langen Dauer befriedigte der Aus- gleich innerlich wenig. Schon in der nächsten Zeit wurden wiederholt Beschwerden gegen die Kurie erhoben; mit der religiösen Bewegung im 16. Jahrhundert steigerte sich die Unzufriedenheit, und nachdem sie durch die eintretende Glaubenss])altung eine Zeitlang in den Hintergrund ge- drängt worden war, machte sie sich aufs neue bemerklich. Im Jahre 1673 fand sie Ausdruck in einer Beschwerdeschrift der geistlichen Kurfürsten, im Jahre 1763 in einem Buch, das der Trierer Weihbischof Nikolaus von Hontheim unter dem Pseudonym Justinus Febronius und unter dem Titel:

A. Von d. Kirchenspaltung; b. z. fran/,. Revolution. II. Von d. Gegenreformation b. z. franz. Rcvolut. 2 2 Q

De Statu ecclesiae et legitima potcstate Romani pontificis liber sinjrulari.s ad reuniendos dissidentes in religione Christianos compositus, veröffent- lichte. Darin wird im Anschluß an die gfallikanischen Grundsätze die Verfassung- der Kirche auf ihren Bestand im christlichen Altertum zurück- geführt und die Forderung gestellt, die Rechte, die dem römischen Stuhl erst im Mittelalter und insbesondere durch Pseudoisidor zugekommen seien, namentlich die Bestätigung und die Absetzung der Bischöfe, seien an den Episkopat zurückzugeben, bezw. von diesem zurückzunehmen. Die Forderung ging zu weit, um nicht auf Widerstand zu stoßen; eine Ent- wicklung und ein Besitzstand von Jahrhunderten läßt sich nicht so leicht beseitigen. Die Schrift w^urde in Rom sofort 1764 auf den Index gesetzt und von zahlreichen Gelehrten bekämpft. Wenn sie aber keinen ent- sprechenden Erfolg hatte, so wirft sie auf die Stimmung der Geister in der katholischen Welt ein bedeutsames Licht; sie erschien in mehreren Auflagen und wurde in Übersetzungen über die Hauptländer der katho- lischen Christenheit verbreitet. Die Weisung Roms, gegen sie ein- zuschreiten, wurde nur teilweise befolgt. Die geistlichen Kurfürsten ließen durch Bevollmächtigte unter dem Vorsitz Hontheims 176g in Koblenz dreißig Beschwerden gegen den römischen Stuhl zusammenstellen, die im wesentlichen den febronianischen Grundsätzen entsprachen. Als die Er- richtung einer Nuntiatur in München 1785 ihre Besorgnisse aufs neue er- regte, ließen sie in Verbindung mit dem Erzbischof von Salzburg im Bad Ems 1786 ihren Forderungen in 27 Artikeln Ausdruck geben. Die Emser Emscr

. . -r^ . , . - -^ Punktation

runktation führte so wenig zu einem Ergebnis als die früheren Bestre- (1786). bungen. Sie hatte nicht bloß Rom zum Gegner, sondern auch einige Bischöfe, die fürchteten, das Wachstum der Rechte der Metropoliten werde sie nur in um so größere Abhängigkeit von diesen bringen, und manche der Forderungen an sich übertrieben fanden. Als in Bälde die französische Revolution ausbrach, lenkten Trier, Köln und Salzburg ein, und bei dem gewaltigen Umschwung, der sich in Bälde nach allen ^Seiten hin zu vollziehen begann, mußte auch Mainz auf seine Bestrebungen ver- zichten.

Nach der Wiederherstellung der alten Kirchenverfassung wollten die Verminderung

j 1 T^ /- r< x~i ^^^^ Feiertage.

deutschen Erzbischofe zur Verbesserung ihrer Sprengel schreiten. Das Vorhaben unterblieb, da die Voraussetzung nicht eintrat, beweist aber, wie man aufs neue das Bedürfnis einer Reform lebhaft fühlte. Im übrigen war der Reformgedanke stets mehr oder weniger lebendig, und nach dem, was über die Tätigkeit der Synode von Trient zu bemerken war, konnte es kaum anders sein. In einem Punkt kam es auch zu einer be- deutenden Tat. Die Feiertage hatten sich im Laufe des Mittelalters in einem Maß vermehrt, daß schon damals wiederholt sich Klagen über ihre zu große Zahl vernehmen ließen, indem sie den Armen den Unterhalt erschweren und bei der Wirkung des Müßigganges statt dem Guten viel- fach dem Bösen dienen, in einigen Ländern auch eine kleine Verminde-

230 Franz Xaver Funk: Katholisches Christentum und Kirche Westeuropas in der Neuzeit.

rung vorgenommen wurde. Der Mißstand wurde mit der Zeit allgemeiner und tiefer empfunden, und man suchte im 16. Jahrhundert da und dort einigermaßen Abhilfe zu treffen, so auf dem Fürstentag zu Regensburg 1524 und auf der Provinzialsynode von Bordeaux 1583. Die nächste Zeit brachte zwar noch einmal eine kleine Vermehrung, indem durch den rö- mischen Stuhl 162 1 das Josephsfest und 1708 das Fest der unbefleckten Empfängnis Maria zu g-ebotenen Feiertagen erhoben wurde. Auf der an- deren Seite erfolgten jetzt aber in verschiedenen Ländern ernstlichere Schritte in der entgegengesetzten Richtung, Auf Anregung des Ministers Colbert empfahl Ludwig XIV. den Bischöfen seines Reiches die Besei- tigung der weniger notwendigen Feiertage; Erzbischof Harlay von Paris hob infolgedessen 1666 siebzehn Feste auf, und ähnlich verfuhren mehrere andere Prälaten Frankreichs. Die Provinzialsynode von Tarragona 1727 stellte an den apostolischen Stuhl die Bitte, es möchten außer den Sonn- tagen und dem zweiten Feiertag von Ostern und Pfingsten als Feiertage im strengen Sinn nur die Feste des Herrn (Geburt, Beschneidung, Epi- phanie, Himmelfahrt, Fronleichnam), fünf Marienfeste (Unbefleckte Emp- fängnis, Geburt, Lichtmeß, Verkündigung, Himmelfahrt) und sechs weitere Heiligenfeste aufrechterhalten werden, an den übrigen bisherigen Festen, etwa zwanzig, nach dem Anhören der Messe aber die Arbeit gestattet werden, und Benedikt XIII. genehmigte 1728 den Antrag. Der Vorgang fand bald anderwärts Nachahmung, und der Schritt führte zugleich weiter. Für die österreichischen Länder wurden unter Maria Theresia 1753 vier- undzwanzig Feste in jener Weise abgeschätzt, 1771 die halben Feiertage zu ganzen Werktagen gemacht. Ahnliches geschah in Bayern unter Maximilian Joseph III. im Jahre 1772, in Kurtrier unter Klemens Wenzes- laus (1768 181 2) und wohl in den meisten katholischen Staaten Deutsch- lands.

Landesfürstiicho Die Reform wurde durch die kirchlichen Organe, bezw. den rö-

mischen Stuhl angeordnet; der Anstoß ging aber zumeist, vielleicht überall, von der weltlichen Behörde aus. Sinn und Bestreben der Geistlichkeit, namentlich der leitenden Kreise, war zu sehr auf Erhaltung des Alten und Hergebrachten gerichtet, als daß sie in gebührender Weise die Initiative hätten ergreifen mögen. Und wie bezüglich der Feienage, so stand es in anderen Dingen. Die Landesfürsten sahen sich daher noch zu weiteren Schritten veranlaßt. Besonders eingreifend sind die Reformen, die in den österreichischen Ländern getroffen wurden, unter Maria The- resia 1740 80 und noch mehr unter Joseph IL 1780 90. So bemerkens- wert sie indessen an sich sind, so wurden sie doch bald durch weit größere überholt. Wir können sie deshalb hier auf sich beruhen lassen. Dagegen ist zunächst noch eines anderen EreigTiisses, das sich in der- selben Zeit vollzog, zu gedenken.

Aufhebung des Der Jesuitetiordeu erfreute sich wie in seinen ersten Jahren so auch

^^"(1773)^ ^"^ in der Folgezeit eines großen und stetigen Wachstums. Im Jahre 1680

A. N'üii d. Kirchcnsp;iUun{,' b.z. franz. Revolution. II. Von d. Gegenreformation b.z. franz. Rcvolul. 23 I

zählte er 10581, 1750 22787 Mitglieder, die Hälfte Priester. Mit dem Wachstum steigerte sich seine Tätigkeit. Nach und nach kamen fast alle höheren Schulen der katholischen Welt in seine Hand. Die Erscheinung beweist ebenso seine Energie wie das Vertrauen, das ihm zuteil wurde. Die Fürsten wählten fast allenthalben ihre Beichtväter aus seiner Mitte. So gelangte er zu einem Einfluß auf Kirche und Staat, wie ihn noch kein Orden besessen hatte. Die Stellung war aber nicht ohne Gefahren. Sie weckte in ihm ein hohes Selbstbewußtsein, und er zeigte seine Eigen- mächtigkeit bisweilen auch gegenüber dem apostolischen Stuhl, nament- lich in den Missionen von Indien und China, wo er sein Akkommodations- verfahren auch nach seiner Verwerfung durch die oberste Kirchenbehörde noch längere Zeit fortsetzte. Noch mehr machte er seine Stellung gegen- über den anderen kirchlichen Kreisen geltend. Im Kampfe gegen theo- logische Schulen und Parteien war er nur zu sehr selbst Partei; im Jansenistenstreit betätigte er einen Eifer, der weithin verletzend wirken mußte. So erstanden ihm auch zahlreiche Gegner. Die Mängel und Fehler wurden zwar reichlich durch die großen Verdienste aufgewogen; aber sie boten den Gegnern immerhin eine Waffe, und als nach der Mitte des i8. Jahrhunderts in deren Reihe die leitenden Persönlichkeiten in mehreren Staaten eintraten, erhob sich ein Sturm, der sich sofort zu einem Vernichtungskampf gestaltete. Die Feindseligkeiten begannen unter dem Ministerium Pombal in Portugal; die Jesuiten wurden nach einigen vorausgehenden Maßregeln 1759 aus dem Lande ausgewiesen. Im Jahre 1764 kam es zur Auflösung des Ordens in Frankreich. Klemens XIII. suchte demselben nun zwar mit der Bulle Apostolicum pascendi 1765 zu Hilfe zu kommen, indem er ihm aufs neue die Approbation erteilte und ihn gegen die gehässigen Beschuldigungen in Schutz nahm, denen er in der letzten Zeit ausgesetzt gewesen war. Die Bewegung wurde aber da- durch nicht aufgehalten; sie dehnte sich vielmehr in den nächsten Jahren über die Königreiche Spanien und Neapel und das Herzogtum Parma aus. Die bourbonischen Höfe wußten sogar noch ein Größeres durch- zusetzen; auf ihr Drängen wurde der Orden durch Papst Klemens XIV., den vormaligen Franziskaner und Kardinal Lorenz Ganganelli, in dem Breve Dominus ac redemptor noster 1773 auch kirchlich aufgehoben. Die katholischen Fürsten vollzogen das Dekret. Friedrich II. von Preußen und Katharina IL von Rußland verboten aber seine Promulgation, und während der Orden in Preußen ebenfalls bald aufgelöst wurde, bestand er wenigstens in Rußland fort, bis er durch Pius VII. in der Bulle Sollicitudo omnium 18 14 wiederhergestellt wurde.

Die Geschichte des Papsttums bietet in der Zeit bis zur französischen Das Papsttum. Revolution für sich oder abgesehen von dem, worin sie sich mit der all- gemeinen Geschichte der Kirche berührt, w^enig Bemerkenswertes dar. Es genügt, zwei Punkte zu erwähnen. Suchten die größeren Mächte be- reits gegen Ende des Mittelalters bei der Papstwahl einen ihrem Interesse

(lyöo 1790).

2 22 Franz Xaver Funk: Katholisches Christentum und Kirche Westeuropas in der Neuzeit.

entsprechenden Einfluß auszuüben, so verfolgten sie seit dem 16. Jahr- hundert bei der Schärfung der poUtischen Gegensätze dieses Ziel noch mehr, und es bildete sich für die katholischen Großmächte, den Kaiser, Exklusive. Frankreich und Spanien, das Recht der Exklusive oder die Befugnis, einmal in einem Konklave gegen einen Kandidaten ein Veto einzulegen. Nepotismus. Der aus dem Mittelalter ererbte Nepotismus ferner dauerte im allgemeinen bis zum Ende des 17, Jahrhunderts ungeschwächt fort, wo die Bulle Ro- manum decet pontificem von Innocenz XII. 1692 dem allseitig und tief beklagten Übelstand wenigstens als System und in seiner früheren Größe ein Ende bereitete, wenn seine Erneuerung in einzelnen Fällen und in geringerem Maße auch noch nicht zu verhindern w^ar. Die Reformen Die Reformen des Konzils von Trient waren nicht unbedeutend. Wie

Maria Theresias . . , •• t •• i i i i -n

(1740— 1780) sie aber im einzelnen gewürdigt werden mögen, wurde doch der Besitz- josephs II. und Rechtsstand der Kirche im wesentlichen durch sie nicht berührt. Einige Schmälerungen erfuhr derselbe wohl später in einigen Ländern. In Österreich wurde z. B. unter Maria Theresia die Steuerfreiheit des Klerus aufgehoben; Joseph IL brach mit der Vergangenheit, indem er den Lutheranern und Reformierten sowie den nichtunierten Griechen die bürgerlichen Rechte einräumte und mit einigen Beschränkungen Religions- übung gestattete. Dies waren aber nur vereinzelte Erscheinungen. Ein größerer und eigentlicher Umschwung begann in dieser Beziehung mit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Die gewaltigen politischen und staat- lichen Änderungen, die jetzt eintraten, hatten auch eingreifende kirchliche zur Folge. In dem modernen Staat, der sich allenthalben nach und nach dem mittelalterlichen gegenüber zu bilden anfing, schwanden mit den übrigen auch die kirchlichen Privilegien; das gleiche Gesetz gilt für den Geistlichen wie für den Laien. An die Stelle des religiösen Zwanges trat die Gewissensfreiheit, an die Stelle der Staatsreligion die Kultfreiheit oder wenigstens das Recht der Religionsübung für die christlichen Haupt- konfessionen. Der römische Stuhl bemühte sich zwar nach Kräften, den alten Stand zu bewahren, und die neue Ordnung wurde von ihm nie eigentlich anerkannt; sie brach sich ciber mit solcher Gewalt Bahn, daß sie nicht hintangehalten und ihr wenigstens die Duldung nicht versagt werden konnte. Die Bewegung ging von Frankreich aus.

B. Von der französischen Revolution bis zur Gegenwart. Französische I. Die Kirchc iu Frankreich. Die große Revolution, die in diesem

Revohition . . r i i i i i

(1789-1795). I^and im Jahre 178g ihren Anfang nahm, zog bei der bisherigen engen Verbindung von Staat und Kirche naturgemäß auch letztere in Mitleiden- schaft, um so mehr, als es auch in ihr manches zu verbessern gab und die Geistlichkeit zu den privilegierten Ständen zählte, deren Vorrechte entweder fallen oder neu geregelt werden sollten, und wie in der bürger-

B. Von der französischen Revolution bis zur (jegcnwarl. I. Die Kirclie in l-rankrcich.

233

liehen Ordnung-, so führte der Kampf, der darob entstand, auch in der religiösen in Bälde zu einem völligen Umsturz. Mit der Aufhebung der Feudallasten im August 1789 fiel sofort der seit einem Jahrtausend be- stehende Kirchenzehnte, die gleichzeitige Erklärung der Menschenrechte enthielt die Gewissens- und Kultfreiheit. Um bei der großen Finanznot, die zu der Umwälzung den nächsten Anstoß gegeben, eine baldige Er- leichterung zu gewinnen, wurde im nächsten Monat das entbehrliche Kirchensilber in Anspruch genommen, zu einer weiteren Abhilfe am 2. November das gesamte Kirchengut der Nation zur Verfügung gestellt. Im Anfang des nächsten Jahres wurden die Orden und Kongregationen beiderlei Geschlechts für aufgehoben erklärt und den Religiösen der Aus- tritt aus den Klöstern erlaubt; die Gesellschaften, die dem öifentlichen Unterricht und dem Dienste der Nächstenliebe sich widmeten, sollten zwar bis auf weiteres fortbestehen, und die Religiösen, die ihrem Berufe getreu bleiben wollten, ihr Leben fortsetzen dürfen; die Gnade kam ihnen aber nur kurze Zeit zu, indem die Klöster 1792 ganz aufgehoben wurden. Wie der Staat, so sollte auch die Kirche eine neue Verfassung erhalten, und im Sommer 1790 kam dieselbe unter dem Titel Constitution civile du Constitution

. . civile du clcrge

clerge zustande. Es wurde bestimmt, daß die neue politische Einteilung (1790). des Landes auch für die Kirche maßgebend sein und jedes Departement eine Diözese bilden, daß ebenso die Pfarreien neu umschrieben und die Kanonikate, Präbenden, Kaplaneien, überhaupt alle Institute und Be- nefizien, die in der neuen Organisation keine Stelle haben, beseitigt werden sollen. Infolge dessen wurden die 134 Bistümer, die das König- reich, Korsika inbegriffen, bisher zählte, auf 83 reduziert. Die Besetzung der Kirchenstellen sollte ferner nach der Disziplin des christlichen Alter- tums durch Wahl erfolgen, die Wahl des Bischofs durch die Personen, welche die Mitglieder der Departementsversammlung zu ernennen hatten, die Institution durch den Metropoliten; dem Papst sollte der neue Bischof seine Erhebung anzeigen und den Wunsch ausdrücken, mit ihm als dem sichtbaren Haupt der Gesamtkirche Gemeinschaft zu unterhalten. Nach dem Dekret vom 27. November 1790 sollte die neue Verfassung von allen Geistlichen in öffentlichem Kirchendienst beschworen werden. Sie griff aber zu tief in die bestehenden Verhältnisse ein, um allgemein angenom- men zu werden. Nur vier Bischöfe und drei Weihbischöfe leisteten den verlangten Eid. Der niedere Klerus zeigte sich willfähriger; doch lehnte auch von ihm die große Mehrheit, etwa drei Viertel, den Eid ab. Die Nationalversammlung bestand trotzdem auf ihrem Werk. Die Folge war ein weitgehender religiöser Riß und, da die Zivilkonstitution auch in Rom verworfen wurde, eine schismatische Stellung der neuen Kirche. Den eid- weigernden Geistlichen wurde bald auch Gehalt und Pension entzogen und schließlich selbst das Verbleiben im Lande verboten, so daß gegen 40000 in die Fremde wanderten. Der Umsturz der Verfassung führte auch zu einer Lockerung der Disziplin. Von den konstitutionellen Geistlichen

2 34 l'RA^'^ Xaver Funk: Katholisches Christentum und Kirche Westeuropas in der Neuzeit.

schritten allmählich viele zur Ehe, im ganzen etwa 2000, darunter selbst

einige Bischöfe. Die Entwicklung war übrigens noch nicht am Ende.

Kultus der Ver- Nachdem 1792 das Königtum abgeschafft worden war, wurde 1793 das

nunft; Unter- . .

drückung des Christcutum beseitigt, mdem unter dem Titel des Kultus der Vernunft

Christentums.

der Atheismus proklamiert, jeder andere Kult verboten und die Kirchen für ihn geschlossen wurden. Von der Freiheit, die eines der Losungs- worte am Anfang der Bewegung war, kam man so zur Tyrannei gerade auf dem Gebiet, auf dem der Zwang am unnatürlichsten ist. Die Ausschrei- tung war zu ung'eheuerlich, um nicht Widerstand hervorzurufen. In der Tat wurde alsbald ein Dekret gegen die religiöse Bedrückung erlassen. Als die Revolution im Frühjahr 1794 einen Teil ihrer eigenen Kinder verschlang und Robespierre die Führung erlangte, lenkte man noch weiter ein, indem man wenigstens ein höchstes Wesen und die Unsterblichkeit der Seele anerkannte und einen dementsprechenden nationalen Kult an- Erneuerung der ordnete, 1795 die Kultfreiheit wieder so weit zur Geltung brachte, daß

V Iff 'Vi 'f i I y yj c_3 /

(1795)- auch für den christlichen Gottesdienst Raum war, den Gemeinden auch die noch nicht veräußerten Kirchengebäude, die am ersten Tag des zweiten Jahres der Republik, am ii. September 1793, in ihrem Besitz waren, zur Benützung unter Aufsicht der Behörden überließ. Zwar fehlte es auch fortan nicht an religiösen Bedrückungen. Immerhin konnte aber von jener Zeit an, und zwar von den Geistlichen beider Ordnungen, der christ- liche Gottesdienst wiederhergestellt werden, und im Jahre 1798 war er bereits in 40000 Gemeinden wieder in Übung. Zwei Jahre später leitete Napoleon Bonaparte als erster Konsul die Verhandlungen ein, die zum Konkordat vom Jahre 1801 führten, das der konstitutionellen schismatischen Kirche ein Ende bereitete und mit den gleichzeitig veröffentlichten Orga- nischen Artikeln die Grundlage der Kirche Frankreichs bis zur Gegen- wart ist.

Konkordat Die Tradition forderte, die Kirche in ihren alten Stand wiederherzu-

(1801).

stellen. Allein so ereignisreiche und inhaltsschwere Jahre, wie sie Frank- reich in der letzten Zeit gesehen, ließen sich nicht einfach aus der Ge- schichte ausstreichen; die neue Kirche mußte eine erheblich veränderte Gestalt erhalten. Das Kirchengut verblieb den nunmehrigen Besitzern; daher mußte der Staat, der es eingezogen und wieder veräußert hatte, für den Unterhalt der Geistlichen eintreten. Ebenso konnten die alten Diözesen nicht mehr erneuert werden; bei der neuen Zirkumskription, die stattfand, wurde die Zahl der Sprengel sogar noch mehr vermindert, in- dem trotz der Erweiterung der Landesgrenzen nur sechzig Bistümer errichtet wurden, darunter zehn Erzbistümer. Die katholische Religion ließ sich ferner nicht mehr in die Stellung einer Staatsreligion einsetzen; man begnügte sich mit der Erklärung", sie sei die Religion der großen Mehrheit der Franzosen. Der Grundsatz der Gewissensfreiheit und Kult- freiheit blieb in Geltung, und der römische Stuhl mußte ihn ertragen, wenn er ihn auch bei Gelegenheit an sich verurteilte. Der Kirche wurde

B. Von der französischen Revolution bis /.ur fiefjcnwart. I. Die Kirche in I'"rankreich. 2>S

ferner freie Religionsübung zugesichert, die öffentliche Ausübung aber an die polizeiUchen Bestimmungen g'eknüpft, welche die Regierung für die öffentliche Ruhe für notwendig halte, und nach den Organischen Ar- tikeln (45) war in Städten mit Gotteshäusern für verschiedene Kulte keine religiöse Zeremonie außerhalb des Gotteshauses gestattet. Die Bischöfe erhielten das Recht zur Besetzung der Pfarreien, aber mit der Beschrän- kung, daß die Kandidaten durch die Regierung genehmigt würden. Sie durften auch ein Kapitel an der Kathedrale und ein Seminar für ihre Diözese errichten; der Staat übernahm indessen keine Verpflichtung zur Dotierung, und die übrigen Kirchenstellen, die der Revolution zum Opfer gefallen waren, blieben beseitigt. Von den alten Feiertagen wurden, nach einem Erlaß des päpstlichen Legaten Caprara 1802, außer den Sonntagen nur vier wiederhergestellt: Weihnachten, Christi und Maria Himmelfahrt und Allerheiligen. Die Ernennung" der Bischöfe kam wieder an das Staatsoberhaupt, die Konfirmation an den Papst. Und wenn dem Staat damit ein Recht erneuert wurde, das ihm schon im Konkordat vom Jahre 15 16 verliehen worden war, nahm er andere Rechte, die früher durch die französische Krone geübt, von Rom aber mißbilligt worden waren, gleichzeitig seinerseits in Anspruch. In den Organischen Artikeln wurden alle Dekrete des Papstes und der auswärtigen Synoden dem staatlichen Placet unterworfen, die Abhaltung von Synoden und ähnlichen Versamm- lungen ohne ausdrückliche Erlaubnis der Regierung verboten, der Re- cursus ab abusu oder die Appellation an das staatliche Gericht gegen kirchliche Entscheidungen in umfassendem Maß gestattet, die Eehrer in den Seminarien für ihre Person und ihr Amt auf die vier gallikanischen Artikel vom Jahr 1682 verpflichtet.

Als nach dem Sturz des Korsen die Bourbonen wieder zur Herr- Frankreich

nach Jcm Sturz

Schaft gelangten, suchten sie das Konkordat vom Jahr 1801 durch das vom Napoleons. Jahr 15 16 zu verdrängen, und wenn sie ihr Vorhaben in Rom durch- setzten, so unterlagen sie ihrem Volk gegenüber. Die von Napoleon be- gründete Ordnung blieb bestehen. Nur erfuhr sie einige Modifikationen, indem die Bistümer etwas vermehrt, einige Orden gesetzlich anerkannt wurden usw. Allmählich wußten zahlreiche weitere religiöse Gesellschaften sich Eingang und Verbreitung zu verschaffen. Unter der zweiten Re- publik (1848 52) gelang es, dem christlichen Unterricht eine größere Ausdehnung zu geben. Schon Napoleon I. hatte, da die bestehenden staatlichen Anstalten sich als unzureichend erwiesen, die Schulbrüder in den Dienst des Volksunterrichtes gezogen und ihnen die Errichtung von Primärschulen gestattet. Die Erziehung der weiblichen Jugend hatten einige Frauenkongregationen übernommen. Das Unterrichtsgesetz vom 15. März 1850 ermöglichte die Gründung von freien Mittelschulen. Unter der dritten Republik (seit 1870) entstanden auch einige katholische Uni- versitäten, bezw. höhere Lehranstalten, da ihnen die Führung des Titels Universität und das Recht zur Erteilung der akademischen Grade bald

2^6 Franz Xaver P'unk: Katholisches Christentum und Kirche Westeuropas in der Neuzeit.

wieder entzogen wurde. Die Fortschritte sind ein Beweis für das Wachs- tum des reUgiösen Geistes und die Kraft seiner früheren Träger. Der Wandel griff aber nicht tief genug, um einen Rückschlag zu verhindern. Neben dem Glauben behauptete der Unglaube ein weites Feld. Nachdem er durch die Revolution groß geworden und von der Stadt auch auf das Land sich ausgedehnt hatte, war er schwer zu überwinden. Die Geist- lichkeit erhielt in den Seminarien eine zu einseitige Erziehung und Bil- dung, um der bezüglichen Aufgabe in größerem Maß gewachsen zu sein. In der letzten Zeit kamen der kirchenfeindlichen Richtung auch die po- litischen Verhältnisse zustatten, indem die Abneigung, die zahlreiche Ka- tholiken gegen die republikanische Staatsform an den Tag legten, zum Kampfe gegen die Kirche reizte, und so gingen die erwähnten Errungen- schaften zum größten Teil allmählich wieder verloren. Im Jahr 1880 wurden die Schulen der Jesuiten geschlossen und ihre Niederlassungen aufgelöst. Dasselbe Schicksal wurde gleichzeitig allen anderen nichtautorisierten Kongregationen ang^edroht, wenn sie nicht binnen drei Monaten um die staatliche Anerkennung und die Bestätigung ihrer Satzungen nachsuchten, und auf Grund der Verordnung wurden sofort zahlreiche Anstalten auf- gehoben, nach dem Gesetz vom i. Juli 1901 die Maßregel noch erheblich weiter ausgedehnt. Im Jahr 1886 wurden den Ordenspersonen wie auch den Weltgeistlichen die öffentlichen Schulen verschlossen, jenen bald nachher eine Lehrtätigkeit überhaupt unmöglich gemacht. Nach dem Gesetz vom i. Juli 1901 gingen die Mittelschulen der nichtautorisierten Schulen. Kongrcgationcn ein. Im Jahr 1904 wurde sämtlichen Kongregationen das Lehrrecht ganz entzogen und die Auflösung der Lehrorden und ihrer vSchulen binnen zehn Jahren angeordnet. Die Schule sollte möglichst laisiert, die Religion und die Kirche aus ihr und der Gesellschaft ver- drängt werden. Demg'emäß wurde in der letzten Zeit auch das Kruzifix, das Zeichen des Christentums, aus den Gerichtssälen entfernt. Wiederholt wurde auch im Parlament der Antrag auf Kündigung des Konkordates und Trennung von Staat und Kirche gestellt, und wenn er bisher stets abgelehnt wurde, wird er, wenn nicht noch eine kaum zu erwartende Wendung eintritt, in der nächsten Zeit zur Annahme gelangen, da die Regierung nach dem diplomatischen Bruch, der im Jahr 1904 eintrat, in- dem die Regierung wegen des päpstlichen Protestes gegen den unten zu erwähnenden Besuch des französischen Staatsoberhauptes in Rom ihren Gesandten am Vatikan abberief, infolge des Konfliktes, zu dem das Ein- schreiten der Kurie gegen die Bischöfe von Laval und Dijon Anlaß gab, wegen angeblicher Verletzung des Konkordates auch die Mission des Nuntius in Paris für erloschen erklärte (30. Juli), nun ihrerseits ihn ein- zubringen entschlossen ist.

IL Die katholische Kirche in Deutschland. Indem Frankreich im Zeitalter der Revolution und unter Napoleon seine Herrschaft über

R. Von iUt fiiin/.(")sischen Revolution bis zur Gegenwart. II. Die katholische Kirche in Deutschland, j ■^■j

Jtalien und Spanien erstreckte, traten in diesen Ländern ähnliche Ver- änderungen ein. Während aber hier nach der Rückkehr der alten Herrscherfamilien der alte Stand wenigstens auf einige Zeit im wesent- lichen sich erneuerte, hatte die Revolution für Deutschland eine bleibende Umgestaltung- zur Folge. Den Grund derselben bildete der Friede von Säkularisation

...in Deutschland.

Lüneville 1801, durch welchen den durch Abtretung des hnksrheinischen Gebietes an Frankreich betroffenen erblichen Fürsten eine Entschädigung im übrigen Reichsgebiet versprochen wurde, und der Regensburger Reichsdeputationshauptschluß vom Jahr 1803 mit der Bestimmung, daß „alle Güter der Stifter, Abteien und Klöster zur vollen und freien Dispo- sition der resp. Landesfürsten sowohl zum Behufe des Aufwandes für Gottesdienst, Unterrichts- und andere gemeinnützige Anstalten als zur Erleichterung ihrer Finanzen" überlassen werden, die Fürsten aber da- gegen verpflichtet sein sollten, den betroffenen Personen Pensionen zu bezahlen und für die kirchlichen Bedürfnisse in ihren Staaten zu sorgen. Infolge dessen verschwanden die geistlichen Staaten, deren Inhaber die Erzbischöfe und Bischöfe und zahlreiche Abte, Pröpste und Abtissen waren; die bezüglichen Territorien wurden den weltlichen Staaten einver- leibt, denen sie damals oder in den folgenden Friedensschlüssen zuge- wiesen wurden. Das gleiche Schicksal traf in dem außerösterreichischen Deutschland in kurzer Zeit die Klöster. Die bischöflichen Domänen und die Güter der Domkapitel wurden außer Österreich allenthalben zum größten Teil eingezogen, die weiteren Kanonikate oder Kollegiatstifter bis auf einige wenige aufgehoben, die zahlreichen Kaplaneien auf die notwendig scheinende Zahl beschränkt. Der Verlust wird auf beiden Ufern des Rheins auf 17 19 Quadratmeilen mit 3162576 Bewohnern und, die Klöster nicht einbezogen, 21026000 Gulden Einkünfte berechnet.

Unter diesen Umständen, da zahlreiche kirchliche Institute eingingen KirchUciio

. ,. , T^" •• 1-1 1 Reorganisation

und mit der Aufhebung der geistlichen I^urstentumer und vieler anderer in D.utsehiami. kleiner Staaten die territorialen Grenzen in hohem Grade sich verschoben, stellte sich eine neue kirchliche Organisation als dringendes Bedürfnis dar, und die Regelung fiel, da die Verhandlungen mit dem Reich an der baldigen Auflösung desselben (1806) scheiterten und auf dem Wiener Kongreß 1814/15 nur eine einzige die kirchliche Frage betreffende Be- stimmung zustande kam, die bürgerliche Gleichstellung der christlichen Konfessionen im Bereich des deutschen Bundes in Artikel XVI der Bundesakte, den einzelnen Staaten zu. Bayern erhielt im Konkordat 181 7 zwei Erzbistümer mit je drei Suffraganbistümern, München-Freising mit Augsburg, Regensburg und Passau, Bamberg mit Würzburg, Eichstätt und Speyer; Preußen durch die Bulle De salute animarum 182 1 ebenfalls zwei Kirchenprovinzen, Köln mit den Bistümern Trier, Münster und Pader- born, Gnesen-Posen mit Kulm, und als exemte Bistümer Breslau und Ermeland; das Königreich Hannover durch die Bulle Impensa Romanorum 1824 die Bistümer Hildesheim und Osnabrück in exemter Stellung; die

238 Franz Xaver Funk: Katholisches Christentum und Kirche Westeuropas in der Neuzeit.

Katholiken des südwestlichen Deutschlands wurden durch die Zirkum- skriptionsbulle Provida sollersque 182 i zur Oberrheinischen Kirchenprovinz verbunden mit dem Erzbistum Freiburg- (das Großherzog^um Baden und die P'ürstentümer Hohenzollern-Sigmaringen und Hechingen umfassend) und den Bistümern Mainz (Großherzogtum Hessen), Rottenburg (Württem- berg), Fulda (Kurfürstentum Hessen), Limburg (Herzogtum Nassau und freie Reichsstadt Frankfurt); für das Königreich Sachsen wurde 18 16 ein Apostolisches Vikariat erreicht, dessen Inhaber seit 1830 zugleich regel- mäßig Dekan des Stiftes Bautzen ist, dem die Jurisdiktion über die Ober- lausitz zukommt. Die Besetzung der Bischofsstühle vollzieht sich in Bayern durch Nomination der Kandidaten seitens der Krone, in den an- deren Staaten, da deren Fürsten Protestanten sind, durch mit Einspruchs- recht der Regierung beschränkte Wahl der Domkapitel, sowie durch die bei beiden Weisen geltende Konfirmation und Institution durch den Papst, übermäßige Be- Wcun die Bistümcr in Deutschland jetzt wiederhergestellt waren, so

schränkung der .... . . .

Kirche durch war man im übrigen von einer befriedigenden Ordnung der religiösen Deutschland. Verhältnisse noch ziemlich weit entfernt. Die geistlichen Staaten fielen zum größten Teil an protestantische Fürsten, und da diese ihren evange- lischen Untertanen gegenüber die Rechte eines Bischofs besaßen, glaubten sie auch gegenüber ihren neuen und katholischen Untertanen, namentlich in der Oberrheinischen Kirchenprovinz, ähnliche Befugnisse zu haben, nahmen die Besetzung der Pfarreien und der anderen niederen Kirchen- stellen als Majestätsrecht in Anspruch und übten auch sonst eine weit- gehende Bevormundung der Kirche aus. Die Haltung konnte nicht un- widersprochen bleiben, und indem man andererseits nicht so bald sie aufzugeben sich entschließen konnte, traten von Zeit zu Zeit kleinere .Streit über Konflikte ein. Die Übergriife machten sich besonders auf dem Gebiet

die gemischten

Ehen. der gemischten Ehen fühlbar, für die man vielfach eine unbedingte Ein- segnung verlangte, auch wenn sie einen protestantischen Charakter hatten, und in Preußen kam es darob frühzeitig zu einem heftigen Kampf, in dem die beiden Erzbischöfe des Landes abgesetzt und in Haft genommen wurden, Klemens August von Droste-Vischering in Köln 1837, Martin von Dunin in Posen 1839. Doch dauerte der Streit nicht lange; der

Herstcihmg einer König Fricdrich Wilhelm IV. (1840 61) gab bald nach seiner Thron- befriedigenden f \ •+ / &

Ordnung, bcsteigiing den Posener Oberhirten seiner Diözese zurück, und in Köln wurden die Verhältnisse dadurch geordnet, daß dem Erzbischof in der Person des Bischofs Johannes Geißel von Speyer ein Koadjutor mit dem Recht der Nachfolge und mit der Aufgabe der selbständigen Verwaltung des Sprengeis bestellt wurde. Unter der Regierung desselben Königs fielen bald auch sonst einige Fesseln, welche die kirchliche Verwaltung- beengten; insbesondere wurde der Verkehr der Bischöfe mit Rom frei- gegeben, während er bis dahin durch die Staatsbehörde vermittelt worden war. Als Preußen im Jahr 184S in die Reihe der konstitutionollon vStaaten eintrat, wurde in der neuen Verfassung der katholischen wie der evange-

B. Von ilcr französischen Revolution bis 7.ur Gegenwart. IT. Die katholische Kirche in Deutscliland. 2 '^Q

lischen Kirche selbständige Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegen- heiten zugesichert. Langsamer entwickelten sich die Dinge in den klei- neren Staaten. Indem aber die Bischöfe der Oberrheinischen Kirchen- provinz nach dem Bewegungsjahr 1848 vereint sich zu größerer Energie gegen ihre bisherige Beschränkung erhoben, trat auch hier eine Wendung ein. Württemberg und Baden schlössen in den Jahren 1857 und 1859 Konventionen mit Rom, Hessen-Darmstadt 1854 mit dem Bischof von Mainz, Nassau 1861 mit dem Bischof von Limburg, und als jene Verein- barungen an dem Widerspruch der Stände scheiterten, folgte eine Rege- lung auf dem Wege der staatlichen Gesetzgebung, in Baden durch das Gesetz vom c). Oktober 1860, in \\'^ürttemberg durch das Gesetz vom 30. Januar 1862. In Hessen blieb es zunächst beim Alten, als der Bischof Freiherr E. v. Ketteier auf die Konvention vom Jahr 1854 wegen ihrer fortwährenden Befeindung 1866 verzichtete. Jene Gesetze entsprachen, wenn sie auch nicht alle Wünsche erfüllten, doch beiderseits gemäßigten Ansprüchen, und in Württemberg bestand zwischen Staat und Kirche fortan im wesentlichen Friede. In Baden traten bald neue Schwierig- keiten ein.

Ein größerer Kampf erhob sich wieder in Preußen soAvie in dem . Kulturkampf

T n o r '" Preußen und

Großherzogtum Hessen, das dem Beispiel des größeren Staates folgte, Hessen

. . . .... (1873—1880).

als dieser nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 seine bisherige

Haltung änderte und im Mai 1873 eine Reihe von Gesetzen erließ, durch welche die Kirche aufs empfindlichste getroffen und mehrere ganz un- erträgliche Forderungen an sie gestellt wurden. Indem man kirchlicher- seits es ablehnte, sich den Gesetzen zu unterwerfen, während man staat- licherseits alles aufbot, sie durchzuführen, entstanden die größten Wirren. Durch Absetzung ihrer Inhaber verwaisten die meisten Bistümer und Hunderte von Pfarreien. Der Kulturkampf, wie man den Streit nannte, dauerte ungeschwächt mehrere Jahre, bis die Regierung sich endlich zum Einlenken entschloß und vom Jahr 1880 an in einer Reihe von Novellen der Kirche wieder die Freiheit und die Rechte zurückgab, auf die sie nicht verzichten kann und ohne die sie auch ihrer Aufgabe nicht zu ent- sprechen vermag. Man wollte die Kirche in eine größere, aber für sie unannehmbare Abhängigkeit vom Staat bringen. In der Tat wurden die Katholiken durch das Vorgehen zu engerem Zusammenschluß unter sich getrieben und ihre Stellung im preußischen Landtag wie im Deutschen Reichstag so erheblich gestärkt, daß ihrer Partei, dem Zentrum, in diesem zuletzt das Präsidium zufallen konnte (1895). Der Kampf war um so be- klagenswerter, als er in hohem Grade den für Deutschland so wichtigen konfessionellen Frieden störte und diese Folge ihn selbst überdauerte, in- dem ein Teil der protestantischen Bevölkerung, enttäuscht über den Aus- gang, nach dem Rückzug der Regierungen den Evangelischen Bund be- gründete (1887), dessen Haltung wenig dazu angetan ist, ein friedliches Zusammenleben der Konfessionen zu fördern.

240 Franz Xaver Funk: Katholisches Christentum und Kirche Westeuropas in der Neuzeit.

III. Die katholische Kirche in den Niederlanden und Groß- britannien, Indem die Herrschaft PYankreichs im Zeitalter der Revo-

Niederiande. lution auf die Niederlande sich ausdehnte und in Holland 1795 die Bata- vische Republik errichtet wurde, begann auch hier eine Änderung der kirchlichen Ordnung. Die Konstitution der Republik vom Jahr 1798 sprach die Gleichberechtigung aller Konfessionen aus, und damit war, nachdem die Katholiken bisher von den Staatsämtern ausgeschlossen und in der Religionsübung- auf eine bloße Hausandacht beschränkt gewesen waren, zunächst wenigstens ein neuer Grund gelegt, und indem derselbe blieb, in dem Königreich der Vereinten Niederlande, das mit Verbindung von Holland und Belgien durch den Wiener Kongreß errichtet wurde, sowie in dem Königreich Holland, das 1830 ins Leben trat, als Belgien seine Selbständigkeit erkämpfte und zu einem eigenen Königreich sich empor- schwang, besserten sich allmählich auch tatsächlich die Verhältnisse der Katholiken, so daß Pius IX. 1853 die kirchliche Hierarchie für das Land erneuerte, indem er das Erzbistum Utrecht und vier Sufifraganbistümer wiederherstellte. Großbritannion. Dassclbe gcschah iu Großbritannien, als nach früheren kleineren Er-

leichterungen die Emanzipationsbill vom Jahr 182g den Katholiken im wesentlichen die bürgerliche Gleichstellung brachte. Für England wurden 1850 das Erzbistum Westminster und zwölf Sufifraganbistümer, für Schott- land 1878 die Erzbistümer Glasgow und St. Andrews und vier Bistümer errichtet.

IV. Die Kirche in Spanien und Italien. In Spanien und Italien wurde, wie bereits kurz zu erwähnen war, nach dem Sturz Napoleons und bei der Rückkehr der legitimen Herrscher die frühere Ordnung wieder- hergestellt. Sie behauptete sich aber nicht mehr lange. Manche Bestand- teile derselben hatten sich überlebt, und in den Stürmen, in denen sie beseitigt wurden, fielen mit ihnen auch mehrere andere.

Spanion. Spanien wurde mehr als ein halbes Jahrhundert lang durch Revolu-

lutionen, Thronstreitigkeiten und heftige politische Parteikämpfe beunruhigt, und diese Wirren zogen naturgemäß auch die Kirche in Mitleidenschaft. Im Jahre 1835 wurden die Männerklöster aufgehoben, soweit sie nicht über zwölf Mitglieder zählten, 1837 das Kirchengut als Eigentum der Nation erklärt und im Laufe der nächsten Zeit ein beträchtlicher Teil veräußert, der offizielle Verkehr mit dem apostolischen Stuhl auf eine Reihe von Jahren abgebrochen. Im Jahre 1851 wurde zwar mit Rom ein Konkordat geschlossen, in dem es sich hauptsächlich um eine neue Um- schreibung der Kirchensprengel und um die Regelung der kirchlichen Besitz- und Einkommensverhältnisse handelte, und dasselbe 1859 mit einer Konvention ergänzt, in der die Kirche alle ihre Güter, ausgenommen die unmittelbar zum LebcMi der Geistlichen notwendigen, wie Wohnung, Garten u. dgl., dem Staat überließ und dieser diifür zur Bestreitung der Kosten

B.Vond. frz.Rcvol.b. z.Gcgenw. III. u. IV. Diekalli. Kirche in d.Niederl.u.Großbrit., in Span. usw. 74 I

des Kultes und der Bedürfnisse des Klerus sich verpflichtete. Befriedi- gende Zustände traten aber erst ein, als mit der Thronbesteigung- Alfons' XII. (1875 85) die politischen Wirren ein Ende nahmen und die Ruhe und Ordnung allmählich in dem Lande sich befestigte. Die Verfassung vom Jahre 1876 erklärt die katholische Religion als die Religion des Staates, anerkennt aber auch die Gewissensfreiheit, indem sie verbietet, wegen seiner religiösen Meinungen und wegen Ausübung des betreffenden Kultes, die der christlichen Moral schuldige Achtung' vorausgesetzt, jemand zu belästigen.

In Italien machte das Jahr 1848 seinen Einfluß geltend. Unter Viktor Italien. Emanuel (1848 78) wurden im Königreich Sardinien die mittelalterlichen Privilegien der Kirche und der Geistlichen, wie der befreite Gerichtstand, der Zehnte und das Asylrecht, beseitigt (1856) und die religiösen Kongre- gationen aufgehoben, die sich nicht mit Unterricht und Krankenpflege beschäftigten (1855). Als dessen Herrschaft auf das weitere Italien sich auszudehnen begann (185g), wurden die bezüglichen Gesetze auf die neuen Provinzen übertragen, überdies sämtliches Kirchengut eingezogen und der Geistlichkeit ein Gehalt aus der Staatskasse angewiesen.

Indem Italien politisch sich einigte, ging mit den übrigen Staaten des Der Landes auch der päpstliche unter. Die weltliche Herrschaft des Papstes erfuhr schon im Zeitalter der Revolution die schwersten Schläge. Als Plus VI. 1791 die Zivilkonstitution des Klerus verwarf, antwortete Frank- reich mit Wegnahme der Herrschaften Avignon und Venaissin. Als die Franzosen 1796 die Lombardei eroberten, griffen sie auch das kirch- liche Gebiet in Italien an, und im Frieden von Tolentino 1797 wurden außer jenen Provinzen die Legationen Ferrara, Bologna und Ravenna vom Papste förmlich an Frankreich abgetreten. Als kurz darauf der Ge- neral Duphot bei einem Tumult in Rom den Tod fand, wurde in der ewigen Stadt 1798 selbst die Republik proklamiert und Pius VI. ins Exil nach Valence abgeführt, wo er 1799 starb. Da die Franzosen in der nächsten Zeit aus Italien weichen mußten, konnte der folgende Papst Pius VII. (1800 23) seinen Sitz wieder in Rom aufschlagen. Aber die erwähnten drei Legationen des Kirchenstaates wurden eben damals wieder von Frankreich besetzt, und infolge seines Konfliktes mit dem Papst er- klärte Napoleon 1809 dessen ganze weltliche Herrschaft für erloschen. Bei dem Sturz des Kaisers wurde sie in Italien wiederhergestellt und jetzt durch Pius VII. unter Leitung des Kardinals Consalvi den Laien ein etwas größerer Anteil an der Verwaltung eingeräumt. Aber schon unter Leo XII. (1823 29) begannen sich die Geister lebhafter zu regen, die nach einem einheitlichen Italien verlangten. In den Pontilikat von Pius VIII. (1829 30) fällt die Julirevolution, deren Wogen auch den Kirchenstaat erreichten. Unter Gregor XVI. (1831 46), der während der Bewegung folgte, sagte sich die Mehrzahl der Provinzen vom Papste los, und es bedurfte des Einmarsches der Österreicher, um den Aufstand zu

Dir Kultur dür Gegknwari. I. 4. 16

242 Franz Xaver Funk: Katholisches Christentum und Kirche Westeuropas in der Neuzeit.

Überwinden, einer fast siebenjährigen Besetzung Bolognas und Anconas durch Österreich und Frankreich (1832 38), um die Ruhe aufrecht zu erhalten. Die bisherige Ordnung erwies sich deutlich als ungenügend und unhaltbar. Pius IX. (1846 78) begann deshalb seine Regierung mit be- deutenden Reformen und gewährte dem Volke 1848 auch eine Verfassung. Da aber der Sturm, der in demselben Jahre mit der Februarrevolution in Frankreich sich erhob, auch Italien wieder ergriff, vermochten die Kon- zessionen nicht zu befriedigen. In Rom wurde 1849 eine Republik er- richtet, an deren Spitze Mazzini stand. Infolge des Eingreifens der ka- tholischen Mächte erstand die päpstliche Herrschaft in Bälde zwar noch einmal. Aber es gelang nicht mehr, die Geister zu versöhnen. Frank- reich und Österreich mußten ihre Truppen im Kirchenstaat belassen, und wie notwendig die fremde Besatzung war, zeigte sich, als sie ein Ende nahm. Als König Viktor Emanuel von vSardinien, unterstützt von Frank- reich, 1859 seinen Angriff auf die Lombardei unternahm und Österreich auf den Antrag des Papstes seine Truppen aus den Legationen zurückzog, brachen sofort Aufstände aus, und die Provinzen Ferrara, Bologna und Ravenna schlössen sich noch in demselben, Umbrien und Ancona im nächsten Jahr an Sardinien -Piemont, bezw. an das sich eben bildende Königreich Italien an. Der Rest des Staates wurde diesem endlich 1870 einverleibt, als die Franzosen beim Ausbruch des Krieges mit Deutschland Rom räumten. Dem Papst verblieben nur die Paläste des Vatikans und des Laterans und die Villa Castel Gandolfo, sowie die Würde eines Sou- veräns, indem durch das Garantiegesetz vom Jahr 1871 seine Person als heilig und unverletzlich anerkannt wurde. Durch dasselbe Gesetz wurde ihm auch als Ersatz für die erlittenen Verluste eine jährliche Rente von ßY^ Millionen Lire zugesichert, als indirekte Anerkennung des Geschehe- nen aber die Annahme dieses Anerbietens stets verweigert. Man vertraute auf die Opferwilligkeit der Gläubigen; man hoffte auch auf eine Restau- ration. Leo XIII, (1878 1903) verlieh dem Protest durch die Weigerung Nachdruck, einen katholischen Regenten, der den König von Italien in Rom besuchen würde, zu empfangen. Der Kaiser Franz Joseph von Österreich unterließ es deshalb, den ihm von König Humbert (1878 1900) erstatteten Besuch zurückzugeben. Dagegen fand sich der Präsident der französischen Republik im Frühjahr 1903 in Rom ein, als an ihn dem König Viktor Emanuel II. gegenüber dieselbe politische Pflicht herantrat, und indem ihm der Vatikan verschlossen blieb, Pius X. (seit 4. Aug. 1904) nach dem Besuch sogar eine Beschwerde einlegte, zeigte er, daß er inso- weit die Politik seiner Vorgänger fortsetze. Auf der anderen Seite aber trug er schon wenige Wochen später den bestehenden Verhältnissen einigermaßen Rechnung, indem er dem Erzbischof von Bologna gestattete, dem König von Italien beim Besuch der Stadt seine Aufwartung zu machen, während eine derartige Huldigung den Bischöfen des ehemaligen Kirchen- staates bisher strengstens verboten gewesen war, und dem Schritt werden

B. Von der französischen Revolution bis /.ur Gegenwart. V. Das moderne Papsttum. 243

wohl noch weitere folg-cn, so daß sich in einig^er Zeit ein friedHches Ver- liältnis zwischen Papsttum und König-tum anbahnen dürfte, soweit es ohne förmlichen Verzicht auf das Temporale seitens des ersteren zu er- warten ist. Wie aber die Ding-e in Italien sich weiter entwickeln mög-en, um den Kirchenstaat wird es geschehen sein. Hat er auch ehemals, nachdem er in Trümmer gegangen war, stets sich wieder erhoben, so sind die Verhältnisse, denen er zuletzt zum Opfer fiel, von den früheren wesentlich verschieden, und die politische Lage Europas und die .Stim- mung und Richtung der Geister hat sich inzwischen so gestaltet, daß, soweit man sehen kann, eine Wiederherstellung nicht mehr zu erwarten ist. Der römische Stuhl wird daher die Politik, die er bisher in bezug auf das Temporale befolgte, notwendig einmal aufgeben müssen, und je bälder er sich in die Ereignisse fügt, um so besser wird es für ihn und die Kirche sein. Die Wunder der Vorsehung, auf die Pius IX. vertraute, be- vor der Kirchenstaat sein völliges Ende erreichte, haben sich wie damals so auch seitdem nicht eingestellt, und sie werden wohl auch noch lange auf sich warten lassen.

V. Das moderne Papsttum. Über das mittelalterliche Recht einer P'e päpstliche

'■ Oberhoheit über

päpstlichen Oberhoheit über die Fürsten und Völker, die plenitudo pote- die Staaten, statis super gentes et regna, wie sie Paul IV. noch in der Bulle Cum ex apostolatus officio 1559 für sich als Stellvertreter Christi auf Erden in Anspruch nimmt, entschied die geschichtliche Entwicklung noch früher und bestimmter. Die Absetzung der Königin Elisabeth von England durch Pius V. 1570 ist der letzte bedeutsame Akt, in dem es sich äußerte, und die Erfolglosigkeit zeigte, daß die Zeit für die Machtbefugnis dahin war. Doch wurde das Recht als solches keineswegs aufgegeben. Wie wir oben gesehen, fühlte der französische Klerus 1682 das Bedürfnis, dem Anspruch gegenüber im ersten der vier gallikanischen Artikel die Un- abhängigkeit und Selbständigkeit der weltlichen Gewalt zu betonen. Der französische Episkopat (74 Bischöfe) sah sich in einer am 10. April 1826 dem König überreichten Denkschrift veranlaßt, nachdrücklich für den Artikel einzutreten, indem er erklärte, daß er an der alten Lehre der französischen Kirche über die Rechte der Monarchen und ihre volle und absolute Unabhängigkeit in weltlichen Dingen von der direkten oder in- direkten Autorität jeder kirchlichen Gewalt festhalte. Ähnlich verwarfen die Bischöfe Irlands am 25. Januar 1825 jede direkte oder indirekte Juri.s- diktion oder Gewalt, die der Papst in weltlichen Dingen im Britischen Reich sich zueignen könnte. Seit dieser Zeit besteht über den Punkt wenigstens keine ernstliche Kontroverse mehr. Der römische Stuhl hat sich über ihn zwar nicht eigentlich geäußert; nach seiner Gewohnheit, Rechte, die er besaß, oder Lehren, die er vertrat, nicht ausdrücklich zurückzunehmen, konnte er dem Artikel nicht eine förmliche Billigung erteilen; und aus seinem Schweigen zu jenen Äußerungen des französischen

i6*

244 Franz Xaver Funk: Katholisches Christentum und Kirche Westeuropas in der Xeuzeit.

und irischen Episkopates ist nicht etwa eine Zustimmung zu folgern, da es durch die Umstände, unter denen die Erklärungen stattfanden, zu sehr geboten war. Immerhin aber darf man aus seinem langjährigen Schweigen schließen, daß das fragliche Recht von ihm selbst nicht mehr festgehalten wird, und wenn es je anders wäre, hat dasselbe durch den Lauf der Dinge in der Neuzeit tatsächlich jegliche Bedeutung verloren.

Die päpstliche Wenn bezüglich des Verhältnisses zwischen der geistlichen und welt-

lichen Gewalt oder in der Frage nach der Unabhängigkeit und Selb- ständigkeit der letzteren die gallikanische Anschauung gerechtfertigt wurde, so trug in der Frage nach dem Verhältnis des Papstes zur Kirche die römische Auffassung im ig. Jahrhundert den Sieg davon. Es fehlte der entgegengesetzten Lehre oder der Episkopaltheorie, bezw. den drei weiteren gallikanischen Artikeln, die ihr Ausdruck geben, auch jetzt nicht an Ver- tretern, und bei dem Grunde, den sie im christlichen Altertum hat, konnte es daran nicht mangeln. Aber der Boden war für sie nicht mehr der alte. In der Revolution wurde die Tradition der französischen Kirche zum großen Teil begraben; eine ähnliche Folge hatte die Säkularisation für Deutsch- land; der Zug nach Rom wurde im Laufe des ig. Jahrhunderts stärker, als er früher war. Indem der französische Episkopat in der erwähnten Denkschrift vom Jahre 1826 dagegen sich verwahrt, daß man die drei letzten der gallikanischen Artikel als ketzerisch und schismatisch be- zeichne, nahm er sie wohl noch in Schutz; zugleich aber zeigte er, daß die entgegengesetzte Strömung schon sehr mächtig war, und die religiösen und kirchenpolitischen Kämpfe in Frankreich kamen ihr noch weiter zu statten. Der Lehrsatz von der Unfehlbarkeit des Papstes gewann in den theologischen Schulen eine immer größere Verbreitung; es waren nament- lich die Orden und insbesondere die Jesuiten, die für ihn eintraten. In Rom stand die Lehre so fest, daß Pius IX. die Vollmacht, die nach ihr dem Papst zukommt, schon 1854 in Anspruch nahm, indem er den Glauben an die unbefleckte Empfängnis Maria, nachdem er bei dem Episkopat Er- kundigungen über ihn eingezogen, in der Bulle Ineffabilis kraft des lu- dicium supremum des apostolischen Stuhles oder, wie es in dem neuen Festofficium deutlicher heißt, supremo suo atque infallibili oraculo zum

DasVatikanischo Dogma erhob. Durch das Vatikanische Konzil gelangte die Kontroverse (1870). endlich zum Abschluß. Die Synode war unter allen bisherigen die stärkste; die Zahl ihrer Mitglieder belief sich auf 747. Sie wurde auf den 8, De- zember i86q einberufen und dauerte bis zum 20. Oktober 1870, wo sie wegen des deutsch-französischen Krieges und der Einverleibung Roms in das Königreich Italien vertagt wurde, nachdem die meisten Bischöfe schon vorher abgereist waren. Da schon einige Stimmen sich für die Entscheidung vernehmen ließen, sobald der Plan des Konzils bekaiuit wurde, erhob sich in der katholischen Welt eine heftige Bewegung. Der Antrag stieß auch auf dem Konzil, als er ihm vorgelegt wurde, auf heftigen und zahlreichen Widerspruch, teils weil die Lehre nicht begründet, teils

B. Von der franz. Revolut. bis zur Gegenwart. VI. Rechtsordnung, Disziplin und religiöses Leben. 2 4 S

weil ihre Dogmatisierung nicht opportun zu sein .schien, indem zu besorgen war, sie werde der Kirche nur neuen Haß und neuen Kampf bereiten. Da aber die große Majorität für ihn war, so drang er durch. Die An- nahme erfolgte in der vierten öffentlichen Sitzung am 18. Juli 1870 mit der Definition: wenn der Papst ex cathedra spreche, d. h. wenn er als Hirt und Lehrer aller Christen vermöge seiner höchsten apostolischen Autorität eine Lehre über den Glauben und die Sitten als von der ge- samten Kirche festzuhalten verkündige, erfreue er sich kraft göttlichen in dem heiligen Petrus ihm verheißenen Beistandes derselben Unfehlbarkeit, mit welcher der göttliche Erlöser seine Kirche in Bestimmung der Lehre über Glauben und Sitten ausgestattet wissen wollte, und deswegen seien seine derartigen Definitionen aus sich, nicht aber auf Grund der Zu- stimmung der Kirche irreformabel. Die ausgesprochenen Befürchtungen traten wirklich ein. Österreich kündigte, weil durch das neue Dogma das bisherige Verhältnis von Staat und Kirche verrückt worden zu sein schien, noch in dem gleichen Jahr das 1855 mit Rom abgeschlossene Konkordat. An den Maßnahmen, die Preußen in dem sog. Kulturkampf gegen die Kirche ergriff, ist zum Teil wenigstens der Eindruck bestimmend, den der Gang des Konzils auf die Staatsregierungen machte. Das neue Dogma wurde auch durch einzelne Gläubige abgelehnt, und in Deutsch- land und in der Schweiz war deren Zahl, wenn auch verhältnismäßig klein, doch an sich so groß, daß sie eine eigene religiöse Gesellschaft zu bilden vermochten, die Kirche der Altkatholiken, wie sie sich dort, der Aitkathoiikeu. Christkatholiken, wie sie sich hier nannten. Doch war der Widerstand nach der Definition im ganzen ein geringer. Da die Bischöfe, die auf dem Konzil in der Opposition standen, dem Beschluß der Majorität sich alle unterwarfen und die neue Lehre in ihren Sprengein verkündigten, wurde diese mit den erwähnten Ausnahmen allenthalben angenommen.

VL Rechtsordnung, Disziplin und religiöses Leben. Die Ende der Vor-

°' ^ ..... rechte des Adels

Veränderungen, welche die Revolution und die Säkularisation für die und der

_ Privilegien des

Kirche unmittelbar im Gefolge hatten, waren oben zu nennen. Die Er- Klerus, eignisse übten aber auch noch mittelbar eine bedeutsame Wirkung aus. Während die Bischofsstühle wegen der mit ihnen verbundenen großen Einkünfte und Ehren, namentlich in Frankreich und Deutschland, früher fast ausnahmslos dem Adel vorbehalten oder tatsächlich in seinem Besitz waren, wurden sie jetzt durch Aufhebung der Privilegien der Geburt auch den Bürgerlichen zugänglich, und indem sich der Adel nach Verlust seiner Vorrechte aus dem Kirchendienst mehr und mehr zurückzog, fielen sie diesen im allgemeinen sogar ganz zu. Ebenso ging es mit den Domkapiteln, die früher gleichfalls vielfach eine Domäne des Adels gebildet hatten. Mit diesem Wandel verschwand auch der Miß.stand, der trotz des Verbotes des Konzils von Trient besonders in Deutschland und in Frankreich bisher sich erhalten hatte, daß Bischöfe

246 Franz Xaver Funk: Katholisches Christentum und Kirche Westeuropas in der Neuzeit.

mehrere Bistümer oder neben ihrem Bistum noch eine Abtei oder ein Priorat, Domherren und andere Kanoniker mehrere Kanonikate besaßen. Und wie die Privilegien innerhalb der Kirche, so hörten die Standes- vorrechte der Geistlichen überhaupt auf. Die Steuerfreiheit, die in Öster- reich schon unter Maria Theresia aufgehoben worden war, nahm jetzt nach und nach allgemein ein Ende. Ebenso verschwand der befreite Ge- richtsstand; die Geistlichkeit wurde allmählich überall dem staatlichen Gerichte unterworfen, und der römische Stuhl erkannte die neue Ordnung wenn auch nicht unbedingt, so doch mit Rücksicht auf die veränderten Zeitverhältnisse an, temporum ratione habita, wie es im österreichischen Konkordat (1855) und in den Konventionen mit Württemberg und Baden (1857/59) heißt. Feste und Fasten. Die Feiertage hatten schon im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts in weiten Kreisen eine für damalige Zeit erhebliche Verminderung erfahren. Bei der großen Veränderung, die jetzt in allen Beziehungen des Lebens ein- trat, namentlich bei der stets weitergreifenden Mischung der Konfessionen, wurde im 19. Jahrhundert wohl da und dort das Bedürfnis einer neuen Regelung- empfunden. Doch geschah, von der bereits erwähnten Maß- regel für Frankreich abgesehen, vorerst wenigstens nichts Bedeutenderes. Bayern stellte bei seinen Konkordatsverhandlungen den Antrag auf Ein- führung der französischen Ordnung (1802); derselbe hatte aber keine Folge. Dagegen trat jetzt in der Fastenordnung ein sehr beträchtlicher Wandel ein. Nach der Praxis des Mittelalters war in der ganzen Qua- drages, im Zeitraum von t^/^ Wochen, der Genuß von Fleisch, Eiern, Milch, und aus dieser bereiteten Speisen, wie Butter und Käse, verboten, und das Gesetz erhielt sich im wesentlichen und allgemeinen bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Nur erfuhr es seit dem 15. Jahrhundert durch Ver- leihung von Indulten, mit Gestattung von Milch und Butter eine kleine Milderung. Eine durchgreifende Änderung erfolgte im Jahre 1781 für Österreich, indem auf Andringen der Regierung die bisherige Übung auf etwa die Hälfte der Quadrages, die Karwoche und die Mittwoche, Frei- tage und Samstage der vorausgehenden Zeit beschränkt, für die übrigen Tage der Fleischgenuß gestattet wurde. Im 19. Jahrhundert fand die Reform auch in den anderen Ländern Eingang, und zugleich dehnte sicli die Milderung noch weiter aus, nicht bloß für die Quadrages, sondern auch für die Quatember- und die Vigilfasttage. Doch kam es nicht zu einer einheitlichen und überall gleichen Praxis. In Deutschland beschränkte sich die Abstinenz oder dcis Verbot des Fleischgenusses allmählich fast allenthalben auf den Freitag des ganzen Jahres, den Aschermittwoch und die drei letzten Tage der Karwoche. Führte die Reform in dieser Be- ziehung zu einer g-ewissen Mannigfaltigkeit, steigerte sich in der Fest- ordnung die von alters her bestehende Verschiedenheit, sofern Frankreich nach der Revolution, außer den Sonntagen, nur mehr vier Feiertage an- nahm, während die anderen Länder die drei- und vierfache Zahl haben,

B. Von der franz. Revolut. bis zur Gegenwart. VI. Rechtsordnung, Disziplin und religiöses Leben. 247

SO trat im Gebiet der Liturgie während des 19. Jahrhunderts eine größere Die Liturgie. Einheit ein. Die römische Liturgie hatte zwar schon im Anfang des Mittelalters, abgesehen von einigen wenigen Kirchen, besonders der mai- ländischen, allenthalben im Abendland Eingang gefunden. Wenn aber der Ritus im wesentlichen seitdem der gleiche war, so konnte es bei dem Stand der Dinge im Mittelalter, namentlich der Herstellung der liturgischen Bücher durch Abschreiben, doch in untergeordneten Punkten nicht an Abweichungen fehlen, und die Verschiedenheit wurde anerkannt, als ge- mäß den Beschlüssen des Konzils von Trient das Brevier und Missale in Rom verbessert wurde, indem das neue Officium wohl einerseits allgemein vorgeschrieben, andererseits aber den Kirchen, die im Besitz eines auf zwei Jahrhunderte zurückreichenden Ritus waren, die Beibehaltung des- selben gestattet wurde (1568/70). Durch die Reformen, die im 17. und 18. Jahrhundert durch einige Bischöfe, namentlich in Frankreich, vor- genommen wurden, wurde die Differenz noch etwas größer. Dagegen trat im ig. Jahrhundert eine Wendung ein. Bei dem bereits erwähnten stärkeren Zug nach Einheit und zum Anschluß an Rom, und infolge des Kampfes, den der Abt Gueranger von Solesmes in seinen Institutions liturgiques (1840/51) gegen die Sonderliturgien führte, wurde der römische Ritus nach und nach fast überall vollständiger angenommen. Der Fort- schritt vollzog sich sogar im Übermaß, indem nun die Landessprache auch bei Funktionen, bei denen sie ohne jeglichen Schaden für die kirchliche Einheit zu verwenden ist und mit Rücksicht auf die Erbauung der Ge- meinde verwendet werden sollte, vielfach durch die lateinische Sprache verdrängt wurde. Und gleichzeitig mit jener erfuhr der Gottesdienst noch eine andere Reform. Die Kirchenmusik war im Laufe des 18. Jahr- . nie

Kirchenmusik.

hunderts vielfach in hohem Grade verweltlicht. Die Streich- und anderen Instrumente, die damals in das Gotteshaus Einzug hielten, nahmen statt der dienenden bald eine herrschende Stellung ein, und es wurden für die Messe und die übrigen gottesdienstlichen Feiern Kompositionen entworfen und aufgeführt, die mehr in einen Konzertsaal als in die Kirche paßten. Im 19. Jahrhundert wandte sich die Aufmerksamkeit wie in den anderen Zweigen der Kunst so im Gebiete der Kirchenmusik den klassischen Werken der Vorzeit zu, den Schöpfungen eines Palästrina und eines Or- landus di Lassus, um nur diese Hauptmeister aus dem 16. Jahrhundert zu nennen, und wie sie beim Gottesdienst wieder in Verwendung traten, so wurden, von ihrem Geist angeregt und beseelt, zahlreiche neue Werke von entsprechender Würde geschaffen. Durch das Wirken der Cäcilien- vereine drang die Reform in Deutschland in die weitesten Kreise; auch kleine Landkirchen brachten es häufig zu einem ebenso schönen wie edlen Gesang. Und außer dem polyphonen fand jetzt auch der einfache Choral- gesang, die älteste und eigentlich kirchliche Weise, wieder eine rege Pflege.

Die aufgeführten Reformen bekunden zum Teil eine Gesundung und Er- Aulsc^wung.

248 Franz Xaver Funk: Katholisches Christentum und Kirche "Westeuropas in der Neuzeit.

Stärkung des religiösen Geistes und Lebens. Der Aufschwung äußerte sich auch noch in anderen Beziehungen. Wo das Bedürfnis sich geltend machte, sei es infolge des Anwachsens der .Städte, sei es bei Niederlassung von Katho- liken in andersgläubigen Gegenden, sei es wegen des Zerfalls oder der Un- zureichenheit der alten Kirchengebäude oder aus anderen Gründen, ent- standen an zahlreichen Orten neue Gotteshäuser, zum größten Teil durch milde Beiträge und zum Teil Werke von hervorragender Schönheit. Die christliche Liebestätigkeit trieb neue Blüten und dehnte sich, getragen durch religiöse Gesellschaften wie durch Vereine von Laien, Männer und Frauen, Die Orden, auf die Verschiedensten Seiten des Lebens aus. Das Ordensleben kam zu einer Entfaltung, wie man sie nach dem großen Klostersturm der Revo- lutionszeit kautn ahnen konnte. Die Ideen, auf denen es ruht, sind zu deutlich in der Heiligen Schrift ausgesprochen; das Mönchtum hängt zu enge mit der gesamten Entwicklung der katholischen Kirche zusammen, und es bildete nicht bloß in der Vergangenheit einen bedeutsamen Faktor der Kultur, sondern es leistet der Menschheit auch jetzt noch zu erhebliche Dienste, als daß es ein Ende nehmen oder auf die Dauer hintangehalten werden könnte. Auf die Unterdrückung folgte bald überall wieder die Herstellung. Alte Klöster erhoben sich aus ihren Trümmern, neue wur- den errichtet. Das Wachstum wurde um so größer, je mehr die Aufgabe sich erweiterte, indem nicht bloß die Gesellschaften mit praktischen Zielen ihre Tätigkeit beträchtlich ausdehnten, die Frauenkongregationen für Armen- und Krankenpflege z. B. ihre Wirksamkeit von den Städten all- mählich auf das Land erstreckten, sondern auch mehrere der alten Orden nach ihrer Wiedererneuerung in den Dienst der Seelsorge und des Unter- richtes sich stellten; und da das Arbeitsfeld für die weiblichen Orden größer war als für die männlichen, so erklärt es sich auch, von anderm abgesehen, daß jene sich noch stärker vermehrten als diese. Einige Zahlen mögen sprechen. In Frankreich zählte man 1814 bereits wie- der 2224 Frauenklöster, 1834 3024 mit 18000 Schwestern; 1844 gab es 4950 Klöster beiderlei Geschlechtes; von 1866 bis iqot verdoppelte sich die Zahl der Religiösen. Paris hatte 1864 ig Männerorden mit 2^ Häusern, 3g Frauenorden mit etwa 55 Häusern; i8gg, nachdem die Stadt inzwischen um die Hälfte sich vergrößert hatte, 134 Häuser für männliche, ungefähr 550 für weibliche Religiösen. Bayern besaß 1840 55 Männerklöster und 53 weibliche Ordensniederlassungen; i8qg war jene Zahl auf 8g, diese auf 870 gestiegen. In Preußen zählte man 1886 746 Ordensniederlassungen mit 7248 Mitgliedern, t8i)6 i3gg Häuser mit I73g8 Personen. Belgien hatte 1827 265 Ordenshäuser, c-)3 ^ür Männer und 232 für Frauen; 1880 155g, 213 f. M. und 1346 f. Fr. Gegenüber dem Stand vom Jahre 178g (37000) betrug die Zahl der Ordensfrauen in Frankreich 1901 etwa das Vierfache. Bei den segensreichen Diensten, die ein großer Teil der Orden der Menschheit leistet, wird kein Un- befangener dieser Entwicklung seine Achtung versagen. Andererseits

B. Von der franz. Revolut. bis zur Gegenwart. VI. Rechtsordnung, Disziplin und religiöses Leben. 2 4g

drängt sich aber auch dem Katholiken die Frage auf, ob hier nicht zu- gleich eine Hypertrophie vorliegt und ob darin nicht auch einer der Gründe zu erblicken ist, aus denen jüng.st in Frankreich der oben er- wähnte gewaltige Rückschlag gegen das Ordenswesen eintrat. Und die gleichen Bedenken erheben sich gegenüber einigen anderen Erscheinungen im religiösen Leben der letzten Zeit, gegenüber der starken Zunahme der Wallfahrten und Pilgerfahrten, der Häufung der Ablässe, der Einführung von besonderen kirchlichen Andachten. Man mag, weil es wie in allen so insbesondere in diesen Dingen schwer ist. Maß zu halten, hier ein mildes Urteil walten lassen. Aber auch so vermag der ruhige Beobachter den Gedanken nicht zu unterdrücken, daß hier die richtige Grenze über- schritten, mehr äußere Werkheiligkeit als innere PYömmigkeit gefördert wird. Am meisten zu beklagen ist, daß es hier auch die kirchlichen Oberen teilweise an der entsprechenden Einsicht und Vorsicht fehlen lassen. Die katholische Kirche bedarf doch solcher Mittel nicht, wenig- stens nicht in jenem Maß. Ihr altüberlieferter Kultus ist reich und er- haben genug, um das religiöse Bedürfnis der Menschheit zu befriedigen und Herz und Sinn zu dem Höheren zu erheben.

Die katholische Kirche des Abendlandes erfuhr hiernach seit dem Ende des i8. Jahrhunderts eine weitgreifende Wandlung. Ein großer Teil ihrer früheren Güter und Rechte ging ihr verloren, und man begreift die Klagen, die darüber laut wurden und da und dort noch sich erheben. Es ist eben schwer, sich in große Katastrophen zu finden; was man be- sitzt, sucht man zu bewahren; die kirchlichen Oberen übernehmen hierzu selbst eine Pflicht. Aber man darf andererseits nicht übersehen: die Existenz der Kirche beruht nicht auf Reichtum und Privilegien; mit jenen Gütern und Rechten schwanden auch zahlreiche Mißstände, die anders nicht zu beseitigen waren, in Jahrhunderten wenigstens nicht beseitigt wurden, und auf dem neuen Boden erwachte und erblühte wieder ein neues und frisches Leben. Am bedeutendsten ist der Aufschwung in Deutschland, und einen beträchtlichen Anteil an demselben hat ohne Zweifel die konfessionelle Gestaltung des Landes. Während in den katho- lischen Nationen unter dem Schwergewicht der Einheit das religiöse Leben einer gewissen Stagnation verfiel, diente der religiöse Gegensatz hier zur besseren Erhaltung des kirchlichen Glaubens und in der Mischung der Konfessionen, die im iq. Jahrhundert gegenüber der früheren gegen- seitigen Abgeschlossenheit eintrat, der Steigerung des religiösen Lebens, indem die einzelnen Konfessionen durch den Kontakt zu größerer Behut- samkeit und Kraftentfaltung angespornt wurden. In Deutschland fand auch die kirchliche Wissenschaft eine regere Pflege. Die anderen Nationen haben wohl einzelne hervorragende katholisch-theologische Gelehrte auf- zuweisen; im ganzen aber erscheint bei ihnen das theologische Studium auf einer ziemlich niedrigen Stufe. ' Das auffälligste Bild bietet Frank- reich dar. Während es im 17. Jahrhundert mit seinen Leistungen im Gebiete

2 i;o Franz Xaa^er Funk : Katholisches Christentum und Kirche Westeuropas in der Neuzeit.

der historischen Theologie die ganze damalige Welt übertraf, traten im 19. Jahrhundert Werke zutage, in denen die Errungenschaften jener Zeit verleugnet und die Gesetze der Wissenschaft aufs gröblichste mißachtet waren, bis endlich vor drei Jahrzehnten durch die neuen katholischen Uni- versitäten eine Wendung zum Besseren herbeigeführt wurde. Dagegen bewährten sich die katholisch - theologischen Fakultäten, die an den deutschen Universitäten entweder aus der früheren Zeit sich erhielten oder neu errichtet wurden, im eigentlichen Sinn als Pflegestätten der Wissen- schaft, und durch Übersetzung von zahlreichen Werken, die von ihnen ausgingen, fand ihre Überlegenheit auch auswärts Anerkennung.

Man war früher in den katholischen Nationen sehr geneigt und ist es zum Teil noch heute, die deutschen Katholiken wegen ihrer vielfachen Eingliederung in Staaten mit vorwiegend protestantischer Bevölkerung mit zweifelhaften Augen anzusehen. Die Zeit hat inzwischen den Beweis geliefert, daß die religiöse Spaltung, so sehr sie einerseits zu beklagen ist, doch andererseits auch wieder dem Guten dienen kann. Tatsächlich besteht sie demnächst seit vier Jahrhunderten, und es ist keine Aussicht, daß sie je wieder gehoben werde. Mögen daher die einzelnen Kon- fessionen bewahren, was sie Wahres und Gutes zu besitzen glauben, und mehr und mehr lernen, in gegenseitigem edlen Wetteifer miteinander im Frieden zu leben. Denn die Religion bildet wie ehedem so auch jetzt noch und fürderhin einen wesentlichen Faktor im Leben der Menschheit und eine unersetzliche Quelle des Segens für Völker und Staaten.

Literatur.

Die Geschichte der kathohschen Kirche in der Neuzeit ist bisher nur in Gesamtdar- stellungen der Kirchengeschichte behandelt worden. Unter den neueren Werken ist am ausführlichsten das mehrfach an Einseitigkeit leidende Handbuch der allgemeinen Kirchen- geschichte von J. Hergenröther 3. A. 1885/86; 4. A. bearbeitet durch J. P. Kirsch I— II 1902/04. \'on den kürzeren katholischen Bearbeitungen mögen erwähnt werden die Lehr- bücher von F. X. Kraus 4. A. 1896; F. X. Funk 4. A. 1902; A. Knöpflp:r 3. A. 1901. Über die Werke von protestantischen Autoren vgl. den nächsten Abschnitt: Der Pro- testantismus.

S. 222. Konzil von Trient. Die wichtigsten Akten- und Dokumentensammlungen sind: Le Plat, Monumentorum ad historiam concilii Tridentini spectantium amplissima collectio 7 tom. 1781/87; A. Theiner, Acta genuina concilii Trid. 2 tom. 1874; J. J. Döllinger, Ungedruckte Berichte und Tagebücher zur Geschichte des Konzils von Trient 2 Bde. 1876; Concilium Tridentinum; diariorum, actorum, epistularum, tractatuum nova collectio ed. Societas Goerresiana, die vollständigste Sammlung, von der einstweilen zwei Bände 190 1/4 erschienen sind. Die bemerkenswertesten und sich gegenseitig ergänzenden Be- arbeitungen lieferten P. Sarpi unter dem Pseudonym Pietro Soave, Historia del concilio Tridentino 1619; französisch durch Le COURAYER 2 vol. 1736; deutsch durch Winterer 4 Bde. 1839/40; Sforza Pallavicini, Istoria del concilio di Trento 3 tom., lateinisch durch J. B. GlATliNO 1670. Dazu J. N. Brischar, Beurteilung der Kontroversen Sarpis und Pallavicinis 1843. Neuere Gesamtdarstellungen von Bedeutung fehlen. J. Hergenröther bietet im zweiten Band der Fortsetzung der Konziliengeschichte von C. J. v. Hepele 1890 nur die Vorgeschichte bis zum Frühjahr 1536, L. Mavnier, Etüde historique sur le Concile de Trente 1878, nur die zwei ersten Perioden oder die Jahre 1545 52.

S. 224. A. Franz, Die Messe im deutschen Mittelalter 1902 S. 329 f.

S. 224. A. Knöpfler, Die Kelchbewegung in Bayern unter Herzog Albrecht V. 1891.

S. 225. J. Cr6tineau-Joly, Histoire religieuse politique et littdraire de la Compagnie dej^sus. 6 vol. 184546; deutsch 18456". J. Huber, Der Jesuitenorden 1873. F. H. Reusch, Beiträge zur Gesch. des Jesuitenordens 1894.

S. 225. M. Heimbucher, Die Orden und Kongregationen der kath. Kirche. 2 Bde. 1896/97.

S. 227. [Tassin] Histoire litteraire de la Congregation de St. Maur 1770; deutsch 1773. E. DE Broglie, Mabillon et la Societe de l'Abbaye de S. Germain des Pres 1888. Broglie, Bernhard de Montfaucon 1891.

S. 227. M. Levdecker, De historia Jansenismi libri \'l 1695. Rapin, Histoire de Jan senisme publice par l'abbe Domeneck 1865.

S. 227. G. J. Phillips, Das Regalienrecht in Frankreich 1873.

S. 228. Die Erklärung der Sorbonne v. J. 1663 bei Du Plessis d'Argentr^, Col- lectio iudiciorum de novis erroribus III, I, 90; in Acta et decreta s. conciliorum recentiorum; Collectio Lacensis I, 811. Die vier gallikani sehen Artikel bei F. Walter, Fontes iuris ecclesiastici 1862 p. 127; Coli. Lacensis I, 831.

S. 228. O. Mejer, Febronius 2. A. 1885. Die Beschwerdeschrift der geistlichen Kur- fürsten v. J. 1673 bei Gärtner, Corpus iuris eccles. II (1799), 322 29.

S. 229. Stigloher, Die Errichtung der päpstl. Nuntiatur in München und der Emser Kongreß 1867.

7C2 Franz Xaver Funk: Katholisches Christentum und Kirche Westeuropas in der Neuzeit.

S. 230. Über die Verminderung der Feiertage in Frankreich 1666 vgl. Revue d'histoire eccldsiastique 1903 p. 40 n. 5; in Spanien 1727 Coli. Lacensis I, 786; in Österreich 1753 '71 Arneth, Maria Theresia IV, 56—81; in Bayern 1772 Archiv f. kath. Kirchenrecht LXXV (1896), 30.

S. 230. [Le Bret] Sammlung der merkwürdigsten Schriften die Aufhebung des Jesuitenordens betreffend. 4 Bde. 1773. A. Theiner, Gesch. des Pontifikates Klemens' XIV. 2 Bde. 1852. [Reinerding] Klemens XIV. und die Aufhebung der Gesellschaft Jesu 1854.

S. 231. L. Ranke, Die römischen Päpste, ihre Kirche und ihr Staat im 16. und 17. Jahrhundert. 3 Bde., 9. A. 1889. A. VON Reumont, Gesch. der Stadt Rom. 3 Bde. 1867/70. M. Brosch, Gesch. des Kirchenstaates. 2 Bde. 1880/82.

S. 232. J. B. SÄGMÜLLER, Die Papstwahlen und die Staaten von 1447 bis 1555, 1890; Die Papstwahlbullen und das staatliche Recht der Exklusive 1862. Wahrmund, Das Aus- schließungsrecht der katholischen Staaten 1890. Lector, Le Conclave 1894.

S. 232. A. VON Arneth, Maria Theresia. 10 Bde. 1863/79. K. Riiter, Kaiser Joseph II. und seine kirchlichen Reformen 1867.

S. 232. J. B. BUCHEZ et P. C. Roux, Histoire parlementaire de la Revolution fran^aise. 40 vol. 1834/38. Jager, Hist. de l'eglise de France pendant la Revolution. 3 vol. 1852. H. Taine, Les origines de la France contemporaine. 6 vol. 1875/93, wiederholt aufgelegt.

S. 233. SciOUT, Histoire de la Constitution civile du clerge. 4 vol. 1872/81.

S. 234. D'Haussonville, L'eglise romaine et I'empire. 5 vol. 3.* ed. 1870. BOUL.W DE LA Meurthe, Documents sur la negociation du Concordat etc. 1800^1801. 5 vol. 1891/97. S6cH]fc, Les origines du Concordat. 2 vol. 1894. Das Konkordat 1801 und die Organischen Artikel bei E. MÜnch, Sammlung alter Konkordate. 2 Bde. 1830/31 ; F.Walter, Fontes iuris eccies. 1862 p. 187 198.

S. 236. Ch. BoiTA, La grande faute des catholiques de France 1904. G. Noblemaire, Concordat ou Separation 1904. Die Aktenstücke zum Fall der Bischöfe von Laval und Dijon in der Civilth Cattolica 1904 III, 465 86; 604 10.

S. 237. O. Mejer, Zur Gesch. der römisch-deutschen Frage. 3 Bde. 2. A. 1885. H. BRÜCK, Gesch. der kath. Kirche in Deutschland im 19. Jahrh. 4 Bde. 1887/1901; I— III 2. A. igoi's.

S. 237. Der Reichsdeputationshauptschluß 1803 bei Walter I. c. p. 138 186.

S. 237. H. V. Sicherer, Staat und Kirche in Bayern 1799— 1821 , 1874. Der Wort laut des bayerischen Konkordates und der die anderen deutschen Staaten betreffenden Bullen in den oben angeführten Werken von MÜNCH und WALTER.

S. 239. Das die Kirche betreffende badische Gesetz v. J. 1860 und das württem- bergische V. J. 1862 bei H. Brück, Die Oberrheinische Kirchenprovinz 1860; dieses auch L. GOLTHER, Der Staat und die kath. Kirche im Königreich Württemberg 1874.-

S. 239. Monographieen über den Kulturkampf von N. Siegfried 1882; F. X. Schulte

1882; WiERMANN 1885; P. MAJUNKE 2. A. 1902; J. F.M.TER I900; H. BRÜCK 190! (Gesch.

der kath. Kirche im 19. Jahrh. IV, i).

S. 240. Zur Geschichte der Kirche in den Niederlanden, Großbritannien, Spanien und Italien vgl. B. Gams, Gesch. der Kirche Christi im 19. Jahrhundert Bd. III 1856. Amherst, Hist. of Catholic Emancipation (1771— 1820). 2 vol. 1886.

S. 241. A. J. Nürnberger, Papsttum und Kirchenstaat. 3 Bde. 1S97 1900. F. X. Kraus, Die Erhebung Italiens im 19. Jahrhundert. Cavour 1902 (Weltgeschichte in Charakterbildern hg. von F. Kampers u. a. V).

S. 243. Affre, Essai historique et critique sur la Suprematie temporelle du pape et de l'eglise 1829.

S. 244. J. Grander.vih S. J., Ciesch. des Vatikanischen Konzils. 3 Bde. 1903 ff.

S. 245. J. F. Schulte, Der Altkatholizismus, Geschichte seiner Entwicklung, inneren Gestaltung und rechtlichen Stellung 1887.

S. 248. O. Braunsberger, Rückblick auf das kath. Ordenswesen im 19. Jahrhundert 1901 (Ergänzungshefte zu den Stimmen aus Maria-Laach, H. 79).

PROTESTANTISCHES CHRISTENTUM UND KIRCHE

IN DER NEUZEIT.

Von Ernst Troeltsch.

Einleitung. Die Kultur der Mittelmeerländer mündet in das römische Reich aus, und die des römischen Reiches geht unter der mächtigen Einwirkung der christlichen Idee über in die große Formation des Katholizismus, der in seinen beiden Hälften das römische Werk der Unterwerfung und Zivilisierung der Barbaren fortsetzte; im Osten mit stärkerer Behauptung der griechisch-römischen Grundlagen, aber innerlich weniger originell und bedeutend und schließlich unter dem Druck des Islam zur Halbkultur herabsinkend, im Westen stärker erschüttert von den Barbaren und größere Einbuße an Kulturtradition erleidend, aber Antike, Christentum und Barbarentum innerlich verbindend und ein Ganzes von reichster Entwicklungskraft schaffend. Im Westen hat die religiöse Idee ihr Meisterwerk vollbracht; sie hat durch eine grandiose kirchliche Organisa- tion das Gesamtleben der Völker unter eine einheitliche Leitung gebracht und es mit einem allmächtigen Gemeingeist erfüllt, eine Schöpfung, die nur so starken Kräften, wie der christlichen Idee und der antiken Römerbildung, und auch diesen nur bei der Wirkung auf unverbrauchte, gewaltig auf- strebende Völker, möglich war. Aber aus den P'esseln dieser Formation brach das selbständig werdende Leben schließlich doch heraus. Die christ- liche Idee war mit dem Katholizismus nicht erschöpft und befreite sich bei der allgemeinen Gärung des Systems zu einer gemütvollen und tief- sinnigen Neubildung, ebenso wie neben ihr die andern Kräfte des künst- lerischen, wissenschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Lebens sich verselbständigten. Aber da eine religiöse Macht nur durch eine andere religiöse Macht wirklich überwunden werden kann, so bedeutete der Pro- testantismus die zentrale Zerbrechung des katholischen Systems, durch die auch für alle anderen Kulturbewegungen erst Raum und Luft wurde, und den Zufluchtsort, zu dem sie sich vor den Reaktionen des katholischen

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

Systems wandten. Dadurch aber erhält der Protestantismus einen Doppel- charakter, den Charakter einer religiösen Neubildung von spezifisch reli- giöser Art und den Charakter des Bahnbrechers und des Hervorbringers der modernen Welt, die von ihm teils unmittelbar durch seine religiöse Idee, teils mittelbar durch seine allmähliche Attraktion der modernen Kulturelemente geschaffen worden ist, bis sich auch in ihr wieder die Entzweiung der religiösen und der allgemeinen Kulturbewegung ein- stellte. Dadurch bekommt sein Wesen etwas Widerspruchsvolles und wird auch seine geschichtliche Auffassung unsicher. Die einen sehen in ihm die Erneuerung des alten vorkatholischen Christentums, die andern betrachten ihn als eine Umformung des Katholizismus und wieder andere sehen in ihm den Beginn und den Schöpfer der modernen Kultur. Um über diese Fragen klar zu werden, bedarf es in erster Linie einer Über- sicht über die Gesamterscheinung, einer Einsicht in die Stellung des Pro- testantismus zur mittelalterlichen und zur modernen Welt.

A. Mittelalterliche und moderne Elemente im Protestantismus.

Falsche Eni- I. Die mittelalterlichen Grundlagen des Protestantismus,

vo^nRe°naUsTifce Renaissance und Reformation gelten als Ende des Mittelalters und Beginn gegen da^Mkie" der Neuzcit. Beide sollen diesen Umschwung dadurch herbeiführen, daß sie auf vormittelalterliche Kulturgrundlagen zurückgreifen. Unter der Beleuchtung dieser alles färbenden und bestimmenden Auffassung pflegt die Darstellung meistens zu stehen. Erwägt man aber, daß das Mittel- alter, für das wir nur einmal diesen sinnlosen Namen haben und ver- wenden müssen, eine ganz bestimmte Kulturform ist, nämlich die auf dem Supranaturalismus der Erlösung und Kirchenstiftung erbaute, kirchlich geleitete Kultur, dann erscheint diese Meinung doch sehr bedenklich. Denn es ist klar, daß diese Kulturform Westeuropa bis zum Ende des 17. Jahr- hunderts beherrscht hat und erst mit dem 18. Jahrhundert wirklich zu- sammengebrochen ist. Ebenso macht die genauere Kenntnis der Vorgänge jeden Tag deutlicher, daß auch das angebliche Zurückgreifen auf vormittel- alterliche Kulturgrundlagen nichts wesentlich Neues einführt und daß das ergriffene Neue durchaus in der durch die bisherige Entwicklung bestimmten Weise gestaltet wird. Das Mittelalter hat die Antike von Anfang an besessen und sie nur zunehmend sich verlebendiget, und es hat sie abgesehen von der italienischen Hochrenaissance in einer ganz eigentümlich stim- mungsvollen und phantasiereichen Weise dem besonderen westeuropäischen Geiste unterworfen. Ebenso und noch mehr hat das Mittelalter das Neue Testament immer besessen und immer aus ihm geschöpft, und die Ver- wertung desselben durch Luther geht in Bahnen, die die mittelalterliche Entwicklung \orgezeichnet hat. Das Mittelalter ist eben nicht, wie der Humanismus und die protestantische Polemik in einer durch Augenblicks-

A. Mittelalter!, u. mod. Elemente im Protestantismus. I. Die mittclalterl. Grund!, d. Protestantismus.

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Stimmung und -polemik eingegebenen Schätzung der Distanzen un.s ein- geredet haben, die Abbrechung einer nun wieder neu aufzunehmenden Kultur, sondern es ist der mächtige Mutterschoß aller westeuropäischen Kultur, in dem die Empfindungen und Gedanken, die Institutionen und Selbstverständlichkeiten des Lebens, die wirkenden Kräfte auf unabseh- bare Zeit hinaus geformt und die jugendfrische Barbarenwelt durch Kirche und Antike gebildet worden ist. Die Spuren dieser Erziehung trägt We.st- europa noch heute tief in seiner Seele.

Die letzten Wurzeln des Mittelalters selbst liegen zwar im all- Die wurzein gemeinen in der Lehre Jesu, nach ihrem besonderen katholischen Wesen liehen KuUur- aber in der Umformung des Evangeliums Jesu, die der Apostel Paulus vorgenommen hat und durch die er es erst zu einer werbenden, ein neues Gesamtleben gestaltenden Religion gemacht hat. Ihm hatte sich die christliche Idee dargestellt in der Gestalt einer übernatürlichen Er- lösung der verlorenen erbsündigen Menschheit durch die Menschwerdung eines himmlischen Wesens und durch die Bildung einer sakramentalen Tauf- und Abendmahlsgemeinschaft der erlösten Gemeinde mit dem ver- klärten himmlischen Haupte. Damit ist, wenn auch erst im Keim, der Gedanke einer göttlichen Anstalt und Stiftung gesetzt, die auf einzig- artigem göttlichen Eingriff in die verlorene, sich selbst überlassene Welt beruht, ihre Gläubigen aus dem absoluten Irrtum in die absolute Wahrheit versetzt und mit der himmlischen Welt als dem einzigen wirklichen Ziel des Lebens verbindet. Es bedurfte nur der Überwindung des urchristlichen Enthusiasmus und autonomen Individualismus sowie der Zurückdrängung der Erwartung des Weltendes, um Raum zu schaffen für ein Priestertum, das die absolute göttliche Wahrheit den Schwankungen individueller Be- geisterung entzieht, sie mit der festen Institution geweihter Persönlichkeiten verbindet und eben damit auch die alleinige Macht zum Vollzug der Sakra- mente gewinnt. Das aber wiederum verstärkt den Sakramentsgedanken; die Sakramente entziehen das Heil den Unsicherheiten der persönlichen Mei- nungen und binden es an sinnliche Mittel, an heilige ßesprengungen, Sal- bungen, Speisungen und Tränkungen. Sobald diese Weiterentwicklung vollzogen war, gab es außerhalb der priesterlichen Kirche kein Sakrament und darum kein Heil und keine Gnade, und es wurde die Liebespflicht der Kirche, in den Bannkreis dieser Anstalt alle Verlorenen und Verdammten zu bringen und mit ihrem Geiste zu durchdringen. Weiter vermochte die Kirche des Orients nicht vorzuschreiten; sie fand an dem fortdauernden Römerstaat und der fortdauernden antiken Bildung eine Kulturmacht, der sie vorbehaltlich der Anerkennung ihres Dogmas und ihrer Sakramente ihrerseits sich unterordnete und die hier der eigentliche Kulturträger blieb, lediglich mit christlichem Firnis überzogen. Über die Durchsetzung der Orthodoxie und die Regelung der Privatmoral ist die Kirche des Ostens nie hinaus- gelangt. Aber damit ist auch die eigentliche Idee der Kirche unentwickelt geblieben: ihr wahres Ziel muß sein, der absoluten und sicher erkannten

256 Ernst Troeltsch: Protestaatisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

g-öttlichen Wahrheit das Leben in seinem Gesamtumfang zu unterwerfen, eine religiös bestimmte und kirchlich geleitete Kultur zu schaffen. Was sie im Osten nicht erreichte, das erreichte sie im Westen, wo der Römer- staat zerfiel und in seine Lücke die Kirche mit ihrer Organisation eintrat, wo die jugendliche Barbarenwelt das Missionsfeld der Kirche und die Kirche für sie zugleich der Quell aller politischen und rechtlichen Tradi- tion, aller Bildung, aller Kultur und Technik wurde. Hier hat sie den Staat geformt und beherrscht, Wissenschaft und Kunst, Familie und Ge- sellschaft, Wirtschaft und Arbeit aus ihrem Geiste geregelt. Der über- weltliche Zweck der Rettung für den Himmel und das "höchste Ideal des rein der Religion gewidmeten Lebens beherrscht alles. Aber dieser reli- giöse Zweck hat zur Voraussetzung die Fortpflanzung und Sicherung, Ord- nung und Organisation des irdischen Lebens. Wie in der areopagitisch- neuplatonischen Denkweise der Kirche das reine göttliche Leben sich stufenweise entäußert und materialisiert, so baut sich umgekehrt das Reich der Erlösung stufenweise auf einer geistlichen Ordnung und Beherr- schung des natürlich- sinnlichen Lebens auf und vollendet es sich in der Mystik der durch die priesterlichen Sakramente bewirkten Gotteinigkeit. Den ganzen Aufbau aber entwirft und beherrscht die Kirche, die eben darum aus der rein geistlichen Sphäre in die weltliche wenigstens durch Ordnung der allgemeinen Grundzüge und durch Kontrolle der Seelen hin- einwirken muß. Sie ist Wahrheit aus Gott, und um Gottes willen muß ihr gehorcht werden. Sie überwindet und verleugnet die Welt, um die Seelen zu retten; aber, um den Seelen diesen Rettungsweg zu sichern und diese Rettung in einem heiligen Leben zu bewähren, muß sie die Welt beherrschen, wobei es nur eine Frage der Ausführung ist, ob sie das mehr direkt oder mehr indirekt tut. Die Idee der geschlossenen Kultur beherrscht sie durchaus. Für sie erscheint der Staat als eine internationale Einheit, wie sie selbst eine Einheit ist, und als mit dem Weltstaat verbundene Welt- kirche braucht sie alle Mittel des Zwanges und der Liebe, der Selbstauf- opferung und Gewalt, um in diesem Gebiet die Herrschaft der göttlichen Wahrheit über alle zu sichern. Sie allein darf die Menschen zu ihrem Glücke zwingen; denn sie allein hat das wahre Glück oder das Heil in ihrer Hand. Sie erzieht die Barbarenwelt in allen weltlichen und religi- ösen Gütern, individualisiert und vertieft das Gemütsleben, entbindet un- ermeßliche Kräfte der Phantasie und des Gefühls, führt wider ihren Willen ihre Schüler zur Selbständigkeit und eigenen Produktion und kämpft durch das ganze Spätmittelalter hindurch mit den Wirkungen ihrer eigenen Er- ziehung, mit dem Reif- und Mündigwerden ihrer Zöglinge.

Wenn man das bedenkt, so ist die Frage wohl berechtigt, ob nicht Renaissance und Reform^ition in erster Linie als Erzeugnisse der mittel- alterlichen Entwicklung selbst zu betrachten sind. 'Frofestantismus 1" bezug auf die Reuaissauce hat man das neuerdings zu zeigen ver-

des Mittelalter" suclit, tcils indem man zeigte, wie in der Franziskanerbewegung und Dante

A. MittelaltPil. u. moil. Flrniont«« Im Protcslantlsmiis. I. Die mlUelalterl. Grundl. d. Protestantismus.

257

die Renaissance aus der inn(>ren Beweg^ung des christlichen Gefühlslebens selbst herauswuchs, teils indem man darauf hinwies, wie in Byzanz gerade die enge Berührung mit der antiken Welt nichts der Renaissance Ähn- liches hervorgebracht hat. Barbarenkraft und religiöse (jemütsvertiefung, die Verfeinerung und Verinnerlichung aller Lebensinteressen, die Aus- weitung der Phantasie ins Grandiose und Zart-Tnnerliche, die Entstehung immer neuer Kämpfe auf Grund der Idee einer kirchlichen Gesamtkultur, die Nötigung, die damit geschaffenen Probleme durch neue praktische und theoretische Schöpfungen zu lösen, und die Ergreifung und Ausdehnung der in der kirchlichen Kultur selbst schon enthaltenen antiken Elemente: das hat die eigentliche und echte Renaissance geschaffen; die antikisierende und heidnische Hochrenaissance Italiens ist nur ein unfruchtbarer Seitenzweig. Dem w4rd im ganzen zuzustimmen sein, wenn auch nicht übersehen werden darf, daß in dieser Renaissancebewegung- aus dem antiken Material philo- sophische, naturwissenschaftliche, historische und theologische Ideen her- vorgingen, die etwas völlig Neues bedeuten, aber freilich zu schwach und verschwommen sind, um gegen den Geist der überwiegend kirchlichen Kultur aufzukommen. Sie bleiben in der Stille und treten mit ihrer Wir- kung erst hervor, nachdem diese Kultur sich in sich selbst verzehrt und dem neuen wissenschaftlichen Geiste selbst die Breschen aufgetan hatte, durch die er eindringen konnte. Wesentlich Wiederbelebung der Antike ist freilich dieser Geist auch so nicht; denn sein Zentrum, die mathema- tische Naturwissenschaft, ist eine völlig moderne Schöpfung.

Ganz zweifellos aber ist es bei dem Protestantismus, daß er in erster Linie unter diesem Gesichtspunkte zu betrachten ist. Er ist zunächst in seinen wesentlichen Grundzügen und Ausprägungen eine Umformung der mittelalterlichen Idee, und das Unmittelalterliche, Moderne, das in ihm un- leugbar enthalten ist, kommt als Modernes erst in Betracht, nachdem diese erste und klassische Form des Protestantismus zerbrochen oder zer- fallen war.

Diesen grundlegenden Satz, der die Voraussetzung für jedes histo- rische Verständnis des Protestantismus ist, gilt es zunächst in Kürze zu erläutern.

Hier ist zuerst negativ der eine Umstand völlig klar, daß die Reforma- DieReformation

keino einfache

tion keine einfache Erneuerung des Urchristentums ist. Die Berufung auf Kmeuenmg des

_ _ _ l'rrhristenturas.

das Evangelium vmd seine Geltendmachung gegen kirchliche Fortentwick- lungen und Entstellungen war ihr Rechtstitel. Aber dieser Rechtstitel war nichts neues; er Avar nur die Isolierung und Herausgreifung eines Grund- elementes des bisherigen Systems. Wenn von da aus zweifellos Ausschei- dungen grundlegender katholischer Institutionen und Ideen vorgenommen worden sind, so ist doch darum der Geist der Reformation selbst keines- wegs der des Urchristentums oder einfach des Neuen Testamentes. Die Differenz zwischen Jesus und Paulus, die Erasmus bemerkt hat und in der er sich an Jesus angeschlossen hat, wird von den Reformatoren gar nicht emp-

DiE Kultur der Geoenwart. I. 4. 17

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

fanden. Sie erneuern ausschließlich den Paulinismus und identifizieren das Neue Testament mit ihm. Das aber ist der augustinisch- katholische Geist, der von der Bibel nur den Paulinismus kennt als die Lehre von den Heilstatsachen, der supranaturalen Gnade, der Heilsaneignung" und der Prä- destination; die Bergpredigt steht von vornherein nur unter dem Gesichts- punkt der Betätigung der paulinischen Gnade, der ethischen Ergänzung zur Heilslehre, Und so ist es auch nicht der eigentliche und volle Pauli- nismus, der hier wirksam ist. Die stark eschatologischen Züge des Pauli- nismus, der lebhafte mystische Enthusiasmus, die Zurückhaltung gegen Welt und Kultur, der Glaube an eine Ausscheidung der Gläubigen aus der Welt und ihre Verbindung mit dem himmlischen Haupt zur Gemeinde der Heiligen und Vollkommenen, sie fehlen vollständig. Luther las im Paulus nur Antworten auf katholische Probleme, auf die Frage nach der Gewißheit des Heils in allen den Schwierigkeiten und Abhängigkeiten der kirchlichen Heils vermittelung, in den Finsternissen der Prädestinations- lehre, und auf die Frage nach den sicheren Maßstäben der christlichen Selbstbeurteilung in all den Schwankungen und Verwickelungen eines un- absehbar durch die Welt sich erstreckenden Lebens. Hinter Paulus ver- sinkt die Welt, und seine Gemeinde der Heiligen ist keine Kirchenanstalt; Luther kämpft gegen die Welt und sucht bei der Kirche den Trost der Heilsgewißheit gegen die Anfechtungen des selbstgerechten oder verzagten Weltsinnes. Daher geht auch die paulinische Erkenntnis und Entdeckung Luthers direkt aus dem Herzpunkt des katholischen Systems herv'or, aus den Problemen des Mönchtums, des Bußsakramentes, der Prädestination, der guten Werke.

Aber auch positiv läßt sich zeigen, daß die Grundidee des Protestan- tismus aus der Kontinuität des Mittelalters herauswächst. Nicht um Schranken und Reste des Mittelalters oder um Rückfälle und Ent- artungen der Epigonen handelt es sich dabei, wie man oft von solchen spricht, um den spezifisch modernen Charakter der Reformation zu er- weisen; sondern die leitenden Ideen erwachsen selbst unmittelbar aus der Fortsetzung und dem Trieb der mittelalterlichen Idee heraus und sind nur neue Lösungen mittelalterlicher Probleme. Und zwar handelt es sich hier um die vier Grundideen des Protestantismus, um die Idee der Gnade und des Glaubens, um die Gestaltung einer religiösen, das Gesamtleben umfassenden Kultur, um die Verwirklichung dieser Idee in einem aus- schließlich von dieser Idee bestimmten und ihr dienenden Staatswesen, um die Konstruktion des Kirchen- und Autoritätsbegriflfes.

i.Derreformato- Der refomiatorische Gnadenbegriff ist eine mittelalterlich -augusti- rische Gnaden- .... *"

und Glaubens- nischc, uicht eiuc unmittelbar paulinische Idee. Bei Paulus ruht die Religion

begriff. _ -, . . , ^

auf dem Geiste als der Mitteilung des erhöhten Christus und ist ihre W irkung der Leib Christi, in dem alle Gläubigen vereinigt, der Welt abgestorben und eine neue Kreatur sind, bis sie der Herr heimholt oder verwandelt beim Kommen des Reiches. Im Katholizismus und in der Reformation ruht

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die Relig-ion auf dem Begriffe der Gnade als der beselig-enden und heil.s- verbürg-enden Kraft, die die Kirche ausspendet. Die Gnade als Spendung- der Kirche und als Reg-ulator des christlichen Lebens in dem Auf- und Niederschwanken der Würdigkeit, das ist auch die Idee der Reformatoren. Sie haben die Gnade in all ihren Funktionen als Mittelpunkt des kirch- lichen Erziehungs- und Erlösungssystems belassen, nur ihren Inhalt anders gedeutet. Sie ist, wie Melanchthon klassisch formulierte, nicht medicina, sondern favor', nicht eine sakramentale res, die mit allerhand Vorberei- tungen und Dispositionen wie ein Zauber empfangen wird, sondern Offen- barung der sündenvergebenden Liebesgesinnung Gottes, die nichts verlangt als Annahme und Vertrauen; sie ist nicht Sache, die sachlich wirkt, sondern Gedanke, der gedanklich und gefühlsmäßig wirkt. Von da aus ist der katholische Gnadenbegriff umgebildet und alles getilgt, was aus dem ding- lichen Eingießungscharakter folgt und was dem gedanklichen Charakter einer Gewißmachung über unsere Sündenvergebung widerspricht. Eben- deshalb bleibt auch der katholische Grundbegriff der Justifikation in seiner zentralen Stellung. Katholisch ist die Justifikation die Eingießung des sündentilgenden und gerechtmachenden Gnadenstoffes, lutherisch ist sie die Vergewisserung über die Sündenvergebung durch das Wort Gottes, wodurch dann aus dem gegen Gott veränderten und mutig gemachten Herzen die guten Werke in psychologisch verständlicher Notwendigkeit hervorgehen. Der Justifikation.sbegriff bleibt in seiner zentralen vStellung, er bleibt die ganze Religion. Die formelle Analogie mit ihm geht so weit, daß die Apologie Melanchthons sagen kann: „ideo justificamur, ut bona Opera facere possimus", d. h. zu dem Zweck erhalten wir die Gewiß- heit der {Sündenvergebung, damit wir in der dadurch vermittelten neuen Herzensstellung zu Gott aus innerer Notwendigkeit das Gute tun. In diesem Schema ist auch bei vorsichtigerem Ausdruck die prote.stantische Justifikationslehre immer geblieben. Es i.st das katholische Schema, nur sein Inhalt ist anders.

Ähnlich steht es mit dem Glaubens begriff. Auch er ist nur Fort- setzung eines mittelalterlichen Grundbegriffes. Zum Begriff der Gnade als des objektiven von der Kirche zu verwaltenden vSchatzes gehört der Begriff der subjektiven Aneignung dieser Gnade. Wie die Gnade als medicina im Sakrament eingeflößt wurde, so war die Gnadenaneignung nichts anderes als der vSakramentsempfang mit den dazu gehörenden Vorberei- tungen und Bewährungen oder Kirchenstrafen. Den Begriff des Glaubens konnte der Katholizismus für diese Aneignung' nicht verwenden, weil der Glaube nur die Unterwerfung unter die Kirchenlehre war, somit nur eine Einzelstelle in der Disposition für den Sakramentsgenuß einnehmen konnte. Er hatte überhaupt für die subjektive Aneignung keinen bestimmt ge- prägten Begriff. Denn als eine fremde Religion und In.stitution die Barbaren- welt überkommend, hat er zunächst auf die äußere Aneignung und Unter- werfung, auf Sakramentsgebrauch, Lehrgehorsam, Befolgung der kirchlichen

17*

2 6o Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

Gesetze gedrungen und hat dabei die Innerlichkeit und Persönlichkeit der Religion nur wahren können durch möglichsten Ernst der Reue und durch die Forderung möglichster praktischer Bewährung. Die Sache war ein ver- wickelter Prozeß, und daher fehlt auch ein einheitlicher Xame. Es ist aber unverkennbar, wie die Einheit des Vorgangs und das Streben nach innerlich persönlicher Aneignung der Gnade im Laufe der kirchlichen Erziehung und des inneren Eingehens der Barbarenwelt auf die fremde Religion stärker hervortritt. Die innere Christianisierung oder Katholisierung des Gefühls hat viele Jahrhunderte gedauert. Als sie aber die alten heidnischen und kriegerischen Instinkte gebändigt hatte, trat diese persönliche Gnaden- ergreifung immer stärker als Grundaufgabe der Religion hervor. In dieser Linie liegt die ganze Entwicklung des Mönchtums, das keineswegs bloß der Askese, sondern vor allem der persönlichen Heilsaneignung dient und die Bedingungen einer rein innerlich persönlichen Religiosität in immer neuem Anlaufe schaffen will. In dieser Linie liegt femer das Wachstum der mittelalterlichen Mystik, die ebenfalls der bloß erkenntnis- und gehorsamsmäßigen Aneignung eine innerlich -persönliche zur Seite stellen will; sie benutzt zunächst die neuplatonischen Muster der Anleitung zu psychologisch verständlicher persönlicher Religionsförderung und findet in der städtischen Laienkultur dann für diese Gedanken die Einfachheit und Popularität, die Luther als „deutsche Theologie" so sehr entzückt hat; in den Neuplatonikern der Renaissance benutzt sie wiederum in klassischer Form nur wieder dieselben Mittel zu demselben Zwecke. In derselben Linie liegt schließlich der Nominalismus, die Entdeckung des Willens und des irrational-persönlichen Elementes in der Religion und die Verwandlung alles Doktrinären lediglich in ein antirationales Gottesgeheimnis, neben dem der Willensaufschwung der Seele die Hauptsache ist. So ist das Aneignungsproblem der Barbarenwelt von Anfang an gestellt. Die Auf- pfropfung einer fremden Religion führt zu immer stärkeren Aneignungs- und Verinnerlichungsversuchen, damit zu immer größerer Emanzipation von dem bloßen theokratischen und sakramentalen Apparat; aber alles das ist nur die Lösung des vom Katholizismus gestellten Problems. Der Glaubensbegriff Luthers ist nur der Höhepunkt dieses Aneignungsvorganges. Er vereinfacht und verinnerlicht ihn bis auf einen ganz einfachen Vor- gang, auf das Vertrauen zum sündenvergebenden Gnadenwillen Gottes. Daher hat auch er erst den einheitlichen Namen für diesen Vorgang ge- funden. Dabei hat ihm freilich Paulus zur entscheidenden Erkenntnis ver- holfen. Aber seine Lehre ist doch eben nur die Heranziehung des Paulus für dieses große mittelalterliche Problem und nicht die Erneuerung der Idee des Paulus überhaupt. So tritt der Begriff des Glaubens in alle Funktionen des katholischen Heilsaneignungsbegriffes ein, an Stelle der Dispositionen und Satisfaktionen. In der Justifikation wird der Begriff der Gnade neu und so auch der der Gnadenaneignung, aber die Justifikation selbst bleibt bestehen.

A. Mittelalter!. u.mod. Elemente im Protestantismus. I.Die mittclalterl.Grundl.d.rrotestantismus. 26 1

Noch deutlicher ist der Sachverhalt bei der protestantischen Ethik. 2. Di« reforma-

,,.. . -,.. . 1 1 f t n-ii ¥• torische Kthik.

Auch Sie ist nur eine neue J.osung euies mittelalterlichen Problems. Ks ist das spezitische Problem des Mittelalters, worin es über die alte Kirche hinausging und das ihm durch die Zuwendung der Kirche zu den Barbaren erwuchs. Hier war die Gelegenheit, die christliche Idee bis in die letzte Konsequenz, bis zu einer ethischen Totalgestaltung des Lebens, fortzu- führen. Bis zu einem gewissen Grade hat die Kirche auch dies Ideal im Innozentischen Zeitalter verwirklicht, und trotz aller von da ab einsetzenden Veränderungen, trotz der Entstehung nationaler Staaten und der städtischen Kultur, blieb doch diese Idee in Geltung. Alle Reformversuche sind nur Versuche, das Ideal strenger und reiner durchzuführen, in dessen Verwirk- lichung die Papstkirche erlahmt oder verweltlicht war. Auch die Idee der Reformatoren ist nicht etwa Trennung von Weltlichem und Geist- lichem, um das Weltliche sich selbst zu überlassen. Die Idee ist vielmehr auch hier die, das christliche Kulturideal strenger, reiner, vielseitiger durchzuführen. Es handelt sich nur um neue und bessere Mittel. Nicht Säkularisationsstimmung wie im 18. Jahrhundert, sondern im Gegenteil strengste religiöse Reformstimmung; nicht asketische Preisgabe der Welt wie im Urchristentum und Täufertum, sondern positive, universale christ- liche Weltgestaltung; nicht w^eltscheues, auf religiöse Kreise sich zurück- ziehendes Konventikelwesen, sondern tiefere Christianisierung von innen heraus; nicht leichter und bequemer, weltlicher und reicher, sondern strenger und ernster, leidensfreudiger und gottvertrauender, liebevoller und opferreicher sollte das Gesamtleben in Staat und Gesellschaft, Kirche und Haus werden. Die protestantische Ethik der beiden Konfessionen ist wie die des Katholizismus eine geschlossene Kulturidee. Dabei bereiten Eigentum, Staat, Kirche, Krieg und Zwang dieser christlichen Ethik trotz der Berg- predigt so wenig Schwierigkeiten wie der katholischen; wie diese hat sie alles das als von Gott in der erbsündigen Welt zugelassene und gebotene Daseinsformen betrachtet, die es nur gilt, unter den höchsten geistlichen Lebenszweck zu stellen.

Nun ist für die christliche Ethik mit ihrer Innerlichkeit und Freiheit, ihrer Liebes- und Jenseitigkeitsgesinnung eine solche Kulturethik mit Einschluß der ganzen staatlichen Ordnung und der Politik nicht leicht durchzuführen. Diese Schwierigkeit hatte schon die alte Kirche empfunden und sie hatte daher, wie den Logos mit der Gottesoffenbarung in Christo, so die stoische Lehre von der Lex naturae, vom natürlichen, vernünftigen, allgemeinen Sittengesetz mit dem christlichen Sittengesetz für identisch erklärt. In der alten Kirche wirkte das nur erst für die Sphäre des Privat- lebens. Die mittelalterliche Kirche bedurfte aber einer Ergänzung des christlichen Ideals gerade für Staat, Recht, Gesellschaft und Wirtschaft. Sie fand das, indem sie die Lex naturae fortwährend erweiterte und auch die aristotelische Staats- und Wirtschaftslehre und schließlich alle rationell scheinenden Gesichtspunkte in sie hineinzog und vermöge der behaupteten

2 02 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

Identität von Lex naturae und Lex Christi alles das wenigstens indirekt als christlich legitimierte. Die Lex Christi enthielt als über das natürliche Ge- setz hinausgehende Gebote nur die asketischen Gebote der evangelischen Ratschläg'e, Gelübde und kirchlichen Leistungen. So legierte die Kirche das weiche Metall der christlichen Ideen mit dem harten der antiken Staats- und Wirtschaftslehre und glaubte vermöge ihrer Theorie von der Einheit von Vernunft und Offenbarung, von natürlichem und offenbartem Sittengesetz, die Mischung für einfaches und gediegenes göttliches Gold er- klären zu dürfen. Nur so konnte eine kirchliche Kulturethik überhaupt mög- lich werden. Die aus der Natur der Dinge folgenden sittlichen Notwendig- keiten und Bildungen sind alle zusammen untergeordnet unter der Leitung des Staates, und stehen mit diesem, der in der Theorie immer als Universal- staat gedacht ist, unter der kirchlichen Leitung, die außerdem Wissenschaft, Kunst, Armen- und Krankenpflege unter ihrer direkten Aufsicht hat: alles das nur Vorbereitung und Unterstützung einer Lebensführung, die aus den natürlichen Tugenden durch die sakramentale Gnade emporgehoben wird zu den übernatürlichen Tugenden des Glaubens, der Carität und der Hoffnung. Diesen ganzen Aufriß nun behält die protestantische Ethik bei. Sie hält an dem Ideal einer christlichen, religiös-kirchlich geleiteten Kultur fest und vermag auch ihrerseits die Erfüllung der christlichen Ethik mit innerwelt- lichen Kulturgedanken nur durch die als selbstverständlich beibehaltene Gleichung von Lex naturae und Lex Christi zu gewinnen. Melanchthon hat die Formeln hierfür als die Grundsäulen protestantischer Kultur aus- gearbeitet und unter die mit dem Dekalog identische Lex naturae auch das in der Rezeption begriffene römische Recht einverleibt. Gestrichen wird nur das Ziel der asketischen Tugenden und die Vorzüglichkeit des Mönchtums; das scheinen jetzt neue willkürlich erdachte Vortrefflichkeiten, mit denen der Mensch sich einen besonderen Platz für die christliche Tugend ausmittelt und sie dadurch sich bequemer macht; viel schwerer und viel christlicher ist es, die christlichen Tugenden der Weltverleugnung betätigen mitten in der Welt und in den Eormen des Berufslebens. Ge- strichen wird ferner die äußerliche organisatorische Suprematie der Kirche und des Priestertums, indem der Protestantismus von einer wirklich christianisierten Obrigkeit erwartet, daß diese von sich aus, aus Liebe zum Evangelium und in Erkenntnis ihrer Pflicht gegen die Kirche, freiwillig sich zur Durchbildung einer christlichen Kultur zur Verfügung stellen werde. Was die Papstkirche in angemaßter Erhebung über den Staat selbst und direkt bewirken wollte, das bewirkt die reine Kirche durch den freien Einfluß des Evangeliums auf den guten Willen der christlichen Obrigkeit, der sie getrost und zuversichtlich alle diese Aufgaben überweist, sich nur die rein religiöse Aufgabe der Predigt und der Gesinnungs- bildung vorbehaltend.

Auch die Stellung zur Askese bildet keinen prinzipiellen Unterschied zwischen katholischer und protestantischer Ethik. Auch der Protestantismus

A. Mittclaltcil.u.mod. Elemente im Protestantismus. I. Die mittelalterl.Grundl.d. Protestantismus. 263

kennt die Askese und hat als gerstliche Kultur in ihr sein Zentrum. Es ist nur der Sinn der Askese verändert. Der Katholizismus baut in areopa- gitischer Weise die verschiedenen Systeme übereinander auf, über der natürlichen Vollkommenheit die übernatürliche Vollkommenheit, über dem Staat die Kirche, über der Weltfrömmigkeit die a.sketische Lei.stung. In diesem Stufengang steigt man auf zur Erlösung und zur Teilnahme an dem übernatürlichen unendlichen Sein Gottes. Der Protestantismus schiebt alles das ineinander. Sein Gotte.sbegriff kennt einen solchen stufenweisen Aufbau nicht, sondern läßt Gott überall gegenwärtig sein, was er freilich in der sündig verdorbenen Schöpfung nur durch die Erlösung kann. In der natürlichen Urstandsvollkommenheit war die geistliche wesenhaft ent- halten, in der christlichen Kultur sind Staat und Kirche ununterscheidbar eins und vertauschen oft genug ihre Funktionen, in der persönlichen Christ- lichkeit ist weltliche Leistung und die innere Unabhängigkeit des Herzens von aller Welt und allen weltlichen Gütern eins. Mitten in der Welt die Welt überwinden; sie haben als hätte man sie nicht; ihre Werke tun und doch das Herz im Himmel haben; keine besonderen Bedingungen und Um- stände für die Heiligkeit suchen, sondern sie im strengsten Ernste unter Schickung in die natürlichen Lebensordnung'en betätigen; von der Welt empfangen, was ihr Wesen ist, das Leiden und die Strafe für die Sünde, dagegen an ihr tun, was des Geistes ist, die Selb-stverleugnung und Liebe: das ist die protestantische Askese. „Die Weltverleugnung ist allen Christen geboten, hilft nicht, daß Du es von Dir schiebst auf die Münch", sagt Sebastian Franck, in diesem Stücke ein guter Lutheraner. Den gleichen Sinn hat es, wenn Luther sein Petschaft ein schwarzes, das rote Herz erfüllendes Kreuz in weißer Rose auf blauem Grund, umgeben von einem goldenen Ring als Merkzeichen seiner Theologie erklärt: das schwarze Kreuz imd das lebensrote Herz erinnern an die Mortifikation, die nicht die Natur zerstört, sondern erhält; „solch Herz aber soll mitten in einer weißen Rose stehen, anzuzeigen, daß der Glaube Freude, Trost und Frieden gibt; darum soll die Rose weiß und nicht rot sein, denn weiße Farbe ist der Geister und aller Engel Farbe; solche Rose .steht im himmelfarbenen Feld darum, daß solche Freude im Geist und Glauben der Anfang ist der zukünftigen himmlischen Freude; und in solch Feld einen goldenen Ring, darum daß solche Seligkeit ewig währet und kein Ende hat und auch selig ist über alle Freude und Güter". Der weltflüchtigen katholischen Askese steht die innerweltliche protestantische Askese gegenüber, welche auch ihrerseits im geistlichen Leben und der himmlischen Seligkeit den einzigen Zweck des Daseins sieht und den Katholizismus gerade wegen der Abschwächung der Erbsündenlehre der Laxheit und Weltlichkeit zeiht. Die äußerste Steigerung der Erbsündenlehre und die äußerste Entkleidung der welt- lichen Güter von jeder Selbstzwecklichkeit charakterisiert den Protestantis- mus und läßt ihn gegen das Natürliche viel schroffer sein, als es der Katholizismus ist, der es immer nur an einzelnen Punkten und nicht im

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Gesamtumfang des Lebens aufhebt, der die .Sinnlichkeit im Mönch über- windet, um sie im Weltfrommen dulden zu dürfen, der das Fleisch in der Fastenzeit tötet, um ihm übrigens sein natürliches Recht zu lassen.

3. Das protestan- Setzt sich derart die mittelalterliche Tendenz fort in der Idee einer reli- kircheutum. giöseu Gcsamtkultur, so setzt sie sich gleichfalls fort in der mittelalterlichen Konsequenz dieser Idee, in der Forderung, daß dieser Kultur die gesamte erreichbare Menschheit unterworfen werde. Wo die Kultur auf dem absolut göttlichen Ziel der Seligkeit beruht und ihren Träger in der abso- solut göttlichen Wunderkraft der Kirche hat, da wird es Pflicht, die g'esamte erreichbare Menschheit Gott zu unterwerfen. Daher bedurfte das Mittelalter des Universalstaates, den es in der Fiktion stets festgehalten hat. Das ist nicht bloß Fortsetzung des römischen Imperialismus, sondern Korrelat der kirchlichen Idee. Die Universalkirche braucht für ihre Universalkultur den Universalstaat, der ihr für Aufrichtung und Durch- führung dieser Kultur seine Dienste leistet und den Gottlosen mindestens den Mund stopft.

Dieser Gedanke ist nun vom Protestantismus als selbstverständlich übernommen worden. Auch er arbeitet zunächst mit der Idee der Reform der Gesamtchristenheit. Erst das Scheitern dieser Erwartungen und die Haltung des Kaisers hat ihn zu dem Notbau des Landeskirchentums ge- führt. Aber dieses Landeskirchentum ist dann sofort nichts anderes als die Verwirklichung des Ideals einer geschlossenen kirchlichen Universal- kultur im kleinen Rahmen und mit vielfältiger Wiederholung, nachdem das Ziel im ganzen und großen unmöglich geworden ist. Die Einheitlich- keit wird wenigstens im Einzelstaat aufs strengste gewahrt. Alle Ein- schränkung der Kirche auf geistliche Mittel ist nur so gemeint, daß vom Worte Gottes die Bekehrung aller gläubig" erwartet wird und hartnäckigen Ketzern als Störern der öffentlichen Ordnung der Staat das Handwerk legt. Schließlich aber ist unter mildern Formeln das katholische Ketzerrecht wieder eingezogen, die notwendige Konsequenz des Gedankens, die nur ein allzu optimistisches Vertrauen zur Bekehrungskraft des g'öttlichen Wortes sich eine Zeitlang verbergen konnte. Das Verhältnis von Obrig- keit und Kirche ist dabei freilich neu geordnet und der Kirche jeder hierarchische Charakter genommen. Es ist als freiwillige Harmonie der Obrigkeit und der Prediger in gemeinsamer Anerkennung des göttlichen Wortes gedacht; aber an dem Gesamtcharakter der katholischen Kultur- idee ist damit nichts geändert. Auch die protestantische Berufsethik ändert nichts an diesem Charakter, denn die Berufe sind gottgeordnete Stellen in diesem geistlich-weltlichen System, an denen jeder seinen Beitrag zum christlichen Gemeinwesen zu leisten hat.

4. Die protestan- Ein solches Kultursvstem ist schließlich nur zu denken, getragen von

tische Autoritäts- 00

lehre. euier starken geistlichen Autorität. Sein Rückgrat ist das fortdauernde Wunder der Erlösungs Wirkungen durch die Kirche und der Besitz einer absoluten Wahrheit in der Kirche. Die Kirche muß ein absolutes Wunder,

A. Mittelalter!. u.mod.F.lcnu'ntr im Protestantismus. I. r)ie mittclnltcrl.tiruiidl.cl. I'rotcstiintibmus. 265

eine unmittelbar göttliche Kraft sein, allgemein, apostolisch, heilig, unfehl- bar. Sie muß eine göttliche Anstalt und Stiftung- sein und darf keine Korporation von Menschen sein, die mit nur menschlichem Recht auf Grund gemeinsamer Überzeugung sich vereinigen. So hat der katholische Kirchenbegriff sich als Zentrum der christlichen Kultur ausgebildet, und mit allen diesen Prädikaten geht er auch über in den Protestantismus. Nur das Wesen der Kirche selbst ist geändert, ihr formeller Wunder- und Anstaltscharakter bleibt. Es ist nicht mehr die sakramentale Gnaden- eingießung und der character indelebilis des zu diesen Wunderverrich- tungen qualifizierten Priesters, sondern die Predigt des reinen Schrift- wortes und die ihm innewohnende wunderbare Bekehrungskraft, was den Organisationspunkt der Kirche bildet. Das „Wort" ist der Stellvertreter Gottes auf Erden, aus dem „Wort" quillt alle Wahrheit und Bekehrungs- kraft; auf der Wortverkündigung und bei den Reformierten auch auf der Wortanwendung in der Kirchenzucht beruht die Göttlichkeit des Predigers, aus dem Gott spricht, sofern er das reine Wort verkündet. Es ist ein Supranaturalismus des Kirchenbegriffs, der formell dem katholischen nichts nachgibt, und auch der Autoritätsgedanke ist aufs strengste aus- geprägt. Das supranaturale Institut bedarf einer supranaturalen Autorität, und der Protestantismus hat das Infallibilitätsproblem früher gelöst als der Katholizismus, indem er den Satz formulierte: Breviter, quod illis est Papa, nobis est scriptura. Erst der Protestantismus hat die Inspiriertheit der Bibel im stengsten Sinne gelehrt und erst er hat den Kanon in voller Strenge abgeschlossen, während der Katholizismus seine Grenzen in die gemeinkirchliche Literatur verfließen ließ. Er hat die Poesie der kirch- lichen Legende zerstört, der mythologischen Produktion und der Fortdauer des Wunders ein Ende gemacht, nicht aus rationalistischer Kritik, sondern aus Bedürfnis nach rein übermenschlicher Autorität, die eben nur die Bibel bot. Auf Besitz und Erkenntnis des reinen Wortes ruht die reine, allein selig machende Kirche. Wenn Luthers kindlicher Idealismus diese seine Kirche in allen Kirchen irgendwie eingeschlossen dachte, so macht das seinem weiten und warmen Herzen alle Ehre; aber es ändert prak- tisch nichts daran, daß doch die eigene Kirche, wo man die Macht hat, durchaus als alleinige Herrscherin alles Denkens und Lebens im Staats- gebiet zu gestalten ist. Und wenn Calvin seine Kirche mit strengeren und faßbareren Attributen ausstattete, so zog er nur praktisch die Konse- quenz des kirchlichen Kulturideals, das Luther haben wollte, ohne die nötigen Mittel dazu auszubilden.

So ist es nicht zu verwundem, wenn die nächste Wirkung des Re- Nachblute des

. . . . ' =" Mittelalters als

formationszeitalters eine zweihundertiährige gewaltige Nachblüte des Mittel- Wirkung der

.... , . . J ö ö es Reformation.

alters ist, die den bereits gebildeten Trieben und Knospen einer weltlichen Kultur den Saft entzieht. Nur sind es jetzt sozusagen statt eines drei Mittel- alter nebeneinander, jedes überzeugt, die absolute Wahrheit zu haben, und jedes die ihm erreichbare Kultur aufs .strengste bindend. In allen dreien

2 66 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

herrscht das aUkirchhche Dogma und das antike anthropozentrische Welt- bild; alle drei haben Copernicus und Galilei verworfen und Giordano Bruno von sich gewiesen. Dabei werden sie einander durch die gemeinsamen Fragestellungen der Kontroversliteratur, durch analoge Unterwerfung des Humanismus unter geistliche Ideale, durch gemeinsame Erzeugung und Benutzung eines neuscholastischen Aristotelismus immer ähnlicher. Auf Praktiker und Staatsmänner hat dieses Nebeneinander von drei einander ausschließenden Übernatürlichkeiten freilich oft genug relativistisch ge- wirkt, und oftmals fühlt man, daß es doch eben ein gebrochenes Mittel- alter ist. Aber im ganzen sind auch sie bis in die Winkel der juristischen und volkswirtschaftlichen Literatur hinein von diesem Geiste beherrscht.

Die modernen II, Die Aufhebung der mittelalterlichen Idee. Über alledem

Elemente des » _ . . -.y . - _,

Protestantismus, darf nun freilich das Neue nicht übersehen werden, das der Protestantis- mus gebracht und durch das er wenigstens zu einem Teil der Schöpfer der modernen Welt geworden ist. Nur bedarf dies Neue überall erst der Lösung von der engen Verbindung mit der supranaturalen Kirchen-, Autoritäts- und Kulturidee der Reformation, vim wirklich als prinzipiell Neues zu wirken.

Hier ist zunächst der ungeheuren praktischen Wirkungen zu gedenken, die die Losreißung des halben Europa von der päpstlichen Universal- monarchie, die Aufhebung der Hierarchie und des Mönchtums, die Ein- ziehung des Kirchenguts und das Verschwunden der weltflüchtigen Askese gebracht hat. Die Beförderung des Absolutismus, die Ausbildung einer nationalen Politik, die Entstehung einer einheitlichen rationellen Volks- wirtschaft sind hierdurch zweifellos bewirkt oder nahegelegt worden. Aber ihre volle Wirkung als Grundlagen einer neuen Kultur haben diese Fortschritte doch erst getan, seitdem sie die Oberherrschaft der geistlichen Tdee und die kirchliche Konformität des vStaates überhaupt und das heißt auch des protestantischen gebrochen haben. Und das geschah doch erst im Zusammenhang" mit der Selbstzersetzung des kirchlichen »Systems und mit dem Aufkommen einer neuen, rein weltlichen Wissenschaft.

Das Wesentliche sind daher doch nur die positiven religiösen Ideen der Reformation selbst. Sie sind in der innersten Wurzel antikatholisch. Aber sie kommen zunächst über das Wurzelstadium nicht hinaus; und als sie über dies Stadium hinauswuchsen und in freier Luft sich entfalteten, da führten sie in ein unermeßliches Wirrsal neuer Probleme. Es ist eben nicht so leicht, sie aus dem Boden der katholischen Kirchen- und Kultur- idee zu lösen, in dem sie gewachsen waren. Immerhin ist die Wendung erkennbar genug.

Die AufhcbunK Die religiöse Zentralidee des Protestantismus ist die Auflösung des

lies Sakraments- , iii-ioi

begriffosaisrcii S akr am e u tsb e g r 1 f t e s , des echten und wahren katholischen Sakraments- giöse Zentral- . TT-»r c^ t i\-t-i-

idee des begriffes; wenn die Reformatoren zwei „Sakramente" haben bestehen

ProtestantisHius. .,,,. . ,-if.i -i i j

lassen, so sind das keine eigentlichen Sakramente, sondern nur besonaere

A. Mittelalter!, mul mod. Elemente im Protestantismus. II. Die Aiifhehunfj der mittelalterl. Idee. 267

Darstellungsformen des Wortes. Das Wesen der katholischen Sakraments- idee ist die Aufnahme der alten Urform des religiösen Verkehrs der Menschen mit der Gottheit, der Bindung übersinnlich göttlicher Wirkungen an sinnliche Mittel. Die Gottheit wird gegessen und getrunken, sie wird geopfert und ihr Blut angeeignet, sie strömt zu in heiligen Wässern, heiligen Ölen und heiligen Räucherwerken. Sie wohnt an heiligen Orten und in heiligen Menschen, die allein die göttliche Wunderkraft haben, all diese Zauber zu verwirklichen. Im katholischen Sakrament ist es freilich kein ein- facher Zauber und Blutsbund, sondern in dem sinnlichen Mittel wird die ganze religiöse Gefühlswelt und sittliche Kraft eingegossen. Aber gerade, daß das nicht in Menschenhand liegt und nicht vom wandelbaren Subjekt abhängt, sondern völlig objektiv im sinnlich-übersinnlichen Wunder des Sa- kraments konferiert wird, das macht die Sicherheit und Göttlichkeit des Heils aus. Von diesem Punkte aus läßt sich der ganze Katholizismus konstruieren. Um des Sakramentes willen braucht er das Priestertum, als die durch wunderbare Weihe und Kraftzusammenhang mit Christus zur Sakraments- spendung befähigten Mittler. Außerhalb des Sakraments ist kein Heil, keine wahre Frömmigkeit, keine wahre Sittlichkeit. Daher muß die Sa- kramentskirche herrschen über alle und eine unwürdige Menschheit er- ziehen und überwachen durch das Sakrament. Darum muß sie die durch das Sakrament verliehene religiöse Vollkommenheit abtrennen von aller natürlichen, und, wie das Sakrament selbst aus der Übernatur der trans- zendenten Gottheit stammt, so ist die von ihm verliehene Sittlichkeit eine weltflüchtig - asketische. Das Sakrament schließlich fordert als Gegen- gewicht die strengste Gesetzlichkeit.

An diesem Zentralpunkte nun hat Luther das katholische System durchbrochen. Seine Lehre von Gnade und Glaube macht die objektive Religion zu einem Gedanken von Gott und die subjektive zu einem Be- jahen dieses Gedankens oder zum Glauben und entwickelt alle Folgen rein psychologisch aus der Bejahung des Gedankens von Gott. Der Ka- tholizismus schaltet den Gedanken aus zugunsten sakramental - dinglicher Krafteinflößungen, die dann aber doch Gedanken, Gefühle und Willen hervorbringen sollen. Dieses sinnliche Wunder hat Luther beseitigt und nur das Wunder des Gedankens bestehen lassen, daß der Mensch in seiner Schwachheit und Sünde einen solchen Gedanken fassen und vertrauensvoll bejahen könne. Die Religion und das Wunder ist in die Sphäre des Gedank- lichen und des psychologisch Verständlichen gezogen, und damit ist dem katholischen System das Herz ausgeschnitten. Damit fällt dann auch das Priestertum, es bedarf nur des Predigers solcher Gedanken, die an sich jeder ja auch selbst in der Schrift finden kann. Damit schwindet die Unmündig- keit der vom Priestersakrament abhängigen Menge; jeder kann sein eigener Priester sein und jeder sich selbst das Sakrament des Wortes reichen; alle Christen sind mündig und gleich in geistlichen Dingen. Damit schwindet schließlich die weltflüchtige Askese. Denn kein Sakrament trennt mehr

2 08 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

Natur und Übernatur; keine besondere Schaffung weltentrückter Be- dingungen ist mehr nötig, um das Überweltliche zu gewinnen und zu genießen. Der Gedanke kann sein mitten in allem Weltlichen; und seine religiösen Wirkungen können uns begleiten und durchdringen mitten in allem Tun des Berufs. Das Gesetz wird in ihm zur Freiheit. Damit ver- schwindet schließlich und vor allem der katholische Begriff Gottes, der neuplatonisch als Übernatur über der Natur thronte und aus der Natur heraus nur durch natürlich - übernatürliche Mittel in eine andere darüber liegende Sphäre erheben kann. Gott ist gegenwärtig mitten in seiner Welt und überall mitten in ihr durch den glaubenden Gedanken, durch demütige Sündenerkenntnis und vertrauende Hingabe zu erreichen.

Das alles sind Gedanken von der ungeheuersten Bedeutung. Es ist die Innerlichkeit, Persönlichkeit und Geistigkeit der Religion; die Autonomie, Freiheit und Ganzheit der aus der Hingabe an Gott quellenden Sittlich- lichkeit; es ist die Immanenz und Gegenwart Gottes in seiner Welt und die Weihung alles Natürlichen als eines gottgewollten Bestandteils seiner Schöpfung; die Überwindung des bösen Willens rein durch die Erkenntnis des göttlichen Heiligkeits- und Gnadenwillens. Verknüpfung Aber dicsc völlig" modernen Gedanken haben nun die Reformatoren

der verinnerlicli-

ten Religion mit mit zwci völHg unmodemcn Gedanken unlösbar verknüpft: erstlich mit

Verstärkung der

Autoritäts- und dcr Bindung der erlösenden Gotteserkenntnis an eine absolute objektive

Erbsiindealehre.

supranaturale Autorität und eine diese Autorität handhabende Kirchen- anstalt von nicht minder supranaturalem Charakter; zweitens mit der aufs höchste gesteigerten Lehre von der Erbsünde, die alles Christliche vom Außerchristlichen isoliert, die Gegenw^art Gottes in der Schöpfung und den natürlichen Gütern wieder entwertet und das ganze Weltbild an den Mythos von der ursprünglich vollkommen leidlosen, todesfreien und dann um der Freiheit wollen verlorenen und leidvollen Welt festheftet. Mit dem ersten ist die ganze Idee der geschlossenen kirchlichen Zwangskultur ge- geben, die unter die göttliche Wahrheit und ihr Institut die Welt zu beugen verpflichtet ist, und mit dem zweiten die spezifisch altprotestantische Askese, die alles Weltleid als Sündenstrafe und alles Irdische nur als Mittel des Himmlischen betrachtet, und daher von einem Selbstzwecke und einem eigenen inneren Entwicklungsgesetz des Staates, der Wirtschaft, der Wissen- schaft, der Kunst nichts weiß. Nur dadurch war ihnen die Meinung möglich, daß sie den Katholizismus und die Kirche bloß reformieren und sie nicht etwa aufheben. Nur dadurch war ihnen aber auch der Erfolg möglich, weil sie so den Katholizismus von innen heraus und nicht von außen her angriffen. Daß aber diese Gedanken von dieser Verknüpfung befreit nicht eine dann übrig bleibende rein protestantische I>ehre ergeben, sondern daß sie Keime gewaltigster weiterer Umwälzungen sind und eine wirkliche Neubildung des religiösen Lebens überhaupt nur erst sehr vereinzelt hervorgebracht haben, das zeigt die Entwicklung der modernen Welt und des modernen Protestantismus,

B. Reformatoren und Rcformbowogunpon des i6. Jahrh. I. Dir humanistischo Theologie. 260

Di{^ foljTfendo Darstellung' wird also ihren Stoff sehr einfach in zwei Kinteiiung große Hauptgruppen teilen dürfen, in die des alten und die des modernen Protestantismus. Da aber die sich auf beide verteilenden Gedanken schon beisammen sind im Denken der Reformatoren, und da die Reformatoren nur Bestandteile der großen allgemeinen religiösen Umwälzung des aus- gehenden Mittelalters sind, so ist dem eine Darstellung der religiösen Bewegungen des 1 6. Jahrhunderts vorauszuschicken, wo neben den Refor- matoren noch andere mächtige Kräfte hervortraten. Die Reformatoren haben diese Kräfte zurückgedrängt. Es wird sich zeigen, daß sie in der späteren Geschichte des Protestantismus wieder ihre Wirkung ausüben und für die Zurückweisung von Seiten des Altprotestantismus sich rächen durch um so stärkere Beeinflussung des Neuprotestantismus.

B. Reformatoren und Refo^mbe^vegungen des i6. Jahrhunderts.

I. Die humanistische Theologie. In erster IJnie steht zeitlich Humanistische die humanistische Reformbewegung. Sie hat den großen Umschwung xheoioKie. reichlich vorbereiten helfen und hat dem vollzogenen ihre Kräfte geliehen. Sie hat zugleich eine eigene und selbständige religiöse Idee innerhalb der Neufornmngen des Christentums bedeutet, und im Gegensatz gegen diese erst in ihren späteren Wirkungen sich voll entfaltende Idee erhellt erst recht die Eigentümlichkeit des die nächsten Jahrhunderte völlig beherr- schenden religiösen Genius Luthers. Mit ihrem besten und wichtigsten Besitz hat sie freilich ebendeshalb auf die Zeit noch nicht zu wirken ver- mocht. Ihre großen religionsgeschichtlichen Wirkungen treten erst her- vor, als mit dem Verfall der großen Kirchenbildungen die Ideen der Re- naissance wieder vordrangen. Anderthalb Jahrhunderte lang blieb sie wie das Täufertum in ein dünnes Rinnsal eingeengt, um dann freilich wie dieses in um so vollerem Strom sich zu ergießen. Deshalb darf hier, wie bei den Täufern, die Darstellung bereits bis zur Mitte des 1 7. Jahrhunderts vorgreifen.

Die humanistische Reformbewegung ist keinesw'egs eine einfache Be- Der Florentiner

_ . Neuplatonismus.

gleiterschemung der Renaissance oder der humanistischen Studien, sondern ist die ganz bestimmte, persönliches Gepräge tragende Schöpfung eines Kreises, der innerhalb der Kirche die alten reinen Grundlagen derselben erneuern und sie dadurch reinigen, beleben und vertiefen wollte. Wie überall durch die Erforschung der Grundlagen sich die Elemente des herr- schenden Systems verjüngten, so sollte das auch mit Religion, Theologie und Kirche der Fall sein. In diesen Kreisen bildete sich das Schlagwort von der Renaissance des Christentums „renascens pietas, restitutio Christia- nismi, Christum ex fontibus praedicare". Es ist der Ruf „ad fontes", der in den letzten Jahrzehnten oft genug gehört worden war, dem aber die offizielle Theologie sich stets entgegengesetzt hatte. Sie galt es daher vor allem zu beseitigen und durch diese Beseitignang reiner, frisch aus

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

den Quellen sich nährender Laienfrömmigkeit Platz zu machen. Hierarchie und Sakralwesen sollten nicht beseitigt, wohl aber reformiert werden; Fürsten und Konzilien würden dann ja dieser Aufgabe der Abstellung der gravamina sich widmen. Bis dahin galt es, durch die neue Wissen- schaft die innerliche Reform der Religion selbst zu bewirken, die Laizi- sierung der Religion und die Eröffnung des Zugangs zu ihrem einfachen Urgehalt, Die richtige Stellung zu Hierarchie und Sakralwesen würde sich dann schon von selbst geben, wenn beides als Mittel im Dienst der reinen Religion und nicht mehr als Mittel im Dienst italienischer Aus- beutung stehen würde.

Der Kreis, aus dem dieses Programm der Renaissance des Christen- tums stammt, ist der Kreis der Florentiner Platoniker, und der Mann, der ihm das siegreiche persönliche Gepräge einer neuen Religiosität und Theologie gegeben hat, ist Erasmus (geb. um 1466, gest. 1536). Auf dem Umweg über eine Erneuerung des neuplatonisch und moralistisch ver- standenen Paulinismus ergab sich die Religion der Wiederbelebung der synoptischen Jesuspredigt.

Marsilio Ficino (gest. 1499) bildet den Ausgangspunkt des platonisieren- den Laienchristentums, das in dem stark neuplatonisch gedeuteten Piaton und in dem als Paulus -Schüler geltenden kirchlichen Xeuplatoniker Dionysius Areopagita die Ideen der Geistesfreiheit und der Gotteskindschaft, der Überwindung des Fleisches und der Affekte, der Seligkeit und Sitten- reinheit fand, und das in diesen Ideen den eigentlichen echten Paulinismus zu entdecken meinte. Es war eine Religiosität, die aus dem Wesen des Kosmos metaphj^sisch und aus dem des Menschen psychologisch verständ- lich war, die ebendeshalb dem Laien ohne scholastische Theologie und ohne sakrale Vermittlung zugänglich war und die ihren Herold in dem christ- lichen Hauptapostel, in Paulus, fand. Ficino trennte sich von der heid- nischen Renaissance und erklärte in seinen Vorlesungen den Paulus, schon Vulgata und griechischen Text unterscheidend. Freilich sind die Wir- kungen in Italien zunächst schwach geblieben. Um so stärker waren sie in England, Frankreich und Deutschland, wo der heidnische Humanismus ja überhaupt eine Ausnahme war. ^ach England brachte John Colet (gest. 15 19) von einer italienischen Reise das Programm des platonischen Pauli- nismus mit; es ist eine einfache biblische antischolastische Theologie ohne Gegensatz gegen die Kirche als solche, nur gegen ihre Theologie und ihre superstitiösen Entartungen. Von Colet ging Erasmus aus, der bei einem Aufenthalt in Oxford die Verachtung des h. Thomas und die Bewunderung des Paulus lernte und so hier das langsam reifende Programm seiner Reformtätigkeit empfing. Gleichzeitig zündete das Florentiner Feuer bei Le Fevre d'Etaples (gest. 1537), der auf einer italienischen Reise die Bekannt- schaft Marsilios und Picos della Mirandola machte und von da aus trotz seiner im übrigen aristotelischen Neigungen den biblisch-platonisch-paulinischen Zug zu einer neuen unzünftigen Theologie empfing. Im Jahre 15 12 läßt

B. Reformatoren und Reformbewegungcn des l6. Jahrh. I. Die humanistische Theologie. 27 1

er einen Kommentar zu den Paulusbriefen erscheinen, den ersten Paulus- kommentar nach humanistischen Prinzipien, nachdem er 150Q bereits den Psalter in fünffacher Übersetzung herausgfegeben hatte.

An all diese Mittelpunkte erneuter Religion und Theologie schlössen oio Theologie

.. . . . (los Er.isniiis.

sich breite Bewegungen an. Die weitaus bedeutendste unter ihnen ist aber die Erasmische. Sie wurde auf Dezennien zu einer geistigen Groß- macht der Zeit und enthielt eine Universalität der Anschauung, die kein anderer erreichte, zugleich eine Wärme und Lebendigkeit der Überzeugung, die dem geistreichen Literaten und viel beschäftigten Entdecker bis heute nicht gerne zugetraut wird. Die Anregungen Colets waren nicht verloren, sondern verdichteten sich ihm bei der Unruhe und Vielseitigkeit seines Lebens freilich langsam zu einem ernsten, innerlichen und ganz per- sönlichen Reformgedanken. Zunächst arbeitet er an Ausgaben der Kirchenväter, an der Schöpfung einer Patrologie gegenüber der Scho- lastik. Dann taucht der Plan eines Pauluskommentars auf, der ihm be- sonders teuer war, den er aber mit ins Grab nahm. Das erste wichtige Ergebnis seiner Arbeit ist ein ganz anderes, eine populär-religiöse Schrift, das „Enchiridion militis Christiani" (1502). Mit dieser Schrift ist der Über- gang von Paulus, den im Grunde keiner dieser Männer verstanden hat, zu der Religion der Bergpredigt und des schlichten Jesusglaubens gemacht. Es ist die Heraushebung eines Elementes aus dem biblischen Stoff, das in der Tat seine eigentümliche Stellung und Bedeutung in ihm hat und in seinem ethischen Ernst dem Laienverständnis am leichtesten zugänglich ist. Es ist ein Laienchristentum, um seines sittlichen Gehaltes an Vor- sehungsglauben, Lebensemst, Jenseitshoffnung willen jedem verständlich und um der göttlichen Autorität des Redners und Lehrers willen für jeden verbindlich: in der Welt voll Kampf und Not hat der seine Selbstsucht und seine Triebe überwindende Mensch durch Offenbarung und Lehre Christi das himmlische Vaterland, und in seinem Kriegsdienst für dies himmlische Vaterland gegen alle List und Versuchungen hat er den Trost göttlicher Gnadenhilfe. Im Jahre 1516 erscheint dann aber gleichzeitig mit der Hieronymus-Ausgabe das Hauptergebnis seiner Studien, das griechische Neue Testament, in seiner Hervorhebung des Unterschieds von der Vulgata und der damit angedeuteten Korruption des reinen Christentums durch die scholastische Kirche eine reformatorische Tat, in den beigegebenen Abhandlungen, einer admonitio an den Leser und einer ratio verae theologiae, ein theologisches Programm. Es sind Reformations- schriften von anderer Art, aber ähnlichem Gewicht wie die Luthers. Wieder ertönt hier als Anweisung für die Reform der Theologie die Losung: zurück zur Bergpredigt und zur Nachfolge Christi, zu dem reinen Evangelium, das mit allen Wahrheiten des reinen Altertums, mit stoischem Vorsehungsglauben und stoischer Geisteserhabenheit, aber auch mit plato- nischer Übersinnlichkeit und Jenseitigkeit, innerlich verwandt ist. Das ist das Programm der Renaissance des Christentums im Rahmen der Renais-

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

sance überhaupt, des neuen Frühlings für alle Wurzeln, aus denen die bisherige Kultur gewachsen war, und die nun neu und kräftig ausschlagen. Von hier aus erwächst dann auch eine Apologetik der Religion gegen- über der neuen Bildung. Einig mit aller wahren Religion und Sittlichkeit, die je gewesen war, fügt das Christentum dem nur die volle Autorität Christi und der Gnadenhilfe hinzu. Alle rationalen Anstöße an der Bibel beseitigt eine angemessene philologische Erklärung, die mit Euseb Unter- schiede unter den biblischen Schriften macht und die das allzu Fabelhafte allegorisch erklärt, ohne übrigens dabei die kirchlichen Grunddogmen an- zutasten, wenn auch gewisse Schriftbedenken gegen die Trinitätslehre an- gedeutet werden. Problem der Ein solchcs Programm enthielt nun aber freilich zwei schwere Probleme

Stellung zum ... . . ^-^

Sakralwesen, in sich, iu dcrcu Behandlung erst der eigentliche Geist des Erasmus sich offenbart. Einmal steht ein derartiges Laienchristentum und eine derartige Erneuerung in scharfem Gegensatz zu dem hierarchischen Sakralwesen und zu der gegenwärtigen Gestalt der Kirche. Erasmus wußte hierauf nur mit historischen Erörterungen zu antworten. Er zeigte, wie diese be- kämpfte Gestalt der Kirche erst ein Erzeugnis der barbarischen Jahr- hunderte sei, während die mit der klassischen Kultur einige alte Kirche sie nicht gekannt habe, und wie die viel beklagten Superstitionen der Kirche gar nicht dem Christentum, sondern dem in ihm nachwirkenden Heidentum entstammen. Schließlich aber hing er doch selbst an der Kontinuität der Menschheitskirche und fühlte weder Kraft und Beruf noch Lust, eine Revolution mit allen unvermeidlichen Greueln und Radikalismen herbeizuführen; er hoffte, die Reinigung der Religion und Theologie sollte von innen heraus und von selbst auch die Kirche zu den angemessenen Reformen führen. Allein für diesen Gleichmut historisch -relativistischer Betrachtungen war die Zeit noch nicht reif; sie verlangte ein Entweder- Oder betreffs der Göttlichkeit und apostolischen Einsetzung des Sakral- wesens. Und andrerseits war dieses Sakralwesen mit den Dogmen und der Institution der Kirche zu eng verbunden, als daß hier eine theologisch- religiöse Reform von innen heraus gerade die Dinge hätte ändern können, auf die es ankam. So kam es, daß Erasmus die Führung verlor, als das Entweder-Oder von dem absoluten religiösen Geiste gestellt und die Axt an die Wurzel des Sakralwesens gelegt wurde. So ist es aber auch ver- ständlich, daß Erasmus in diesem Entweder-Oder sich nicht auf die Seite der kirchlichen Revolution mit ihren unabsehbaren Folgen und ihrem un- wissenschaftlichen Geiste stellte. Es hätte dazu der zahlreichen persön- lichen Gründe gar nicht bedurft, die den Pensionär katholischer Könige und Kirchenfürsten an der alten Kirche festhielten.

Problem der Das zweitc Problem erwuchs aus dem Zusammenhang dieser religiösen

Stellung zur _ . . , o <=>

Wissenschaft- Refomi mit der allgemeinen wissenschaftlichen Aufklärung und der Re-

lichen Auf- . . ° °

kiärung. uaissaucc der antiken Ethik und Religionsphilosophie. Erasmus hat mit der Kirche die Identität des C'hristentuins und der Antike, der beiden

n. Reformatoren und Reformbowefjunt^tn des i6. Jahrh. I. Die humanistische Theologe. 27^

Grundpfeiler der mittelalterlichen Kultur, festg'ehalten und diese Identität nur encfer und frischer gefaßt, dabei auf die alten Väter mit ihrer Identi- fizierung- der Lehre Christi und des g-öttlichen Welt-Log-os zurückgehend. Die Religion der Menschheit ist im Grunde überall dieselbe. Die philo- sophia Christi ist identisch mit der reinen philosophia des Altertums; auch Cicero, Seneca und Plato sind inspiriert. Christus ist nur die Mensch- werdung und dadurch die göttlich beglaubigte und göttlicher Wirkung fähige Verkörperung der überall einen Religion. Zugrunde liegt also ein theistischer Universalismus, eine Religionsphilosophie, die im Evangelium nur die göttliche oifenbarte und zusammengefaßte Spitze der allgemeinen Religion zeigte und die dem Supranaturalismus des Mittelalters nur das Zugeständnis machte, daß die Menschheitsreligion einer solchen Autori- sation und der Unterstützung der von hier ausgehenden Gnadenhilfe be- dürfe. Erasmus ist in seiner Zusammenfassung der Menschheitsreligion unter einem gemeinsamen Namen ein Gegner des Augiistinischen Dualis- mus, der die Menschheit in eine göttliche und widergöttliche zerreißt, und findet den von ihm anerkannten Gegensatz von Fleisch und Geist in jeder Menschenbrust. Er hat Augustin unter den Kirchenvätern am wenigsten geliebt, weil er ihm die Einheit des Allgemein-Menschlichen und des Christlichen zerstörte. Mit dem servum arbitrium Luthers, das diesen Dualismus und Supranaturalismus womöglich noch überbot, war daher für ihn kein Kompromiß möglich; da war eher noch das Sakralwesen der Kirche zu ertragen, wenn sie nur dem ermäßig^enden Einfluß von Bildung und Wissenschaft sich öffnete. Als seine Gönner ihn zum Bruch mit Luther nötigten, hat er ehrlich diesen Hauptpunkt zur Sprache gebracht, der ihm dabei noch den Vorteil bot, sich über die heikelste Frage, die Geltung des Sakralwesens, auszuschweigen. Hier war in der Tat kein Ausgleich möglich. Aber es ist nicht bloß der Konflikt religiösen Tief- sinns und moralistischer Flachheit, sondern der Konflikt des werdenden modernen antisupranaturalistischen und universalen Religionsgedankens und des schroff erneuerten mittelalterlich-en Supranaturalismus und Dualismus.

Dieser eigentliche gedankliche Hintergrund der Lehre des Erasmus zerfaii der

. humanistischen

ist jedoch den wenigsten deutlich zum Bewußtsein gekommen. Der Rück- Reform. zug des Humanismus von der Lutherschen Sache nach den großen Revo- lutionsjahren hat bei den meisten weniger tief liegende Gründe ; teils waren sie überhaupt von Hause aus wesentlich konservativ gesinnt; teils verloren sie das Interesse, wo es sich nur mehr um innertheologische Dinge handelte; teils bestimmten sie die äußeren Verhältnisse in der nun ge- waltsam einsetzenden Rekatholisierung. Km großer Teil aber faßte die religionsphilosophischen Hintergründe der erasmischen Lehre überhaupt nicht auf, sondern hielt sich nur an das Laienevangelium der reinen Schrift und vollzog von da seinen Übergang" zur Lutherischen oder Zwingli- schen Reformation, als diese die Führung übernahmen. de'rTumanis'tr-^

Mit dieser Krisis ist aber das humanistische Renaissance-Christentum ^'^Sozinilner^*

Die Kultur der Gegenwart. I. 4. 18

274

Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

nicht ZU Ende. Ihre Hauptgedanken, die Reduktion des Christentums auf eine allgemeine metaphysisch und psychologisch verständliche Religion und die philologisch-kritische Herausstellung des hiermit übereinstimmenden reinen Christentums Christi, wirken weiter. Hier liegen die Wurzeln der moralistischen, rationalistischen und antitrinitarischen Bewegungen, die sich vor allem aus dem kirchlich oppositionellen italienischen Humanis- mus herausbildeten. In Venedig, Oberitalien, Südfrankreich, Graubünden regten sich mannigfach derartige Bestrebungen, die, aus dem Restaurations- Katholizismus sofort ausgestoßen, in eine viel schärfere Opposition hinein- gedrängt wurden, als die des Erasmus war. Von hier kamen die huma- nistischen Gelehrten, die vor allem an den reformierten Universitäten eine unsichere und oft lebensgefährliche Zuflucht suchten: ein Ochino, ein Ca- stellio, ein Servede, ein Gentile und ein Lelio Sozini. Sie erlagen hier dem erneuerten Ketzerrecht. Erst unter der Führung Fausto Sozinis {■\- 1604) und unter dem Schutz der polnischen Adels-Anarchie fanden sie eine Kon- solidation und Gemeindebildung. Von hier wieder verjagt, zerstreuten sie sich in kleine Gemeinden über Preußen und Holland bis nach England und Nordamerika, um dort überall ein wichtiges Ferment der theologischen Aufklärung und der modernen Religiosität zu bilden. Ihre Eehre unter- scheidet sich nicht bloß durch den größeren Radikalismus von der des Erasmus. Sie betonen die Willensmacht Gottes, der der Kreatur nichts schuldig ist, um dann die Offenbarung Christi um so stärker als göttliche Offenbarung und Gnadengeschenk betonen zu können. Sie leugnen ferner die allgemeine natürliche Religion, um den christlichen Positivismus dem gegenüber um so wirkungsvoller zur Geltung zu bringen. Darin pflegt man Fortwirkungen des Skotismus zu sehen. Aber sie gehen doch ganz in erasmischen Bahnen, wenn sie die philologisch - quellenmäßige Theo- logie fordern, die alles nur auf die Lehre Christi stützt und diese Lehre philologisch aus den synoptischen Evangelien schöpft. Sie tun das schließlich auch in der Auffassung der Lehre Christi selbst, die ihnen ein auf Christi Autorität begründeter Glaube an Vorsehung, göttliches Sitten- gesetz, jenseitige Glückseligkeit ist und die ihnen doch etwas rational Ver- ständliches, metaphysisch und psychologisch Einleuchtendes ist, für dessen Anerkennung die allgemeine Vernunft wenigstens die rationalen Kriterien besitzt. Die jüdisch-messianischen Elemente des Evangeliums, der urapo- stolische Glaube an den durch die Auferstehung bestätigten und vergött- lichten Boten Gottes, altchristlicher Vorsehungs- und Jenseitsglaube ohne die altchristliche Mystik und ihren Enthusiasmus wachen wieder auf. Eine mutige und redliche Kritik beseitigt die kirchlichen Dogmen, die im Evan- gelium Jesu keine Wurzel haben, die Trinitätslehre und die Zwei-Xaturen- Lehre, die Urstandsvollkommenheit, die Erbsünde, den Genugtuungstod und die Gnadenwahl. Ein nicht minder mutiger und redlicher Glaube setzt diese durch Wunder und Auferstehung beglaubigte reine Christuslehre ein in den Zusammenhang einer von Gottes Willen regierten, von der N^orsehung

M. HclDniiatoren uiul Kefornibcwcgiinj,'cii ilcs 16. Jalnh. 1. Die luimanistischc Thcolof^ic. 21'^

geleiteten, auf Seligkeit und Glück der Kreatur hinzielenden W^elt. Es war die Einreihung der Theologie in eine wissenschaftliche Aufklärung, wie sie rationalen und nüchternen, aber moralisch und religiös interessierten Denkern vor der Wirkung des naturwissenschaftlichen Antisupranaturalismus sich gestalten mußte. Diese Lehre hat den alternden, mit dem Calvinismus zerfallenen Milton gewonnen, hat den Rationalismus der englischen Staats- kirche gefärbt und ging unter Abstreifung des positivistischen Supranatu- ralismus leicht in den rationalen, die Grundform der modernen Auf- klärungstheologie, über. Sozinianismus wurde der Ketzemame, mit dem der Konfessionalismus alle moderne Theologie stigmatisierte.

Eine andere Wirkung des Erasmus und der humanistischen Theologie Arminianer. erhob sich in dem holländischen Rationalismus und dem Arminianismus. Den Ausgangspunkt bildet hier der Dichter und Staatsmann Coornheert (f 1590), der in dem Kampf der Konfessionen und Theologen den Ausweg lediglich in der humanistischen Theologie der quellenmäßig wiederhergestellten und mit dem reineren Altertum übereinstimmenden philosophia Christi sah. Für ihn, der das Elend der Kirchen hatte kennen lernen, handelte es sich freilich nicht mehr um Reform der Kirche, sondern um Rückgang hinter die Kirchen überhaupt, um Aufsuchung eines von den Kirchen unab- hängigen gemeinsamen Fundaments. Ein Verehrer des Cicero, des eben in Holland aufblühenden Stoizismus, und vor allem des Erasmus predigte er die humanistische Theologie als Friedens- und Einigungstheologie. Auf das allen Christen Gemeinsame, das weiterhin sie auch mit allen FVommen der Menschheit verbindet, auf die reine Lehre Christi, soll zurückgegangen werden. Christus und sein Wort als moralische Vorschrift und Kraft, als göttliche Bestätigung und Kräftigung dessen, was auch die nicht-christ- lichen Frommen besitzen, ist die einzige Theologie. In ihr steht die Lehre von der Freiheit und der religiösen Vernunft, die alle Menschen besitzen, in der alle sich einigen und alle zu Christus und der Seligkeit kommen können. Der finstere Dualismus der calvinistischen Prädestinationslehre zerreißt die Menschheit; aber Gnade und Religion ist universell und jedem zugänglich, der ernsten Willens ist. Von diesen Ideen Coornheerts wurde sein Landsmann Arminius {f 1609), als er sie zu widerlegen versuchte, über- wältigt, und leitete sie nun in das engere Bett der Fachtheologie, korrigierte den Calvinismus durch eine universale Gnadenlehre und betonte die in der Freiheit gegebenen allgemein-menschlichen, vernünftigen Religionselemente. Vom Arminianismus angeregte Denker haben damit die Veranschaulichung des Allgemein-Religiösen an der quellenmäßigen Theologie Christi und die Rationalisierung der Theologie Christi durch zeitgeschichtliche Auslegung, die exegetischen Theorieen der Akkommodation und des Anschlusses an orientalische und antike Redeweise, verbunden: Alphons Turretin, Wettstein, Leclerc, Schöttgen. Damit sind dann die Annäherungen an die Sozinianer vollzogen, und der große Jurist Hugo Grotius (f 1645), der seinen juristischen Weltruhm auch auf seine Theologie verbreitete, hat seine durch und durch

18*

2^6 Ernst Troeltsch : Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

humanistische Apologetik und Exegese mit dem Gedanken durchdrungen, daß aus rein historisch-kritischen Gründen der Lehre Christi um seiner Wunder und seiner Auferstehung willen die Autorität der reinen Religion gebühre, und daß hierdurch das Christentum die allgemein menschliche Sehnsucht und Anlage zur Glückseligkeit zur Verwirklichung und Vollendung bringe. Die Theologie des Grotius ist neben der neuen Cartesianischen und vor der Lockeschen und Leibnizischen die Großmacht des wissenschaftlich aufgeklärten religiösen Denkens gewesen. Leibniz, der die Sozinianer be- kämpft, preist die Theologie des Grotius als den großen modernen Fort- schritt. Lockes rationaler Supranaturalismus trägt überall die Züge der Grotianischen Lehre. In alledem aber feiert der Geist des Erasmus seine Auferstehung, wenn auch niemand den angeblichen Apostaten des Luther- tums zum Patron des Fortschritts zu machen wagte.

Luthers Gesamt- IL Luthcr (1483 1546). In schroifem Gegensatze zu dieser Bewegung,

die teils die Schöpfung einer modernen Bildungsreligion, teils die stark ethisch gefärbte Wiederbelebung des Laienchristentums der Bergpredigt ist, steht der eigentliche religiöse Genius des Zeitalters, Luther. Völlig naiv hat er aus den vorhandenen kirchlichen Erziehungsmitteln heraus eine religiöse Kraft von elementarer Wucht entbunden und hierbei den Paulinismus zu einer neuen g^ewaltigen Wirkung gebracht. ' Luther ist von Hause aus ein Kind des Volkes, und ist ein Bauernsohn trotz aller späteren scholastischen und humanistisch-philologischen Bildung geblieben. Alle Bildung ist ihm nie mehr als ein Mittel für seine rein religiösen Zwecke g'ewesen und gewann über ihn nie den Zauber eines Selbstzweckes. Sogar alles Moralische ist ihm immer Nebensache gewesen neben dem rein religiösen Besitz der Gottesgnade, und er hat sich das Moralische stets nur als Folge und Wirkung dieses religiösen Besitzes denken können, immer darum besorgt, daß diese Wirkung nie die Ursache um ihre Kraft und ihre absolute Sicherheit bringen könne. Das alles Beherrschende in ihm ist eine wunderbare reli- giöse Kraft und Tiefe, die ganz aus sich selbst heraus mit den Mitteln der Kirche und dann der Bibel arbeitete, die aber hier wie oft einen sehr gesunden praktischen Weltverstand keineswegs ausschloß. Sie ist überall mit großartiger Sicherheit auf den durchgreifenden, alles bestimmenden religiösen Grundgedanken gerichtet, von dem aus er die Festigkeit der eigenen Ge- wißheit und die Ordnung des gegebenen Lebens einfach und kraftvoll erstrebte. So hatte er die unverbrauchte Naivität des Volkskindes, aus der allein die elementaren religiösen Kräfte hervorzugehen pflegen, und die sichere Konzentration des Willens, die die religiöse Aufgabe durch keinerlei Nebenzwecke gefährdet oder schwächt. Aber auch zum Schwär- mer, der dem erregten religiösen Gefühlsleben sich hingibt und von den Wellen wechselnder Inspirationen sich tragen läßt, hatte er nicht die min- deste Anlage. Mit ererbtem kirchlichtMi vSinn für feste Wahrheit, mit scharfem auf bestimmt fornuilierbare Erkenntnisse gerichtetem Verstand

li. Reformatoren und Rrrormbowcfjungcn des i6. Jahrhuiulerls. II. Luther (t48? ' S4^j)' 2 77

und mit naturwüchsigem Bedürfnis, das Göttliche vom bloß Menschlichen zu scheiden, hielt er sich an die festen objektiven Träger religiöser Wahr- heit und an helle Gedanken. Und dabei erscheinen ihm diese Träger ganz selbstverständlich in dem Sinn des mittelalterlichen exklusiven Supra- naturalismus. Außerhalb der Offenbarung der Bibel ist kein Heil, und ganz besonders verdroß es ihn bei Erasmus und Zwingli, daß sie auch er- leuchteten Heiden die Seligkeit einräumten. Er schätzte die Vernunft als moralistisches Prinzip für den noch unchristlichen Haufen. Da diente sie zur Zucht. Er schätzte sie im praktischen täglichen Leben und als sozial- eudämonistisches Prinzip für Staat und Gesellschaft, Aber er übergoß sie mit allen Schmähungen, wenn sie religiöse Erkeimtnisse außer und neben der christlichen Offenbarung zu besitzen wähnt oder wenn sie in Offen- barungsangelegenheiten sich einmengt. Daher stammt sein grimmiger Haß gegen Aristoteles. Bei allem instinktiven Streben, die Religion psycho- logisch verständlich und dadurch als ein innerlich-persönliches Erlebnis allen zugänglich und gewiß zu machen, blieb er doch stets ebenso sicher auf dem ererbten kirchlichen Supranaturalismus. Ja, er hat ihn, im Be- dürfnis nach einem festen Stützpunkte in seinem Kampfe, noch ganz außerordentlich überboten und im Gegensatz geg^en die erbsündige Ver- dammnis und Ohnmacht zum schroffsten Wunder des inneren Lebens und der Erlösungs-Offenbarung gesteigert. Und das hat die Kraft und Eindrucks- fähigkeit seiner Lehre nur erhöht. Dazu kam eine unbegrenzte moralische Redlichkeit und eine vollkommene Furchtlosigkeit in Ziehung und Er- tragung der Konsequenzen seines Gedankens, ein unbeirrbarer imponieren- der Glaube an sich selbst und eine schroffe Herrschernatur, der Zauber einer überaus originellen und gemütvollen Persönlichkeit, die Genialität einer in Kraft und Pathos, Humor und Satire, Erbaulichkeit und Zartheit unerhört gewaltigen Sprache und schließlich nicht zum mindesten die Gunst einer Gesamtlage, die ihn erst vor der Ausführung der kirchlichen Ex- kommunikation und Reichsacht schützte und die ihm dann die Möglichkeit zur Aufrichtung eines gereinigten Kirchentums gab.

Diese Anlage trieb ihn zur tieferen Beschäftigung mit religiösen Luthers religiöse

... Grundidee.

Dingen und das hieß ins Kloster. Hier hat er mit den praktisch-religiösen Problemen der mittelalterlichen Gnadenreligion gerungen, einerseits mit der Aufgabe, die nötige Disposition für die sakramentale Gnade in ge- nügender Reue und gTiten Vorsätzen und dann die nötige Bewährung und Bestätigung" in guten Werken mönchischer Askese zu gewännen, andererseits mit dem Gnadencharakter dieser Vollkommenheit, die nicht ein Erwerb des Willens, sondern ein Wunderwerk der Erwählungsgnade sein sollte. Die übliche Kompensation des einen Gedankens durch den anderen, die Milde- rung der Selbstdisposition durch Verweis auf die alles Gute wirkende Gnade und die Erweichung der Prädestination durch die Mitwirkung des sich disponierenden Willens, die durchschnittlichen Naturen einen Ausweg eröffnete, stürzte ihn gerade in die größte Qual und Unsicherheit; er zweifelte

2 78 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

bald an seiner Würdigkeit, bald an seiner Erwählung-. Aus dieser Not befreite ihn Staupitz durch die Lehre der deutschen Mystik, durch die Er- mahnung zu einer völligen Begebung von jedem Versuch eigener Gerechtig- keit und zu einem ebenso völligen Vertrauen zur göttlichen Gnade als dem Willen der Sündenvergebung und der Kraft gelassener Seligkeit in Gott. Hierin und in dem Hinweis auf Paulus hat Luther später mit Recht den Ausgangspunkt seiner ganzen Religion und Lehre gesehen. Hierin lag die prinzipielle Befreiung von der von Fall zu Fall eingegossenen Sakramentsgnade und die Hinwendung zu der den ganzen Menschen ein für allemal umfassenden Gesinnungsgnade und Sündenvergebung Gottes, die von keiner Vorbereitung verdient und von keiner Anstrengung bestätigt, sondern die frei empfangen und nur als Zuversicht behauptet wird. Zugleich hat Staupitz als Distriktsvikar des Ordens den jungen Mönch den Grübeleien eines untätigen oder doch Luthers Begabung nicht entfernt ausfüllenden Ordenslebens entrissen, indem er ihn an das Wittenberger Augustiner- Kloster versetzte, das der neugegründeten Universität die philosophischen und theologischen Lehrer stellte. Dort mußte er zunächst, ungern genug, philosophische Vorlesungen über Aristoteles halten, dann mußte er zum Doktor der Theologie promovieren und durfte damit zur ersehnten Theo- logie übergehen. Diese aber las er sofort nicht mehr in dem Sinne der Summisten und Sententiarier, sondern in Gestalt von Bibelauslegungen. Psalmen und Paulus sind seine Geg'enstände. Von hier gelangte er zu Bernhard, Augustin und Tauler, schließlich zur Philologie Reuchlins und Erasmus'. So entstand unter seinem überragenden Einfluß eine biblizistisch- augustinische Theologie und Ordensschule in Wittenberg, deren Glanz noch durch die Berufung Melanchthons und damit durch die Einbeziehung des humanistischen philologischen Reformprogramnvs erhöht wurde. Diese Theologenschule mit ihrer Verbindung klösterlicher Ordenssorgen, pasto- raler Aushilfen an der Stadtgemeinde und biblisch-augustinischer Studien ist der Mutterschoß der religiösen Neubildung geworden. Reginn des Zum Kampf kam es durch Anstöße, die Luther als Beichtig-er an den

kirchlichen . ^ ' *

Kampfes und Wirkungen der kurmainzischen Ablaßkommission nahm. Vollief losrisch

Kntfaltung von '^ ö ö

Luthers reii- wurdc der Sakramentsbegriff und gerade das für die praktische Religion wichtigste Sakrament der Buße der Anlaß der großen Auseinandersetzung. Luther stellte in seinem berühmten Thesenanschlag die Ablaßlehre zur Diskussion, indem er gegen die Vermengung des Bußsakraments mit dem Ablaß die rein innerliche Buße des Gesinnungswandels, des Gottvertrauens und willigen Leidens als den eigentlichen Sinn des Bußsakramentes geltend machte und den Ablaß lediglich auf Umwandlungen kirchlicher Strafen wäh- rend des irdischen Lebens einschränkte. Ohne das Bußsakrament zu ver- werfen ist damit doch der Geist der mittelalterlichen Sakraments- und Gnadenlehre selbst verworfen. Der daraufhin angestrengte Ketzerprozeß, dem Jaither sich in Deutschland stellen durfte, führte zum Konflikt mit der Autorität der Bulle Unigenitus Clemens' VI. Luther mußte diesem

B. Reformatoren und Rcfornibcwoj^'ungcn ilcs i6. Jahrhunclerls. II. Luther (1483 154^). 27Q

Konflikt nachgehen und vertiefte sich in kanonistische und kirchenge- schichtliche Studien. Ihr Ergebnis war, daß Papst und Konzilien, Bischöfe und Tradition irren können. Da blieb nichts als die Schrift, und die Hier- archie mußte als bloß menschliche Einrichtung preisgegeben werden. Es bildete sich Luthers Kirchenbegrifi^, daß die Kirche die Gemeinschaft aller Gläubigen rein auf Grund der Schrift und erkennbar am Besitz der Schrift sei, unabhängig von jeder Autorität einer angeblich Gott vertretenden und in seinem Namen die Gnade verwaltenden Priesterschaft, auch unabhängig von den willkürlich gezogenen Rechtgläubigkeitsgrenzen einer solchen Priesterkirche. Damit war nun aber auch die Autorität gebrochen, die ihn bisher bei dem Wichtigsten, bei der kirchlichen Gnaden- und Sakraments- lehre festgehalten hatte. Die Einsicht in den menschlichen Ursprung der Hierarchie machte ihm möglich, seine Grundtendenz auf die persönliche, autonome, lediglich aus der Bibel genährte Gesinnungsreligion grundsätz- lich auszubilden. Es erschien 1520 seine wichtigste und kühnste Schrift „De babylonica captivitate ecclesiae": in ihr wurden die Sakramente und mit ihnen der sakramentale, dingliche Gnadenbegriff verworfen ; die Sakra- mente, die er als biblisch stehen ließ, Taufe, Abendmahl und Beichte, waren nicht mehr eigentliche Sakramente, dingliche und stoffliche, nur vom Priester zu leistende Wunder, sondern lediglich Formen der Gewiß- machung von der sündenvergebenden Gnade, völlig wie das Schriftwort, das in ihnen nur eine besonders feierliche Gestalt annahm. Vom Fall der Sakramente aus verstärkte sich dann wieder der Gegensatz gegen Hier- archie und Papsttum, die nun keinen Zweck mehr hatten und auch nicht mehr de jure humano gelten konnten. Und zwar konnte für Tuthers völlig theologisch-supranaturalistische Geschichtsauffassung dann die Hierarchie nicht als menschlicher Irrtum, Übertreibung oder Entartung, sondern nur als teuflische Störung der reinen und unveränderlichen Gotteswahrheit in Betracht kommen. Er mußte von der Herabsetzung der Hierarchie als einer menschlichen Einrichtung zum Angriff auf die Hierarchie als auf ein Teufelswerk übergehen. Das Papsttum war die in der Bibel ge- weissagte teuflische Stiftung des Antichrists, nur so konnte sein Glaube an Gottes Weltregierung die große Verführung und Verfälschung er- tragen, Stand aber das alles so, dann war vom Papsttum keine Hilfe und Reform zu erwarten, wie sie Kirche und Nation immer noch erhofften. Durch den Haß scharfsichtig geworden, gingen Luthern die Augen auf über die Schädigungen, die das Papsttum auch in weltlichen Dingen gestiftet hatte; er vertiefte sich auch in die politische und soziale Opposition gegen das Papsttum, und in tiefster Erregung wie freudiger Zukunftshoffnung geht er den Weg Occams, in solcher Not, wo die Hierarchie völlig und prinzipiell versagt, kraft des allgemeinen Priestertums die Laien und Stände selbst zur Reform der Kirche und des chrisüichen Körpers, d. h. der christlichen Gesamtkultur aufzufordern. So entstand im selben Jahre 1520 seine Programmschrift „An den christlichen Adel deutscher Nation", die

2 8o Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

ihn in kurzem zum populärsten Manne Deutschlands machte. Bis zu dieser endgültigen Regelung des Gesamtkörpers sollten alle Reformen nur Pro- visorien sein, bei denen die christliche Freiheit und Liebe in ihrer Unab- hängigkeit von allem Äußern alles dulden soll, was nicht direkt der Schrift und der Alleinwirkung der Gnade entgegen ist, ein Prinzip der Provisorien, das bei dem Ausbleiben der Gesamtreform und des Nationalkonzils allen lutherischen Reformen dauernd seinen Charakter aufgeprägt hat. Wie wenig überhaupt Luther an eine völlig neue Welt gedacht hat und wie selbstverständlich ihm die Fortdauer des mittelalterlichen Lebenssystems nur auf anderen Grundlagen und mit anderer Abgrenzung des Geistlichen und Weltlichen gegeneinander erschien, zeigt seine dritte Schrift aus dem Jahre 1520, die innigste und zarteste, „Von der Freiheit eines Christenmenschen". Hier wird der Gegensatz des Geistlichen oder Religiösen gegen alles Welt- liche so hoch gespannt, daß die Religion lediglich zur gotteinigen, seligen Stimmung des getrösteten Sündenschmerzes wird und gegen alles Welt- liche, auch gegen alles sittliche Handeln der Gemeinschaft, zunächst nichts als eine völlig spiritualistische und transzendente Gleichgültigkeit zeigt. Das reicht alles nicht entfernt an die Tiefen des in der Sündenvergebung der Welt entnommenen Gemütes. Die Leiden der Welt willig ertragen und nicht widerstehen dem Übel und Unrecht, das ist die eigentliche Probe dieser Freiheit und ist entgegen dem weltlichen Recht der Rechts- begriff des Christen. Der Christ ist ein Herr aller Dinge, weil er auf dieser religiösen Höhe ihnen als bloß äußerlichen und weltlichen völlig gleichgültig gegenübersteht. Zu einer ethischen, der Welt und dem welt- lichen Handeln zugewendeten Betrachtung kommt es von hier aus über- haupt nur auf dem Umweg über die Leiblichkeit, in der der Christ mit ihren fleischlichen Begierden und ihren Notwendigkeiten sozialen Zusammenlebens doch immer bleibt. Daraus ergübt sich aber zunächst nur die Abtötung und Dämpfung des Fleisches und dann die Erweisung der Gottesgesinnung, der Liebe auch an die Mitmenschen, da wir Gott nichts geben können und alle unsere Gegenleistung daher den Mitmenschen als Liebestat zuwenden müssen. Es ist die lediglich gebende und sich opfernde Liebe, und ihr Zweck ist in erster Linie imr die Bekehrung des Nächsten und seine Zubringung zu Gott durch diese unsere Liebeserweisung. Die weltliche und soziale Sittlichkeit in Staat, Gesellschaft, Haus und Arbeit wird erst auf dem noch weiteren Umweg einbezogen, daß die Liebe zu den Mitmenschen dann auch die Unterwerfung unter diese ihrem fleisch- lichen Wohl dienenden Institutionen verlangt. Es ist Unterwerfung unter das an sich nicht Notwendige und Gleichgültige bloß um der Liebe willen, die den rein sozialeudämonistisch aufgefaßten Staat um des Nutzens für den Nächsten willen sich gefallen läßt, eine sehr kindliche, jedenfalls rein religiöse und theologische Argumentation, die den transzendent-mystischen Gegensatz höher spannt als der Katholizismus. Aber andererseits ist doch auch die Wiederaufeinanderbeziehung beider ähnlich vorausgesetzt

B. Rcrornuxtorcn imd Rerornibcwc}^un},'en des 16. Jahrhunderts. II. Luther (1483 1546). 281

wie beim Katholizismus. Staat imd Gesellschaft, Recht und Ordnung- gehen aus dem natürlichen Sittengesetz der Vernunft hervor, die Religion braucht sich also darum gar nicht zu kümmern. Sie braucht nur zu wissen, daß dieses natürliche Vernunftgesetz die zweite weltliche Hälfte des Dekalogs ist und daher mit dem ganzen göttlichen Gesetz eng zusammen- hängt. Die Obrigkeit ist für Luthers natürliches konservatives Gefühl nach dem Naturrecht von Gott eingesetzt und exekutiert den zweiten, dem weltlichen Nutzen der Menschheit dienenden Teil des Dekalogs. Der Gott, in dessen Gesetz die beiden Hälften identisch sind, wird schon ganz von selbst für ihre Harmonie und ihr Zusammenwirken sorgen, und gegen Ausbeutung der christlichen Leidensbereitschaft durch Schurken und Verbrecher hilft die derartig gottverordnete Obrigkeit. Hier bedarf es nur des Glaubens und Vertrauens auf die g'öttliche Vorsehung, der bloß die hierarchische Kirche nicht mit gewaltsamen und die göttliche Sphäre überschreitenden Einwirkungen in den Arm fallen darf. So kann neben der ganz weltindifferenten Mystik und der rein religiösen Liebes- ethik der „Freiheit des Christenmenschen" doch zugleich ein politisch- soziales Reformprogramm, wie das der Schrift „An den Adel" stehen. Auch für die etwaige Notpflicht der Obrigkeit, in schwerer Lage die Kirchenreform in die Hand zu nehmen, bleibt Raum, insofern neben dem weltlichen Beruf die Obrigkeit doch auch selbst Glied der Gemeinde ist und ihr in Liebe und Freiheit dienen muß.

Luthers Religion ist damit in ihren Grundzügen voll entwickelt. Ihr ganzer Reichtum und ihre innere Freiheit strömt, solange es sich lediglich um die prinzipiellen Grundlagen einer erst noch zu bewirkenden Gesamt- reform des christlichen Daseins handelt. Noch ist alles in ihm voll Enthu- siasmus und erwartet die Erneuerung- aus den innerlich treibenden Kräften des allgemeinen Priestertums und der erneuerten, verinnerlichten, gereinigten Religiosität. Noch bedarf es keiner Einzelausprägung und keiner Stiftung und Gründung. Die Religion ist in ihrer Innerlichkeit und damit in ihrer vollen Gewißheit hergestellt, und ihr Inhalt ist die Sündenvergebung, die Überwindung der alles mit Leid und Schuld erfüllenden großen Welt- störung, der Erbsünde und des Teufels. Die Gewißheit, die nicht mehr auf der sakramentalen magischen Gnadeneinflößung beruht, beruht auf dem absoluten Wunder der Gewinnung eines solchen Vertrauens mitten in aller Erbsünde durch die Schrift. Dieses Wunder hat, wenn es wirkliche Ge- wißheit sein soll, zu seinem Hintergründe die Prädestination, nicht den modernen Determinismus naturwissenschaftlicher oder psychologischer Art, sondern den theologischen Glauben, daß die durch Adams Freiheit in religiösen Dingen völlig verderbte Menschheit aus ihrer Unfähigkeit zum Gottesglauben befreit werde durch das Wunder der Einflößung dieses Glaubens vermittels der Schrift. Luther hat es aber unterlassen, von seinem rein subjektiven Standpunkt aus die Prädestinatinon weiter zu ver- folgen hinein in das Wesen Gottes und in die in Gott erfolgende doppelte

282 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

Vorbestimmung, in das grausige Geheimnis der Verwerfung und Erwählung. Er nannte das außerhalb der Schrift spekulieren und wies den Gläubigen daran, sich an die Schrift zu halten und im Gottvertrauen selber seiner Prädestination gewuß zu sein. So sehr dies große religiöse Mysterium, das dann bei den Reformierten im Zentrum stand, bei ihm derart allmählich zurücktrat, so bleibt es doch von den Anfängen her immer der Hinter- grund seines ganzen religiösen Denkens, seiner Scheidung von Weltlichem und Geistlichem, seines Dualismus zwischen Sündenwelt und Erlösungs- welt, zwischen Gott und Teufel. Er bedurfte des absoluten Wunders, und aus dieser fröhlichen Gewißheit quoll ihm alle Zuversicht zur Erneuerung des Corpus Christianum in geistlichen und weltlichen Dingen, Nur wollte er dies Wunder nicht verstanden wissen auf Kosten der göttlichen Güte, die alle Geschöpfe beseligen will. Adams Fall selbst ist ein Werk der Freiheit, und so gibt es auch heute noch außerhalb der rein religiösen Sphäre im natürlichen Licht, in der Lex naturae eine von Gottes Güte verliehene Freiheit. Aber ganz abgesehen davon, daß diese Freiheit in das Geheimnis der Prädestinationsgnade und der Gewinnung des Rechtferti- gungsstandes in keiner Weise hineinreicht, sondern demgegenüber vielmehr ihre volle Unfähigkeit in den Qualen der Selbstverzweifelung erfahren muß, auch abgesehen davon, daß unter den Verhältnissen der Erbsünde diese Ver- nunft die Formen von Zwang und Recht, Lohn und Strafe, Krieg und Nahrungskampf annehmen muß es ist diese Freiheit überdies eine völlig geschwächte auch auf ihrem eigenen Gebiete; sie ist beständig bedroht von den listigen Anläufen des Satans und wird von ihm überall möglichst in Gewalttat, Bosheit, Geiz, Herrschsucht verkehrt. Daher sollen die deutschen Stände auch vor allem sich hüten vor dem Vertrauen auf weltliche Mittel, auf Menschen oder Organisation. Daran sind die staufischen Kaiser ge- scheitert. Das Evangelium muß es von innen heraus durch Demut und herzlichen Glauben wirken. Sonst möchte es nichts werden mit der Reform der Christenheit. Fortbiiduug von Aus der Gesamtreform wurde in der Tat nichts. Die entscheidenden

Luthers Idee t-» r j

unter dem Ein- Stellen Versagten. Vielmehr umgekehrt wurde Luthers Kerormidee ver-

fluß der sozialen -i rt 1

Revolution und wickclt in den Ausbruch der seit lange drohenden sozialen Revolution,

unter der Nöti- . . , .. . , ,. .... , -,

KunK 7.U neuer und bei Seinen eigenen Anhängern ergaben sich die unvermeidlichen Awie-

Kirclienbildung. "" " idi-t-»-!

spältigkeiten. Er mußte es als Gnade Gottes betrachten, daß die Reichs- und Weltlage wenigstens in einzelnen Territorien, vor allem in seinem sächsischen Kurstaate, eine vorläufige partielle Neubildung erlaubte. Von hier ab nimmt allerdings sein Werk neue Züge an. Die ungeheure Enttäuschung, daß es mit dem Vertrauen auf das allgemeine Priestertum und auf die von innen heraus zum Rechten wirkende Kraft des göttlichen Wortes und des natürlichen Sittengesetzes nichts gewesen war, gibt von nun ab allem eine andere Färbung. Alles wird unfroher, enger, härter, autoritativer. Andrerseits iu)tigt aber auch die Organisation neuer Kirchen und eines neuen Verhältnisses zum Staat zu einer Reihe konkreter Aus-

IJ. Rclornialoren und Rcformbcwcgun^jcn des 1 6. Jahrhunderts. II. Luther (1483 1546). 283

arbeitungen, in denen die Idealität der ersten großen phantasievollen Kon- zeptionen sich nicht behaupten konnte. Alles wird praktischer, nüchterner, menschenverständiger, gröber und weltniäßiger. Man hat darin einen Abfall Luthers von sich selbst, einen Rückfall ins Mittelalter sehen wollen. Allein das kann man nur meinen, wenn man Übersicht, wie seine großen Ideen von Anfang an im Zusammenhang mittelalterlicher Gedanken gedacht waren und wie bei der Ausführung diese Voraussetzungen naturgemäß stärker hervortreten mußten. Man wird umgekehrt sagen dürfen, daß in der Ausführung die mönchischen und katholisch-asketischen Reste immer stärker zurücktreten und die spätmittelalterliche Laienkultur immer voller zu ihrem Rechte kommt. Es verschwindet sein kirchliches Gemeindeideal, das übrigens nie über flüchtige und gelegentliche Andeutungen hinausge- kommen war, und an dessen Stelle tritt die Anvertrauung von Ausbildung und Anstellung der Pfarrer, von Visitation und Finanzierung der Sprengel an die einzige dazu fähige Gewalt, die Landesobrigkeit, die als Hüterin des Gesetzes auch zur Hütung der ersten geistlichen Gesetzestafel und als hervorragendstes Gemeindeglied zum größten Liebesdienst für das Wort Gottes berufen ist. Er folgt damit nur der schon länger bestehenden spätmittelalterlichen landeskirchlichen Praxis. Es verschwindet die freie rein religiöse wStellung zur Schrift, die den Paulus herausgriff und die übrige Schrift in ihrer Menschlichkeit erkannte. Es bedurfte einer abso- luten Autorität, und das konnte nur die Schrift in vollem Umfang sein. Es verschwindet die Toleranz gegen Juden und Ungläubige, an denen das Wort Gottes schon von selbst ohne Zwang und Zutun wirken werde; nun sollen sie im Zaume gehalten und von dem Boden reiner christlicher Lehre ausgewiesen werden; ja die Voraussetzung, daß Ketzer zu Unruhen neigen, führt zur Betrauung des Staates mit der Todesstrafe. Es verschwendet das Zutrauen zu dem Zusammenwirken von weltlichem, naturrechtlichem Staat und geistlichem, rein religiösem Gemeindeleben, und die Obrigkeiten werden mit gewaltsamer Erhaltung christlicher Zucht, mit der Verhängung bürger- licher Rechtsfolgen für geistliche und moralische Vergehen, betraut, wie um- gekehrt die Kirche die Obrigkeiten über ihre religiösen Pflichten gegen die Kirche und den Christenstand des Volkes belehren muß. Es schwindet in allen Stücken das Vertrauen zum automatisch, von innen heraus bewirkten Sieg des Guten; Auskunftsmittel der Gewalt und weltlichen Ordnung müssen getroffen werden, und im übrigen tröstet sich Luther des lieben jüngsten Tages, der mit dem Erscheinen des Antichrist und das ist jetzt der Papst ja in der Schrift verheißen ist. Andrerseits aber nimmt Luther doch auch immer fester seine Stellung auf der gottgegebenen Erde und bildet in dem Vertrauen, daß ihre Verhältnisse, d. h. Geschlechtsleben, Arbeit und Wirtschaft, Herrschaft und Recht, Krieg und Nahrungskampf, nun einmal von Gott geordnet sind, die Grundzüge der Ethik des Luthertums aus. Sehr charakteristisch ist er hierbei zu steigender Bezugnahme auf das Alte Testament genötigt, das für weltliche Dinge mehr Stoff bietet. Gott

284 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

hat die Welt nun einmal so geordnet, wie sie ist, und darum ist sie wie Wetter und Jahreszeit hinzunehmen als Schauplatz und Lebensform, inner- halb deren wir unsere Glaubensgewißheit erleben und innerhalb deren wir die Liebe betätigen. Gottes Vorsehung sorgt dafür, daß die im natürlichen g"eschichtlichen Fluß hervortretenden Sozialgebilde ein vSystem sind nach dem Bilde des Paulus von dem Organismus der Gemeinde, in dem jeder durch die ständische Ordnung seinen besonderen Beruf für den Nutzen des Ganzen empfängt. In den Formen des Berufs lebend und nie über sie hinaus zu selbstgemachten Lebensbedingungen strebend, betätigt der Christ die innere Askese der Lösung seiner Seele von der Welt, aber betätigt er auch Ge- horsam und Liebe gegen Gott, indem er die Berufsstellungen und die ehrliche Berufsausübung als die Gelegenheit und Form betrachtet, in denen er seine Liebe gegen den Nächsten erweisen kann. So lebt er in einem christlichen Stand des gemeinen Wesens, rein geistlich erbaut auf die Rechtfertigungsgnade und in Kreuz und Leid sich am seligsten fühlend, aber doch zugleich das irdisch-weltliche Wesen als Anlaß zu geistlicher Bewährung benutzend und sich dem einträchtigen Zusammenwirken von geistlicher und weltlicher Gewalt befehlend. Aus der Gegenliebe gegen Gott, die bei Gottes Bedürfnislosigkeit sich in der Unterziehung unter die weltliche Ordnung zum Nutzen des Nächsten äußert, ist der Ge- horsam gegen die Schöpfungsordnung geworden, die zwar durch die Erb- sünde getrübt genug ist, aber doch im Staat und im Gesellschaftsleben ein gottgewolltes System nützlicher menschlicher Funktionen darbietet. Dabei hängt freilich diese geistliche Berufsethik aufs engste zusammen mit der Auffassung des ständisch-agrarischen Staates als der normalen Auswirkung der Lex naturae. Das Naturrecht ist von ihm instinktiv durchaus antidemo- kratisch und konservativ gedacht, und die rein religiöse und innerliche Gleichheit des Christen fügt sich demütig in diese natürlichen Ordnungen Gottes. Die Sozialgebilde sind eine Schöpfung der Gewalt, aber unter Zulassung und Anordnung durch Gottes Vorsehung, so daß der Christ nach geistlichem und natürlichem Recht sich willig der Macht zu fügen hat, die Gewalt über ihn hat. Das von solcher Gewalt geschaffene Gemein- wesen bringt durch die gottverordnete innere Logik der Lex naturae die ständischen Gliederungen hervor, die nicht minder zu respektieren sind als die Obrigkeit selbst, und die das Fach werk sind, in die Gott die Tätig- keit des Christen eingliedert. An die Gesellschaft der Freizügigkeit und Gewerbefreiheit, der Maschinen und des Kapitals ist dabei freilich nicht gedacht; sie würde Luthern als Aufhebung aller patriarchalischen Ord- nung und Autorität erschienen sein. Daher haßt er auch den erst respekt- los nivellierenden und dann künstlich naturwidrige Unterschiede machen- den Kapitalismus. Der Patriarchalismus beruht in gleicher Weise auf geistlichen wie auf naturrechtlichen Gründen und hängt mit einem ge- gebenen, nicht erst vom Individuum zu erörternden System sozialer Funk- tionen zusammen. In diesem System findet jeder den seinem Stand

B. Reformatoren und Refornibewe<:;iin{;en des i6. Jahrhunderts. II. T.ulher (1483 1 1546). 28"^

gemäßen Nahrung.s.schutz, bei dem er sich in Gottvortrauen und Geduld zu bescheiden hat.

Doeniatisch ist T.uther über seine bisherieren Positionen lodicfHch in inthers .\bend-

inanlslfhre.

der Abendmahlslehre hmausgegangen. Hier hat ihn der Kampf mit Karl- stadt und dann später mit Zwingli, der ihm mit Karlstadt immer identisch blieb, zur schroffen Betonung der wahren Gegenwart von Leib und Blut des verklärten Christus in den Elementen zum Genuß Frommer und Unfrommer veranlaßt. Der Mystiker hing an dem Ineinander des Gött- lichen und Menschlichen, und so erhielt er seiner Kirche das katholische Dogma ohne seine Beziehung auf die Göttlichkeit des Priestertums und auf die Wiederholung des Opfers Christi durch den Priester. Es war eine besondere Vergewisserung, wenn das Wort der Sündenvergebung in dem gegenwärtigen Logos Gottes selbst leiblich zu genießen gegeben wurde. Mit der Erneuerung scholastischer Spekulationen, die die hierzu erforder- liche Allgegenwart des Leibes Christi bewiesen, vererbte er seiner Kirche auch scholastischen Geist und scholastische Technik, mit der Entladung seines grimmigen Zorns gegen Zwingli die Begeisterung für ein lutherisches Sonderdogma und die stereotypen stilistischen Formeln des Hasses gegen die Sakramentierer.

Luther starb gerade, bevor es zur endlichen Ausführung der Reichs- Ras Luthertum

beim Tode

acht gegen ihn und die seine Lehre beschützenden Fürsten und Stadt- Luthers. Regimente kam. Seine Kirchen wurden von neuem in interimistische Zustände gestürzt, aber sie waren bereits zu stark, um völlig erdrückt zu werden. Auch half ihnen die Eifersucht der ständischen Libertät gegen den drohenden kaiserlichen Absolutismus. Luther hatte ihnen eine, wenn auch prinziplose und sehr provisorische, aber doch zähe Organisation, vor allem einen festen und unbesieglichen Geist hinterlassen. Er hatte ihnen aber auch eine Theologie hinterlassen, die zwar völlig gelegentlich und unsystematisch war, die aber doch einen starken und einheitlichen Gesamtcharakter trug und die nun bei der endgültigen Ausgestaltung und Befestigung seiner Hinterlassenschaft sehr natürlich zu immer stärkerer Geltung kam. Sie wurde immer mehr das leidenschaftliche Schibboleth einer Partei des allein wahren und echten Christentums. Von hier aus reorganisierte sich das Luthertum aus den Wirren des Interims. Sein Ein- heitsband und seine Kraft wurde eine immer strenger gefaßte, rein luthe- rische Theologie.

Luther selbst hat eine eigentliche Theologie nicht besessen, sondern Luthers

. ' ^ Theologie.

nur die Elemente einer solchen. Der Grund davon liegt nicht bloß in dem praktisch bedingten gelegenheitlichen Charakter seiner Schriftstellerei sie ging trotzdem immer aus ernster einheitlicher Denkarbeit hervor ; auch nicht in der Abneigung des religiösen Genius gegen jeden begrifflichen Doktrinarismus Luther hat begrifflich gedacht und hat gelegentlich den Doktrinarismus durchaus nicht verabscheut. Er liegt in dem Ausgangs- punkt seines Denkens, das bei der Analyse des subjektiven religiösen

2 86 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

Bewußtseins psychologisierend einsetzt, hier dann den ganzen kirchlichen SupranaturaHsmus, abgesehen von der Sakramentsmagie und der Priester- theokratie, als einen innerlich geistlichen wiederherstellt und so beständig zwischen psychologisch-subjektivierenden Analysen und supranaturalistisch- objektivierenden Offenbarungssätzen hin und her geht. So entsteht ein sehr buntes Gemenge von Aussagen, das aber doch ein einheitliches Gepräge trägt. Die Welt zerfallt seit dem unseligen Sündenfall in zwei große Teile, in die Welt außer Christo und in die Welt in Christo. Die erste ist die Welt des Teufels und der Erbsünde, der Verderbnis und der Höllenstrafen, der Ver- sehungsqualen und Gotteszweifel, des Gesetzeszwanges und der Lohn- gerechtigkeit, des Zorns und der Verdammnis, der Äußerlichkeit und des Werkwahnes, des kreatürlichen Hochmutes und der glaubenslosen Verzweif- lung. In ihr ist der Mensch ein Werkzeug des Teufels, und selbst die hier noch übrige, im natürlichen Sittengesetz sich äußernde Vernunft muß sich diesen Verhältnissen durch Recht und Zwang anpassen und vermag- kaum die Einschränkung der gröbsten und äußerlichsten Sünden. Die zweite ist die Welt des Gottessohnes und der Gnade, des Heils und der Seligkeit, des Gottvertrauens und der Freudigkeit, der Selbstverneinung und Neuschöpfung, der Bußschmerzen und des Sündentrostes, der Gottes- kraft und des Geistbesitzes, des absoluten Bekehrungswunders und der Vereinigung mit Christo, wo der Mensch alle Verdienste und Gnadeng^üter Christi empfängt und Christus alle Strafe und Sünde des Menschen auf sich nimmt. Darin wurzelt schließlich auch innerlich die Behauptung des kirchlichen Trinitätsdog^mas: nur das Wunder der Menschwerdung Gottes selbst kann die verkehrte Welt wieder umkehren, insbesondere die alles beherrschende Betonung des Genugtuungs- und Strafleidens Christi, der die Gesetzes- und Zornwelt aufhebt und den Teufel besiegt; ein Tod fraß hier den andern und hat dadurch die Menschheit befreit. Dieses kos- mische Grundwunder wird aber zur Erlösung des einzelnen nur durch das ganz innerliche und persönliche Bekehrungswunder. Das ganze Bekehrungs- wunder selbst vollzieht sich trotz aller unmittelbaren Gottgewirktheit überall nur durch die Vermittlung des Wortes und der Sakramente. In beiden wird die wahre Gotteserkenntnis zusammen mit der Botschaft von dieser großen Heilstat Gottes dem Glauben dargeboten. Daher ist die Erhaltung des Wortes, die Reinheit der Schriftlehre und der Trost der leiblichen Gegen- wart Christi im Sakrament der eigentliche Kern der Kirche. Dabei tritt ihm aber der paulinisch-johanneische Christus so stark als Kern der Schrift hervor, daß die in menschliche Hülle sich kleidende Gottheit, ihre Gegen- liebe und Vertrauen weckende menschliche Liebe, ihre ganze \'erkleidung in psychologisch wirksame, geschichtliche Personwirklichkeit ein Zentrum seiner Theologie wird neben dem Mysterium des Genugtuungstodes. Die Zahl der so Bekehrten wird nicht groß sein; freilich ringt hier die allgemeine Menschenliebe, die die Bekehrung als eine für alle wenigstens mögliche und von Gott gewollte ansieht und sie auch allen zuwenden will, mit den Ent-

B. Reformatoren und Reformbewcgunj^jen des 1 6. Jahrhunderts. III. Zwint^li (1484 1531). 287

täuschuiigen der Erfahniui^- und den Kon.sequenzen der nie aufgesrebenen Präde.stinationslehre. Nur schwer ergibt sich Luther in die Kleinheit der Christenschar, Calvins Härte, der diese Kleinheit aus dem Wesen Gottes folgerte, ist ihm fremd; ihm ist Gott der Gott der gnädigen Liebe und nicht der Gott der Offenbarung seiner Herrlichkeit und Allmacht. Die Christen- gemeinschaft oder die wahre Kirche erstreckt sich durch alle Welt und ist überall da, wo Wort und vSakrament rein zur Wirkung kommt. Die Kirche ist eine objektive Heilsanstalt, aber nur sichtbar in Wort und Sakrament, Sein mystischer Individualismus ist überall nur an der Rettung der Einzelnen durch die Kirche oder das Wort interessiert, und sein Pessimismus erlaubt ihm nicht, irgendwo eine reine und große Kirche zu erwarten. Auch im eigenen Lande muß es genügen, die Obrigkeit zur Pflege des reinen Wortes zu ver- anlassen und alles übrige Gott zu überlassen. Die Bekehrten selber sollen, in der Welt wie Küchlein unter Christi Fittichen sitzend, der Welt gebrauchen als des von Gott verordneten Ortes und Berufes, aber nirgends ihr Herz an sie hängen. Sie sollen den alten Adam ersäufen in täglicher Reue und Buße, in rechter biederer Pflichterfüllung ihren Platz ausfüllend, und die Welt heiligen, soweit sie es leiden will, im übrigen aber Gott für das Weltregiment sorgen lassen und als echte Christen stets zur Bewährung ihres Glaubens im Martyrium bereit sein. Denn der Zwiespalt zwischen der Teufelswelt und der Gotteswelt hört auch nach der Bekehrung im irdischen Leben nicht auf, Sie dürfen sich dabei stets dessen getrösten, daß durch die Gnade ihnen die Hölle verschlossen und die selige Heimat im Himmel offen ist. Um das Fegefeuer aber, das ihnen bisher so viel Sorge machte, brauchen sie sich nicht zu kümmern, das ist ein Wahn. Gott macht immer ganze Arbeit; entweder verdammt er völlig oder beseligt er völlig; er rechnet nicht und macht keine Kompromisse.

Es ist kein Wunder, daß bei weniger groß angelegten und weniger phantasievollen Menschen unter der Nötigung zur Bildung fester kirch- licher Lehre daraus die Theologie der lutherischen Dogmatik wurde.

IlL Zwingli (1484 1531). Die zweite religiöse BewegTing, die es zur sonderart der

. . Schweizer

Bildung einer religiösen Gemeinschaft von beträchtlichem, wenn auch hinter Reformation, dem Luthertum sehr zurückbleibendem Umfang brachte, ist die Reformation Zwingiis. Sie ist die aus den Verhältnissen der Schweiz herausgewachsene Reformation, eine Verdichtung allgemeiner Schweizer Gravamina und humanistischer Kritik zur Reform, von dem Ausbruch der Lutherischen Bewegung in Gang gebracht und durch die gleichen internationalen poli- tischen Verhältnisse begünstigt wie die Reformation im Reich. Trotzdem ist ihre Besonderheit keineswegs bloß begründet in der Sonderart der Schweiz, in ihrem Republikanismus, ihrem Kampf gegen die zerrüttenden Soldbündnisse, ihrer Freiheit von Rücksicht auf Reich und Reichsacht, ihrer traditionellen Beteiligung der demokratischen Vertretungen an der Kirchen- hoheit. Vielmehr erhält sie ihr charakteristisches Gepräge durch die reli-

2 88 Ernst Trokltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

giöse und ethische Individualität Zwinglis, die neben derjenigen Luthers durchaus selbständig und durch eigene Vorzüge ausgezeichnet ist. Die in neue Bewegung geratene christliche Idee äußert sich in dem frucht- baren Zeitalter in einem gToßen Reichtum sehr verschiedener Gestaltungen. Neben der moralischen Laientheologie des Erasmus und der unmittelbar gefühlsmäßigen paulinischen Gnadentheologie Luthers steht die exegetisch- historisch begründete, intellektuell-systematisch durchgedachte und in einer praktischen politisch-sozialen Schöpfung betätigte Schrifttheologie Zwingiis. Zwingiis Zwingli ist wie Luther ein Bauernsohn und hat von seiner Herkunft

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die natürliche Frische und Aufrichtigkeit; aber die bäuerlichen Elemente sind doch fast ausgetilgt durch eine planmäßige, mit früher Jugend ein- setzende humanistische Erziehung. Als Kind leidlich wohlhabender Eltern und geleitet von wohlwollenden und gebildeten Verwandten hat er in Basel, Bern, Wien und dann wieder Basel studiert, überall ein fröhlicher Zögling humanistischer Studien. Den Trübsinn des Lebens lernte er nicht kennen wie Luther, und von melancholischen Anwandlungen war er stets frei. Dagegen hat er den Sinn für umsichtiges und planmäßiges Studium, für sorgfältige Begründung, radikale Durchdenkung der Prinzipien, sichere Bedächtigkeit des Vorgehens und freudige Tatkraft des Entschlusses. Er hat stets besser lateinisch als deutsch geschrieben, und sein Stil ist, ohne Luthers Originalität und Vollkraft, wohl humanistisch geschmückt und ge- legentlich von größter Energie, aber im ganzen farblos und zu philo- logischer Pedanterie geneigt, weniger grob als Luther, aber reicher an Satire und stechendem Witz, rhetorisch wirksam, aber ohne Humor und Phantasie. wSo ist denn auch die eigentliche religiöse Grundanlage seiner Natur bei allem gewissenhaften Ernst und trotz der stets sich steigernden Wärme nicht entfernt von der vulkanischen Gewalt Lutherischen Emp- findens. Luthers Anfänge schöpften aus der deutscheu Mystik, und er behielt aus ihr dauernd den formellen Gegensatz aller christlichen oder spiritualen Moral gegen die weltliche oder leg-ale bei, auch wenn er die weltflüchtige Askese beseitigte. Zwingiis Anfänge schöpften aus dem Humanismus und dem Schweizer Patriotismus, und er hatte dadurch von Hause aus die Richtung- auf die Identität gesunder weltlicher Ordnung mit dem geistlichen Leben, auf die Konvergenz von Natur und Geist. Zwingli hat nie an das Kloster gedacht, hat die Theologie zunächst nur nebenbei studiert, das geistliche Amt nur übernommen, weil die verwandt- schaftlich beeinflußte Gemeinde von Glarus g'egen alles Erwarten den blut- jungen Magi.ster berief, und mit dieser Stelle die Leitung einer humanistischen Schule verbunden war. Von Anfang an religiös bewegt, hat er doch in die Religion sich immer mehr pflichtmäßig hineinstudiert und erst später, von der Gewissenspfliclit erfaßt, sein ganzes Leben in ihren Dienst gestellt, dann freilich ohne Rest und ohne Furcht, Immer aber ging bei ihm das religiöse Gefühl durch das Medium pflichtmäßiger x\nerkennung der Schrift- wahrheit und verstandesmäßiger Aufhellung seines verpflichtenden Gehaltes

H. Reformatoren und Reformbe\ve<,'un<,'cn des l6. Jahilnindeits. III. Zwinj^li (r484 I53i)- 289

hindurch. Diese Anlage und dieser Entwicklungsgang hatte zur Folge, daß bei ihm sich alles in Ruhe, Harmonie und Klarheit durchbildete, daß er bei seinem Hervortreten schon eine sorgsam erwogene, klare und kritisch befestigte Gedankenwelt in sich trug, und daß er dann seine konsequente Tatkraft ohnegleichen daran setzte, das mißbräuchliche Alte durch ein konsequentes und einheitliches Neues zu ersetzen. Die Katastrophen, das Gedrängtwerden durch die Verhältnisse, die stets von Fall zu Fall nur das Notwendigste reformierende Art Luthers, auch all die starken Stimmungs- schwankungen und Unfertigkeiten Luthers fehlen in seinem Wirken. Dabei aber ist sein Radikalismus doch nur ein Radikalismus des Pflichtbewußtseins und der Verstandesklarheit. Sein Temperament selbst ist konservativ im höchsten Grade. Theologisch hält er wie selbstverständlich an dem nicä- nisch-chalcedonensischen Dogma, an dem mittelalterlichen Weltbild, an der Inspiriertheit der Schrift fest; auch der kirchliche Supranaturalismus, dem die Bibel und die von ihr bezeugte Geschichte ein absolutes Wunder ist, steht ihm völlig unerschüttert. Politisch und ethisch drängt er und zwar schon vor den Konflikten mit den Täufern auf Anerkennung des Staates und der staatlichen Ordnung, des geltenden Rechtes und Besitzes, und sein Hauptziel ist von Anfang an eine moralisch-religiöse Wiedergeburt der Eidgenossenschaft und Zürichs zu den echten vaterländisch-christlichen Tugenden eines geordneten Gemeinwesens. Er ist weder ein Rationalist, das Endgeheimnis seiner Theologie ist die absolut irrationale doppelte Prädestination und die Freiheit Gottes von jedem Gesetz, noch ein Radi- kaler, das Ziel seines Lebens ist die christliche Ordnung eines in be- stimmter Rechtsgestalt einmal gegebenen Gemeinwesens, Es liegt nur auf allem ein Hauch pflichtmäßiger Strenge und verstandesmäßiger Klarheit.

Und in beideni regt sich die starke Selbständigkeit einer großen Religiöse

-^ . . Cinindposition

Persönlichkeit. Seine religiöse Grundposition ist nicht das Ergebnis eines zwingiis. schweren explosiven Kampfes, sondern beharrlicher Arbeit und Selbst- erziehung. Von seinem Lehrer Wyttenbach auf die alleinige Heilsbedeutung Christi hingewiesen, hat er den Ausschluß kirchlicher Vermittlung stets als selbstverständlich betrachtet, und kein Kampf trotzigen Temperamentes hat ihn gegen das Gesetz empört. Von Erasmus ließ er sich in die alleinige Geltung der Schrift einführen, ohne daß er eine gewaltsame Befreiung von den kirchlichen Autoritäten nötig gehabt hätte. Von Luther ließ er sich das Verständnis für den Gegensatz von Gesetz und Gnade und damit für den Paulinismus öffnen, ohne daß ihm Tröstung des Sündenschmerzes und FVeiheit von Gesetzeszwang das ganze Geheimnis der Religion wurde. Vielmehr selbständig in die Schrift sich hineinlebend empfand er immer mehr die alle kreatürliche Mitwirkung ausschließende Alleinwirksamkeit Gottes, die den Glauben an die Schrift selbst erst wirkt und durch ihn die Gewißheit der Gnade und die Gemeinschaft mit Gott verleiht, als den Kern des Christentums. Nur die alle kreatürlich- menschliche Vermittlung ausschließende Gotteswirkung gibt völlige Heilsgewißheit. So wird die

Die K.ULTUR uek Geüenwari. l. 4. '9

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

Prädestination der Mittelpunkt seiner Lehre. Damit tritt die Bekehrung, deren Analyse Luther beherrschte, zurück, und die Moral wird nicht zum Anhang, sondern zum Ziel der Heilsgewißheit. Die Prädestination läßt für Zwingli alles als einheitlichen Vorgang erscheinen, während für Luther das rein Göttliche oder die Rechtfertigung gegen das mit menschlicher Aktivität Gemischte eifersüchtig isoliert werden muß. Buße, Rechtferti- gung und Heiligung sind ein und derselbe einheitliche Vorgang, dessen rein göttliche Bewirktheit eben gerade die Heilsgewißheit gewährt. Das schwere Problem des Gegensatzes von Gesetz und Evangelium, in das Luther sich verbohrt hatte und aus dem heraus er nur mühsam und in- konsequent den Weg zu seiner geduldig leidenden Berufsethik fand, besteht für Zwingli in dieser Weise nicht. In der von der Gnade bewirkten Sündenerkenntnis wird der Glaube geboren als Hingabe an den lebendig tätigen Gott und an sein geistlich - evangelisch und gesinnungs- mäßig, nicht zwangsmäßig verstandenes Gesetz. Paulus zeigt sich ihm vor allem von der Seite der Prädestinationslehre; und die Prädestination zum Glauben war ihm daher zugleich die Prädestination zur Erfüllung des geistigen Gesetzes, zur Auswirkung der im Glauben gesetzten Gotteinig- keit. Und von da aus hat schließlich sein Glaube ihn zu dem letzten Schritt geführt, zur Erkenntnis auch der Sünde als von Gott gewirkt und gewollt, um in ihrer Bestrafung die furchtbare Gerechtigkeit Gottes zu illustrieren. Eben deshalb steht er auch dem Augustinismus viel ferner als Luther. Augustins Determinismus strenger behauptend als Luther, mäßigt er doch seinen Dualismus; Luthers grotesker Teufelsglaube ist Zwingli fremd. Er ist allerdings strenger Supranaturalist, aber sein Supranaturalis- mus ist nicht exklusiv; er erkennt die Erleuchtung und Prädestination der großen, vom Humanismus so geliebten Heiden an und kann ihre Gedanken verweben mit den christlichen. Er verdammt alles außer Christo zur Erb- sünde, aber um deswillen nicht alle zur Hölle. Denn die Erbsünde ist nicht wirkliche Schuld, wirkliches Mitsündigen mit Adam, sondern eine Unglücksfolge der Sünde Adams, die nun jeden ohne eigene Schuld in das allgemeine Schicksal zieht, die aber ebendeshalb durch die Gnade der Erwählung, Erleuchtung und Glaubenspflanzung bei Christen und NichtChristen aufgehoben werden kann. Die Gnade ist ihm der Mittelpunkt wie für Luther, aber sie ist ihm etwas anderes. Die Gnade und das Be- kehrungswunder erscheinen ihm nicht so sehr als eine absolute Aufhebung einer ebenso absoluten Weltverkehrung-, sondern als Ausfluß der ordnungs- mäßig überhaupt das geistliche Leben nur durch ein Wunder setzenden Macht Gottes. Die Gnade ist die Auswirkung der göttlichen Allkraft, geoffeubart in der Heilsoffeiibarung beider Testamente und insbesondere in der historisch-exegetisch festzustellenden Lehre des Gottmenschen, da- her im gewöhnlichen Heilsweg gebunden an die X'ermittlung durch die Schrift und immer deutlich umgesetzt in die klare Erkenntnis von der den Glauben an die Schrift wirkenden und dadurch das neue Leben pflanzen-

n. Rrformatoron und Rofornibcwefjiinfjon ilcs l6. Jahrhunderts. II[. Zwinfjli (1484-— f 531). 201

den Gottosmacht. Gott ist absolute Tätigkeit, und der tätige Gott ist tätig auch im Menschen, und an seiner eigenen Tätigkeit erkennt der Mensch die Erwählung. Damit sind für Zwingli Spekulationen über den Gottesbegriff, über die Allursächlichkeit Gottes und die Be Wirkung idler Gotteserkenntnis nur durch Gott selbst, über Vorsehung und Weltplan, eröffnet, in die seine jugendliche Begeisterung für den christianisierten Stoizismus und Piatonismus der Renaissance einmünden konnte. Persön- lichkeit Gottes, Schöpfung, Trinität, Menschwerdung verstehen sich für seinen Offenbarungsglauben von selbst, aber er stellt diesen Glauben doch ein in die allgemeine Lehre des Panentheismus, in der christliche und vorchristliche Theologen, Paulus und Moses, aber auch Seneca, Cicero und Piaton übereinstimmen; alles geschieht durch Gott und Gott ist die einzige wirkliche Realität; zu dieser Erkenntnis führt Gott selbst den Men- schen durch die Zertrümmerung der Selbstgerechtigkeit in der Sünde und durch die Erweckung des Erlösungsglaubens an Christus hindurch. Über Zwingli liegt ein Hauch des Panentheismus der Renaissance, der freilich immer wieder vergeht vor den Lehren der Beharrung des Bösen, der ewigen Verdammnis, der doppelten Prädestination und der Genugtuung Christi. Bei diesen Lehren schlägt Zwingiis Lehre von der Güte der all- wirkenden Substanz um in den harten Voluntarismus, der dann die Seele von Calvins theologischem Denken wurde. Aber ein derartiger Wider- spruch fiel dem an solche Voraussetzungen gewöhnten Denken jener Zeit nicht auf, und auch der allgemeine Determinismus sollte ja nur die Kraft und Selbstgewißheit des von der Sünde und dem Bösen sich abhebenden Guten bewirken.

Es ist eine völlig prädestinatianische und ebendeswegen eine durch ZwingUs Kthik. und durch ethische Religiosität. Die Ethik wird hier positiv und welt- gestaltend; da auch die Verhältnisse der sündigen Welt von Gott geordnet sind, darf und soll der Christ sich ihrer zur Aufrichtung des christlichen Gemeinwesens bedienen. Der im Sündenleib und der sündigen Welt stehende Mensch soll daher in den durch die Welt gewährten Formen des Rechts, der Ordnung, des Staates das geistliche Leben ausüben, in die von der Lex naturae ausgehenden Lebensformen den christlichen Geist der Liebe und der freien Selbstdisziplin hineintragen, den Staat und das bürgerliche Leben vergeistigen durch die christliche Geistesgesinnung und umgekehrt das geistliche Wesen der religiösen Gemeinschaft befestigen durch bürger- liche Rechtsordnung, obrigkeitliche Sittenmandate und staatliche Kirchen- fürsorge. Dafür, daß beides harmoniert ohne Übergriffe des einen in das andere, sorgt die göttliche Weltordnung, in der Sünde, Lex naturae und geistliche Erneuerung alle zusammen begründet sind. Li der erbsündigen Welt darf Rechtszwang und Gewalt, Krieg und Politik in den Dienst des Evangeliums gestellt werden, darf die Kirche und das christliche Leben eingehen in die Nöte und Händel des sündigen leiblichen Daseins. Eine Gottes Gesetz entsprechende christliche Gesellschaft ist das Ziel, und

ly*

2q2 Ernst TroeltscH: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

für diese ist Krieg und Politik geboten, wenn es der Schutz des Evan- geliums verlangt, ist geistlich - biblische Einwirkung auf die Obrigkeit und schließlich Gehorsamsverweigerung gegen die Obrigkeit gefordert, wenn die Obrigkeit den Weg des göttlichen Gesetzes verläßt. Den Opti- mismus, daß beide sich immer finden werden und müssen in reiner freier Übereinstimmung, hat Zwingli nie verloren; er hat freilich beide auch von Hause aus nie so schroff getrennt wie Luther, dem ebendeshalb auch die Wiedervereinigung- größere Mühe machte und der in Wahrheit über ein Leiden und Dulden der irdischen Ordnungen nie hinausgekommen ist. Luther sah eben auch alles vom Standpunkt der Weltzerstörung durch Adams Sünde und von der Voraussetzung einer völligen Scheidung des Geistlichen und Irdischen aus, die er psychologisch stets in dem Seelenkampf der Buße vorfand. Statt dessen sah Zwingli auch die Sünde in Gottes Weltplan begründet und sah er die Einheit aller Dinge in dem göttlichen Weltplan. Zwingiis Religion sah die Dinge von Gott aus an, die Luthers vom Men- schen aus. Luther bleibt absichtlich im Dualismus der sündigen und geistlichen Welt stecken. Zwingli will kraft der Einheit des göttlichen Vorsehungs- und Weltplanes zur Lebenseinheit des verchristlichten Welt- lebens. Zwingiis Ebendeshalb zog aber auch Zwingli eine zweite wichtige Folge-

Sakramentsidee. ° ° ö ö

rung aus seinem Gnadenbegriff, die völlige und restlose Zerstörung- der katholischen Sakramentsidee, zu der Luther trotz prinzipieller Über- windung sich tatsächlich nicht verstehen konnte. Wirkt die Gnade rein geistig und persönlich, so sind die Sakramente im Sinne des Katholizismus Materialisierungen der Religion. Sie sind für Zwingli der Urkeim des katholischen Kirchentums, aus dem alle Bindung der Religion an sinn- liche Mittel und dadurch an Priester und Päpste und an die äußerliche Gewaltherrschaft der Kirche immer wieder hervorgehen muß. Hier argu- mentiert Zwingli mit aller Energie historisch-kritisch und rationalistisch. Die Sakramente sind ihm auch in dem auf Christus zurückzuführenden Bestandteil symbolische Zeremonien, die als Taufe das Kind der christ- lichen Gemeinde verpflichten und als Herrenmahl die christliche Gemein- schaft vor Gott bezeugen, die aber an Heilskräften nichts anderes enthalten als die biblische Verkündigung von der freien Gottesgnade überhaupt. Wie den Sakramenten erging es den Bildern und dem ganzen Kultus, sofern er als Vermittlung g-eistlicher Kräfte anders als durch das bloße Schriftwort wirken wollte. Hier hat Zwingli den Katholizismus viel tiefer getroft'en und radikaler aufgelöst als Luther und auch neben der Autorität Luthers, selbst um den Preis der Entzweiung und Schwächung der Reformpartei, sich behauptet. Er durfte hier nichts preisgeben; denn das Pathos seiner Sakranientslehre war nicht der Rationalismus, sondern die religiöse Idee von dem geistigen und persönlichen Charakter der Gnade. Beruhte diese allein auf der Heilsgewißheit der Prädestination, dann gab es nur innere X'ergewisserung und keine seikranientalen Ver-

]\. Keforiuatürcii und Kcformbcwcf^unfjcti des t6. Jalirluindcrts. III. /winfjH ( r 484 -1531). 2()'l

mittelungen. Dieser Idee hat er sogar seine christliche Politik, die zum Schutz des Evangeliums alle Reformer einigen sollte, geopfert.

Von dieser starken Individualität ist denn auch der Gang der religiösen Gang derRcform Reform in der Schweiz charakteristisch bedingt. Zehn Jahre lang wirkte Zwingli in Glarus. Es war die Zeit seiner Studien und Vorbereitung, wo er sich als humanistischer Lehrer und Gelehrter seinen Ruhm erwarb, seinen Ereundeskreis sammelte und seine religiösen Ideen an der Hand des Eras- mus durchbildete, schon hier durch die Aufnahme des Panentheismus von dem Moralismus des Erasmus sich scheidend, aber dessen Programm der schonenden Umbildung von innen heraus ohne Kampf gegen das Sakral- wesen noch teilend. Seine jetzt schon vorhandene Kampfesstimmung be- schränkt sich auf den moralisch -patriotischen Kampf gegen das Reis- laufen, die Soldbündnisse und das alles vStaatsleben parteiisch vergiftende Pensionswesen. Dieser Kampf vertrieb ihn von Glarus nach Einsiedeln, aber auch in diesem Zentrum des katholischen Kultus hielt er noch an dem erasmischen Programm der bloßen Beeinflussung durch Predigt und Erziehung fest. Seine gelehrten und patriotischen Verdienste verschafften ihm dann eine Berufung an das Großmünster in Zürich. Hier predigt er die Evangelien und dann die paulinischen Briefe durch und entwickelt seine Pfarrtätigkeit zu tiefgreifendem Einfluß, aber noch immer schont er das Sakralwesen. Da ergreift ihn seit der Leipziger Disputiition der Sturm der Lutherischen Bewegung und macht ihm die Pflicht des Bruches mit der Papstkirche oder vielmehr der offenen Reformforderung auch für das Sakralwesen klar. Von nun ab tritt er Schritt für Schritt, langsam, aber sicher mit seinem wohldurchdachten kritischen Programm hervor und er- hebt sich lediglich durch den gewaltigen Eindruck seiner pfarramtlichen Tätigkeit zum geistigen Leiter Zürichs. Zunächst freilich immer noch lang- sam genug. Das erste ist ein politischer Sieg über die Parteigänger des Pensionswesens. Kraft der dadurch errungenen Stellung rückt er mit seinem religiösen Reformprogramm heraus. Sorgfältig die Bürgerschaft durch Predigt und Belehrung vorbereitend, sich einen starken Anhang schaffend und vor jeder gewalttätigen und voreiligen Reform warnend, gewinnt er den Rat für das Prinzip rein biblischer Religion. Da setzte er dann ein mit der Methode der Religionsgespräche. Ordnungsgemäß sollten in ihnen die bischöflichen Gegner überwunden werden und dann dem Ergebnis gemäß vom Rat verfügt werden. Das erste Religionsge- spräch hatte die Abstellung der Fastenpflicht und des Zölibates zum Er- gebnis, ein zweites die Abstellung der Messe, der Klöster und der Bilder, und eine Kirchenvisitation auf Grund einer Zwinglischen Normschrift, der „christlichen Einleitung". Alle Geistlichen werden in biblischen Unterricht genommen und dieser Unterricht auch auf die Laien ausgedehnt. Armen- ordnung, Ehegesetzgebung, Sittenmandate, Erleichterungen der Bauern- lasten, Schul- und Universitätseinrichtungen folgen. Das Kirchengut wird für die neuorganisierte Pfarrerkirche und die Schulen verwendet. Alles

294

Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

geschieht vom Rat unter Einwirkung Zwinglis, und Zürich wird eine ernste, moraUsch gründlich durchregierte Stadt. Die Kirche wird Zwinghs klarem Kirchenbegriif ganz von selbst zur Gemeindekirche, in der jeder Sprengel von einem schriftkundigen Geistlichen als dem ordnungsmäßigen Verwalter des Wortes pastoriert wird. Das Verhältnis zur weltlichen Gewalt ordnet sich nach Zwinglis Grundsätzen ebenfalls leicht, indem dieselbe Gemeinde ja die politische vmd die kirchliche Gemeinde ist: die durch die politische Ordnung gegebene Gemeindevertretung hat infolgedessen die Pflicht zu christlichem Regiment wie zur Unterhaltung und zum Schutz der Kirche, Was Luther als einen Notbau schließlich einrichtete, hat Zwingli von Hause aus als im Prinzip der Sache gelegen betrachtet und daher mit voller und freudiger Konsequenz durchgeführt. Zwar ist Zwingli wie Luther über- zeugt, daß die geistliche Sphäre eine Sphäre reiner Freiheit und Ge- sinnung ist, daß die Kirche nur wirken soll durch Wort und Predigt und daß die weltliche Zwangssphäre weit unter der der evangelischen Freiheit liegt. Aber er zweifelt nicht an der inneren Zusammengehörigkeit des Weltlichen und Geistlichen, des Leiblichen und Religiösen, und ist gewiß, daß das Wort die Gemeinden erobern muß. Dann aber ist ihm auch selbstverständlich, daß die kirchliche Gemeinde als zugleich politische ihre Ordnung und ihr Regiment in den Dienst der Bibel aus freien Stücken stellt und daß in allen Fällen der Unklarheit die Bibel die Richtschnur des Zusammenwirkens angeben werde. Luthers tiefe Scheidung zwischen der Rechts- und Zwangssphäre und der religiösen Freiheitssphäre ist mo- derner empfunden als Zwinglis zuversichtliche Zusammenfassung beider, andrerseits aber wieder ist Zwinglis Eingehen auf die irdischen Verhält- nisse und ihre Hinnahme als normaler, die religiöse Idee zum Kompromiß nötigender Lebensbedingungen moderner gedacht als Luthers leidende Fügung in die Folgen der Sünde Adams. Freilich hat auch Zwingli bei der von selbst funktionierenden Einheit des Geistlichen und Weltlichen nicht stehen bleiben können. Seine radikalen, dem Anabaptismus verfallen- den Anhänger und später grimmigen Gegner hat er entschlossen mit aller Zwangsgewalt des Staates bekämpft und vernichtet, nachdem Predigt und Religionsgespräch versagt hatten. Es ist eben eine religiöse Normidee tatsächlich ohne Zwangsgewalt nicht durchzusetzen, und, was Luther völlig prinzipwidrig tun mußte, das hat Zwingli aus seiner Idee des christlichen Staates konsequent abzuleiten vermocht. Ridgenössisriio Dann aber galt es die Züricher Reform über die Eidgenossenschaft

und interiiatio- _ ^

uaic KeiiKions- weiter auszubreiten. Auch hier sollte zunächst das Wort alles allein

Politik Zwinglis.

wirken, Religionsgespräche sollten die altgläubige Partei zum Anschluß oder die Regierungen gegen sie zur Aktion veranlassen. Zwinglis ?Veunde und vSchüler wirkten in diesem Sinne an verschiedenen Orten. Als aber trotz der Gewinnung Borns diese Methode an der beim alten Glauben verharrenden und von auswärts steif gemachten Majorität der Tagsatzung versagte, da griff Zwingli hier noch entschiedener als in der inneren

1$. Rcforniatoreii und Rctormbcucgunfjcn des 1 6. Jahrhunderts. III. Zwinj^li (I484 153I). 2QS

Politik neben der des Wortes zu der Waffe des Schwertes. Eine mili- tärisch politische Zwangsausbreitung der Reform über die ganze Kidge- nossenschaft machte ihm keine Bedenken, im Gegenteil sie entsprach seiner Idee von der Pflicht, die erkannte Wahrheit zu verteidigen, die ja in der Eidgenossenschaft nur durch Ausbreitung bei sämtlichen Kantonen zu behaupten und verloren war, wenn Zürich allein blieb. Luthers Lehre vom bloß passiven Widerstand, von der er zuletzt doch, wenigstens bezüglich der Reichsfürsten gegenüber dem Kaiser, abgehen mußte, hat für Zwingiis religiöses Gefühl nie existiert. Dieses forderte den fröhlichen Einsatz aller Kräfte und Mittel, auch der weltlichen des Schwertes und der Diplomatie, für eine Sache, die in der Welt nach Gottes Ordnung ohne weltliche Mittel nun einmal nicht behauptet werden konnte. Bei alledem i.st seine vStellung in der Sache rein defensiv gedacht und empfunden, und wenn sich damit Wünsche des Züricher Patrioten verbanden, die die Stellung Zürichs vergrößern sollten, so mochte er auch das mit solchen defensiven Gründen rechtfertigen. Auch winkte für den eidgenössischen Patrioten bei solcher Defensive das Ziel einer politisch enger vereinigten, moralisch gereinigten und religiös verbundenen Eidge- nossenschaft. Die Behauptung des Evangeliums in Zürich und Bern und die weitere Ausbreitung mittels gewaltsamer Verpflichtung der Eid- genossenschaft zur Reform konnte nur zum Segen der ganzen Eid- genossenschaft ausschlagen. Aber der Plan scheiterte, und es traten die naturgemäßen Konsequenzen jeder religiösen Politik ein: die patriotischen und rein politischen Interessen mußten hinter dem religiösen Ziel zurück- treten. Zwingli wandte sich von der Eidgenossenschaft ab und mußte mit schwerem Herzen im Gegensatze gegen sie eine internationale Koa- lition zum Schutz der Züricher Reform und zum Schaden der Eidge- nossenschaft zu schaffen versuchen. Er wollte bewußt und planmäßig in der Konsequenz seines Prinzips tun, was die Schmalkaldener aus religiösen Skrupeln und politischer Erbärmlichkeit später versäumten und dann durch den Verrat Moritzens sich schenken lassen mußten. Seine von vorn- herein nicht aussichtsreichen großen Pläne scheiterten, seine religiöse Politik unterlag in Zürich selbst seinen wieder erstarkenden Gegnern, und er fiel als Feldprediger in dem kleinen Kriege Zürichs gegen die Ur- kantone, der das ungewollte Ergebnis all der großen weltbewegenden Pläne wurde. Zürich und das Evangelium verloren wichtige Gebiete; aber, wenn die W^irkung weit weniger zerschmetternd war als die Schlacht bei Mühlberg, so ist das doch Zwingiis vorbauender christlicher Politik zu danken.

Damit verlor freilich die Züricher Reform die Verbindung mit den oberdeutschen Städten, die an die Einflußsphäre des Schmalkaldischen Bundes übergingen, und in der Schweiz kam die Reform zum Stillstand, bis ihr mit Calvin wieder neue Kräfte und Gedanken zuteil wurden. Aber in Zwingiis Werk, das der rastlose Arbeiter neben all diesem

2g6

Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

politischen Wirken zugleich in großen Schriften und in umfangreichster Korrespondenz niedergelegt hatte, verblieb ein religiös - ethisches Ge- dankenkapital von hoher selbständiger Bedeutung.

Probleme des IV. Die Täufer und Spiritualisten. Die Persönlichkeits- und

von Schrift und GeistesrcUgion der Reformatoren hat die sakramentale und hierokratische Kirche zerbrochen. Die Reformatoren behalten als Autorität und organi- sierende Kraft die Schrift übrig, vor die sie jeden Christen ohne priester- liche Vermittlung und Leitung stellen. Ihr Problem wurde daher, die Bindung des Geistes und der Gnade an die Schriftvermittlung festzustellen und eben damit zugleich eine einheitliche Schriftauslegung zu normieren. In der Lösung dieser Lebensfrage wurzeln die charakteristischen neuen Hauptdogmen der Reform über die Bekehrung durch die Schrift, über die Erbauung der Kirche auf die Schrift, und die Aufstellungen von Leit- fäden für die richtige Schriftauslegung. Exegetisch- wissenschaftliche Schriftkenntnis und dogmatisches Verständnis der reformatorischen Grund- lehre für die Prediger, zugleich die neue Ausbildung des alten Grundge- dankens von der Einheit politisch -sozialen und kirchlichen Lebens auf dieser Grundlage: das waren daher ihre Hauptforderungen. An Stelle der Übergewalt der sakramentalen Hierarchie trat die gemeinsame Herrschaft von Schrifttheologen und biblisch-belehrter Obrigkeit über die Gläubigen. Aber damit sind doch nur Folgerungen unterdrückt und beseitigt, die bei der Eröffnung einer neuen lebendigen, auf das innere Erleben sich be- rufenden Religionsbewegung und bei der Geltendmachung der Schrift und des von ihr repräsentierten, staatsfreien und enthusiastischen Urchristen- tums unausbleiblich waren. Diese Folgerungen sind vierfach: erstlich die Lösung der religiösen Erleuchtung von der ausschließlichen Bindung an die Schrift und die Entbindung einer neuen persönlichen religiösen Pro- duktivität, die sich im Empfang gegenwärtiger religiöser Erleuchtung und Offenbarung äußern mußte und auf das urchristliche enthusiastische Pro- phetentum berufen konnte; zweitens die Erfassung- des Kriteriums für die Schriftauslegung in der inneren Erleuchtung und Versiegelung, die sich aus der Betonung der Innerlichkeit und Erfahrung und aus der Lobpreisung des einfältigen, jedem Laien verständlichen Wesens der Schrift, ja aus der Popularisierung des Neuen Testamentes selber, notwendig ergeben mußte; drittens der Radikalismus einer lediglich aus der Schrift schöpfenden Lebensordnung, die sich nicht nur auf die paar, mit dem Römerstaat ihren Kompromiß schließenden Paulusstellen, sondern auf den ganzen staats- indifferenten und weltfeindlichen, überweltlich- eschatologischen Geist des Urchristentums berief; und viertens die Ablehnung des weltlichen Staates als einer bloß irdisch-sündigen Ordnung und der angeblich im Staat sich oifenbarenden Lex n^lturae, indem das Prinzip der Geistigkeit und Rein- heit der Gemeinden den Gedanken der Volks- und Staatskirchen unmög- lich machte und damit dann auch das Prinzip der Ergänzung der christlichen

h. Rcroninüoren u. Rcformhcwi'Kunj^cn <lc.s 16. Jahrluindcits. IV. Die Jäufcr u. Sj)iritualisten. 207

Moral aus der staatlich-wcltlich-philosophischen Lex naturae wegfiel. Die beiden ersten Konsequenzen wurden verstärkt durch die Reste des mysti- sch(Mi und sektiererischen religiösen Subjektivismus, der seit Jahrhunderten gegen die Äußerlichkeit der Kirche sich empört hatte, und durch die ganze Stimmung verinnerlichter, subjektivierter und neue Erleuchtung hoffender Religiosität, wie sie ein solches Revolutionszeitalter hervorbrachte, das alle seine Forderungen noch religiös zu färben und zu begründen gewohnt war. Die beiden letzten Konsequenzen wurden insbesondere genährt durch die alten Forderungen der Wikkliffie und der Bauernaufstände, die sich auf die biblische Lebensordnung der persönlichen Freiheit und der brüder- lichen Liebe, auf die reine und echte, mit der Bibel identische Lex naturae beriefen, wie sie vor dem Sündenfall war und von der Bibel erneuert wurde, und die nur von weltförmigen Theologen, klugen Politikern und aristotelischen Philosophastern auf das Niveau der Anpassung an die erbsündige Welt herabgezogen worden war; die offizielle katholische und die reformatorische Theologie erkannten ja die Lex naturae nur an, wie sie Gott unter den Beding-ungen der Erbsünde zu einem Gesetz des obrig- keitlichen Zwanges, des Privateigentums, des harten Rechtes und der lieb- losen Weltklugkeit hatte werden lassen, und nicht in der Reinheit des Urstandes, wo sie Freiheit und Liebe, Gütergemeinschaft und Friede be- deutet hatte und wie sie von der Bergpredigt für die Bekehrten und geistlich gewordenen Brüder erneuert ward. Hier schienen die neuen Pfaffen nicht besser als die alten und zugunsten der harten ungerechten Welt vor den eigentlichen Ideen des Urchristentums Halt zu machen. Aus jenen Konse- quenzen und diesen die Atmosphäre erfüllenden Stimmungen, wie sie die Bauern und das städtische Kleinbürgertum erfüllten, und wie sie auch manchen Theologien bei dem neuen Schriftstudium kamen, ging die große und folgenreiche Bewegung des Täufertums hervor. Die Gedanken der deutschen Mystik, von denen Luther ausgegangen war, wehren sich gegen die Verengung auf den bloßen Sündentrost, gegen die Aufrichtung einer neuen Theologenherrschaft und gegen die konservative Verbindung der doch rein geistigen und innerlichen Religion mit den herrschenden städti- schen, fürstlichen, adligen Rechten und Privilegien. Sie wirken fort zu einer neuen großen Bewegung, in der die „deutsche Theologie", von den Reformationskirchen allmählich mißtrauisch verleugnet, der spiritualisti- schen Laienreligion von neuem als Grundbuch dient.

Gleichwohl ging der eigentliche Anstoß der Bewegung nicht vom Bildung Luthertum aus. Karlstadt, Münzer, die Wittenberger und Zwickauer separations-

. . gemeinden.

Schwärmer kamen nie zu bestimmten Prinzipien und gingen unter in den Wogen des Bauernkrieges. Luther selbst hatte in der „Formula missae" 1523 und in der „deutschen Messe" 1526 ein Gemeindeideal angedeutet, das den Anstaltscharakter von Wort und Sakrament zwar wahrt, aber die äußere Gestaltung der von ihnen hervorgebrachten Gemeinde in die Hand der Gemeinde selbst legen wollte. Er hat es teils wegen der Ge-

2q8 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

fährdung der Objektivität von Wort und Sakrament, teils wegen der Schwierigkeit, hierbei die kirchliche Uniformität zu behaupten, in pessi- mistischer Stimmung wieder aufgegeben und die Aufgabe wieder in die Hände der Obrigkeit zurück gelegt. Darauf konnten die Täufer sich be- rufen, aber sie sind nicht von hier aus zu ihrer Idee und Kirche gelangt. Vielmehr nahm sie ihren Ausgangspunkt von radikalen Anhängern Zwingiis, dessen Sakramentskritik und dessen panentheistische, mit dem Panentheis- mus der Renaissance und dem Prädestinationsgedanken in Verbindung- stehende Lehre von der reinen inneren Gotteswirkung im Geiste zum mystischen Radikalismus zu leiten geeignet war. Sobald Zwingiis kon- servative Grundüberzeugung von der Glaubenseinheit des Staates und dem Zusammenwirken weltlicher und kirchlicher Ordnung zur Hervor- bringung eines religiös-sittlichen Musterstaates beiseite gesetzt wurde, und sobald die ihm mit Luther gemeinsame Lehre von dem bloßen innerlichen Gesinnungscharakter der evangelischen Sittlichkeit oder des neutestament- lichen Gesetzes in die Aufsuchung festerer, konkreter Lebensregeln aus der Schrift überging, war die reine Geistes- und Wiedergeborenen-Kirche, das evangelische Gesetz einer geistlichen, von Welt und Staat geschiedenen Brüdergemeinde, fertig. Im Gegensatz gegen das Prinzip der Staatsreligion entstand so in Zürich durch Grebel und Manz das Prinzip der gegen den Staat mißtrauischen und feindlichen Separation. Ihr Charakter ist die Heiligkeit der Brüder nach dem Gesetz der Schrift, die Separation von Staat und Welt, die Passivität des Nicht- Widerstandes und des Nicht-Förderns gegenüber dem Staat, die Versiegelung des Glaubensstandes durch das innere Licht. Damit verbinden sich naturgemäß demokratisch-individua- listische Neigungen, indem jeder Wiedergeborene g-leichberechtigt ist, und Sozialrevolutionäre Kritik, vor allem biblische Ideen der Güterg^emeinschaft, und schließlich die unausbleiblichen Folgen aller religiösen Exaltation, krankhafte Phantasieüberreizung bis zu den Orgien eines spiritualistischen Antinomismus. Auch die dem religiösen Wahnsinn so nahe liegenden sexuellen Überreizungen blieben nicht aus. Doch sind die letzteren stets Ausnahmen geblieben. Der Hauptcharakter ist der des Enthusiasmus des inneren Lichtes, der Entstaatlichung der religiösen Gemeinde, der reinen Heiligkeit brüderlicher Liebe und der quietistischen Ergebung in Ver- folgung und Weltfeindschaft. Der Christ trägt kein Schwert und schwört keinen Eid, er geht vor kein bürgerliches Gericht, er zahlt Zins und Schoß höchstens aus Ergebung ins Unrechtleiden. Ihr Symbol schuf sich die Gemeinde in der Spättaufe, da ja die rein äußerliche Taufe nur Sinn habe als Siegel auf wirklichen Glauben und wirkliche Bekehrung. Die Spät- taufe wurde bei den in der Kindheit schon Getauften ^ur Wiedertaufe, und von dem Konventikel, wo die Brüder im Jahre 1525 sich gegenseitig die Wiedertaufe verabreichten, hat die Kirche der Wiedertäufer ihren Ur- sprung. Mit dem Prinzip der Wiedertaufe und der separatistischen Ge- nicindebildung war dann der Mystik ein neuer organisierender Zug ge-

11. Ki'lornialorpn ii. Rerormbewcjjun^rn des i (>. Jahrhunderts. IV. Die Täufer u. Spiriluali.slcii. 2QQ

geben, der in der religiös und sozial erregten Zeit eifrig aufgenommen wurde. Großer Dinge war man ja gewärtig, und nachdem die Kirchen der Reform versagt hatten, entstand hier ein neues den My.stiker, den DemokratcMi und den sozial Gedrückten gleich anziehendes Kirchentum von größter Innerlichkeit, von lockersten Formen und von begeistertster Zukunftshoffnung.

Zwingli hat nach gütlichen Versuchen zur Beilegung der Unterschiede das Prinzip der Separation als seinem religiösen Gedanken völlig zuwider- laufend erkannt und schließlich rücksichtslos zur Gewalt gegriffen. Da- durch zerstreute er den Samen aber nur über die ganze Nachbarschaft, über die Schweiz, Süddeutschland, Mähren, Tirol und Westdeutschland den Rhein herunter bis in die Niederlande und nach PYiesland. Hier vollzogen sich dann die Verschmelzungen mit den älteren mystischen Lehren und mit den nach dem Bauernkriege verbliebenen Resten der sozialen Revolution in Stadt und Land. Der Revolutionsgedanke blieb dabei freilich vorerst völlig in dem Gedankenkreis des Duldens und Leidens, der Enthaltung und Sepa- ration, der eschatologischen Hoffnung und bloß inneren Vorbereitung auf die göttliche Aufrichtung des wahren Schriftrechtes. Apostolische Wander- prediger, von Dorf zu Dorf und Stadt zu Stadt ziehend mit dem apostolischen Gruß und der Predigt vom Gottesreiche, Hirten, die den rasch gesammelten Gemeinden eine völlig einfache Laientheologie predigten und das Brot brachen, Diakonen, die das gemeinsame Gut oder doch die hohen Armen- abgaben verwalteten, das sind die Träger der äußerst losen Organisation. Die Gedanken selbst sind unsäglich bunt und nur durch die geschilderten Grundzüge einheitlich verbunden. In den Gebieten des mährischen, nach Population suchenden Adels, in den proletariatsreichen Städten Augsburg und Straßburg sind ihre Hauptsitze. In Augsburg findet zweimal eine Art Konzil der neuen, im Dunkel schleichenden Kirche statt. Begabte und originelle Führer wie Hätzer und Denk, Hubmeier und Huter stärken die Gemeinden. Alle strecken sich in dem Elend der Lage nach den kommenden Erlösungsfreuden, deren Eintreffen aus der Schrift nach den Anzeichen des Tages verschiedentlich berechnet wird. Freilich setzt auch sofort eine Verfolgung von beispielloser Härte ein. Die katholischen Länder gingen voraus, aber auch die lutherischen und zwinglischen folgten, indem sie das Täufertum und schließlich die Blasphemie als weltliches, staatsgefährliches Verbrechen dem Staat zur Bestrafung übergaben. Das Blut der Märtyrer ist für keine Sache so reichlich geflossen wie für diese Religion der Duldung und Ergebung und hat trotz der rührenden, das fromme Ende beschreibenden Flugschriften keiner so w^enig genützt wie dieser.

Unter diesen Umständen trat bei einisfen Gruppen seit Beginn der Aggressiv-

^ rf » Apokalyptisch©

dreißiger Jahre ein Umschw-ung ein; unter dem Druck belebte sich die «""staitunc des

° . 6 ' läufertums.

eschatologische Hoffnung zur Erwartung des baldig kommenden himmli- schen Jerusalem und verwandelte sich die Lehre vom Nicht-Widerstand in

300

Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

die Lehre von der Pflicht, die Gottlosen auszurotten mit Gewalt. In der Endzeit hörte das stille Dulden auf, und das Wort kommt von Gott, daß jetzt vor dem Ende das Schwert zu ergreifen sei. Der Verkünder dieser Lehre ist der Kürschner Melchior Hoffmann. Er glaubte nach aufregender Wanderpredigt, daß Straßburg, wo der Rat die Täufer verhältnismäßig gelinde behandelte, zu dieser heiligen Stätte ausersehen sei. Allein Straßburg entzog sich dem durch Gefangensetzung Melchiors und durch strengere Haltung gegen die Täufer. Da erging das Wort von Gott, daß Straßburg verworfen sei um seines Unglaubens willen und daß Münster berufen sei an seiner Stelle. Melchior sei nur der Elias gewiesen, der dem Ende vorausging. Nun galt es nach dem Henoch auszusehen, dem zweiten Vorläufer des Endes, Dieser fand sich in Gestalt des holländischen Täufers Jan Bockelson und seines Anhangs. Aus den Niederlanden vertrieben fanden sie in dem politisch zerklüfteten und durch den Prediger Rothmann im Bund mit den Gilden zum Täufertum geführten Münster den Ort für die Aufrichtung des Reiches der Heiligen und der letzten Tage. Hier tobten dann alle Phantasieen einer überreizten, von keiner objektiven Norm mehr geleiteten Religiosität, mit allen Greueln, zu denen ein solcher Enthusiasmus bei bildungslosen Fanatikern führt. Die Vereinigung der benachbarten Fürsten bereitete dieser apokalyptischen und gewaltsamen Episode des Täufertums ein blutiges Ende (1535). Es war zugleich die Katastrophe des Täufertums überhaupt, das nun überall auch an den Orten, wo es bisher mild behandelt war, schonungslos ausgerottet wurde. Keorganisa- Das süddcutsche Und südostdeutsche Täufertum behauptete unter

tionen derTäufer- /-^ -r~v

gemeinacn, schweren Martyrien einige Gemeinden. Das holländische, englische und Nord West- deutschland und niederdeutsche Täufertum fuhr unter dem Eindruck der Katastrophe in

Niederlande. . .

Parteien verschiedenster Art auseinander, vor allem eine gewalttatig- chiliastische und einen quietistisch-asketische Gruppe unterscheidend. Der wunderliche Heilige David Joris, der sich als den Messias bezeichnete, aber seine Messianität unter zwinglischem Likognito in Basel verbarg und nur den Gläubigen in verworrenen Schriften offenbarte, versuchte vergeb- lich eine Einigung. Eine solche gelang erst für die niederdeutschen und holländischen Täufer durch Menno Simons [j- 1559). Vom katholischen Priestertum zur Reformation und von da zum Täufertum geführt war er doch ein scharfer Gegner des melchioritischen Chiliasmus und der münsterischen Phantastik und Gewaltlehre. Er ging auf das alte Täufertum zurück, auf das Prinzip der separierten Heiligungsgemeinde, die den Staat duldet, aber möglichst jede Berührung mit ihm vermeidet, die Gemeinde durch Klei- dung, Sitte, Gruß, Konnubium, Exkommunikation streng von der Welt ge- trennt erhält und im übrigen eine mystisch-ethische Laienreligion pflegt. Der Kommunismus, der bei den meisten nur eine stark betonte Armen- pflege aus gemeinsamer Kasse war, verschwand, die reformatorische Be- rufssittlichkeit trat an seine Stelle und führte hier wie sonst in solchen kleinen Gemeinschaften bei fleißiger Arbeit und mäßiger Konsumtion zu

B. Reformatoren u. Reformbewegimgcn des i6. Jahrhuiulcrls. IV. Die Täufer u. Spiritualistcn. iqI

wirtschaftlichem Gedeihen, \'oii hier stammen die über Deutschland, Hol- land, Frankreich, England und Amerika in kleinen Gemeinden verbreiteten Mennoniten, eine friedliche Sekte, die aus merkantilistischen und popula- tionistischen Gründen immer wieder Gönner fand, eine Abstumpfung- der Prinzipien, die neben dem Ausbruch in Gewalt der andere mögliche Aus- weg aus der ursprünglichen gespannten Stimmung war.

Damit war freilich eine durchgängige Einigung nicht erzielt, und auch unter den Mennoniten selbst gab es fortwährende Trennungen und Wieder- vereinigungen. Daher schied sich in Holland, das in dem großen reli- giösen Kampfe überhaupt eine Fülle spiritualistisch-mystischer Gedanken emporkommen ließ, eine besondere Gemeinschaft der Taufgesinnten aus, die prinzipiell undogmatisch und independentistisch sich mannigfach mit den Sozinianern und Aminianem berührte und durch die Brownisten ihre Lehren nach England übertrug. vSie waren dogmatisch freier und schlössen sich weniger streng von der Welt ab. Auch Spinoza und Rembrandt standen in Beziehung zu diesen mystischen Kreisen. Um eines großen Beitrages zu den Kosten der Landesverteidigung willen wurden sie 1672 als Bürger anerkannt. Ihr wachsender Reichtum verschaffte ihnen steigende soziale Geltung trotz ihrer geringen Zahl.

In Graubünden, Italien und Polen geht das Täufertum Mischungen Ausbreitung aes

..... . ....... nach-inünste-

mit dem humanistischen Antitrinitansmus ein, indem die Antitnnitaner den rischen Täufer- täuferischen Forderungen der Toleranz, der religiösen Freiheit und der ethischen Bewährung entgegenkamen, wie umgekehrt der täuferische mystische Moralismus, ihre Abneigung gegenüber den Schuldogmen und der Umschlag des inneren Lichtes in das Gewissen sich einer intellek- tuellen Kritik nähern mußte, sobald die erste Glut verflogen war. Die Früchte hat hier der Sozinianismus geerntet.

In England hatte das Täufertum von Anfang an von Holland aus Fuß gefaßt und erhielt durch einen Geistesverwandten des David Joris, Heinrich Nicolaus, einen weiteren Zuzug aus Holland. Auf ihn führt sich die Sekte der Familisten, d. h. der geistlichen Brüder im täuferischen Sinne mit kommunistischen Ideen, zurück, die bis zu der großen Revolu- tion nachweisbar ist und mit der der Quäker, Chiliasten und Enthusiasten zusammenzuhängen scheint. Durch Brown erfolgte dann von England aus ein erneuter Kontakt mit den holländischen Täufern, der die Prinzipien des Independentismus und undogmatischen Laienchristentums in die englische Heimat übertrug, und, als vollends der radikale Puritanismus auch von sich aus zu täuferischen Konsequenzen überging, da erlebte die große Re- volution eine Xeubelebung des Täufertums, die nicht nur in den Quäkern, der Sekte des inneren Lichtes, und den Baptisten, den Gläubigen der Untertauchungstaufe, sondern vor allem in den demokratischen, toleranz- staatlichen und undogmatischen Prinzipien eine welthistorische Wirkung hervorbrachte. Jeder Zusammenhang mit den Resten der spätmittelalter- lichen Sozialrevolution wird freilich hierbei schließlich gelöst, und die

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Ernst Trof.ltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

täuferischen Ideen hüllen sich nach dem großen Kampfe in das Gewand religionsphilosophischer, politischer und rein theologischer Ideen. Mystiker und In alledem handelte es sich um Massenbewegungen und um re-

Spiritualisten. . . . _ _ _ _,

ligiöse Ideen, wie sie die Masse faßt. Es galt die einfache biblische Theologie und die Ablehnung der neuen reformatorischen Kunsttheo- logie. Gelegentliche originelle, kritisch verständige oder schrullenhaft absonderliche Gedanken verstehen sich in der allgemeinen theologischen Atmosphäre von selbst, indes von eigentlicher Theologie ist dabei nicht die Rede. Aber das Täufertum brachte doch auch einige selbständige Kritiker und Denker hervor, die von den Prinzipien des Täufertums aus religionsphilosophische und religionsgeschichtlich -kritische, auch bibel- kritische Gedanken der Zukunft vorausnahmen. Vor allem ragen hier einige dem Täufertum bloß nahestehende, aber nicht zu ihm gehörige gedankenreiche Mystiker hervor. Bei ihnen ist dann aber auch der Ein- fluß der schärferen reformatorischen Begrififsbildung und des Humanismus fühlbar. Unter den Täufern ragt hervor Hans Denk, der Himmel und Hölle spiritualistisch umdeutete, die origenistische Wiederbringnng aller Dinge lehrte und die Satisfaktionslehre bestritt. Sein Gesinnungsgenosse Ludwig Hätzer fügte dem die Leugnung der Gottheit Christi und die Schei- dung des Christusgeistes vom historischen Christus hinzu. Umfassender ist das Denken des tapfern Patrioten und vorurteilslosen Forschers Sebastian Franck, des nach Luther hervorragendsten deutschen Prosaisten und ge- lehrten Universalchronisten. Ihn stieß die neue Buchstaben- und Glau- benstheologie und ihre Zurückstellung der Ethik hinter die Sündenver- gebungsgewißheit ab, aber auch bei den Täufern fand er aus dem Geist eine neue Gesetzlichkeit entwickelt. So wurde er ein einsamer, unpartei- ischer und schmerzlich resignierter Mann, der lediglich literarisch für ein unsektisches Christentum und reine unparteiische Liebe, d. h. für Toleranz, undogmatische Religion und mystisch gefärbte Ethik wirkte. Seine Mystik trägt zugleich die Farbe des Panentheismus der Renaissance, und seine Schätzung der inneren Geisteskräfte gab ihm eine gerechte, relativ wür- digende Auffassung der nichtchristlichen Religion. Ahnlich dachte Sebastian Castellio, der freisinnige Humanist, der bei den Reformierten eine viel angefochtene Zuflucht fand. Mehr spezifisch theologisch sind die Lehren Caspar Schwenkfelds und Valentin Weigels, Hier trat die Tendenz auf eine stärkere Betonung der mystischen Ethik in \"erbindung mit der lutherischen Abendmahlschristologie, wonach das innere Licht auf der Ein- wohnung des vergöttlichten Fleisches Christi beruhen sollte. Darüber trat dann natürlich die Genugtuungslehre zurück. Weigel gelangte vollends vom inneren Licht zum Gnostizismus und gewann von diesem aus vemiöge der Geringschätzung des bloß Historischen einen religionsgeschichtlich relativierenden Universalismus. Hier scheinen Ideen des Paracelsus mit- zuwirken. Noch mehr ist das der Fall bei deju Laientheologen Jakob Böhme, der das innere Licht in den Zusammenhang einer dualistischen

B. Reformatoren n. Ref()rmbc\v('giini,'cn dos i6. Jahrlumdorls. IV. Die Täufer u. Spiritualisten. 303

Metaphysik stellt und in ihm die Verklärung' der Weiblichkeit als Ziel des Weltprozesses sieht. All das blieb in kleinen Kreisen und wirkte fort bis in die Anfänge des Pietismus, wo diese ganze Literatur insbesondere beim radikalen Pietismus ihre Auferstehung feierte und die Ehren- rettung der Ketzer jenen Märtyrern und Ausgestoßenen des Reformations- zeitalters eine verspätete Genugtuung bereitete.

Die religions- und dogmengeschichtliche Stellung einer so komplexen Dogmen- und

^ . T . ,. ,, relitfions-

Erscheinung ist nicht leicht zu bestimmen. Insbesondere verwirrt die Ver- geschichtliche

. Stellung des

mengung mit den sozial-revolutionären Bewegungen der sich zersetzenden rsufertums. mittelalterlichen Gesellschaftsordnung das Urteil. Aber schließlich waren ja auch die reformatorischen Ideen mit politischen und sozialen Wandlungen eng verbunden, ohne daß darum an der Selbständigkeit ihrer religiösen Idee gezweifelt werden könnte, und haben im Täufertum die Spiritualisten den re- ligiösen Ideengehalt von den sozialistischen Beimengungen schließlich gelöst. Im ganzen wird die Bewegung als ein radikaler Seitenzweig des Protestan- tismus beurteilt werden dürfen, von dem sie tatsächlich ausging und dessen Ideen sie auch innerlich konsequent fortentwickelte; sie hat nur im Gegen- satz gegen das neue reformatorische Staatskirchentum und gegen die aus- schließliche Verherrlichung der Sündenvergebung die ethischen Ideen der gelassenen und auf enge Brudervereinigungen strebenden Mystik bevorzugt. Aber indem diese Mystik auch bei ihnen mit dem Gedanken der freien Persönlichkeitsreligion verbunden ist und die katholische Hierarchie und Sakramentsmagie entschlossen ablehnt, ist eben doch der Grundgedanke wesentlich von der Reformation bestimmt. Dabei darf aber freilich nicht übersehen werden, daß das Täufertum einerseits hinter die Reformation zurückging und andererseits über sie weit hinaus fortschritt. Es geht hinter sie zurück, indem es statt der von den Reformatoren aus dem neuen religiösen Gedanken gefundenen bestimmten Begriffe die unbestimmteren der Mystik wieder aufnahm. Die Reformatoren haben aus der Mystik den schroffen Personalismus der christlichen Idee wieder hergestellt und die Meisterfrage des Verhältnisses der rein religiösen Vereinigung mit Gott zum persönlichen sittlichen Leben mit spitzen Formeln beantwortet, die den religiösen Gedanken der durch die Sündenvergebung gesetzten Gotteinigkeit einerseits gegen panentheistische Vermengung und andrerseits gegen jeden lüntiuß der sittlichen Leistung sicher stellen sollten. Die Täufer fanden diese Formeln ethisch gefährlich und stellten die ungeschiedene > Einheit der Gotteinigkeit und des sittlichen Handelns in unbestimmteren Formeln wieder her. Das schien ihnen einfachere Laientheologie. Noch weiter rückte das Täufertum ab, indem es auf dieser Grundlage die Ethik als die Grundsätze einer weltscheuen Märtyrer- und Minoritätsgemeinde auf- baute, während die Reformatoren mit entschlossenem Griff und großartiger Weite des Gesichtskreises das weltliche Leben in die neue verinnerlichte Heilserkenntnis aufnahmen. Auch den Reformatoren ist die Überbrückung in der Theorie nicht gelungen Luthers Anfänge zeigen dem Täufertum

^04 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

sehr ähnliche Gedanken , aber sie haben sich in die große Kultur- bewegung- praktisch eingestellt und sie unter ihren Heilsgedanken gebeugt. Sie haben einen Begriflf der Lex naturae konstruiert, der ihnen das erlaubte und in dessen Fassung sie im wesentlichen dem Katholizismus folgten, nur daß sie ihn ihrem neuen antikatholischen Heilsgedanken aufpfropften. Die Täufer haben diesen Begriff verworfen und sich statt dessen an die urständliche Lex naturae gehalten, wie sie vor dem Sündenfall war und wie sie mit dem urchristlichen Ideal übereinstimmt; sie haben damit sich gegen die lebendige Kulturentwicklung isoliert und nur chiliastische Hoff- nungen für das Elend der Welt übrig behalten. Damit gehen sie aber nicht, wäe oft gesagt, auf katholisch - mittelalterliche Gedanken zurück diese ergänzten die geistlich -asketische \^ollkommenheit immer durch die weltliche Lex naturae , sondern auf das vormittelalterliche ur- sprüngliche Christentum. Hierauf und auf die kompromißfreie, urständ- liche Lex naturae hatten sich ja auch die Sozialrevolutionäre des Mittel- alters im Gegensatz gegen die katholische Kirchenlehre stets berufen. Sie erneuern die eigentliche urchristliche Weltfeindschaft und stoßen die Ergänzung durch die weltliche Ethik wieder ab, welche die Arbeit von Jahrtausenden diesen hinzugefügt und einverleibt hatte. Während sie den formellen Supranaturalismus der Bindung der Religion an äußere Vermittlung durch Kirche, Dogma, Schrift zugunsten einer innerlichen Persönlichkeitsreligion aufheben und die religiöse Erfahrung auch bei NichtChristen anerkennen, gehen sie doch auf den inhaltlichen Supranatura- lismus des Urchristentums zurück und enden sie bei dem Ideal eines Reiches des Heiligen, dem es dann doch schließlich auch an einem Schrift- gesetz nicht fehlen darf Hier bevorzugen sie wie Erasmus die Bergpredigt vor dem Paulinismus. Andererseits aber ziehen sie freilich auch wieder aus der Persönlichkeitsreligion Folgerungen, die über die Reformation hin- aus auf die moderne Welt weisen und, in der englischen Revolution neu auflodernd, in der Tat die Grundzüge der modernen Welt haben schaffen helfen. Ihre Lehre vom inneren Licht enthält die Keime des modernen religiösen Subjektivismus, einer psychologischen Erfahrungstheologie, die in den religiösen Überlieferung-en nur Anreg^er und Symbole und in allen Dogmen nur Erzeugnisse des eigentlich grundlegenden Elements, des religiösen Gefühls, erkennt und daher alle Religion zunächst nur an die Innerlichkeit persönlicher Überzeugung bindet unter Freigebung sehr verschiedener Ausdrucksformen. Freilich fehlt ihnen noch die ordnende Grundlage einer psychologisch -transzendentalen Theorie und eine sichere Beziehung des Geistes auf die Geschichte. Allein alles das ist dann aus der Wiederbelebung ihrer Lehren in der englischen Revolution und im Pietismus, und noch mehr unter den wissenschaftlichen Einflüssen eines nicht mehr überwiegend dogmatischen Zeitalters hervorgewachsen. Weiterhin vertraten sie im Zusammenhange damit die Ideen des all- gemeinen Priestertums, der religiösen Gleichheit und Freiheit, der indivi-

H. Kefoniuiloifn und Kofomibrwofjuiifjcn (Ins l6. ];iliiluinderts. V. Calvin (I50tj ^1564). 'lOS

duelleii Persönlichkeit. Auch die l^Vau wird hier erst emanzipiert. Noch sind es nicht die Menschenrechte und der moderne IndividuaHsmus überhaupt; denn all das t>ilt nur vom wiedergeborenen Christen und nicht vom Welt- menschen. Aber es bedurfte nur des Überdrusses an der Theologie und an dem kirchlichen Fanatismus, um diese Wahrheiten von der Religion abzu- lösen und sie zu säkularisieren. \W) man für das innere Licht den Schutz gegen schwärmerischen Enthusiasmus in der Zurückführung dieses Lichtes auf die Wesensanlage des Menschen in Gewissen und Vernunft suchte, da war der Übergang von selbst gegeben. Der rein innerlich und psychologisch ge- faßte göttliche Geist geht leise über in die Vernunftanlage des menschlichen. Aus alledem folgte schließlich bei ihnen die Idee der staatlichen Toleranz, die Nichteinmischung des rein äußerlichen und legalen Staates in die Innerlich- keit des frommen Gefühls und des Gewissens, die Freigebung der Kirchen- und Gemeindebildung von selten des Staates, der Independentismus und Kongregationalismus. Auch hier ist es noch nicht die moderne Idee eines eigenen Rechtes des Staates, der in seiner Souveränetät von der Kirche frei sein muß, sondern umgekehrt die religiöse Idee der Geringschätzung des Staates und seines Unverständnisses für religiöse Gewissensfragen. Aber die Umkehrung lag nahe, sobald der Staat seiner eigenen Hoheit sicher wurde und seine Souveränetätsforderung durch Berufung auf die eigenen Aussagen des religiösen Geistes zu stützen für gut fand. Aus dem refor- matorischen Staatskirchentum wären diese F'orderungen nie entsprungen. Alles das sind grundlegende Ideen der modernen Welt, die aus der Ent- wicklung des täuferischen Geistes und des ihm innerlich verwandten radi- kalen Puritanismus geboren sind, und dem gegenüber treten sogar die ge- legentlichen Vorwegnahmen moderner historischer Kritik, panentheistischer Ideen und universaler religionsgeschichtlicher Welthistorie trotz aller Ori- ginalität an Bedeutung zurück.

Die Reformatoren haben das Täufertum radikal unterdrückt. Sie konnten als handelnde und gestaltende F'ührer nicht anders. Die Täufer und Spiritualisten vermochten nur zu kritisieren und nicht zu schaffen. Die Zeit war nicht reif für das Täufertum und das Täufertum nicht reif für die Zeit. Aber mit der englischen Revolution und dem Pietismus kam die Stunde des Täufertums und seiner weltgeschichtlichen Erfolge. Zunächst in der praktischen Gestaltung des Verhältnisses von Staat und Kirche und in der Auffassung der religiösen Gemeinschaft selbst; dann aber auch wissenschaftlich. Schleiennachers Religionslehre ist in seinen Reden eine religions- und geschichtsphilosophisch unterbaute Verkündigung der täufe- rischen Religions- und Gemeindetheorie, und der heutige Protestantismus steht abgesehen von der Weltbezogenheit der Ethik, wo aber auch Luther nicht sein eigentlicher Meister ist Sebastian Franck näher als Luther.

V. Calvin (150Q 1564). Schon erschien die Zeugungskraft der großen imVcl^äUnfs**" religiösen Umwälzung erschöpft. Schon durften die Trennungen in eine hu- '"„d^'^zwingii*'^

DiK Kultur der Geuknwart. I. 4. 20

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

manistische, Lutherische, ZwingUsche und täuferische Gruppe nebst kleinen Nebengruppen und isolierten Individuen als das endgültige Schicksal des hoffnungsreichen Frühlings gelten. Da trat aus der außerordentlichen Fülle der in neue Gärung geratenen christlichen Idee noch eine neue Formation des religiösen Gedankens von schroffster und persönlichster Eigenart hervor in dem Werke Calvins. Der Angelpunkt dieser neuen Formation ist die Herausarbeitung des Prädestinationsgedankens in einem Reichtum ethischer und religiöser Konsequenzen, den er bei Luther nie gehabt hat, weil er dort nur der Ausdruck für das absolute Wunder des Glaubens und für die absolute Unfähigkeit der erbsündigen Menschen zum Heil, aber nicht der Ausdruck für das Wesen Gottes selbst gewesen war, Zwingli hat ihn in dieser letzteren Bedeutung allmählich ergreifen lernen und seine von Hause aus nicht bloß auf Sündentrost, sondern auf die christliche Gesell- schaft zielende Ethik damit unterbaut; allein bei ihm überwiegt der Pan- entheismus der Renaissance mit der Einheit des Allzusammenhangs über die bloße positive Setzung der Welt durch den gesetzesfreien göttlichen Willen, und der Ausschluß kreatürlicher Heilsvermittelungen ist ihm wich- tiger als das schroff exklusive Erwählungsbewußtsein.

Über all das ging Calvin weit hinaus. Die Bildungsgeschichte seiner Religiosität ist dunkel. Er ist jung bekehrt worden und hat sein Leben immer nur von der Bekehrung ab gerechnet. Vornehm alles bloß Persön- liche zurückhaltend und die eigene papistische Jugend mit vSchweigen be- deckend hat er die Redseligkeit nicht besessen, mit der Luther von den Zeiten seiner Möncherei erzählte. Sicher ist nur, daß es wesentlich das Studium Luthers ist, von dem er ausgegangen ist, zugleich mit dem Einfluß der Theologie Butzers, in der die Straßburger Mischung luthe- rischer, Zwinglischer und täuferischer Gedanken bereits durch die Be- tonung der Prädestination zu festerer Form zu gelangen versucht hatte: die Prädestination sicherte bei Butzer die lutherische Gnadenlehre und schien ihm zugleich das Wahrheitsmoment der täuferischen Lehre von der Innerlichkeit des Geistes und von der Bildung einer heiligen er- wählten Gemeinde zu enthalten; sie erlaubte bei der äußerlichen Ununter- scheidbarkeit der Erwählten und Nichterwählten die sichtbare Kirche und ihre Gnadenmittel festzuhalten, indem die Erwählung wenigstens in dem Organ der Erwählung, der Kirche, sichtbar sein müßte; sie ließ mit der Idee einer heiligen Gemeinde, die um des in ihr enthaltenen erwählten Kernbestandes willen den Dienst des Staates für die Heiligen fordern darf, auch den Dienst des Staates für die heilige Gemeinde zu; und sie erkannte schließlich auch die Zwinglische Ausschließung aller kreatürlichen Heilsvermittelung und der vSakramentsmagie an. So ließen von ihr aus sich alle Wahrheiten der Reformation um ein Zentrum sam- meln. Freilich bleibt bei solcher Mischung der prädestinatianische Gottes- begriff der gesetzlichen, in Begiiadigung und Verwerfung gleich sich betätigenden, Allmacht und der lutherische Heilsbegriflf der Gnadenver-

H. Rpf<)rniat(jrcn und l<.or()imbc\vo{:;unf;cn des i6. Jahrhunderts. V. Calvin (1509 1564). xqj

wirklichung" einer allen zug'edachten Gottesliebe in Spunnunüf. Aber gerade diese Spannung" suchte Calvins scharfer, systematisch und org"anisatorisch angelegter Geist zu überwinden, den vollen religiösen und ethischen Ge- halt des christlichen Prädestinationsg-edankens auszubilden und die luthe- rische Heilslehre in den Dienst dieser Grundidee zu beugen. Seine eig"ene schroffe Willensnatur wies ihm den Weg", in dem christlichen Gottes- gedanken den Willensbegriflf stärker zu empfinden als den Substanzbegriff, die Allmacht stärker als die Anwendung dieser Allmacht in der Liebe gegen die Erwählten. Mit sicherem Instinkt trifft er in der Bibel die Züge des Willensgottes, die partikularistischen und prädestinatianischen Züge des paulinischen und johanneischen Evangeliums, der Fortdauer des jüdi- schen Jehova im Vater Jesu Christi. Für seine religiöse Empfindung ist Gottes Wesen überhaupt nicht in erster Linie die Liebe, sondern die un- ermeßliche Selbstverherrlichung durch die freie Offenbarung seiner durch kein Gesetz g-ebundenen Freiheit. Luther haftet an der subjektiven Heils- gewißheit, indem er sie von den immer schwankenden und unvollkommenen menschlichen Leistungen als Gmadengeschenk fem hält; der Ausschluß menschlicher Mitwirkung ist ihm das Mittel zur Sicherstellung des Heils, und die Prädestinationslehre ist ihm nur das Mittel, diese Ausschließung sicher zu begründen, nicht das, positiv den Gottesbegriff und das religiös- sittliche Handeln zu bestimmen. Daher kann er zugleich völlig feststehen auf dem Grundgedanken, daß Gott das Heil allen vermeint habe, und daß nur Freiheit und Sünde Adams diesen göttlichen Weltplan durchbrochen haben, ja daß auch nach der vSünde Adams an sich noch alle zum Heil, das heißt zur Befreiung- von den Folgen der Adams-Sünde, berufen seien. Die Stimmung der Mitbeteiligung aller an Adams Sünde, die Störung der Weltharmonie durch Tod und Leiden infolge dieser Sünde, die Wieder- befreiung von dieser Sünde und ihren Folgen durch ein reines Gnaden- geschenk an den durch Adam unfähig gewordenen Sünder, das beherrscht Luthers ganzes Denken und Fühlen. Daher spürt er auch die Erlösung vor allem in der Seligkeit der von Adams Fluch Befreiten, und daher kann auch die Ethik zur Hauptsache nur eine Ergänzung und Bewährung geben, die aber nie Selbstzweck werden darf, weil sie sonst den Hauptgedanken, die Befreiung vom Adamsfluch durch das stellvertretende Gottesleiden, beeinträchtigen würde. Daher wird bei Luther in Stimmung und Gefühl die Heilsgewißheit erprobt und genossen und ist Gott vor allem die ihren Welt- zweck durch das Wunder der Versöhnung festhaltende Liebe. Ebendeshalb lieg^ auch für alle Betrachtung irdischer Dinge der Nachdruck auf Leid und Elend, Zwang und Not, die in der erbsündigen Welt fortdauern müssen, und ist der Gehorsam gegen den uns in den natürlichen Lebensformen zur Arbeit anweisenden Gottes willen mehr nur Ergebung in das Weltleben, dessen Verchristlichung Teufel, Welt und Fleisch nicht leiden wollen. Im Kreuz ist der Christ am seligsten; im äußerlichen Unterliegen unter den Folgen von Adams Sünde genießt er ihre innere Überwindung durch die

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

Versöhnung. Der Gottesgedanke der alle Kreatur beseligenden Liebe selbst kann aber durch diese Betonung- des Leidens nicht erschüttert werden; ihn schützt die Theodizee, die aus Adams Schuld das Übel, das Leiden, den Tod und das Böse ableitet. Von einer solchen Theodizee weiß nun Calvin gar nichts; eben daher auch nichts von jenem gemüt- vollen Genuß und der Bewährung- der Heilsgewißheit im Friedensgefühl, aber auch nichts von jenem bloßen Dulden und Leiden unter den doch nicht zu überwindenden Folgen der vSünde Adams. In ihm ist kein Hauch von Sentimentalität und keine Spur des Bedürfnisses, an Gott nur glauben zu können, wenn jedem Individuum von Gott aus das Heil zugedacht ist. Für ihn hat Gott Adams Sünde als Tat seines Willens gewollt und hat er Leid und Not von Hause aus in der Welt verordnet. Denn er ist nicht eine alle Kreaturen beseligende Liebe, sondern der freie Machtwille, der eine leid- und sündenvolle Welt schaffen kann zum Erweis seiner Macht und dessen Herrlichkeit gleich gepriesen wird durch die Qualen des sich verurteilenden Verdammten wie durch die Seligkeit des zum Tun des Guten bestimmten Erwählten. So fallen alle Probleme der Theodizee weg, welche sonst die Religion belasten, und bleibt doch die Gnade die tiefste und innerlichste Betätigung Gottes. So wird Raum für eine Fülle von Weltzwecken neben der Seligkeit des Menschen und bleibt doch die Erhebung in die Gemeinschaft des Gotteswillens durch die Erwählung der höchste der Zwecke Gottes. So kann die Gratia universalis als freies, die Sünde relativ einschränkendes göttliches Geschenk bei Heiden und Christen gepriesen werden und ist das höchste Geschenk Gottes, die Selig- keit, doch eine davon ganz verschiedene und dagegen selbständige Gabe der besonderen Elektionsgnade. So verschwindet die Stimmung' der Erlösung vom Leidensfluch hinter dem Bewußtsein der Erwählung zu einem posi- tiven Weltzweck, wird aus der Seligkeit der Sündenvergebung die Berufung zur Betätigung der göttlichen Herrlichkeit in Dienste Gottes. Nicht Er- laß der vSündenfolgen, sondern Bestimmung zur Teilnahme am göttlichen Willen ist der Kern der Religion, und in diesen Kern werden die luthe- rischen Lehren als Notwendigkeit des Durchgangs durch Sünde und Demütigung auch für die Erwählten eingearbeitet. Der Mensch darf mit diesem Gott nicht rechten und hadern. Er hat sich zu fügen in die Lage, in der ihn Gott als Erweis seines Machtwillens so oder so verwendet. Wollte er klagen, warum er nicht prädestiniert ist, so könnte er ebenso fragen, warum er nicht statt eines Menschen ein Hund oder Schwein ge- worden ist. Dem Erwählten aber gibt die Gewißheit eines ohne Werke nur durch Gnade ihm zuteil gewordenen Heils die Kraft des Handelns; denn nun ist es lediglich Gott, der in ihm wirkt. Es ist eine völlig ori- ginelle, machtvolle und grandiose, tiefen Sinn enthaltende Erfassung des Gottesbegriffes, die über eine Fülle der gewöhnlichen Theodizeeprobleme, über den Mythus der Ableitung des Weltleides aus Freiheit und Sünde, über alle Anwandlungen eines bloßen mystischen Quietismus und über

B. Kcformatoren und Rcfoimhcwpgiinjjen des i6. Jahrhunderts. V. Calvin (1509-1564). jqQ

alle Beeinträchtig'ungen der Gniide durch eigene .sittliche Leistungen mit einem Schlag hinweghebt. l'Veilich tut sie es um den Preis aller milden, menschenfreundlichen, moralisch-anthrojxjmorphen Züge des GottesbegrifFes. Gott ist selbst durch kein Gesetz gebunden, und alle Gesetze gelten nur durch seinen Willen, wie ja das letzte Geheimnis seines eigenen Seins der die Wirklichkeit eben einmal setzende Wille ist. So fehlen auch in der Religiosität die weichen und milden, gefühlsmäßigen und mystischen Züge; nur an der Gewißheit des Glaubens und an der praktischen Betätigung erkennt man die Erwählung, nicht an Stimmungen und Gefühlen. Es ist eine Religion des Heroismus und der Aktivität. \is ist nicht die Reli- gion eines ersten Entdeckers, aber die eines gewaltigen Durchdenkers schon entdeckter Gedanken. Calvin wurzelt in dem Luthertum des servum arbitrium und der ersten Ausgabe von Melanchthons Loci, und, lutherischer als Luther, behauptet er die Grundlehre gegen Melanchthons und Luthers spätere Abschwächungen, die vor dem Gedanken der doppelten Prädesti- nation, der prinzipiell gewollten Partikularität der Gnade, als vor einem stoischen Fatum und einer grausamen Tyrannei zurückschreckten. Er will wie Butzer alle Wahrheitsmomente der Epoche behaupten und vereinigen, aber meidet Butzers Neigung zu äußerlichen Kompromissen und geht auf innere Notwendigkeit und strenge Formulierung des Gedankens. Er billigt Zwingiis Erwählungslehre und seine Bestreitung jedes magischen Charakters der Sakramente, aber er verabscheut Zwingiis Humanismus und seine Schwäche gegenüber den geliebten Heiden, biegt vielmehr die Zwinglische Lehre möglichst in den lutherischen Dualismus und in die Lutherische Abendmahlslehre ein.

Eine solche Religion ist nicht bloß als Lehre entstanden und kann Praktisch -orga-

nisatorische

nicht bloß Lehre bleiben. Calvin gehört zu den Beweisen dafür, daß auch Tendenz der

loir -r-v r rt 11 1 calvinistischen

m der Scharfe des Denkens wahrhafte Religion enthalten sein und aus Lehre, ihr geboren werden kann. Die Macht des Übersinnlichen hat ihn so er- faßt und sich ihm so verdeutlicht. Philosophie und Spekulation verwirft er von seinem schroffen Voluntarismus aus so radikal wie Luther. Der Humanismus vollends ist ihm wie den Jesuiten zur reinen Technik und Form geworden, den seine Gelehrtennatur schätzt, der aber inhaltlich überaus wenig zu der Gesamtanschauung beiträgt. Die Verstandesmäßig- keit Calvins ist durchaus reine Dialektik des religiösen Gedankens und wirkt überall sofort auf den Willen. Die eigentlichste Äußerung seiner Religiosität ist daher auch die, von dieser Grundlage aus die Gemeinde der Erwählten zu organisieren, die die Ehre Gottes betätigt und ihrem Haupt Christus dient in der Welt. Dabei steht ihm fest, daß die Nicht- erwählten bei ihrer Unerkennbarkeit mit unter die Ordnungen der Ge- meinde zu beugen sind, und daß daher die Staats- und Volkskirche aufs strengste zu behaupten ist. Ja, die Kirchenzucht dient in erster Linie zur Beugung der Verworfenen unter den göttlichen Willen, den sie wenig- stens äußerlich und zähneknirschend befolgen sollen. Und handelte es

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

sich einmal um die Staats- und Volkskirche, so mußte auch der Staat in dieses Ganze christlichen, erwählungsmäßigen Lebens eingeordnet werden. Calvin ist, wie alle Reformatoren und wie es der christlichen Weltbetrach- tung überhaupt naheliegt, eine konservative Natur. Er will keine Sepa- rationskirche und keinen, das Geistliche und Weltliche vermengenden, christlichen Staat. Er will nur die Aufrichtung einer autonomen, er- wählungsmäßig denkenden und handelnden Kirche, die das gesamte \'olk umfaßt, und die mit dem Staate in der Verbindung freiwilligen Zusammen- wirkens für den Zweck der göttlichen Ehre steht. Was Luther aus Ver- zweiflung an der Sündigkeit der Menschen unterlassen und schließlich der Obrigkeit als dem vornehmsten christlichen Bruder übergeben hatte, was Zwingli von Hause aus gewollt, aber durch Preisgabe religiöser und kirch- licher Interessen an das politische Regiment verdorben hatte, das will Calvin völlig rein und systematisch aufbauen: das Zusammenwirken des rein weltlich verstandenen und die Lex naturae betätigenden Staates und der rein geistlich verstandenen, die Lex spiritualis betätigenden Kirche zur Aufrichtung- des christlichen Gemeinwesens. Dem widmet er seine ganze Arbeit. Die dogmatischen Grundlagen waren von den Reformatoren gelegt; er faßte sie nur zusammen in seiner Prädestinationslehre, die ihm zugleich die Brücke zum geistlich-kirchlichen Handeln bildete. Nun kam es darauf an, das christliche Gemeinwesen aufzubauen, was keinem der andern gelungen war. Wie sie die Bibel für das Dogmatische, so benutzt er sie jetzt für das Moralische und Kirchliche. Er verwendet die Bibel als das große Offenbarungsbuch auch für Moral und religiöse Gemein- schaftsbildung, ohne damit die reformatorische Grundlehre vom autonomen Gesinnungscharakter des Sittlichen und der Einheit der sittlichen Lebens- leistung aufzuheben. Daher hat ihn das Bedürfnis, Bibelbeweise für politisch - organisatorische Dinge zu finden, immer mehr zur Betonung des Alten Testamentes genötigt, das ohnedies seinem Gottesbegriif ent- gegen kam. Aufrichtung von Nicht jeder Boden eioiiete sich zur Verwirklichung dieses Ideals.

Calvins Kirche "' ° °^

in cienf. Wäre die lutherische Lehre auch innerlich stärker auf Organisation an- gelegt g'ewesen, als sie tatsächlich war, sie wäre an den alten festgewurzel- ten landeskirchlichen und staatshoheitlichen Institutionen der deutschen Territorien und Städte gescheitert; und Zwingli hat sich von Hause aus auf sie eingerichtet. Calvin fand den Boden für die Aufrichtung seines Ideals in Genf. Hier war ein neu entstehender, noch ungeformter Staat von kurzen Traditionen; er war zugleich klein und politisch unbedeutend genug, um an ihm ein solches geistliches Experiment machen zu können. Aus der Herrschaft Savoyens mit der Hilfe seines Bischofs und dann durch die Verburgrechtung mit Bern von der seines Bischofs befreit, bildete es ein neues republikanisches Staatswesen, dessen Existenz an die Refor- mation gebunden war und das nach den Erschütterungen und Verwilde- rungen der Befreiungskämpfe eines Organisators bedurfte. Eine dazu

B. Hcformatorcn und Rcforml>i'\\rf,Minf,'pn des |6. Jahrhunderts. V. Calvin (is<>0 -1564). ^11

befähigte politische Intelligenz fand sich nicht, der evangelische Refor- mator Farel war dazu nicht imstande. So wurde Calvin, den Farel bei einer zAifälligen Durchreise festhielt (1536), der Mann seines Schicksals und Genf das .Schicksal Calvins. Es war der erste Erfolg seines in demselben Jahr veröffentlichten dogmatischen Werkes, der „christlichen Institution", und dieser Erfolg war die Einsetzung in eine Lage, die ihm die Durch- führung der Theorieen seiner „Institution" ermöglichte. In fast zwanzig- jährigem heißen Kampfe hat Calvin hier sein Ideal verwirklicht und Genf zur Pflanzstätte und zum Missionshaus für die Reformation Westeuropas gemacht.

Calvin erlangte in Genf durch sein theologisches Ansehen, seine feste Persönlichkeit und sein Organisationstalent sehr rasch eine tatsächlich be- herrschende Stellung. Das erste war dann sofort der Entwurf einer Kirchen- verfassung, die, die Rechte der Seigneurie sorgfältig schonend, doch die Kirche als Organismus des rechten Glaubens und Handelns aufbaute: Glaubensvereidigung jedes einzelnen Bürgers, Katechismusunterricht für die Kinder und für unwissende Erwachsene, monatlicher Abendmahlsgenuß, strenge, von der Kirche zu übende Sittenzucht, Recht der Exkommunikation, Zuweisung der überführten Sünder an. die Strafgewalt und Unterstützung der kirchlichen Ordnung durch die Polizeigewalt des Staates. Dem begegnete aber ein wachsender Widerstand, teils in der Abneigung der Bevölke- rung gegen eine derartige Strenge, teils in dem Streben der Seigneurie nach Berns und Zürichs Muster die Staatskirchenhoheit zu behaupten und die Zucht durch den Staat, nicht durch eine autonome kirchliche Behörde, ausüben zu lassen. Calvin und Farel mußten weichen, aber das Bedürfnis nach Behauptung der Reformation und starker Organisation führte nach zwei Jahren zur Rückberufung Calvins. Wieder ist sein erstes die Auf- richtung einer Kirchenverfassung, der später stark ergänzten ordonnances ecclesiastiques, die von den jetzt gefügigen Räten als biblisch anerkannt wurden (1541). Hier wird zwar die Unterstellung der Geistlichen unter das Regiment des Staates, aber zugleich eine autonome, rein geistliche und mit geistlichen Mitteln arbeitende Gemeindeverfassung auf Grund der Bibel aufgerichtet und mit einem rein geistigen Kultus ausgestattet. Die Geistlichen werden von der Gemeinde gewählt und vom Rat nur be- stätigt; ihnen zur Seite stehen 12 Alteste, die auf Vorschlag der Prediger vom kleinen Rat aus dem großen und kleinen ausgewählt werden; femer die Diakonen, die die kirchliche Armenkasse für Armen- und Kranken- pflege verwalten, schließlich die Doktoren oder Schulvorsteher, deren Amt als kirchliches betrachtet wird. Dogmatischer Unterricht der Kinder und Erwachsenen, strenge Einhaltung der reinen Schriftlehre in Calvinischer Deutung, gegenseitige Kontrolle der Geistlichen in der Pfarrkonferenz, letzte Entscheidung von Lehrstreitigkeiten durch den Rat nach der Schrift: das sind die weiteren Grundzüge. Das wichtigste Glied dieser Verfassung ist aber das Consistoire, die aus Predigern und Altesten bestehende Be-

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

hörde für Kirchenzucht, die eigentümUchste und wichtigste Schöpfung Calvins, durch die er die Gemeinde der Heiligen herstellt und die bei- gemischten Verworfenen wenigstens zum äußeren Gehorsam gegen die Schrift zwingt. Die Altesten überwachen die Familien ihres Viertels da- heim und auswärts, persönlich oder durch Spione, und zeigen die sittlichen, religiösen und kirchlichen Vergehen dem Konsistorium an. Hier werden dann die Sünder von denselben Ältesten und Predigern verhört und fast immer verurteilt. Ermahnung, Rüge, Exkommunikation und öffentliche Abbitte werden verhängt und häufig die Schuldigen dem Rat zu weiterer bürger- licher Bestrafung übergeben. Die Befolgung der Vorladung und die Ver- büßung der kirchlichen Strafen konnte durch die Polizei erzwungen wer- den, dauernde Widersetzlichkeit oder Geringschätzung der Kirche und Prediger wurde schwer von dem Rat bestraft. Damit ist dann auch die Regelung des Verhältnisses zum Staate mit eingeschlossen, der als völlig selbständige weltliche Macht gedacht ist, in seiner Verfassung belassen wird, aber zum freien Zusammenwirken mit der Kirche verbunden und zur Belehrung aus Gottes Wort über seine Amtspflicht verpflichtet ist. Die Deutung von Gottes Wort aber ist garantiert durch das felsenfeste Vertrauen Calvins zur reinen Schriftgemäßheit seiner Lehre. Er sieht jede Auflehnung- gegen ihn, seine Lehre und seine Kirchenverfassung als Frevel an Gott an und erkennt selbst in Bedenken seiner Freunde nur Glaubensschwäche. In Konfliktsfällen entscheidet nach der Theorie die Schriftkenntnis der Obrigkeit, in der Praxis entscheidet die absolute Selbstgewißheit Calvins, der rücksichtslos sein Schriftverständnis dem Rate und den geistlichen Kollegen aufzudrängen imstande ist.

Aber nun entbrannte der Kampf erst recht. Calvin richtete eine geistliche Schreckensherrschaft auf und zerschmetterte durch die Kirchen- zucht seine gefährlichsten Gegner. Von Bern unterstützt verfochten diese das Zwinglische Prinzip der Staatskirche und das Prinzip der Exkommuni- kation durch den Rat. Calvin war mehrmals nahe der völligen Niederlage und koimte sich nur mit Anwendung aller Mittel politischer Klugheit und Intrige halten, die er um der Ehre Gottes willen gegen so g^ottlose Hunde für erlaubt hielt. Überall ging er schonungslos auf sein Ziel los, führte den Stoß gerade gegen die Mächtigsten, stärkte sein Ansehen durch Ketzerhinrichtungen und fand schließlich infolge eines von seinen Gegnern erregten Tumultes die Mittel, sie teils exilieren, teils hinrichten zu lassen. Damit war sein Ziel erreicht; Bern verzichtete auf die Beeinflussung Genfs und der Genfer Kirche, die Bürgerschaft wurde durch Aufnahme von Refu- gies in eine geistlich gesinnte verwandelt, es gelang, die Schule mit tüch- tigen Lehrkräften auszustatten, die Behörden gingen vollständig ein auf die Idee eines in Staat und Kirche getrennten, aber in Christus einigen Gemeinwesens. Die von Calvin nie gern geübte Gewalt wurde jetzt über- flüssig. Genf wurde die große Mustergemeinde eines geordneten Reiches der Erwählten, das Reich der Heiligen mit der Herrschaft auch über die

li. Reformatoren und Reforinbewef^unfjen des i6. Jahrhunderts. V. ("alvin (1509 1564). 7 i j

Verworfenen, das Zentrum einer allen Schleichwegen der Gegenrefonna- tion begegnenden Politik. Das eingeborene alte Genf verschwand, und der Kosmopolitismus der Theologie und theologischen Politik machte Genf zum großen Seminar und der Hauptstadt des westeuropäischen Protestan- tismus.

Genf bedeutete ein Prin/ip, eine Verwirklichung von Tendenzen des Genf aU

_, . T T 1 1 r 11 1 T '/ 1- 1 ethischesMuster

Protestantismus, die l.uther hatte tauen lassen, die Zwingli nicht so rein und i'rinzip. durchgedacht hatte, die aber zugleich an ihre Verwirklichungsbedingungen einen schweren Tribut bezahlen mußten. Durch die Zentralstellung des Erwählungsgedankens war es gelungen, die Tendenz des Protestantismus auf eine geschlossene Ethik zu verwirklichen, was Luther aus Furcht vor Beeinträchtigung der Gnade durch die guten Werke nicht gelungen war. In der Erwählung ist Heilsgewißheit, Bestimmung zum sittlichen Han- deln und Veranschaulichung der Heilsgewißheit im sittlichen Handeln ein und dasselbe. Die Ethik ist im übrigen motiviert wie die lutherische und ist Berufsethik wie diese; aber ihr ist gelungen, was der lutherischen bei aller Betonung der Einheit und des Gesinnungscharakters des neuen Lebens wegen ihres beständigen Ausruhens in der Sündenvergebung nicht gelang, die Rationalisierung der Ethik zu einem planmäßig zusammen- hängenden strengen Ganzen der Lebensführung. Das in Staat und Kirche sich bewegende Gemeinwesen und die im Beruf und Familienleben sich betätigende Privatmoral stehen unter einheitlicher Leitung, beständiger Kontrolle und letzter Abz weckung: die Verherrlichung Gottes durch ein Reich der Heiligen ist das Ziel. Die innerweltliche Askese des Protestan- tismus ist hier an sich nicht stärker entwickelt als im Luthertum; aber äußert sie sich dort mehr in der Kreuzseligkeit und in der Leidensbereit- schaft, in der passiven Ertragung der Welt und der gehorsamen Ergebung' in ihre Ordnungen, so äußert sie sich hier, dem aktiven Geist des Ganzen entsprechend, als bewußte Unterordnung alles Sinnlichen und Weltlichen, alles Natürlichen und Politischen, des Erwerbes und der Kinderzeugung, der Wissenschaft und der Bildung unter die Zwecke der Herstellung und Ausbreitung des Reiches der Heiligen. Naturgemäß verschwand bei so systematischer und unpersönlicher Abzweckung alles Handelns manche Unbefangenheit und Innigkeit, die dem Luthertum möglich geblieben war. Aber dafür erwuchs hier auch der Geist des Heroismus und der Initiative.

Es ist ein System christlicher Volkskultur und beruht der Idee nach öas caUi-

nistische System

auf der Füreinanderbestimmtheit des Göttlichen und Weltlichen, der Lex christlicher

' Volkskultur.

naturae und Lex spiritualis, auf der Erwartung eines freiwilligen und immer das gleiche Ziel treffenden Zusammenwirkens beider. So hatte auch Luther gedacht; aber seine Erwartung wurde getäuscht, er entzog die Kirche dem Herrn Omnes und übergab Kirchenordnung und Sitten- zucht an das weltliche Regiment, der Ideewidrigkeit dabei sich wohl bewußt. Er wollte nicht Gewalt brauchen, weil Gewalt ungeistlich ist; er hat auch die Ketzerbestrafungen, zu denen er sich schließlich ent-

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

schließen mußte, als weltliche Akte konstruiert. Die Täufer ihrerseits verzichteten gleichfalls auf diese Erwartung, dafür gaben sie aber auch überhaupt die Beziehung zum Staat auf und zogen sich auf kleine, gegen den Staat gleichgültige Gemeinden der Heiligen zurück. Calvin wollte auf das Ideal nicht verzichten wie Luther, nicht auf Konventikel sich zurückziehen wie die Täufer und doch auch nicht die Aufgaben der geistlichen Gemeinde an die Obrigkeit preisgeben wie Zwingli: so blieb ihm lüchts übrig als die Gewalt, die mit allen geistlichen und weltlichen Mitteln die Autonomie der Religionsgemeinde und die Selbst- beugung des Staates unter das göttliche Wort erzwingt. Um Gottes und des Gewissens willen ist Gewalt und Krieg erlaubt, nicht für jedes beliebige Individuum, aber für die verantwortlichen Leiter. Lehrt das Luthertum höchst charakteristisch die Nichtresistenz, so lehrt der Calvi- nismus das Recht der Resistenz, des Bürgerkampfes und des Religions- krieges. Für solche Zwecke mußte denn auch immer stärker das Alte Testament in Kontribution gesetzt werden. Überhaupt konnte bei der Schwachheit der Menschen der Aufbau der Religionsgemeinde nicht rein dem inneren Trieb der christlichen Freiheit überlassen werden. Luther hätte Calvins neues jus divinum der Kirchenverfassung nie aufgestellt; da- für hat er aber auch auf eine autonome kirchliche Verfassung überhaupt verzichten müssen. Als bloßes jus humanum aber hätte eine solche Kirchen- verfassung die Abneigung gegen die Kirchenzucht und den politischen Regierungstrieb der Seigneurie nie überwunden. Wie Luther für seine Dogmen und seine Abendmahlslehre, so mußte Calvin für seine Kirchen- verfassung auf die Bibel zurückgreifen. Nur unter dem Schutz übernatür- licher Autorität konnte sie durchdringen und die weltliche Zwangsgewalt für sich in Bewegung setzen. Es bedurfte göttlicher Gesetze, und so ^^■ard die Bibel zum Gesetzbuch; es bedurfte der Lehreinheit und der Sitten- Kontrolle, und so entstand das harte Strafverfahren gegen die Häretiker und das gegenseitige Kontroll- und Spioniersystem, Hier wie in der ganzen planmäßigen geistlichen Erziehung zur Ehre Gottes berührt sich der Cal- vinismus mit dem Jesuitismus, nur liegt in beiden Fällen die Ehre Gottes auf verschiedenem Feld. Solche Ziele sind eben nicht erreichbar, ohne daß man die Menschen zu ihrem Glücke zwingt.

Spezifisch Diese mehr nur von den widrigen Umständen erzwungenen Ahnlich-

moderne Züge. _

keiten mit dem Katholizismus dürfen jedoch über die vielfachen modernen

Züge nicht täuschen, die hier stärker enthalten sind als im Luthertum. Bei aller Betonung der mit Gewalt zu behauptenden christlichen Kultureinheit liegt doch in dem Prädestinationsgedanken ein Moment des Indixidualismus, das von der Bindung an Kirche und Gnadenmittel innerlich unabhängig ist und sich früher oder später befreien muß. Es liegt in dem Gemeinde- gedanken ein demokratischer Grundzug, den Calvins stark aristokratische Natur und sein christliches Mißtrauen gegen die sündhafte und begehrliche Masse zwar zurückdämmen, aber nicht vertilgen kann. Zugleich liegt in

C. Der Alt-Protestantismus (i6. und 17. Jahrhundert). ^ I c^

seiner Befehdung alles Müßigganges und seiner Anerkennung des Zins- nehmens, seiner Schät/.ung des Reichtums als Mittel für das Gottesreich ein Zug fleißiger, plati mäßiger wirtschaftlicher Betätigung, den er durch Verbot der Freude am Reichtum und durch Begünstigung des demütiger stimmenden Mittelbesit/.es vergebens bekämpfte und der wichtige l-olgen haben sollte. Aber andererseits darf alles das auch nicht zu modern demokratisch und individualistisch aufgefaßt werden. Seine Kirche blieb eine supranaturale Heilsanstalt, die dem Wort und dem Amt jeden Gläu- bigen unterwirft trotz aller Innerlichkeit der Erwählung. Sein Staat bleibt eine gegebene Autorität, die nur im Falle der Verfehlung gegen Gottes Wort von Berufenen, von den dann eintretenden magistrats inferieurs, korri- giert werden darf. Jede Seele ist innerlich frei, aber die äußere Herr- schaft sollen die Besten haben, um die Masse zu heben, zu erziehen und zu strafen. Noch sind all jene Gedanken in der christlichen Idee gebunden. Der Prädestinationsglaube ist geradezu ein aristokratisches Prinzip; in dem Frwählungsbcwußtsein und in der Unterwerfung der Verworfenen unter die kirchlich - staatliche Herrschaft sind die demokratischen und aristokra- tischen, die konservativen und radikalen Elemente des Christentums noch wie in einem kunstvollen Knoten verschlungen. So hat Calvin sich poli- tisch für die Aristokratie als beste Verfassung erklärt und hat er kirchlich das Consistoire durch Prediger und Rat gemeinsam ernennen lassen und die Predigerwahl zwar der Gemeinde zugewiesen, aber diese Wahl stets nur als Bestätigung gemachter Vorschläge angesehen. Insbesondere hat er selbst mit der Macht eines unfehlbaren Glaubens an seine Mission überall seinen persönlichen Einfluß geltend gemacht, das Ansehen der Prediger aufs höchste zu steigern gesucht, da er in der Gemeinde als solcher doch immer die Macht der Sünde fürchtete. Seine welthistorische Mission hat der Calvinismus als Organisation des Reiches der Heiligen und als die Verworfenen bändigende Aristokratie begonnen.

C. Der Alt-Protestantismus (16. und 17. Jahrhundert). Aus den religiösen Umwälzungen des 1 6. Jahrhunderts entstanden als oio drei

^ _ ° "^ neuen Kirchen.

Hauptergebnis drei große neue Kirchenbildungen, neben denen auch der Katholizismus seinen mittelalterlichen Geist neubelebte, ihn mit modernen humanistischen Mitteln der Renaissance-Bildung und mit modernen poli- tisch-sozialen Mitteln der Renaissance-Politik auffrischte. Dem katholischen System stehen nun gegenüber das Luthertum, der Calvinismus und der Anglikanismus, alle drei immer stärker zu geschlossenen Eehrsystemen und Kultureinheiten sich bildend. Rechtgläubigkeit, politisch-soziale Durch- führung der theologischen Prinzipien und Aufrichtung von Mitteln zur Erhaltung dieses Bestandes charakterisiert sie alle drei. Die eigentlichen Renaissance-Ideen werden überall zurückgedrängt und bilden in der Stille

^l6 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

sich zu exakten Naturforschungen und modernen geschichts- und staatsphilo- sophischen Anschauungen um. Die Ergebnisse der Kirchenrevolution, die nicht in eine der drei großen Kirchenbildungen einmünden, werden möglichst vernichtet und finden teils in unsicheren politischen Verhältnissen, wie in Polen und Ungarn, oder unter dem Schutze des holländischen Merkantilis- mus hier und dort Aufnahme und Duldung, oder sie halten sich unter äußerer Anerkennung" der Rechtgläubigkeit verborgen. Die großen Kirchen selbst sind durch ihren Gegensatz überdies genötigt zur Herausbildung fester Institutionen und Doktrinen aus den ursprünglichen viel weiteren und un- bestimmteren religiösen Impulsen, treten zu Bündnissystemen der ver- wandten Landeskirchen zusammen und geraten in immer schärferen Kampf miteinander. Da die neuen Kirchen dem alten europäischen System katholischer Politik und Kultur entgegentreten, und da sie überdies jede selbst ein eigenes System der Kultur und Politik bilden, so sind all- gemeine politische Spannungen die notwendige Folge, und es bemächtigen sich die großen, aus der früheren Weltlage überkommenen, politischen Gegensätze der religiösen Motive. Die europäische Religionsspaltung muß endgültig ausg'ekämpft werden in einem europäischen Religionskrieg, von dem dann der Schmalkaldische Krieg, die Cappeler Kämpfe und die Hugenottenunruhen nur ein Vorspiel waren. Von dem ersten Kriege Zürichs gegen die Urkantone bis zur glorreichen englischen Revolution Wilhelms II. ist ein ununterbrochener Kirchenkampf die Folge der Refor- mation. Ein Weltsystem wie der Katholizismus bricht nicht zusammen ohne die schwersten Kämpfe und ohne Appell an die ultima ratio aller Machtkämpfe, an die militärische Gewalt. Ein Kirchensystem von der Ausschließlichkeit der neuen protestantischen Kirchen kann nicht in einer Mehrzahl von Kirchen existieren, ohne untereinander in die bittersten Gegensätze zu geraten; wie nach innen die Polizei, so müssen nach außen die Diplomaten und die Kanonen den symbolischen Büchern ihren Zwangs- kurs verleihen. Die Ausbildung der Rechtgläubigkeitskirchen erfolgt in der Stimmung drohender oder bereits wirklicher Kriege. Der Calvinismus eröffnet das Zeitalter des modernen Heroismus, rettet den Protestantismus und trägt ihn bis nach Amerika, das Luthertum genießt seinen Sünden- trost im Martyrium, und der Anglikanismus, der von Hause aus ein mehr politisches als religiöses System ist, hilft England in der allgemeinen Ver- wirrung die Pundamente seines zukünftigen Weltreiches zu legen und damit die wichtigste Grundlage zu schaffen, die der Protestantismus bis heute besitzt.

DcrAutisburger I. Das Luthcrtum. Dcr nach Luthers Tod ausgebrochene Krieg

Religionsfriede. _

brachte für das Luthertum mit dem Augsburger Religionsfrieden eine vor- läufige Ruhezeit. Der Friede schloß Täufertum und Zwinglianismus end- gültig vom Reichsboden aus; reformierte Neigungen konnten von nun ab nur mehr unter dem Schutz der Textverschiedenheiten der Augsburgischen

C. Der Alt-Protpstiintisnius (l6. und 17. Jahrhundert). I. Das Luthertum. ?iy

Konfe.s.sion .sich geltiMul niaclu-ii, da zwi.schen diesen von Reichs wegen nichts Endgültiges entschieden war; wagten sie sich aus dem vSchutz der Variata heraus oder wurde dieser ihnen von dem lutherischen Drängen auf die Invariata entzogen, dann gab es für sie nur auswärtige Bündnisse und Krieg. Für das Luthertum war das Ergebnis die Verdrängung der erne- stinischen Reformationsdynastie aus dem Besitz des Kurstaates, die vSicher- .stellung seines bi.sherigen Besitzstandes, die Erschwerung weiterer zukünftiger Au.sbreitung und die Vertagung des Entscheidungskampfes durch unklare Kompromißbestimmungen. Für den religiösen Gedanken war das Ergeb- nis die offizielle Feststellung des ohnedies praktisch überall leitenden Prin- zips, daß Staatseinheit und Religionseinheit zusammenfallen müssen, ab- gesehen von den Reichsstädten, wo eine paritätische Doppelkirchlichkeit aufgerichtet wurde; für Dissentierende wurde außer in den burgundi- schen Erblanden statt der alten Todesstrafe freier Abzug erlaubt; frei- lich mußten sie dann den Glauben des Landes annehmen, wohin sie zogen.

Der .so gesicherte territoriale Bestand besteht aus einer nordöstlichen Territoriai-

° _ bestand des

Gruppe mit dem vSchwerpunkt im sächsischen Kurstaat und in Branden- Luthertums vor

^ ^ und nach dem

burs" von der Weser bis zu den südlichen Abhängen des Thüringer Waldes 30jährigen

° . Kriege.

und Erzgebirges den Nordosten umfassend; einer mitteldeutschen Gruppe, die sich um Hessen gruppiert; einer fränkischen mit dem Mittelpunkt in Nürnberg und dem brandenburgischen Fürstentum; einer schwäbischen mit Württemberg und den oberdeutschen Reichsstädten. Dazu kommen Er- weiterungen vor allem durch Erwerb norddeutscher Bistümer, die bisher der Versorgung des jetzt protestantisch gewordenen Adels oder fürstlicher Sekundogenituren gedient hatten. Vor allem gesellten sich zu den deut- schen Gebieten die skandinavischen Länder, welche das ganze baltische Meer mit lutherischen Staaten umgaben. Dem gegenüber stehen Verluste an den den Rhein entlang vordringenden Calvinismu.s, worunter der wich- tigste der Übergang des pfälzischen Luthertums an die reformierte Ob- servanz ist. Noch wichtiger sind die Verluste an die mit aller Energie einsetzende Gegenreformation. Das Territorialprinzip, das den Protestan- tismus in den Ländern unter lutherischem Regiment schützte, vernichtete ihn in den Ländern unter katholischem Regiment. Durch Befestigung schwankender Fürsten im Katholizismus, durch Konversion von Fürsten, durch Einsetzung zuverlässiger Bischöfe in unsicheren geistlichen Terri- torien ging eine große Zahl von Gebieten verloren. Die daraus entstehenden Reibungen vermehrt durch die reichsrechtliche Unsicherheit der calvi- nistischen Kurpfalz führten zu Sonderbündnissen und dann zum Krieg. In ihm wurde die Existenz des ganzen deutschen Protestantismus noch ein- mal in Frage gestellt, aber er wurde, wie in seinen Anfängen, wieder gerettet durch den Gegensatz habsburgischer und bourbonischer Politik und durch das Eingreifen Schwedens, das bei dieser Gelegenheit baltische Großmacht werden wollte und zu diesem Zweck eines lutherischen deutschen Hinter- landes bedurfte. Vorübergehend flammte hierbei im schwedischen Heer

3ii

Ernst Trof.ltsch: Protestantisches rhristentum und Kirche in der Neuzeit.

ein heroischer Geist und ein Gesamtbewußtsein des Luthertums und des Protestantismus überhaupt auf. Doch eilte das Luthertum unter dem Vor- gang" Kursachsens, sobald wie möglich seinen Frieden mit dem Reich zu machen. Der Westfälische Friede gab das österreichische Luthertum preis, zwang- den Lutheranern die Anerkennung des Calvinismus als Mitbekenner der Augsburgischen Konfession ab und milderte das strenge Territorial- kirchenprinzip, indem die im Normaljahr 1624 etwa vorhanden gewesenen konfessionellen Minoritäten das Recht der Religionsausübung behalten sollten und etwa späterhin eintretende konfessionelle Mischungen der Duldung emp- fohlen und jedenfalls mit dem Recht freien Abzuges gesichert wurden. Die Staatsräson, die durch Entschädigungen und Erbverträge oder Eroberungen eintretenden konfessionellen Mischungen, erzwangen dann weiterhin im Interesse des politischen Gedeihens eine Milderung des Religionszwanges und ließen bei aller Beibehaltung der Konfessionalität des Staates doch die Staatshoheit auf Beaufsichtigung des Kultus einschrumpfen. So hatte schon Joh. Sigismund von Brandenburg gedacht, als er 16 13 zum refor- mierten Glauben übertrat und darauf verzichtete, seinen Glauben auch dem lutherischen Hauptlande aufzunötigen. Auf diesem Wege weiterzugehen nötigten späterhin immer mehr die merkantilistischen und die populatio- nistischen Interessen des Absolutismus. Doch bleibt vorerst in der Theorie die Konfessionalität des Staates, und in der moralischen und politischen und wirtschaftlichen Regeneration der zerrütteten Länder spielen die kirchlichen Kräfte und Gesichtspunkte immer noch eine beherrschende Rolle. Sie vollzieht sich im Geiste des lutherischen Patriarchalismus, der das neue Beamtenwesen und die Wirtschaftspolitik des Absolutismus mit seinen Ideen erfüllt. Ein Musterbeispiel im kleinen wurde Herzog Ernst, der Fromme, von Gotha; Veit Ludwig von vSeckendorf, sein Ratgeber und zuletzt Kanzler der Hallischen Universität, faßte diese Ideen in seinem „Deutschen Fürstenstaat" (1655) und später, ausdrücklich trotz Spenerscher Anklänge auf Luther zurückgreifend, in seinem „Christen- staat" (1685) zusammen. In diesem Sinne betrieb dann aber vor allem Brandenburg-Preußen die Erneuerung und baute in dem Staate Friedrich Wilhelms I. das moderne Preußen als Vormacht des Protestantismus auf, während Kursachsen zwar in Leipzig das Zentrum der Gelehrsamkeit und literarischen Kultur behielt, aber bei dem Geiste lutherischer Passivität und dem Konservatismus albertinischer Selbstsucht die führende Stellung' verlor. Mit dem leichtsinnigen Übertritt des Kurhauses zum Katholizis- mus war seine Rolle für das Luthertum ausgespielt. Freilich ist das preußische Luthertum seit den Tagen Joluinn Sigismunds zur Duldung anderer Religionen geneigt und insofern nicht mehr das alte l-uthertum, das an seine Alleinwahrheit glaubte und dem l^'ürsten l'>haltung seines Landes im rechten einigen Glauben vorschrieb. Es hat damit seine Zu- kunft als Großmacht ernu'iglicht, aber auch eine neue Periode des deutschen lutherischen Protestantismus eröffnet.

C. Der Alt-Pioteslantisnius (i6. und 1 7. Jahrhundert). I. Das I.ulhrrtum. 7iq

In all (licson KümptVn erwuchs die Souveränetäl des 'rerritorialfür.st(m-st.iatiiii(iKiriiie tums und die Praxis des Absolutismus, d. h. die Schaffung eines zentrali- sierten, ständigen lierufsbeanitentuins und die Zurückdrängung des stän- dischen Einflusses. Die Reformation war selbst schon eine Steigerung des Territorialfürstentums und wurde von ihm in diesem Sinne ausgenutzt. So versteht sich von selbst, daß die Kirchen des l.uthertums immer stärker die Züge der Staatskirchenhoheit tragen. Dabei ist es aber ein eigen- tümlich komplizierter Sinn, in dem dieses Staatskirchentum zu verstehen ist. Es bleibt die mittelalterliche Idee von der Einheit des corpus Christia- num, das in innigem Zusammenwirken von weltlicher und geistlicher Ge- walt zur Ehre Gottes regiert wird. Die Obrigkeit macht die kirchlichen Zwecke zu ihrem Hauptzweck, und die Kirche macht durch das Schriftamt der Obrigkeit den biblischen Willen Gottes kund. Aber dieser Liebes- und Pflichtdienst der Obrigkeit gegen die Kirche liefert alle kirchliche Verwaltung und schließlich auch die letzte Bestimmung über die im Lande geltende Theologie dem obrigkeitlichen Einflüsse aus. Innerhalb dieser Konkordanz von Geistlichem und Weltlichem wäre nun an sich wohl eine relativ selbständige Gestaltung der Kirche möglich gewesen, die in einer anerkannten Vertretung der Obrigkeit ihre Erkenntnisse und Forderungen vorlegt und die von sich aus das Verhältnis zu dem brachium saeculare be- stimmt, wenn sie auch letztlich in ihrer Gesamtexistenz durch die obrig- keitliche christliche Regierung allein gehalten wird. Aber Luther hat auf die Anfange einer solchen relativ autonomen Kirchenorganisation in Sachsen rasch verzichtet, sich dem christlichen Liebesdienst der Obrigkeit anvertraut und dabei vom Predigtamt die Behauptung seiner inneren geistlichen Selb- ständigkeit als selbstverständlich erwartet. Ansätze zu relativer Autonomie der Kirche, die in andern Ländern als synodale Organisation der Geist- lichkeit bestanden, sind gleichfalls bald verschwunden. Der Kirchenstaat und das Staatskirchentum des Luthertums wurde überall nach sächsischem Vorbild aus der Idee Luthers entwickelt. Dabei versteht sich weiterhin von selbst, daß diese Kirchen jedesmal reine Landeskirchen sind, und daß von einer durch verschiedene Länder sich erstreckenden lutherischen Ge- samtkirche nicht die Rede sein kann. Die Gemeinsamkeit wurde nur im Einholen auswärtiger Ratschläge oder im gegenseitigen Verleihen hervor- ragender Theologen zu bestimmten Organisationszw^ecken betätigt. Der Geist des Luthertums ist der Geist des isolierten Landeskirchentums, der konservative Geist Luthers, der die Kirche lieber der fürstlichen Christen- liebe und Christenpflicht als der Rottirerei des Pöbels, der Willkür des Adels oder der Vielköpfigkeit einer dogmatisch noch gar nicht sehr tief gebildeten Geistlichkeit anvertraut. So läßt das Luthertum die Kirche im Namen des Staates durch gemischte, aus Juristen und Theologen be- stehende Kommissionen, die Konsistorien, regieren, in welchen die Juristen durch die Theologen stets über die Forderungen des göttlichen Wortes aufgeklärt werden können, und denen Bestallung, Prüfung, Ordination der

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

Geistlichen, Ernennung der Superintendenten und die Kirchenzucht oder die Überweisung an die Pohzei zusteht. Melanchthon Uefert hier wie so oft die Theorie und die schönen Formeln: Der Landesfürst tut den Liebes- dienst als membrum praecipuum der Gemeinde und tut die Christenpflicht als custos utriusque tabulae, indem er die Lex naturae zu verwirklichen hat, und indem im vollen christlichen Verständnis zur Lex naturae nicht bloß die zweite weltliche, sondern auch die von den nichtchristlichen Er- fassungen der Lex naturae verkannte, erste geistliche Tafel des Dekalogs gehört. Die Juristen, die das kanonische Recht und das Reichsrecht für lutherische Zwecke zu adaptieren hatten, haben dann freilich daraus die völlig sinnwidrige Lehre von der Rechtsnachfolge des Landesherm in der Bischofswürde gemacht, wodurch in der Konsequenz das kirchliche Regi- ment zu einem Ausfluß der Landeshoheit als solcher wird. Sie haben damit nur den Übergang- von den eigentlichen lutherisch-mittelalterlichen Gedanken zu den modernen territorialistischen vorbereitet. Kirchenbegriff Vermöge der absoluten supranaturalen Göttlichkeit kam der Kirche

und Kultus.

doch eine starke Selbständigkeit zu. Ihre Vertretung in den Hofpredigem hat oft stark genug auf innere und äußere Politik gewirkt. Theologische Bedenken und Ratschläge aller Art werden von Fakultäten und einzelnen Theologen eingeholt. Aber freilich kam dabei die Kirche immer nur in Be- tracht als das Amt der Schriftverkündigung. Von der Gemeinde ist nie die Rede, auch nicht etwa in dem Sinne geordneter Mitwirkung irgend welcher Gemeindevertreter. Alles beruht ausschließlich auf dem das Heil wirkenden Wort und dem Träger des Wortes, dem ordnungsmäßig berufenen, d. h. im Staatsauftrage geprüften und angestellten Prediger. Dies Überwiegen von Amt und Wort gibt auch dem Kultus sein Gepräge. An die Stelle des Sakramentspriesters tritt der Schriftpriester, ohne persönlichen Cha- rakter indelebilis, aber doch getragen von der Wunderkraft der Schrift. Von da aus wurde der Kultus umgestaltet, dessen Einheitlichkeit natür- lich auch ein Werk der obrigkeitlichen Fürsorge ist. Der konservative Sinn Luthers ließ vom katholischen Kultus alles bestehen, was nicht mit der Schätzung des Wortes als alleinigen Heilsmittels im Widerspruch war. Das niedrige Volk sollte vor den Gefahren und den revolutionären Stim- mungen eines allzu radikalen Bruches bewahrt bleiben. So sollte für den Kultus der Rahmen der Messe bestehen bleiben, Predigt und Kommunion das Opfer ersetzen. Li der Praxis blieb dann aber die Predigt die Haupt- sache, vmd die Kommunion wurde ein mäßig frequentierter Anhang. Die Predigt überwuchert alles, am Sonntag mit den Resten der Messe als Liturgie umgeben, einfacher an den Wochentagen. Die Sprache ist selbst- verständlich deutsch; doch werden für die Lateinschüler besonders in Nebengottesdiensten lateinische Reste zur Übung erhalten. Zugrunde liegen die katholischen Perikopen, welche gegen den Calvinismus mit be- sonderem Eifer festgehalten werden; die Ausführung der Predigt ist über- aus dogmatisch, oft überladen mit Gelehrsamkeit und dem Prunk huma-

r. Der All-Protestantismus (l6. und 17. Jahrhundert). I. Das Luthertum. -3 2 1

nistischer Rhetorik, Der Festkalender wird, mit Au.snahme der unbiblischen Heiligen, im katholischen Sinne beibehalten, ein weiteres wichtiges Trot/.- stück gegen die Reformierten. Von den katholischen Sakramenten bleiben nur Abendmahl und Taufe. Das Abendmahl wurde in theoretisch-dogma- tischer Begründung und praktisch-kultischer Ausführung der Hauptgegen- satz gegen die Reformierten; doch wurde wie bei diesen viermaliger Genuß im Jahre empfohlen; voraus geht die Privatbeichte, die, des sakramentalen Charakters beraubt, doch ein wichtiges Stück der Erziehung und Beein- flussung ist. Die Taufe behielt den Exorzismus, ebenfalls ein großes Trotz- stück gegen die Reformierten. Die Priesterweihe wurde zur Ordination, behielt aber die Handauflegung bei; die Firmelung wurde zum Katechis- musexamen, dessen Bestehen die Berechtigung zur Teilnahme am Abend- mahl mit sich brachte. Neben Predigt und Sakrament ist der Hauptgegen- stand des Kultus der Katechismus; der Geist der Belehrung des rohen einfältigen Volkes und der armen verlorenen Jugend feiert hier seine höchsten Triumphe. Katechismusübungen in Kirche, Schule und Haus, Katechismuspredigten, eine große Katechismusliteratur zeugen von der Bedeutung, die man der dogmatischen und ethischen Belehrung beilegt. Der kleine lutherische Katechismus ist das Fundament der populären Bildung und Kultur in den lutherischen Ländern. Einen besonderen Schmuck empfing der Kultus durch das deutsche Kirchenlied, das, ohne Orgel gesungen, gleichfalls zur Belehrung dienen sollte und trotz ein- zelner großartiger naiver poetischer Leistungen doch diesen dogma- tischen Charakter reichlich trägt; es zeigt als einzige nennenswerte poetische Leistung mit seinen vielen Geschmacklosigkeiten zugleich den allgemeinen Verfall der deutschen Kultur innerhalb dieses erneuerten la- teinisch - dogmatischen Wesens. Den großartigsten Schmuck schließlich empfing der Kultus durch das geistliche Konzert, das, von Schülerchören getragen, die lutherischen Kantoren zu einem Bestandteil der Kirche machte. Das Schönste, ja fast das Einzige, was die Kunst in diesem kirchlichen Zeitalter vollbracht hat, ist hier geschaffen w^orden. In Bach hat das Luthertum die tiefste Darstellung gefunden, die ihm überhaupt zuteil geworden ist.

Das wichtigste Werk des lutherischen Staatskirchentums war die Bekenntnis-

zwang und

Schaffung der Bekenntniseinheit und des Bekenntniszwanges. An sich Bekenntnisse, war nach den ersten überidealistischen Anw-andlungen Luthers, der eine zwanglose Bekehrung der Ungläubigen durch die Macht des Wortes für selbstverständlich gehalten und daher nur die öffentliche Bekundung des Unglaubens verboten hatte, über das Prinzip selbst kein Zweifel. Freiheit für den wahren Glauben und Zwang für den Unglauben, das ist die Grund- gesinnung, die bei dem Besitz absoluter göttlicher Wahrheiten ja selbst- verständlich ist. Aber die Sache war nicht so einfach durchzuführen. Die Schrift als Prinzip des wahren Glaubens war vieldeutig, und es galt die Auslegung der Schrift eindeutig sicher zu stellen. Da war nun aber eine

DiK Kultur der GscENw.^Rr. I. 4. 21 '

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

große Schwierigkeit, daß das Luthertum eine ausgeführte Dogmatik zunächst nicht besaß und daß schon seine beiden Koryphäen, Luther und Melanchthon, empfindlich sich unterschieden hatten. Melanchthon hat als Luthers Mit- kämpfer und Erbe, als Schulhaupt und Diplomat des Protestantismus das Recht in Anspruch genommen, die Lehre seines Freundes, die ja über- haupt erst er leidlich zu einer Dogmatik redigiert hatte, mit einer gewissen Selbständigkeit zu behandeln. Unter dem Eindruck patristischer Gelehr- samkeit begann er sich zu Calvins Abendmahlslehre zu neigen, als ur- sprünglich erasmischer Theologe erweichte er den harten Prädestinations- und Erbsündengedanken, und als ängstlicher Wächter über dem Ansehen der neuen Kirche glaubte er neben der Rechtfertigung die Notwendigkeit der guten Werke besonders betonen zu müssen. Dabei hat er zugleich in seinem lehrhaften Geist, seinem Bedürfnis nach reinlichen Formeln und unantastbarer Korrektheit den idealistischen Kirchenbegriff Luthers, dem die Kirche überall war, wo Wort und Sakrament war, eingeschränkt auf die Kirchen, in denen Wort und Sakrament sicher schriftgemäß und rechtgläubig verstanden sind. Durch diesen Doktrinarismus hat er selbst die Pfeile geschärft, die von der Hand seiner Schüler dann auf ihn ab- geschossen werden sollten. Ein Teil von ihnen machte den echten Luther gegen ihn geltend. Man beschuldigte ihn des Abfalls und Verrats, und an dem so entstehenden Feuer schürte vor allem der Haß der emesti- nischen Theologen gegen den Haupttheologen des verräterischen alberti- nischen Kurstaates. Es entstand eine fürchterliche leidenschaftliche Zän- kerei, deren erstes Ergebnis der grausame Sturz des entlarvten Philippis- mus im Kurstaate war. Aber damit war noch nicht Ruhe; Ruhe konnte erst durch die Fürsten gebracht werden, die durch diesen Zank auch ihre reichsrechtliche Deckung in der Augustana gefährdet fanden. So machten sie sich denn mit Hilfe einer Vereinigung norddeutscher und schwäbischer Theologen an die Aufgabe der theologischen Pazifikation. Sie führten zunächst in ihren eigenen Ländern Corpora doctrinae ein, in denen die Augsburger Denkschrift und mehrere wichtige Reformationsschriften als Normen der Schriftauslegung vereinigt wurden. Pfarrer und Lehrer des ganzen Staats mußten dann das Corpus unterschreiben. Schließlich gelang es ihnen aber auch, eine Gesamtvereinigung zu schaffen in einer offiziellen Ausleg'ung der Augustana, die besonders die strenge Erbsündenlehre und das eucharistisch-christologische Dogma festlegte und den Namen Konkor- dienformel empfing. Sie wurde von der Mehrzahl der lutherischen Stände eingeführt und bewirkte endgültig den Frieden. Die später auftauchenden Kämpfe griffen daher lange nicht mehr so tief. Man stritt dann noch um die Universalität und Partikularität des Heils, um die Ubiquitäts - Christo- logie, um das Verhältnis von Geist und Schrift, um die Kalixtinische Lehre einer milden Unionstheologie. Aber bei aller Giftigkeit griften diese Kämpfe nicht mehr in das eigentliche Grundgefüge ein. Erst in den Kämpfen mit dem Pietismus kam man auf einen Hoden, wo die Grundlagen der

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.symbolgemäßen Rechtgläubigkeit nicht mehr ausreichten und wo eine neue Zeit beginnt.

Auf der Grundlage dieses Bekenntniszwanges erhob sich das kunst- ThroioKi.-. volle Gebäude der lateinischen Schultheologie, das zusammen mit der Jurisprudenz das gei.stige Haupterzeugnis dieser Welt ist und eine außer- ordentliche Intelligenz verbrauchte. Sie gibt sich als Bibelauslegung nach der Norm der lutherischen Symbole, die ihrerseits wieder als die offiziell anerkannte Quintessenz der Schriftwahrheit gelten. Doch ist diese Dog- matik bei allem Anschluß an die Bibel eine selbständige barocke Technik geworden, in der die biblischen Begriffe des lutherischen Paulinismus nach einer ganz besonderen Kunst behandelt werden. Im Geiste der Scholastik und übereinstimmend mit der gleichzeitigen katholischen Wissenschaft ist aus der aristotelischen Logik ein Schematismus der Gesamtdisposition und der technischen Einzelbehandlung- der Begriffe ausgebildet worden, der in allen Wissenschaften, am sorgfältigsten aber in der Theologie, als eine unfehlbare Denkmaschine wirkt. Dogmengeschichtliche, patristitische und scholastische Belege und ein stets bereiter humanistischer Zitatenschatz vervollständigen den Apparat. Mit ihm wird eine schroff antipapistische und anticalvinistische Dogmatik aufgebaut, die Kontroversschriftstellerei ausgerüstet und die Bibelerklärung wissenschaftlich gemacht. Den Offen- barungswahrheiten dient als Unterlage eine natürliche Ethik und Theo- logie, welcher der Begriff der Lex naturae zugrunde liegt und die eben- falls mit den Mitteln des neuthomistischen Aristotelismus betrieben wird. Daneben gab es dann freilich noch eine deutsche Erbauungstheologie von großer Herzlichkeit und gesunder Volkstümlichkeit, die Haupterzieherin des lutherischen Volkes neben und über dem Katechismus und dem Kirchenlied. Sie geriet bei ihrer Betonung des Innerlichen und Persön- lichen bereits in die Nähe der Spiritualisten und leitet so über zum Pietismus. Dabei hat auch sie sich die Aufnahme katholischer Motive nicht versagt; nicht bloß auf die Taulersche und verwandte Mystik, son- dern auch auf die katholische Christusdevotion wird gern zurückgegriffen als auf ein wirksames Mittel zur Belebung religiöser Sentimentalität.

Das Organ, wodurch der lutherische Konfessionsstaat diese Einheit- Schulwesen. lichkeit hervorbringt, ist in erster Linie die Schule und innerhalb dieser Universität und Gymnasium. Die Schule ist Staatssache, aber im kirch- lichen und religiösen Interesse; sie ist durch und durch geistlich bestimmt, aber der geistliche Charakter wird gehandhabt vom Staat als dem Haupt- träger des kirchlichen Gedankens; sie ist auf das eingezogene Kirchengut begründet und dient vor allem der Erziehung von Geistlichen und Be- amten. Das große Musterbild der lutherischen Universitäten ist Melan- chthons Schöpfung in Wittenberg. Hier ist der Vorrang der theologischen Fakultät selbstverständlich, propter principiorum certitudinem. Sie lehrt auf Grund der Bibel und der Symbole die Dogmatik, die Grundlage des ganzen Systems in Staat und Kirche, Schule und Leben, ihre geoffenbarte

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Gotteserkenntnis unterbauend mit der natürlichen Gotteserkenntnis, d. h. mit der Lex naturae, die das höchste Ergebnis natürlicher Erkenntnis ist und zur Buße und Erlösungsbedüftigkeit geneigt macht. Neben ihr steht die Jurisprudenz, die Staats- und Kirchenrecht, römisches und kanonisches Recht lehrt und als Fundament eben die volle christlich verstandene Lex naturae hat, die an sich mit dem Dekalog identisch ist; auch das römische Recht läßt sich auf den Dekalog zurückführen und bedarf zu einem christ- lichen Recht nur der Ergänzung aus den im Heidentum verloren gegangenen spiritualen Momenten der Lex naturae oder aus der ersten Tafel, Die gemein- same Voraussetzung beider oberen Fakultäten bildet die artistische Fakultät, die sich durch ein Aufnahme-Examen eine gewisse Vorbildung sichert und von den Grundkenntnissen der Sprachen und des Rechnens zu der huma- nistischen Stil- und Verskunst, zur aristotelischen Dialektik oder der Hand- habung der Denkmaschine und schließlich zur Ethik und Metaphysik führte. Die beiden letzteren sind an Aristoteles angeschlossen, verfallen aber sehr bald dem neuthomistischen Aristotelismus. Die Ethik insbeson- dere erläutert den Begriff der Lex naturae und entwickelt die natürlich- weltliche Ethik, die von der geistlichen als Unterbau und Ergänzung- vorausgesetzt wird. Von Naturwissenschaften ist nur die Rede, soweit sie im Studium des Aristoteles und Galenus bestehen. Die Astronomie ist Astrologie. Ein Kepler hat sich an lutherischen Schulen nicht zu be- haupten vermocht. Der Geschichtsunterricht verläuft in dem Schema der vier Monarchien und knüpft das römisch-deutsche Reich unmittelbar an die biblischen Patriarchen an, betrachtet zugleich das Papsttum als Erfüllung der Weissagung vom Antichrist. Nebendem gibt es nur Aktenpublika- tionen in polemischem Interesse. Der Humanismus ist bei alledem immer mehr wie bei den Jesuiten zu einer reinen Form und Technik verflüchtigt, dafür aber als Eloquenz und Prunkrede um so schwülstiger entwickelt. Die Voraussetzung- der Universitäten wiederum bilden die Gymnasien, die wesentlich Unterricht in den antiken Sprachen und der Dogmatik vermitteln. Der Volksschulunterricht ist sehr dürftig durchgeführt; er hat zum Haupt- gegenstand Lesen und Schreiben und den Katechismus. Daß es einem solchen Schulwesen an Gegnern und Reformatoren nicht fehlte, versteht sich von selbst; aber es war zu eng mit dem ganzen System verknüpft, als daß ihnen ein Erfolg in dieser Periode hätte möglich sein können.

Die Hauptsache ist natürlich der ethisch-kulturelle Geist dieses Systems selbst. Er spricht sich zunächst aus in der theologischen Ethik und der praktischen Moral des Luthertums, die ihrerseits wieder in seiner theologischen Weltanschauung wurzeln. Freilich sind hier die großen und einfachen Grundanschauungen Luthers vom Hervorgang des sittlichen Lebens aus dem Glauben arg vertrocknet und zersplittert. Die Genugtuungslehre wurde immer mehr zum Zentraldog-ma des Luthertums, und pedantischer Eifer glaubte die alles religiöse Leben entscheidende Bedeutung der Sün- denvergebung oder Rechtfertigung nur dann sichern zu können, wenn er

C. Der Alt-Protestantismus {ib. und 1 7. Jahrhundert). I. Das I.uthertum. ^25

die Heiligung- möglichst scharf von der Rechtfertigung abtrennte und von den guten Werken jeden selbständigen Wert sorgfältig fernhielt. Dadurch ist die lutherische Kthik in ihrer Begründung überhaupt unsicher geworden und ist sie vor allem verhindert worden, ein planmäßiges, einheitliches Ganzes der Lebensführung ins Auge zu fassen und ihren Gläubigen anzu- erziehen. Immerhin blieb für das Volk der kleine Katechismus das ethische Lehrbuch und mit ihm die Überzeugung lebendig, daß der Gerechtfertigte Gott fürchten, lieben und vertrauen soll im Gehorsam gegen den Dekalog und daß ein jeder seinen Stand und Beruf anschauen soll nach den zehn Geboten. Außerdem ist die rein geistliche Ethik jederzeit zu ergänzen aus der philosophischen und natürlichen Ethik, in der die Lex naturae oder die aus der natürlichen Weltordnung und Vernunft hervorgehenden sittlichen Gebote und Lebensformen entwickelt werden, auf welche der Christ nur die spirituale Gesinnung des Gehorsams aus Liebe gegen Gott und das Vertrauen zu Gottes Vorsehung aufpfropfen soll. Hier hat Me- lanchthon die oft aufgelegten und kommentierten Lehrbücher geschaffen, deren Zweck ist, auf der Grundlage des Cicero und Aristoteles den Deka- log als epitome legis naturae zu erweisen; er galt dafür als der Moral- lehrer, der Piaton und Aristoteles, die großen Muster, übertroffen habe. Von hier aus versteht sich auch der starke theologisch-ethische Gehalt der Rechtslehre und die starke Einmischung juristischer Dinge in die theologische Ethik. Denn das Recht fließt aus der Lex naturae, die ja ihrerseits mit dem Dekalog identisch ist, so daß man Straf- und Zivil- recht auf den Dekalog zu reduzieren unternahm. Die in ihrem vollen doppelten Sinn verstandene Lex naturae erwies sich eben als die Zusammen- schließung der geistlichen und weltlichen, jenseitigen und diesseitigen Ethik, die man brauchte und die bald nach der rechtlichen, bald nach der religiösen Seite verwendet werden konnte. Sie und nicht eine rein christliche neutestamentliche Sittlichkeitsidee ist der eigentliche Grund- begriff der Moral. Soweit biblische Veranschaulichungen gesucht werden, werden sie daher auch in steigendem Maße dem Alten Testament, für die Staatsmoral den Königsbüchern, für die Privatmoral Jesus Sirach und den Proverbien entnommen. Schließlich besteht ein großer Teil der praktischen Ethik in den obrigkeitlichen Sittenmandaten, den polizeilichen Strafen wegen religiöser, moralischer oder kirchlicher Verstöße, den konsistorialen Handhabungen der Kirchenzucht. Auch das stark theologisch beeinflußte Strafrecht beleuchtet die Sachlage. Ist es doch die Aufgabe des Kon- fessionsstaates, nicht bloß den reinen Glauben, sondern auch die christ- liche Ehrbarkeit und Moral zu schützen und zu pflegen.

Trotz aller Verzerrung wirken hierbei im wesentlichen doch die Grund- Verhältnis der

" . . öffentlichen und

gedanken Luthers fort, in ihren Vorzügen, der Innerlichkeit und Freiheit Privatmorai. der gotterfüllten Gesinnung, und in ihren Schwächen, dem Mangel an ziel- sicherer Organisation des Lebens und der Verweisung der Masse an den Gehorsam. Das Ziel liegt nicht in der Gestaltung der Welt; diese ist

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vielmehr ein zufälliger, von Gott so geordneter Stoff, an dem es vor allem Gottvertrauen, Sündentrost und Gottesliebe zu bewähren gilt. Es liegt aber auch nicht außer der Welt im Dienst für die Kirche oder einem höheren geistlich-mönchischen Lebensstand; damit hat der Papismus die Gläubigen genarrt. So fehlt jedes eigentliche Ziel, und es bleibt als Ziel immer nur gehorsames Ausharren in den einmal gegebenen Lebensbedingungen, treue und fleißige Arbeit in den durch sie gestellten, nützlichen Berufen und Befestigung in der Bekehrungsstimmung des verdienstlos Begnadigten. Das Ziel wird daher von der Ethik immer nur als das der Bewahrung der Rechtfertigungsgnade bezeichnet, d. h. als Bewahrung der Stimmung der Begnadigung, die durch Eingehen auf wirklich Böses und Gottwidriges natürlich verloren gehen würde. Wenigstens g-ilt das für den einzelnen Christen. Der Zweck des Ganzen, des staatskirchlichen Gesamtlebens, aber liegt nicht in der Hand und nicht im Urteilsbereich des gewöhnlichen Untertanenverstandes. Das steht nur der Obrigkeit und den Geistlichen zu, und auch sie können als Zweck des Ganzen wesentlich immer nur die Aufrechterhaltung und Wirkung des reinen Gotteswortes ansehen, das alles Übrige von selbst hervorbringen werde, soweit es Welt, Teufel und Fleisch leiden; Polizei und Richteramt leisten nur Nebendienste. Die tiefe Über- zeugung von der Erbsündigkeit überhaupt und von der Roheit und Be- gehrlichkeit der Massen insbesondere führt zu einer charakteristischen Trennung von Privatmoral und öffentlicher Moral. Die erste betätigt sich im Glauben, der Nächstenliebe und dem Berufsgehorsam, alles lediglich im Gehorsam gegen Gottes Wort und im Vertrauen auf die Vorsehung, daß treuer Fleiß am angewiesenen Ort schon zum Guten führen werde. Die letztere beschäftigt sich mit der Gestaltung des Lebensganzen in Staat, Kirche und Schule zu einem Ausdruck des göttlichen Wortes und ist in dem Gefühl der göttlichen Berufung und Autorität lediglich den regieren- den Ständen und Personen anvertraut; sie bessert und regiert das System, innerhalb dessen der einzelne an seinem Ort Gott dienen soll, und hat ihre höchste Aufgabe lediglich in der ruhigen, friedlichen, ehrbaren und gottseligen Ordnung des Systems, dem sie selbst vorsteht, während sie um den allgemeinen Weltlauf sich zu kümmern auch ihrerseits keinen Beruf hat. Die persönliche Privatmoral hat ihren Ausgangspunkt durchaus im Glauben, im lutherischen Sinne dieses Wortes. Da dieser Glaube aber bei aller Betonung des Vertrauens und des praktischen Gefühls doch immer die Bejahung bestimmter religiöser Gedanken ist, so muß dieser Glaube gerade zum Zweck der vollen Hervorbringung seiner Folgen ein klarer und deutlicher sein. Er muß Bibel und Dogma gegenwärtig haben und darf mit der fides implicita des Katholizismus sich nicht begnügen, die ja ihre gedankliche Unvollständigkeit durch die Hauptsache, den Ge- brauch des heiligenden Sakraments-Wunders, bei weitem ersetzt. Der lutherische Christ muß vielmehr völlig bibelfest und rechtgläubig sein und gewinnt beide Eigenschaften durch häufigste Teilnahme am. Predigtkultus,

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häusliche Bibcllcktürc, endlos wiederholten Katechismusunterrichl und reichliche theologische Literatur. Das Mittel zur Lebendigmachung dieses doktrinären Glaubens ist das nachdrücklich eingeschärfte Gebet; selbst der Bettler soll das dargereichte Brot mit Gebet und Lied verzehren. Als weitere Tugendmittel oder Förderungsmittel sittlicher Leistungsfähigkeit dienen die Privatbeichte und etwa aufzunehmende asketische Gelübde, diese aber in voller Freiheit und abhängig von der Tauglichkeit für die individuelle Persönlichkeit und Lage. Dabei muß dieser Glaube aus der tiefsten Empfindung erbsündiger Verlorenheit hervorgehen, sein ein- ziger Beweis und Rechtstitel ist ja, daß er dem absolut verlorenen und nur durch ein Wunder errettbaren Menschen eben gerade das Wunder darbietet, dessen er bedarf: das Wunder der stellvertretenden Büßung Christi für seine Sünden und das Wunder der Bekehrung durch die diese Büßung ihm gewiß machende inspirierte Bibel. Die Befestigung des rechten Glaubens ist also zugleich möglichste Selbstvcrsetzung in die Sünden- und Unwürdigkeitsstimmung. Der Kampf gegen die Reste der Erbsünde im eigenen Selbst, die tägliche Buße, soll das Leben erfüllen, und ebenso soll der Haß gegen die das ganze Gemeinschaftsleben ver- giftende Sünde ihn nie verlassen. Am Glauben ist so das Wichtigste die durch ihn vermittelte Seligkeit, die Wiedervereinigung mit Gott, die von den Theologen nicht mit Unrecht als unio mystica gefeiert worden ist und deren Beschreibung durch der katholischen Mystik verwandte Aus- drücke nur den ursprünglichen mystischen Ausgangspunkten und weit- indifferenten Gefühlen Luthers entspricht. So erhält sich in dieser Mystik, in der Bekehrungsstimmung und in der starken Jenseitshoffnung das aske- tische Moment des Christentums. Es ist ein Unterbrechen des gewöhn- lichen Laufes und Ausruhen in dem einzigen rein und absolut göttlichen Moment des Christenstandes, in der Sündenvergebungsgewißheit, während alle übrigen Momente aus Göttlichem und Menschlichem gemischt sind und schließlich doch nirgends einen Wert in sich selbst haben, sondern nur immer neue Anläufe und Versuche sind, von denen aus der Christ immer auf das Rechtfertigungsheil zurückgeht. P'ür gröbere Naturen freilich nahm diese Mystik dann mehr den Ausdruck der Zuversicht und des Vorsehungs- glaubens an, daß dem Bekehrten alle Dinge und alles Handeln zum Besten dienen müssen, daß er daher in ehrbarer Fröhlichkeit der Welt genießen dürfe und nur sein Geschäft mit Fleiß und Treue zu besorgen habe. Die ersteren konnten sich mehr auf den früheren, die letzteren mehr auf den späteren Luther berufen, obwohl in Luther selbst beides immer eng ver- bunden geblieben ist. Aus solchem Glauben ging die Moralität des täglichen Lebens hervor. Es ist die Moralität der Gottesliebe; denn die Liebe des Versöhnten zu Gott bestimmt alles Handeln. So ist zunächst die Moralität des persönlichen Verhaltens zu sich selbst nichts anderes als die Selbst- bewahrung in der Liebe zu Gott und in der Rechtfertigungsgnade, die nur dann möglich ist, wenn wir alle Forderungen des natürlichen Gewissens

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aus Liebe und Dankbarkeit gegen Gott und in der Gesinnung der Demut gegen ihn erfüllen. Mögen diese Forderungen mehr gelehrt aus der an- tiken Moral oder mehr populär aus Jesus Sirach und verwandten Schriften entwickelt werden, immer handelt es sich darum, die allgemeinen Forde- rungen der Wahrhaftigkeit, Keuschheit, Mäßigkeit, Tapferkeit, Besonnen- heit, Gewissenhaftigkeit, Geduld aus der richtigen geistlichen Gesinnung heraus, d. h. nicht als gute Werke oder Leistungen der Vernunft, sondern als Wirkungen der Gnade und Hingebung an die göttliche Liebe demütig zu betätigen. Dem Nächsten gegenüber wird diese Gottesliebe, da wir Gott ja nichts geben, sondern nur seine Gesinnung gegen die anderen betätigen können, zur religiösen Nächstenliebe, Es gilt um Gottes willen den Nächsten zu lieben. Diese Liebe betätigt sich freilich zunächst in Milde, Güte, Gerechtigkeit gegen alle und besonders gegen die Nächststehenden; aber ihre Hauptbetätigung ist doch der gewissenhafte und fleißige Dienst an dem verordneten System der natürlichen Berufsformen. Die Arbeit in den Berufsformen ist das „große Werkhaus der Nächstenliebe", und auch die Wohl- tätigkeit tut am besten, ihre Gaben der berufsmäßigen öffentlichen Armen- pflege zuzuwenden. Die Berufstätigkeit ist dabei freilich wiederum vor allem eine Äußerung der Demut gegen Gott, die sich in die von Gott durch die natürliche Ordnung gegebenen Lebensbedingungen fügt, und ein Liebes- dienst, der nicht für das eigene Wohlergehen, sondern für die Ordnung und das Gedeihen des Gemeinwesens arbeitet, da der Mensch nun einmal im Fleische lebt und das Fleisch einer solchen g-edeihlichen Ordnung be- darf. Die Äußerungen hierüber nehmen freilich oft in populärer Abplattung- den Charakter einer etwas philisterhaften, nur durch die Klagen über die Erbsünde eingeschränkten Weltzufriedenheit an. Aber in Wahrheit ist doch der Grundgedanke der innerweltlichen Askese dabei keineswegs auf- gegeben. Nichts Weltliches hat einen Wert in sich selbst; alles dient nur dem religiösen Zweck. Künste und Wissenschaften sind nur für die Er- bauung oder für den Nutzen. Die Adiaphora oder die erlaubten Ver- gnügungen sind im Grunde doch nur ein starker Trumpf gegen die pa- pistische und calvinistische Werkheiligkeit, und alles Handeln kann vor Gott im Grunde nur bestehen, weil es von Christi Genugtuung gedeckt ist. Das Leben bleibt im Grunde ein täglicher Kriegsdienst gegen den Teufel, und die eigentlichste Erprobung der Rechtfertigungsseligkeit ist nicht so- wohl der Berufsgehorsam als die Unterwerfung unter die zahllosen Leiden, die in der sündigen Welt dieses Berufswirken mit sich bringt. Die strengen Gebote der Bergpredigt, die viel von den Ethikem besprochen werden, bleiben an sich überall in Geltung als Gesinnungsregeln; sie sind überall da in Kraft, wo es der Christ als Christ mit dem Christen zu tun hat. Mit dem wirklichen Leben und seinen Bedürfnissen werden sie nur ver- mittelt, indem echt lutherisch überall der innere christliche Mensch und sein ihm aus der natürlichen Ordnung erwachsendes Ann unterschieden wird. In der erbsündigen Welt ist die natürliche Ordnung der Lex na-

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turae oben eine Ordnung' des Zwanges, Rechtes und Privateigentums, und daher ist der Christ nach seinem natürlichen Amt berechtigt und ver- pflichtet zu Kriegsdienst, obrigkeitlicher I^'unktion oder Gehorsam gegen die Obrigkeit, zum Gebrauch der Gerichte? und des lüdes, zum Kigenbesitz und Erwerbsstreben; alles das tut er nicht unmittelbar als Christ, sondern als Glied der natürlichen Ordnung, unter welche freilich Gott zum Zweck der Züchtigung der Gottlosen und des Schutzes gegen die Gottlosen, zum Zweck der äußern Ordnung und Disziplin, auch die Christen beugt. So sind Demut und Liebe gegen Gott die Grundmotive dieser Ethik. Darüber tritt die Persönlichkeit als solche zurück. Die Liebe gegen Gott stärkt und erfüllt nicht die Persönlichkeit zum selbständigen, souveränen Gewissen, sondern bewirkt vor allem Hingabe und Ergebung. Die Liebe gegen den Nächsten bereichert nicht vor allem die Persönlichkeit durch gegenseitige Ergänzung und Verstärkung des sittlichen Charakters, sondern gibt um Gottes willen und im Selbstverzicht, weil wir Gott nichts geben können und uns daher an die Menschen halten müssen; zudem fügt sich der Christ bei diesem Geben an die Mitmenschen in das naturgew'achsene, von der Vor- sehung bewirkte Gefüge des nun einmal gegebenen Gemeinlebens. Nur an einem Punkte macht sich die Selbständigkeit der gotterfüllten Persön- lichkeit geltend, im Bekenntnis zum wahren Glauben. Dies muß auch gegen den Widerspruch einer ganzen Welt behauptet werden; auch gegen eine ungläubige Obrigkeit ist hier der passive Widerstand erlaubt; ja nach gelegentlichen Äußerungen Luthers glaubten manche noch über den passiven Widerstand hinaus auch zu aktivem Angriff gegen eine aus dem Gesetz sich heraussetzende Obrigkeit vorgehen zu dürfen. Im ganzen aber überwiegt auch hier die Begrenzung auf den passiven Widerstand und auf das Leiden für die Wahrheit. Und das ist von zahllosen Christen, insbesondere von zahllosen treuen Geistlichen, in schweren Zeitläuften auch opferfreudig betätigt worden.

Die öffentliche Moral bezieht sich auf das geistlich-weltliche Lebens- öffentliche ganze der christlichen Gesellschaft. Auch sie steht unter dem Prinzip des religiösen Liebesgedankens. Die gegenseitige Liebe und Förderung der in diesem System vereinigten Elemente ist die Aufgabe, um in der Darstellung einer solchen von der Liebe beseelten Gemeinschaft Gottes Ehre zu verkünden. „Auf daß wir ein geruhiges und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit" heißt es in der Haustafel des kleinen Katechismus oder mit den Worten Seckendorffs: „Es bestehet die landesfürstliche Regierung in Erzielung und Behauptung gemeines Nutzens in geistlichen und weltlichen Sachen. Der letzte Zweck soll sein die Ehre Gottes." Dabei kommen aber als die eigentlichen Elemente dieses geistlich- politisch-wirtschaftlichen Lebenssystems nicht die Einzelindividuen, sondern in mittelalterlich-ständischer Denkweise die Stände in Betracht, die drei großen Hierarchien, wie Luther sie nennt: die Hierarchie der Fürsten, des Adels und der Beamten, die Hierarchie des Predigtamtes und die Hier-

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archie des Hausstandes, wozu Luther noch als vierten den „gemeinen Orden der Christenheit" oder die im Beruf arbeitende und dienende Masse rechnet. So handeln dementsprechend auch Juristen, Theologen und Nationalökonomen von diesen Dingen unter dem Titel des dreifachen Status, des Status politicus, ecclesiasticus und oeconomicus. Jeder dieser Stände soll dem andern Dienst und Liebe erweisen um Christi willen und dafür seine eigene Ehre genießen: die Obrigkeit, indem sie dem geist- lichen und weltlichen Wohle mit ihrem ganzen Machtapparat dient; der Klerus, indem er Obrigkeit und Volk die göttliche Wahrheit auslegt, beide zu christlichem Sinn ermahnt und die Geschäfte der Seelsorge übernimmt; die Masse, indem sie aus Liebe zu ihren landesväterlichen Obrigkeiten, zu ihren Lehrern und Seelsorgern und zum Besten des Ganzen willig dient und gehorcht und arbeitet. In dieser christlichen Gesellschaft gibt es keine Tyrannei, hat das Individuum den Anspruch auf Fürsorge und Rechtsschutz und Sicherheit des Eigentums; aber es gibt auch keinen unruhigen und neuerungssüchtigen Hochmut. In allem soll vielmehr die Liebe herrschen. Soweit aber Gottes Vorsehung diese Liebesgesellschaft auf die natürlichen Ordnungen des Rechts und der Gewalt begründet hat, ist auch der Rechtsgesichtspunkt und der Gewaltgebrauch erlaubt und Pflicht, alles nach Anordnung der diese weltliche Ordnung als ihren be- sonderen Beruf verwaltenden Obrigkeit.

Der wStaat ist, wie das bei einer rein religiösen Abzweckung des Lebens immer der Fall sein muß, lediglich eine sozialeudämonistische An- stalt zum Zweck der Aufrechterhaltung der Ordnung, des Friedens, des Eigentums nach innen und außen. Was er darüber hinaus leistet, das leistet die Obrigkeit als der große christliche Bruder, der in der christlichen Gemeinde die meiste äußere Macht und Wirkungsmöglichkeit und daher den göttlichen Beruf zum Dienst mit diesen Mitteln für die Kirche hat. In diesem Sinne verwaltet der Staat die Kirche, die Schule, das Armen- wesen; er erläßt Luxusgesetze, Kleiderordnungen und dem wahren ehr- lichen Wert der Waren entsprechende Preistaxen, er gibt Sittenmandate, handhabt durch seine kirchlich -juristischen Behörden die Exkommunika- tion, die Ketzer- und Hexenprozesse und die Zensur. Soweit er ledig- lich als Staat handelt, übt er im göttlichen Auftrag die Regalien, die Justizhoheit, das Münzrecht und Steuerrecht aus als der Inhaber der Zwangs- und Rechtsgewalt; hier ist sein Beruf teils die Pflege des Ganzen, die Konservation der einzelnen Stände und Nahrungen, teils die strenge Unterdrückung der Sünder und Ungläubigen, die er in dem rohen Straf- recht mit seiner Inquisition, Tortur und den strengen Strafen nachdrücklich ausübt. In Milde und Strenge ist er ein Abbild Gottes, und sein Beruf ist in seiner Ausübung- von Gottes Gnaden und nur Gott verantwortlich. An seiner Berufswürde nimmt Anteil der Beamtenstand, der, nach bur- gundischen und österreichischen Vorbildern zunächst gestaltet, doch in lutherischen Landen eine eigentümliche Würde und Pflicht der Ehrlichkeit

('. Der AU-I'rotestantismus (i(). und 17. lahihundciti. I. Das l.uthcrl\nii. 3:1

und der sozialen Hochstelluni»' gewinnt, „l^or Hauptzweck dessen allen ist", sagt Seckendorff, „die heilsame Erhaltung der Polizei oder ganzen Regiments in seiner Ehre, Krafft und Hoheit, und das letzte Ziel ist die Ehre Gottes", und dabei sind die Beamten und Geistlichen, sagt derselbe Autor, „nicht eigentlich Untertanen, sondern Werkzeuge".

Nicht zu vergessen sind d^ibci die Halb -Obrigkeiten, die adeligen Standesherren, denen für ihre Gutsbezirke eine ähnliche wStellung zukommt wie der Obrigkeit für das Ganze, und die zwar von der Gesamtobrigkeit möglichst unter den gemeinen Nutzen gebeugt werden, die aber doch Anspruch auf Gehorsam haben. Die Obrigkeit wehrt ihnen das Bauern- legen und die Ausdehnung der Jagdrechte, aber die Pflichtigen selbst dürfen ihnen nicht widerstehen. Die Beugung der Feudalen unter den Beamtenstaat und andrerseits die Sicherstellung adliger Macht im Guts- bezirk ist gleicherweise eine Wirkung lutherischer Staatsethik. Der Junker wird höfisch nach oben, nach unten aber zu Gottes Stellvertreter im kleinen. Die Sächsische Ritterschaft trägt 1672 auf Haustaufe an, „denn es w^äre doch disreputierlich, wenn ein vornehmes Kind mit demselben Wasser getauft würde, mit welchem gemeine Kinder getauft sind".

Die Kirche als geistliche Führerin betätigt ihre Liebe vor allem durch Reinhaltung der Lehre. Der furchtbare Doktrinarismus des Luther- tums ist die naturgemäße Folge des Glaubensbegriffes, Wo persönliche Überzeugung die Religion ausmacht, muß die Religionswahrheit genau bekannt sein, und da ist dann zwischen Fundamental- und Nicht-Funda- me ntalartikeln nur ein fließender Unterschied. Soll Einheit des Glaubens herrschen, so muß der Glaube genau definiert sein. Daneben steht die sittliche Vermahnung gegen alle Stände, die praktisch freilich oft mehr gegen die Kleinen sich richtet als gegen die Großen. Die Erziehung der Unmündigen und Unwissenden, die Behandlung der Gemeinden als unwürdiger und grober Christen ist auch hier der Hauptcharakter des Systems. Als Patronatspfarrer sind die Geistlichen Stützen und Organe der Gutsherrschaft. Einfluß und Wirkung dieser Geistlichkeit auch auf das innerste persönliche Leben kann nicht gering gewesen sein. Denn ihre Erziehung hat den Volkscharakter auf Jahrhunderte bestimmt.

Am schwersten zu umschreiben ist die besondere Gestaltung der Liebespflichten des Nährstandes. In Haus und Familie gilt Liebe und Zucht. Hausandacht und religiöse Erziehung sichern den wahren Familien- sinn. Der Hausvater ist für die Familie, was die Obrigkeit für das Land. Die Frau soll als Schwester in Christo geachtet werden, doch steht sie völlig unter der patriarchalischen Gewalt des Mannes. Heiraten sollen früh geschlossen werden; Gefahren der Übervölkerung sind noch unbekannt; man denkt nur an die Gefahren außerehelichen Geschlechtsverkehrs. Kin- der sollen zahlreich im Vertrauen auf Gottes erhaltende Vorsehung gezeugt werden. Zum Hausstand gehört der Gesindestand, das Betriebspersonal, die Dienerschaft; sie unterstehen der gleichen patriarchalischen Verpflich-

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tung und sollen dienen, als ob sie Christo dienten. Alte und Invalide sollen vom öffentlichen Armen wesen versorgt werden. Der Hausstand und die Hauswirtschaft ist auch die Grundform der wirtschaftlichen Berufs- arbeit. Dabei ist die Berufswahl eine von Hause aus sehr eng begrenzte; sie steht innerhalb des Schemas der gegebenen ständischen Gliederung von Adel, Bauern, Städten und hält sich innerhalb dieser Stände wieder an hergebrachte und rechtlich abgegrenzte Gruppen. „Zu diesem Zweck", sagt Seckendorff, „ist in etlichen Landesordnungen die gemeine Satzung, daß ein jeder Stand bei seiner hergebrachten Nahrung bleiben, der Adel z. B. seiner Güter sich nähren, der Bürger der Kaufmannschaft und Hand- werks auch Schenkens und Brauens sich gebrauchen und der Bauersmann dem Ackerbau obliegen soll, doch alles nach Maße des alten Herkommens und jedes Ortes Gelegenheit." Dabei ist das Handwerk durch „Zucht- und Handwerks - Regeln oder Gilden- und Innungsbriefe" geregelt und der Kaufmannstand durch Preistaxen und Aus- und Einfuhrbestimmungen zu ehrbar bescheidenem Gewinn genötigt. Auch die verschiedenen Bauem- kategorien werden zum Verbleiben in ihrem Stand ermahnt, die Taglöhner und Dienstboten insbesondere, „daß sie bei billigem Lohn und fleißiger Arbeit verbleiben; denn ohne dieselben werden alle anderen Handtierungen und Haushaltungen gestopfet und gehindert". Die freie Berufswahl und das Vorwärtsstreben sind also sehr gehindert, die liberalen Berufe außer dem juristischen, geistlichen und Schulamt fast ganz ausgeschlossen, Schauspieler und freies Literatentum unmöglich; besondere individuelle Begabungen können durch Stipendien in das höhere Schulwesen und da- durch in die höheren Klassen vorrücken. Strenges Verbot des Müßig- gangs und des Bettels fordert eine unausgesetzte Arbeitsamkeit; daß aber die Arbeit innerhalb des gegebenen Systems nährt, das ist teils durch den Vorsehungsglauben, teils durch die Wirtschaftspolitik der Regierungen und die Dünnheit der Bevölkerung gesichert. In möglichst abgeschlossenen Handels- und Erzeugungsgebieten wird nach dem Prinzip des Xahrungs- schutzes jedem seine Sphäre garantiert; dafür ist er Fleiß und Dienst- willigkeit schuldig. So ist zu erwarten, daß „keinem Untertanen die Not- durft zu seinen Lebensmitteln außer sonderbarer Strafe und Verhängnis Gottes und sein Verschulden mangele". Beweglichkeit der Güter und des Besitzes, auch der Menschen, wird nach Möglichkeit verhindert, Fremde und X'agabunden werden abgeschoben. Das Ziel der Arbeit ist, wie für die mittelalterliche Wirtschaftslehre, das Auskommen und das Übrighaben für Liebeszwecke. Der Reichtum und Überfluß ist volkswirt- schaftlich erwünscht, aber kein Ziel für das Individuum. Es ist nicht bloß der überwiegend agrarische Charakter des Luthertums und der Boden unentwickelter wirtschaftlicher Verhältnisse, der sich in dem Ausschluß oder der äußersten Einschränkung des Zinses äußert. Es ist die religiös- ethische Abneigung des Asketismus gegen den Besitz und seine Gefahren, die hier vor allem wirkt. Die Pflege des innern Menschen und des Ge-

(". Der Alt-Protestantismus (l6. und 17. Jahrhundort). II. Der Calvinisnius. 77-}

fühlslebens , die Verwerfung- der sündigen Welt und ihrer Versuchungen läßt trotz mancher obrigkeitlicher merkantilistischer Versuche den Geist des Kapitalismus nicht aufkommen. Eine so erzogene Bevölkerung stellt gute Beamte, gute yntertanen, g'ute Soldaten und willige Arbeiter, aber bringt keine Initiative und Planmäßigkeit des individuellen wirtschaftlichen Handelns hervor. Es ist eine sonderbare Verschränkung gegenüber dem Calvinismus. Ist dieser in seiner puritanischen Strenge dem Vergnügen und dem Lebensgenuß viel feindlicher als das Luthertum, so ist wiederum die Askese des Luthertums der Entwicklung der modernen Wirtschaft und des Kapitalismus, der Technik und der Unternehmungslust viel feindlicher als der Calvinismus, der diese Dinge für das Gedeihen des christlichen Gemeinwesens benutzen zu müssen meint. Hier wirken Mittelalter und kanonisches Recht im Luthertum fort, während der Calvinismus es hier scharf durchbrochen hat, um an anderen Punkten um so schroffer alte Wege zu gehen.

Alles in allem ist die ethische Kultur des Luthertums eine Kultur Oesamt- des christlichen Patriarchalismus. Wenn sie auch durchgehends die Züge lutherischen der seit dem Scheitern der Reichsreform, der Niederschlagung des Bauern- krieges, der großen Preisrevolution und der Änderung der Handelswege überall sinkenden deutschen Kultur zeigt, so ist sie im eigentlichsten Wesen doch bedingt durch den religiösen Geist Luthers. Sie ist die gleiche in den von der theologischen Literatur Deutschlands abhängigen skandinavischen Ländern, und sie wirkt fort, auch nachdem der enge konfessionelle Kleinstaat zerbrochen und der deutsche Niedergang über- wunden war: sie setzt sich fort in der Gemütstiefe und dem Gefühlsreich- tum der neueren deutschen Poesie und Spekulation, in dem patriarchalisch bevormundenden Geiste des fridericianischen Absolutismus, in der Orga- nisationslosigkeit und Bescheidenheit des deutschen Arbeiters bei Beginn der Industrialisierung Deutschlands und in den sozialethischen Programmen der konservativen Partei. Vielleicht führt von hier aus eine leise Nach- wirkung auch zu dem alle geistige Kultur und Religion in sich auf- nehmenden Staat Hegels, der freilich in das Corpus Christianum die ganze Fülle modemer weltlicher Ethik aufnimmt.

IL Der Calvinismus. Ein ganz anderes Bild bietet trotz der nah- Verwandtschaft verwandten theologischen Grundlage der Calvinismus. Hier herrscht Ein- von Luthertum

,. 1/-^ n 1 1 1 11 1 11 undCalvinismus.

heit und Gesamtbewußtsem trotz des auch hier selbstverständlichen landes- kirchlichen Prinzips, hier gibt es gemeinsame Aktion und sogar ein refor- miertes Gesamtkonzil, hier findet Fortschreiten und Ausbreitung im weitesten Maße statt, hier wird auch die profane Kultur ganz anders von der geist- lichen angeeignet, befördert und organisiert. Der Grund dieser anders- artigen Entwicklung liegt teils in der anderen Art ihres Bodens es ist der geistig, politisch und wirtschaftlich höchst entwickelte Teil Europas, der nach Eintritt der spanischen Friedhofsstille in Italien die Führung auf

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

allen Gebieten übernimmt , teils in den besonderen Geschicken dieses Teils von Westeuropa, den Fügungen des Kriegsglücks und den Wand- lungen der vSeeverhältnisse, die gerade Holland und England zu großen Seemächten werden ließen, teils und vor allem in eben den Abweichungen der religiösen Idee, die den Calvinismus von seiner Grundlage im Luther- tum schieden. Es ist die Aufnahme der täuferisch-spiritualen und pietistisch- ethischen Elemente in das System Calvins, die ihm von Straßburg aus zugeflossen sind, die eiserne Festigkeit, die der Prädestinationsgedanke einzuflößen vermag, die Ausbildung einer biblisch begründeten Kirchen- organisation, die dem lutherischen, tatsächlich an katholische Überliefe- rungen sich anschließenden, territorialkirchlichen jus humanum ein anti- katholisches, evangelisches jus divinum zur Seite stellt, und schließlich die strenge Einheitlichkeit der Lehre, die, von Hause aus im Besitz der einzigen wirklichen Dogmatik des Reformationszeitalters, der christlichen Institution, von den Unsicherheiten und Lehrstreitigkeiten der werdenden lutherischen Dogmatik verschont geblieben ist und trotz verschiedener landeskirchlicher Konfessionen doch eines eigentlichen Symbols nicht mehr bedurfte. Auch hier ist es ein Zeitalter des Krieges, das von der neuen Kirchenbildung eröffnet wird. Aber der Krieg wird nicht möglichst vermieden und er- staunt oder widerstrebend als göttliche Züchtigung für sündige Unvoll- kommenheit hingenommen, sondern als die natürliche Folge der Kirchen- spaltung' begriffen und daher nicht bloß zur Verteidigung, sondern auch zum Angriff und zur Sicherung geführt. Die Gotteskriege des Alten Testamentes und die Stimmung der Kreuzzüge lebt wieder auf; militä- rische Ausdrücke wie die Armee der Heiligen, der Kriegsdienst Christi, das Fähnlein Jesu, beherrschen die calvinistische religiöse Sprache. Ausbreitung. Genf lag im Zentrum Westeuropas vor den Toren Frankreichs, Ita-

liens und Deutschlands und unter dem Schutz der Eidgenossenschaft; der geistliche Diktator Genfs sah in ihm das große Seminar einer calvi- nistischen Weltkirche, die durch die verschiedenen Landeskirchen sich er- strecken sollte. Zunächst führte die Verbindung mit der Eidgenossenschaft zu einer Vereinigung mit den Zwinglischen Kirchen der Schweiz, die an ihrem Staatskirchentum und ihrer Theologie nichts änderten, aber all- mählich von selbst dem calvinischen Geiste erlagen. Im Consensus Tigu- rinus (154g) schließt Calvin ein Kompromiß in der Abendmahlsfrage mit Bullinger, dem Nachfolger Zwingiis, und nach mancherlei Reibungen wird umgekehrt auch die von Bullinger für den Pfälzer Friedrich III. verfaßte Bekenntnisschrift von Genf anerkannt (1564). So entsteht die Confessio Helvetica posterior, eines der Hauptbekenntnisse des Calvinismus. Noch näher stehen Calvin die Nachbarkirchen der französischen Schweiz, die von Farel organisierte Neuenburger und die von Viret in beständigem Kampf mit der bernischen Obrigkeit geleitete Waadtländer Kirche. Weiterhin erwirkt Calvin den piemontesischen Waidensem durch eine schweizerisch-deutschfürstliche Gesandtschaft Ruhe. In dem autonomen.

C. Dol Alt-Protestantismus (l6. und 17. Jahrhundert). II. Der Calvinismus. ^^s^

der Schweiz verbündeten Graubünden bekennt sich ein Teil der dort frei sich bildenden Gemeinden zur Confessio Helvetica posterior. Auch weit nach dem Osten reicht die Propaganda: in Polen schließt ein Teil des halbsouveränen Adels und der Städte, in den Wirren Ungarns der über- wiegende Teil der Magyaren sich dem Genfer Glauben an, während die Deutschen des Ungarlandes dem Luthertum verbleiben. Auch in Deutsch- land selbst macht der Calvinismus mächtige Fortschritte, indem das in der Konkordienformel sich verengende Luthertum ihm die Anhänger des Philippismus und eines weniger intoleranten Luthertums in die Arme trieb; dabei blieben hier meistens die Grundzüge des lutherischen Staatskirchen- tums bestehen. Der wichtigste Gewinn war die Kurpfalz, wo Friedrich IIL im Heidelberger Katechismus ein Hauptsymbol des gemäßigten Calvinis- mus schuf. Dann folgten Nassau-Dillenburg und einige benachbarte Graf- schaften, Hessen-Kassel, Bremen, Anhalt, Lippe. In Kurbrandenburg trat Johann Sigismund zu ihm über und legte damit den Grund zur Unions- politik seines Hauses. Eine echt calvinische Kirche sind aber unter allen diesen deutschen Gebieten nur die niederrheinischen und ostfriesischen Synodalkirchen, die von niederländischen Flüchtlingen organisiert werden und lange Zeit nach den Niederlanden gravitieren. Es handelt sich hier- bei stets um die höchstkultivierten und unter dem Einfluß des Westens stehenden Teile Deutschlands. Der Calvinismus genoß nicht nur das An- sehen der ethisch strengeren, sondern auch das der feineren und vorneh- meren Religion, wie ja auch in dieser Hinsicht bereits Calvins Persön- lichkeit sich charakteristisch von der Luthers unterschieden hatte, und wie die calvinistischen Fürstenhöfe hierin den lutherischen vorangingen.

Das Wichtigste aber ist die Ausdehnung nach dem Westen, nach Frankreich, den Niederlanden, Schottland und England.

Seiner französischen Heimat war Calvins Liebe vor allem zuge- wandt, soweit für den Theologen nationale Gesichtspunkte überhaupt in Betracht kommen dürfen. Ganz persönlich hat er durch seinen Einfluß und seine geistliche Beratung den dortigen Evangelischen, die von huma- nistischen und lutherischen Anfängen her sich längst ihm zugewandt hatten, die Notwendigkeit an das Herz gelegt, ihren Glauben zu bekennen und sich zu organisieren; das heimliche und unorganisierte Dasein sei bequemer und ungefährlicher, aber das Bekenntnis sei Pflicht und Be- dingung des Erfolges. So entstand 1559 auf einer Versammlung in St. Germain die französische Hugenottenkirche mit ihrem Bekenntnis und ihrer discipline ecclesiastique. Zugleich erstand in Coligny der franzö- sischen Kirche ihr großer Führer, und die religiöse Bewegung verband sich mit den dem werdenden Absolutismus entgegenstrebenden Elementen. In einer Reihe blutigster Kämpfe errang sich diese Kirche dann endlich im Edikt von Nantes 1598 die Duldung ihrer Organisation und militäri- sche Garantieen ihres ungestörten Daseins. So blieb sie 31 Jahre lang unter weiteren Kämpfen ein Staat im Staat, bis sie ihrer politisch-mili-

^^Ö Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

tärischen Sonderorganisation beraubt und im Gnadenedikt von Ximes 162g auf rein kirchliche Duldung gesetzt wurde. So blieb sie bis zur Wieder- aufhebung des Edikts von Nantes 168.5 und ihrem damit bewirkten Unter- gang. Nicht minder heiß, aber von dauernderem Erfolge war der Kampf in den Niederlanden. In diesen burgundischen Erblanden des Kaisers hatten die lutherische und täuferische Bewegung von Anfang an eine blutige Unterdrückung gefunden, waren aber trotzdem nicht vernichtet, sondern vielmehr zum radikalen Antikatholizismus, zum Genfer Glauben, gedrängt worden, ohne daß übrigens die andern, namentlich die zürche- rischen und spiritualistischen Elemente, verschwunden wären. Calvins Einfluß wirkte auch hier auf Organisation hin. Im tiefsten Geheimnis wurden seit 1560 in den Südniederlanden reformierte Gemeinden gebildet und mit einer Konfession 1561 und einer discipline ecclesiastique 1564 ausgestattet. Daraufhin begann Philipp IL den Vemichtungskampf gegen die schleichende Bewegung, die zugleich unterstützt wurde durch die all- gemeine Erregung gegen das absolutistische spanische Regiment und gegen seine in die ständischen Verhältnisse tief eingreifenden Maßnahmen. Weit über die Kreise der religiös Beteiligten hinaus entstand ein Auf- stand der Nation, Hier kam es auch endlich zu einer Kirchenordnung für die gesamten Niederlande auf der Emdener Nationalsynode 157 1. Das Ergebnis des Krieges und der konfessionellen Wirren war schließlich die Trennung der südlich- belgischen, beim Katholizismus verbleibenden und der nördlich-holländischen evangelischen Provinzen. Die letzteren schlössen 1579 in der Utrechter Union einen Staatenbund, erklärten Philipp für abgesetzt und beriefen Wilhelm, den Schweiger, und dann seinen Sohn Moritz zum Statthalter und Bundesfeldherm. Mit dem Waffenstillstand i6og war die Freiheit und der Besitz des Evangeliums erstritten; die ge- ringen andersgläubigen Minoritäten wurden ohne politische Rechte zur Duldung zugelassen. Der Westfälische Friede erkannte schließlich diesen neuen Zustand auch völkerrechtlich an. Noch länger dauerte der Kampf in Schottland. Dort hatte sich eine lutherische Richtung in den Wirren des Kampfes zwischen Adel und Krone zu behaupten vermocht. Aus ihr ging als Schüler des bereits von Bullinger stark beeinflußten Märtyrers Wishart der furchtlose John Knox (gest. 157-') hervor, der von Anfang an sich und den Seinen den entschlossenen Kampf, des Glaubens gegen den Unglauben zum Grundgesetz machte und im Kampf gegen die ungläubige Obrigkeit die letzten Konsequenzen des Widerstands- rechts bis zum Tyrannenmord zog. Von der Galeere befreit ging er nach Genf und kehrte von da 1555 als der gewaltigste Kämpfer für die cahd- nistische Lehre nach Schottland zurück. Ganz nach den Prinzipien Cal- vins drang er auf Bekenntnis, Kirchenordnung und Organisation. So ent- stand der Covenant, der calvinistische Adelsbund, und auf den Ländereien dieses Adels die „Gemeinde Christi" in Schottland. Damit wurde aber schließlich die allgemeine Reformation des Landes das Ziel, was nur durch

C Der Alt-Proteslantisimis (rC>. und 17. Jahrhundert). II. Der Talvinismus. ^^y

einen Kampf ^'e^-en die Reg-entin und deren Tochter Maria Stuart zu er- reichen möglich war. Mit der Vertreibung Maria Stuarts wurde 1567 durch das Parlament die Aufrichtung der pre.sbyterianischen Kirche möglich und deren Anerkennung in den Kn'niung.seid aufgenommen. Versuche Jakobs VI., diese Bestimmungen wieder aufzuheben, scheiterten und führten 1592 zu einer erneuten Festigung des Presbyterianismus. Aber als Jakob im Krb- gang die englische Krone übernahm, entstanden Versuche, Schottland zu anglikanisieren. Dagegen erhob sich schließlich ein neuer Covenant und gab das Signal zu den großen englischen Kämpfen. In diese hineingezogen erlangte auch Schottland eine völlige Sicherung seiner kirchlichen Lage erst durch die glorreiche Revolution i68g und ist seitdem das strengste calvinistische Land Europas geblieben. Damit ist denn auch bereits schon die Entwicklung des Calvinismus in England berührt. Aber hier ist er nur sehr bedingt zum Siege gelangt, und seine Geschicke sind hier so eng mit dem besonderen Gang der englischen Dinge und der Entwicklung des Anglikanismus verbunden, daß diese wichtigste und folgenreichste Entfaltung des Calvinismus erst bei der Darstellung des Anglikanismus zur Sprache kommen kann.

Der Calvinismus begnügte sich nicht mit Europa, er streckte seine Arme auch nach dem großen Land der Zukunft, nach dem scheinbar vom Katholizismus schon endgültig besetzten Amerika, aus; dies freilich nicht planmäßig, sondern zufälliger- und gezwungenerweise. Auch geschieht es erst ziemlich spät, nachdem sein Besitzstand in Europa abgeschlossen war, im 17. Jahrhundert und im Beginn des 18. Jahrhunderts, Im Süden des Ostrandes ließen sich anglikanische wSiedler nieder in direkter Abhängig- keit von der englischen Krone, die Grundlage des späteren aristokra- tischen, Sklaven haltenden und Plantagen bauenden Südens. Die wSklaverei wurde mit der Verfluchung Hams gerechtfertigt. Von ihnen durch die holländischen Kolonieen getrennt, bauten sich im Norden Scharen von bäuerlichen und handwerkerlichen Puritanern an, die seit der Bedrückung durch die Stuarts England verließen und auf Grund königlicher Charters wenigstens dort freie nonkonformistische und politisch sich selbst ver- waltende Kolonieen bilden durften. Die ersten sind die Gründer von Ply- mouth (1620), die von der amerikanischen Überlieferung so hoch gefeierten Pilgerväter, die Sendlinge der englischen Flüchtlingsgemeinde zu Leyden. Von ihnen ging dann die Besiedelung von Massachusetts aus, des Haupt- staates dieser Gruppe, an den sich bald Newhaven und Connecticut reihten, während die weiter nördlichen Siedelungen von Xew-Hampshire und Maine unter königlichem und anglikanischem Einfluß standen und andrerseits Rhode - Island vom Puritanismus zum Independentismus fortschritt. Die vier erstgenannten fanden sich daher auch bald zu einer Konföderation zusammen, dem Grundstock der späteren Union und des nordamerika- nischen Puritanertums. Dieses war zwar von seinen Ursprüngen her kon- gregationalistisch gefärbt und hielt auch an der Selbständigkeit der

Die Kultur der Gegenwart. I. 4. 22

338 Ernst Trof.ltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

Einzelgemeinde fest, die lokale Selbstverwaltung mit der religiösen Selbst- regierung verbindend. Aber dogmatisch und ethisch wurde der hier kon- sequent und ungehindert entwickelte Puritanismus doch rasch wieder zu einer völlig exklusiven Einheit, die zunächst durch die Betrauung des Staates mit der dogmatischen und ethischen Kontrolle und dann auch durch gelegentliche Synoden der Ortskirchen strengstens behauptet wurde. Er ist schließlich echtester und engster Calvinismus geworden, nur ohne streng S3'nodale Organisation, aber mit um so nachdrücklicherer Behaup- tung des moralisch - religiösen Gemeinschaftsideals durch Staat und Pre- diger, die überall gemeinsam operieren. Eine von Hause aus bereits korrekt calvinistische Einwanderung geht erst von den schottisch-irischen Presbyterianem aus, die dem Druck der anglikanischen Kirche wichen und die strengsten schottisch - genferischen Prinzipien, Calvins kirch- liches jus divinum, mitbrachten. Dazu kamen dann später Nachschübe strenger Schotten, und holländische, hugenottische und pfälzische Ein- wanderungen, die sämtlich ihr besonderes Kirchentum aufrichteten. In diesem nordamerikanischen Calvinismus, verbunden mit der angelsächsi- schen Selbstverwaltung und der Stählung durch den harten Kampf des Koloniallebens, bildeten sich die Charakterzüge der zur zukünftigen Herrschaft berufenen Rasse, deren Freiheitssinn, strenge Moralität und granitene Gläubigkeit sie zum Beherrscher des hier entstehenden Völker- gemisches, zur bildenden Kraft im Zentrum der modernen Völkenvande- rung machen sollte. Reformierter Ihre Festigkeit erhalten alle diese Schöpfungen durch den reformierten

derTheokratie. KirchenbegrifF. War der lutherische Kirchenbegriflf in seinem gläubigen Idealismus und seinem unbedingten Vertrauen zu der die Bekehrung wirken- den Wunderkraft des reinen Evangeliums ein sehr allgemeiner und un- bestimmter Glaubensbegriff, so war eben auch von einem solchen Kirchen- begriflfe aus eine Organisation sehr schwer möglich. Er umschloß in allen äußerlichen Kirchenverfassungen der Welt alle, die irgendwie durch diese Vermittelung mit dem reinen Evangelium in Berührung kamen. Die Kirche ist erkennbar nur am reinen Wort und Sakrament, und das kann über die ganze Welt hin in den buntesten Formen enthalten sein; aber Wort und Sakrament sind göttliche Wunderkräfte und werden nicht leer zurückkommen. P^ür eine Organisation blieb unter solchen Umständen naturgemäß nichts anderes übrig, als alle Ordnungen der weltlichen Obrig- keit zu überlassen und die Kirche lediglich an der rechten Lehre erkennbar zu machen und dementsprechend auch im Predigt- und Schulamt für reine Lehre zu sorgen. Die lutherischen Kirchen wurden landesherrliche Predigt- anstalten, die von sich aus nur für reine Lehre zu sorgen haben; denn diese allein \ollbring1; in verborgener Weise das Wunder der Rechtfertigung. Je mehr die lutherischen Kirchen dann gegen Papisten und Sakramentierer sich zu wehren hatten und je weniger sie in diesen fremden Kirchen von reiner Lehre linden konnten, um so mehr engte sich der weite unbe-

C. Der Alt-Protestantismus (l6. und 17. Jahrhundert). 11. Der Cahnnismus. ^^g

.Stimmte lutherische Kirchcnbe^riff auf die Predig-tanstalten der reinen Lehre ein, und um .so gründlicher wurde der zur Aufrechterhaltung- der reinen Lehre notwendige Zwang den Händen der Regierungen über- antwortet. Das Wunder der Bekehrung durch das reine Wort bedurfte stark der Zwangsnachhilfe, wenn es zu Kirchen des reinen Wortes kommen sollte; aber diese unvermeidliche Zwangsnachhilfe wurde dem großen christlichen Bruder, der Obrigkeit, zugeschoben, und die Kirche bewahrte so scheinbar den freien Charakter der rein geistlichen Wunderwirkung durch das Wort. Dabei trat der in dem Bekehrungswunder ursprünglich enthaltene Prädestinationsgedanke immer mehr zurück bis zur Anerkennung der Widerstandsmöglichkeit, und damit fiel dann auch jeder Antrieb weg, die Gemeinde der Heiligen als festen, von Hause aus bestehenden Kern der Kirche zu behandeln, der dem Ganzen den Charakter aufprägen müsse. Die Heilsanstalt der reinen Predigt wendet sich vielmehr an die bald in der Gnade stehenden und bald aus ihr Fallenden und kann nichts tun, als diesen Individuen predigen in der gläubigen Gewißheit, daß das Wort Gottes immer stark genug sein werde, eine erhebliche Zahl zu be- kehren, denen dann als Gerechtfertigten alles übrige und insbesondere die Heiligung immer wieder von selbst zufallen werde. Dem gegenüber ist der reformierte KirchenbegrifF von Hause aus ganz anders angelegt und darum ganz anders zur Organisation befähigt. Er beruht auf der Grundüberzeugung» daß mit einem so unbestimmten Kirchenbegriff, einer solchen Passivität gegenüber der reinen Lehre und solcher Selbstauslieferung an den guten Willen der christlichen Regierung nichts zu erreichen ist. Er rechnet mehr realistisch mit der Notwendigkeit der Organisation und des Zwanges, mit den menschlichen Schwächen der Passivität und Bequemlichkeit und fordert überall die Bildung einer mit den nötigen Garantieen der Kirchen- zucht versehenen und sich auch äußerlich hervorhebenden Gemeinschaft. Aber diese Berücksichtigung der realen menschlichen Charaktereigen- schaften und Dasein.sbedingungen verbindet er auch seinerseits mit dem höchstgespannten Supranaturalismus und vermag sie gerade mit ihm auf eine höchst bedeutsame Art innerlich zu vereinigen und aus ihm zu ver- stärken. Die Kirche ist die von Christus im Himmel regierte Welt- gcmeinde der Erwählten. vSie besteht nicht in Institutionen und Gnaden- mitteln, sondern in den Personen der Erwählten. Das Objektive an ihr ist die Herrschaft Christi, der die Erwählten innerlich regiert und ihnen sein Gesetz gibt. Durchaus spiritualistisch, Innerlichkeit und Persönlich- keitsreligion stärker betonend als das Luthertum, ist sie doch durch die Herrschaft Christi zugleich eine An.stalt wie dieses und nicht ein Verein. Und zugleich vermag der Calvinismus aus dieser inneren Herrschaft Christi die organisierte Landeskirche strenger und praktischer abzuleiten als das bloß von der Sichtbarkeit der Gnadenmittel aus operierende Luthertum. Indem er den im Bekehningswunder enthaltenen Prädestinationsgedanken aufs höchste steigert und die Auswirkung' der Prädestination gerade in dem

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

göttlich bewirkten Glauben an die Bibel bestehen läßt, gewinnt er den Ge- danken einer von Hause aus durch Gott und Christus fest bestimmten Ge- meinschaft der Heiligen; diese aber muß als solche erkennbar sein und ihren Charakter auch der äußerlich kirchlichen Gemeinschaft aufprägen, indem sie alles Unheilige und Unreine ausschließt. Sie braucht nicht erst gesammelt und gebildet zu werden, sondern sie ist da und bedarf nur einer Darstellung. Diese Darstellung bewirkt aber wiederum die Bibel selbst, indem sie das verordnete Mittel der Erwählung ist und zugleich die Grundsätze einer Darstellung und Bewährung der reinen Gemeinde der Heiligen in den allgemeinen Grundzügen einer biblischen Kirchenverfassung enthält. Die mit Predigern, Ältesten, Armenpflegern und Lehrern versehene, die Kirchen- zucht übende Gemeinde ist die von der Erwählung selbst in unserer Zustimmung zu der Bibel gewirkte Darstellung der heiligen Gemeinde. Die Kirche ist so eine Heiligungsanstalt, die ihre Gläubigkeit in der reinen Gemeinde darstellt und die Ungläubigen unter dem Joch der Wahrheit hält zur Ehre Gottes. Sie ist die Königsherrschaft Christi, der unter Ausschluß jeder menschlichen Herrschaft allein durch die Bibel die Gemeinde regiert und in der weltlichen und kirchlichen Obrig- keit seine koordinierten Organe hat; die letzteren müssen sich dabei eine beständige Kritik nach dem Maßstab der Bibel gefallen lassen. Den größeren Rationalismus, den die Berücksichtigung der realen Lebens- bedingungen gegenüber dem Glauben des Luthertums enthält, macht ein gesteigerter Supranaturalismus wieder wett, der die lutherischen Kom- promisse mit der Freiheitslehre und Resistibilität der Gnade verwirft um der strengen, rein übernatürlichen Erwählung willen. An Auschließlich- keit geben sich Calvinismus und Luthertum nichts nach; aber die Aus- schließlichkeit des letzteren ist auf die reine Lehre, die des ersteren auf die reine Kirche begründet. Und die Parole der reinen Kirche ist ein viel stärkeres Organisationsprinzip. Nach lutherischen Grundsätzen be- raten, würden die französischen Evangelischen sich verlaufen haben, nach calvinistischen beraten, haben sie den gewaltigen Hugenottismus geschaffen. Naturgemäß liegt auch in diesem Kirchenbegriff das mittel- alterliche Prinzip der Einheit von Staat und Kirche im Corpus Christia- num, der gemeinsamen Aufrichtung der christlichen Gemeinschaft durch geistliche und weltliche Gewalt zugleich. Das volle reformierte Kirchen- ideal rechnet genau ^vie das lutherische auf die christliche Obrigkeit, die überhaupt die Kirche des reinen Wortes aufrichtet, die volle bürgerliche Oberhoheit über den Geistlichen behält, in Streitfällen endgültig aus ihrer christlichen Einsicht entscheidet und mit ihrer Polizei- und Finanzmacht die Kirche unterstützt. Aber innerhalb dieser Grenzen hat die calvinistische Kirche mehr relative Freiheit, eine eigene Vertretung und Aktionsfähigkeit, und ihre Kirchenzucht bleibt als geistliche immer unterschieden von den bürgerlichen Rechtsfolgen, die der Staat daran knüpfen kann und soll. In ihr geht nicht bloß der Staat, sondern auch die Kirche auf das Ganze

C. Der Alt-I'rotcstantismus (i6. und 17. Jalirhiindcit). II. I)or ("alvinismus. tai

der christlichen Gesellschaft. Die Kirche predigt nicht bloß und wendet sich nicht bloß an tlic einzelnen, der Bekehrung sich öffnenden Individuen; die Kirche ist vielmehr vermög'e der in ihr wirkenden prädestinierenden Gnade eine Hciligungsanstalt und wendet sich an das Ganze, unbeschadet der gleichzeitigen Arbeit der christlichen Obrigkeit für die Herstellung eines heiligen, dem Wort Gottes entsprechenden Volkes.

So sind durch die eisernen Klammern calvinistischer Logik in dem Kirchenbegriff vier schwer zu vereinigende Gedanken eng verbunden: erstens die Innerlichkeit und Individualität des Heilsbesitzes, da die Prä- destination in jedem einzelnen rein für sich und zwar völlig innerlich und geistig wirkt; zweitens die Objektivität der Schrift und der von der Schrift getragenen Lehre und Verfassung, indem die Prädestination ja in erster Linie den Glauben an die Schrift wirkt; drittens die Herstellung einer Gemeinde der Heiligen, insofern alle Gnadenwirkung durch die Schrift ja nur auf die Darstellung der erwählten Gemeinde Christi hinarbeitet und nur in einer solchen Gemeinde die Ehre Gottes sich verwirklicht; viertens die theokratische Verbindung mit dem Staat und die religiös-sittliche Einheit der Territorialkultur, unter welche zur Ehre Gottes auch die Verworfenen gebeugt werden müssen und an der zu arbeiten die christliche Obrigkeit im Gesamtumfang ihrer Tätigkeit zu ihrer Pflicht gegen die Kirche rechnet. In der Vereinigimg von alledem beruht die heroische persönliche Kraft und Überzeugung, der organisatorische Gemeinsinn und die rücksichtslose Herrscherkunst des Calvinismus.

Freilich ist es die Frage, ob diese Vereinigung immer festzuhalten ist. Entwicklung der

Konsequenzen

So ist denn auch in den verschiedenen reformierten Ländern bei der Ver- <ies caUmisti-

schen Kirchen-

schiedenheit der allgemeinen Lage der Stand ein recht verschiedener ge- beprriffes und

^ Auflösung der

worden. Vor allem mußte das Genfer Ideal der Vereinigung von Staat politisch - kirch- lichen Theo- und Kirche zurücktreten, da die meisten Kirchen im Kampf gegen eme uratie.

übermächtige andersgläubige Staatsgewalt entstanden. Doch war das für das Prinzip noch am ungefährlichsten. Denn die Kirchengemeinschaft war so stark, umfaßte so sehr alle Kulturgüter und konnte im Notfall ohne staat- liche Macht, durch rein soziale Wirkung, die Kirchenzucht so strenge aufrechterhalten, daß sie auch ohne Staat bestehen konnte. Auch haben sich die kirchlichen Parteien nach Möglichkeit zugleich politisch orga- nisiert, so daß das Hugenottentum geradezu zu einem Staat im Staate geworden ist. Die Hauptschwierigkeiten liegen vielmehr darin, wieweit die Kirchenzucht sich wirklich die Bevölkerung zu unterwerfen vermag, wieweit der Individualismus sich dauernd an die objektiven Heilsmittel der Bibel und Kirchenverfassung bindet, und wieweit der bei Calvin noch völlig konservative Geist der Unterordnung der Masse unter den geistlich- weltlichen Organismus samt der im Grunde gut mittelalterlichen Beschränkung des Widerstandsrechtes auf die Stände, Vertreter und unter- geordneten Behörden sich gegen radikalere Konsequenzen des Wider- stands- und Kontrollrechtes behaupten läßt.

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

In Genf, dem kleinen GemeinAvesen, das es unternehmen konnte, ausschließlich für die Religion zu leben, und das zugleich durch einen ewigen Krieg mit Savoyen zusammengehalten wurde, blieben die Verhältnisse, wie Calvin sie geordnet hatte, nur daß nach dem Wegfall seiner gewaltigen Persönlichkeit der Staat begreiflicherweise wieder stärker hervortrat. Den Genfer Verhältnissen am ähnlichsten wurden die Schottlands, wo die streng presbyterianisch-calvinistische Staatskirche durch Adel und Parla- ment die Herrschaft des Calvinismus geistlich und weltlich durchsetzte und sich um die Krone wenig kümmerte. Nur hat gerade durch den schottischen Reformator Knox das Widerstandsrecht eine über Calvin völlig hinaus- gehende Umbildung gefunden, indem er auch jeder Minorität, schließlich bei dem Mangel gesetzlicher Vertreter dem Individuum, die Pflicht zu- sprach, einen gottlosen und dadurch aus dem Gottesstaat sich heraus- setzenden Monarchen zu bekämpfen und zu beseitigen. Erst von ihm rührt die alttestamentliche Idee der Bundschließungen und der Ver- werfung der untreuen Könige her. Daher rührt es auch, daß nach der großen englischen Revolution der die schottische Reform ursprünglich tragende Adel größtenteils zum Anglikanismus abfiel. Noch selbständigere Wege aber schlug der Calvinismus in Frankreich ein. Hier stand die Kirche einem mächtigen papistischen Staate gegenüber und verschmolz die kirchliche Opposition mit dem* Versuch des Adels, territoriale Sonder- hoheiten dem Königtum wieder abzustreiten. Zugleich machten sich die Bedingungen eines ausgebreiteten Gebietes geltend, für das das Genfer Muster nicht mehr ausreichen konnte. Daraus entstand die Ausbildung das Calvinismus zur Synodalverfassung und zur kirchlich-parlamentarischen Selbstregierung. Die Einzelgemeinden wurden zusammengefaßt unter Pro- vinzialsynoden und diese unter einer Nationalsynode; in den Pausen zwischen den Versammlungen der letzteren amtierte ein gewählter Vorort. Doch liegen alledem demokratische und rein korporative Gedanken noch ferne. Den Inde- pendentismus hat die Nationalsynode von 1644 aufs schroffste verworfen. Die Geistlichen werden bestellt durch die Nachbargeistlichen oder die Provinzialsynode, das Konsistorium ergänzt sich durch Kooptation, die Wahlen zu den Synoden stehen bei den Presbytern, und die gewählten Vertreter gehen nur aus ihnen hervor; das Übergewicht der geistlichen Führer bleibt gesichert. Immerhin aber ist damit ein folgenreiches Prinzip eines kirchlichen Verfassungsbaus geschaffen und ein föderativ - republika- nisches Ideal nahe gelegt. Auch Schottland hat diese Organisation über- nommen, und von ihm geht dann der große englisch-amerikanische Pres- byterianismus aus. Desgleichen haben die niederrheinischen und nieder- ländischen Kirchen diese Verfassung in der Hauptsache angenommen. Ein zweiter neuer Zug, den der Calvinismus im Hugenottismus emp- fängt, ist die Lösung des Verhältnisses zum Staate. Diese Lösung war im Luthertum nicht möglich, dessen konservatives Naturrecht sich mit dem duldenden Vorsehungsglauben und der Verachtung der erbsündigen

('. Der Alt-Prolcslantismus (i6. und 17. Jahrhundert). II. Der (alvinismus. Tti

Welt dahin vercinig-te, alle Staatsgewalt aus ursprünglicher Gewalttat oder erster Okkupation abzuleiten, sie durch den Erfolg als von Gottes Vorsehung legitimiert anzusehen und sich dieser legitimen Obrigkeit gewissenhaft zu unterwerfen. Der Calvinismus hatte von vornherein ein rationalistisches Naturrecht und einen stärkeren Glauben an die Be- stimmung der von Christus regierten Erwählungsgemeinde zur Herrschaft über die sündige Welt, und konnte es so unternehmen, die Herr- schaft auch gegen die legitime und überkommene Staatsgewalt aufzu- richten oder die Verbindung beider aufzuheben. Aber auch diese Lö- sung ist, soweit der eigentlich calvinistisch-religiöse Gedanke in Betracht kommt, noch rein theokratisch gedacht: nicht Duldung in einem kirch- lich-neutralen Staat, sondern Beseitigung der gottlosen Obrigkeit und ihre Ersetzung durch eine Gott gehorsame Obrigkeit ist der Ge- danke; solange das nicht möglich ist, organisiert sich die Kirche selbst provisorisch als Staat. Sie kämpft nicht um Duldung, sondern um Herrschaft. Die starke Ausdehnung des Widerstandsrechtes und der revolutionären Gedanken war nicht im Sinne Calvins, der im Gegenteil zurückzuhalten und alles in ordnungsmäßige und gesetzliche Wege zu leiten suchte. Aber das war nicht mehr möglich. So tauchte hier wie in Schottland, nur noch viel stärker und prinzipieller, die Lehre von der christlichen Volkssouveränetät auf, eine Benutzung naturrechtlicher Lehren des Mittelalters und des Humanismus, die an sich mit der An- erkennung der indirekten göttlichen Einsetzung der Obrigkeit und mit theokratischen Gedanken sich vertrug: das christliche Volk verwirft den sündigen Herrscher und setzt sich einen neuen, dem es gehorcht; es ist nur ein Notstandsrecht, das dem normalen Zustand der Theokratie bald- möglichst weichen soll. Dabei ist das christliche Volk doch immer nur wirksam gedacht durch die magistrats inferieurs, denen bei dem Ver- sagen der obersten Gewalt zukommt, an deren Stelle zu handeln oder sie zu berichtigen; der Tyrannenmord ist dem Individuum nur auf Grund göttlicher Inspiration wie der Jael und Judith erlaubt. Aber freilich verbinden sich damit in der Leidenschaft des politischen Kampfes rein naturrechtliche und positivrechtliche Theorieen, die nur das Recht der Stände gegen die Krone wiederherstellen und damit zum alten natürlichen vor-absolutistischen Rechte zurückleiten wollten. Aber das ist dann eben ein politisches Entwicklungserzeugnis des ständischen Kampfes, keine religiöse Lehre, für die die Idee des Calvinismus verantwortlich wäre, wenn sie auch dafür stets herangezogen wurde.

Wieder anders gestalteten sich die Dinge in den Niederlanden, Hier war der Befreiungskampf von Hause aus kein rein religiöser, sondern zugleich ein politischer. Daher mußten die mitkämpfenden konfessionellen Minoritäten, Katholiken, Lutheraner und Täufer, neben der Staatskirche geduldet werden. Doch überwog die Staatskirche so stark und war sie in so engem Zusammenhang mit den Regierungen, daß auch hier der Staat

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als rein kirchliche Genossenschaft und die Kirche als das Salz des Staates gelten konnte. In der Kraft, die diese Verbindung verlieh, lag die Größe der Sieben-Provinzen-Republik. Immerhin aber war doch diese Verbindung hier nicht ganz so fest und planmäßig wie anderwärts. Die Kirchenver- fassung beruhte im wesentlichen auf dem französischen Vorbild, aber es kam doch trotz verschiedener Anläufe zu keiner gemeinsamen Reichs-Kirchen- verfassung, und der Versuch, eine solche auf der Dordrechter Synode zu begründen, scheiterte: die Einzelstaaten ordneten die Verhältnisse selb- ständig. Dabei tritt insbesondere das Bestreben des Staates nach stärkerer Kontrolle über die Kirche hervor; das kirchliche Strafwesen wird von dem staatlichen völlig getrennt, die Handhabung der Exkommunikation an er- schwerende Bedingungen geknüpft. Die Zugehörigkeit zur Staatskirche ist nicht selbstverständlich, und so wird in der Weise der ersten Anfange, wo sich die Gemeinden aus unklaren Verhältnissen oder aus Flüchtlingen bildeten, die Zugehörigkeit an eine ausdrückliche Beitrittserklärung gebunden und w^erden auch die Getauften erst bei der Absolvierung der Katechismusschule als ihren Beitritt erklärend betrachtet. Das mochte independentistische und baptistische Folgerungen nahe legen; doch empfindet sich die Staatskirche selbst durchaus als die Heilsanstalt der göttlichen Kirchenverfassung, von deren Grundlage, dem Zucht übenden Kirchenrat, überhaupt alle Ge- meindebildung- erst ausgeht. Immerhin zeigen diese Umstände, daß die Durchdringung mit calvinistisch-rigorosen Ideen hier nicht so bis auf den Grund der Bevölkerung geht wie in Genf und Schottland. Das wird auch von anderer Seite her bestätigt. Unter dem wohlhabenden Bürgertum hat sich ein rechtgläubig reformierter und puritanisch gesinnter Kern ge- bildet; die große Menge huldigt nach wie vor dem Trunk und der Liebe; die reichen Handelsherren und Unternehmer, insbesondere das sehr stark hervortretende Amsterdam, folgen den Bedürfnissen der Handelspolitik und leben unter einem die Welt umspannenden nivellierenden Horizont. Des- gleichen herrschten im Haag bei den Oraniern rein politische Prinzipien, die Kirche und Religion nach macchiavellistischen Prinzipien als Machtfaktoren behandelten. So drängte ein starkes Staatsregiment auf Eindämmung der Theologenherrschaft. Zwar unterlag die dieses Programm verfolgende städtische Partei unter der Führung Oldenbarneveldts und Hugo Grotius' und büßte mit schweren Strafen. Aber das Prinzip blieb, und den Remon- stranten mußte schließlich Duldung gewährt werden. Der streng orthodoxe Balthasar Bekker wurde wegen seiner Leugnung dämonischer Besessen- heit von seiner Synode abgesetzt, erhielt aber ein Jahrgeld von der Stadt Amsterdam. Man gab Descartes ein Asyl und duldete Spinoza. Man erkannte die jüdischen Gemeinden an und erteilte den Mennoniten das volle Bürgerrecht. Auch für große moderne Naturforscher, wie Stevin, Huygens, Swammerdam, Leeuwenhoek und Boerhave war Raum, wenn auch freilich meist nicht an den kirchlichen Lehranstalten des Landes. Die Drucker machten ihre Geschäfte mit der freisinnigsten Literatur Europas, und

C. Der Alt-l'rotcstantisnuis (i6. und 17. Jahrhuiulcrl). II. Di-r Calviiiismus. -^ac

AmstcrcUim oder Lleutheropolis stand als wirklicher oder fingierter Druck- ort auf der literarischen Konterbande aller Länder. Die Kolonialkämpfer der ost- und westindischen Kompagnie verzichteten auf religiöse Propa- ganda und auf die Maßstäbe der christlichen Ethik. Das Geld wdrkte interkonfessionell, und das geärgerte Amsterdam erklärte, seine Kolonieen an jedermann, auch an den König von Spanien, verkaufen /.u kcmncni. Die holländische Kunst vollends, deren Träger übrigens keine besondere soziale Achtung genossen, wäre in einem rein puritanischen Lande unmög- lich gewesen. Sie zeigt in den Persönlichkeiten der Künstler und in ihren Darstellungen zwar die Abwesenheit der katholischen Stoffe, aber keinen puritanischen Geist und durchaus nicht immer puritanische Sitten und Toiletten. Unter diesen Umständen treten in Holland zwei neue charakte- ristische Erscheinungen hervor. Einmal die Neigung zur Konventikel- bildung oder dem Pietismus. Sie widerspricht völlig dem Geiste des alten Calvinismus und der Theokratie, aber sie ist deren notwendiges Ergebnis, wenn in einer herrschenden Staatskirche doch die theokratische Strenge bei Regierung und Masse zu vermissen ist. Da müssen sich aus der offiziellen Kirche die eigentlichen präzisen Christen zu besonderer Gemein- schaft absondern; der streng orthodoxe Gisbert Voet ist mit dem Pro- gramm vorausgegangen. Andrerseits bildet sich von seiten des Staates die Toleranzlehre aus, freilich noch nicht die Lehre von einer religiösen Neutralität des Staates, aber von einem bloß allgemein christlichen Cha- rakter des Staates, der ihn nicht hindern darf, neben der Staatskirche auch andere Kirchen und eine dogmatisch freie, freilich jede Blasphemie vermeidende Literatur zu dulden. Es ist die Lehre, über die auch Spinoza nicht hinausgegangen ist, und die Wilhelm IIL nach England übertragen hatte, die erste Abbröckelung von dem theokratischen Geist des Calvi- nismus.

Höchst eigentümlich ist die Entwicklung des Problems in Neuengland, in dem für die Zukunft Amerikas wichtigsten Koloniallande des Calvinis- mus. Hier war, wie bereits erwähnt, der Puritanismus trotz seiner kon- gregationalistischen Organisation und trotz seiner alten Forderung der Ge- wissensfreiheit wieder vollständig in die dem Calvinismus wesentliche Idee von Staat, Kirche und Sittenzucht zurückgeartet. Der Independentismus wurde streng verworfen, Täufer und Quäker schwer, teilweise sogar mit dem Tode, bestraft. Die Prediger und Ältesten beherrschen die soziale Meinung und die gewählten Obrigkeiten; die Gewissensfreiheit wird dahin erklärt, daß die Menschen zur Wahrheit zu zwingen nicht gegen die Gewissensfreiheit geht; die Obrigkeit behauptet daher die dem Wort Gottes entsprechende Wahrheit und bekämpft alle Laster, auch Trägheit, Lüge, Luxus, Tanzen, Trunkenheit, mit empfindlichen Strafen; sogar die auto- nomen Ortskirchen einigen sich zu einer „Plateform of discipline". Die Gesamtheit empfindet die Anw^esenheit eines Sünders in ihrer Mitte wie eine Befleckung der Gemeinschaft und macht die Ausübung der vollen

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Bürg-errechte abhängig von der Kirchen Zugehörigkeit, die jedesmal durch persönHche Erklärung allein bewirkt werden kann und mit der Taufe noch nicht empfangen wird. Die Verschmelzung des religiösen und poli- tischen Individualismus, der ortskirchlichen Independenz und lokalen Selbst- verwaltung ist eine überaus enge, aber der Geist des Ganzen ist nicht demokratisch, am Anfang eher oligarchisch, die Herrschaft der Frömmsten und Besten, die, durch Wahl zur Regierung gelangt, eine ziemlich unbe- schränkte Macht ausüben. Der leitende Staatsmann Xeuenglands, Win- throp (gest. 1649), definiert in einer seiner Staatschriften: „civil liberty is liberty to. that only, which is good, just and honest", und über den Inhalt dieses Maßstabes befand der puritanische Asketismus. Derselbe Winthrop hat in einer Schrift „Model of Christian charity" das Staatsideal als brüder- liche, von Christus regierte Gemeinschaft geschildert und aus Anlaß einer strengen Verfügimg vor den Presbytern unter Tränen zukünftig größere Milde und Demut gelobt. Das sind altreformierte patriarchalische Züge. Freilich überdauerte dieser Geist die ersten Generationen nicht lange. Die beständigen Unionen mit fremden Gruppen, Rücksichten des Handels, Wir- kungen des Wohlstandes, Einwirkungen der europäischen deistischen Lite- ratur, Konzessionen an das anglikanische Mutterland führten zu ähnlichen Folgen, wie sie in Amsterdam zutage getreten waren. Das Ergebnis ist die Anbahnung der neureformierten freikirchlichen Theorie, die an der Christlich- keit des Staates und der Obrigkeit im allgemeinen festhält, aber diese auf rein weltliche Funktionen einschränkt und ihr gegenüber das Recht der freien Kirchenbildung als Forderung- der Gewissensfreiheit proklamiert; innerhalb der einzelnen Kirche selbst kann und soll die Wahrheit lediglich durch reli- giöse und soziale Machtmittel geschützt werden. Im Zusammenhange damit erhebt sich auch der Gedanke der Menschenrechte. Wie wenig er aber mit dem der religiösen Gewissensfreiheit schon identisch ist, zeigt gerade diese Entwicklung Neuenglands. Hier hat man die alte Gewissensfreiheit erst liberal deuten gelernt, seit Handelsgesichtspunkte und die Konkurrenz verschiedener religiöser Gemeinschaften sie nahelegten und die Theokratie von Massachusetts ins Unrecht setzten. Erst auf diesem Umweg erweichte sich dann auch die schroffe Rassentrennung, wobei Quäker und Baptisten mit ihrer universalistischen, antiprädestinatianischen Religion den Haupt- anstoß gaben. Auch Indianer und Neger sind nunmehr von Christen als Brüder zu behandeln, wenn auch freilich eine Vermischung zu vermeiden ist. Schon 1700 bekämpft Sewall die Sklaverei in einer Schrift „The selling of Joseph" vom christlich-humanen Standpunkt aus. So erwachsen die Grundzüge des modernen Amerika. Die wiederbelebten Grundsätze des ursprünglichen Kongregationalismus, die später noch zu schildernden Einflüsse des reinen Independentismus und die konfessionelle Indifferen- zierung, wie sie aus dem Handolsleben und dem Nebeneinander vielfacher Sekten und Kirchen entsteht, reichten sich hier die Hand. Den gleichen Weg mußten schließlich die schroffen irisch - schottischen Presbyterianer

C. Der All-I'rotoslanlismus (i(). und 17. Jahrlniiuk-it). 11. Der ("alvinisnius. -iaj

gehen, die ja von Antaiiv;" an keine Regierung gefunden hatten, welche sich ihres jus divinum angenommen hätte, und daher durch alle Staaten als freie Kirche verbreitet waren. Aber ein offiziell christliches Land ist die Union bis heute geblieben. Die Verfassung spricht im Aufblick zu Gott, der Präsident ordnet Büß- und Bettage an, und jede Kongreßsitzung wird mit Gebet eröffnet, der letzte Rest reformierter Theokratie.

Derselbe theokratisch-biblische Geist, der die Verfassung durchdringt K.formierter

Kultus.

und der in dieser Periode doch nur Abwandelungen und Einschränkungen, ciber keine Aufhebung erfährt, beseelt den reformierten Kultus. Er ist im Gegensatz zum Puthertum, das den katholischen Kultus ebenso bloß reinigte wie das katholische Landeskirchentum, gleich der Verfassung radikal anti- katholisch und lediglich auf biblischen Vorschriften aufgebaut. Er ist prinzipiell lediglich Predigtkultus und lediglich mit Gebeten und Psalmen- gesängen ausgestattet. Der katholische Kirchenschmuck ist beseitigt; jede Reform beginnt mit dem Bildersturm. Auch im Kirchenbau wird das katholische Muster verlassen und die protestantische Gemeinde- und Predigt- kirche an Stelle der Meßkirche gesetzt. Der katholische Festkalender ist radikal beseitigt und jede Festfeier außer an Sonntagen verboten, der Sonntag dafür mit der Strenge des Sabbatgesetzes gefeiert. Der Kate- chismusunterricht wird aufs strengste betrieben; Junge und Alte werden streng dogmatisch geschult. Den Sakramenten ist jeder abergläubische Charakter genommen, der Exorzismus verpönt. Dafür aber steigt die soziale Bedeutung des Abendmahls ins Außerordentliche. Es ist ein vier- maliger Höhepunkt des Gemeindelebens, sozusagen die Parade der Ge- meinde vor Gott, die von gründlichster Vorbereitung und Ausmusterung begleitet ist und den Mittelpunkt der Kirchenzucht bildet. Nur eine heilige Gemeinde soll mit Brot und Wein Christus im Geiste genießen, und die Furcht vor unheiligen Abendmahlsgenossen wird später bei dem Nachlassen der geistlichen Lebensordnung ein Motiv der Separation. Auch kommt hier die ganze Selbständigkeit des Laienpriestertums in der Form des Ritus zum Ausdruck: der Gläubige wird nicht vom Priester gespeist und getränkt, sondern ergreift selbst Brot und Kelch. Die Zurück- gewiesenen werden erst nach offenkundiger Besserung wieder zugelassen; ihre soziale Stellung und Achtung ist davon abhängig.

Ein Organ der Kirche war die Schule, insbesondere die zur Erziehuner Reformiertes

'^ ' o Universitäls-

von Geistlichen und Juristen dienende hohe Schule, Ihr Grundcharakter ist "^^"^"• durch die Genfer Leges Academiae von Calvin festgelegt, und dem Muster von Genf folgen die hugenottischen Akademieen und die niederländischen Universitäten, während die westdeutschen reformierten Universitäten und Gymnasia illustria mehr dem allgemein deutschen T}tdus folgen. Das Vorbild für Geist und Stoff der Erziehung bildet auch hier die Melanchtho- nische Schöpfung mit ihrer Verbindung des artistisch-philosophischen, juristi- schen und theologischen Unterrichts. Melanchthon blieb trotz aller Diffe- renzen mit dem Luthertum bei den Reformierten ein hochgeschätztes \'or-

XaS Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

bild aller wahren Bildung" und ihrer richtigen Verknüpfung mit der Theologie. Nur ist entsprechend dem streng- systematischen Geiste und der zielsicheren Energie Calvins die Organisation viel straffer. Ein streng im Stufengang der Schuljahre und Klassen festgelegter Unterricht des College gibt die Voraussetzung. An ihn knüpft die Akademie an, bestehend aus einer theologischen Professur und mehreren aushelfenden Lektoren, unter ihnen die Lektoren für die Literatur, d. h. die Interpretation der lateinischen und griechischen Klassiker, und die für Philosophie, d. h. für Logik, Ethik, Physik und Metaphysik im Sinne des melanchthonischen Aristotelismus. Eine Juristenschule, lang ersehnt und unentbehrlich für alle Interessen des Calvi- nismus, kam in Genf dazu und ergänzte, nicht ohne mancherlei Rivalität, die theologische Hauptschule. Die Leitung von College und Akademie liegt in einer obersten Hand, Ebenso ist die moralisch-pädagogische Übenvachung der Schüler eine sehr strenge und geordnete; das System der Belohnungen, Bestrafungen, geg^enseitigen Überwachung spielt neben den Erprobungen in den Disputationen eine große Rolle. Diese engen Verhältnisse des stets mit größter Geldknappheit kämpfenden Genf sind an anderen Orten, in den Niederlanden und Heidelberg, sehr stark erweitert; auch die direkte Abhängigkeit von der Venerable Compagnie ist anderwärts gelockert oder gar nicht vorhanden. Man w^ar stolz auf die Wissenschaft und pfleg^te sie mit großen Opfern als Mittel des Dienstes für das Gemeinwesen; das befreite Leyden erbat sich als Lohn für unerhörte Ausdauer die Einrichtung einer Universität. Zugleich bringt der beständig^e Austausch von Gelehrten so verschiedener Länder und Nationen, die überdies die damals höchst kulti- vierten sind und von Frankreich her unter den lebendigsten Nachwirkungen der humanistischen und juristischen Renaissance stehen, in die reformierten Universitäten einen bewegten, lebendigen und vornehmen Geist. Neben den strengen reformierten Dog^matikern lehren hier die glänzendsten Grä- zisten, Latinisten, Orientalisten, Romanisten und Publizisten der Zeit. Ein Scaliger, Portus, Casaubonus, Salmasius, Heinsius, Justus Lipsius, die Dy- nastie der Vossius, ferner die Schüler des Cujacius, ein Doneau, Hotmann, Bonnefoy, Pacius, die beiden Godefroy zieren die reformierten Schulen und machen sie weithin berühmt, dabei meistenteils dem theologischen Geist des Instituts und seiner Sittenstrenge sich einfügend; in Leyden, der Hochburg des Humanismus, fehlte es nicht an arminianischen Sym- pathieen oder auch an völliger kirchlicher Indifferenz. Auch die Historie blühte bei dem rechtskundigen, politisch interessierten Geschlecht; alte und neue Geschichte nebst Geographie tauchen in den Lehrplänen auf, alles freilich in dem konfessionell polemischen Sinne des Ganzen. Die moderne Naturwissenschaft fehlt freilich an den offiziellen Schulen; neben den theologisch beherrschten Schulen durften nicht einmal in den Nieder- landen technische, naturwissenschaftliche oder nautische entstehen. Nur eine große medizinische Fakultät konnte sich wenigstens dort ent- wickeln; der Sinn, in dem das geschah, erhellt aus dem Worte Bever-

C. Der Alt-Pnitpstantismus (i6. und f 7. Jahrhundert). II. Dor ralvinismus. :>iq

wycks: „Unser LebtMi hat .seit dem Sündenfall seine größte Anziehungs- kraft verloren, allein es ist doch immer noch dem Tode vorzuziehen." Auch die Philosophie» ist wenig entwickelt ; man ließ sie teils durch die Humanisten als Inteipretation des Aristoteles, Plutarch, Cicero und Seneca vortragen, teils schloß man sich an die in Deutschland fortwirkende Tra- dition der melanchthonischen Schule an, für die Keckermann und Gocle- mus vielgebrauchte Lehrbücher schrieben. Das zeigt denn, daß auch hier die Grundlage dieser ganzen Unterrichtsorganisation und des wissenschaft- lichen Denkens auf den melanchthonischen Lehren über das natürliche Sittengesetz, seine Auslegung durch die Jurisprudenz und seine Über- höhung und geistliche Ausfüllung durch die Offenbarung, beruhte. Doch macht sich die Differenz des allgemeinen Geistes beider Konfessionen auch in der Beantwortung dieses Grundproblems des alt-protestantischen Bildungs.systems, in der Frage des Verhältnisses von Vernunft und Offen- barung, von humanistisch -juristischem und theologischem Unterricht, geltend. Der Calvinismus hat das Bildungswesen, die Verbindung von natürlichem und christlichem Sittengesetz, Zusammenhang und Einheit des Denkens weit stärker entfaltet als das Luthertum. Er ist durch glän- zende und dauernd bedeutende Humanisten und Juristen ausgezeichnet, er steht in lebhafter Beziehung zu den Ländern der westlichen Kultur, insbesondere zu dem Zentrum, wo nach dem Verfall Italiens die Re- naissance fortblühte, zu Frankreich. Er betont aufs stärkste neben der Elektionsgnade die Gratia universalis, die in Vernunft, Philosophie, Recht, Geschichte und natürlichem Sittengesetz die Mittel der Weltbeherrschung und des Dienstes für die göttlichen Zwecke gegeben hat und von den Griechen und Römern grundlegend verkörpert worden ist. In den ge- bildeten Kreisen des Calvinismus äußerte sich diese Betonung- der Gratia universalis in der Akzeptierung der Renaissance-Kultur, die als Humanis- mus die Wissenschaft, als italienisch -französische Weltbildung die Lite- ratur, Kunst, Rhetorik und Lebensform durchdringt. Zugleich ist die Denkgewöhnung des Calvinismus überall systematisch und universal, indem sie alles aus dem großen Zusammenhang des Gottesbegriffes als von Gott ausgehend und zu Gott zurückkehrend zu denken durch ihre religiöse Grundposition angeleitet wird. Das gibt allem calvinistischen Denken einen Zug ins Große und Umfassende, Einheitliche und Syste- matische, während im Luthertum Denken und Handeln durch den immer wieder eintretenden Rekurs auf das seelische Rechtfertigungswunder etwas Abgehacktes, absichtlich Widerspruchsvolles, Wiederholungsreiches und doch Resultatloses erhält. Aber das bedeutet keineswegs eine stärkere Neigung zum Rationalen gegenüber dem Luthertum. Im Gegenteil, der Calvinismus bleibt dauernd antirationaler als das Luthertum und seine Bildungsgrundlage im Melanchthonianismus. Der Calvinismus hat eine hohe und feine Intellektualität, aber diese Intellektualität ist antiratio- nalistisch, ist voluntaristisch. Die Offenbarung beruht auf der Au.s-

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Wirkung des souveränen Prädestinationswillens und bedarf weder ratio- naler Beweise für das Dasein Gottes noch einer rationalen Vorbereitung der Buße durch die natürliche Gesetzeserkenntnis, noch einer Rechtferti- gung der Gerechtigkeit und Güte Gottes daraus, daß alle Verwerfung- der Offenbarung schließlich in der Schuld des auch-anders-könnenden Menschen liegt. Ja noch mehr; sein Begriff der Willens -Souveränetät Gottes läßt auch die natürliche Vernunft und das natürliche Sittengesetz nur als eine Satzung seines Willens betrachten, die dem Verworfenen seine Nichts- würdigkeit zum vernichtenden Bewußtsein bringen und dem Erwählten die Beherrschung der Welt zur Ehre Gottes möglich machen soll. Seine Beziehungen zu den Kulturgütern sind lebhaft, aber völlig unpersönlich; nur als Mittel für den Dienst Gottes im Gemeinwesen, nicht als persön- lich befriedigender Bildungsbesitz kommen sie in Betracht. Das Luther- tum hat im allgemeinen größeres Mißtrauen gegen die Kulturgüter, aber persönlichere und intimere Freude an ihnen, wo es sie zuläßt; sie sind ihm direkte Gottesgaben zum erlaubten Genuß. Die ursprüngliche Ver- nünftigkeit der jetzt so traurig entstellten Welt schimmert bei ihm immer durch, während der Calvinismus überall nur den Herrscherwillen Gottes empfindet. Überall scheut er die Kreatur-Vergötterung. So steht das refor- mierte Bildungswesen bei aller Verwandtschaft doch eigentümlich neben dem lutherischen, das zugleich unter der Enge der kleinstaatlichen Verhält- nisse, dem Elend des Krieges, der Roheit des Pennalismus und der Dumpf- heit der niedergehenden deutschen Kultur litt. Genf und I.eyden sind Welt- zentren, und freie, als Bürger behandelte Studenten arbeiten in Studenten- kompagnieen mit an der Verteidigung Genfs, während in den deutschen Uni- versitätsdörfem kleinlichster Theologenzank oder Bier und Tanz herrscht. Reformierte Auf dicscr Basis erhebt sich die reformierte Theologie, in der Ge-

Theologie.

samtanlage und in der scholastischen Technik der lutherischen durchaus ähnlich, wie diese mit der Zeit immer mehr der neuthomistischen Scho- lastik formell angenähert. Hierin haben sich namentlich die Holländer nach der Dordrechter Synode ausgezeichnet. Im Inhalt wurden natürlich die Differenzen gegen Papismus, Luthertum und Täufertum aufs schärfste herausgearbeitet. Die Wirkungen des Prädestinationsdogmas ersti"ecken sich nach und nach über alle Teile des mit dem ].uthertum gemeinsamen theologischen Gedankenschatzes. Lisbesondere ist Christus hier nur für die Erwählten gestorben, sein Genugtuungstod also nicht die Befriedigung des großen Weltgesetzes der Gerechtigkeit, sondern ein von Gott ge- wähltes Mittel, und ist auch die Gottheit Christi reine Willensverbindung mit dem Menschen Jesus, die die lutherische Mystik des finitum capax intiniti ausschließt. Auch die reformierte Theologie hatte ihren zahlreichen Theologenzank und übte den schwersten Druck, wenn sie auch bei der Erstreckung über so viele Länder die schulmäßige Einheitlichkeit der lutherischen nicht erreichte und früher wieder zu mehr biblizistischen Lehr- formen überging. Auch sie hatte ihren großem d(\gmatisch(Mi Kampf.

C. Der Alt-Protcslantismus (i6. und 17. Jahrhundert). II. Der Calvinismus. 7=1

Doch gin^ er nicht \vi(! im l.uthertum dem Abschluß der Symbole vorauf, sondern erst aus der Durcharbeitung des Hauptdogmas hervor. Ein großes reformiertes Konzil aller Länder schlichtete 1618 den Streit zugunsten der Lehrkonsequenz und trieb die Gegner, Remonstrantcn genannt, in das Lager der humani.stischen Theologie, wo sie dann ein Ausgangspunkt der modernen rationalistischen Entwicklungen wurden, während der übrige Teil der Remonstrantcn sich als independente und predigerlose Gemeinden, als Collegianten, dem täuferischen Vorbild anschloß.

Das Wichtigste ist natürlich auch hier der religiös-sittliche Geist des Reformierte Ganzen, die calvinistische Kultur, wie sie auf der calvinistischen Ethik unmittelbar und mittelbar beruht. Diese Ethik stimmt in allen wesent- lichen Begriffen völlig überein mit der des Luthertums. Auch hier han- delt es sich um das Hervorgehen einer christlichen Gesinnungsethik aus der den alten Menschen vernichtenden wSündenerkenntnis und aus der be- seligenden Rechtfertigungsgewißheit. Auch die Erwählten sind von Gott unter die Sünde getan, damit sie in der Sclbstverurteilung ihres sündigen Wesens lernen das Gute rein als Ausfluß des göttlichen Gnadenwillens zu empfangen und in sich wirken zu lassen. Aber innerhalb dieses überein- stimmenden Gedankenganges macht doch die Vorherrschaft des Erwählungs- gedankcns, die Festigkeit der kirchlichen Organisation und die Wirkung des westlichen Kulturbodens sich derartig geltend, daß etwas ganz anderes daraus entsteht.

Nur die Erwählten stehen im wahren und echten Glauben; die Verwor- Wirkung der fenen haben nur etwa einen unechten und vergänglichen Zeitglauben, der lehre auf die

Kthik.

Glaube der Erwählten aber dauert. Die Irresi.stibilität und Perseveranz der Gnade gibt ihm seinen Charakter; einmal ^iktualisiert steigt er notwendig von Stufe zu Stufe; er braucht nicht Rückfälle zu fürchten, keine Werkheilig- keit zu scheuen, nicht mit allerhand Unterbrechungen sich auf seine Be- wahrung oder Wiedergewinnung vor allem zu konzentrieren. So hat der Glaube nicht, wie im Luthertum, lediglich in sich selbst seinen Zweck, sondern in der sittlichen Auswirkung und Betätigung. Nicht Seligkeits- gefühle, sondern Aktivität sind sein Charakter. Für die populäre Denk- weise tritt geradezu in den Vordergrund, daß man in dieser Aktivität seiner Erwähltheit gewiß wird, und so steigert dann ein Gedanke den anderen. Für die feinere begriifliche Betrachtung liegt im Gottesbegriff selbst die Nötigung zu einer derartigen entscheidenden und zentralen Be- tonung des tätigen Handelns. Der Gott, der in die Gnadengemeinschaft aufnimmt, ist ein tätiger Wille und kann auch in der begnadeten Mensch- heit nicht ruhen. Der Gott-Mensch Jesus Christus, unter dessen Haupt die Gemeinde gesammelt und von dem sie regiert werden soll, ist eine tätige Kraft und ein spornendes Vorbild, ein regierender Herrscher, keine Menschwerdung der alle Liebe und Vernunft in sich schließenden Welt- substanz zum seligen Genuß und zur mystischen Vereinigung. Der ganze Zweck und Sinn der Prädestination ist nichts anderes als die Bekundung

idee.

■IC 2 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

der Herrlichkeit und Ehre Gottes in einem heiligen, von Christus regierten Gemeinleben, und diese Bekundung- kann nur in der sittlichen Reinheit und Strenge bestehen. Wenn die Lutheraner namentlich für das Ge- meinleben auch gerne denselben Zweck der Ehre Gottes angeben, so ist eben doch der Gott, um dessen Ehre es sich handelt, in beiden Fällen ein anderer. Nicht Dank und Gehorsam für die Gnade, welche die sündige Weltzerstörung wieder aufgehoben hat und in der Genugtuung Jesu die Erlösung von dieser Folge des freien Willens jedem Willen anbietet, ist hier der Leitgedanke, sondern die Hingabe an einen Willen, der in den Verworfenen seine strafende und in den Erwählten seine heiligende All- macht bekunden will. Persönlichkeits- Unter dicscn Umständen tritt im Calvinismus die Persönlichkeit ganz

anders hervor als im Luthertum. Nicht demütige Selbstaufgebung gegen Gott und liebevolle Selbstaufgebung gegen den Nächsten, sondern stärkster persönlicher Wert, das Hochgefühl einer göttlichen Mission in der Welt, einer gnadenvollen Bevorzugung vor Tausenden und einer unermeßlichen Verantwortung erfüllen die Seele des Menschen, der völlig einsam und in sich selbst die ihn erwählende Gnadenwirkung empfindet und auswirkt. Hierin liegt ein ungeheurer Individualismus, eine außerordentliche Selb- ständigkeit der Person, mit der die Renaissancestimmung und die größere Differenziertheit der westlichen Kultur sich leicht vereinigen konnte. Die so nachdrücklich betonte Selbstverleugnung ist doch immer nur die Opfe- rung des natürlichen Selbst an das höhere geistliche Selbst. Freilich ist diese im Prädestinationsgedanken wurzelnde Persönlichkeitsidee nirg'ends zu verwechseln mit modernen individualistischen und demokratischen Ge- danken. Die Prädestination bedeutet die Berufung der Besten und Hei- ligen, der Minorität, zur Herrschaft über die Sünder, die Majorität; sie schließt ein die Betrachtung der gegebenen Lebens- und Machtverhältnisse, soweit sie nicht Gottes Wort widersprechen, als göttlicher Fügungen, in die sich der Mensch demütig und ohne Kritik ergabt, wie denn auch die bisherige Darstellung den aristokratisch-konservativen Charakter des ur- sprüngiiclien Calvinismus überall gezeigt hat. Das konnte bei dem strengen Anschluß an die Bibel auch gar nicht anders sein. Aber innerhalb dieser Grenzen hat der Calvinismus eine Schätzung der erwählten Persönlichkeit, die durchaus an Kant erinnert, während Luther hier mehr im Gedankenkreis der Mystik bleibt; ja, bisweilen drängt es ihn selbst über diese Grenzen hinaus. Gememschafts- Mit dieser Starken Betonung der Persönlichkeit ist dann aber auch

die Gemeinschaftsidee eigentümlich bestimmt. Die Gemeinschaft ergibt sich nicht wie bei den Lutheranern bloß mittelbar aus den Bedingungen der Leiblichkeit, aus den gegebenen Ordnungen der Lex naturae und aus den unsichtbaren Wirkungen der sichtbaren reinen Lehre und Sakramentsübung, sondern unmittelbar aus dem prädestinierenden Willen Gottes selbst. Dieser ^Ville ist von Hause aus auf eine heilige Gemeinde, ein Reich der Heiligen, eine von Christus regierte und nach seinem Willen verfaßte Gemeinde,

idee

r. Der Alt-Protestantisnius (i6. und 17. Jahrhundert). II. Der Calvinisnius. ^^^

gerichtet. Bei aller individuellen Isolierung- de.s einzelnen Erwählten im Vorg-ang der Auswirkung- der Erwählung-, stellt ihn doch die Erwählung prinzipiell in die sich gegenseitig hebende und tragende, beurteilende und bessernde Gemeinschaft hinein. Und diese (jemeinschaft ist jedesmal wie die Israels abgegrenzt als eine Volksgemeinschaft, in der die Kirche die geistliche Kraft ist und das weltliche Schwert dieser Kraft seinen Nachdruck leiht. Gott schließt seinen Bund mit jedem Volke und ver- langt Treue um Treue, erzieht durch Strafgerichte und Heimsuchungen, gibt sein Wort zur Erkenntnis seines Willens. Es ist die Idee der christ- lichen Kultur im geschlossenen Volksganzen, wobei die einzelnen Völker und Kirchen miteinander in Verbindung stehen, die Urteile fremder Kir- chen eingeholt und die Almosen der fremden Glaubensgenossen erbeten werden. Ein Bund christlicher Völker, in dem jedes Volk in seinem Bezirke die Idee des Gottesstaates verwirklicht, das ist der Wille Gottes, wenn er recht aus der Bibel verstanden wird.

Bei solcher Sachlage ist dann auch von der Trennung der privaten öffentliche und

. Privatmoral.

und Öffentlichen Moral nicht die Rede wie im Luthertum. Das Privatleben mündet überall ein in das Ganze des christlichen Gemeinwesens, und jeder Christ ist verpflichtet, sein Handeln mit Überlegung für dessen Nutzen einzurichten. Die Einzelnen behalten das Recht, den vorgeschlagenen Geistlichen zu genehmigen, dürfen in biblischen Auslegungsstunden ihre Bibelkenntnis auch gegen die Geistlichen geltend machen, ja im Notfall haben sie Recht und Pflicht, die bestehenden Gewalten an Gottes Wort zu erinnern und, sei es durch ihre Vertreter, sei es schlimmsten Pralles selbst, den Gehorsam gegen Gottes Wort zu erzwingen. Es gibt vor dem Zuchtgericht kein Ansehen der Person, der Vorsitz der Predigergemein- schaft wechselt wöchentlich, alle Ämter sind Pflichten aber keine Vor- rechte. Umgekehrt hat das Ganze für die einzelnen zu sorgen. Versteht man den Sozialismus nicht bloß als Demokratie oder als Kommunismus oder als Gemeinsamkeit aller Betriebsmittel, so kann man von einem christlichen Sozialismus sprechen, einem Sozialismus im Sinne der Pro- pheten des Alten Testaments. Jeder soll in diesem Gemeinwesen seine Ehre, seine Nahrung, sein Recht haben; Staat und Kirche sorgen gleich- mäßig dafür. Armen- und Krankenpflege ist eine Punktion der Kirche, die auf große Einkünfte rechnen kann, Arbeitsmangel und Arbeitsscheu durch geeignete Einrichtungen bekämpft und eine große Zahl von Be- amten beschäftigt. Alle Luxusordnungen, Preistaxen, Notvorkehrungen, ja sogar die Höhe des Zinsfußes werden in Genf von der Geistlichkeit mit der Obrigkeit gemeinsam festgestellt. Vor allem aber sind die Sitten- mandate und die Handhabung der Sittenpolizei, die Ausbreitung des Unterrichts und der Gottesfurcht bei allen Gliedern, ein gemeinsames An- liegen der regierenden Gewalten.

Ein solches Lebenssystem k£mn dann freilich nicht, wie im Luther- de^othUcluTn tum, lediglich mit kindlichem Vertrauen der freien gesetzlosen Auswirkung derriekaiog!'

DiK KULTUK DER GEGENWART. I. 4. 23

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

des inneren Geistestriebes oder der Glaubensgesinnung überlassen werden. Es muß im einzelnen wie im ganzen streng geordnet sein. Das führte die Reformierten zu der Behandlung der Bibel als eines göttlichen Maßstabes nicht bloß für das Dogma, sondern auch für das Leben. Es ist das nicht an sich eine größere Gesetzlichkeit als im Luthertum, das ja die Bibel als Lehrgesetz für die Dogmen doktrinär genug handhabte, sondern nur eine Erstreckung der Lehrgesetzlichkeit auch auf die Moral. Es hatten ja schließlich auch die Lutheraner für das Wesen der aus dem Glauben fließenden Sittlichkeit auf den Gehorsam gegen den Dekalog zurückgreifen und ihre rein innerlich freie Liebes-Sittlichkeit stets aus der Rechtssitt- lichkeit der Lex naturae ergänzen müssen. Die Reformierten gehen nur sehr viel weiter in der Verwertung des Dekalogs. Er ist ihnen der In- begriff der göttlichen Sittenoffenbarung und prinzipiell von Gott zum Zweck der Regelung des heiligen Lebens gegeben. Er ist ein Dogma so wichtig wie Trinität und Christologie. Zu diesem Zweck freilich muß sein Inhalt durch Deutung erweitert werden, und so deuten sie ihn aus der ganzen Bibel, die erste Tafel wesentlich aus dem Neuen Testa- ment, die zweite wesentlich aus dem Alten, aus den ethischen Bestand- teilen des Gesetzes, aus der sozialen und politischen Predigt der Pro- pheten und aus den Geschichtsbüchern. Durch diese Deutung bekommen sie aus dem Dekalog Aufschluß über alle konkreten Angelegenheiten eines innerweltlichen Gemeinwesens, und der Geist der Bergpredigt, den Luther in seiner Forderung der Unbedingtheit und Freiheit der Liebe neben den Erfordernissen des weltlichen Amtes und Berufes festzuhalten suchte, geht beinahe unter in dem Geist des Dekaloges und der Propheten. Dabei ist auch, wie schon bemerkt, die lutherisch-melanchthonische Lehre von der Identität des göttlichen Gesetzes mit dem natürlichen und die Hilfeleistung des letzteren beibehalten, aber das Nebeneinander und die Anleihen machen weniger den Eindruck des Fremden und Gewaltsamen. Denn das ganze Alte Testament ist den Reformierten nur eine Illustration der Lex naturae, die in ihrer gegenwärtigen getrübten Gestalt überwiegend nach ihrer Identität mit der zweiten Tafel des Dekalogs aufgefaßt wird, mit besonderer Anwendung auf die Verhältnisse Israels, wie das römische Recht eine solche ist mit besonderer Anwendung auf die Roms. So ist der refor- mierten Ethik die Heranziehung der stoischen Ethik, des römischen Rechtes, der antiken Kardinaltugenden neben den biblischen Beispielen an den Deka- log leichter oder doch wenigstens natürlicher als der lutherischen; denn in- dem der Dekalog aus dem Alten Testament illustriert wird, wird er eben da- durch zugleich aus der Lex naturae illustriert. Die Bevorzugung des Alten Testaments hat also nichts Jüdisches oder Katholisches an sich, sondern ist nur die vorzugsweise beliebte Gestalt, in der hier die Lex naturae heran- gezogx'n und im weitesten Umfange als bereits biblisch bezeugt erwiesen wird. Umgekehrt wird hier freilich die Lex naturae stark alttestamentlich gefärbt. Die christliche l^thik wird überhaupt gegenüber dem Über-ldealis-

r. Der Alt-I'rolcstunlisnius (l6. und 17. Jahrhundort). II. Der ("nlvinisinus. -i c s^

mus der Bergprodiji;t einen Ton tiefer herabg-estimmt und einigt sich dann leichter mit der Lex naturae und den praktischen Forderungen des weltlichen Gemeinschaftslebens, Aber wenn so der Idealismus und die Oemütstiefe des Luthertums herabgestimmt ist, so ist dafür auch Erfolg und Wirkung möglich. Was auf der einen Seite an Radikalismus der bloßen Liebes- ethik aufg"egeben wird, das wird auf der anderen durch größeren Ernst, stärkeren Gemeinsinn, gründlichere Strenge und peinlichere Gewissen- haftigkeit gewonnen. Was im Luthertum nur allzuleicht Theorie bleibt und überdies praktisch stets noch Anleihen bei der Polizei und bei der Lex naturae machen muß, das wird hier strengste Wirklichkeit und kommt aus dem inneren Wesen der Sache selbst. Es sind innere Spannungen und Schwierigkeiten der christlichen Ethik überhaupt, die sich hier auftun und die vom Calvinismus jedenfalls in der dem Durchschnittscharakter des Menschen entsprechenderen und daher wirksameren, vom Luthertum in der der christlichen Idee gemäßeren und freilich auch unwirksameren Weise aufgelöst worden sind.

So liegt im Calvinismus auch eine umfangreiche wissenschaftlich- und Die Kirchen-

-, . . ,, , , . - . . zuiht, Ratio-

popular-ethische Literatur vor; auch die Erbauungsschnften sind vorwiegend naiisierung der ethisch gefärbt; es ist eine Literatur, die in verschiedenen Anläufen und Nuancen das biblische und das antik-humanistische Material kombiniert, indem als Exponent von beiden jedesmal der Dekalog erscheint. Das Luthertum hat dieser Literatur wenig an die Seite zu setzen und sie später durch Übersetzungen sich vielfach angeeignet. Eine derartig be- gründete und kommentierte, unermüdlich eingeprägte Moral wurde eine geistige Macht ersten Ranges und interpretierte nach allen Seiten syste- matisch das Sittengesetz des Calvinismus. Aber diese Gesetzlichkeit selbst bedarf, wenn sie wirken soll, eines Organs für Durchführung und Überwachung. Dieses Organ hat denn auch der Calvinismus gründ- lichst durchgebildet und, wie es für ihn selbstverständlich war, in der Schrift angeordnet gefunden. Eine Schrift, die das Sittengesetz des Deka- logs gab, mußte auch das jus divinum einer Kirchenverfassung und Kirchen- zucht darbieten, das zu seiner Durchführung gehörte. Und so hat man denn aus dem Neuen Testament die großartige Verfassung des Consistoire ent- wickelt, die dem Calvinismus seinen Halt und seine Kraft gegeben hat. Das ist im bisherigen genugsam hervorgetreten. Hier ist nur noch auf eine weitere Seite der Sache hinzuweisen, auf den geschlossenen, systematischen, jeden Moment umfassenden Charakter, den die calvinistische Ethik durch das so verwaltete Gesetz empfangen hat. Die lutherische Ethik ist voll von Unterbrechungen und Wiedergewinnungen des Gnadenstandes und läßt in den Adiaphora ein Gebiet des Natürlichen frei, das in ihr eine feste religiöse Grundlage nicht hat, aber doch eine große Rolle spielt; an diesen Punkten ist in ihm gewissermaßen die absolut erbsündige Verderbung der Schöpfung ausgesetzt und kommt die Güte und Vemünftigkeit der Schöpfung zur Geltung. Für die strenge Logik dos Erwählungsgedankens

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_556 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

und die Zucht des Consistoire gibt es alles das nicht. Die Perseveranz der Gnade kennt keine Unterbrechung, sondern nur ein beständiges Arbeiten, und die Sündigkeit der Welt kennt keine Adiaphora, sondern nur die strenge Unterwerfung unter das Gesetz bis in jede Kleinigkeit. Es fehlt alle Harmlosigkeit und alle Freude an Paradoxie und Widerspruch, womit der Lutheraner in der Seligkeit der Rechtfertigungsgnade die Welt gebrauchen kann. Aber dafür herrscht auch eine durchgerechnete Strenge und Exaktheit, die der lutherischen Laxheit unbekannt geblieben ist. In dieser Strenge und Exaktheit, in der Beugung des Selbst und der Welt unter diese Maßstäbe liegt daher hier auch der Charakter der protestan- tischen Askese. Der Calvinismus ist weltlicher als das Luthertum in seiner Benutzung weltlicher Dinge, in seiner Handhabung politischer und sozialer Ideen, seiner Schätzung feiner Bildung und Sitte, aber er erkennt in alle- dem noch grundlegender als das Luthertum bloße Mittel des Gottesreiches, die gar keinen Wert in sich selbst haben. Er beherrscht die Welt mehr als das Luthertum, aber er beherrscht sie dadurch, daß er sie mehr syste- matisch verleugnet und den Widerstand gegen sie stärker organisiert. Die Erbsünde, die hier doch schließlich von Gott geordnet ist, wird bei allem Abscheu dennoch nicht als die Macht betrachtet, der die Welt um ihrer Schuld willen überlassen werden muß, sondern als der zu beug-ende Feind der Erwählten, und die Kulturgüter der Gratia universalis und Lex naturae dürfen daher vorbehaltloser benutzt werden, vorausgesetzt, daß sie lediglich zu Gottes Ehre und nicht zum eigenen Genuß oder um ihrer selbst willen g'esucht werden; das wäre Kreaturvergötterung. Calvinistische Ein derartig organisiertes Gesamtleben kommt in erster Linie als Ganzes

Kultur: . , i o ttt

m Staat, Kirche, Schule und \\ irtschaftsleben in Betracht. Es mußte daher von Anfang an als solches geschildert werden, und es bedarf hier keiner Wiederholung mehr. Nur das von hier aus organisierte Wirtschaftsleben und die Politik bedürfen noch eines Wortes. Denn hier hat der Calvinis- mus wichtige Grundrichtungen des modernen Lebens angebahnt, die Arbeitsgesinnung-, die der natürlichen Seelenverfassung des Genießens und Ausruhens so entgegengesetzt ist und dem Kapitalismus seinen besten Nährboden lieferte, und die politische Neigung zum iiaturrechtlichen Indi- vidualismus und rationellen Aufbau des' Staates, schließlich die ersten Elemente der dem Staatszwang sich entgeg'enstellenden Gewissensfreiheit. I. Wirtschafts- Es vcrstcht sich von selbst, daß in diesem System nur der o'eist-

loben. ,. 1 ., , .

liehe Zweck ein wirklicher Selbstzweck ist. Rein utilitarisch ist auch die Auffassung des Staates; patriotische und politische Gesinnung hat keinen Wert in sich selbst. So ist auch das Wirtschaftsleben nur ein Leben in nützlichen Berufen, die für das Wohl des Ganzen erforderlich sind, während alle nutzlosen Berufe ausgeschlossen werden. So scheint hier nichts anderes vorzuliegen als die Berufslehre, wie sie auch das Luthertum entwickelte. Und doch findet auch hier ein charakteristi- scher Unterschied statt. In der westlichen Kultur wird das Gefüge von

C. Der AU-l'ri)lcstanlismus (l6. und 1 7. Jahrluindcrt). II. Der Cilvinismus. tzj

Ständen, Hcrufen, Zünften nicht so iils ewige g-öftliche Notwendigkeit empfunden und geduldig ertragen, wie in den für die lutherische Ethik maßgebenden agrarischen Verhältnissen Norddeutschlands; die nif^der- gehenden Reichsstädte hatten der lutherischen lühik nichts mehr zu sagen. Außerdem ist im Calvinismus die Frage nach Nützlichkeit und Beitrag für das Ganze allen viel geläufiger und erlaubter. So ist das System der Berufe hier in freierer Bewegung, hindert nicht Berufswechsel und Ge- winnung neuer Berufe. Ein beweglicher und rationeller Utilitarismus wird hier möglich. Insbesondere aber stehen unter den erlaubten und nütz- lichen Berufen die Handels- und Unternehmerberufe mit ihrer Grundlage im Zinswesen. Die Forderungen der Wirklichkeit und die größere innere Unabhängigkeit vom kanonischen Recht haben dem Calvinismus die Be- streitung des Zinsverbotes nahegelegt. Bei aller Strenge gegen den Wucher ist ein mäßiger Zins, über dessen Höhe die Obrigkeit wacht, ein unentbehrliches Mittel des Gedeihens. So verwendet sich die Genfer Venerable Compagnie selbst für Errichtung einer Darleihungsbank, so ent- stehen die großen Handelskompagnien, die großen Banken und die großen Unternehmer. Indem nun aber der Kapitalgewinn bei der Strenge des Lebens nicht in Luxus und Wohlleben aufgehen konnte und andererseits die Benutzung jeder Erwerbsmöglichkeit eine Pflicht der Arbeitsamkeit war, entstanden große Kapitalanhäufungen, die teils in die öffentliche und private Wohltätigkeit flössen, teils aber zu immer neuer Anlage und Ver- wertung nötigten. So trägt die calvinistische Ethik ihr wichtiges Teil bei zur Entstehung des Kapitalismus, der Lebensform der heutigen Welt, die von ihr selbst ganz antikapitalistisch gemeint war als ein Werk der cal- vinistischen Askese. Noch wichtiger aber als diese direkte Begünstigung des Kapitalismus ist die indirekte Schaffung seiner wächtigsten Voraus- setzungen. Der Calvinismus schafft gerade durch seine rationale Anspan- nung der Arbeitsleistung ohne genießende Hingabe an den Arbeitsertrag den Boden für die kommende Blüte des Kapitalismus, der von Holland, dem hugenottischen Frankreich und vor allem von England und Amerika ausgeht. Er züchtet den Geist lückenloser Arbeitsamkeit und rationeller Zweckbeziehung, die Herrschaft des Arbeitsberufes über den Menschen. Das Luthertum hat das nicht gekonnt und nicht gewollt; auch seine Sozial- und Wirtschaftslehre ist zwar naturgemäß utilitaristisch; aber für das Individuum verlangte bei ihm die Berufspflicht nur die Sicherung einer auskömmlichen Existenz und die Fähigkeit zur Gewährung von Unterstützungen; die rationelle Steigerung der Gesamtwohlfahrt dagegen überwies es der Obrigkeit, die unter seinem Segen die Wege des Mer- kantilismus beschritt. Auf reformiertem Boden dagegen gewann die Be- rufsidee bei der Abwesenheit des ausruhenden Genießens, bei der Bekämp- fung aller innerirdischen und menschlich -gefühlsmäßigen Befriedigung als Kreatur- Vergötterung, bei der Abzweckung jedes Lebensmomentes auf die Verherrlichung Gottes jenen Charakter der Arbeit um der Arbeit willen,

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

die teils die Lust des Fleisches mortifiziert, teils die Mittel zu großartiger öffentlicher Liebestätigkeit gewährt, teils und vor allem als Haushalter der Gaben Gottes Gott durch Wuchern mit diesen Gaben verherrlicht. Auch hier liegt schließlich die Differenz der beiderseitigen GottesbegrifFe zugrunde. Immerhin aber ist aus dieser allgemeinen Disposition die eigent- lich kapitalistische Gesinnung nur im englischen Puritanertum und in den kleinen von der Welt sich trennenden asketischen Gemeinschaften ent- standen, die bei ihrer Trennung von der Welt neben der Religion nichts als die ökonomische Arbeit überbehielten. Hier bildete sich jener Ge- schäftsgeist, der die rationelle arbeitsteilige Wirtschaft, die systematische Ausnützung der Zeit, möglichste Steigerung des ehrlichen Gewinnes und Verwertung für allgemeine Zw^ecke zur Aufgabe des frommen Christen und guten Bürgers macht und ebendamit freilich auch Gott von der Höhe des prädestinierenden Weltwillens herabzieht auf das Niveau des die Berufstreue seiner Erwählten mit irdischem und jenseitigem Segen lohnen- den Auftraggebers. Gegenüber dem alten Genfer Calvinismus ist das mit seiner Werkheiligkeit, seiner Gesetzlichkeit und seiner Messung an Ge- schäftsmaßstäben freilich eine starke Veräußerlichung, und die Gründe dieser Entwicklung liegen wohl vor allem in der Herkunft des Puritanis- mus aus den kleinbürgerlichen Mittelklassen, die durch den Gegensatz gegen die anglikanische Seigneurie, ihre von Hause aus geschäftlichen Interessen und den materiellen Kampf des Koloniallebens dazu veranlaßt worden sein mögen. In Genf selbst, in dem immer zugleich stark poli- tisch und intellektuell interessierten Hugenottismus, in dem arminianisch gesinnten und der Renaissancebildung erliegenden Reichtum Hollands und vollends in dem agrarisch-aristokratischen Ungarn ist diese Entwick- lung nicht eingetreten. Dagegen hat sie allerdings den Charakter der englisch-amerikanischen Welt durchgreifend bestimmt. 2. Politik. Auch dem Calvinismus fehlen patriarchalische Züge nicht. Im Fami-

lien- und Staatsleben sind sie auch hier vorherrschend, wie sich das bei dem aristokratischen Grundgedanken und der Ergebung in die Weltregie- rung Gottes von selbst verstand. Die Unterordnung der Frau, die strengste Geltung der patria potcstas sind hier selbstverständlich. Das Hervortreten gebildeter Frauen, wie der berühmten Anna Schürmann, die völlig humanistisch gebildet mit Voet und Descartes in Verbindung stand, gehört der Frauenbewegung der Renaissance, der Einfluß religiös wirk- samer Frauen erst dem Pietismus und vor allem dem Quäker- und Täufer- tum an. Der Arbeiter wurde wie im Luthertum zur Ehrlichkeit, Bescheiden- heit und Forderung billigen Lohns ermahnt; Armut und Abhängigkeit erscheint als das von Gott verordnete Los der Mehrzahl und dient der Erziehung einer gottergebenen Gesinnung, wie umgekehrt Herren und Arbeitgeber die christliche Liebe und Fürsorge betätigen sollen. Es liegt eben auch hier der patriarchalische Kosmos der von Gott gesetzten Lebens- und Berufsformen zugrunde wie im Luthertum und im Katholi-

('. Ih-T Alt-I'rotcslantismus {ib. und 17. Jalirluimlerti. II. Der Calvinismus. 7cn

zismus. Ilookcr ciitwickolt in s(miumi „Laws of ecclesiastical polity" (1594) grundloi^tMid dieses System von Gesetzen, die aus dem göttlichen Willens- gesetz ausfließen und zum sittlichen Naturgesetz werden und von hier aus übergehen in das positive Gesetz. In diesem System ist jedem die Lebens- norm durch die allgemeinen Naturgesetze und die ethischen Grundbegriffe erteilt und macht das positive Gesetz im Alten Testament, im gemeinen Recht und in der Staatsordnung die Anwendung dieser allgemeinen Begriffe. Gott ist die causa remota dieses Systems, die geschichtliche Lenkung durch die Vorsehung in der Hervorbringung der einzelnen Sozialgobildc ist die causa proxima, und jeder hat sich in dem so entstehenden System als von Gott und der Vorsehung an seinen Platz gestellt anzusehen, er sei hoch oder niedrig-, arm oder reich. Dabei verlangt es der alte, in der Prädestination verkörperte aristokratische Gedanke des Calvinismus, daß dies System sich als Herrschaft der Besten zu gestalten hat, und daß alle an die Spitze Gestellten sich als von Gott mit ihrem Amt betraut be- trachten und so auch von den anderen geachtet werden: „it is a kind of natural right in the noble, wise and virtous to govern them, which are of servile disposition". Das Staatsideal ist die Herrschaft der Besten und die christliche Lenkung und Erziehung der Masse; so ist es bis Milton und Carlyle geblieben. Aber das politisch-soziale Lebenssystem des Calvi- nismus als Ganzes ist deshalb doch nicht zu bezeichnen als christlicher Patriarchalismus, sondern vielmehr als die Idee der geschlossenen, im Zusammenwirken des Ganzen und der Einzelnen erzeugten christlichen Kultur, als die Idee des Reiches der Heiligen, das auch die Ungläubigen unter Gottes Wort beugt zur Ehre Gottes. Daraus gehen dann aber wichtige politische Folgen hervor. Der Calvinismus achtet überall, so- lange sein Gewissen es duldet, die gegebene politische Gewalt. Aber abgesehen davon, daß er von ihr die Anerkennung von Gottes Wort ver- langt, sucht er sie auch möglichst ethisch rationell zu gestalten, indem es die Besten sein sollen, die herrschen, und indem die Herrschaft dieser Besten möglichst auf Zustimmung oder gar Wahl der Beherrschten be- ruhen soll. Darin äußert sich die Wirkung des tiefen, in der Prädesti- nationslehre gesetzten Individualismus. Er äußert sich ganz ausdrücklich in der individualistisch - rationellen Art, wie er das Naturrecht für seine Zwecke heranzieht. Folgen die Lutheraner der positivistischen Form des Naturrechtes, die den Staat aus Gewalt entstehen läßt, und wird bei ihnen diese Gewalt nur durch die Zurückführung auf die göttliche Vorsehung religiös rationalisiert, so folgen die Reformierten der rationalistisch - sub- jektivistischen Gestalt, die eine geordnete vStaatsgewalt aus Anordnung und Zustimmung der Staatsangehörigen selbst hervorgehen läßt. In dieser Richtung wirkt die Auffassung des alttestamentlichen Staates als Bund mit Gott, die presbyterial - synodale Organisation der Kirche und ihre Begründung auf Repräsentation und Majoritäten, der reichliche Gebrauch des Wahl- und Bestätigungsverfahrens, im tiefsten Grunde natürlich die

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

religiöse Idee von der aktiven und verantwortlichen, zu Gottes Ehre wir- kenden Persönlichkeit. So sind auf reformiertem Boden die Rechtslehren des Staatsvertrages und der Repräsentation gepflegt worden, die auf luthe- rischem fehlen. Auf beiden Seiten wird die Ethik in alter Weise mit der Lex naturae und einem aus ihr abgeleiteten Naturrecht unterbaut, aber die beide Male verschiedene Deutung dieser Unterlage spiegelt Ver- schiedenheiten des religiösen Gedankens, der freilich seinerseits jedesmal durch die vorgefundene politisch - soziale Umgebung schon mitbedingt ist. Althusius, die hugenottische Publizistik, der Arminianer Grotius, der Angli- kaner Hooker entwickeln aus Schrift und Vernunft die Theorie des Staats- vertrages als der Grundlage des politisch - sozialen Lebens, und, obwohl über Calvin damit weit hinausgehend, können sie sich doch auf die Kon- sequenz seiner Ideen berufen. So empfängt die calvinistische Politik den oft beobachteten Zug zur Beförderung des politischen Individualismus und des rationellen Naturrechtes, Er fügt sich freilich dem augustinisch - alt- testamentlich-aristotelischen Gedankengang noch durchaus ein. Der Staat gehört der Ordnung der Sünde an und ist die durch die Sünde bedingte Umgestaltung des Naturrechtes; alle seine Bildungen sind von Gottes Vorsehung herbeigeführt, und auch jeder Kirchen- und Staatscovenant ist zugleich ein Bund vor Gott, der die so eing^esetzten Machthaber mit gött- licher Autorität bekleidet; jeder Staatsvertrag ist eine Zweckmäßigkeits- operation, die dem Individuum zu seiner geordneten Befriedigung hilft, aber noch nicht, wie im späteren technischen Naturrecht, ein Rechts- begriff, der auf einem vorstaatlichen, begTifflich strengen Rechte des Indi- viduums als solchen beruhte. Der starke calvinistische Individualismus drängte nur nach einer möglichsten Mitbeteiligung des Individuums. So fügt Hooker zu dem oben angeführten Satze hinzu: „nevertheless for mani- festation of this their right, and men's more peacable contentment on ooth sides, the assent of them who are to be governed seemeth necessary". Immer bleibt doch die Bibel die Hauptquelle der Deutung eines solchen Naturrechtes und, wenn hierbei die Lutheraner sich mehr an die göttliche Autorisation und Einsetzung der Gewalthaber, die Reformierten sich mehr an die Bundschließungen und die soziale Predigt der Propheten gehalten haben, so ist doch auch ihnen jede Gesellschafts- und Autoritätsbildung trotz aller Beteiligung der Individuen eine göttliche Veranstaltung: „Al- mighty God has graciously endued our nature and thereby enabled the same to find out both those laws which all men generally are for ever bound to observe, and also such as are most fit for their behoof who lead their lives in any ordered state of government". Eine direkte poli- tische Wirkung solcher Gedanken ist daher auf dem Boden des reinen Calvinismus auch nur in einigen radikalen hugenottischen Programmen und in den Neuengland -Staaten eingetreten; die ersteren sind auf Grund der Lehre vom Revolutionsrecht der magistrats inferieurs stark ständisch ge- dacht, und die letzteren sind wieder in den reformierten Patriarchalismus ein-

r. Der AU-Proltstantismus (i6. u. 17. Jahrh.). III. Dir Aiifjlikanismus und InclciK-ndf-nlismus. ^6l

gebogen. Ebendeshalb ist selbst auf rein religiösem Gebi(!t nicht diejcMiige Wirkung- eines solchen Indixidualismus eingetreten, die naturgemäß ist, wo er der leitende Gedanke ist, die Gewissensfreiheit. Zwar haben die unter abnormen \'erhältnissen lebenden englischen, niederländischen und ameri- kanischen Flüchtlingsgemeinden eine streng individualistische Kirchen- verfassung, den KongTegationalismus, ausgebildet und gegenüber ihren Bedrängern die Gewissensfreiheit als Folge des rein persönlichen Über- zeugungscharakters der Religion gefordert. Allein nach innen war dabei doch immer die Voraussetzung, daß die Prädestination übereinstimmende religiöse Erkenntnis hervorbringen müsse und daß das Dogma streng zu wahren sei; nach außen war es nur die Forderung, daß Gewalt über die religiöse Wahrheit nicht bestimmen dürfe, sondern diese sich durch sich selbst durchsetzen müsse. An verschiedene mögliche Formen und Ausdrücke dieser Wahrheit ist nicht gedacht, und, einmal in der Herrschaft, hat der streng calvinistische Kongregationalismus sich zur Aufrechterhaltung der Wahrheit verpflichtet gefühlt. So herrscht im Grunde doch der Gedanke des Reiches der Heiligen und der Beugung aller Staatsgenossen unter die dogmatischen und ethischen Ideale dieses Reiches. Die Prädestination läßt die allgemeine Gleichheit und die Menschenrechte nicht aufkommen; die Herrschaft eines absoluten, aus der Bibel geschöpften Wahrheitsideals läßt den Relativismus der dogmatischen Lehren nicht aufkommen, der die Voraussetzung für die Toleranz und die Freiheit verschieden urteilender Gewissen ist; die Gewissensfreiheit ist nur Freiheit und Unantastbarkeit des wahren Gewissens. Die häufigen Versuche, aus dem Calvinismus die Ideen des modernen Individualismus, der Demokratie, der staatlichen Neutralität gegen das Kirchenwesen, der gegenseitigen Toleranz verschie- dener Kirchen abzuleiten, sind Irrtümer; seine Idee ist theokratisch.

Wenn doch aus ihm tatsächlich diese Folgerungen hervorgetreten sind, so ist das nur geschehen, weil neue und fremde Gedanken zu ihm hinzutraten und die in ihm streng gebundenen und mit der Theokratie vermittelten täuferischen Elemente befreiten. Das geschah in England.

III. Der Anglikanismus und Independentismus. Einen ganz i'oHtischer

'■ "^ l rsprung des

eigentümlichen Gang nahmen die Dinge in England, das innerhalb der Anglikanismus. europäischen Entwicklung überhaupt eine insulare Stellung einnimmt, die Rezeption des römischen Rechtes nicht mitgemacht und entgegen der kontinentalen Entwicklung zum Absolutismus die alte germanische Staatsauffassung der Teilung der Staatsgewalt zwischen Krone und Ständen beibehalten hat. Auch waren hier bereits starke landeskirch- liche Rechte gegenüber dem Papsttum erzwungen worden. In diese Verhältnisse griff aber doch auch hier der Zug zur Entwicklung der absoluten Monarchie ein, und, wie auf dem Kontinent, sollte die Los- reißung der Kirche vom Papst und die Gewinnung der Macht über die Kirche der Krone hierzu verhelfen. So ist die englische Kirche zunächst

^52 Ernst Tkof.ltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

eine rein politische Schöpfung des Absolutismus, ein gesteigerter Galli- kanismus. Damit waren aber die auch in England eindringenden, an alte wiklifitische Reste und humanistische Opposition anknüpfenden, refor- matorischen Kreise nicht zufrieden, während andererseits die Losreißung von Rom doch ihre Entfaltung begünstigte. Auch hier werden die ur- sprünglich lutherischen Einflüsse durch SchAveizer, Genfer und Straßburger Beziehung'en abgelöst und flößt der Calvinismus der Bewegung seine Energie ein. Daraus entstanden schwere und blutige Kämpfe, und das Ergebnis war unter der Regierung Elisabeths ein Kompromiß. Die eigen- tümliche Institution der Church of England blieb, aber ihr Dogma wurde gemäßigt calvinistisch und ihr Kultus beseitigte das, was mit diesem Dogma unvereinbar war wie Fegfeuer, Heiligenkult usw. In den 3g Ar- tikeln und dem Common Prayer Book erhielt sie ihr Symbol. Das allein gab dem Staate wieder Festigkeit und Ruhe, und gestützt auf dieses uni- formierte Kirchentum vermochte Elisabeth in der spanischen Flotte die letzte und wichtigste Aktion der Gegenreformation zu vernichten. Seit dieser tödlichen Verwundung Spaniens ist der Protestantismus gerettet. Wesen des Damit ist ein Kirchentum von völlig nationaler Eigenart geschaffen,

Anglikanismus. i r> r -r^ n n ^

nach außen scharf abgegrenzt gegen andere Kirchen, jeden Einfluß ab- schneidend; in Dordrecht haben die anglikanischen Deputierten nicht mit- gestimmt. Eine Ausbreitung hat es nur durch Hinüberwirken nach Schott- land und Irland, sowie durch die Kolonisation gefunden, so daß heute allerdings der Episkopalismus über die ganze Welt verbreitet ist. In seiner echten nationalenglischen Gestalt ist er jedoch schroff abgeschlossen. Es blieb die alte Episkopalverfassung mit der Lehre von der bischöflichen Sukzession, dem priesterlichen character indelebilis, der Beteiligung der Bischöfe an der Landesregierung im Oberhause, dem eximierten Gerichts- stand und dem weltlichen Besitz der Priester, Es blieb der König als Oberhaupt, der durch den Suprematseid gewaltsam die Konformität oder die geschlossene Religionseinheit des Staates aufrecht erhält. Es blieb der Kultus in den katholischen Formen und Gewändern, nur daß die Messe abgeschafft war. Dagegen ist das Dogma der Kirche gemäßigt calvinistisch mit Zurückstellung der Prädestinationslehre. Die Folge davon ist, daß im Anglikanismus frühzeitig rationalistische und moralistische Milde- rungen eintreten. Seine großen Prediger Hooker, Haies und Taylor können so als Wegbereiter des späteren Latitudinarismus gelten. Die Theologie beschäftigt sich bei dem Interesse an der Kontinuität mit der altchrist- lichen Bischofskirche gern mit verfassungsgeschichtlichen, liturgischen und patristischen Studien, darin unterstützt von der fortwirkenden Renaissance- Philologie, Auch die Ethik nimmt unter diesen Umständen eine mildere Färbung an; sie nähert sich in ihrer praktischen Verständigkeit der cal- vinistischen und ihrer größeren Läßlichkeit gegenüber dem Natürlichen der lutherischen. Ihre Staatslehre ist ähnlich der lutherischen absolu- tistisch. Filmer schrieb das berühmte Musterbuch patriarchalischer Staats-

('. Der Alt-I'rolcstanlismu.s (i6. u. 17. Jahrb.). III. I)rr Anfjlikanismus und IrKirpcnilcntismus. 'if)X

lehre, die alle Gewalt von der patria pote.sta.s Adams ableitet, und der naturrechtlich - calvinisti.sch g^e-sinnte Hooker läßt den Ab.solutisnius auf stillschweig-endem Kon.s(;n.s der Beherrschten re(ht.si>ültig beruhen.

Dieser Kompromiß an .sich unvereinbarer Ideen befriedigte natürlich Krhebun« des

... . . . . y-^ I'uritanisniu»

die große calvmi.sti.sche Partei nicht, die .sich nun im Gegensatz gegen ««•K'^n d.n

. . -IT-«' n '/ .\nt;likaiiismus.

die papistisch verunreinigte Kirche Puritaner zu nennen pflegte, /war hat Elisabeth mit großer Härte diesen Puritanismus auszurotten gesucht und Scharen zur Auswanderung- nach den Niederlanden gezwungen. Aber unter dem Einfluß der Schotten und jener niederländischen Elüchtling.s- gemeinden bildete sich ein neuer Puritanismus, der zu großen Dingen be- rufen und in seinem Innern nicht unerheblich verändert war. Zwiir schien er äußerlich eine große calvinistische Partei von gleichmäßiger Strenge und Lebhaftigkeit der Forderungen. Aber in der Berührung mit den holländischen Verhältnissen, dem holländischen Täufertum, dem dortigen Toleranzgedanken und Republikanismus hatten in den Flüchtlingsgemein- den die Ideen sich gewandelt, und diese Ideen wirkten auf England zurück. Dort hatte sich schon 1581 in beständiger Berührung mit den Täufern der Independentismus oder Kongregationalismus gebildet: die Theorien der Freiheit vom Staate, der Autonomie der Einzelgemeinde, der demokratisch - korporativen Gemeindeverfassung, Beschränkung der Gemeinde auf Wiedergeborene, Beseitigung jeder feststehenden Liturgie, Herabsetzung der Sakramente zu reiner Zeremonie; im übrigen sollte das calvinistische Dogma und eine allgemeine Christlichkeit des Staates gelten. Der uncalvinistische Charakter dieser Lehre und ihr Zusammen- hang mit dem Täufertum liegt auf der Hand. Aber auch die Anfänge des englischen enthusiastischen, später freilich orthodoxen Baptismus liegen hier in Holland, indem 1606 sich eine arminianisch gesinnte eng- lische Täufergemeinde in Holland und 1633 eine streng calvinistisch gesinnte, zugleich die Untertauchungstaufe lehrende in London von den Independentengemeinden abzweigte. Außerdem dauern in England selbst die Familisten fort, die später direkt in die Kanters übergehen und deren „Apologie" noch 1656 neu aufgelegt wird. Auch die Grundlagen des Quäkertums müssen hier oder in holländisch täuferischen Ideen liegen. Insbesondere aber ist der große Erbauungspoet, Bunyan, von täuferischen Ideen erfüllt; sein „Pilgrims progres.s" scheint sich an die Erzählung des Tobias von den Wanderungen des Heinrich Niklaes anzuschließen und sein „Holy War" beruht geradezu auf der Geschichte des Alün.sterischen Aufruhrs.

Noch aber treten alle diese Dinge nicht wesentlich hervor. Noch schien nur eine große gemeinsam pre.sbyterianische Opposition vorhanden, die gegen das absolutistische und katholisierende Regiment der beiden Stuarts immer stärker und leidenschaftlicher sich erhob. Calvinismus und Verteidigung der parlamentarischen Volksrechte wurden identisch; die Verbindung des calvinistisch - religiösen Individualismus mit den angel-

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Ernst Troeltsch : Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

sächsischen Ideen der Selbstregierung eröffnet die folgenreiche englische Parallele zur hugenottischen Lehre. Da berief Karl I. kein Parlament mehr und regierte 1 1 Jahre ohne Parlament. Als er aber die gleichen katholisierenden Maßnahmen auf Schottland ausdehnen wollte, da erhob sich dort ein neuer Covenant. Das veranlaßte den König endlich zur Wiedereinberufung des Parlamentes. Aber dieses von der Opposition gewählte, presbyterianisch gesinnte Parlament g'riff nun selbständig in die Entwicklung ein und machte sich zum Organ des Kampfes gegen Angli- kanismus und Absolutismus. Es rüstete 1642 sein eigenes Heer aus und eröffnete damit den Bürgerkrieg. Die Siege der Schotten und des Parlamentsheeres setzten es in den Stand, eine große Synode zu berufen, welche von 1643 47 tagend England als calvinistische Staatskirche ein- richten sollte. Die streng reformierte Westminster-Konfession und zwei Katechismen wurden beschlossen, der Episkopalismus abgeschafft und gegen eine allerdings lebhaft protestierende Minorität die genferisch- schottische Kirchenverfassung beschlossen. Deriudependen- Aber dicsc Syuodc solltc auch das einzige sein, was der echte Cal-

tisraus.

vinismus in England erreichte. Ihre Beschlüsse blieben auf dem Papier. Denn inzwischen trat in dem Heer ein neuer religiöser Geist hervor, der dem presbyterianischen Staatskirchenideal gerade entgegeng^esetzt war und der um so einflußreicher wurde? je mehr der Bruch mit allen historischen Ordnungen nur das Heer als Träger einer aktionsfähigen Gewalt übrig ließ. Es wird immer eine der denkwürdigsten und schwierigsten Fragen bleiben zu sagen, wie und woher dieser Geist in das Heer gekommen ist. Er erklärt sich wohl zumeist aus dem Zurückströmen holländischer und amerikanischer Flüchtlinge, die nach dem Aufhören der Verfolgung wieder das Vaterland aufsuchen konnten und independente, republikanische und enthusiastische Ideen aus ihrer Berührung mit dem Täufertum und aus der sektenhaften Entwicklung ihrer Flüchtlingsg-emeinden zurückbrachten, Ge- wissensfreiheit der religiösen Überzeugung bei der Voraussetzung einer im allgemeinen selbstverständlichen Christlichkeit der Nation, demokratisch- korporative Gemeindebildung, analoge demokratisch-korporative republi- kanische Auffassung des Staates, der Enthusiasmus persönlicher, innerlicher religiöser Erleuchtung, pietistische Strenge der Lebensführung, \or allem die felsenfeste Überzeugung von der Notwendigkeit, moralisch den Staat unter das Gesetz der christlichen Ethik zu stellen und das Leben bei aller Freiheit der dogmatischen Begriffs- und der kirchlichen Gemeinde- bildung doch streng unter diese Maßstäbe organisatorisch zu beugen: das sind die Ideen, welche das Heer und vor allem seinen gewaltigen Führer Cromwell (gest. 1658) und seinen späteren Staatssekretär Milton erfüllen. Hier wird der Bruch mit der gelehrten Schultheologie und ihrem Ideal einer uniformen Doktrin vollzogen, wird das Ideal der einfachen aus der Bibel geschöpften Laienreligion erneuert, die Bibeldeutung abhängig ge- macht von der persönlich - individuellen Erlahrung und Erleuchtung und

(". Der All-Prolcslanlisnuis (^lO. u. 17. Jalirh.). III. Der Anglikanisimis uml [nili-pciulenlisnius. i^jc

iiuicrhalb einer iiUgenieiiieii offenbarungsg-läubigen C'hristlichkeit der Re- lativismus der theologischen Lehre proklamiert. Das ist ein runder Gegensat/, gegen die dogmatische Idee des echten Calvinismus. Eine solche Anschauung ließ Raum für alle möglichen Gemeindebildungen, für Kongregationalisten, Baptisten, Quäker, Presbyterianer, Pietisten, reine religiöse Individualisten und beugte sie doch alle unter die große, gemein- same Idee des Staates einer christlichen Sittlichkeit oder des Reiches der Heiligen. Nur sollte dies Reich der Heiligen im echt christlichen Sinn, mit relativer dogmatischer und absoluter kirchenverfassungsmäßiger Toleranz verbunden sein und sich nur auf das Christlich - Moralische er- strecken. Daß die erregte religiöse Phantasie und Leidenschaft, die frei- gegebene Bibeldeutung hierbei neben dem gewaltigsten Heroismus auch die bizarrsten Exzentrizitäten und wildesten ^Spekulationen hervorgebracht hat, ist nur selbstverständlich. So groß und gewaltig die Gedanken der Eührer sind, so verworren, anarchistisch und exzentrisch sind die der Masse, die ohne Bildung und Regel die Bibel und die Inspiration für ihre Einfälle ausbeutete. Unter diesen Umständen war das Parlament nicht imstande, die Eührung in der Hand zu behalten; sie geriet völlig in die Hände Cromwells und seiner Getreuen. Diese aber wurden durch den einmal vollzogenen Bruch immer weiter zur radikalen Neuaufrichtung des christlichen Staates getrieben. Der König war zu den Schotten geflohen, und die streng presbyterianischen Schotten traten nun für den König gegen die Sektierer ein. Die Schotten wurden geschlagen, das Parla- ment von Cromwell gereinigt und der König auf Grund der hugenottisch- schottischen Theorie von der Pflicht des frommen Volkes gegen die gott- lose Obrigkeit hingerichtet (164g). Die Republik wurde erklärt und, als das Parlament versagte, ein neues Parlament, das Parlament der reinen Heiligen, einberufen. Aber als die Heiligen durch die Abschaffung der Zehnten die Kulturgüter, insbesondere die Universitäten, antasteten, konnte Cromwell auch mit ihnen nicht regieren und ließ sich zum Pro- tektor machen. Hier hat der geistliche Herrscher Unvergängliches für die Größe Englands geleistet. Aber das Experiment des christlichen Staates zerfiel mit seinem Tod. Die Stuarts kehrten zurück, und von seinem Werke blieb nichts als die politische Machtstellung Englands, die Lehre von der Duldung religiöser Gewissensüberzeugung und Ereigebung der Gemeinde- bildung. Sehr eingeschränkt wurde sie durch die glorreiche Revolution Wilhelms III. (1689) zum Gesetz, in ihrem vollen Sinne dagegen durch die Lehre John Lockes zur weltbeherrschenden Theorie.

Vor allem aber ergab sich, freilich sehr gegen die Absicht des Inde-i'mschi.-iKinden

1 . ,.,,.., . ,. . 11-1 1 ,. ... Liberalismus.

pendentismus, die Emsicht m die rem weltliche, von keiner relignosen Idee zu lenkende Natur des Staates und der innerweltlichen Kulturgüter, welche Lehre Hobbes als Ertrag des geistlichen Experimentes formu- lierte und zum Ausgangspunkt der modernen Ethik machte. Der damit eintretende Umschwung wurde vollendet durch die Verwandlung des reli-

-j56 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

giösen Individualismus in die rein weltlich demokratischen Ideen der Gleich- heit der Menschen und ihrer Lebensansprüche. Den Übergang hierzu vollziehen die Leveller, aber diese Ideen werden bald zum Gemeingut aller, bei denen die Revolutionswirren die Herrschaft der religiösen Idee gebrochen haben. Die Prädestinationslehre ist mit der Zurückdrängung des Presbyterianismus und dem Scheitern des geistlichen Reiches zer- stört und durch den Universalismus der Gnade ersetzt; der Enthusias- mus der religiösen Subjektivität ist verraucht und zum Subjektivismus des natürlichen Individuums geworden. Damit wird der Raum frei für das große Ergebnis der Epoche, den Liberalismus. Er behält aus der reli- giösen Grundlage einen allgemeinen, oft sehr christlich gefärbten Theis- mus bei und stattet das Individuum aus mit den in dieser Epoche erreichten Prädikaten und Forderungen individueller Freiheiten. Die Indi- viduen sind ihm mit diesen Ansprüchen von Hause aus und wesentlich ausgestattet, und diese Ausstattung ist das Wichtigste am Menschen; keine Prädestination und keine Übernatürlichkeit fügt dem etwas weiteres Wesent- liches hinzu, sondern die individuellen Einheiten des sozialen Systems treten in die Analogie zu den gleichartigen individuellen Einheiten der neuen mechanischen Naturphilosophie, und der Gedanke geht von der bisherigen dogmatischen auf die neue naturphilosophische Basis über. Die Harmonie der Naturelemente wie die der Sozialelemente hat ihren Grund in der zweckvollen göttlichen Weltregierung, die im Christentum diesen ihren allgemeinen natürlichen Zweckgedanken nur besonders großartig zusammenfaßt und offenbart. Die Lex naturae wird von ihrer biblisch- theologischen Umklammerung befreit und ihrem alten stoischen Zusammen- hang der Naturphilosophie zurückgegeben, nur daß dieser Zusammenhang jetzt aus der atomistisch- mechanistischen Naturlehre und der theistischen Teleologie gedeutet wird; und umgekehrt wird die Bibel nunmehr radikal von dem neuen Begriff der Lex naturae umklammert und alles damit nicht Übereinstimmende als bloß zeitgeschichtlich bedingt betrachtet und beiseite gelegt. So kommt es neben der Toleranzlehre zu der Sozial- philosophie des Liberalismus, zum Aufbau von Staat und Gesellschaft auf dem Individuum und seinen wesentlichen Rechten, zu der Zweckbeziehung beider auf das individuelle Wohl. Die Staatslehre Lockes und ein halbes Jahrhundert später die Wirtschaftslehre Adam Smiths sind auf diesem Boden gewachsen und von ihm aus zu einer Weltmacht geworden, die ihren Ursprung in englischen und independenten Ideen darin noch inmier bekundet, daß es ihr weniger auf die Gleichheit als auf die Freiheit und Ungestörtheit der Bewegung des lndi\iduums, weniger auf eine abstrakte Gleichheitsdoktrin, als auf Kritik und Reform des Bestehenden nach diesen Maßstäben, ankommt, independentis- Die Reste dcs Indcpcndentismus und Puritanismus wurden zu fried-

lichen und loyalen Dissenterkirchen. Auch die aufgeregten Quäker be- ruhigten sich zu einer kommerziell prosperierenden Sekte, die Baptisten

C. Der Alt-I'rotestantismus (l6. u. 17. Jahrb.). III. Der Anglikanismus und IndcpondiTilismus. if^-j

wurden orthodox; beide gründeten zuj^leich Siedelung^en in Amerika, wo vor allem Penns Stiftung' in Philadelphia zu hoher Hedeutun^- gelangte. Dort war auch von früher her noch eine Stiftung des echten Independen- tismus, Rhode-Island, die Schöpfung von Roger W^illiams. Dieser edle En- thusiast für Gewissensfreiheit, Menschenrechte und Indianermission, der, wie später Penn, den Indianern die Ländereien durch Vertrag abkaufte, war nach seiner Auswanderung aus Altengland (1631) nach Massachusetts ge- gangen, dort überall von den strengen Puritanern abgewiesen und schließ- lich verbannt worden, gründete daher neue Siedelungen ganz demokra- tischer und religiös independenter Art, die unter seiner beständigen Einwirkung schließlich zu dem Staate Rhode -Island zusammenwuchsen. Dieser Kolonialstaat wurde für Neuengland, was dieses für Altengland geworden war, der Sammelpunkt aller Verfolgten und Freiheitsdurstigen, verstand es aber, das Prinzip der rein weltlichen Bedeutung des Staates und völlige Kirchenfreiheit zu behaupten; christlich wollte dabei auch er bleiben, nur ohne Zwang. Von den vereinigten Neuenglandstaaten mit äußerstem Mißtrauen als Herd politischer und religiöser Anarchie be- trachtet und mit dem verabscheuten Anabaptismus zusammengeworfen, vermochte er doch sich zu halten und schließlich seine Aufnahme in den Bund durchzusetzen. Von ihm und den Quäkern ging dann nach der Erweichung der puritanischen Orthodoxie, unterstützt durch den inzwischen auch hier eingedrungenen Deismus, die große Parole der freien Kirche und des freien Gewissens im freien christlichen Staate aus, die später nach dem Abfall von England in den Einzelverfassungen und der Unions- verfassung das religionspolitische Programm Nordamerikas wurde, das Prinzip des absoluten kirchlichen Individualismus nicht aus religiöser In- differenz, sondern aus Achtung vor der Gewissensfreiheit.

Das Reich der Cromwellschen Heiligen ist der Wendepunkt in der Das Reich der Geschichte des Protestantismus, die letzte religiöse Volksbew^egung, das Wendepunkt. Ende der Religionskriege, der Ausgangspunkt der modernen Welt. Politik und Wirtschaft lösen sich prinzipiell von der geistlichen Verwicklung und streben nach selbständigen, natürlichen rationalen Grundlagen und Maß- stäben, die Toleranz wird die Grundlehre aller philosophischen Bildung, die Ethik stellt sich selbständig auf die Basis des natürlichen Sitten- gesetzes, das sie aus antiken Ideen und modernen Erfahrungen ausbaut, völlig unbekümmert um die mittelalterlich-reformatorische Eehre von der Identität des natürlichen Gesetzes mit dem christlichen oder die Lehre umkehrend und das christliche Gesetz auf das natürliche reduzierend.

Diese Wirkungen liegen als Tatsachen auf der Hand. Aber es ist die Frage, wie sie innerlich aus der Geschichte des Protestantismus hervor- gehen, wie sie religions- und dogmengeschichtlich zu ihm sich verhalten. Welches ist die Wandlung, die der Calvinismus und mit ihm der Pro- testantismus überhaupt hier erlebt hat, und welche Bedeutung hat diese Wandlung für die allgemeine Kulturgeschichte?

•j68 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

Dogmen- Zuiiächst ist klar, daß die von der Logik des Calvinismus gebundenen

Stellung des In- Grundelemente hier auseinandergetreten sind. Die Prädestination wird

dependeiitismus. .. -.- ,.... x^^i t t -i -i-i r^

zum persönlichen religiösen Jinthusiasmus und zur individuellen Lrewissens- überzeugung; freilich ist diese dabei stets als religiöse und im allgemeinen biblische Überzeugung betrachtet. Aber die Bibel ist nicht das einzige Organ der Erkenntnis des göttlichen Willens; neben ihr steht die persön- liche, von ihr angeregte Inspiration. Und auch die Bibellektüre selbst steht nicht unter dem Maßstab eines Symbols oder einer dogmatischen Schultradition, sondern unter dem der persönlichen Erleuchtung und inneren Überführung, was der Inspiration der Bibel keinen Eintrag tut, aber jedenfalls die reformatorische Betrachtung derselben völlig auf- hebt. Die Kirchenverfassung ferner mit ihrem jus divinum und ihrer Kirchenzucht ist gegen die christliche Freiheit und widerspricht dem individualistisch-demokratischen Gefühl, daß alle Gemeinschaft auf freier Korporation und Vertrag beruhe; der Anstaltscharakter der Kirche und die göttliche Anstaltsverfassung, bei deren Voraussetzung nur eine ein- zige herrschende Kirche möglich ist, ist aufgegeben, und die Vielheit der Kirchen hat nichts Beirrendes. Die Beziehung schließlich zum Staate, wo die Eine Anstaltskirche zur Aufrechterhaltung der Christlichkeit über- all mit dem Staate Hand in Hand gehen und auch den Gottlosen zum äußern Bekenntnis zwingen mußte, ist mit alledem gründlich aufgehoben, der Staat seiner rein natürlichen Aufgabe zurückgegeben und das Ge- wissen mit seinen Institutionen unvervvirrt. Es ist eine völlige Zersetzung der reformierten Ideen und in der Hauptsache gerade derjenigen Ideen, die der Calvinismus mit dem Luthertum gemeinsam hatte und durch die sie beide von der Schwärmerei so schroff sich unterschieden. Das deutet schon darauf hin, daß diese Auflösung nicht aus dem Geiste und der inneren Dialektik des calvinistischen Gedankens selbst hervorg-egangen ist. Sie stammt ims fremden Ideen, und diese fremden Ideen liegen ganz offenkundig im Täufertum. Zwar ist die reformatorische Lehre vom Rechte des Staates und des Krieges und insbesondere die calvinistische vom christlichen Staat geblieben, aber der independente, undogmatische, rein persönliche Geist dieser Religiosität stammt aus dem Täufertum. Das von Luther, Zwingli und Calvin so blutig unterdrückte Täufertum hat hier gesiegt. Es hat auf reformiertem Boden gesiegt, weil hier die Ideen der persönlichen Erwählung und der heiligen Gemeinde in dem dem Täufer- tum so streng verschlossenen System doch eine Spalte aufgelassen hatten. Und diese Spalte stammte aus mittelbarer taufe rischcr Beeinflussung des Calvinismus selbst, aus den in Straßburg" von Calvin aufgenommenen Ideen Buzers. Aber der Sieg auf reformiertem Boden bedeutete nur den Anfang des Sieges. Er hat indirekt mit den Ideen Lockes und WolflFs und direkt mit denen des Pietismus bald auch das ganze Luthertum über-

Ende der

flutet.

mittelalterlichen ^^^^ ^.^^^^^^ j^^ ^^^^^. ^j^.^. aogiiKMigescliichtHche Zusammenhang der

r. Der Alt-Prt)lcstanlismus (id. ii. 17. Jahih.). III. Der Anglikanismus und Indoponilcntisnuis. ■;6q

Idee aufgehellt. Eine andere Frage ist: was bedeutet dieser Sieg des Täufertums? Er bedeutet nichts Geringeres als das Ende der mittelalter- lichen Idee, die Trennung von Staat und Kirche, die Spaltung von weltlicher Kultur und rcligiciscr Idee, die Freigebung der Zersplitterung der christ- lichen Kirche in eine Reihe verschiedener Gemeinschaften und Lehren, die relativistische Auffassung der religiösen Gebilde als verschiedener möglicher Gestaltungen des religiösen Gedankens, den Verzicht auf das mittelalterliche Prinzip, daß die göttliche supranaturale Offenbarung nur eine sein könne und daß diese eine Wahrheit herrschen müsse über den Ge- samtumfang des ganzen natürlichen und sündigen Lebens, daß insbesondere Staat und Kirche nur die eng verbundenen Organe der einen von der Religion beherrschten Kultur seien. Die Idee der in ihrem Gesamtumfang religiös bestimmten Kultur und der sie tragenden erlösenden Gottesstiftung der Kirche hat aufgehört. Verschiedengläubige Minoritäten mögen ihre Gewissensüberzeugung in den von ihnen gebildeten Gemeinschaften wirksam machen, soweit sie können und wollen; Staat und Gesellschaft mögen darauf eingehen, soweit auch sie ihrerseits können und wollen; aber beide gehen den eigenen Weg, der ihnen durch die Natur ihrer Interessen vorgeschrieben ist. Nicht bloß die einheitliche religiöse Organisation, sondern jede ein- heitliche Organisation der Kultur ist überhaupt zu Ende; die Einheit be- ruht nur mehr auf der Einheitlichkeit des tatsächlichen Gedankenbesitzes, und dieser wird unter dem Einfluß der verschiedenen sich immer stärker differenzierenden Interessen und unter dem Einfluß der die mannigfachsten Wege gehenden Gewissensfreiheit immer bunter. Damit ist die tausend- jährige Idee der kirchlichen Kultur zu Ende. Ohne daß noch der Ratio- nalismus das göttliche Heilswunder der Menschwerdung und Genugtuung und das davon zeugende Wunder der Bibelinspiration aufgelöst hatte, ist doch durch die Bindung des Wunders an die variierenden Gewissensüber- zeugungen die eigentliche Wirkung dieses Wunders, die Sammlung der Menschheit unter Herrschaft und Zucht der einen absoluten göttlichen Wahrheit, aufgehoben. Weil sie diese Konsequenz fühlten, darum haben die Reformatoren und ihre Kirchen das Täufertum und den Independen- tismus als frivolen Zweifel an der einen göttlichen Wahrheit, als Verachtung der göttlichen Heilsanstalt der Kirche und als Spiel menschlicher sündiger Einfälle verworfen; und weil im Glaubensbegriif der Reformatoren trotz aller Bindung an objektive Mittel diese Konsequenz doch enthalten war, darum starb noch ohne jede rationalistische Ankränkelung die protestan- tische Nachblüte der mittelalterlichen Idee in den Stürmen der englischen Revolution für immer ab.

Aber das ist nur die eine Seite der Sache. Die Zersetzung des Cal- vinismus ist zweifellos ein Werk täuferischer Gedanken. Aber darum ist doch die Idee des englischen Independentismus nicht überhaupt identisch mit dem Täufertum. Er kennt weder die täuferische Nicht-Resistenz noch die Zurückziehung vom Staate, aber auch nicht die apokalyptische Phan-

DlE Kl'LTUR DKR GeGBNWAKT. I. 4. 24

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

tastik der Münsteriten. Solche Dinge haben nicht gefehlt, aber sie gehören den Kreisen der erregten Massen an. Die Führer dachten nicht daran. Sie wollen überhaupt nicht den Zusammenhang mit der protestantischen Über- lieferung zerreißen. Cromwell glaubt an die Prädestination, und Milton schreibt eine biblische Dogmatik. So bleibt ihnen vor allem auch die Grund- idee des Calvinismus, die Idee des politisch organisierten Reiches der Hei- ligen, des sittlich vollkommenen Staates, in dem sich Gottes Ehre bekundet. Sie verschmähen nur die Mittel des dogmatischen Glaubenszwanges und der einheitlichen Kirchenverfassung. Sie wollen auf dem radikal ein- geebneten Boden den christlichen Staat aufrichten, aber mit den Prinzipien der Independenz und der Gesinnungsreligion. Die Freigebung der Kirchen- bildung und der dogmatischen Überzeugung steht immer unter der Voraus- setzung, daß dabei die christliche Wahrheit erst recht siegen werde und daß in allen sittlichen Forderungen die strengste Übereinstimmung bestehen bleibt. Der Herr wird sein Volk nicht aus der Wahrheit fallen lassen, und die Erzwingung der sittlichen Korrektheit ist durch alle dogmatische und verfassungsmäßige Independenz nicht ausgeschlossen; sie liegt in der Hand der christlichen Regierung. Staat und Religion bleiben auf den gemeinsamen Zweck der Kultur bezogen, auch wenn der Staat in spezifisch kirchliche Dinge sich nicht mehr einmischt. Ein christliches Gemeinwesen soll, wie Cromwell und Milton gemeinsam bezeugen, hier zum erstenmal in der Welt völlig reinlich aufgerichtet werden. Es soll von der frommen Minorität der laxen Majorität aufgezwungen werden und deren endliche Zustimmung gewinnen; es soll in Glaubensfreiheit und Sittenstrenge der christliche Geist verwirklicht und innere wie äußere Politik den christ- lichen Maßstäben unterworfen werden. Der demokratische Charakter ist spezifisch christlich gedacht als eine Verwirklichung der christlichen Frei- heit, und die Wahlkandidaten müssen durch puritanische Gesinnung und Anerkennung der neuen Ordnung qualifiziert sein. Religiös - kirchliche Autonomie, politisch-demokratische Selbstregierung, puritanische Sitten- strenge, antikatholische und protestantensammelnde äußere Politik, Popu- larisierung und Verchristlichung von Recht und Prozeß, moralisch-religiöse Überwachung durch die Generalmajore, christliche Ordnung in Militär und Verwaltung, Wissenschaft und Schule, Erwerbsleben und Privatleben: das sind die Grundzüge dieser Regierung. Auch die Weihe der christlichen Kunst, so wie sie der Calvinismus hervorbringen konnte, hat diesem Reich der Heiligen nicht gefehlt; Milton ist sein Dante geworden.

Alles das zeigt, daß auf der einen Seite der Independentismus die mittelalterliche Idee auflöste, daß er sie auf der anderen Seite aber um so energischer in einem enthusiastischen Anlauf und gewaltigen Heroismus, jedoch ohne Zwang und ohne Staatskirchentum nur aus dem freien Triebe der christlichen Sittlichkeit und durch die Kraft sittlicher Erziehung, auf- zurichten strebte. Er wollte die Freiheit der verschiedengestaltigen Glau- bensüberzeugung, aber auch das staatlich und kulturell organisierte Reich

('. Drr Alt-I'rotcstanlismus (l6. u. 17. Jahrb.). III. Der Anglikanismus und Indepcndentismus. -y-ji

der Heiligen. Es ist ihm nicht gelungen, beides zu vereinigen. Auf den Enthusiasmus läßt sich kein Gemeinwesen aufbauen. An der Anarchie, die von der Verbindung des religiösen Autonomiegedankens mit dem politischen ausging, hat sich der Staat Cromwells verblutet, und die Eolgezeit hat die Errungenschaften dieser Kämpfe nur in der Weise festzuhalten vermocht, daß sie den religiösen Autonomiegedanken von der Idee der politischen Freiheiten sorgfältig trennte und die kirchliche und politische Sphäre als geschiedene Sphären der Gesittung vorsichtig auseinanderhielt. Aber noch viel mehr: der Gedanke einer rein auf die christliche Ethik aufgebauten Politik, auch wo diese Politik, wie hier im reformierten Sinne, Krieg und Kampf zur Ehre Gottes für erlaubt und Rechtsordnung zur Zucht des Gemeinwesens für geboten hielt, erwies sich aus seinem inneren Wesen heraus als undurchführbar. Die noch so starke Heranziehung des Alten Testamentes zum Aufbau eines weltfähigen christlichen Staates konnte hier nichts helfen. Es blieb zu viel Innerlich - Christliches. Der innere Zwiespalt, in den er dadurch geführt wurde, war die Tragik von Crom- wells Leben. Er mußte zunehmend erfahren, daß nicht bloß eine derartige sittliche vStrenge die naiven Instinkte der Masse nicht bewältigen kann, sondern daß vor allem auch die einzelnen weltlichen Zwecke und Funk- tionen von Staat und Gesellschaft eine innere Logik haben, die eine selb- ständige, durch die Natur dieser Gebiete bedingte Entfaltung verlangt und nicht einfach durch christliche Maßstäbe vergewaltigt werden kann. Cromwell hat hier Stück für Stück nachgeben und die geistlichen Maß- stäbe mit weltlichen vertauschen müssen; er hat seinen religiösen Enthu- siasmus zum Opportunismus stimmen, seine Liebe und Freiheit erstrebende Politik in Diktatur und seine idealistische religiöse Weltpolitik in sehr realistische Handelspolitik verwandeln müssen. Und ähnlich hat Milton bei aller Begeisterung für Freiheit und Idealismus zu der Diktatur Cromwells schweigen und der Notwendigkeit sich fügen gelernt, daß die wahre christliche Sittlichkeit nicht von einem ganzen Volke, sondern nur von wenigen Erwählten verwirklicht werden könne.

Die Bedeutung dieses Mißlingens ist aber von der außerordentlichsten Wichtigkeit und von unermeßlichen historischen Folgen. Ist die mittel- alterliche Idee auf der einen Seite aufgelöst durch den sie zersetzenden Gedanken der Independenz, so i.st sie auch auf der anderen Seite aufgelöst durch das Experiment der reinen und echten Verwirklichung ihres er- sehnten Zieles, der Ableitung alles sittlichen Lebens direkt aus der christ- lichen Idee selbst. Das Mittelalter und der Protestantismus hatten sie nur verwirklichen können durch Anleihen bei der Staat, Gesellschaft, Recht und Eigentum sichernden Lex naturae und hatten sich den Anleihe -Cha- rakter durch die naive Identifizierung von Lex naturae und und Lex Christi verborgen. Hier wurde der Versuch gemacht, ohne solche Anleihe, oder wenigstens mit äußerster Reduktion der Lex naturae auf den christ- lichen Gedanken, das Einzel- und Gesamtleben unmittelbar aus der chri.st-

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit

liehen, nur durch das Alte Testament ergänzten, Idee zu regeln, und der Versuch scheiterte an der eigenen inneren Unmöglichkeit. Er scheiterte so offenkundig, daß allen tiefer Denkenden der Grund in der inneren Unmög- lichkeit der Sache offenbar wurde, und daß alle Oberflächlichen zwar die Theorie in der Doktrin irgendwie behaupteten, aber in der Praxis völlig verleugneten. Das Experiment wird nirgends mehr wiederholt; Politiker und Praktiker folgen den realen Notwendigkeiten, die Staat und Gesellschaft in sich tragen; Philosophen und Theoretiker erklären die natürlichen Kultur- güter, zu denen neben Staat und Gesellschaft bald noch Wissenschaft und Kunst hinzukommen, für in der allgemeinen Natur der Dinge begründete vernünftige Güter und Zwecke, die sich nur nach ihrem eigenen inneren Wesen regeln. Der alte Kompromiß der christlichen Ethik mit der Lex naturae ist aufgelöst, und der christlichen Ethik bleibt nichts übrig, als entweder in pietistische Kreise sich zurückzuziehen, oder einen neuen sehr viel umfassenderen Kompromiß zu suchen, der die innerweltlichen Kultur- güter als selbständige ethische Werte mit dem höchsten religiösen Gute verbindet und die alte Lehre von der radikalen erbsündigen Verderbung alles Natürlichen und Außerchristlichen über Bord wirft.

Das alles aber bedeutet das Ende des Mittelalters und mit ihm das Ende des Alt-Protestantismus. Es beginnt der Neu-Protestantismus, der die von den Reformatoren so heftig verworfenen täuferischen oder die nicht viel glimpflicher behandelten humanistischen Prinzipien oder eine Kombination von beiden für genuin reformatorische Lehren hält und im Bunde mit beiden eine neue protestantische Ethik aufrichtet.

D. Der moderne Protestantismus (i8. und 19. Jahrhundert). Wesen der mo- I. Die modemc Welt und die moderne Wissenschaft. Daß

dernen Kultur. .,-p, ,, ,, ., otiii o-ii

mit dem Ende des 17. und dann mit dem 18. Jahrhundert eine große alles ergreifende geistige Umwälzung in Europa stattfindet, das ist allbekannt und aus dem Gegensatz gegen alle Erzeugnisse der älteren Periode leicht heraus- zufühlen. Es beginnt eine neue Kulturform, welche die seit dem Bündnis des römischen Reiches mit der siegreichen Kirche herrschend gewordene Kulturform ablöst. So leicht und einfach aber im ganzen das Wesen dieser abgelaufenen Kulturperiode sich bezeichnen läßt, so schwierig ist das der neuen zu bestimmen. Sie hat sich zunächst als Aufklärung be- zeichnet und nennt sich nun nach Ablauf der Aufklärungsperiodo moderne Zivilisation in dem Gefühl, gegenüber Antike und Mittelalter trotz alles Zusammenhangs etwas Eigentümliches zu besitzen, das auch dieser Kultur eine gewisse innere Einheit und Geschlossenheit gibt. Ereilich ist dieses Eigentümliche nach der positiven Seite schwer zu formulieren; es liegen ihm verschiedenartige Motive und Mittel zugrunde, es hat eine sehr wechselreiche und widerspruchsvolle Entwicklung der modernen Welt

I). Der moderne l'rulestantismus (i8. u. 19. Jahrh.). I. Die mod. Welt und die mod. Wissenschaft, ly 7

nicht ausgeschlossen und ist bei der Nähe und Gegenwart seiner tausend Interessen schwer zu übersehen. Leichter ist es, dieses Neue von der negativen Seite zu bestimmen, und das ist auch die Seite, die für die Ge- schichte des Protestantismus die wichtigste wurde. Zunächst ist sie eine Wiederanknüpfung an die Renaissance-Ideen, die hinter der konfessionellen Welt zurückgetreten waren, die aber im stillen praktisch in der Politik und der Staatsauffassung und theoretisch in den kühnen und einsamen Anläufen zu einer Neubildung- der Natur- und Gesellschaftswissenschaften weitergewirkt hatten. Sie tritt nun nach der Ermattung des konfessionellen Geistes in den Religionskriegen mit den Bedürfnissen der praktisch- politischen Regeneration und mit der größeren Bewegungsfreiheit der Wissenschaften in Holland und England wieder hervor. Aber inzwischen hatte sich der Renaissance -Geist tief verändert. Er war ursprünglich individualistisch-aristokratisch gewesen und hatte in seinen höchsten Ver- tretern als eine ästhetische Lebensauffassung gelebt; er hatte keinen prinzipiellen Kampf gegen das geistliche Kultursystem geführt, sondern dessen Aufrechterhaltung für die Massen für selbstverständlich gehalten. Der ästhetische Geist verschwindet nun vollständig, er wird aggressiv, prinzipiell und umfassend zum Kampf gegen das überlieferte System, zu einer Umstimmung und Bekehrung auch der Massen. Die Renaissance ferner hatte zurückgeschaut und mit dem kirchlichen System die Über- zeugung geteilt, daß alle Kulturgrundlagen fertig seien; sie fand in der Antike nur die Bibel der freien weltlichen Lebensauffassung. Nun wird sie schöpferisch und revolutionär auch gegen die Antike und pflanzt das Panier einer völlig neuen, alles verwandelnden, ungemessene Fortschritte ahnenden Weltkultur auf Was diese Veränderung bewirkt hat, ist im einzelnen schwer zu sagen. Es steckt jedenfalls in diesem Geiste ein guter Teil des sittlichen Ernstes und des Reformwillens, den die religiösen Bewegungen dem europäischen Leben eingeflößt hatten. Noch wichtiger aber war die klare Erkenntnis von der Notwendigkeit einer grundlegenden Verneinung der Voraussetzungen der bisherigen konfessionellen Welt, die nur zu Krieg und Blut geführt und wissenschaftlich größtenteils eine neue scholastische Barbarei herbeigeführt hatte. Der Radikalismus der Ver- neinung war nur zu ertragen bei einem entsprechenden Radikalismus des Neubaues und bei einem Optimismus, der des Kommens einer besseren Welt sicher ist. So fehlt es an Formulierungen des Neuen nicht. Das völlig Klare aber ist bei alledem nur der Radikalismus der Verneinung. Auch er bewegt sich durch verschiedene Grade der Intensität und Klar- heit, durch allerhand Kompromisse und allerhand sehr verschiedene Formen hindurch. Aber der Punkt, der verneint wird, ist im wesentlichen immer derselbe, und zwar ist es die eigentliche begriffliche Grundlage des bisherigen kirchlichen Lebenssystems.

Der Gegensatz richtet sich gegen den absoluten, exklusiven Supra- Amisupra-

naturalismus.

naturalismus der Kirche in seiner engen Verbindung mit der Erbsünden-

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

lehre. Man wendet sich gegen die Alleinwahrheit der kirchlichen Offen- barung, gegen die schmale Konzentration aller Wahrheit bloß in dem einen Faktum des göttlichen, offenbarenden und erlösenden Eingriffes in die Welt und verlangt den Rückgang auf die breite Basis dessen, was in der inneren Notwendigkeit und Allgemeinheit des menschlichen Geistes begründet ist. Vom zweifelhaft und bedenklich gewordenen Besonderen geht man zurück auf das Allgemeine; man läßt sich das kirchlich Be- sondere gefallen, wenn es sich als irgendwie identisch darstellt mit dem Allgemeinen, wozu ja die kirchliche Identifikation von Lex naturae und Lex Christi überall die Handhaben bot; aber man wendet sich grimmig gegen die Kirchenlehre, wenn sie im Gegensatze gegen das Allgemein- Menschliche eine alleinige, höhere, andersartige Wahrheit sein will. Und ebendamit ist die Opposition gegen die Erbsünde verbunden, die ja die Voraussetzung für diesen kirchlichen Anspruch überall bildete. Gerade die Erbsündenlehre hatte die Anerkennung des Allgemein -Menschlichen, den Rückzug auf die breite Basis der allgemeinen Begriffe immer ver- hindert oder doch bedeutungslos gemacht; sie hatte zur Fesselung der Geister, zur Bindung des Staates unter die Kirche, zur Verkennung aller Selbstzwecke in den Kulturgütern geführt. Sie hatte die Herrschaft der Kirche begründet und die Inhalte der natürlichen Kulturgüter gebunden und widersinnig an fremde kirchliche Zwecke gekettet, Ist der kirchliche Supranaturalismus gefallen, so wird Raum für eine friedliche Entwicklung der Kultur aus ihren allgemein menschlichen Ideen und wird der Glaube und Optimismus möglich, der sich an dieses Werk wagt. So ist denn die allmählich immer weiter fortschreitende Auflösung des kirchlichen Supra- naturalismus und die Ersetzung der Erbsündenstimmung durch die Fort- schrittsstimmung das Werk der neuen Zeit, klar in der Negation und in der Fortschrittsbegeisterung, weniger klar in dem Inhalt des Neuen, das an die Stelle des Alten treten sollte. Daß damit auch eine völlige Ände- rung der religiösen Stimmung verbunden war, versteht sich von selbst. Der Raum wird frei für die bisher immer gewaltsam unterdrückte religiöse Skepsis und für den Atheismus. Im ganzen aber hält die bisherige reli- giöse Erziehung die Menschheit bei einem starken Gottesglauben fest, nur wird dieser Glaube jetzt mehr auf das Allgemeine als auf das Besondere gestützt und bewegt er sich nicht in den Gefühlen der Reue und Sünden- vergebung, sondern in dem Enthusiasmus des Fortschrittsglaubens und des Zutrauens zur Zweckmäßigkeit und Güte der Welt.

Praktische Es sind natürlich in erster Linie praktische Motive, die diese Ver-

Motive des ,.~ , T-\-T->-'i- "j

Umschwungs, anderung herbeigeführt haben. Die Religionskriege munden in eine rein weltliche Politik aus. Mit dem Zurücktreten Spaniens hört die Gegen- reformation auf. Die Kolonialpolitik greift über den Kontinent und seinen Horizont hinaus. Alliancen- Systeme und Populations- Interessen durch- brechen die konfessionelle Gleichförmigkeit. Es entsteht ein neuer Staat, dessen Tj^pus Holland, England, das Frankreich Ludwigs XIV. und Preußen

D. Der muclt-rnc l'rolcslanlisnius (i8. u. i<). Jalirh.). I. Dit- mod. Well und die mod. Wissenschaft. ? y c

werden. Dem rein weltlichen wStaat folgt die Theorie des weltlichen Staates. Der übrig-ens durchaus gläubige Hugo Grotius entwirft ein System des Völkerrechts aus der Lex naturae, das gilt, auch wenn kein Gott wäre. Hobbes, Locke und Pufendorf wenden die bisher religiös verwendete Vertragstheorie zur Konstruktion des rein weltlichen, souve- ränen Staates, der nur politische Zwecke hat und diese Zwecke als abso- lute setzt. Die Volkswirtschaft des Absolutismus geht im engen Zu- sammenhang damit die Wege des Merkantilismus und macht die Geld- anhäufung zum Selbstzwecke; und, als dieses System zur gegenseitigen Ausschließung und Schädigung führte, da verkündet die physiokratische Theorie eine auf dem Gesetz der Natur beruhende Lehre der Wirtschaft und des automatisch sich regulierenden Güteraustausches, die wiederum das wirtschaftliche Leben als einen Selbstzweck erscheinen läßt. Der damit in der Privatwirtschaft beförderte und längst vorbereitete Kapi- talismus schafft den Produktionsfanatismus und die rechenhafte Seelen- stimmung des modernen Erwerbslebens, die wieder als Rationalisierung auf die Gesamtauffassung des Lebens zurückwirken. Hand in Hand mit diesen großen Umwälzungen geht der Wandel der allgemeinen Stim- mung, der nicht sowohl Folge als Voraussetzung der Aufklärung ist. Magie, Hexenglaube, Hexenprozeß werden heftig bekämpft, die theolo- gische Zänkerei und religiöse Verfolgung als Ursache des allgemeinen Elends betrachtet; die Eschatologie, der Teufel und die ewngcn Höllen- strafen verschwinden aus der Phantasie; die drei kämpfenden Übematür- lichkeiten gewöhnen an eine relativistische Beurteilung der Konfessionen und an die Bevorzugung der Ethik gegen die Unheil stiftende und ver- wirrende Dogmatik. Ein milder, philanthropischer Geist folgt auf die Er- müdung des Heroismus und auf die Härte des konfessionellen Geistes. Aus dem Gedanken der Menschheitskirche, die nur zu kirchlichen Spal- tungen führt, wird der Gedanke der Menschheit, die auch ohne Kirche eine ethische Einheit ist. Unterricht in praktischen und technischen Dingen statt in Kontroverstheologie wird Bedürfnis, und die praktischen Be- ziehungen überwiegen die konfessionellen Trennungen. Tortur und Inqui- sitionsverfahren verschwinden aus dem Recht, und eine umsichtige weltliche Wohlfahrtspolitik ersetzt die religiöse Volksbearbeitung durch den Staat. Vor allem verbreitet sich von Frankreich aus in seiner Nachblute der ka- tholisch korrekten Renaissance der esprit mondain, der die Fürsten- und Adelserziehung total verändert und allmählich in die allgemeine Kultur übergeht. Es ist nach den großen Anstrengungen ein allgemeines Nach- lassen und Ermatten des religiösen Geistes, von dem nur das Freundliche, Milde, Tröstende und Erbauliche, Sentimentale und Philosophische, Zu- kunftsgläubige und Optimistische zurückbleibt, aber alles andere mitsamt seinen bisherigen Greueln und Schrecken versinkt.

Alles das aber hätte nicht eine wirkliche neue Kultur geschaffen, führendenRoUe wären nicht völlig neue Elemente hervorgetreten. Diese neuen Elemente wiss'enschaft.

^yö Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

liegen in der Wissenschaft. Die Wissenschaft übernimmt die Führung statt der Theologie und Religion, und es beginnt das Zeitalter, das seine gläubigen Verehrer als das wissenschaftliche und positive gegenüber den bis dahin dauernden religiösen priesen und noch heute preisen. Es bringt alle Segnungen der Wissenschaft, die Milde, Toleranz, Besonnenheit und die technische Naturbeherrschung, aber auch alle Schattenseiten einer über- wiegend wissenschaftlichen Kultur, die übermäßige Reflexion, die Kühle und Verständigkeit, die Auflösung aller Werte in den Fluß des Relati- vismus und schließlich die Ersetzung der Normen durch die Einsicht in die Notwendigkeit, wie sie entstehen und vergehen mußten. Natur- und An crster Stelle steht hier die neue Naturwissenschaft, die mit dem

Geschichts- , . , ^_ . -p , . .

Wissenschaft, mathcmatisch-mechanischen Geiste ihrer Physik m der Tat ein völlig neues, ungeheuer folgenreiches Prinzip darstellt. Sie hat die sich ent- wickelnden übrigen Naturwissenschaften unter ihren Geist gebracht, eine unermeßlich folgenreiche Blüte der Technik herbeigeführt und den stärksten Einfluß auf das allgemeine Denken erlangt. Damit verbindet sich zugleich eine Neubelebung der Gesellschaftswissenschaft, die als Geschichte den psychologischen Kausalzusammenhang des Geschehens, den Ausschluß aller Übernatürlichkeiten und Wunder, die Messung der historischen Leistungen an den allgemeinen Menschheitszwecken lehrt, und die als Staats-, Rechts- und Wirtschaftsphilosophie alle diese sozialen Bildungen aus natürlichen Gesetzen der Vernunft ableitet und mit autonomen Zwecksetzungen erfüllt. Eine neue historische Selbstanschauung von der Menschheit entsteht, die den Mythos und die kirchliche Geschichtsphilosophie zerstört und einen unendlichen Fortschritt der Menschheit in Aussicht stellt.

i'iiiiosophie. Aus diesen Spezialwissenschaften regeneriert sich auch die Philosophie.

Sic übernimmt von nun ab die geistige Führung. Zunächst steht sie voll- ständig unter dem Einfluß der Mathematik und Mechanik; sie erklärt das ganze Sein aus gesetzmäßigen Bewegungen kleinster Elemente und ent- fernt die teleologische Physik und Metaphysik des Aristoteles durch eine rein kausale. Damit beginnt die ungeheure Wirksamkeit des modernen Kausalitätsbegriffes, die schließlich alles in ihren Bereich zieht. Von ihm aus entstehen die großen philosophischen Typen des Materialismus, des parallelistischen Pantheismus, des die gesetzmäßige Erfahrung als Er- scheinung behandelnden Idealismus und des die Kausalität lediglich als empirische Generalisation behandelnden Positivismus. In den meisten Fällen waren mit diesen allgemeinen Systemen ethisch -normative und theologische Ideen noch verknüpft. Dazu kam dann um die Wende des i8. Jahrhunderts der Einfluß des historischen Denkens und der Ästhetik. Der Stufenbau der leibnizischen Monaden, die Entwicklung der Weltidee durch das Medium des kausalen Weltablaufes hindurch bei Hegel, die in naturwissenschaftlich - biologische Abfolge gebrachten Ge- sellschaftstypen der Sozialphilosophie Comtes oder die ästhetische Ethik und Lebensanschauung mit dem Hintergrund der Geistiges und Natur-

I). DtT moclcinc I'rotcstantismus (l8. \i. !<)• J;»hrh.). I. Die nuxi. Welt und die mod. Wisscnsciiafl. inj

lichcs ins Gleichgewicht setzenden Gottnatur, wie sie die große deutsche Poesie und die Lehre Schellings erfüllt: das werden die weiteren Typen, die mit den streng naturalistischen im Kampfe liegen oder Kom- promisse schließen. Die Wirkung von alledem auf den religiösen Ge- danken ist natürlich eine außerordentliche. Der bisher stets als gemein- samer Besitz der natürlichen und übernatürlichen Offenbarung betrachtete Gottesbegriff wird schwankend. Die Hauptfrage des religiösen Denkens ist nicht mehr, wie m^m den unbezweifelten Gott zu einem gnädigen Gott kriegen und vor seinem Grimme Rettung finden könne, sondern ob es Gott überhaupt gebe. Dahinter tritt alles andere zurück, und das stellt Probleme, die der Alt-Protestantismus nicht kannte, läßt Probleme erkalten, die diesem seine Glut gegeben hatten. Und wenn, wie das bei den hervorragendsten Denkern nur selten bezweifelt wurde, der Gottesglaube selbst sich behauptet, so wird doch das Bild Gottes und der Welt ein ganz anderes. Die gesamte Wirklichkeit tritt unter das Kausalitätsprinzip, und das Wunder wird ent- weder ein Wahn oder ein schwieriges Problem, während es doch bis da- hin die selbstverständliche Voraussetzung von allem war. Die Einheitlich- keit der Welt wieder läßt das göttliche Wirken in jedem Moment in dem Gesamtzusammenhang der Dinge bestehen; der Gottesbegriff wird immanent oder monistisch, und die individuelle Vorsehung, die Naturunterbrechung, die Gebetserhörung erleiden das Schicksal des Wunders. Ein Gott, der überall mit dem gesetzlichen Gesamtzusammenhang identisch ist und nicht wie eine Einzelperson in einen gegebenen Stoff eingreifen darf, verliert die Züge der Persönlichkeit, und der Anthropomorphismus der Gottesidee wird ein quälendes Problem. Eine Welt, die in einer unermeßlichen Größe und Fülle der Weltkörper besteht und in der die Erde nur eine kleine Teilcrschcinung ist, muß einen über die Menschheit weit hinaus- reichenden Sinn haben, und so verschwindet der Anthropozentrismus. Auf der Erde selbst schließlich rückt die Erkenntnis der physikalischen Bildungs- geschichte und der Bildung des organischen Lebens die Anfänge des Men- schen in unermeßliche Fernen der Vergangenheit, gehören Leid, Tod und Kampf ums Dasein zu den Ingredienzen des organischen Lebens und offen- bart sich eine unermeßliche Fülle historischen Daseins neben der engen Welt der Christenheit; das erledigt den Mythos vom Sündenfall und von der ihn wieder aufhebenden Heilsgeschichte und stürzt in neue Probleme der Theodicee, nachdem Leid, Übel und Tod nicht mehr bloß Folgen und Strafen des Sündenfalls sind. Überall neue Probleme, überall neue Richt- linien des Gedankens. Und das bedeutet nicht bloß Auflösungen alter religiöser Gedanken, sondern auch die Bildung neuer. Es entsteht eine Art moderner Religion, im Grunde mit christlichen Gedanken wohl zu- sammenhängend, aber von einem neuen Weltbild doch auch mit neuen religfiösen Gefühlen erfüllt. Die Größe und Weite, Gesetzmäßigkeit und Einheit der Welt erfüllt mit Gefühlen der Demut und Erhebung, mit einer Herabsetzung des Individuums im Gefühl der Kleinheit und einer Erhöhung

^yS Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

des Individuums in der Teilnahme am Gedanken des Ganzen, Gefühle, wie sie die bisherige Religion so nicht gekannt hatte. Die Behauptung der Freiheit gegenüber der Gesetzmäßigkeit der Welt und die Verknüpfung dieser Freiheit mit allen Werten und Wahrheiten des Universums ergibt einen neuen Begriff der Persönlichkeit und stellt die Behauptung aller Religion in einer Weise gerade auf die Freiheit, wie es der alten prä- destinatianischen oder doch monergistischen Erlösungsidee unfaßbar war. Die unendliche Mannigfaltigkeit und organisch -gesetzliche Bewegung des Werdens bringt mit sich eine Schätzung des Individuellen, Besonderen, eine Freiheit, Beweglichkeit und Vielförmigkeit aller Werte, eine Unab- geschlossenheit der Entwicklung und eine Vorstellung von der Fülle des göttlichen Wesens, wie sich das die christlich-mittelalterliche Kultur nicht hatte träumen lassen. Es sind Grundempfindungen einer modernen Reli- giosität, die sich mit der alten mannigfach verbinden und verknüpfen, die aber einen völlig selbständigen Ursprung haben. Die Bahnbrecher der modernen Wissenschaft, Galilei, Pascal, Macchiavelli, Bodin, Descartes, sind dabei Katholiken gewesen und nicht Protestanten, was natürlich nichts beweist für eine katholische Herkunft dieser Ideen, aber jedenfalls ihre protestantische ausschließt. Daß diese Ideen dann von den protestantischen Völkern aufgenommen und vor allem in ihnen entwickelt worden sind, bei ihnen auch in Fühlung mit der religiösen Idee zumeist geblieben sind, das ist freilich in den Vorbedingungen protestantischer Erziehung, in dem Geist der Individualität und der Gewissensautonomie begründet, der hier im Prinzip herrschte und wenigstens Eindringen und Festsetzung dieser Ideen erleichterte. Der Protestantismus setzte den geringeren Widerstand ent- gegen und vermochte sogar, nachdem er seine antikatholischen Elemente von den mittelalterlichen zu lösen begonnen hatte, innerlich darauf einzu- gehen. Doch sind auch hier die führenden Länder England und Holland, d. h. die Länder, wo der strenge staatskirchliche Protestantismus nie voll zur konfessionellen Herrschaft gekommen war oder wo er in schwerer Krisis sich selbst aufgelöst hatte. Positive Die Zerstörunsf des kirchlichen Supranaturalismus ist derart der Aus-

Charakteristik. ^ '■

gangspunkt und der Kern der modernen Kultur, und darin ist sie das Gegenstück der mittelalterlich-kirchlichen. Zunächst zwar wirkte der an- erzogene Geist absolut normativen Denkens nach und man hielt sich statt an die kirchliche Offenbarung-snorm an die Norm der von ihr be- freiten und zu einem natürlichen System ausgebauten Lex naturae. Aber auch diese rationalistische Norm zerbrach, und der deutsche Idealismus machte die Vernunft beweglich zu einem die gesamte Wirklichkeit ent- haltenden und auf das absolute Vernunftziel hinführenden Entwicklungs- prinzip. Nachdem auch dieser Rationalismus der idealistischen Entwick- lungsidee zerfallen war, blieb die naturalistische Entwicklungsidee der ge- setzlichen Anhäufung und Verkettung kleinster Veränderungen, aus denen sich die scheinbare Zweck weit als Spielball des Zufalls ergab, oder es

D. Der inodfinc l'rolcsUinlismus (i8. u. i<). J;ihrli.). 1. Die iiiocl. Well uiul die inod. Wissensch;il'l. Xli)

blieb die Freiheit der Anempfindung an tausendfach verschiedene Gruppen geschichtlicher Wirklichkeit rein aus Freude am Mitfühlen des Gewesenen und Mannigfaltigen. Darwin und Renan bezeichnen die Generation nach Hegel. So kämpfen nun in der modernen Kultur die verschiedensten Ge- danken miteinander. Alle berufen sich auf das Recht der Gewissensfrei- heit. Der extreme schrankenlose Individualismus, die Anarchie der Werte, ist die naturgemäße Folge der Aufhebung der tausendjährigen normativen Kultur und der Beseitigung der Idee eines normativen Zentralgedankens, der das Gesamtleben beherrscht, überhaupt. Der Weg von der kirchlichen Kultur zur rationalistisch -individualistischen und von ihr zur subjekti- vistisch - individualistischen liegt klar zutage. Der häufige Versuch, aus der Naturwissenschaft und dem Naturgesetz Normen abzuleiten, ist nur eine letzte Ausflucht, und innerhalb einer gemeinsamen politischen, wirt- schaftlichen und wissenschaftlichen Kultur der modernen Welt ist doch die individualistische Zersetzung aller Weltanschauungswerte der Haupt- charakter des Ganzen. Die negative Charakteristik der modernen Kultur ist gegeben durch den Gegensatz gegen den kirchlichen, als positive läßt sich kaum ein anderer Begriff angeben als der des unbegrenzten Indivi- dualismus. Es ist kein Wunder, daß unter diesen Umständen der moderne Protestantismus auch seinerseits eine geschlossene Gestalt auch nur seines religiösen Gedankens und seiner Ethik nicht gefunden hat.

Ob alles das ein so großer und reiner Fortschritt ist, wie die Lob- redner der individualistischen Kultur meinen und wie die vom Druck der kirchlichen Kultur Befreiten es zunächst wirklich empfanden, das ist hier nicht zu erörtern. Jedenfalls ist es nichts Selbstverständliches und nichts Gefahrloses. So rührten sich denn auch sozialistische Gegenbewegxmgen, die das aus dem Sturz der kirchlichen Kultur entbundene individualistische Zeitalter wieder begraben wollen. Aber dieser Sozialismus hat darum doch keinerlei Zusammenhang mit der alten religiösen Idee und unter- scheidet sich gerade dadurch von seinen biblisch und religiös gefärbten Vorläufern, daß er lediglich auf naturalistisch - wissenschaftlichen Grund- lagen beruhen w*ill. Er beruft sich auf ein soziales Entwicklungsgesetz, das aus den Bedingungen der Erwerbsarbeit und der Arbeitsorganisation heraus die Massen immer stärker hervortreten läßt, bis sie zu einer jedes Individuum an den Lebensgütern gerecht beteiligenden Organisation ge- langt sind. So ist es im Grunde auch hier der individualistische Geist der modernen Welt, der nur die Form der Massenbefriedigung annimmt. Die Religion ist hier ein völlig überwundener Standpunkt, ein Mittel, mit dem alte Zeiten die Massen niederhielten, und die Bildung der Weltanschauung ist, sofern sie über das grundlegende soziale Entwicklungsgesetz hinaus- geht, reine Privatsache.

Die moderne Welt sieht sich so einerseits als ein reiner Auflösungs- Stellung des

Protestantismus

prozeß an. Sie ist aber andrerseits doch auch ein Fortführungs- und in der modernen Reorganisationsprozeß. Sie hat das politische, wirtschaftliche und wissen-

^So Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

schaftliche Leben ungeheuer entfaltet und großartige Volksentwicklungen hervorgebracht, unter denen England, Nordamerika und Deutschland her- vorragen. Die fortführenden und reorganisierenden Kjräfte standen dabei überall im Zusammenhang mit den alten religiösen Kräften oder mit einer Umwandlung derselben zu modern-religiösen Ideen. Insofern ist der Pro- testantismus an ihnen stark mitbeteiligt, teils als Fortdauer alter Kräfte, teils als Boden für die Bildung neuer. Auf dem katholischen Boden, der die Reformation ausgetilgt hat, ist die Auflösung auf ihren höchsten Gipfel gelangt, während die protestantischen Völker stärkere Reorga- nisationskräfte hatten. Aber in alledem ist doch die Stellung des Prote- stantismus überaus unklar und verworren, bald nach rückwärts gewendet zu seiner klassischen symbolgläubigen Zeit, bald nach vorwärts zu einer neuen Religiosität, bald in der Isolierung des religiösen Lebens die Kon- tinuität blind und stumpf fortführend, bald neue Sekten und Gruppen schaffend. Der Protestantismus tritt ein in das Stadium individualistischer Sonderbildungen unter äußerer Aufrechterhaltung vielfacher Reste der früheren Konformität. Seine Staatskirchen bleiben mit oberflächlicher Anpassung an die neuen Verhältnisse und besitzen an vielen Orten noch stärksten populären Einfluß; aber sie sind in die modernen Kämpfe hineingezogen, und das eigentliche geistige Leben dieser Kämpfe pulsiert nicht in ihnen. Seinen Gläubigen, soweit sie auf die moderne Welt ein- gehen, bleibt in der Tat nichts als der reine Glaube persönlicher Über- zeugung, verbunden mit einer Begründung dieser Überzeugung auf allge- mein wissenschaftliche Anschauungen, die aber auch jedesmal der einzelne sich selbst erst zu bilden hat, und für die er nur einen beschränkten Kreis von Zustimmenden findet. Daß der Protestantismus dabei nicht aufgehört hat, die stärksten ethischen Wirkungen auf das Gesamtleben auszuüben, und daß er, je nach den Ländern, in verschiedenen Volksschichten eine starke und verhältnismäßig geschlossene Anhängerschaft besitzt, versteht sich von selbst. Aber unter den führenden geistigen Mächten der modernen Kultur ist seine Stellung nicht anders zu bezeichnen, als es hier geschehen ist. So kann sich auch die Darstellung dieser Periode des Protestantismus keine einheitliche Aufgabe stellen. Sie kann nur die allgemeine Lage und die neuen Grundgedanken zeichnen, unter deren Wirkung er steht; dann die Reaktionen, in denen er seine Gegenwirkung vollzieht und teil- weise zu religiösen Neubildungen fortschreitet; schließlich die Fortführung und Anpassung seines aus der ersten Periode überkommenen kirchlichen Bestandes. Luthertum und Calvinismus dürfen von jetzt ab als Einheit behandelt werden.

verwcitiichung H. Die modemc Ethik in ihrer Wirkung auf den Protestan-

der Ethik. °

tismus. Nicht nur die allgemeine Atmosphäre einer modernen Kultur und

Wissenschaft wirken auf den neuen Protestantismus. Vielmehr gerade

die Lebensgebiete, die er selbst bisher maßgebend bearbeitet hatte, Ethik

D. Der mod. Protest. (l8.u. i<). Jahrh.). II. Die mod. Ethik in ihrer Wirkung a. d. Protestantismus. :j8 i

und Religio II stheorie, erobern sich eine selbständige, kirchenfreie Be- wegung, und, was sie hier erarbeiten, wirkt aufs stärkste auf Theorie und Leben des Protestantismus.

Die englische Revolution ist der Ausgangspunkt einer immer sieg- reicheren weltlichen Ethik, die die tatsächlich gewordenen Zustände aus der Theorie beleuchtet und durch die Theorie fortentwickelt. Daß sie gerade von der englischen Revolution ausgeht, ist begTeiflich. Denn hier war die Ethik des konfessionellen Zeitalters zu ihrer Krisis und vSelbstauflösung gekommen. Die Freistellung der persönlichen Überzeugxmg und die Ein- sicht in die Unmöglichkeit eines wesenhaft christlichen, die christlich- religiösen Zwecke und Maßstäbe zu seinen eigenen machenden vStaates waren ihre Ergebnisse. Mit grimmiger Härte hat Hobbes die Idee des absolut souveränen Staates aufgestellt, der aus dem Gesetz der Vernunft und des Kosmos hervorgeht und statt der Religion zu unterstehen, viel- mehr selbst souverän die Religion bestimmt. An Hobbes knüpft zu- stimmend oder feindlich, immer aber den Gedanken der souveränen Ver- nunftnotwendigkeit des Staates fortspinnend, die moderne Ethik und Gesellschaftslehre an. Alle soziale Ethik dreht sich um den Staat, dessen neues Merkmal zunächst die Souveränetät ist, der im übrigen aus der bis- herigen Lehre, wo die Religion alle idealen Interessen verschlungen hatte, den utilitarischen und sozialeudämonistischen Charakter behält und von hier aus auch seine Stellung zu den nun mit Macht eindringenden und völlig verselbständigten wirtschaftlichen Problemen gewinnt. Alle Ethik des persönlichen und privaten Lebens dagegen bewegt sich um die natürlichen und vernünftigen Tugenden des rationalen Sittengesetzes, die man meistenteils für identisch mit den christlichen Tugenden hält und ebensosehr aus der stoischen als aus der christlichen Lehre schöpft und die man insbesondere durch psychologische Ableitung und Erklärung aus der Natur des Menschen fest zu verankern strebt.

Formell betrachtet wird die Ethik psychologisch. Gegenüber den Natürliche Wirren der Beurteilung, dem Widerspruch der sittlichen Mächte des Kthik. praktischen Lebens, geht sie auf die seelische Natur des Menschen zurück und entwickelt aus ihr den Verpflichtungsgrund und das Wesen der sitt- lichen Normen. Der theologische Supranaturalismus der Ethik, der mit göttlichen Kraftmitteilungen und mit göttlich geoffenbarten Gesetzen ge- arbeitet hatte, verschwindet wie von selbst. Die ganze transzendente Psychologie der Kirche, die teuflische Versuchungen und Eingebungen und göttliche Einwirkungen vorausgesetzt, die alles wahrhaft Gute nur aus dem psychologischen Wunder der Bekehrung hervorgehen lassen hatte, die ganze Begründung der Gesetze auf göttliche Offenbarungen und ihre Aufrechterhaltung mit göttlichen Strafen, sinkt in sich selbst zusammen. Die guten Werke hören auf gefährlich zu sein, weil kein Gnadenwunder da ist, das sie beeinträchtigen könnten. Die Prädestination wird ein bar- barisches Sophisma, weil ja gerade die Behauptung der Freiheit gegen-

5 82 Ernst Trofxtsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

Über dem neuen naturwissenschaftlichen Determinismus die religiöse und idealistische Position ist. Dabei erschien dann die Ausstattung der Seele mit den Gesetzen des sittlichen Denkens und die Harmonie des Kosmos mit diesen Gesetzen als die eigentliche und einzig notwendige göttliche Beglaubigung des Sittlichen. Die gesetzmäßige Harmonie des Weltalls enthält als ihren wesentlichen Bestandteil das mit allen anderen Gesetzen harmonierende und zusammenwirkende sittliche Gesetz. Ob man bei dieser psychologischen Ableitung vom wohlverstandenen Nutzen, von Vemunft- anlagen oder von Gefühlsinstinkten ausging, ist für Sinn und Methode, meist auch für das Ergebnis, gleichgültig. Man glaubte noch, wie das ja auch die theologische „natürliche" Moral getan hatte, an den consensus gentium, und es kam nur darauf an, dessen Aussagen psychologisch ab- zuleiten und zu erklären. So entstand die Literatur der englischen Mora- listen, an der verschiedene Theologen mit beteiligt sind und deren Haupt, John Locke, ein supranaturalistisch gläubiger Christ gewesen ist. Sie hat das moderne sittliche Denken grundlegend umgeschaffen. Die Führung verblieb dabei durch das 1 8. Jahrhundert hindurch den englischen Denkern, die in Nachfolge und Bekämpfung des Hobbes den Psychologismus des i8. Jahrhunderts als Grundwissenschaft und Orientierungsmittel für alle Probleme der geistigen, sittlichen und historischen Welt aufgerichtet haben, und die hierin von der ganzen englischen Literatur in den mora- lischen Wochenschriften und in psychologischen Sittenromanen unterstützt wurden. Von diesem Psychologismus aus trennten sich dann die Wege der weiteren Entwicklung. Traten die Reste der bisherigen Religiosität, d. h. die metaphysischen Voraussetzungen der göttlichen Weltharmonie zurück, so wurde die psychologische Ethik ein religionsloser und meist religionsfeindlicher Sozialeudämonismus, der die für das Gemeinwohl be- währten Handlungsweisen eben dadurch zu sittlichen Geboten gestempelt und sie durch soziale Autorität und Forterbung zu scheinbaren notwen- digen Vernunftwahrheiten werden läßt. Diesen Weg ging und geht die rein utilitaristische Ethik. Wurde dagegen in dem psychologischen sitt- lichen Trieb der Vernunftkern und der Vernunftcharakter des Notwendigen, die antieudämonistische Entgegenstellung der Motivierung durch die Idee statt durch den bloßen Kausalnexus des Trieblebens, betont, so wurde die bloß psychologische Ethik zur Ethik des sittlichen Gefühls, wie bei den Schotten und den Eklektikern des Kontinents, oder zur Ethik des formalen Apriorismus der sittlichen Vernunft, der sich psychologisch in den verschiedenen Beziehungen mit verschiedenem Inhalt erfüllen mag, dessen Verpflichtungscharakter aber auf dem formalen persönlichen Ge- wissensurteil der Notwendigkeit dieses Handelns beruht. Diesen letzteren Weg ging Kant und die Ethik des deutschen Idealismus. Den letzten Schritt in der Vollendung dieses Gedankenbaus tat Schleiermacher, der diesen Charakter einer autonomen formalen \Y^rnunftnotwendigkoit in allen Offenbarungen der Vernunft anerkannte, aber zugleich die jedesmal indi-

D. Der niod. Protest. (l S.u. I<). Jalirh.). II. Die mod. I'",thik in ihrer WirkunR a. d. Protestantismus. ^g 3

viduelle Ausformung' dic\ser allgemeinen Vernunft in einer be.sonderen, nur dem betreffenden Individuum möglichen, pflichtmäßigen Lebenslei.stung forderte. Damit ist die Reduktion des Sittlichen auf eine allgemeine Vernunftgesetzlichkeit vollendet und diese Gesetzlichkeit ohne jeden ab- .strakten Rationalismus als eine zugleich absolut individuelle erkannt.

Schwieriger ist der Inhalt der ethischen Forderungen zu bestimmen, Natürlicher wie er sich in der modernen Ethik ausbildete. Hier wirken die ver- schiedenen praktischen Mächte des Lebens und die verschiedenen Kultur- güter, je nachdem sie als sittlich verpflichtende Mächte angesehen werden. Aber jedenfalls das Eine ist auch hier klar: es verschwindet die Allein- bedeutung des religiösen Zweckes der himmlischen Seligkeit und der Ehre Gottes. Sie verwandeln sich in das Ideal der Unsterblichkeit und jen- seitigen Ausgleichung, die als Vemunftw^ahrheiten betrachtet und mit tiefer Rührung gepflegt werden, und in das Ideal der Verwirklichung der gott- gegebenen Vernunft, worin Gottes Ehre allein bestehen kann, da Gott selbst ja wesentlich die Vernunft ist. Die Tugend ward etw^as Selbst- verständliches, vom consensus gentium Bezeugtes; die individuellen Tugen- den der Wahrhaftigkeit, Selbstbeherrschung und Tapferkeit, sow4e die sozialen der Gerechtigkeit und Menschenliebe bedeuten das Sittliche im engeren und eigentlichen Sinne. Die großen ethischen Güter aber, die in der Betätigung dieser Tugenden erzeugt werden, variieren je nach den Mächten, die in den Horizont der Geschlechter treten. Zunächst sind es Staat und Wissenschaft; insbesondere der erste steigt vom souve- ränen Gut des menschlichen Machtwillens zur Organisation des natürlichen Rechtes und schließlich nach der französischen Revolution und der voll- zogenen Demokratisierung der Völker zum Inbegriff nationaler Ehre und Selbstachtung. Neben dem Staat und der Gesellschaft rückt in einem wissenschaftlichen Zeitalter die Wissenschaft ein in den Rang eines höch- sten, durch sich selbst wertvollen Gutes, das nur seinem eigenen Gesetz folgen darf; und als auf die wissenschaftliche Reflexionsdürre eine poetische Erhebung von wunderbarem Reichtum folgte, da w^urde auch die Kunst zu einem höchsten Lebensprinzip, zum Schlüssel des Welt- geheimnisses und Inbegriff des sittlichen Adels der Persönlichkeit. Die Stellungnahmen zwischen diesen verschiedenen Gütern sind verschieden. Der religionslose Utilitarismus hält sich an Staat und Gesellschaft und an den Begriff des allgemeinen Wohls. Die das Recht der Idee behaupten- den Denker betonen bald mehr die Rechtsidee, bald mehr Kunst oder Wissenschaft, oder auch die Religion. Auch hier hat Schleiermacher und neben ihm in etwas anderer Weise Hegel den letzten Schritt getan, indem er die inhaltliche Ethik entwickelte als ein System von Gütern, in denen Staat, Familie, Gesellschaft, Wissenschaft, Kunst und Religion integrierende, sich gegenseitig fördernde Momente sind und nur alle zusammen in ihrem lebendigen Ineinander die Verwirklichung der sittlichen Vernunft bilden. Damit ist nun aber auch der Gegensatz gegen das

2 Sa Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

altprotestantische Kultursystem und seine Ethik aufs schärfste ausge- sprochen. Auch wo das religiöse Gut als zentrales anerkannt ist, ist es nicht das einzige, sondern verlangt es organische Verbindung mit anderen Gütern, und, wenn es selbst aus der Tiefe der Vernunft quillt, so gehören auch die anderen Güter zu dem Wesen der Vernunft, die keine Sünde und kein Irrtum sich selbst entfremden konnte. Wenn auch die alt-prote- stantische Ethik stets die Antike zur Ergänzung herangezogen und außer- dem vom konkreten Leben des Staates und der Gesellschaft allerhand mitbedingende und ergänzende Einflüsse erfahren hatte, so ist doch jene Ergänzung stets in strengster Unterordnung unter den religiösen Zweck- gedanken gehalten. Jetzt werden ihm Humanitätsethik und Kulturgüter koordiniert, und das Verhältnis wird ein völlig neues Problem. Aufnahme der Der Protcstantismus der gebildeten Klassen Europas ist diesem

natürlichen /^ i i •■ i 11

Ethik in das Gedankcnzugc im ganzen beigetreten, zunächst mit allerhand An- protestantische ■<• r^rr 1 111 •• 1 ••• i-ir-

System, passungcn: die Ulienbarung vollendet, antezipiert, bestätigt oder befestigt das natürliche sittliche Bewußtsein, und die Gnade als eine von Jesus aus- gehende Stimmungserhöhung oder Anspornung verleiht erhöhte sittliche Kräfte. Das aber bedeutet nichts geringeres als den Verlust der alten festen Orientierung der Ethik über Quelle und Ziel des Sittlichen. Nicht mehr die Prädestination oder das Rechtfertigungswunder mit ihrem Organ in der inspirierten Bibel sind die wesentliche Quelle, sondern das all- gemeine sittliche Bewußtsein überhaupt, das nur durch seine religiöse Beziehung auf Gott als den Gesetzgeber, auf die Bibel als Zusammen- fassung des natürlichen sittlichen Gesetzes, auf Jesus als Urbild oder er- mutigende Bürgschaft und auf den heiligen Geist als innere Gefühls- belebung den besonderen christlichen Charakter empfängt. Nicht mehr die Verherrlichung des souveränen, erwählenden Gotteswillens oder der in Nächstenliebe und Berufstreue erstattete Dank für die Rechtfertigoings- gnade sind die Ziele des sittlichen Handelns, sondern Selbstvervollkomm- nung und Kulturförderung oder die ethische Würde der Einzel- und Ge- samtpersönlichkeit, wobei die besondere religiöse Zweckbeziehung in die jenseitige Vollendung oder in die Realisation der göttlichen Vernunft fällt. Das aber schließt weiter in sich den Verzicht auf die Begründung der Ethik im dogmatischen Glauben; der Glaube wird einfach zum Vertrauen und zur Hingabe an den gnädigen und heiligen Willen Gottes, wie er in der gegenwärtigen Entscheidung des von der Gemeinschaft erzogenen Gewissens sich äußert, und die Erlösung besteht nur in der Überwindung der ererbten und persönlichen Hemmungen durch die volle Hingabe an den göttlichen Geist, der in der Erkenntnis Gottes erfaßt wird. Nicht minder liegt in dem eine schwere Bedrohung der protestantischen Askese. Wie sehr die Sünde auch den Menschen hemmen und binden mag, so sehr es immer der Überwindung der Sünde und der Unkraft bedarf, die Welt der Schöpfung ist von keiner Erbsünde in ihrem Wesen verändert, und die aus der menschlichen Geistesanlage sich ergebenden Güter sind Selbst-

D. Der mod. Prot. (i8.u. 19. Jahrh.). III. Die mod. Religionswisscnsch. u.ihro Wirkung a.d.I'rot. ige

zwecke neben dem höchsten religiö.sen Zweck, der sie alle verbindet zu einer Offenbarung der göttlichen Vernunft. Soweit dabei aus der ganzen Idee des Christentums doch ein innerer Gegensatz der religiösen und der innerweltlichen Güter bleibt und bleiben muß, entstehen allerdings Spannun- gen und Schwierigkeiten. Ein Teil der protestantischen Ethik und zwar bei Altgläubigen sowohl als Neugläubigen ist in reine Kulturseligkeit und Verherrlichung des Gegebenen versunken, ein anderer aber schöpft aus dieser Spannung immer wieder den Antrieb, das Gegebene auf eine höhere Stufe zu heben und aggressiv gestaltend das Kultursystem mit dem religiösen Geiste der Gotteskindschaft und der Liebe tiefer zu durch- dringen. Der Teil aber, der diesen ganzen Gedankenzug nicht mit- macht, zieht sich auf dem europäischen Kontinent vom Leben zurück auf besondere christliche Kreise, an der Christianisierung der Welt ver- zweifelnd und unter den Frommen die Maßstäbe der alten Offenbarung.s- und Erlösungsethik pflegend. Eine Gestaltung der Gesamtkultur von der Offenbarung und Gnade aus, wie sie der Alt-Protestantismus versucht hat, unternimmt hier niemand mehr; abgesehen von den mißtrauisch betrachteten Christlich-Sozialen, Man hat ganz vergessen, daß die Voraussetzungen des Alt-Protestantismus an sich diese Konsequenz forderten; so sehr hat man sich seiner Ideen entwöhnt. Man feiert den Protestantismus als die Religion der Autonomie und der Wiederentdeckung des Rechtes der weltlichen Güter, nicht ohne Grund, aber meist ohne Einsicht in die Revolution, die diese Auffassung gegenüber dem wirklichen alten Protestantismus mit seiner Verfolg'ung der Täufer, seiner Herabdrückung- des Humanismus zur bloß formellen Bildung und seiner kirchlichen Organisation der Kultur bedeutet. Wie das praktische Handeln, so ist auch die wissenschaftlich -theolo- gische Ethik des Protestantismus, besonders in Deutschland, aufs tiefste von diesen neuen Ideen erfaßt, meist freilich, ohne sich davon volle Rechenschaft zu geben. War der Alt-Protestantismus eine geschlossene Kulturethik auf Grund der Ideen von Offenbarung, Gnade, Erbsünde und Kirche, so ist der Neu-Protestantismus im vollen Kampfe um eine ihm entsprechende Ethik und muß er den christlich- ethischen Gedanken in noch viel weiterem Umfang mit außerchristlichen Elementen versetzen, als das in der alten Heranziehung der Lex naturae der Fall gewesen war. Freilich hat sich diesen Einflüssen ein großer Teil des Protestantismus entzogen. Die methodistische Weltkirche und die große Majorität des amerikanischen Protestantismus ist noch unberührt von ihnen. Aber auch in ihr haben nationalistische, politische und wirtschaftliche Ideale einen Einfluß auf die religiöse Idee erlangt, an den weder der Protestantismus Wittenbergs noch der Genfs je gedacht hat.

III. Die moderne Religionswissenschaft und ihre Wirkung auf Nene Meta-

physik.

den Protestantismus. In der praktischen und theoretischen Ethik kommt die Umwälzung am allermeisten und umfassendsten zum Ausdruck. Aber die

Dm Kultur der Ghoenwakt. L 4. 23

Wissenschaft.

X&6 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

Umbildung der Ethik folgt in ihrer ganzen Bedeutung erst aus der Verände- rung der religiösen Idee selbst. Diese Veränderung ist nun freilich in erster Linie bewirkt durch die moderne Metaphysik und das moderne Weltbild. Die Amagalmierungen der christlichen Idee mit den Grrundzügen dieser modernen Begriffe, wie sie von Locke, Leibniz und Wolff unternommen und von einer unendlichen popularphilosophischen und populartheologischen Lite- ratur verbreitet worden sind, bilden hier den eigentlichen Grundstock der Veränderungen. Ein neuer Gottesbegriff rückt in die biblische und kirch- liche Terminologie ein. Allein es ist das keineswegs das Einzige und auf die Dauer nicht das Wichtigste. Seit Kant hat sich der idealistisch und religiös gesinnte Teil der modernen Kultur daran gewöhnt, den Gottes- begriff für etwas wissenschaftlich nicht Erfaßbares zu halten, das moderne Weltbild zu behaupten und in ihm doch den Hintergrund der lebendigen Gottheit zu fühlen und in dieser Gottheit das Personhafte wenigstens insofern zu bewahren, als alle Werte der Freiheit und der Personbildung, die in der Hingabe an die Ideen der Freiheit erfolgt, praktisch verankert bleiben im göttlichen Wesen. Kntsteiiung einer Je mehr aber die Metaphysik zurücktritt, um so bedeutsamer wird Keiigions- die allgemeine Religionswissenschaft, welche die historische Erscheinung des Christentums mit denen der anderen großen Religionen bis herab zu den primitiven Religionen der Wilden zu einem allgemeinen Begriff der Religion, zu einem gemeinsamen und gleichartigen Lebensgebiet und zur Auswirkung gleichartiger allgemeiner Grundanlagen des menschlichen Geistes zusammenfaßt. Psychologisch, erkenntnistheoretisch, entwick- lungsgeschichtlich wird das „religiöse Bewußtsein" der Gesamtmenschheit untersucht, soweit die täglich sich erweiternde Kenntnis der vergangenen und der gegenwärtigen Bildungen sich erstreckt. Das ist nun aber wiederum etwas radikal Neues, wozu die Antike in dem epikureisch-euhemeristischen Illusionismus, dem stoischen Allegorismus und Synkretismus und der neu- platonischen Analyse des religiösen Aufstieges nur schwache Anfänge ge- schaffen hat und was dem ganzen Geist der mittelalterlichen Religionsidee absolut widerspricht. Das Mittelalter und der Alt-Protestantismus kannten den Allgemeinbegriff der Religion überhaupt nicht und konnten ihn nicht kennen. Denn für sie gab es nur das Ofifenbarungswunder der wahren Kirche als die alleinige wirkliche Religion, das aus der erbsündigen Verfinsterung stammende Heidentum als strafwürdigen und zur Hölle verdammenden Irrtum und die natürliche Gotteserkenntnis der antiken Philosophie, die als ein Rest der Urstandsvollkommenheit in der aristotelisch -stoischen Teleologie des Weltalls und in der Lex naturae dem Christentum ent- gegenkam und im Grunde mit ihm identisch war, da die Heilsofifenbarung ja nur den vollkommenen Urzustand wieder erneuerte. Hierauf beruhte ja gerade die Selbstverständlichkeit, nüt der die Lex naturae als mit der Offenbarung identisch empfunden wurde, und die eigentümliche Ergänzungs- steUung" dieses für das ganze System wesentlichen Begriffs. Es gab kein

D. Der mod. Prot. (l8.u. 19. Jahrb.). III. Die mod.Rcligionswisscnsch.u. ihre Wirkung a.d. Prot. ifi-r

allgemeines religiöses Bewußtsein, sondern nur Hcilsoffenbarung und sub- jektive Aneignung; es gab keine geschichtliche Entwicklung, sondern nur Urständ, Sündenfall und Wiederherstellung des Urstandes. Der Versuch zur Bildung des allgemeinen Begriffs der Religion und der Ableitung der einzelnen Religionsbildungen aus ihm würde als der Gipfel der Wahrheits- verleugnung und der Gottesfeindschaft erschienen sein. Wo derartiges wie bei Pico von Mirandola oder Erasmus versucht wurde, begegnete es allgemeiner Ablehimng; und die Reste eines solchen Universalismus, die Zwingli konserviert hatte, blieben eine Absonderlichkeit Zwingiis.

Nun wurde dieser Versuch gemacht, den das Mittelalter durch den Kampf von Christentum, Islam und Judentum bisweilen flüchtig nahe ge- legt hatte und den jetzt der vor Augen liegende Kampf der drei konfessio- nellen Übematürlichkeiten, der drei allein wahren Mittelalter, mit seinen unheilvollen Folgen unausweichlich machte. Und zwar sind es auch hier neben dem einsam bleibenden Spinoza die Engländer, die Kinder der großen Revolution, die diesen Versuch machen. Hier bildet sich unter dem Eindruck der Religionskämpfe und der drückenden Stuartschen Reaktion der Deismus, der seinen Namen davon hat, daß er einen all- gemeinen natürlichen Gottesglauben als den psychologischen gemeinsamen Kern aller Religionsbildungen ansieht und diesen Kern gegen die streiten- den Zufälligkeiten der positiven Religionen geltend machen will. Dieser Deismus hat zunächst seine Träger an Literaten zweiten Ranges, die sich nicht als gelehrte Philosophen mit dem Problem der Verschmelzung christ- licher und moderner Metaphysik abgeben wie die im Vordergrund stehenden Gelehrten, sondern mit der Herausschälung des Gemeinsamen aus den ver- schiedenen positiven Religionen und mit der Zerreibung ihrer verschiedenen Offenbarungs- und Wunderansprüche aneinander. Seit aber der große John Locke diese Gedanken aufgenommen und im Zusammenhang seines Systems ausgebildet hatte, kamen sie in den Bereich der vornehmen Literatur und eroberten hier die Welt. Auch hier diente zunächst der überlieferte kirch- liche Begriff der Lex naturae als Ausgangspunkt. Das natürliche sittliche Bewußtsein und seine metaphysischen Korrelate schienen der natürliche psychologische Kern der Religion zu sein. Die Religionen der Wilden werden durchsucht auf diesen Kern, und das nichtchristliche Heidentum legt ebenfalls sein Zeugnis für ihn ab. Es fehlt noch an jeder Kunst selbständigerer psychologischer Analyse der Religion; die neuplatonischen Versuche, die der Mystik stets als Unterlage dienten, waren in diesen ratio- nalistischen Kreisen ausgeschlossen, auch von der Kirchenlehre hierfür nie verwendet worden, sondern nur für die Veranschaulichung der übernatür- lichen Heilsaneignung, So geriet die Religionsanalyse unter den Bann der ethischen Analyse und wurde die Moralpsychologie entscheidend für die Religionspsychologie. Sie scheidet den natürlichen Kern der Religion im sittlich -religiösen Bewußtsein von seinen phantastischen und priester- lichen Entstellungen, die durch Herrschsucht, Verbindung mit dem Staat,

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mystische Emporhebung eines geheimnisvollen Priestertums und Unkenntnis der Natur die Vorbilder lagen in der täglichen Erfahrung nahe genug den ganzen Wunder- und Offenbarungsglauben der positiven Religionen her- vorgebracht haben. Man gestand wie das Locke tat dem Christentum den Vorzug einer göttlichen Antezipation, Zusammenfassung, Beglaubigung und Kräftigung der natürlichen Religion zu, aber die Konsequenz des Gedankens und die neu eröffnete Bibelkritik und Religionsvergleichung beseitigten doch auch diese Attribute des Christentums immer mehr und ließen das Christentum nur so weit und in dem Sinne übrig, als es mit der allgemeinen, natürlichen, d. h. psychologisch ableitbaren und bestimm- baren Religion übereinstimmte. So entstehen die Grundzüge der modernen allgemeinen Religionswissenschaft. Das erste ist auch hier die Psychologie, die die Religion als Bestandteil des natürlichen Systems aus den allge- meinen Gesetzen des Seelenlebens ableitet. Nicht mehr von der Bibel oder den Kirchendogmen, sondern von den Tatsachen des Seelenlebens geht die Wissenschaft von der Religion aus. Sie faßt die Religion als Religiosität, den Glauben als eine seelische Tätigkeit und hält sich von den objektiven Lehren als von dem Fraglichen und Problematischen zurück. Damit aber erweitert sich das Bild der Religion zu einem Bilde der Religionsgeschichte. Neben der Relativität der Konfessionen wirkt das Kolonialzeitalter; Buddhismus und Konfuzianismus werden bekannt. Tahitier und Südseeinsulaner zeigen die Einfachheit einer von Kultur und Kirche nicht erdrückten Moral und Religion. Die Größe der Erde und die Kleinheit der Christenheit treten in das Bewußtsein; die Erwählung so weniger zum Heil scheint unbegreiflich. Zugleich wirkt herüber aus der Renaissance-Philologie der erste Anfang einer vergleichenden wissen- schaftlichen Erforschung der alten Mythen, indem der hellenische Mythus mit dem des Ostens und Judentum und Christentum bald mit persischen, bald mit ägyptischen Ideen und Einflüssen in Verbindung gebracht wurden; der Leydener Humanismus hatte sich in dieser Hinsicht schon sehr weit vorgewagt. Das alles zusammengenommen führt zur Erkenntnis der prin- zipiellen Gleichartigkeit aller menschlichen Religion, zur Religionsverglei- chung, zur Kritik ihrer Urkunden und Mythen, zu dem Begriff einer all- gemeinen Entwicklungsgeschichte des religiösen Bewußtseins.

Von da aus trennen sich freilich auch hier die großen Wege des mo- dernen Denkens, Mit der Ablehnung des metaphysischen Gottesbegriffes und der idealistischen Moral macht Hume die Religion zur unselbständigen psychologischen Begleiterscheinung des phantastischen urmenschlichen Denkens, zu einem Angst- und Hoffnungsprodukt von überaus unsicherem Wahrheitsgehalt, und hieran schließt sich die heute so mächtige positivi- stische Lehre von der Religion als einer phantasiereichen personifizieren- den Form urmenschlichen Denkens, die dann im metaphysischen Zeitalter zu abstrakten Theorieen verflüchtigt und im positiv-wissenschaftlichen als Mythus erkannt und verabschiedet wird. Auf der anderen Seite aber

l). Der nioil.I'iol. (i8.ii. lf).Jahih.). III. Die niod.Religionswissensch.u. ihre Wirkung a.d. Prot. ^Sci

gestaltet der modorno Idealismus die Religionswissenschaft zur Lelire von der stufenweise erfolgenden Entwicklung des religiösen Bewußtseins als des eigentlichen Zentrums und Organisationspunktes des menschlichen Seelen- lebens. Das Christentum wird hierbei meist als prinzipielle und absolute Vollendung der religiösen Idee angesehen; erst in neuerer Zeit hat die Kon- sequenz des historischen Denkens und daneben der starke Eindruck des Bud- dhismus mannigfach zur Relativierung auch dieses Gedankens beigetragen.

Das wirkte nun alles aufs tiefste auf die Grundidee des Protestantis- Umbildung der mus ein. Zunächst ging er freudig auf diese Betrachtung ein. Der Über- theoioRischen gang schien ja leicht und einfach. Man brauchte nur die bisherige natür- liche Theologie und die Lex naturae in den Vordergrund zu rücken, das Positiv-Christliche zu besonderen Kräftigungen, Zusammenfassungen und Introduktionen der allgemeinen religiös -sittlichen Idee zu machen, und der Protestantismus schien auf der Höhe der Wissenschaft. Davon ist die Lockesche, die Wolffisch - rationalistische und dann die Kantisch - rationa- listische Theologie überzeugt. Aber schon bei diesem Stande bedurfte es der Ausbildung einer radikalen neuen Lehre. Wollte man nämlich unter diesen Umständen im Christentum die zusammengefaßte natürliche Religion erkennen, so war das nur möglich, wenn man das Christentum von seiner kirchlichen Gestalt grundlegend unterschied, wenn man die eigent- liche Meinung Jesu und des Urchristentums von der späteren kirchlichen Lehre trennte, und wenn man bei dem engen Zusammenhang der Kirchen- lehre mit dem Paulinismus auch Jesus und Paulus unterschied und die Lehre Jesu allein zur Norm machte, indem allein sie der allgemeinen natür- lichen Religion den reinen Ausdruck gibt. So kam es zu einer weiteren wichtigen Grunderkenntnis, zur Entdeckung des Unterschiedes zwischen dem „Christentum Christi" und dem Christentum der Kirche. Hier mündete nun die humanistische, arminianische und sozinianische Kritik ein; man berief sich auf Luthers freies Verhalten zur Bibel, auf das Recht der historischen Kritik als ein Grundrecht des Protestantismus. Unter diesen Angriffen zer- brach die Grundsäule und Hauptwaffe des alten Protestantismus, die Inspira- tion der Bibel, die ihm allein ermöglicht hatte, das katholische System zu stürzen. Mit dem Fall der Inspirationslehre aber ist die biblische Kritik und religionsgeschichtliche Forschung an beiden Testamenten eröffnet, die beim Alten Testament immer unausweichlicher zu einer völligen Auflösung und Umdeutung seiner Überlieferung und beim Neuen zu der Trennung Jesu und des Paulinismus führte. Als letztes Zentrum bleibt nur Person und Lehre Jesu übrig, und auch hier erscheint Person und Geschichte immer dichter vom Nebel der Überlieferung umhüllt und die Predigt immer mehr in Zusammenhang mit ganz bestimmten historischen Lagen und Vor- bedingungen gerückt. Das Gewebe der ganzen Dogmengeschichte wird von hier aus wieder aufgetrennt, die aus dem Paulinismus und der Spätantike entstandene kirchliche Gedankenwelt als vergängliches geschichtliches Gebilde betrachtet und eine neue Anknüpfung an die Lehre Jesu gesucht.

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Damit erhebt sich für den Protestantismus das ganze schwere Problem des Verhältnisses der religiösen Idee zur Geschichte und zu bleibenden, der Gemeinde als Halt und Zentrum dienenden geschichtlichen Über- lieferungen. Und indem er mit diesem Problem kämpft und etwa in dem durch die Lehre Jesu gesetzten religiösen Prinzip seinen Ruhepunkt findet, wird auch dieser Ruhepunkt hineingerissen in den Strudel geschichtlichen Werdens, indem die Fortentwicklung der allgemeinen Religionswissen- schaft und der praktische Kampf der großen Religionssysteme in der heutigen Mission und Weltpolitik das Christentum überhaupt in den Fluß des religiösen Gedankens hineinstellen und auch den Hegeischen Formeln von der vorstellungsmäßigen Verkörperung der absoluten religiösen Idee im Christentum ihre beruhigende Wirkung nehmen.

Es herrscht hier vielfach ein großer, starker idealistischer Wille, ein indi- viduelles Vertrauen auf die persönliche Überzeugung und eine ernste Arbeit an der Betätigung dieser Überzeugung, aber auch hier sind es überall mehr gestellte als gelöste Probleme! Freilich sind dieser Gedankenentwicklung nur die großen führenden Geister in Philosophie und Geschichte gefolgt und in ihrer Nachfolge ein großer Teil der gelehrten Theologen, Aber es sind doch eben die führenden Geister der modernen Kultur, und die gebildete Welt ist klarer oder unklarer völlig im Banne ihrer Ideen, Die überwiegende Masse der kirchlich Gesinnten hat daher seit dem Hervor- treten solcher Konsequenzen vom Rationalismus sich abgewandt. Man hat durch Berufung auf kritisch gesicherte Wunder oder noch mehr durch Berufung auf das innere, die Übernatürlichkeit der Bibel beglaubigende Bekehrungswunder den Wundercharakter des Christentums im allgemeinen festgehalten. Aber im einzelnen zerbricht dann doch immer wieder diese wSchutzwehr. Die strenge Inspiration ist, außer bei einigen besonderen, freilich sehr großen Kirchengruppen namentlich Englands und Amerikas, nicht wieder aufgenommen worden, und der moderne historische Geist sitzt in den Seelen seiner Leugner selbst. Auch hier herrscht im mo- dernen Protestantismus Zerklüftung, Unfertigkeit und Unklarheit, Wird sie in der Ethik nicht eigentlich empfunden, so wird sie doch hier in den religiösen Grundlagen der Ethik aufs lebhafteste gefühlt.

Es ist eine Erschütterung im Kerne des Systems, die Aufhebung des kirchlichen Wunderbegriflfs, mit ihm des kirchlichen Offenbarungs- und Erlösungsbegriffes und die Umbildung des christlichen GottesbegrifFes unter dem Einfluß des modernen, von der mechanischen Naturphilosophie der Ent- wicklungslehre bedingten Weltbildes. Alle Arbeit des Protestantismus der gebildeten Welt konzentriert sich auf Umbildung und Behauptung des Gottes- begriffes, Eine Stimmung der Defensive überkommt alle. Deren Wirkung liegt nun aber keineswegs nur in direkten Folgen für die religiöse Idee, sondern auch in den indirekten Folgen für die leichtere Emanzipation der bisher im protestantischen System gebundenen Kräfte, Erst seit in England und Holland die Prädestination dem Arminianismus und die Gnaden- und

I). Der niod. I'iotcstanlismus (i8. u. K). Jalirli.). IV. Der mod. Staats- und KirchcnliPf^rifT. ^fij

Erlösungslehro dem wSozinianisnius woicht, seit die relijjficist« Idee unter dem Einfluß der neuen Wissenschaft sich zur Weltharmonie und Zweckmäßig- keit verdüimt hat, befreit sich der rehgiöse Tndividuahsmus zum Libera- lismus, der Utilitarismus des staatskirchlichen Systems zum Utilitarismus als philosophischem Prinzip, die christliche Brüderlichkeit zum allgemeinen Menschenrecht, das natürliche wSittengesetz zur Grundlage des natürlichen Systems der Ethik, der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaft. Der Regulator ist geschwächt, der sie bisher gebunden hatte unter die Idee Gottes, seiner Offenbarung und Erlösung, und, bereits im stillen stark entwickelt, streben sie nun auseinander, zunächst noch unter Nachwirkung der alten normativen Idee sich vereinigend zum natürlichen System, dann auch dieses sprengend und in die buntesten Verschlingungen eingehend, und ihrem alten Vater oder Nährvater, dem Protestantismus, die schwierig- sten Kämpfe bereitend.

IV. Der moderne Staats- und Kirchenbegriff. Alle diese Ver- Mittelalterlicher änderungen haben sich in der luftigen Region des Gedankens vollzogen staatsbegrifF. und haben nur durch den Gedanken praktische Wirkung. Aber neben ihnen hat sich eine Veränderung auch auf dem harten Boden der Tatsachen und Institutionen vollzogen, die von allen die wichtigste, weil handgreif- lichste und praktisch wirksamste ist. An ihr kann auch der heftigste Protest altgläubiger Dogmatik und Ethik nichts ändern, denn sie ist Tatsache und von ihr selber anerkannt. Auf dieser Tatsache beruhte auch zumeist erst die Möglichkeit für jene Gedanken, sich auszubilden und zu wirken. Diese Tatsache läßt sich sehr einfach bezeichnen und bedeutet doch eine ge- radezu grundlegende, ungeheure Veränderung: der Staat ist kirchlich neu- tral geworden, und die Kirche hat einen neuen Begriff von sich selbst bilden müssen, auf dem ihre heutigen Institutionen und ihr ganzes heutiges Dasein beruhen.

Die Grundidee der mittelalterlichen Kultur hatte Staat und Kirche zu den zwei einträchtig wirkenden Organen der christlichen Gesellschaft oder des Corpus Christianum verschmolzen. Der Protestantismus beruhte auf dieser Idee um kein Haar weniger als der Katholizismus; ja der Pro- testantismus hatte bei seinem Verzicht auf Hierarchie und rechtliche Über- ordnung sich mit seinem ganzen System vom Staate noch viel abhängiger gemacht als der Katholizismus, indem er die Aufrechterhaltung des christ- lichen Kultursystems der christlich gesinnten Obrigkeit übergibt und an der in alle Ewigkeit dauernden Christlichkeit dieser Obrigkeit und an ihrem Willen, die Konformität zu behaupten, nicht zweifelt. Die Säku- larisation des Staates ist die wichtigste Tatsache der modernen Welt; denn sie hat diesem System ein Ende gemacht. Der Katholizismus konnte da- gegen protestieren und sein päpstliches Weltreich in allerhand Kompro- missen und Kämpfen behaupten; denn er braucht zwar den Staat zur Be- hauptung und Durchführung der christlichen Kultur, aber er kann existieren

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ohne ihn und kann ihn durch seine geschlossene Weltmacht nötigenfalls zwingen. Der Protestantismus in seiner alten Idee aber konnte über- haupt gar nicht existieren ohne ihn; der Calvinismus konnte ihn schwer, das Luthertum gar nicht entbehren. Die Säkularisation des Staates ver- ändert nicht bloß die Basis, sondern Wesen und Form des protestantischen Kirchentums. Säkularisation Die Säkularisation des Staates hat weit verzweigte Ursachen. Sie

Souveränetäts- geht zurück auf die Entstehung nationaler Staaten innerhalb des mittel- alterlichen Imperiums, auf die städtische Kultur und ihre Ausbildung poli- tischer Zwecke und Kräfte, auf die Rezeption des römischen Rechtes und seine Idee von der Einheitlichkeit und Absolutheit der staatlichen Gewalt, auf humanistische Erneuerung antiker Staatsgefühle, auf die Renaissancepolitik eines Macchiavelli und Bodin, auf die Vereinigung der landesherrlichen Befugnisse und die Unterjochung der ständischen Ge- walten, schließlich auch auf die den Staat verstärkende protestantische Glori- fizierung des Staates selbst. Ihr Ergebnis ist der Begriff der Souveränetät, der Satz, daß der Staat die höchste und letzte irdische Autorität und die sich selbst völlig genügende Quelle aller Macht ist. Das ist aber der schroffste Widerspruch gegen die protestantisch-kirchliche Staatsidee, nach der der Staat immer der Selbstbeurteilung durch das von den Theologen ausgelegte Wort Gottes unterliegt. Souveränetät und Autarkie des Staates sind der völlige Gegensatz gegen die Liebespflicht des Staates, der sein Mandat nur zum Zweck der Pflege der christlichen Kultur von Gott hat. Hand in Hand mit dem Begriff der Souveränetät geht die Ausbildung des neuen Begriffes von Zweck und Aufgabe des Staates. Der Staat hat rein weltliche Wohlfahrtszwecke, die salus publica oder die Staatsraison. Friede nach außen, Sicherheit nach innen, Rechtsschutz und Förderung des Wohlstandes, Polizei und Militär, Handels- und Finanzpolitik, Popu- lationspolitik, Vergrößerung und Intensivierung seiner Macht: das sind seine Aufgaben. Ähnlich hatte ihn ja auch die konfessionelle Lehre be- trachtet. Aber sie hatte diese Zwecke immer nur als Mittelzwecke dem Zweck des Gehorsams gegen das göttliche Wort und der Behauptung der Kirche untergeordnet. Nun werden das alles Selbstzwecke, deren Ver- wirklichung durch nichts mehr gestört wird, als durch geistliche Maßstäbe und konfessionelle Politik. Der Staat dient nicht mehr der Ehre Gottes, sondern seiner eigenen; die Souveränetät Gottes wird zur Souveränetät des Staates. Das Religiöse muß auf seine eigene Sphäre beschränkt werden, und der Staat muß frei sein in der Verfolgung der ihm eigenen Zwecke.

Für diesen tatsächlichen Zustand fand dann auch die Theorie die nötige Begründung. Das natürliche System der Geisteswissenschaften konstruiert auch den Staat als einen wesentlichen Bestandteil des mensch- lichen Daseins aus psychologischen Gesetzen. Auch hier brauchte man nur die kirchliche Lehre von der Lex naturae selbst zu säkularisieren.

U. Der moil. I'rolestanlismus (|8. u. K). Jalirh.). I\'. Der uiod. Staats- und Kirchenbcgrifl". igi

Sie hatte stets über den Ursprung des Staates gelehrt wie das Naturrecht der Antike und des Mittelalters, sei es, daß sie mit dem Naturrecht der ursprünglichen Gleichheit aller Menschen vom Staatsvertrage, sei es, daß sie mit dem Naturrecht des Gewaltursprungs aller Staaten von der grund- legenden Gewalterlangung ausging. Die erstere Lehre hatten die gegen die Staatsallmacht sich auflehnenden Neu-Thomisten und die Reformierten in den hugenottischen Kämpfen, die letztere die Lutheraner bevorzugt; immer, so oder so, war die causa remota Gott und die causa proxima ein weltlicher, psychologisch verständlicher Vorgang. Von diesen beiden Möglichkeiten der Deutung der Lex naturae hielt sich die mit Hobbes und Locke entstehende neue Staatsdoktrin an die erste, teils weil sie über- haupt auf reformiertem Boden entsprang, teils weil der Ausgang von der ursprünglichen Gleichheit der Menschen den herrschend gewordenen inde- pendenten religiösen Gefühlen und dem rationalistischen atomistischen Charakter der Philosophie entsprach. Sah man doch auch in der Ent- stehung der Niederlande, in den neuenglischen Kolonialstaaten, in dem schottischen und Cromwellschen Covenant den Staat tatsächlich aus dem Vertrag entstehen. Man brauchte nur die alttestamentlichen Illustrationen der Lex naturae völlig auszuscheiden und diese streng auf allgemeine psychologische Eigenschaften und Triebe zu begründen, die man in dem prinzipiellen Individualismus mit seinen Konflikten und Interessenausgleichen zu erkennen glaubte. Die causa proxima verschlang die causa remota. So entstand die naturrechtliche Lehre vom Staatsvertrag, vom Vereinigungs- und Unterwerfungsvertrag und von der Bildung des gemeinsamen Staats- willens durch Aufrichtung eines ihn ausübenden Organs. Damit war dann auch der Gedanke der Souveränetät des so gebildeten Staates und seine Abzweckung auf rein innerweltliche Zwecke sichergestellt. Der moderne Staat trat auf eigene Füße, und, wenn er auch diese Lehren über seine Entstehung wieder abgeschüttelt hat, die damit verknüpften Lehren über sein Wesen und seine Aufgabe sind im ganzen geblieben.

Das bedeutet nun aber sofort eine totale Änderung seines Verhaltens zu den auf seinem Boden befindlichen Kirchen. Der Staat hat seinen Zweck nicht mehr in der Kirche, und damit fällt sein Regiment über das innere Leben der Kirche, aber auch sein Interesse an der Erhaltung der Konformität des Glaubens weg. Er wird kirchlich neutral und tolerant; duldet Heiden und Juden und christliche Sekten und Konfessionen. Ja es liegt geradezu in seinem Interesse, durch Duldung die Bevölkerungs- zahl und den Wohlstand zu heben. Andrerseits unterwirft er die Kirchen seiner Aufsicht, aber nur im staatlichen, nicht im kirchlichen Interesse, insofern er nichts Staatsfeindliches in den Kirchen dulden darf. Im übrigen aber überläßt er die Kirchen sich selbst, höchstens mit dem allgemeinen Wunsch und Interesse, daß die ethischen Kräfte der Kirchen auch seinem Bestände zugute kommen mögen. Der moderne Staat hat diese Stellung nur in Amerika völlig konsequent eingenommen; aber auch da, wo er die

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Reste alten Staatskirchentums fortführt, ist seine Stellung im Prinzip überall dieselbe; ja die konstitutionelle Staatsform mit ihrer aus allen Konfessionen gemischten Vertretung hat diesem Charakter erst recht Aus- druck gegeben. In ihnen sind die Reste des Staatskirchentums gegen- über der allgemeinen offiziellen Idee des Staates Anomalieen, ein letzter Nachklang alter Zeiten. Neuer Kirchen- Für die protcstantischen Kirchen hätte diese Änderung die Katastrophe

einer Vernichtung bedeutet, hätten nicht die Staaten den Übergang sehr all- mählich vollzogen und mit dem neuen Prinzip weitgehende Schonung der alten tatsächlichen Verhältnisse verbunden. Es entstand in Wahrheit doch überall nur größere oder geringere konfessionelle Gemischtheit des Staates und Überlassung der Kirchen an sich selbst, nirgends aber eine positive Bekämpfung und Zurückdrängung des Kirchentums. Immerhin hätten die Kirchen auch so den Wechsel nicht ertragen, hätten sie sich nicht der neuen Situation durch einen neuen Kirchenbegriff angepaßt, der nun auch seinerseits die Selbständigkeit der Kirche gegenüber dem Staate zum Programm macht. Der neue Kirchenbegriff ist auch seinerseits mit den allgemeinen Mitteln der Sozialphilosophie des natürlichen Systems aufge- baut und steht in voller Analogie zu der Lehre vom Staatsvertrage. An Stelle des alten Anstalts- und StiftungsbegrifFes tritt der Korporationsbe- griff. Nicht Gott und das Wunder von oben machen die Kirche, sondern der Zusammentritt der Gläubigen zu gemeinsamer Gottesverehrung und Betätigung ihrer Überzeugung. Aus der Kirche wird eine Religionsge- meinschaft, eine Glaubensgenossenschaft, die zunächst in der Einzelge- meinde zusammentritt und die Einzelgemeinden zusammensetzt zur Gesamt- kirche. Ihr Zweck ist der rein religiöse der Lehre und des Kultus. Darin ist sie durchaus selbständig und ordnet sie ihre Angelegenheiten von sich aus. Der Staat hat nur das jus circa sacra, die äußere Überwachung und etwa auch rechtliche und finanzielle Unterstützung, die Kirche allein hat das jus in sacra, die Hoheit über die die Religion selbst betreffenden Fragen. Im Staatsvertrage kann nur Hobbes verschloß sich noch dieser Einsicht die unveräußerliche religiöse Gewissensfreiheit nicht aufgegeben werden; aus ihr kann daher nur eine eigene kirchliche Gemeinschaft gebildet werden, die in rebus externis dem Staat untersteht, in rebus intemis selb- ständig ist. Es ist eine Konstruktion, die nicht bloß den allgemeinen Be- griffen der Sozialphilosophie entspricht, sondern auch den tatsächlichen Verhältnissen selbst. Im konfessionslosen Staat ist gläubig nur derjenige, der selber will. Es besteht kein Zwang der Zugehörigkeit, und gerade ernste Religion ist eine Sache persönlicher freiwilliger Überzeugung. So scheint an diesem Punkt die moderne Bewegung einmal nicht zu zerstören, sondern aufzubauen, indem sie die Kirche der Idee gemäß wenigstens nur aus gläubigen und willigen Mitgliedern bestehen läßt.

Der Calvinismus hat zunächst diesen neuen Kirchenbegriflf ausgebildet Auf Grund des Independentismus konstruiert ihn der große Staatstheore-

D. Der niod. Protestantismus il8. u. lO- Jahrli.). IV. Der iiiod. Staats- und Kirchcnhffjrin'. -Joc

tiker und gläubige Christ John Locke. Tn der Tat war es auch für den Calvinismus sehr viel leichter auf ihn einzugehen. Kr besaß ge- nügende verfassungsmäßige Selbständigkeit, um sich auch ohne Identität mit dem Staat zu behaupten, und seine Ideenwelt war inzwischen hin- reichend religiös mit dem independenten Individualismus verbunden, um gerade diesen Rückzug auf die Freiwilligkeit als etwas spezifisch Reli- giöses zu empfinden. Die amerikanischen Kirchen konnten den thcokra- tischen Satz der Westminster-confession „As nursing fathers, it is the duty of civil magistrates to protect the church of our common Lord" ergänzen durch den modernen Zusatz „without giving the preference to any denomi- nation of Christians above the rest". Viel schwieriger war die Lage des Luthertums und des Zw'inglianismus. Hier konnten nur die von calvinisti- schen Mustern beeinflußten und sich vor der Welt zurückziehenden pieti- stischen Konventikel die neue Lehre freudig annehmen. Aber die großen breiten Kirchen, die landesherrlichen Predigtanstalten, waren nichts ohne den Staat, der sie erhielt und ihre Prediger anstellte. Hier half die Theorie mit dem nie versagenden Prinzip der schweigenden Zustimmung und ließ die Genossenschaftsrechte der Kirchen stillschweigend zur Ausübung an den Landesherrn und seine Konsistorien übertragen sein. In der Praxis behielt daher hier der Staat die alten Rechte und Tätigkeiten in der Hand als ein Ressort neben anderen, erhielt das äußere Kirchenwesen, säkularisierte das Schulwesen und überließ nach innen die Kirche und das waren hier meist die Prediger sich selbst. So hat Pufendorf auf lutherischem Boden den ToleranzbegrifF und den naturrechtlichen Kirchen- begriff gewendet Die hierbei sich ergebende Vernachlässigung der Kirche und die übersichtslose Anarchie waren bald unerträglich, und so schritt man auch in diesen Ländern im ig. Jahrhundert zur Aufrichtung selb- ständiger Kirchen, die teils von dem durch besondere Organe ausgeübten landesherrlichen Kirchenregiment, teils von einer korporativ-synodalen Auf- fassung der Kirche im calvinistischen Sinne bestimmt wurden; es wurden Mischgebilde aus Staatskirche und Freikirche, aus Anstalt und Korporation, deren rechtliche Natur nur dem geschichtskundigen Juristen verständlich ist, eine im innersten Wesen undurchsichtige und unpopuläre Institution. Damit sind die Prinzipien des modernen Individualismus auf die Kirche selbst mehr oder minder streng allseits übertragen worden. Die religiöse Überzeugung ist Gewnssensrecht, und niemand kann zu ihr gezwungen werden; das Recht der Konfessions- und Religionslosigkeit ist schließlich zu- gestanden. Die Kirchen beruhen auf der Korporation der in ihrer Gewissens- überzeugung Übereinstimmenden und können in beliebiger Zahl nebenein- ander existieren. Innerhalb jeder einzelnen Kirche selbst steht jeder die Selbstregierung zu, die sich meist in einer Steigerung des dogmatischen Zw^anges äußert, da nun ja jeder Dissentierende seine Wege gehen kann und die freien Kirchen selbst für ihre Reinheit in denjenigen Dingen sorgen, die ihrer Macht unterliegen, was zumeist nur das Dogma ist; auch

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die calvinistische Kirchenzucht muß nun Rücksicht nehmen auf die Mög- lichkeit allzu zahlreichen Abfalls und kann nur in kleinen Kreisen ihre völlige Strenge behaupten. Wo aber der Individualismus in das Innere der Kirchen selbst eindringt, da organisieren sie sich kongregationalistisch oder sie dulden verschiedene theologische Richtungen als gleichberechtigt. Entweder endlose Spaltungen und Wiedervereinigungen wie in Amerika oder Kämpfe und Ausgleichungen innerhalb der Kirche, wie in den euro- päischen privilegierten und unter dem Ausgleichsinteresse des Staates stehenden Landeskirchen sind der Charakter des protestantischen modernen Kirchentums. Praktische und Der Gcgcnsatz nicht bloß gegen den altprotestantischen Begriff der

theoretische . , . ,

Konsequenzen geschlossencn staatskirchlichen Kultur, sondern auch gegen den eigent-

des neuen

Kirchenbegriffcs.lichsten Kcm scines Kirchenbegriffes liegt auf der Hand. Der Alt-Pro- testantismus sah mit dem Katholizismus in der Kirche ein absolutes Wunder, die Anstalt der Erlösung durch das ihr eingestiftete Heilsmittel des Wortes, die Stiftung Gottes inmitten der erbsündigen verlorenen Welt, außer der kein Heil war. Eben weil er die Kirche so ansah, mußte er auch die Konsequenz der geschlossenen staatskirchlichen Kultur aus ihr ziehen. Indem nun diese Konsequenz aufgegeben wurde, wurde mit ihr auch die Voraussetzung selbst preisgegeben und durch eine neue ersetzt. Was die Offenbarung gestiftet hat, ist nicht eine Kirche und das Wunder der Gnadenmittel, sondern eine von Jesus aus wirkende Macht persönlichen Lebens. Wer dieses Leben ergreift oder von ihm ergriffen wird, der sammelt sich mit den Gleichgestimmten zur Gemeinde, und erst diese Ge- meinde bringt durch ihre Bestimmungen die Geltung von Dogma und Lehre, von Bibel und Sakrament hervor. Die aus flüssigen geistigen Anregungen entstehende Gemeinde bringt die Kirche hervor, nicht die Kirche die Ge- meinde. Dann ist auch eine Mehrzahl von Kirchen nicht verwunderlich. Die verschiedenen Formungen des christlich religiösen Geistes bringen verschiedene Kirchen hervor mit verschiedenen Dogmen, Kulten, Ver- fassungen und verschiedenen Deutungen der Bibel. Wo nicht ein gToßes Kirchen-Stiftungswunder alles beherrscht, wo vielmehr alles psychologisch verständlich und natürlich hergeht, da sind verschiedene Kirchen so wenig ein Problem wie verschiedene Staaten. Wo das Wunder nicht in der Kirchenstiftung und Wahrheitsmitteilung selbst besteht, sondern in eine allgemeine Erregung religiösen und sittlichen Personlebens zurücktritt, da werden die Kirchen ohne Wunder sein und wie nützliche menschliche Einrichtungen durch Konstituanten und Synoden gemacht werden.

Die totale Revolution ist handgreiflich trotz aller heute noch be- stehenden Mischbildung'en von Freikirche und Landeskirche, und die prak- tische Wirkung liegt vor Augen. Nichts macht die Menschen indifferenter als der Streit der Konfessionen und die Mehrzahl sich bekämpfender Alleinwahrheiten. Die moderne Menschheit hat ein tiefes Mißtrauen nicht gegen die Rehgion, sondern gegen die Kirchen. Die Konkurrenz der

D. Der mod. Protestantismus (j8. u. 19. Jahrb.). IV. Der mod. Staats- und KirchcnbcgrifT. ig?

Kirchen ist in Amerika das Abstoßendste, und der Gegensatz der schein- baren Herrschaft der Kirchen mit ihrer praktischen Machtlosigkeit ist in Europa das Zeichen der Lage. Es ist ein Zustand, der gerade dem reli- giösen Interesse an lebendiger Gemeinschaft zu entsprechen scheint und der tatsächlich doch alles lähmt.

Es liegen aber in diesem Zustande noch weitere Probleme, die teils dunkel empfunden, teils klar formuliert werden, einmal das Problem des KirchenbegrifFes überhaupt, ob mit lebendiger persönlicher Religion eine Kirche überhaupt verträglich sei, und dann das Problem des Wahrheits- und Oifenbarungsbegriffes, ob Wahrheit und Offenbarung sein können, was doch in so verschiedenen Formen sich auseinanderlegt.

Wird der Individualismus in das religiöse Leben selbst hineingetragen, ist das Subjektive, Persönliche, Inspirations- und Überzeugungsmäßige das erste in der Religion, besteht ihre objektive Beziehung nur in der persön- lich jedesmal individuell gearteten Aneignung des religiösen Grundge- dankens und seiner Verkörperung in Jesus, dann verliert auch die Kirche als Wunderanstalt, als göttliche Stiftung, als absolute objektive Autorität, ihren Sinn; dann wird sie zur Trägerin und Fortleiterin der von Jesus ausgehenden Kräfte, die aber an sich nicht innerlich an sie gebunden sind. Fällt aber die Wunderanstalt weg, dann wird die Kirche als Glaubenskorporation eine menschliche Anstalt und all ihr Dogma und ihr Lehrgesetz haben nur menschliche Autorität; ihr Druck wird unerträglich. So werden die Konflikte zwischen persönlicher religiöser Überzeugung und kirchenrechtlich - geltender Lehre chronisch, wenn auch nur die Geistlichen wirklich unter ihnen leiden. Der Gegensatz ist unauf heblich, und es ist begreiflich, daß man im Protestantismus die allmähliche Auflösung der Kirchenform der Religion überhaupt hat sehen wollen. Aber diese Auflösung ist doch andrerseits ganz unmög- lich, da die Religion Gemeinschaft, Kultus und Zusammenhang mit der Geschichte bedarf. So ist das Endergebnis die Einsicht des Protestantis- mus in eine innere Antinomie von Religion und Kirche, die sich nicht entbehren und nicht ertragen können, und aus deren Konflikt nur die immer erneute Vergegenwärtigung der reinen, kirchenlosen, christlichen Idee herausführen kann, um das Gemeinschaftsleben von den Gefahren des Kirchentums rein zu halten.

Das zweite Problem ist in dem ersten enthalten. Eine Wahrheit, die in so vielen Verkörperungen leben kann und leben muß, kann von Hause aus nicht auf eine schlechthin einfache, formulierbare Gestalt angelegt gewesen sein. Es muß in ihrem Wesen liegen, geschichtliche Variationen zu erleiden und verschiedene Bildungen gleichzeitig nebeneinander hervor- zubringen. Die Idee muß, wie Hegel sagt, in der Form der Vorstellung den verschiedenen Vorstellungsmedien unterliegen dürfen, und sie muß eine innere Bewegung besitzen, die sie befähigt, auf die Probleme ver- schiedener Zeiten, verschiedener Völker, \'olksschichten und Individuen

5g8 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

verschieden zu antworten und doch die Einheit des Geistes zu bewahren. Das aber ist ein totaler Wandel im Wahrheits- und OffenbarungsbegrifF des Protestantismus. Der heutige Protestantismus glaubt nicht mehr an die Offenbarungsidee des Alt-Protestantismus und Katholizismus, die sich ja nur im Inhalte unterschieden. Er glaubt an eine Erhöhung, Vertiefung, Reinigung und Kräftigung des menschlichen Lebens durch die persön- lichen Kräfte, die von Jesus ausgehen. Deshalb kann er verschiedene Kirchen untereinander vertragen, deshalb revoltiert er in jeder Kirche gegen die offizielle Lehre und deshalb lebt die protestantische Welt in Wahrheit außerhalb der Kirche, wenn auch die Kirche selbst als wert- voll und unentbehrlich anerkannt wird.

Freilich wird diese Veränderung von einem großen Teil des Prote- stantismus mit Leichtigkeit ertragen. Der Calvinismus hat sich in den neureformierten Kirch enbegriff gefunden und fühlt sich in den holländi- schen, schweizerischen und amerikanischen Freikirchen völlig befriedigt. Insbesondere preist Amerika sein System als die endliche, beide Teile befriedigende Lösung des Problems. Es ist das nur möglich, weil der amerikanische rein praktische Individualismus überhaupt der Gefahr ratio- nalistischer Konsequenzen weniger ausgesetzt ist und weil die allgemeine Bildung- noch zu wenig- gesättigt ist mit den Ideen, die auch von der wissenschaftlichen Seite her die Dogmatik auflösen. Wo aber beides zu- sammentrifft, wie auf dem Boden der alten europäischen Staatskirchen, da ergeben sich die schwierigsten Verhältnisse, die lähmend auf dem ganzen religiösen Leben liegen und aus der Jahrtausende alten Verflechtung von Staat und Kirche herausdrängen oder auf andere Weise eine gründliche Änderung des Bestandes verlangen.

Welches aber auch immer die ideellen Wirkungen der neuen Lage sein mögen, ganz klar ist jedenfalls zunächst die praktisch-organisatorische: Der ganze Protestantismus erlebt eine Umbildung von der Idee der religiösen Independenz her. Seine neuen Bewegungen und Kirchenstiftungen beruhen rein auf diesem Prinzip, sein Ausgleich mit der modernen Wissenschaft beruft sich auf den prinzipiellen Überzeugungs- und Gewissenscharakter des Protestantismus. Seine alten Kirchen werden umg'ebaut, staatsrecht- lich und kirchenrechtlich auf einen neuen Fuß gestellt. Die Staatsprivi- legien sind nur mehr Privilegien und werden zunehmend eingeschränkt. In den Kirchen selbst treiben Parteien und Majoritäten ihr Wesen.

Zentralstellung V. Die Auflösuiig der p r o 1 6 s t an t i s c h c n Askese. Der Prote-

des Begriffs der . .,.,_. ^ . .... ,••-.,

Askese im alten stantismus Zieht sich auf seme alte Grundposition, die persönliche Uber-

System.

zeugungsreligion zurück und sucht in ihr seinen Halt. Aber gerade hier zeigt sich nun die wichtigste Veränderung. Der Alt-Protestantismus war mit den Gedanken der Erbsünde und der l-lrlösung durch Christi Werk auf die Askese gestellt, die für ihn eine innerweltliche wurde, die aber doch immer Askese blieb. Nun aber ereignet sich das Wichtigste, daß

D. Der moderne Protestantismus (l8. u. ly. Jahrh.). V. Die Auflösung der jjrol. Askese. 300

diese ethische Gesinnungsreligion im Zentrum ihrer Gesinnung selbst einen gewaltigen Wandel erlebt, daß die altprotestantische Askese sich auflöst und eine neue Gefühlsstellung zur Welt und zum Natürlich -Sinn- lichen eintritt.

Das ist teilweise die naturgemäße Folge aller geschilderten Vorgänge. Kmanzipation

T^ 11-1 1 -1 •■ 1- 1 f' 1 1 1 1 Ti ^'''' weltlichen

h,s vollzieht sich in ihnen em eigentumliches Schicksal des rrotestantis- Kulturzwecke mus. Teils wenden sich die modernen Kräfte, die von dem Restaurations- System. katholizismus aus der Heimat der Renaissance ausgestoßen waren und dann eine Zuflucht bei ihm, vor allem den Reformierten, gefunden hatten, nach Erstarkung unter seinem Schutze gegen ihn, teils hat er sich gerade durch seine Askese selbst die Mächte groß gezogen, die dann undankbar den Vater verließen und gegen seine asketische Lehre sich kehrten. Das erste ist der Fall mit der modernen Wissenschaft; ihr hatte sein eigener kritischer Geist und sein religiöser Freiheitssinn ein Pförtchen geöffnet, durch das erst der humanistische Rationalismus und dann die neue Natur- wissenschaft, Geschichtsforschung und Gesellschaftslehre eindringen konnten; sie wandten sich, wie bisher dargestellt, in steigendem Maße gegen ihn. Das letztere ist der Fall mit den großen politischen und wirtschaftlichen Gefühlswerten der modernen Welt. Der Protestantismus hat auf seinen lutherischen Gebieten die Souveränetät des Staates durch die religiöse Weihung des Staates unermeßlich gesteigert, Fürsten und Beamtenschaft aus Dienern der Kirche zu Inhabern unmittelbaren göttlichen Berufsauf- trages für geistliche und weltliche Dinge gemacht und den in alles sich schickenden und duldenden Untertanenverstand zur Fügung in diese amt- liche Ordnung erzogen. Der Christ begab sich seiner eignen Rechte in weltlichen Dingen, und die christliche Demut entäußerte sich alles eigenen W^illens an die berufenen Träger der von der Vorsehung verordneten Gewalt. Diese Glorie des Staates und des Beamtentums blieb, auch nachdem der Staat sich nach modemer weltlicher Souveränetätslehre auf sich selbst gestellt und die Kirche nur mehr als ein Mittel der Volk.s- erziehung und moralischen Gesinnungsbildung, als einen Teil seines Macht- apparates, ansehen gelernt hatte. Der aufgeklärte Absolutismus und der alles bevormundende Polizeistaat sind Kinder des Luthertums, aber ihnen ist der Staat Selbstzweck geworden, und nur mehr um seiner eigenen Ehre willen fordert er den Gehorsam. Und vom Absolutismus erzogen, wacht die spezifisch politische Empfindung überhaupt wieder auf, die im Staate einen der höchsten Selbstzwecke des irdischen Lebens sieht und nun die politische Erziehung der bisher völlig unpolitischen Bevölke- rung zu ihrer Hauptaufgabe macht. Auf reformierten Gebieten dagegen ist gerade aus dem religiösen, überweltlichen Individualismus heraus die Unterwerfung aller irdischen Dinge unter die Freiheit des Gewissens ent- standen, mit ihr die politisch - demokratische Lehre vom Staatsvertrage, von den unantastbaren Menschenrechten der religiösen Überzeugung und der Freiheit des Gewissens. Aber all das emanzipiert sich von seinen

400

Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

religiösen Voraussetzungen. Der von Gott angeordnete und geheiligte Volksvertrag wird zu freier menschlicher Nützlichkeitsüberlegung oder zur abstrakten Folge eines rein abstrakten Xaturrechts, das auch gilt ohne Gott; die Gottesrechte des erwählten Individuums, das seinen Anteil am Gottes- reich hat, werden zu den Menschenrechten jedes Erwachsenen, der seinen gerechten Anteil fordern darf an den Lebensgütem; die Gewissensfrei- heit des seinem Gott nach fester Überzeugung dienenden Gemütes zum Rechte der Indifferenz gegen alle religiösen Institutionen und Gedanken. Nicht anders steht es mit der Anbahnung des Kapitalismus durch die bürgerlich - puritanischen Kreise. Die hier anerzogene Arbeits- und Ge- schäftsgesinnung, die planmäßige Einstellung eines systematisch rastlosen Fleißes auf nützlichen Erwerb wird aus einem Mittel der Fleisches- abtötung und der Gottesverherrlichung durch den allgemeinen großen Auf- schwung der kolonialen und technischen Entwicklung und durch die Er- kaltung des religiösen Gedankens zu der profithungrigen, unternehmungs- lustigen Seelenverfassung des modernen Kapitalismus, dem der Enverb zum Selbstzweck und systematische Ausnutzung aller Konjunkturen zur Pflicht wird, der die Arbeit zur eigenen Ehre und zum Erweis des eigenen Könnens und Vermögens betreibt. Klassisch für diese Säkularisation altreformierten Geschäftsgeistes ist Benjamin Franklins Tagebuch mit seiner rein utilita- ristischen Motivierung einer entsagungsvoll systematischen Arbeitsamkeit; aus Bunyans Himmelspilger, der in allem für die himmlische Rettung und für die Ehre Gottes besorgt ist, wird Daniel Defoes Robinson, der irdi- sches Gedeihen und Selbstgenuß der eigenen Erfindungskraft zur An- gelegenheit der einsamen Seele macht und mit einem großen Kolonial- reich belohnt wird. Es ist eben das Wesen der innerweltlichen Askese im Gegensatze zu der weltflüchtig -katholischen, daß sie die weltlichen An- gelegenheiten zu unmittelbaren Willenszielen und g"öttlichen Aufgaben macht und so ihnen eine gewaltige Energie zuführt, daß sie aber inner- lich doch die Seelen von diesen Willenszielen völlig fernhält und so die jeder inneren religiösen Bedeutung ermangelnden Welttätigkeiten der Reli- gion in dem Momente über den Kopf wachsen läßt, wo sie selbst matter wird und jene durch allgemeine Verhältnisse eine neue selbständige Grund- legung" erfahren. Wer den Protestantismus preist wegen seiner politisch und wirtschaftlich befreienden oder entwickelnden Wirkung, muß wissen, daß der Protestantismus diese Wirkungen gegen seine eig'ene innerste Absicht hervorgebracht hat, daß sein ethisches Wesen die innerweltliche Askese ist und daß die Schöpfungen dieser die Welt durchdringenden Askese sich gegen die Askese selbst schließlich gewandt haben.

All dies freilich bedeutet nur Entziehungen und Verluste von ur- sprünglich beherrschten Gebieten und wirkt auf diejenigen, die innerlich im Bann der protestantischen Idee bleiben, nur indirekt zu einer Verstär- kung und Verselbständigung der weltlichen Interesssen. \ie\ tiefer dringen die metaphysischen und geschichtsphilosophischen Ideen in das

Askese.

D. Der mocU-rnc Protestantismus (l8. u. I<). Jahrh.). V. Die Auflösunfj der prot. Askese. aqi

Innere des religiösen Gedankens selbst ein, um in ihm überhaupt die Voraussetzungen des asketischen Gefühls zu brechen. Hier wirken die Ideen der Allgesetzlichkeit und der Optimismus des Fortschritts- gedankens,

Die neue Naturwissenschaft macht den Gedanken immer unausweich- Moiiemer

-, . Monismus als

lieber, daß die ganze Welt in Natur und Geschichte nur ein großes, ein- zc-rsfirer der heitliches System gesetzlicher Entfaltung und Gestaltung des Universums ist. Die göttliche Zwecktätigkeit und Vorsehung wird nicht mehr auf das Einzelgeschehen, sondern auf die Kalkulation des Ganzen durch den großen Weltmechaniker bezogen; oder, wo die Gesetzmäßigkeit mehr in der Weise des stoischen Naturbegriifes empfunden wird, da erscheinen die Gesetze als die Wirkungsformen der breiten, großen Gott -Natur, die imr als Ganzes ihr eigener Selbstzweck ist. Typisch für die Wirkung- dieser Ideen ist die Art, wie Leibniz gerade von ihnen aus eine ener- gische christliche Position behaupten will. Er stellt das Auge in die Sonne, in die allgemeine Weltgesetzlichkeit, ein. Der einzelne Mensch und sein Geschick wird weniger wichtig. Wohl ist ihm ein letztes Ziel des Glückes vorbehalten, aber doch immer nur mit Rücksicht auf das Gesamtziel der ganzen Geisterfülle. Daraus ergibt sich ein unbegrenzter religiöser Optimismus, aber nur für das Ganze der Welt, und eine ebenso bedingungslose Ergebung und Resignation, aber nur für den einzelnen und einzelne Lagen. Gott führt diese ganze unendliche Welt zum letzten Ziele der Seligkeit; sonst wäre er nicht Gott. Aber die Seligkeit der einzelnen ist nur möglich mit Rücksicht auf die Erreichung der jedes anderen; und das fordert unendlich viel Verzicht auf Einzelglück und vertrauensvolle Er- gebung in unerforschliche göttliche Wege. Aber alle diese Ergebung ist nicht Ergebung in den Sündenfall und seine Folgen, alles Leiden ist nicht Folge der menschlichen Freiheit und Schuld, sondern Folge der Zusammen- passung kreatürlicher Vielheit zum einheitlichen göttlichen Endzweck. Alles Leiden ist nur ein Einzelton in der Symphonie des Ganzen. Aus diesem göttlichen Wirken tönt die Notwendigkeit und Einheit des Naturgesetzes entgegen wie eine Harmonie der Sphären, die aus geistigem und körper- lichem Geschehen die gleiche Notwendigkeit und Einheit vernehmen läßt. Die göttliche Notwendigkeit schließt das menschliche Tun in sich ein und läßt ihm nur die größere oder geringere Herausarbeitung der ihm imma- nenten Wesensbestimmung, aber keine Durchkreuzung göttlicher Wege übrig. Die Freiheit ist die wahre Notwendigkeit, ist das Reich der Gnade, und wenn das Evangelium in uns den Trieb zum höheren Leben weckt und festigt, dann vollendet es nur den innersten Trieb der Natur. Keine Katastrophen und keine Brüche, keine Tragödien und Wiederherstellungen bringt das göttliche Schaffen hervor, sondern eine unendliche Annäherung an die Quelle alles Guten und aller Wirklichkeit. Freudig- zum Ziel bestimmt und doch beständig zu Geduld und Ergebung genötigt, kann die Seele das künftige Leben erwarten wie einen künftigen Tag, und un-

DiE Kultur ükk GtüKNWART. I. 4. 20

402 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

erschöpflich tätig hat sie ihr Glück zu suchen in der Ausnutzung jedes Momentes, da doch jede Zukunft nur die Folge jeder Gegenwart und Vergangenheit ist und in dem Heute der irdischen Tätigkeit schon das Morgen des ewigen Lebens wandelt. Das sind typische religiöse Stim- mungen des modernen Menschen, die auch da, wo, wie bei Kant, die Freiheit und das Böse eine größere Rolle spielen, im wesentlichen doch nicht verändert werden. Sie aber bedeuten die Aufhebung des Dualismus zwischen der erbsündig-verdammten und der erlösten Welt, des absoluten Gegensatzes des unbekehrten und bekehrten Seelenzustandes, der aske- tischen Stellung zur Welt, wo der Christ nach Gottes W^illen in der ver- lorenen Welt geduldig arbeitete, aber nur selten ein Strahl ihrer Gött- lichkeit in das dem Jenseits zugewendete Herz eindrang. Das ist Welt- bejahung nicht im Sinne des Duldens und Gehorsams, sondern im Sinne einer vollen Anerkennung der durch keinen Sündenfall verringerten Gött- lichkeit der Welt. Fortschrittsidee Damit Verbindet sich die Wirkung des geschichtsphilosophischen

als Zerstörer der ^^ . .

Askese. Optimismus, der jene Zeit vor allem charakterisiert. Er ist bereits nahe gelegt durch die harmonisch - gesetzliche Betrachtung der Welt, die den Weltzweck nur behaupten kann, wenn sie die Welt als Ganzes in ge- setzmäßiger Bewegung auf den Weltzweck hin denkt. Aber er hat überdies in der Zeit noch seine eigenen Wurzeln. Eine Jahrtausende alte Kultur war abgelaufen und hatte zuletzt in furchtbaren Religions- kriegen grauenvoll geendet. Eine neue Welt erhob sich, deren Grund- begriffe und Ideale noch unerprobt und unwiderlegt sind. Alles, was der alten Periode nicht gelang, wird der neuen gelingen. Noch sieht man nur die erlösende und befreiende Kraft der neuen Gedanken, nur den Gegensatz gegen das Alte und die unbegrenzte Zukunft. Auf eigenen freien Kräften der Menschheit, auf ewigen Gesetzen der Vernunft, auf Be- geisterung und Teilnahme jedes Individuums beruht die Zukunftsarbeit. Sie wird leisten, was bloßer Zwang und positive Autorität nicht ver- mochten. Die inneren Springquellen aller Kultur sind frei geworden, sie werden den reinen, neuen Strom hervorbringen. Dazu hat der Mensch der neuen Zeit ein Mittel in der Hand, das unendlicher Entwicklung fähig ist und durch seine eigene innere Rationalität sich unendlich neu erzeugt; er hat die neuen Naturwissenschaften und mit ihrer Methode das Prinzip der Wissenschaften überhaupt, ebenso exakt und sicher als unerschöpf- lich und vorwärtsdringend. Es ist, in Turgots Formulierung, das neue Zeitalter der positiven Wissenschaft nach dem der Phantasie und Zufalls- routine, oder, in Kants Formulierung, das Zeitalter der Mündigkeit, wo jeder selbständig und doch ohne Willkür die Regel des Fortschrittes finden kann. Technik und Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, alles wird auf die neue Basis gestellt und wird auf ihr unbegrenzte Entfaltung finden, alles nur geleitet von der Idee des Gesetzes. Frei durch Vernunft, stark durch Gesetze ist der jetzige Mensch der reifste .Sohn der Zeit. Diese Stim-

D. Der moderne Protestantismus (i8. u. 19. Jahrb.). V. Die Auflösung der prot. Askese. 403

mung hat sich naturgemäß auch dem religiösen Gefühl mitgeteilt, ja ge- rade mit ihm sich zu einer freudigen Gewißheit verschmolzen. Der Nieder- gang des Alt-Protestantismus ist der Fortschritt der neuen Zeit, und die neue Religiosität ist die höhere, reinere, freiere, fester begründet auf innere Notwendigkeit und Einsicht, freudiger und tätiger, menschenfreund- licher und praktisch förderlicher. Die Liebestätigkeit nimmt einen neuen Aufschwung, das leibliche Wohl und die natürliche Empfindung bedenkend. Tugend und Menschenliebe treten erst jetzt nach dem Verstummen des dogmatischen Zankes lebendig hervor. In dieser Stimmung ist aber natür- lich geschichtsphilosophisch der Bruch der Schöpfung durch die Sünde und der Bruch der Sündenwelt durch die Erlösungstat unmöglich. Das religiöse Leben ist eine aufsteigende Entwicklung, durch Sünde getrübt, aber nie ab- gebrochen. Die Erlösung ist die Eröffnung eines höheren, reineren Lebens und Denkens, von Gott aus den Menschen emporhebend, aber keine Umkeh- rung des Weltlaufs; die Zukunft wird nicht das Reich des Antichrist, sondern das Reich des ewigen Friedens und der Menschenliebe und die Unsterblich- keit bringen. Damit fällt der Sinn der Askese weg. Vervollkommnung wird die Losung; Überwindung des Bösen ist nur ein Mittel zu ihr, und die Vervollkommnung besteht in der Entfaltung der ganzen reichen, gott- gegebenen Menschennatur. Der Beruf i.st nicht mehr das Arbeiten und Dulden des einzelnen an dem bestimmten Ort des von Gott ihm gegebenen Gesellschaftssystemes, sondern die individuelle Besonderheit der persön- lichen Geistesanlage, und der Gottesdienst im Beruf wird die Ausbildung der individuellen Gottesidee, die in jedem Individuum verkörpert ist. Das erste große praktische Experiment mit diesen Fortschrittsideen, die franzö- sische Revolution, hat dann freilich viel Wasser in diesen Wein gegossen; ihr Glaube und ihre Bekenntnisformeln sind alt geworden; auf ihnen liegt vielfach der Staub der Phrase oder der Rost der Enttäuschung. Aber für Unzählige sind sie eine Macht geblieben, und auch wo der unbedingte Fortschrittsglaube sich mit steigendem Zweifel und gelegentlichem Pessi- mismus durchsetzt, ist doch der allgemeine Gedanke einer aufsteigenden Menschheitsentwicklung und einer Eingliederung des Natürlich-Sinnlichen in sie, die Ablehnung des Mythos vom Sündenfall und der absoluten Gegensätze in der Bekehrung, geblieben. Eben damit ist auch der Askese im Sinne des Alt-Protestantismus der Boden entzogen.

Daß es aber dazu kam, dazu hat noch ein letztes vor allem gewirkt, Auflösuntr der die moderne Kunst, Das Verhältnis des Alt-Protestantismus zur Kunst Jie moderne ist nicht ganz einfach zu bestimmen. Es ist im allgemeinen zweifellos ein spröderes und schwierigeres als das des Katholizismus. Gehört zur Kunst die reflexionsfreie Naivetät, die sich dem Gestaltungs- und Verkörperungs- drange überläßt, und die sinnliche Sensibilität, die das Sinnliche als Ver- körperung des Schönen unmittelbar empfindet, so hat der Katholizismus viel mehr Naivetät und unbefangene Sinnlichkeit besessen. Gerade seine weltflüchtige Askese besaß die Idee der Askese selbst naiv und ver-

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Ernst Troeltsch: t'rotestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

mochte sie künstlerisch auszusprechen, und seine Freilassung des Sinn- lichen in gewissen Grenzen ließ der künstlerischen Verherrlichung Raum. So hat denn auch der Katholizismus in der Zeit seiner unreflektierten Selbstzuversicht eine großartige und eigentümliche Kunst hervorgebracht, die freilich wesentlich um religiöse Gedanken und um den Kultus sich sammelt und zu der die heidnische Hochrenaissance Italiens nicht ge- hört. Der Protestantismus war hierzu von Hause aus weit weniger befähigt. Seine Religion der persönlichen Überzeugung und des vollen Besitzes des religiösen Gedankens stimmt ihn zur Reflexion, und seine innerweltliche Askese ist einerseits zu reflektiert, um sich von selbst in Poesie umzusetzen, und andrerseits, zu radikal in den Gesamtumfang' des Lebens hineingetragen, um der Sinnlichkeit ein selbständiges Recht zu lassen. Gleichwohl hat auch er den natürlichen Drang zur künstlerischen Verkörperung seiner Idee naturgemäß empfunden und blieb auch er nicht ohne Gefühl für den das Leben veredelnden Schmuck der Künste. Er ist nicht wesentlich bilderstürmerisch; er hat die Bilder nur als Gnadenmittel verboten; im übrigen haben nicht bloß Luther, sondern auch Calvin und Zwingii „edle Künste" geliebt und gebilligt; Cromwell hat die Raflfaelischen Kartons gerettet. Und er hat in der Tat eine große künstlerische Lei- stung hervorgebracht, am wenigsten freilich in den an die Sinnlichkeit vor allem appellierenden Künsten, in Architektur und Plastik; auch in der Malerei, denn die niederländische Malerei darf nicht wesentlich auf seine Rechnung- gesetzt werden, und der einzige Rembrandt stand jedenfalls dem offiziellen Protestantismus fem, hat außerdem charakteristisch genug die Malerei je läng^er je mehr entsinnlicht und in Symbolik des Lichtes verwandelt. Dagegen hat der Protestantismus im Kirchenliede innige Töne gefunden und in Bunyan seine Ideen mit wundervoller Xaivetät in Prosa umgesetzt. Milton hat freilich starke Renaissanceneigungen, die auch in seiner völlig eigenartigen Theologie sich aussprechen, und Spencer und Shakespeare sind zwar unkatholisch, aber jedenfalls von protestantischen Ideen nicht zentral bewegt; hier überwiegt trotz alles sittlichen Ernstes die Weltbejahung der Renaissance, und die protestan- tische Askese hat die Elisabethanische Literatur nie voll anerkannt. Das höchste hat der Protestantismus begreiflicherweise in der unsinnlichsten Kunst, in der Musik, geleistet, wo Bach immer sein gewaltigster künstle- rischer Ausdruck bleiben wird. Aber auch er ist wohl nur auf dem Boden des Luthertums möglich gewesen, der die Askese nicht entfernt so systematisch behandelt hat als der Calvinismus. Also die protestan- tische Askese hat die Kunst nicht unmöglich gemacht, aber sie hat sie gern nur als Schmuck des Lebens oder des Kultus betrachtet oder ihr belehrende und moralisierende Zwecke zugeschrieben. Eines jedenfalls hat sie nicht getan und konnte sie nicht tun, nämlich die Kunst als ein selbständig"es Prinzip des Lebens, als eine Offenbarung der Ethik und Metaphysik betrachten, die gerade in der künstlerischen Verklärung des

I). Der niodcrnr l'rotoslaiilismus (i8. ii. if). Jahrh.). V. Die Auflösunj^ der prol. Askese. 40S

Sinnlichen und der Vorsinnlichuiiüf des Geistigen auf ihre Weise den Sinn der Welt und des Lebens erblicken läßt. Gerade das aber ist das Werk der modernen Kunst.

Der wachsende künstlerische Sinn des Mittelalters hat in der Re- naissance den religiösen Individualismus zu einem ästhetischen gemacht und damit üV)erhaupt die geistige Freiheit des modernen Menschen an- gebahnt; er hat die Rechte der Sinnlichkeit und der Leidenschaft, den Sinn für die Schönheit der Natur und des Leibes befreit und dadurch bei aller Vcreinig^ung himmlischer und irdischer Liebe, bei aller Zartheit und Spiri- tualität der Empfindung die Askese gebrochen. Dabei fand er an der Antike eine Hilfe und an der platonischen Vereinigung von Sinnlichkeit und Übersinnlichkeit im Schönen ein Mittel des Übergangs. Er hat da- mit die Befreiung vorbereitet, die in Philosophie und Naturwissenschaft den neuen Weg selbständiger Arbeit und Entdeckung weiterging. All das ist freilich durch die Erneuerung der kirchlichen Kultur unterdrückt worden, aber mit deren Abschwächung kamen die alten Renaissancestimmungen und vor allem ihre Kunst wieder in die Höhe. Zunächst wirkt auf die prote- stantischen Länder die Renaissancepoesie denn um die Poesie handelt es sich hierbei vor allem, während der bildenden Kunst große populäre Wir- kungen in jener Zeit schwerlich zugeschrieben werden können in der rhetorisch - lateinischen Gestalt, die die Renaissance in der gewaltsamen Verbindung mit dem Restaurationskatholizismus so äußerlich und deko- rativ macht. Aber einmal überhaupt in poetische und literarische Inter- essen hineingezogen, bringen die protestantischen Länder in steigendem Maße eine neue nordische Poesie und Literatur hervor, die zunächst reli- giöse und moralische Interessen noch pflegt, aber schon ein selbständiges Interesse am Spiel und Reichtum der Phantasie und am sinnlichen Wohl- laut der Form, an der Kraft und Stärke der elementaren Leidenschaften verrät. Ästhetisch -künstlerische und weltmännische Bildung, Reisen in die Musterländer der Renaissancebildung, wie sie Miltons Erziehungs- programm vorschreibt, erziehen den vornehmen Mann. Moralische Wochen- schriften verbinden mit religiösen und moralischen Ideen das Programm ästhetischer und gesellschaftlicher Erziehung. Der psychologisierende Roman tut eine Welt von Leidenschaften und Erlebnissen auf, die das Interesse an die Stärke des naturwüchsigen Gefühls heften. Die Empfind- samkeit in Lyrik und Erzählung verbindet die transzendente Überschweng- lichkeit der abgelaufenen religiösen Epoche mit natürlich-sinnlichen Gegen- ständen und Geschehnissen. Von England geht die neue Literatur über nach Deutschland und wird in der Seele Lessings zu dem Ideal der das volle Menschentum kraftvoll und harmonisch auslebenden Persönlichkeit. Lessings Kämpfe gegen die Theologen sind im Grunde der Kampf der künstlerischen Lebensauffassung gegen die mit ihren Dogmen eng ver- bundene protestantische Askese. Winckelmann führt die antike Plastik im Sinne des platonischen Symposions als Offenbarung des einheitlichen

Ao6 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

Weltprinzips vor, in dem stille Einfalt und Größe mit unbefangener Sinn- lichkeit sich verbinden. Rousseau, der Bürger von Genf und Umbildner des calvinistischen Staatsvertrages zur Gleichheitslehre, wirbt aus Christen Menschen nicht bloß im Sinne der Niederwerfung des dogmatischen Dualis- mus zwischen Christen und NichtChristen, sondern vor allem im Sinne der vollen Empfindung eines unverbildeten Gemüts für Leidenschaft, Gefühl und Naturverwandtschaft. Herder entdeckt Shakespeare, Homer und die Volks- poesie, verkündet die unreflektierte Leidenschaft und Stimmung mit dem Drang der Verkörperung in anschaulichem Bilde als die Quellen humaner Bildung. Den Höhepunkt bildet die wandlungsreiche und doch so einheit- liche Kunst Goethes, zu der Schiller mit stärkerer Betonung des Willens und des Moralischen emporstrebt, beide geradezu in ihrer Kunst Lehrer der Weltweisheit und Moral, die in der Gottheit die Natur und im Guten die schöne Einheit der Gesamtpersönlichkeit verkünden. Nichts ist hier cha- rakteristischer als das mit Rosen umwundene Kreuz in Goethes Geheim- nissen, verglichen mit Luthers Petschaft, Wie anders als Luthers ist Goethes Erklärung: „Es schwillt der Kranz, um recht von allen Seiten Das schroffe Holz mit Weichheit zu bekleiden!" Und wenn schließlich die Romantik in diese Kunst die religiöse Mystik und Überweltlichkeit wieder hereinzog, so hat sie doch gerade den Protestantismus abgelehnt wegen seiner Unsinnlichkeit und Abstraktheit und das Mittelalter verherr- licht, dessen Überweltlichkeit und Askese den Weg zur Vereinigung mit der sinnlich -poetischen Schönheit gekannt hat. Was seither dann weiter erfolgt ist, der Einbruch des positivistisch begründeten Realismus in die hellenisierende, neuhumanistische Literatur und die dem entgegengesetzte Reaktion einer um so zerflosseneren Neuromantik, das hat wohl indirekt asketischen Stimmungen zugute kommen können, hat aber direkt sie jeden- falls nur noch weiter aufgelöst. Erst allmählich kommt mit Kierkegaard und Tolstoi der Gegensatz gegen die ästhetisch -pantheistische Weltselig- keit wieder zum Worte, zeigen Schopenhauerscher und Wagnerscher Pessimismus das Weltbild von der anderen Seite.

Alles das aber ist eine Tatsache von höchster Bedeutung. Der heutige Mensch empfängt seine moralische Welt- und Menschenkenntnis nicht mehr wesentlich aus der Bibel und etwa auch aus Plutarch und Seneca, sondern aus einer großartigen, die Phantasie überwältigenden Literatur, und hier herrscht überall eine den alten biblischen und stoischen Vor- bildern entgegengesetzte Behandlung des Sinnlich -Natürlichen. Hier ist die Poesie nicht mehr bloß ein Schmuck des Lebens oder ein aus der gratia universalis ableitbarer Rest der natürlich -vernünftigen Anlage, der auch in der erbsündigen Welt bleibt und zur Ehre Gottes gebraucht werden mag, sondern ein selbständiges Zentrum des Lebens, in dem die Einheit und Göttlichkeit der Welt zur Empfindung kommt und die Moral ihre Vollendung zur Harmonie empfängt. Das sind Stimmungen, die bis tief in das Innerste der religiösen Empfindung selbst hineingedrungen

Ü. Der nioil. Prot. (^i8.u. 19. Jahrh.). VI. Askcl.-intlcpcnd. Rcaklioncn u. mod. relig. Bewegungen. to7

sind und sie oft genug in einen ästheti.schen Pantheismus vcrwancU'lt haben. Aber wo auch dieser Erfolg nicht eintrat oder sich nicht be- hauptete, wo die natürliche Tendenz aller Religion auf das Ewige und Übersinnliche sich wieder geltend machte, wo die reine Innerweltlich- keit in Pessimismus umschlug oder die Opposition des sittlichen Ge- staltungswillens weckte, da ist doch das eigentümliche Wesen der alt- protestantischen Askese, ihre leidende und duldende oder ihre rationell arbeitsame ßerufssittlichkeit mit dem Blick auf das Jenseits als das eigent- liche Ziel nicht wiederhergestellt worden, eben.sowenig ihre Voraussetzung, die Lehren vom Fall und der Wiederherstellung, von der Erb.sünde und dem absoluten Wunder der Bekehrung; diese Lehren sind praktisch wirksam nur in pietistischen Kreisen und theoretisch in theologischen Büchern, die aus dem inneren Wunder der Bekehrung die alte Theologie wieder heraus zu theoretisieren unternehmen. Mächte des allgemeinen Gefühlslebens sind sie nicht mehr; denn, auch wo sie angeblich herrschen, fehlt ihnen die notwendige praktische Folge, die Askese. Sie können nicht wiederhergestellt werden, solange die modernen Völker ihre Kunst und Literatur nicht wieder vergessen haben, und, wenn sie mit ihrer tiefen, inneren Notwendigkeit sich wieder geltend machen, so wird das in ganz anderen Formen geschehen, als die des Alt-Protestantismus ge- wesen sind.

VI. Asketisch-independente Reaktionen und moderne Allgemeine

■• -r. r^ n 1 historische

religiöse Bewegungen. Gegenüber diesen außerordentlichen Ver- Stellung des

Pietismus.

änderungen verhielt sich die mächtige Ideenwelt des Alt-Protestantis- mus, die durch eine seelsorgerliche Arbeit ohnegleichen, durch eine kolossale populäre Literatur und durch Kämpfe und Leiden tief in die Seelen der Völker geprägt worden ist, keineswegs nur duldend. Sie ant- wortete mit starken Reaktionen, und zwar sind es im wesentlichen Re- aktionen der Askese gegen die Verweltlichung. Da aber diese Reaktionen gerade in einer derartig verweltlichten Kultur nicht das alte Staatskirchen- tum herstellen konnten, vielmehr im modernen Staate und in der mit ihm unlösbar verbundenen offiziellen Kirche gerade einen Hauptträger der Verweltlichung zu fürchten hatten, so konnten diese Reaktionen nur erfolgen durch Betonung der persönlichen christlichen Überzeugung und Erfahrung und durch Schaffung von hierauf aufgebauten Konventikeln, die innerhalb oder neben dem Staatskirchentum die jetzt allein noch mög- liche Art rein geistlicher Gemeinschaft darstellen. Xeben der Behaup- tung der Askese charakterisiert sie ein starker religiöser Individualismus, und biild tritt mehr das eine und bald mehr das andere hervor. Und wenn sie einerseits den Zusammenhang mit dem Alt-Protestantismus be- tonen, so wissen sie andererseits sehr wohl, daß sie mit der Aufgabe des Staatskirchentums und seiner Kultureinheit neue Wege gehen ; sie recht- fertigen sie aber mit der Hervorhebung der individualistischen Ideen, die

Ao8 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

in den Reformatoren enthalten waren; es wird eine stehende Rede, daß das Staatskirchentum ein Rückfall der Epigonen in den Papismus gewesen sei. Man holt die täuferische und mystische Literatur wieder hervor und be- kennt sich zu ihrer Persönlichkeits- und Erfahrungsreligion. Darum führen sie auch den Sammelnamen Pietismus. So sind diese Bewegungen einer- seits Reaktionen, andererseits Fortschritte in der Individualisierung der Religion. In der Herausbildung des religiösen Individualismus ist er ver- wandt mit dem englischen Independentismus, in der polemischen Stellung gegen die Welt bekundet er sich als Kind einer späteren Epoche, in der bereits die Auflösung des alten Systems stärker oder schwächer ein- gesetzt hatte.

Beruht der Independentismus auf dem Heroismus des gegen den Zwang sich auflehnenden religiösen Gewissens, so beruht der Pietismus auf der Gegenwirkung gegen die dogmatische Verholzung der Landes- kirchen und auf dem Gegensatze gegen die moderne Welt. Der Indepen- dentismus lebt noch im ungebrochenen Gedanken der Herstellung der christlichen Gesellschaft und kämpft für sie mit dem Einsatz des Menschen und des Lebens, der Pietismus glaubt nicht mehr an die Christianisierung der Welt, sondern zieht sich von ihr auf Sondergemeinschaften zurück und kämpft mit der Heiligkeit der Lebensführung, mit der Feder und der Exal- tation des Gefühls. Der erste ist ein aggressives Heldentum der Tat, der zweite kennt nur rigoristische Härte oder schwärmerische Sentimen- talität; der erste wirkt auf dem Schlachtfeld und im Parlament, der zweite in der Stube, im Konventikel und in den fürstlichen Kabinetten. Aber wenn auch der kontinentale Pietismus weniger gewaltig und großartig ist, er ist doch eine Erscheinung von der höchsten Bedeutung, und in Wesen und Wirken dem Independentismus verwandt. Das Ganze ist ein neuer Akt in der Geschichte des Christentums, eine Herausarbeitung von Konse- quenzen des reformatorischen Gedankens, an die dieser nicht gedacht hatte, eine Wiederaufnahme des Werkes, das die Täufer und Spiritualen unter- nommen hatten. Es ist die Subjektivierung und Entkirchlichung der Re- ligion, und so ist der Pietismus neben dem Eindringen des modernen politisch-sozialen und wissenschaftlichen Geistes die zweite große Grund- tatsache des modernen Protestantismus.

Den Anlaß zu seiner Ausbildung gaben die Verhältnisse selbst, der Zusammenbruch der mittelalterlichen Idee in der Erstarrung der Konfes- sionen und in der Emanzipation von Staat und Gesellschaft. Der Pietis- mus ist die neue Stellung, die die Religion in diesem Zusammenbruch einnimmt, mich der einen Seite die Belebung des religiösen Gefühls und der Phantasie, nach der anderen die Verselbständigung der kirchhch- religiösen Gemeinschaft gegenüber der bisherig'en Mischung von Staat und Kirche und schließlich die Durchführung der strengen christlich- ethischen Maßstäbe in dem so verengten, aber auch lebendiger und eif- riger gewordenen Kreise. Dadurch wird die Askese freilich oft strenger

D. Drr niod. Prot. ( r 8. u. I <). |:ilirli.i. VI. Askcl.-iiulepcnt. Reaktionen ii. niod. reli;,'. J?ewe}jiin{jen. 40(1

und ausschließlicher, als sie bei den Reformatoren g^ewestm war; sie glaubt nicht mehr an die Verchristlichung' der Gesellschaft und zieht sich von ihr zurück; aber sie bleibt innerweltliche Askese und rechtfertigt ihren Verzicht auf die Welt nicht als prinzipiell notwendigen, sondern als durch die Lage geforderten; sie glaubt in den Endzeiten des großen Abfalls vor der Wiederkunft Christi zu leben. Den Anstoß zu diesen Bildungen gab der in dem reformierten Kirchentum enthaltene Trieb zur Bildung heiliger und reiner Gemeinden, die bei der reformierten Verfassung und Laienbeteili- gung alsobald auf den Fuß der Korporation gesetzt werden kcmnen, wenn der Staat und die Gesellschaft versagt. Von hier verpflanzte sich die Be- wegung in das Luthertum. Ein zweites in dieser Emanzipation der reli- giösen Selbständigkeit benutztes Moment ist die religiöse Mystik. Sowie der religiöse Gedanke individualisiert und auf rein persönliche Erfahrung gestellt wird, bieten sich auch hier wie seinerzeit bei den Täufern und in den Anfangen Luthers die Mittel der neuplatonisch-mystischen Religions- psychologie dar, die in der christlichen Umbildung den pantheistischen Hintergrund ja genügend abgestreift hatte und nur mehr eine Anleitung zur Analyse und Beschreibung des religiösen Aufstieges und der in ihm sich herstellenden Einheit mit Gott ist. Wenn dabei diese Einigung in Aus- drücken der schließlich sich ergebenden Substanzeinheit geschildert wird und als Mittel vor allem die Vereinigung mit dem verklärten Christus be- handelt wird, so ist damit freilich oft eine Zurückstellung des Willens- charakters Gottes verbunden, wie ihn die reformatorische Erlösungslehre verstanden hatte. Allein Willenseinigung und Substanzeinigung sind über- haupt nicht so leicht auseinander zu halten, und den Übergang hatte Luther selbst und das Luthertum oft genug vollzogen, während er freilich für die Reformierten etwas Neues ist. Es ist nur natürlich, daß in der weit- geheiiden Gemeinsamkeit der Literatur der drei Konfessionen die ältere, diese Mittel darbietende, asketische Literatur benützt wurde. Das sich wieder belebende religiöse Gefühl und die Phantasie fanden in der ver- standesmäßigen Schultheologie keinen Stoff. So wird augustinische, bern- hardinische, täuferische und spiritualistische Literatur für diese Zwecke reichlich benutzt. Das stellt aber keinen Rückfall in katholische Ideen dar, sondern ganz im Gegenteil die Benützung dieser Mittel zur Erreichung der vollen Verselbständigung der persönlichen religiösen Erfahrung und Überzeugung. Bildet der Deismus die Moralpsychologie zur Grundlage einer individualistischen Rcligionspsychologie aus, so werden hier die alten mystischen und ncuplatonischen Mittel zu dem gleichen Zwecke verwendet, zur Herausstellung der Autonomie der persönlichen religiösen und sittlichen Überzeugung. So verschieden daher in beiden Fällen der Inhalt der Religion ist, so wirken doch beide begreiflicherweise in der- selben Richtung, in der Richtung auf Individualisienmg und Entkirchlichung, UTid es ist kein Wunder, weim sie schließlich mehrfach ineinander über- gehen und sich gegenseitig- befruchten. Die beiden Strömungen kreuzen.

4IO Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

mischen und entmischen sich seitdem fortwährend im modernen Protestan- tismus, und der Pietismus ist um deswillen oft als ein Stück der Auf- klärung g-elobt oder gescholten worden. Aber in Wahrheit ist er eine durchaus selbständige Erscheinung und mit jener nur durch die Gemein- samkeit des Individualismus verbunden, der aber in beiden Fällen ver- schiedenen Sinn und Grund hat. Französische Es ist im ganzcu eine interkonfessionelle Bewegung. In Frankreich

Analogie des . ut -i x^' /-^

Pietismus, reagirt die Mystik Fenelons, der Guyon, der Bourignon und des Janse- mismus gegen das starre Kirchentum; Pascal entwirft seine tiefsinnige und fein zergliedernde Religionspsychologie als Grundlage der Apologetik. Aber w^eitergehende Ergebnisse waren hier ausgeschlossen, Xur auf pro- testantischem Boden ergab sich eine wirkliche Neubildung. Reformierter Der Pictismus setzt in Holland, dem am wenigsten streng calvinistisch

durchregierten der calvinistischen Länder, ein als Präzisismus. Es ist die holländische Parallele zum englischen Puritanismus, der im Gegensatz gegen eine fremdgläubige Staatsgewalt seine Strenge und seinen Individualismus entwickelt hat. Sein Führer ist Gisbert Voet (f 1676), das berühmte und gelehrte Haupt der nach-dordrechtischen Orthodoxie. Er kämpft gegen das weltliche Leben, gegen Tanz, Theater, Luxus, Patronatsrecht und für die Reinheit des Abendmahlsgemeinschaft, an der Unheilige nicht teil- nehmen dürfen. Als Mittel hierfür scheint ihm bei der Laxheit der Staats- gewalt das innerkirchliche Konventikel, die ecclesiola in ecclesia, sich dar- zubieten, halböffentliche, nach Geschlechtern getrennte Zusammenkünfte und erweiterte Hausandachten der strengen Christen, wo für gegenseitige Kontrolle und Belehrung gesorgt werden kann, und von wo aus auch Ein- wirkung auf die Reinheit der Abendmahlsgemeinschaft oder im schlimm- sten Fall Enthaltung vom kirchlichen Abendmahl organisiert werden kann; in diesen Konventikeln können auch Laien, sogar auch Frauen, den Vor- sitz führen. Diesem Konventikelgedanken gab dann einen weiteren Impuls Coccejus (f 1669), der zweite führende Theologe der Niederlande von anti- scholastischer und biblizistischer Richtung, der an die Stelle der Kirche den Begriff des Reiches Gottes setzte, d. h. der allgemeinen christlichen Gemeinschaft, die unabhängig von den besonderen kirchlichen Verfassungen alle Gesinnungschristen vereinigt und die ihr Wesen in den Früchten praktischer christlicher Gesinnung hat; freilich ist die Christenheit von diesem Ideal weit entfernt, und so belebt Coccejus mit dem biblischen Reich-Gottes-Gedanken zugleich die biblische Eschatologie, die Erwartung eines großen göttlichen Wundereingrififes, der das Reich Gottes in der ver- derbten und laxen Welt herstellen werde. Selbst am Konventikelwesen unbeteiligt, hat er damit doch den Konventikeln die Ideen gegeben, ver- möge deren sie sich als Organe und Darstellungen des reinen Gottes- reiches und als Vorbereiter der großen Weltwende ansehen konnten. Den entscheidenden Charakterzug aber gab diesen Konventikeln die Wieder- aufnahme spiritualistischer und mystischer Gedanken, die Phantasiebelebung

D. Der niod. l'rol. (i.S.u. K). Jahrh.). VI. Asket. -indopcncl. Rcnkliuiicn u. mod. icli},'. Bewegungen. ^ i i

durch den Vorkehr und die Einigung- mit Christus, wie sie nach dem Vor- gang von W. Teellinck und Francis Rous der Schüler von Voet und Cocce- jus, Jodocus von Lodensteyn, vornahm; er verlangt eine Reform Zion.s, die sich auf wahre Heiligmachung und Selbstverleugnung richtet, und schildert diese Selbstverleugnung mit den Farben der my.stischen Gotteinigkeit, Gelassenheit, Entwerdung als Höhepunkt der Rechtfertigung, ohne damit die .strenge Sittlichkeit im Kreis der wiedergeborenen Gemeinschaft zu beeinträchtigen. Zur vollen Konsequenz aller dieser Gedanken, zur Sepa- ration, kam es aber erst durch Jean de Labadie (f 1674), einen früheren französischen Priester, der, zum Calvinismus übertretend, das kirchliche Ge- fühl desselben sich nicht voll aneignete und, von katholischen Ordensideen erfüllt, schließlich eine separierte Gemeinde von wechselreichen Wander- schicksalen schuf. Die Landeskirche aber verw^arf diese Separation und blieb beim Konventikelwesen, das nach und nach alle in solchen exal- tierten Kreisen üblichen Erscheinungen hervorbrachte. Erst im Jahre 1839 kam es zur Konstitution einer separierten, pietistischen holländischen Kirche. Lange zuvor aber hatte dieser Pietismus seine Wirkungen auf die deutschen reformierten Gebiete, auf Xordwestdeutschland, das Wupper- tal, Westfalen, die Schweiz ausgeübt. Auch hier entstanden schließlich mehrfach separierte Kirchen.

Vom Boden des Calvinismus übertrug sich die Bewegung auf den des Lutherischer

° ö ö ^ Pietismus.

Luthertums, das bei dem Doktrinarismus seiner Theologie und der terri- torialistischen Verweltlichung des Staatskirchentums ja noch dringenderen Anlaß hierzu hatte als die reformierte Welt. Hier ist sein Vater und Patriarch Philipp Jakob Spener (f 1705) geworden, der trotz seines streng betonten Luthertums die reformierte Lebensstrenge und die Beteiligung des Status oeconomicus an der Kirche bewunderte und in weltlich -politischen Dingen ein Verehrer des Hugo Grotius war. Sein Lebensweg führte ihn durch das reichsstädtische und gräfliche Deutschland, dann an den säch- sischen und schließlich den brandenburgischen Hof und hat ihm in all diesen hervorragenden Stellungen tiefe Einwirkungen vergönnt, freilich auch, zu- mal in Sachsen, ihn heftigen Widerstand finden lassen, Einwirkung und Widerstand beruhen auf Speners Einrichtung des Konventikelwesens auch in der lutherischen Kirche. Er empfand die Lage der Kirche als eine kritische, fühlte das Bevorstehen einer großen Reform und hoffte auf die Ankunft des Gottesreiches, das durch ein göttliches Wunder die neue Kirche schaffen werde. Das Mittel zur Anbahnung dieser Reform sollten die Kon- ventikel mit ihrer Beteiligung der Laien, der Strenge der gegenseitigen Kontrolle und der Kraft gegenseitiger Belebung des religiösen Gefühls sein. Theologisch behauptete er .stets seine lutherische Orthodoxie; er forderte nur die Begfriindung aller Theologie auf wirkliche Erfahrung des wieder- geborenen Christen, auf die Lebendigkeit des Geistes statt auf den bloßen Buchstaben, die Wiederbelebung der eschatologischen Gedanken, die ihm die Voraussetzung seiner Reformidee waren, und die ernstliche praktische

A12 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

Bewährung-, die Unterscheidung der Wiedergeborenen und Xi cht -Wieder- geborenen in der praktischen Lebensführung, die Ergänzung der lutherischen Gnadenethik durch eine der reformierten ähnliche asketische Bewährungs- ethik. Er rühmte die Taufe und forderte das kirchliche Abendmahl, hat aber die Bekehrung nach Verlust der Taufgnade für das eigentliche Heilserlebnis angesehen und die Opposition seiner Anhänger geg-en den kirchlichen Sakramentsgebrauch Unbekehrter nur allzuwohl verstanden und lediglich zu mildem versucht. So ist es gekommen, daß er in den Konventikeln ein Ventil öffnete, durch das nun allerhand lebhafte, strenge und indivi- dualistische Geister, auch allerhand Bizarrerieen und Exzentrizitäten aus- strömten. Er hat hier überall zu mildern, aber auch zu tolerieren und die günstigste Seite abzugewinnen gesucht: auch Visionen und Wunder hielt er wenigstens für möglich. Dadurch aber hatte er eine Saat ausgestreut, die ihm weit über den Kopf wuchs und das ganze protestantische Deutsch- land, vor allem die Kirchen des kleinen reichsfreien Adels, mit kleinen Kreisen eines mehr oder minder heftigen Enthusiasmus durchsetzte. Gegen- über diesem irrlichtelierenden Treiben nahm dann der zweite Führer des Pie- tismus August Hermann Francke (-j- 1727) Speners Werk in die Hand, der Prophet des Bußkampfes und der großartige Organisator, der selbst in seinem ganzen Werk gegenüber Spener bereits eine stark erhöhte Temperatur des religiösen Gefühls und der Phantasie zeigt. Für ihn wird die Grundlage aller Religion und Theologie die von jedem zu erfahrende Erneuerung der persönlichen Erlebnisse Luthers, von einer modern leidenschaftlichen und individualistischen Stimmung gefärbt, das stürmische Erlebnis des Durch- bruches der Bekehrung und der Gnadengewißheit nach tiefer Qual des Zweifels, der Sündenangst und Gottesferne. Von hier aus hat er weniger auf Konventikelbildung als auf Umgestaltung des gesamten Theologen- standes durch diese Bekehrungslehre gedrängt, jedoch selbst in der Schaffung des Hallenser Waisenhauses und seines Freundeskreises den großartigsten und umfassendsten Konventikel bekehrter Laien und Theo- logen geschaffen. Dadurch organisierte er den ganzen Pietismus um ein Zentrum und brachte durch Presse und Schulwesen des Waisenhauses, das moderne praktisch-realistische Bildung vorzog, auch den Lehrerstand und die Schule unter seinen Einfluß. Ebendadurch erstickte er dann freilich den Pietismus als populäre Bewegung, er einigte und schabionisierte ihn und machte ihn zu einer Sache der Theologen und Schulmänner. RadikaierPietis- Der populärc Pictismus liegt vor in zahllosen Liedern, Erbauungs-

raus und ITber- ^ ^ ^ ^

ganginmo.iernc büchcni Und SelbstbiogTaphicen, in der alles ausschnüifelnden Streitliteratur

religiüsc

Bewegungen, uud Skandalchronik der Zeit. Hier sind die Grenzen des konservativen und radikalen Pietismus viel mehr verwischt als in den Erklärungen der Führer. Denn hier spricht Gefühl, Grübelei, Leidenschaft, Erkenntnistrieb, Weisheitsdünkel, sittliche Strenge und selige Ergebung, Phantasie und Stimmung sich unbefangen aus, und Kern und Tragweite der Bewegung wird hier am deutlichsten erkennbar. Aus dieser zum Teil rohen und

D. Der mod. Prot. (l8.ii. 19. Jahrb.). VI. AskcL-indcpenil. Reaktionen u. mocl. relijj. Ikwc;,'un;,'in. a i i

hysterischen Massenbeweci'unt»- racfen einige als besonders bedeutend und charakteristisch hervor. Sie empfangen sämtlich ihre Anregungen von dem Spencrschen oder Halle.schen Kreise, gehorchen aber, das kirchliche Interesse mehr zurücksetzend, zugleich in stärkerem Maße den radikalen und phantasiereichen Ideen der Mystik und geraten in zunehmenden be- wußten Gegensatz zu den Führern des konservativen und theologischen Pietismus. Sie leben als wandernde Abenteurer, als Einsiedler, als Schützlinge der freien Grafenhöfe. An erster Stelle steht der Führer der Frankfurter Separation, der Rechtskonsulent Johann Jakob Schütz, ein langjähriger vertrauter Freund Speners, der aus Speners Anleitung die Konsequenz eines völligen und prinzipiellen Widerspruchs zwischen sub- jektiv-persönlicher Frömmigkeit und kirchlicher Institution zog. Ein anderer Typus ist in dem Ehepaar Petersen ausgebildet, in dem der Glaube an göttliche Erleuchtung und Visionen, die eschatologische Erklärung des gegenwärtigen Verfalls der Kirche und die Hoffnung auf die Nähe des Endes und Sieges eine ansteckende Wirkung gewinnt. Weit bedeuten- der ist Gottfried Arnold, an Reinheit des Charakters den Führern eben- bürtig, an Geist und Phantasie sie weit übertreffend. Er vertiefte sich in die christliche Urzeit, die er nicht wie die herrschende Kirche für ein fernes unerreichbares Ideal, sondern für das immer geltende Vorbild der Christenheit hielt. Diese Urzeit ist ihm das Christentum der lebendigen Inspiration, der feurigen Liebe und strengen Weltentsagung, und von hier aus entdeckt er den prinzipiellen Gegensatz zwischen Religion und Kirche, wendet er seine Sympathie allen lebendig religiösen Bewegungen zu und findet er das Wesen der Frömmigkeit in dem unmittelbaren Erlebnis, in der Gegenwart Gottes in Christo, der alles gewirkt hat, was irgendwo, auch bei Heiden, Türken und Juden von lebendiger Frömmigkeit vorhanden ist, wenn er auch der Christenheit allein sich voll offenbart hat. Er bringt die Schwärmer, Enthusiasten, Radikalen und Originale zu Ehren und malt die Religion als die Empfindung der Gegen- wart des Göttlichen, die nur von dem Babel der Staats- und Amtskirche dem Gläubigen entzogen wird. Für seine Person hat er freilich die Staats- kirche als der unreifen Zeit entsprechend und politisch zu Recht bestehend anerkaimt und sich nur das Recht der Sondermeinung erweckter Kreise vorbehalten. Die Verinnerlichung der Religion hat hier nicht bloß die Grenzen der Konfessionen, sondern die des theologischen Supranaturalis- mus überhaupt durchbrochen; indem sie nur auf innerer Gewißheit und nicht auf Sakramenten und objektiven Autoritäten beruht, erkennt sich alle Religion als wahlverwandt; des modernen Entwicklungsbegriffs eni- behrend hat Arnold für diese Begriffe, wie seinerzeit die Grnosis, den Logos oder den überall in der Menschheit gegenwärtigen Christus ver- wendet, so auch den vielgeschmähten Gnostizismus in seinem Recht er- kennend und seine Spekulationen benutzend. In der großen Gärung kommt alles Neue und Alte zutage, was dem Supranaturalismus der Amts-

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kirchen entgegen ist, und aus dem eigensten Herd des religiösen Gefühls selbst heraus erhebt sich hier die gleiche Opposition gegen die Ein- engung der Religion auf das Christentum, die der Deismus rationalistisch und von der Wissenschaft her begründete. Noch weiter geht in dieser Richtung Arnolds Schüler Dippel, der den Pietismus von Hause aus pole- misch auffaßte und mit allen Mitteln einer geistreichen und witzigen Sprache gegen das protestantische, vom römischen sich wenig unter- scheidende Papsttum und vor allem auch gegen die Halbheit, Inkonse- quenz und Heuchelei seiner pietistischen Genossen kämpfte. Die christ- liche Urzeit und die gegenwärtige Enveckung hielt er der gesamten mittelalterlichen Idee einer kirchlich-staatlichen Kultur entgegen. Die Religion ist Sache Gottes und der gläubigen Seele; überall, wo Gott sie persönlich ergreift, da ist der ewige allgegenwärtige Christus. Von da aus kritisiert er auch einschneidend die kirchlichen Dogmen, vor allem das Satisfaktionsdogma, das dem sittlichen Gefühl widerspricht und die gegenwärtige Wirkung Christi in den Schatten stellt. Kleinere Geister dieser Art blieben nicht aus; sie trieben mitunter einen seltsamen Spuk in den kleinen frommen Ländern, deren Herren teils aus Mangel an ande- ren Interessen, teils aus Populationsgründen die Pietisten an sich zogen. Den Übergang in die Regionen des klaren Gedankens vollzog dagegen Johann Christian Edelmann, der nach abenteuernden quäkerhaften Fahrten als stiller Schüler Spinozas und der Deisten endigte, ein bedeutsamer Hin- weis auf den Weg, den nachmals viele gingen.

Herrnhuter. Eine Separatistische Kirchenbildung hat sich innerhalb Deutschlands

nur in der Herrnhutergemeinde vollzogen, deren lutherischer Geist sich in der Abwesenheit der sonst üblichen pietistischen Gesetzlichkeit zeigt und die im übrigen die Entwicklung solcher kleiner christlicher Sozialgebilde ähnlich wie die Mennoniten erlebt hat. In ihren, schließlich erfolgreichen, Kämpfen um Zulassung hat sie von Anfang an Amerika als Zuflucht in Aussicht genommen; in der Tat haben Zinzendorf (-|- 1760) und Nitschmann dort eine blühende Herrnhuterkirche gestiftet. Ohne separatistische Kirchengründung ist der Pietismus dauernd auf den Boden der Bevölkerung nur in Württemberg gedrungen, wo das Konventikel- wesen neben und in der Landeskirche sich lebendig behauptete und die gefühlswarmen und doch praktisch - nüchternen Schwabenväter, Bengel und Ötinger, auf Generationen hinaus dem Pietismus den lutherischen Charakter der Geduld, der weltlichen Berufstreue und des in die Lage sich fügenden Vorsehungsglaubens zu erhalten wußten, zugleich aber auch die Rechte des Volkes gegen fürstlichen Absolutismus vertraten.

Spirituaiisten. Neben dcn eigentlichen Pietisten sind aber auch die verschiedenen

Spiritualisten nicht zu übersehen, die teils von den täuferischen und Schwenkfeldschen Kreisen, teils von der fortwirkenden Naturphilosophie der Renaissance, von Paracelsus und verwandten Geistern, ausgingen. Bisher von den Kirchen unterdrückt, empfangen sie durch den Pietismus

1). Der mod. Prot. (l8.u. 19. Jahrh.). VI. Asket. -indeprnd. Reaktionen u. mod. relig. Bewegungen, a i c

Bewegungsfreiheit und Anschluß und, von seinen dogmatischen Grund- lagen verschieden, entwickeln sie den Subjektivismus neuer religiöser Bewegungen. Im radikalen Pietismus tritt oft genug eine völlige Ver- mischung mit ihnen ein, und diese Vermischung ist für die Befestigung des religiösen Individualismus nicht ohne Bedeutung. Hier ist in erster Linie Jakob Böhmes (-{- 1624) zu gedenken und der Gruppen, die von ihm aus- gehend einen neuen Gno.stizismus pflegen, der Gichtelianer, der von Jane Leade gestifteten philadelphischen Gesellschaft mit Pordage und Poiret, Giftheils, Brecklings und verwandter Geister, die meist in Holland eine Zuflucht fanden; sodann der Swcdenborgianer, die der Lehre ihres Mei.sters (f 1772) eine neue Offenbarung verdankten, die Religion im Verkehr mit den Geistern der Verstorbenen bestehen ließen und dadurch das Jenseits aufschlössen als die Vollendung und Vergeistigung der aus der Natur sich befreienden Wesen; Jesus ist das Haupt der aus dem Jenseits wirken- den Geister und die Bibel, geistig* gedeutet, die Botschaft von dieser Erlösung; auch für diese Kirche wurde erst Amerika der Boden freier Entfaltung, Hierher gehört auch aus den Kreisen der mährischen Brüder deren letzter Bischof Arnos Comenius (-j- 1670), der hervorragendste unter den Reformatoren der ganz scholastischen oder äußerlichen Pädagogik; ihn zeichnet eine tiefe Innerlichkeit des religiösen Lebens und eine die konfessionellen Schranken überwindende, das Christentum an der prak- tischen Ethik messende Weitherzigkeit aus; in dem Elend seines Wander- lebens haben ihn die apokalyptischen Weissagungen mystischer Schwärmer getröstet, die er als Lux in tenebris veröffentlichte; seine Reform der Er- ziehung sollte einen auf vollkommener menschlicher, sittlicher und religiöser Bildung beruhenden Zustand der Gemeinwohlfahrt herbeiführen helfen. Durch die Spiritualisten ist dann auch die paracelsische Literatur neu be- lebt worden; ihr wendet sich das Interesse an der Bildung einer enthu- siastisch religiösen Weltanschauung und ihrer Verknüpfung mit Physik und Seelenlehre zu; hier beherrscht vor allem Robert Fludd (-]- 1637) das Interesse, ein englischer Arzt und Chemiker, der paracelsische und kab- balistische Lehren zu einer in religiöser Mystik gipfelnden Naturphilosophie vereinigte, und die beiden van Helmont, Vater und Sohn, gleichfalls Arzte und Chemiker von verwandter Richtung. Schließlich ist hier das gesamte Rosenkreuzer-Wesen zu erwähnen. In modernen Zeiten wird diese Linie fortgesetzt durch Spiritismus und Okkultismus, Kräfte, die, nach der nie versiegenden und immer neu aufgelegten Literatur zu urteilen, auf breite Schichten der modernen Welt einen größeren Einfluß ausüben, als die aufgeklärte Bildungswelt anzunehmen geneigt ist.

Auf dem Kontinent ging der Pietismus, soweit er nicht in eine Neu- belebung der Orthodoxie auslief, größtenteils allmählich über in die Auf- klärung; sobald der Enthusiasmus und die Mystik ermatteten, lag der Über- gang in praktischen Moralismus ja nahe genug, obwohl es immerhin ein Übergang in eine prinzipiell verschiedene Denkweise ist. Damit zugleich

Al() Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

verlieh er der Aufklärung sein gefühlsmäßiges Wesen, seine Sentimentali- tät und seine Gewöhnung an psychologische Analyse, die ebenfalls wenig Mühe hatte, in den Psychologismus der Aufklärung überzugehen, sobald die Religion nicht mehr vor allem als seelisches Wunder betrachtet wurde. Es blieben nur die Hermhutergemeinde, einige Kreise von Erweckten und der schwäbische Pietismus als die Reste, die bald nach der französischen Revolution und den Befreiungskriegen zu neuen Trieben ausschlagen sollten, Methodismus Dagegen erhob sich nun eine neue, ganz England und Amerika

und verwandte .

Neubildungen. Überflutende und den Kontinent bis heute unablässig" bespulende Welle des Pietismus in dem englischen Methodismus. Hier handelt es sich um die Belebung der Religion aus dem Element des Bußkampfes und der persönlichen Gnadenversicherung, um eine praktische Methodik, diese Erschütterungen in großen Meetings herbeizuführen und die Bekehrten zu einer calvinistisch strengen Lebensführung zu organisieren. Hallische und Herrnhutische Anregungen verbinden sich hier mit der Strenge und Planmäßigkeit des Calvinismus. Von den Führern, die eine geradezu unver- wüstliche Tätigkeit aufwandten, waren die beiden Brüder Charles (gest. 1789) und John (gest. 1791) Wesley arminianisch, Whitefield (gest. 1770) dag^egen streng calvinistisch gesinnt. Ihre Erweckungspredigt knüpfte an pietistische Zirkel an, die auch in England aus dem Gegensatz gegen die Verwelt- lichung sich gebildet hatten, nahm aber dann eine schroffe Wendung zur Gesamt- und Massenbekehrung der von Gott abgefallenen Welt, Sie retten nicht einzelne Seelen, wie der deutsche Pietismus getan hatte, der ja auch gegen das Nachlassen der kirchlich- ethischen Strenge und Gesinnung reagiert und darum von den Staatskirchen auf lebendige Kon- ventikel sich zurückgezogen hatte; sie wollen vielmehr die der inzwischen herrschend gewordenen Aufklärung und Indifferenz verfallene Masse auf- rütteln. Dazu benutzen sie, sämtlich von Haus aus anglikanisch gesinnt, die Kanzeln der Staats- und Dissenterkirchen, wo immer sie eine Kanzel er- reichen konnten; sie bevorzugen dabei die Massenquartiere der Städte und Industriezentren, dringen in die Arbeitermassen der sich bildenden Kohlen- reviere ein. Es ist zum erstenmal die Idee der inneren ^lission, die das moderne Heidentum bekämpft und die religiös Verwahrloston aufsucht, die aber zu diesem Zweck die offiziellen Kirchen braucht und ihre Kanzeln zu ihren Propagandastätten macht. Der Argwohn der offiziellen Geistlichkeit verschließt ihnen freilich bald die Kanzeln, und so kam es zu der nur um so effektvolleren Feldpredigt und mit dieser schließlich zu der besonderen kirchlichen Organisation und charakteristischen Technik der methodistischen Predigt. Whitefield zog wie ein Meteor unter glänzenden Triumphen seiner turbulenten Erweckungspredigt mehrmals durch England und vor allem Amerika, Aber dauernde Wirkung war den organisationskräftigeren Brüdern Wesley beschieden, Sie hattcMi von ihren regen Beziehungen zum herrnhutischen Luthertum das dem Calvinismus bis dahin fremde ge- fühlsmäßige Wesen, die Vergewisserung vom Heil durch die Stimmung

D. Der moil. l'rot. (i 8. u. iq. J:iliih.). \'I. Asket. -iiiilcix'nd. Reaktionen u. iiiod. relifj. Rcwcfjunfjen. a j y

der Beg^nadig'uiig- und Seligkeit, übernommen, eben damit aber auch die Prädestinationslehre aufgegeben, iihcr doch deren asketisch-systematische Bewährungsstrenge beibehalten; den aufgegebenen festen Halt der Prä- destination ersetzte die neue methodistische Lehre von der Möglichkeit einer wirklichen christlichen Vollkommenheit und Sündlosigkeit als Ziel der Bekehrung. Das wesentlichste aber war die Ausbildung der Kunst der Massenwirkung mit allen Mitteln nervöser Erregung und suggestiver Beeinflussung. So regten sie die alten Kirchen aus ihrer Ruhe und bis- herigen Ordnung auf, verbreiteten die Bibel- und Bekehrungspredigt als Sauerteig durch alle erreichbare Welt und organisierten den Ertrag ihrer Propaganda in einer durch die Welt zerstreuten Anhängerschaft, in der neben Geistlichen auch Laienprediger wirkten. Wesley nannte die Welt seinen Pfarrsprengel, Aber diese Erweckung wirkte auch positiv auf die bereits bestehenden Kirchen zurück; sie wurden „evange- lical", was so viel wie pietistisch oder methodistisch heißt, pflegten die strenge Bekehrung durch die biblische Predigt von Buße und Gnade, Versöhnung und Genugtuung, neuem Leben und Heiligkeit, Himmel und Hölle. Insbesondere in Amerika erfüllten sie die zahlreichen Kolonial- kirchen mit neuem Leben und gemeinsamen Interessen, vollendeten sie die Zerstörung der schon lange dahinwelkenden Theokratie Neu-Englands und belebten sie den Geist der Kirchenfreiheit und Independenz. Nach ihrem Verfassungsbau war die methodistische Kirche eine ausgeprägte „belle vers church", eine Korporation der Bekehrten und Gläubigen; ein „society-ticket" legitimierte die Mitglieder; an Stelle der Kirchenzucht trat die gegenseitige religiöse Erbauung und Besprechung, deren Resultate vom Klassenführer an die Zentralstelle, an Wesley und die von ihm jähr- lich versammelte Konferenz der Gemeindevorsteher, gemeldet wurden. Aus der in der Person Wesleys zentralisierten Anhängerschaft und Predigervereinigung wurden mit der Zeit selbständige Kirchen in einzelnen Ländern, besonders in Amerika. Daraus gingen von Anfang an Trennungen hervor, und diese Trennungen setzten sich in allerhand Teilungen und Wiedervereinigungen auf amerikanischem Boden fort; es entstanden und entstehen aus ihm noch allerhand exaltierte Bewegungen; der ruhebedürftigere Teil hat sich die episkopale Verfassung gegeben und durch Vermittlung des anglikanischen Episkopats die Kontinuität der Weihen verschafft. Aber bei alledem bilden die methodistischen Kirchen eine der größten Kirchen der Welt; ihre Bekennerzahl wird auf über 28 Millionen geschätzt. Ein neuer Schößling desselben Geistes, ver- bunden mit der Idee der Rettung des Auswurfs der Gesellschaft, ist die Heilsarmee. Dagegen ist aus selbständiger Wurzel, aus der Akzen- tuierung der Eschatologie und der Verbindung des religiösen Individua- lismus mit einer neuen Ausgießung des heiligen Geistes, hundert Jahre nach dem Methodismus der Irvingianismus hervorgegangen. Ähnliche Ideen spuken in zahlreichen anderen chiliastischen Sekten Englands und

Die Kultur ukr Gegenwart. I. 4. 27

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Ernst Troeltsch: Proleslantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

Amerikas, die sich aber nicht hierarchisch wie der Irvingianismus, sondern independentistisch organisierten. Unter all diesen Einwirkungen, bei dem herrschenden Freikirchentum und bei der Abwesenheit anderer geistiger Interessen, ist die amerikanische Welt ein reiches Feld der Sektenbildung geworden; darunter gehen einzelne bis hart an die Grenze des Christlichen; an Stelle der älteren mystischen und naturphilosophischen Ingredienzien sind dann heute vielfach buddhistische und darwinistische oder auch ein antimaterialistischer Spiritualismus getreten. Ein Satyrspiel der Religion ist die Gründung des Mormonentums auf Grund eines Romans, den der Stifter der Sekte betrügerisch für eine ihm zuteil gewordene Offenbarung ausgab; aber eine ethisch und volkswirtschaftlich stark wirksame Kraft ist auch diese Sekte geworden. Alles in allem ein Bild von der bis heute fortdauernden ungeheuren Macht des alten Bekehrungsgedankens und seiner dogmatischen Grundlagen im Wunder der Versöhnung und Erlösung, andrerseits aber auch von den Gefahren des religiösen Individualismus, der wohl eine große moderne Errungenschaft ist, aber ohne Bildung und wissenschaftliche Zucht, ohne Gemeinsinn und historische Kontinuität den Protestantismus in Anarchie, Exaltation und Konkurrenz aufzulösen droht. Fortbildung Nahe verwandt mit diesen Bildungen des Präzisismus, Pietismus, Me-

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täuferisch thodismus uud Evangelikahsmus smd die aus der englischen Revolution

bestimmten •t-»i i-in -kt r

Kirchen. entstandenen und dann erst in Ruhe ausgebildeten Neuformationen des Täufertums, die Baptisten und Quäker. Auch sie beruhen auf Verneinung der Anstaltskirche, auf den typischen Grundsätzen des religiösen Vereins oder der believers church, betonen dementsprechend das religiöse Indivi- duum und die Laienfrömmigkeit und bringen den von der anstaltlichen Kirchenzucht des Calvinismus so charakteristisch verschiedenen Kontroll- apparat kleiner Sekten hervor, in denen die asketische Heiligkeit durch intime gegenseitige Überwachung und Besprechung gesichert wird. Ihre Au.sbildung erfolgt in beständiger Polemik und Auseinandersetzung mit dem calvinistischen Kirchentum und hat hierdurch sich ihm zugleich mannigfach genähert, aber doch starke Spuren des eigentümlichen täufe- rischen Ursprungs bewahrt. Von den Niederlanden her hatte das Täufertum schon vor der Revolution in England Fuß gefaßt; während dieser kam es zu seiner Entfaltung, und in der Toleranzakte von 1689 sind neben Kon- gegrationalisten und Presbyterianern die Baptisten als besondere Dis- senterkirche anerkannt; ihr Prinzip ist in alter Weise die Spättaufe, die Untertauchung, die völlige Freiwilligkeit der Kirchenzugehörigkeit, der Vereinscharakter der Gemeinde, die Askese im Sinne der Bergpredigt, die Nichtrcsistenz und die Nichtbeteiligung an öffentlichen Amtern. Zu- gleich mit ihrer oftiziellen Anerkennung spalteten sie sich auf einer Synode von 1689 in die die täuf'jrische Tradition festhaltende, die Prädestination verwerfenden Generai Baptists und in die dem Calvinismus dognuitisch und ethisch konformierten Partikular Biiptists. Mannigfach sich weiter spaltend verbreiteten sie sich nach dem Kontinent und nach Amerika, wo bereits

D. Der moil. Prot, (i 8.11. ic). J:ihrh.). \'I. Asket. -indopend. Reaktionen u. mod. rcUg. Bewegungen. 4 IQ

RogiM- Williams in Rhoch^-islaiul den Baptismus organisiert hatte. iMiie Abzweigung von d(>utschen Mennonilen sind die Tunkers, die sich, in Deutschland verfolgt, nach Holland wandten und schließlich ebenfalls in Amerika Zuflucht und Ausbreitung fanden. Sie alle betonen aufs stärkste die l.aienbeteiligung an der Kirchenleitung; ihre praktisch-ethischen Maß- stäbe entnehmen sie dem apostolischen Zeitalter. Ihre Kommunikanten- zahl wird von den verschiedenen amerikanischen Zweigen auf nahe 4 Millionen angegeben, was nach der durchschnittlichen Berechnung einer Bekennerzahl von mehr als 12 Millionen entspricht. Viel origineller und bedeutender, wenn auch geringer an Zahl sind die Quäker, die das Prinzip der persönlich-religiösen Erfahrung, der Überzeugungsreligion und des inneren Lichtes, in seine letzte Konsequenz verfolgen, die Sakramente in jeder Gestalt überhaupt verwerfen, jede Art geistlichen Standes be- seitigen und die asketische Ethik mit Einschluß der Verwerfung aller Gewalt, aber unter Anerkennung der innerweltlich-geschäftlichen Betätigung, mit äußerster Konsequenz durchführen, Ihr Stifter ist George Fox (gest. 1691), eine jener reinen, völlig der religiösen Idee ergebenen Xaturen, deren .starke Erregbarkeit in göttlichen Stimmen und Visionen sich äußert und die alles an die Verkündigung der ihnen gewordenen Wahrheit setzen, ähnlich dem heiligen Franz, aber ohne dessen Romantik, trotz allem Enthusiasmus durchtränkt mit calvinistischer Moralität, oder auch ähnlich den alttestamentlichen Propheten, an deren Predigtweise und persönlichem Verhalten seine einfache, aber starke Phantasie sich unwillkürlich schulte. Das Jahr 164g war der Anfang seines Prophetenamtes. Im Bewußtsein seiner göttlichen Mission, jedermann duzend, in ledernem Wams und ledernen Hosen, zog er aus, das Wort Gottes, d. h. die strenge Askese im Sinne der Bergpredigt, die Sammlung der Gläubigen zur brüderlichen Gemeinschaft der Freunde, die innere Erfahrung des Heils in der Er- leuchtung durch den innewohnenden Christus, zu verkündigen; im übrigen ohne Bestreitung irgend eines Dogmas, nur im radikalen Gegensatz gegen jede Amts- und Pastorenkirche; auch Krieg und Gewalt zu Ehren des Gottesreichs, wie es die Independenten trieben, verwarf er. Die Glut seiner Begeisterung und die Weihe seiner Martyrien verschafften ihm be- geisterte Anhänger, hinter denen er von nun ab zurücktrat. Es kam zur Gründung der ersten Freundesgemeinde, dann zur Organisation enthusiasti- scher Missionen, aufgeregter Erweckungen, messianischer Unternehmungen, womit anarchistische Aufwiegelungen gegen alle Staats- und Militärgewalt verbunden waren. Unter der Restauration trat die unvermeidliche Ernüch- terung ein und konstituierte sich die „Gemeinschaft der Brüder" als die reinste und folgerichtigste moderne Organisation der täuferischen Idee. Sie erkennen die Bibel und die christlichen Hauptdogmen an, verzichten aber auf jedes Bekenntnis. Frei von den Schwierigkeiten der reformatorischen Prädestinations- und Rechtfertigungsdogmen kultivieren sie die alte my- stische hehre von der Einwohnung Gottes und der Verleihung aller Er-

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A20 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

kenntnis und Gnade lediglich durch die gelassene Hingebung an den im Herzen sich äußernden Christus. Die Bibel ist die Urkunde der großen Offenbarungen des inneren Lichtes, muß aber selbst in der Erleuchtung durch das innere Licht gelesen werden. Die innere persönliche Ver- gewisserung und die praktische moralische Betätigung sind alles. Diese moralische Betätigung nimmt, wie schon bei den Mennoniten, die reformatorische Lehre vom Berufe in sich auf, das einzige Mittel, Un- ordnung zu vermeiden. Hierdurch und durch ihre Enthaltung von allen politischen Amtern und Tätigkeiten wurden sie vor allem auf das Ge- schäftsleben gelenkt, das auch bei ihnen die rationelle Intensität des Puritanismus annahm, ähnlich wie das bei den deutschen pietistischen Ge- meinschaften und vorher schon bei den Mennoniten der Fall war. Jede Gemeinde ist independent, der Kultus vollzieht sich in Gebet- und Predigt- versammlung, wo der jew^eils Erleuchtete spricht und unter Umständen alles schweigt. Die Gemeinde-Regierung übt ein monatlich zusammentretendes Meeting der Gemeinde aus, das Vertreter für die Vierteljahrs Versammlung der Bezirke wählt, von wo aus dann die Oberleitung in dem Jahresmeeting gebildet wird. Auch sie fanden ihre Hauptentfaltung erst in Amerika. Dort gründete Penn, ihr zweiter Stifter, den absolut demokratischen imd absolut toleranten Quäkerstaat, der das „heilige Experiment" eines Staates nach den Prinzipien der Bergpredigt ohne Gewalt, Schwert und Eid darstellen sollte, aber freilich bald in Anarchie verfiel. Von dem poli- tischen Experiment zogen sie sich, bald in die Minderheit gedrängt, auf die rein kirchliche Existenz mit strenger sozialer Geschlossenheit ihrer Gemeinde und einer großartigen Liebestätigkeit zurück, freilich bald der Verweltlichung, allerhand Spaltungen und teilweise auch der Verflachung im Deismus unterliegend; es hat daher auch an Reformationen nicht ge- fehlt. Der Ruhm dieser späten Zeit ist die Forderung der Sklaven- befreiung und humanen Negererziehung. Die Zahl ihrer Kommunikanten wird auf über 107 000 angegeben. Baptisten und Quäker zusammen haben in der Revolution, bei der Bildung der neuen Verfassungen, vor allem ihr gewichtig^es Wort für Menschenrechte und Gewissensfreiheit eingelegt. Erneuerung des So fällt die Hauptwirksamkcit aller dieser independenten asketischen

festiändrschcn Reaktionen gegen die Verderbnis der Kirche und die Verweltlichung uro]).!. ^^^ Gesellschaft nach England und Amerika. Aber auch auf dem Kontinent ist der Pietismus nicht mit den Bewegungen des 17. und 18. Jahrhunderts und deren Resten zu Ende. Auch hier erhebt sich aus der Aufklärung heraus unter den schweren Wirren der napoleonischen Kriege eine neue Welle des Pietismus; sofort verbinden sich mit ihr starke Einwirkungen des englischen Methodismus; sie steigt in der Re- staurationsperiode parallel mit der Wiedererhebuug des Katholizismus, w^ie dieser unterstützt von dem neuen ästhetischen und künstlerischen Geiste der Romantik, der neben der antiken Kunst die christliche wieder entdeckt und dem erneuerten Pietismus neben der politisch-konserva-

0. DiT niotl. I'rol. (i8.u. 19. Jahrli.). VI. Askct.-iiulcpcncl. Roaklionon 11. nioil. rclip. RcwegunKcn. 42 I

tivcn eine poetisch -gefühl.smäßij^e Färbung gibt. Es ist die Periode der „Erweckung", die durch den sich wieder sammelnden französischen, den schweizerischen, holländischen und deutschen Protestantismus hindurchgeht und in der Zeit der ersten Begeisterung die mannigfaltigsten Verbindungen mit dem neu erwachten Nationalgeist, mit den gnostisch gerichteten Zweigen des nachkantischen Idealismus und mit der politischen Restauration ein- geht. Geblieben ist hiervon freilich nur die Eroberung der Landeskirchen und der Theologen durch den Pietismus, der nunmehr den Glauben an Offenbarung und Schrift auf die persönliche Erfahrung der Bekehrung durch die Bibel aufbaut, damit der Bibel die Göttlichkeit wieder zurückerobert und auch die Deutung der Bibel zunehmend wieder unter den Einfluß der alt-protestantischen Lehren stellt, die allein aus wirklicher religiöser Er- fahrung und Gottgewirktheit hervorgegangen seien. So ist das Werk des Pietismus die Restauration der nun freilich ganz auf die individuell per- sönliche Überzeugung und Erfahrung gestellten Orthodoxie und die Er- oberung der Kanzeln und Lehrstühle für diese Theologie, schließlich die grundlegende Beeinflussung der mit den staatlichen Verfassungsneubauten zugleich zu eigenen Verfassungen gelangenden Kirchen. Außerdem ergaben sich einige pietistisch-orthodoxe Freikirchen. Seit dem neuen Vordringen der Aufklärungsideen und ihrem Siege in der Revolution von 1848 ist frei- lich die pietistische Flut für das öffentliche Leben wieder gefallen und im wesentlichen nur dies ihr kirchlich-theologisches Ergebnis geblieben. Der kirchlich interessierte Protestantismus von heute ist in der Hauptmasse pietistisch-orthodox; aus dem Pietismus stammt die subjektivistische Grund- logung, aus der Orthodoxie der Hauptinhalt der Lehre. In demselben Maße hat sich aber auch das allgemeine Interesse von der Kirche zurück- gezogen. Seit der Ermattung dieser einheimischen Erweckung treten dann freilich wieder die englisch-amerikanischen Sekten in die Propaganda ein und unterminieren die Landeskirchen in einer zum Teil sehr empfindlichen Weise. Pietistische Weltbünde, Allianzen und Gemeinschaftsbewegungen sorgen für immer neue Belebung.

So sind die Wirkungen des Pietismus überaus verschiedenartige ge- f'"amuvirkung

. _ ° '-' des Pietismus.

Wesen und ist der Gesamterfolg wenigstens in Lehre und Dogma von dem Alt-Protestantismus nicht so weit ab, wie man bei dem Gegensatz des religiösen Prinzips selbst hätte erwarten sollen. Er ist die Form, in der das alte Erlösungsdogma, die Christologie der alten Kirche und die protestantische Askese sich behauptet und der modernen Welt entgegengestellt haben. Allein die Umwälzung in den Grundempfin- dungen ist doch eine fundamentale. Überall ist der Verzicht auf die mittelalterliche Idee der geschlossenen Gesamtkultur selbstverständlich geworden, ja die Christianisierung der Gesellschaft und die Einheit des allgemeinen Geistes in der religiösen Überzeugung wird gar nicht mehr als ein Ideal angesehen. Die Gesellschaft soll der Kirche Freiheit der Bewegung und Schutz vor Verunglimpfungen geben, der Staat soll

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Ernst Trofxtsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

sie etwa auch materiell unterstützen; aber sie selbst wendet sich an die Persönlichkeiten und beruht auf der Überzeugung und Erfahrung der Per- sönlichkeiten. Der korporative Kirchenbegriff wird gerade von der Reli- gion aus eine Forderung, und auch, wo das Wunder der Anstalts- und Amtskirche festgehalten wird, soll doch die Unterstellung unter diese An- stalt Sache der Freiheit und des persönlichen Anschlusses sein, der durch die Taufe noch nicht garantiert ist, sondern in der nunmehr eingeführten Konfirmation ausgesprochen werden soll. Im ganzen ist allerdings diese frei- kirchliche und korporationskirchliche Tendenz wesentlich der Behauptung der alten Kirchenlehre zugute gekommen; hier hatte man alten, nur neu zu formulierenden Rechtsgrund unter den Füßen, und die unleugbar große innere Geschlossenheit des alten Systems konnte von der subjektivistischen Bekehrungslehre aus leicht neu belebt werden: vor allem freilich half ihr der Umstand, daß bei dem allgemeinen religiösen Individualismus die freier Gesinnten die Kirche sich selbst überließen. Der Pietismus ist die mo- derne Form der Fortdauer des Alt-Protestantismus. Das ist seine Haupt- wirkung, die sich über die ganze Welt erstreckt und in immer neuen Wellen der Erweckung über Amerika, England und den Kontinent dahin- geht. In ihm ist die religiöse Ermattung des 1 8. Jahrhunderts überwunden, vielfach der Weg neuer religiöser Bewegungen von charakteristisch mo- derner Subjektivität eröffnet worden. Freilich steht er auch dem geistigen Leben der modernen Welt absichtlich fern und hat er sich teils in eng- herzigste Repristination, teils in fanatische Exaltation verirrt. Schroffer Dogmatismus oder religiöse Nervosität, die harte Scheidung von Welt kindern und Gotteskindern und eine an die exercitia spiritualia erinnernde Technik der religiösen Bearbeitung charakterisieren ihn. Er übt im Prote- stantismus die Funktionen aus, die im Katholizismus die beständigen Re- aktionen des Mönchtums gegen die Verweltlichung der Kirche betätigt hatten, nur daß seine Askese innerweltlich bleibt und sein Individualismus mit keiner Welthierarchie Kompromisse zu schließen braucht, sondern teils frei neue Gemeinschaften bilden, teils die alten Kirchen durchdringen kann. Er ist nicht als Werkzeug einer Weltkirche eingegliedert, sondern freie ag- gressive Macht, die in immer neuen Anläufen den Kirchen und den Völkern ihren individualistisch-religiösen Geist und ihr innerweltliche Askese aufzu- prägen strebt. Er ist die Macht, die vor allem auf die unteren Volksschichten wirkt, soweit sie Bedürfnis nach solchen Erregungen haben, ebendeshalb auch beliebt in den feudal gesinnten Kreisen, die die Religion dem Volk erhalten wissen wollen. Aber er erhält im Grunde doch noch weit mehr. So hat es andrerseits an den tiefsten Wirkungen dieses neuen Prinzips auch auf das befreite moderne religiöse Denken nicht gefehlt, nur daß diese Wir- kungen der Natur der Sache nach kirchlich weniger stark hervortraten. Alle Erkenntnis, daß Religion in ihrem Kerne Gefühl, Ahnung, Poesie, Vor- stellungsausdruck für in der Tiefe wirkende Ideen, praktische Überzeugung, ein Gesamtzustand des Seelenlebens ist und damit alles, was die moderne

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Religionswissenschaft an wirklichem Verständnis hervorg-ebracht hat, wur- zelt im radikalen Pietismus. Die Religionspsychologie, die der Deismus suchte und bei seinen Voraussetzungen nur sehr unvollkommen finden konnte, hat hier ihre Aufgaben und ihre Methoden gefunden. Von hier aus hat Lessing das Gefühl als Wesen der Religion verstehen lernen und die Idee seines evangelium aetemum gefaßt, das die dogmatische und auto- ritative Religion ablösen wird. Von hier aus hat Kant die Religion als praktisches Willensverhalten erkannt, haben Herder und Jacobi, Goethe und die Romantiker das Frommsein als das praktische Christentum der Gesinnung und der Tat bezeichnet, die Seele der Humanität und den Angelpunkt der Poesie in der Religion gefunden. Vor allen haben Schleier- macher und Fries unter dieser Anregung ihre Analyse des religiösen Bewußtseins geschaffen, und Hegel hat, wenn er die in der religiösen Phantasie enthaltene Idee bloßlegte, doch die unmittelbare Bewußtseins- form der Religion im Grunde im gleichen Sinne verstanden. Das Wesen der Religion als Enthusiasmus und als praktische Moralität, das sind die Eindrücke, die die moderne Welt vom Pietismus in sich aufnahm, die aber neben seinen eigentlichen Hauptwirkungen erst zur Geltung kamen, als eine ganz andere Strömung, die Bildung einer wissenschaftlich be- stimmten Religiosität, sie in sich aufnahm.

VII. Umsetzung des Protestantismus in eine philosophische Reaktion einer

° rationalistischen

Bildungsreligion. Pietismus, Methodismus, Evangelismus sind in der Religiosität. Hauptsache Behauptungen der alt-protestantischen Idee unter Preisgabe des Staatskirchentums, der christlichen Volkskultur, aber mit Festhaltung des asketischen Gedankens und seiner supranaturali.stischen dogmatischen Fundamente. Sie haben, namentlich in England und Amerika, eine un- geheure Ausdehnung gefunden, sind aber auch auf dem europäischen Kontinent teils die konservative Kraft der alten Staatskirchen, teils das Prinzip der Freikirchen, unabhängigen Gemeinschaften und Sekten.

Was darauf nicht einging, entwickelte den Protestantismus fort durch allerhand Anpassungen an die neue wissenschaftliche Begriffswelt der Metaphysik, der Ethik und der Religionswissenschaft. Das Wesen dieser Anpassungen ist, daß der Inhalt des neugeschaffenen natürlichen Systems mit der christlichen Offenbarung als mehr oder minder identisch angesehen wurde und beide sich gegenseitig befestigten. So treten am natürlichen System dessen religiöse Grundlagen, die Teleologie und der Optimismus, die ethischen Naturanlagen, die im Wesen der Seele liegende Unsterblich- keit, hervor, und akzentuieren sich andererseits am christlichen System die Züge des Monotheismus, des Vorsehungsglaubens, der praktisch-huma- nitären Ethik, der sittlichen Aktivität, der jenseitigen Ausgleichung. Das Christliche am christlichen System wird die Offenbarung, die göttliche Autorität, die geschichtliche Beziehung auf die Bibel und ihre religiösen Heroen, während der gnmdlegende Dualismus und Pessimismus, der Er-

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

lösungsgedanke und seine Grundlage in der Versöhnung und Genugtuung, seine Konsequenz in Bekehrung und Wiedergeburt, zurücktreten oder sich ganz verflüchtigen. Die Offenbarung wird ein Mittel zur Überwindung der Sünde, der menschlichen Selbstzufriedenheit und Kurzsichtigkeit, und eben- dadurch reduziert sich die Erlösuijg auf die Offenbarung. Jesus wird zum großen Lehrer, zum sittlichen Vorbild, zum Tröster und ermutigenden Beispiel. Es sind die Grundzüge des religiösen Rationalismus, der sein Wesen in der Amalgamierung der protestantischen Christlichkeit und des neuen natürlichen Systems hat. Dabei tritt dieser Rationalismus in rege Beziehung zu allen Mächten der neuen Kultur; er unterstützt den Staat in seiner volksbildenden und erziehenden Tätigkeit, er unterstützt in den Gemeinden technisches und wirtschaftliches Aufstreben, er befördert die Sache der Bildung und Humanität als mit seinen eigenen Interessen identisch. Wo er den Offenbarungsbegriff stark betont, kann er trotz des modern ge- färbten Inhaltes und der Übereinstimmung mit dem natürlichen System doch die positive Christlichkeit dieser Denkweise stark hervorheben. Wo die Offen- barung lediglich göttliche Beförderung der vernünftigen Entwicklung wird, da zerfließt die Christlichkeit in die allgemeine moderne Kulturbewegung. So scheint die moderne weltliche Ethik in Übereinstimmung mit der christ- lichen, die christliche Religions- und Offenbarungslehre im harmonischen Kontakt mit der allgemeinen Religionswissenschaft und ihrem Grundbegriff der natürlichen Religion, die Metaphysik des christlichen Gottesbegriflfes versöhnt mit den von der modernen mechanischen Naturphilosophie in- spirierten Philosophieen. Arminianische und sozinianische Lehren treten als richtige Bibelinterpretation hervor, und, indem sie sich mit der modernen teleologisch -mechanistischen Metaphysik befreunden oder eine Berührung mit der parallelen Entwicklung des Empirismus suchen, werden sie die Organisationspunkte der neuen Lehre des Protestantismus. In den Niederlanden wird der cartesianische Rationalismus in dieser Weise adaptiert, und stärker noch wirkt die Theologie des Hugo Grotius, der noch wesentlich mit dem alten stoischen Material arbeitet; vor allem aber wird maßgebend die Lehre Lockes, der Offenbarungsglauben und natür- liches System, Christlichkeit und Liberalismus, Staat und Kirche in der der neuen Lage entsprechenden Weise zu verknüpfen wußte. So sind es, ganz entsprechend der allgemeinen Kulturlage, zunächst niederländische und vor allem englische Einflüsse, von denen der protestantische Ratio- nalismus ausgeht. Von hier aus ist er auch nach Deutschland gedrungen und hat auch die populäre Auswirkung der Leibnizisch-Wolffschen Ideen in seinen Bannkreis gezogen. Schon die Einleitung von Leibnizens Theodicee zeigt die Annäherung an die englische Lehre. Wie im Pietis- mus die „englischen Skribenten" maßgebend waren, so auch im Rationa- lismus; es sind nur das eine Mal puritanische, das andre Mal wissenschaftliche Einflüsse. Die beherrschende Bedeutung des calvinistischen Wt\^tens, der seinerseits mit der französischen und italienischen Kultur in Beziehung

n. Der niod. Prot. (i8.u. iQ. Jalirh.). VII. Unisct/unf; il. l'rot. in eine philosopli. BiMungsrclipion. 42 ^

blieb, ist unverkennbar. Dabei sind es nicht die Theologen, von denen ihesc Bewegung ausgeht, sondern die wissenschaftlichen Vorkämpfer des mo- dernen Denkens. Sie sind die Väter einer neuen Christlichkeit; die Theo- logen folgen erst in weitem Abstände nach und geben der Sache möglichst konservative Nuancen.

Alles das bedeutet aber doch nur erst eine Mischung von protestan- Krisis des

... , .... Atifkl.Hrungs-

tischer Überlieferung und modernem Denken, eme gegenseitige Beein- protcst.intismu . flussung und Konformierung. Es war im Grunde doch nur die Fortsetzung der alten Mischung von Bibel und Lex naturae, von besonderer und all- gemeiner Gnade, von übernatürlicher und natürlicher Offenbarung. Dabei wurde nur jetzt das „natürliche" Element aus den Begriffen des modernen mechanistischen oder natyrphilosophisch-mathematischen Denkens entwickelt und wurde das übernatürliche Element dem natürlichen sehr viel stärker konformiert. Weiter ging die Bewegung unter niederländisch-englischem Einfluß überhaupt nicht. Ihr Ergebnis war zweifellos von hoher Bedeutung. Es war eine Umbildung und Neubildung des Protestantismus, die ihn mit allen Mächten der vordringenden Entwicklung zunächst verbunden erscheinen ließ und die nichtpietistischen Massen populärer Gläubigkeit bis auf den Grund durchdrang. Es war eine wirklich populäre Bildungsreligion, und sie bildet bis heute die Grundform der protestantischen Gläubigkeit in den Bevölkerungen Europas. Nur trug sie von Haus aus starke Keime des Verfalls in sich. Es war eine Selbstbehauptung, aber doch zugleich eine starke Verdünnung der religiösen Idee. Sobald der Enthusiasmus der Aufklärung sich abkühlte und die französische Revolution Bedenken gegen den reinen Fortschrittscharakter dieser Bewegung weckte, wurden viele wieder in das Lager des Alt-Protestantismus und das war nun der Pietismus oder Evangelismus zurückgetrieben. Andrerseits waren die eigentlichen Führer des modernen Denkens nie in diesem Amalgam wirklich aufgegangen und wirkten die Konsequenzen der eingeschlagenen Gedankenrichtungen weit über diesen Kompromiß hinaus. Aus der christ- lich gefärbten Aufklärungsphilosophie erwuchs durch Fortbildung ihrer radikalen Elemente und durch Kritik der von ihr beibehaltenen christlichen Ideen die Humesche Skepsis, der französische Materialismus, der Positi- vismus, schließlich der moderne Massen -Atheismus, und so wurden der rationalistischen Gläubigkeit auch nach der andern Seite hin große Massen ihrer Anhänger entzogen.

In dieser Krisis des Aufklärungsprotestantismus kehren die calvinisti- rmbiidtmR des sehen Länder meist völlig zu methodistischen und evangelischen Anschau- Protestantismus ungen um. Die amerikanische Statistik zählt neben nahezu 14 Millionen dos deutschen evangelikaler Kommunikanten nur etwa 130000 rationalistische. Nicht viel anders wird das Verhältnis in England stehen. Auf dem Boden des deutschen Luthertums dagegen erhob sich der Versuch, die Verbindung der prote- stantisch-religiösen Idee mit dem wissenschaftlichen Denken noch viel tiefer und gründlicher vorzunehmen, als es die Aufklärung vermocht hatte, und

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die protestantische Idee mitsamt der ihr zugrunde Hegenden religiösen Geschichte aus der allgemeinen Vernunft und ihrer Bewegung direkt und innerlichst abzuleiten. Es ist der Versuch, der in solchen Perioden der Auflösung bisheriger religiöser Denkformen immer gemacht wird, den Wahrheitsgehalt des Bisherigen zu behaupten, indem man ihn von seiner besonderen, der Kritik verfallenen Form und Grundlage ablöst und ihn auf dasjenige reduziert, was die Domäne wissenschaftlichen Beweises ist, auf das Allgemeine und zeitlos Gültige. Aber dieser Versuch empfängt hier eine neue und originelle Wendung. Die Religion wird aus ihren be- sonderen und zufalligen Formen übersetzt in eine allgemeine Vernunft- wahrheit, aber so, daß aus dieser Vernunftwahrheit ihre historische Bildung selbst in innerlich notwendigem Prozeß hervorgeht. Es ist nicht mehr bloß ein Aneinanderschieben des Positiven und des Allgemeinen mit mög- lichster Konformierung beider aneinander, sondern eine Erzeugung des Positiven aus dem Allgemeinen» wo in dem Christlich-Positiven die histo- rische Entfaltung und Herausentwicklung des Allgemeinen enviesen wird. So kann die neue Religionswissenschaft in die historische Entfaltung der Vernunft zum Christentum aufgenommen werden und kann die neue Ethik an die religiöse Idee des Christentums, die ja nur die Herausstellung des Vernunftgehaltes aller Religion ist, angeschlossen werden. Es ist die Über- setzung des protestantischen Christentums in allgemeine Vernunftwahrheiten, die in ihm als Höhepunkt oder Durchbruchspunkt der Entwicklung ihre geschichtliche Verkörperung empfangen und von ihm aus mit beständiger Reinigung ihres Vernunftgeh altes weiter arbeiten. Diese Umsetzung des Protestantismus in eine philosophische Bildungsreligion befriedigte alle wissenschaftlichen Forderungen und zug-leich auch das religiöse Gefühl, das nun in der Religion nicht mehr bloß eine kühle Offenbarungsbestätigung für Vernunftwahrheiten empfängt, sondern erst in der g^eschichtlichen Er- scheinung des Christentums die Offenbarung der Vernunft selbst erschaut. Es ist als Ganzes eine Reaktion und Selbstbehauptung des Protestantismus, die freilich den ganzen historischen Mythus opfert und den Dualismus der christlichen und nichtchristlichen Welt endgültig aufhobt, die aber doch auch der Erlösungsidee gerecht werden kann; denn in dem reinen Durch- bruch der Vernunft kommt die Seele zur wahren Einheit mit Gott und da- durch zur Kraft der Überwindung des profanen Weltsinns, der eudämo- nistischen Pseudomoral und des widervemünftig sich im Endlichen isolierenden Egoismus. Die vollendete Erkenntnis und die in ihr statt- findende Einigung mit Gott ist die vollendete Erlösung, wobei die Erkenntnis bald mehr rein praktisch- ethisch, bald mehr rein meta- physisch, bald mehr stimmungs- und gefühlsmäßig ist. Zugleich kommt auch das historische, vom Mythus geschiedene Element zu seinem Rechte. Die Erlösung ist eine innerliche und gegenwärtige, aber die Gotteserkennt- nis und Willensumkehr, die in ihr stattfindet, geht von den historischen Kraftquellen der Religion, von den Stiftern und Heroen aus, und unter

D. Der mod. Prot. (i8.u. IQ. Jaliili.V VII. Unisct/.unK il, Prot. in eine philosopli. Rildunj,'sirlij^ion. aZ"?

ihnon ist Josu.s der gewaltigste und wirksamste Eröffner eines neuen Lebens.

Es ist die Eehre des „deutschen Idealismus", die hiermit in d(Mi Grund- zügen charakterisiert ist, die Lehre, die von Kant, Fichte, .Schlciermacher, Schelling, Hegel, Jacobi, Fries und vielen Kleineren getragen ist und zu der klassischen und romantischen Dichtung in naher Beziehung steht. In ihm sind starke persönlich-individuelle und sachliche Gegensätze ver- einigt; er ist bald mehr unter dem Einfluß der Ethik theistisch-voluntaristisch, bald unter dem der Kunst mehr pantheistisch-ästhetisch gefärbt; er betont bald mehr die antiken, bald mehr die christlichen Elemente; er verläuft mit seinen Rändern zweifellos einerseits in einen ästhetischen Tmmanenz- glauben und andrerseits in einen akosmistischen Pessimismus, die beide jede Fühlung mit der christlichen Idee verloren haben. In seinem Kerne und im Ganzen aber ist er zweifellos eine Reaktion der protestantisch- christlichen Idee gegen die skeptische, utilitaristische und rein individua- listische oder materialistische Richtung eines Teiles der modernen Wissen- schaft und gegen die äußerliche und verdünnende Kompromißreligion der Aufklärung. Er ist ein Erzeugnis des deutschen Luthertums, nachdem es durch die pietistische Individualisierung und die aufklärerische Zerbrechung des Dogmen- und Staatskirchentums hindurchgegangen war. Die Über- gänge liegen überall da klar vor Augen, wo sich das pietistische innere Wunder in das allgemeine Wunder des Geistes und seiner idealen Mani- festationen auflöst. Und zwar ist es kein Zufall, daß eine solche Reaktion aus lutherischem Boden erwuchs und nicht aus reformiertem. Der Calvi- nismus hat sich mit der neureformierten Theorie dem Freikirchentum zu- gewendet und prägt entsprechend seiner praktisch-organisatorischen Grund- richtung jede Differenz des religiösen Gedankens in neue Kirchenbildungen aus. Das Luthertum dagegen hält in seiner alten staatskirchlichen Gewöh- nung, die, weit entfernt von dem spröden reformierten Individualismus, sich nur eine einheitliche Gesamtkultur denken kann, den Boden des gemeinsamen Lebens fest, will nur die Substanz der Volksreligion sublimieren zu einer Religion der Gebildeten und zugleich doch die Volksreligion als populäre Gestalt der religiösen Idee behaupten. Ein noch tieferer Grund des Unter- schiedes liegt in dem Wesen des beiderseitigen religiösen Gedankens selbst. Die aus dem Boden des Calvinismus entstehende Philosophie überträgt die Prinzipien der Independenz auf die selbständigen Lebensgebiete der Politik und Wirtschaft, emanzipiert nur die nach Verselbständigung drängenden prak- tischen Lebensinteressen von der theologischen Vorherrschaft und drängt die religiöse Idee auf die daneben unabhängig bestehende kirchliche Gemein- schaft zurück, in der sie rationalistische Formen annehmen soll. Im übrigen bewahrt sie den praktischen Charakter des Calvinismus in ihrem ganzen Denken; der Gottesbegriff des Calvinismus kannte nur vereinzelte Willens- setzungen des souveränen Gotteswillens, keine in sich einheitliche göttliche Substanz mit innerer begrifflicher Notwendigkeit. So spielt auch in der auf

A2S Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

seinem Boden erwachsenen Philosophie Einheit und begriffliche Notwendig- keit keine Rolle, sondern das empirisch aufgefaßte Einzelne und die prak- tische Verwendung des empirisch Aufgefaßten, das durch seine praktische Leistung sich als wahr bekundet. Eine religiöse Spekulation ist auf diesem Boden nicht gewachsen; alles, was sich dort derartiges findet, ist deutscher Import oder wie Shaftesbur}' und die Platoniker von Cambridge huma- nistische Nachwirkung ; nur die schottischen Gefühlsphilosophen über- schreiten um ein weniges die Linie des Calvinismus. Das Luthertum da- gegen ist von Haus aus viel weniger mit der praktisch-organisatorischen Äußerlichkeit des Lebens beschäftigt, in der Ethik viel mehr auf Gesinnung und Stimmung als auf Tat und Bewährung gerichtet, bleibt wärmer und lebendiger in seinem niemals abgeschlossenen Streben nach der Einignng mit Gott, hat in seinem Gottesbegriff stets den x\ntrieb zur Durchdringung der inneren Einheit und Wesenheit der göttlichen Substanz. Das luthe- rische finitum capax infiniti, das in der Abendmahlslehre sich eigensinnig in eine besondere scholastische Ungeheuerlichkeit verbissen hatte, und die lutherische Gesinnungsautonomie, die im Schatten des Rechtfertigungs- und Versöhnungsdogmas nicht recht zur Entfaltung kommen konnte, gelangen jetzt erst zur Entfaltung ihres allgemeinen philosophisch-religiösen Sinnes. Die Erziehung des Luthertums und des lutherischen Pietismus, die Fern- haltung der Bevölkerung von allen praktisch-reformerischen Tätigkeiten durch den bevormundenden Absolutismus, die Zurückdrängung aller Be- w^egung in das innere Leben führen in Deutschland jetzt zu diesem Resul- tate, durch das das Luthertum endlich dem es weit überflügelnden Calvinis- mus mit einer großen Leistung gegenübertritt. Dabei ist der Zusammenhang mit dem Luthertum allen Vertretern dieses Idealismus auch wohl bewußt; sie wollen seinen Wahrheitsgehalt gegen rationalistische, orthodoxe und pietistische Verkümmerung oder Trübung behaupten und herausstellen und mit dieser philosophischen Reorganisation der Religion auch die ethisch- geistige Menschheitsgemeinschaft gegenüber dem zersetzenden Individualis- mus und Utilitarismus neu auf religiöser Grundlage befestigen. Es ist ein charakteristischer Gegensatz gegen den anderen modernen Versuch, die auf- lösenden Wirkungen der Aufklärung ohne Mithilfe der religiösen Idee, ja unter ihrer ausdrücklichen Beseitigung, zu überwinden, gegen den Posi- tivismus mit seiner biologisch-naturalistisch begründeten Soziallehre, deren Einheit und Organisation ihm vom Katholizismus inspiriert worden sind. Die religiösen Dic Grundlagen des deutschen Idealismus gehen zurück auf Leibniz,

Ideen des dcut-

schenidcaiisraus.den großeu Vermittler der westeuropäischen Kultur und des deutschen Lebens, der sich insbesondere die Vereinigung deutscher Religiosität und westlicher Wissenschaft zur Aufgabe machte und den dort drohenden Ge- fahren des Materialismus und Atheismus eine mit der Wissenschaft einige Religion gegenüberstellen wollte. Leibniz blieb dabei noch allzustark in der alten Teilung zwischen natürlicher und geoftenbarter Religion hängen und suchte die Vereinigung nur in der ersten vollständig zu machen, während

l). Der mod. Prot. (18. u. ic). Jahrb.). VII. Uni.sctzun{^ d. Prot, in cini' i^hilosopli. Bildungsrcligion. 420

er die letztere mit einem Gemisch von reaktionärem Supranaturalismus und gewaltsamer Umdeutung behandelte. So wurden die Leibnizischen Gedanken von dem englischen Deismus und Antideismus übertlutct. Erst Lessing hat ihren wirklichen Sinn zu allgemeiner Wirkung gebracht. Den eigent- lichen Höhepunkt bildet dann aber Kant, der das lutherische Prinzip der Autonomie der Gesinnungsüberzeugung, der verdienst- und lohnfreien Hin- gebung an Gott nur um des Gewissens willen zu einer allgemeinen Ver- nuuftidee generalisierte und mit seiner ganzen kunstvollen Erkenntnistheorie nur diese praktisch-ethisch-religiöse Weltanschauung unterbauen wollte. Er beugt das moderne Kausalprinzip, das der Ausgangspunkt der ganzen philosophischen Revolution gewesen war, unter die praktisch-religiöse Idee, indem er es auf die Erscheinung einschränkt und das ewige Wesen in dem freien sittlichen Willen samt seinen metaphysischen Voraussetzungen in einer allgemeinen göttlichen Weltvernunft erkennt. Die Erfassung dieser ewigen Welt geht durch die Entgegensetzung des sittlichen W^illens gegen den natürlich-eudämonistischen hindurch, und dadurch behält er ein Analogon der Bekehrung; sie vollzieht sich in der Unterordnung unter die Idee der praktischen Vernunft, aber, indem diese Idee in der Vernunft überhaupt wurzelt, ist sie ein Ausfluß Gottes; sie erzeugt sich in jedem spontan neu durch die innere Notwendigkeit der Vernunft, aber sie wird entbunden durch die Veranschaulichung und Verkörperung dieser Idee in Jesus und der Bibel. Alle Religion liegt in der Idee und aller Wahrheitsbeweis in dem Nachweis ihrer integrierenden Stellung innerhalb der Ökonomie des Bewußtseins, aber sie ist immer gerade dadurch zugleich eine Gegenwart des Göttlichen im Menschen, nur ohne anthropomorphe Versinnlichung Gottes und ohne magische Einwirkung auf Gott. Diese wesentlich ethisch- religiöse Denkweise begegnete sich mit der Poesie, die nach allerhand romantischen und klassischen Experimenten auch ihrerseits schließlich nach einer gefestigten ethisch-religiösen Denkweise suchte und die den modernen ästhetischen Gedanken mit den ethischen und religiösen Kräften in Be- rührung zu bringen strebte. Was sie dabei Wertvolles hervorbrachte, ist durch die Berührung mit Kant zustande gekommen. Schiller suchte die Poesie und ästhetische Lebenshaltung wenigstens mit Kants Ethik zu ver- mitteln und näherte sich damit zunehmend auch den Kantischen religiösen Gedanken. Goethe verherrlichte in seiner Altersweisheit die sittliche Kultur des Christentums als das höchste Prinzip der Gesinnung und der Tat, das über alle philosophische Reflexion erhaben ist, das aber auch die Er- gänzung von den übrigen geistigen und sittlichen Mächten außer ihm sich gefallen lassen muß. Herder feierte in ihm die Gesinnungsreligion der Huma- nität, die die ganze Fülle modernen Lebens in sich aufzunehmen vermag, die aber ihre hebräischen und spätantik-griechischen Formen ablegen und sich germanisieren muß. Die im engeren Sinne so genarmte Romantik machte vollends unter Fichteschem Einfluß die Religion zu ihrem Zentral- gegenstand, schied das Christliche schärfer vom Antiken und schuf trotz

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

vieler haltloser Phantastik in Novalis und Schleiermacher einen poetisch- philosophischen Idealismus, der sich als der moderne Ausdruck der christ- lichen Idee betrachtete und bei der Jahrhundertwende sich mit ergreifenden Tönen an das ästhetisch verweltlichte Geschlecht wendete. Unter dem Ein- druck dieser Poesie, ihres stimmungs- und gefühlsmäßigen Dranges nach dem Innern des Universums und ihres reichen kulturgeschichtlichen Horizontes wurden dann schließlich die philosophischen Fortsetzer der Kantischen Lehre zu einer spekulativ -geschichtsphilosophischen Ausweitung des Kritizismus bewogen. Sie wollten nicht mehr bloß von der Analyse der menschlichen Vernunft in ihrer die Erscheinung schaffenden, ordnenden, beurteilenden und gestaltenden Tätigkeit ausgehen, sondern von der Weltvernunft und dem Weltbewußtsein, das in seiner schöpferischen Selbstentfaltung die Natur, den menschlichen Geist und seine Geschichte hervorbringt. Das Wesentliche an diesen kunstvollen Systemen war aber wiederum die religiös -ethische Idee, die in dieser Form frei behauptet werden sollte. Die Weltvemunft setzt den Kausalzusammenhang zu einem bloßen Mittel ihrer Durchführung herab; ihr Wesen selbst ist die Verwirklichung der absoluten Vernunft- werte in der Entwicklung des Seins, und den Höhepunkt dieser Entwicklung bildet für die Menschheit das rein humane Gesinnungschristentum. Fichte schreibt seine „Anweisung zum seligen Leben", Hegel lehrt die „Gott- Menschheit", Schelling grübelt über dem Geheimnis des Bösen und seiner Überwindung durch die Vereinigung mit Gott, und Schleiermacher schildert Jesus als den Höhepunkt der Religionsentwicklung, als die religiöse Kraft- quelle, von der alle Fähigkeit zu reiner Gesinnungsreligion auf seine Gläubigen übergeht.

Die übliche literatur- und kulturgeschichtliche Auffassung des deut- schen Idealismus sieht in ihm wesentlich die antikisierend-ästhetischen Ele- mente und den religiösen Hintergrund eines evolutionistischen Pantheismus. Allein das ist eine durchaus einseitige Auffassung, die an der mittleren Periode Goethes, an dem Eindruck der Xenien und an der theoretischen Verwertung dieser Lehren durch das jung"e Deutschland haftet. In Wahr- heit ist er doch nur eine neue Kombination der uralten Elemente der euro- päischen Kultur, der Antike und des Christentums. Wie im Katholizismus und Alt-Protestantismus die Lex naturae mit Dogma und Kirche, so wird hier von neuem antike Humanität und christliche Innerlichkeit und Ge- sinnungsreligion verschmolzen, nur daß an der Antike jetzt die ästhetischen Elemente hervortreten, und daß in diese Kombination jetzt auch die spe- zilisch modernen Elemente des allgesetzlichen und Kopernikanischen Welt- bildes eintreten. Die antikisierende Ästhetik bricht hier freilich oft die Kraft des neuschöpferischen Willens, und die Scheu vor dem engen An- thropomorphismus wird oft zur Preisgebung- des ethischen Weltgrundes. Aber das findet stets seine Korrekturen, und die Absicht, die großen Kultur- grundlagen der europäischen Welt in neuer Synthese zusammenzufassen, wird in der Reife aller dieser Denker und Dichter deutlich ausgesprochen.

D. Der mod. I'rol. (i8.u. K). Jahrb.). VII. Umsrtzunp d. Prot, in eine philosoph. Bildungsrelipion. ^j j

Es ist der moderne Versuch einer solchen vSynthese und darum noch reich an Widersprüchen und Unfertiirkcitcn, aber auch außerordentHch reich an Gedanken und Anregungen für die Folgezeit. Das Christentum hat nie ohne Ergänzungen und Hinzuziehungen existiert, und so vollzieht sich hier ein neuer Versuch der Ergänzung, der mit einem veriimerlichten Christen- tum den Erwerb der antiken und modernen Kultur neu verbindet. Die christliche Idee mag dabei vielfach zu kurz gekommen sein, aber sie ist doch überall wesentlich mitbeteiligt, und diese neue Synthese ist die bleibende Grundlage seiner Fortbildung und Entwicklung in der gebildeten modernen Welt, die im ganzen und großen dem altkirchlichen Dogma entwachsen ist und mit dem Pietismus nichts anzufangen weiß. Es i.st die Bildungsreligion, die sich von der Religion der populären Vorstellung- bewußt unterscheidet und neben ihr selbständig den Kampf gegen den modernen Naturalismus kämpft.

Die Wirkung des deutschen Idealismus war jedenfalls zunächst eine Wirkung des

T-.1'- 1 T»-ii 11 deutschen IJea-

außerordentliche. Er wurde zur Religion der deutschen Bildung und drang usmus auf de.,

. .,,,., Protestantismus.

von da zu den übrigen Landern, nach r rankreich, wo man sich durch ihn von der Revolution zu erholen hoffte, nach England, wo Carlyle der eifrige Verkündiger seiner großen Mission als der modernen Gestalt des Pro- testantismus und als der sozial reorganisierenden Macht wurde, nach Amerika, wo sich um Emerson die Kreise der feineren Bildung scharten und die Unitarier mit seinen Ideen ihre Kirchenbildung befruchteten. Aber bei all diesem Einfluß ist er nie geworden, was der Rationalismus zu werden vermocht hatte, eine populäre Religiosität. Dazu ist er zu sehr reine Bildungsreligion und zu kompliziert in seinen Gedanken, eben des- halb auch zu reich an ganz persönlichen Spielarten, in denen die ver- einigten Elemente sich jedesmal neu ordneten. Und um eine wirkliche religiöse Macht zu werden, fehlt ihm vor allem eins, der Sinn für Gemein- samkeit und Organisation des religiösen Lebens. Er setzt die Volksreligion voraus, aber er ignoriert sie für seine eigenen Bedürfnisse völlig. Er war rein eine Religion des Gedankens und der Gesinnung, eben deshalb viel- spältig und absolut persönlich, wie das der wissenschaftlichen Überzeugung zukommt, ohne jedes Bedürfnis nach Kultus und sozialer religiöser Be- tätigung. Wohl drang er auf eine in religiös-metaphysischen Ideen begrün- dete Gemeinschaft gegenüber dem modernen Subjektivismus; aber diese Gemeinschaft suchte er in einem neuen Ideal des Rechtsstaates oder des Kulturstaates oder der freien Gesinnungseinheit aller Gebildeten. In irgend einer Reform der Kirche, einer Neubelebung der religiösen Organisation und der kultischen Gemeinschaft suchte er sie nicht. Die independente Grundlage des Neu-Protestantismus wird nur als Überzeugnngs- und Ge- wissensreligion aufs schärfste betont, aber eine darauf aufzurichtende Ge- meinschaft kennt er nicht. Schleiermacher bekennt sich zwar in seinen Reden zu einem solchen Ideal, aber bei dessen Undurchführbarkeit wendet er sich zurück zur alten Staatskirche, der einzige unter den großen Denkern des

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

deutschen Idealismus, der es mit einer kirchlichen Wiedergeburt versuchte ; er ist nach kurzen Erfolgen in der großen Zeit des deutschen Befreiungs- krieges damit gescheitert, seine Nachfolger haben seinen Buchstaben verehrt und seinen Geist sorgfältig ausgetrieben. Die Gründe für diese Unkirch- lichkeit liegen teils in der Selbstverständlichkeit, mit der man die Fortdauer der Kirchen als wesentlichen Teils des vStaatsorganismus betrachtete, teils in der Schwierigkeit des Anschlusses einer solchen Denkweise an ein In- stitut, das seine alten Symbole, Liturgieen und Katechismen in voller Rechts- geltung fortführte, in der Umständlichkeit der Fruchtbarmachung der Bibel für eine solche Religiosität. Sie liegen zuletzt und vor allem freilich in dem Gottesgedanken dieser Religiosität selbst, der zu unsicher und blaß oder zu weltgesetzlich-pantheistisch ist, um einen lebendigen Verkehr der Seelen mit der Gottheit zu erlauben. Damit fehlt Antrieb und Kraft zu jedem Kultus. Andrerseits war wieder auch sein kunstvoller wissenschaftlicher Aufbau schweren Angriffen des alten Naturalismus und Skeptizismus ausgesetzt. Sein wissenschaftliches Rüstzeug, insbesondere seine phantastische Natur- philosophie, bot der Wissenschaft verhängnisvolle Lücken und Angriffs- punkte, und seine Religiosität stak zu stark in optimistischen Immanenz- gefühlen, als daß sie eine starke sammelnde Kraft hätte entfalten können. Die wieder erwachende pietistisch gefärbte Kirchlichkeit bekämpfte ihn als Häresie des modernen Pantheismus neben der anderen großen Häresie, dem rationalistischen Deismus; und ihr Kampf war nicht ohne Erfolg. Nicht viel besser hat er zunächst auch andererseits dem erneuten Ansturm des Auf- klärungsgeistes, der vom Darwinismus neubelebten mechanistischen Natur- philosophie und dem ganzen modernen Realismus, zu widerstehen ver- mocht. Er hat jedenfalls eine wirkliche Reformation des Protestantismus bis jetzt nicht bewirkt. Aber, wenn nun das Bedürfnis nach einer solchen von neuem sich erhebt, so sind es doch immer noch seine Errungenschaften, die dabei in vorderster Linie stehen, und ein neuer Idealismus wird nur eine Umbildung seiner Gedanken sein können. Er bildet nun einmal neben dem Pietismus die andere große Reaktion des Protestantismus gegen die modernen Auflösungen, und beide werden sich ineinander finden oder nebeneinander einrichten müssen.

Allgemeine VIII. Der modeme Protestantismus in seinem konkreten Ge-

samtleben und die Fortführung seines alten Bestandes. Unter diesen verschiedenen Einwirkungen vollzieht sich das Leben des modernen Pro- testantismus. Es wäre irrig und haftete nur an der Buntheit des Bildes von Lehre und Theorie, wenn man seine Entwicklung unter diesen Be- dingungen als eine allmähliche Selbstauflösung betrachten wollte. Es sind nur die Wirkungen einer durch und durch individualistischen Kultur, die sich hierin offenbaren, das gleiche könnte von der modernen Gesamt- kultur ebenso gesagt werden. Die über unendlichen Stoff verfügende und zu feinster Kritik befähigte moderne Intelligenz würde auf jedes System

Lage.

1). Der luod. Prot. (l8.u. lo. Jahrh.). VIII. Der niud. Prot, in seinem !<onkretcn Gesamtlebcn usw. 433

ciiuM' I.t^lxMisaiischauung", das man sich etwa an Stelle des Protestantismus in eine ähnlich lierrschende Stellung versetzt denken möchte, ebenso oder noch viel zersetzender wirken. Die Religion läßt sich nicht ersetzen durch großstädtisches Literaturwesen; sie bleibt eine elementare Grund- macht. Der Protestantismus hat immer noch seinen festen Grund in den breiten Schichten der Bevölkerung und seinen starken Anhang in den Höhen der Bildung; ja derselbe Individualismus, der ihn so gründlich verwandelt und auf ihn so auflösend gewirkt hat, hat ihn andererseits auch außerordent- lich gestärkt und ihn mit allen großen individualistischen und idealistischen Kräften der Gegenwart verbündet, die gegen bloße Skepsis und realistische lUusionsfreihcit nur durch religiöse Überzeugung sich behaupten können. Xur liegt unter diesen Umständen freilich ein großer Teil seiner Wirk- samkeit außerhalb der eigentlichen Kirche. Aber das bedeutet auch nicht einmal die Entkräftung der Kirche selbst. In den angelsächsischen Ländern ist das Kirchentum bis heute von der allerhöchsten Bedeutung und eine der Quellen ihrer Kraft und Moralität; und auch in den konti- nentalen europäischen Ländern setzt die kirchenfreie Ideenwelt des Pro- testantismus sowie das ganze gesellschaftliche Leben die bestehende und fortdauernde Organisation der Religion zur Gemeinschaftspflege voraus. Es bedeutet nur die Kompliziertheit der Existenz des heutigen Protestan- tismus. Diese Kompliziertheit, verbunden mit dem Kampf gegen die große antireligiöse Bewegung und gegen die Mächte der religiösen Indifferenz» macht die Lage für seine Anhänger sehr schwierig. Aber sie ändert doch nichts daran, daß die wirklich aktionsfähigen religiösen Kräfte der euro- päisch-amerikanischen Kultur nur Katholizismus und Protestantismus sind, und daß für den frei und individualistisch gesinnten Menschen der Anschluß nur an den Protestantismus möglich ist. Eine irgend nennenswerte reli- giöse Neubildung neben beiden gibt es nicht, und die völlig anschlußlose skeptische Religiosität bloßer Sehnsucht und Stimmung, wie sie viele Kreise erfüllt, ist nur eine Kulturkrankheit, die in dem Moment als eine Krank- heit erkannt werden muß, wo es nötig wird, große allgemeine ideale Kräfte aufzubringen. So ist die Lage des heutigen Protestantismus schwierig und verworren genug; 'aber teils hat er noch einen großen Bestandteil unver- brauchter alter Kräfte, teils wirken in ihm starke Zukunftstriebe, deren Entwicklung noch nicht abzusehen ist. Man wird in ihm drei Haupt- bestandteile unterscheiden dürfen, erstlich den Protestantismus als kirchen- freie religiöse Weltanschauung und Ethik, die, mit dem Christentum eng zusammenhängend, sich doch völlig frei beweglich in einem großen Teil der modernen Literatur und Kunst, Humanität und Staatsauffassung entfaltet hat; zweitens das eigentliche Kirchentum, das sich dogmatisch zweifellos überall wieder verengt hat, aber eben auch der dogmatischen Einheit be- darf und diese aus der modernen Ideenwelt nur sehr schwer schöpfen kann, d^s aber in Liebestätigkeit und Volksbearbeitung eine außerordentliche Energie entfaltet; und drittens die Theologie des Protestantismus, die von

Die Kultur der Gegenwart. I. 4. z6

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

der Kirche und ihren Maßstäben sich überall mehr oder minder gelöst und eine ganz außerordentliche Arbeit zur Lösung des modernen religiösen Problems aufgewendet hat, die aber andererseits doch mit der prinzipiell kirchenfreien Literatur nicht identisch ist und nicht identisch sein kann, da sie auf die Pflege der Relig^ion als Gemeinschaft nicht verzichtet und daher sogar bei allem Radikalismus sich überall kirchliche Zwecke letztlich stecken muß. Der Protestan- Am flüssigstcn Und unbcstimmtcsten ist naturgemäß die erste Gruppe,

anschauung. Hier liegt nun aber jedenfalls klar die Tatsache vor Augen, daß das moderne wissenschaftliche Denken sich seit der Durchsetzung der Auf- klärung in zwei große Hauptströme gespalten hat, einen naturalistisch- positivistischen, der die Menschheit als ein vereinzeltes und vorübergehen- des Produkt des ungeheuren naturgesetzlichen Weltalls auffaßt" und ihr nur eine sozial-eudämonistische Anpassung ihrer Lebenstriebe an die Be- dingungen ihrer Naturgrundlage durch Naturwissenschaft, Technik und Gesellschaftsbildung erlaubt, und einen idealistischen, der irgendwie die Natur als Offenbarung und Versinnlichung des Geistes auffaßt und der Menschheit als einer mit ewigen Wahrheiten und Werten erfüllten Mani- festation des Geistes die Aufgabe der Verwirklichung zeitloser, an sich geltender Werte stellt. Daß in dem letzteren Strom die Jahrtausende alte christliche Geistesrichtung, verstärkt durch den Idealismus der Antike, den sie ja von Anfang an an sich herangezogen hatte, unter neuen Bedingungen und in neuen Verbindungen fortwirkt, das ist nicht zu verkennen. Und gerade indem diese zweite Gedankenbildung sich heute mit Vorliebe auf die persönliche Überzeugung und Empfindung ewiger Werte, auf die Autonomie des Geistes und des Sittlichen stellt, ist ihr Zusammenhang mit dem Protestantismus offenbar. Hier geht eine Linie von Locke und den schottischen Gefühlsphilosophen, von Leibniz und Lessing zu der großen Gesamterscheinung des deutschen Idealismus, der die Ideen der Aufklärung ganz unermeßlich vertiefte und ausweitete.

Ein guter Teil des modernen Denkens schlägt sich heute nieder in der Kunst, vor allem in der Poesie, seit sie aus der Stellung der mora- lischen Belehrung und geistlichen Erbauung entlassen ist, die sie im kirchlichen Zeitalter und unter dessen ersten Nachwirkungen im Auf- klärungszeitalter einnahm. Die Kunst ist frei und Selbstzweck geworden und übersetzt die Gedanken der Menschheit in wirksame Bilder der Phantasie. Der künstlerischen Belebung- durch die Kraft der Phantasie hat in der modernen Literatur die Aufklärung erst ihren entscheidenden Sieg verdankt, und auch der deutsche Idealismus wirkt auf die große Menge vor allem durch seine künstlerische Verkörperung in der großen deutschen Poesie. Freilich ist nun bei der Beweglichkeit, der Fülle von Zufälligkeiten und Moden, der Besonderheit rein ästhetischer Motive und der Abwesenheit der Gedankenstrenge in der Kunst am schwersten der Gehalt an religiösen Ideen aufzuzeigen. Aber der Künstler, der der Nach-

D. Dor nioil. Prot. (i8. u. I<). T:>lnli-i. \' III. Der mod. Prot, in seinem konkreten Gcsanitlcbcn usw. 435

weit immer deutlicher als die Zusammenfassung aller Strömungen moder- nen Denkens und cds die universalste Gestaltung des Lebens zu künstle- rischer Verklärung erscheint, Goethe, enthält, wenigstens in seinem abgeschlossenen Denken, in großer Reinheit und Zartheit zugleich die protestantische Idee, ihre Tiefen nicht alle erschöpfend, und völlig ledig von jedem Bedürfnis kirchlicher Gemeinsamkeit und Kontinuität, aber doch das Wahrzeichen der modernen Bildung und ihres Zusammenhanges mit dem ethischen Idealismus der religiösen Idee. Nach Goethe ist die Romantik mit noch größerem Nachdruck in eine solche Verbindung ästhetischer und religiöser Ideen eingegangen, und gegenwärtig ist die von Ruskin aus- gehende Neuromantik ein neues starkes Zentrum solcher Gedanken.

Schließlich sind auch Staat und Gesellschaft nicht in den Ideen der Auf- klärung- befangen geblieben. Zwar bleibt die Souveränetät des Staates und die eigene innere Notwendigkeit der Lebensbetätigungen der Gesellschaft. Aber die Idee des Staatszweckes beschränkt sich nicht mehr auf Macht- gewinnung und sozialeudämonistische Förderung des Gesamtwohls, auch nicht mehr bloß auf Schutz der freien Konkurrenz; die Erzeugung eines Ge- samtgeistes, die sittliche Erziehung, die Förderung und Lenkung der Bildung, die sittlichen Pflichten gegen die unterdrückten und leidenden Klassen, alles das ist in den Staatszweck wieder eingetreten, und damit tritt er wieder in das Licht einer idealen und ethischen Aufgabe, die er nur im Bunde mit einer religiösen Gesinnung lösen kann. Er mußte sich befreien aus den Umklammerungen der mittelalterlichen Kulturidee; aber, zu seiner Freiheit und Fülle gelangt, muß er sich auch wieder auf neue Weise mit den religiösen Ideen einigen, die doch nun einmal das stärkste Ein- heitsband und die stärkste Erziehungsmacht der Menschheit sind. Hier hat die Staatslehre Hegels unvergängliche Aufgaben gestellt; ein poli- tischer Realist wie Bismarck und ein politischer Idealist wie Gladstone haben gleicherweise für die praktische Staatsidee ein Verhältnis zum Christentum notwendig erachtet. Dabei ist es aber immer im Gegensatze zur katholischen Staatslehre ein freies Verhältnis zur freien Religion. Und etwas Ahnliches gilt auch von den großen Umwälzungen, die sich im Schöße des gesellschaftlichen Lebens vorbereiten, von den Gegen- bewegungen gegen die Wirkungen des absoluten Individualismus in der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Auch hier arbeitet neben einer rein sozialeudämonistischen Richtung eine religiös -idealistische, die die Herzen der aristokratischen Bildung und der herrschenden Mächte für das Recht dieser Bestrebungen weich macht und neben dem reinen wirtschaft- lichen Realismus die Rechte der Persönlichkeit und das Ideal einer ethischen Persönlichkeitsgemeinschaft geltend macht. Soweit aber an der Lösung solcher Fragen seit der Aufklärung die Humanität mit einzelnen Liebeswerken arbeitet, ist diese Humanitätsarbeit fast überall in engem Bunde mit der kirchlichen Liebestätigkeit, und auch, wo das nicht der Fall ist, steht ein religiöser Idealismus ihnen selten ferne.

28«

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

Es ist freilich eine sehr bunte Mischung, die sich in diesem Protestan- tismus der prinzipiellen Weltanschauung zusammenfindet: antikatholischer Protest, ethische Gewissensreligion, ein allgemeiner blasser Idealismus, Sympathie und Verehrung für die Persönlichkeit Luthers, historische Ein- sicht in den Zusammenhang der modernen Kultur mit dem Protestantismus, sozial-idealistische Bestrebungen, absoluter independenter Individualismus, Gefühl für die Unentbehrlichkeit einer religiösen Grundlage der Gesamt- kultur, liberale und demokratische Christlichkeit, schließlich eine mehr oder minder ernstliche Modernisierung der christlichen Ideenwelt. Daß ein der- artiges Gemisch schlechterdings keinen Sinn für den Protestantismus als Kirche und für die Religion als persönliche Beteiligung an der religiösen Gemeinschaft hat, liegt auf der Hand. Allerdings ebenso klar ist die gefähr- liche Schwäche, die hierin für den Protestantismus liegt; sie ist freilich weit- aus am größten im deutschen Protestantismus; die Widerstandskraft gegen- über dem Massen-Atheismus und gegenüber den festen Formen und zen- tralisierten Kräften der pietistischen Orthodoxie und des erneuerten Katholizismus ist dadurch außerordentlich verringert, und mit immer dem- selben naiven Erstaunen sieht dieser Kulturprotestantismus die Mächte der Orthodoxie, des Pietismus und Katholizismus aus den von ihm igno- rierten Volksschichten und Volkskreisen aufsteigen und die liberale Welt erschüttern und dezimieren. Freilich liegt der letzte Grund dieser Unkirch- lichkeit noch tiefer und besteht er auch bei den Ernstesten dieser Gruppe fort: Kirche, Kultus und Unterricht des Protestantismus ist rein auf der Bibel aufgebaut und hängt daher in seinem einfachen unverkünstelten Sinn überall an der Bibel als dem inspirierten Wort Gottes oder dem alleinigen Gnadenmittel. Wo eine historisch - kritische Betrachtung der Bibel ein- getreten ist, da ist jedoch eine derartige Begründung des ganzen Instituts und jeder Funktion auf die Bibel mit großen Künstlichkeiten oder auch Un Wahrhaftigkeiten verbunden. Die Bibel, die das Gründungsmittel, das Kampfmittel und das Palladium des Alt-Protestantismus gewesen ist, ist dem Neu-Protestantismus zum größten Teil eine Schwierigkeit und ein Problem geworden, das die Fernhaltung der über die Bibel kritisch Denkenden von dem auf die inspirierte Bibel begründeten Institut zur Folge hat. Hier hat es der moderne liberale Katholizismus sehr viel leichter; er beruft sich nur auf Kontinuität und Gemeingeist der Mensch- heitskirche und kann Bibel und Dogma der historischen Auffassung über- geben. Ähnlich wie die Bibel macht der auf die Bibelauslegung begründete rein doktrinäre Kultus diesen protestantischen Kreisen große Schwierigkeit. Kunst, Belehrung, Vortrag haben sich von der Kirche emanzipiert, und dadurch ist die Anziehungskraft des Predigtkultus geringer geworden. Andererseits haben aber auch die Wiederbelebungen von Liturgie und Diu Fortfuhrang Kunst im Kultus ihm keine größere Kraft einzuflößen vermocht. Die "ßesundes. Idee des gemeinsamen Kultus ist überhaupt abgeschwächt. vcrfa'ssu"«. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Kirche, wie sie aus den alten

I). Der niod. l'rot. ( r 8.11. 19. Jalirh.). \'III. Der niod. I'rot. in st-incni konkreten Gesamt Irbcn usw. 4 '^7

Zeiten heute noch fortbesteht, scharf von dem g^anzen kirchenfreien Prote- stantismus. Sie ist im Gegensatze hierzu die Organisation der Religion zu Kultus, Unterricht, Bekenntnis und kirchlicher Liebestätigkeit. Sie hält die Geister mit größerem oder geringerem Zwang zusammen und behauptet, daß ohne sie und ihre zusammenhaltende Arbeit alles sich auf- lösen und die Wurzel verlieren würde. So ist in dem ganzen Zeitraum seit der Aufklärung ihre erste Aufgabe ihre rechtliche Reorganisation gewesen. Überall gibt es zunächst neue Theorieen und finden dann seit Beginn des k). Jahrhunderts neue Rechts- und Verfassungsbildungen statt. Unverändert bleibt nur die anglikanische Kirche, die aber auch Stück für Stück von ihren Vorrechten opfern mußte. In den reformierten Ländern ist überall das alte Band mit dem Staate gelöst, die Kirchenzucht von jeder Verbindung' mit der Polizei befreit; der Staat unterhält nur die Landeskirche und wahrt sein äußeres Aufsichtsrecht; in allem übrigen sind die Kirchen auf sich selbst gestellt. In Amerika hat die Union und der Linzelstaat das Prinzip der vollen Kirchenfreiheit erklärt und geht in der Durchführung des Prinzips so weit, daß auch die offiziellen Volks- zählungen und Statistiken keine Notiz von der Konfession nehmen; der Staat selbst hat übrigens dabei gewisse Attribute seiner allgemeinen Christlichkeit beibehalten. Die Buntheit der verschiedenen Kirchen- bestände, der Individualismus der methodistischen Erweckung und der alte puritanisch - independente Gedanke der Gewissensfreiheit vereinigen sich hier zu der neureformierten Doktrin, und diese Doktrin ist von hier aus in unaufhaltsamem Fortschreiten begriffen. Die Kirchen des kontinentalen Luthertums verfielen freilich bei dem Mangel jeder selbständigen Organi- sation vorerst völlig dem Staate, aber mit dem Aufbau der modernen Verfassungen, der konfessionellen Mischung der neuzusammengesetzten Gebiete und der Erklärung der Freizügigkeit mußte auch hier der Staat dem Protestantismus eine selbständig organisierte Kirche schaffen. Das alles hat die Kirche in ihrem äußeren Herrschaftsumfang beschränkt, aber nach innen gekräftigt und zu verstärkter Wirksamkeit befähigt.

Nach einer Seite haben diese Verfassungsneubauten eine besonders schuie. einschneidende Wirkung gehabt: die Kirche ist von der bisher durch sie verwalteten oder stark beeinflußten Schule getrennt. In Amerika und England haben freilich die Denominationen ihr eigenes hohes und niederes Schulwesen neben dem staatlichen, soweit ein solches überhaupt vor- handen ist. Aber das ist dann auch eben freies kirchliches Schulwesen, dem auch nicht wie dem alten europäischen der Nachdruck des Staates verliehen wird. In Europa aber hat die Kirche die höhere Schule definitiv- verloren; die früher vereinigte Tätigkeit des Theologen, Philologen und Schulmanns ist getrennt. Die Hochschulen nehmen, von jedem Glaubens- druck befreit und die philosophische und naturwissenschaftliche Fakultät in ungeahntem Umfang entwickelnd, einen völlig neuen Weg; höchstens durch Eintiuß auf die theologischen Fakultäten bleibt hier der Kirche

438 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

eine Einwirkung. Mittelschulen und Volksschulen werden gleichfalls emanzipiert; der Kirche bleibt nur die Einwirkung auf den Religions- unterricht. Das ist nicht bloß für die Schule, sondern auch für die Kirche von Bedeutung; sie kann ihre Kräfte konzentrierter auf die kirchlichen Aufgaben verwenden, verliert aber auch ein Hauptmittel ihres Einflusses und eine Nötigung zur Anteilnahme an der allgemeinen Bildung. Ausbreitung. Der äußorc Besitzstand des Kirchentums hat sich nicht wesentlich

verändert. Seit das jus reformandi sich auf die äußere Kirchenhoheit eingeschränkt hat, ist der Konfessionswechsel ganzer Länder nicht mehr möglich. Nur in den ehemals streng katholischen Ländern, in Frankreich, Österreich, Italien, sind die Reste der Reformation endlich zu kirchlicher Organisation und F"reiheit gelangt, unter ihnen die kleine französische Kirche besonders reich an Geist und religiöser Kraft. Außerdem hat sich der Besitzstand durch die niederländische und englische Kolonial- und Weltpolitik verbreitert, die in den am meisten bewohnten Kolonieen, in Kanada, in Kapland und Australien überall den Protestantismus verbreitet haben. Besonders wichtig ist das Vordringen der Union nach den pazi- fischen Gestaden; der schmale Küstensaum der protestantischen Bevölke- rung hat sich dadurch unermeßlich erweitert, und, wenn auch die Ein- wanderung zugleich einen starken Katholizismus geschaffen hat, so ist doch das Land der Zukunft weitaus überwiegend protestantisch. Daneben ist ein neues Zentrum des Calvinismus in Südafrika im Entstehen begriffen. Zu dieser Ausbreitung durch das Vordringen protestantischer Mächte kommt nun aber noch die Ausbreitung durch die freie Mission in allen Weltteilen. Der Alt -Protestantismus hatte bei seiner landeskirchlichen Geschlossenheit die Missionsaufgabe ausdrücklich abgelehnt, während der Katholizismus mit den spanischen und portugiesischen Kolonisationen seine missionierenden Orden ausgesandt hatte und von da aus auch selbständig bis China und Japan vorgedrungen war. Charakteristisch für das Luther- tum ist der Vers, mit dem der Prediger Neumeister die Ablehnung be- gründete: Vor Zeiten hieß es wohl „Geht hin in alle Welt", Jetzt aber „Bleib allda. Wohin dich Gott gestellt". Die holländische Regierung hatte ihre Handelskompagiiieen zur Ausbreitung des Christentums verpflichtet, was aber nur eine gewalttätige Massenbekchrung ergab, und die Neu- England-Staaten führten nur zögernd zu Versuchen der Indianermission, Dann entwarf Cromwcll große Pläne einer Weltmission, und Leibniz nahm den Gedanken im Zusammenhang mit der Ausbreitung europäischer Kultur auf. Allein zu wirklicher Missionstätigkeit führte erst der Pietismus, der die Einzelperson mit der Verjjflichtung zur Ausbreitung von Gottes Reich erfüllte: die Hallesche Schule stellte der dänischen Regierungsmission eifrige Missionare zur Verfügung, und die Hcrmhutcrgemcinde eröffnete eine selb- ständige, über verschiedene Weltteile ausgebreitete ^Mission von größter Nachdrücklichkeit. Zu einer Mission im großen Stil kam es aber erst durch den Eintritt des methodistisch bearbeiteten Englands und Amerikas in diese

D. Der mod. l'rol. (i8.ii. M)- J'''"''-'- VIII. Der mod. I'rol. in seinem konkreten Gesamtlcbcn usw, a ig

Aufgaben; sie hing- zustimmen mit dem Wachstum des Weltverkehrs, der Ausdehnung der Entdeckungsfahrten und mit der von der Aufklärung bewirkten Schätzung alles Menschlichen, besonders auch des Natur- menschen; so verflocht sie sich auch mit der Anti -Sklavereibewegung, Ihre Träger wurden nun eine Fülle freier Missionsgesellschaften, in deren Gründung- dann auch Deutschland und der übrige Kontinent nachfolgten, Ihre Farbe ist fast durchgängig eine stark pietistische, doch tritt allmäh- lich auch ein strengerer kirchlicher Geist in sie ein. Sie beschäftigt gegenwärtig rund 6000 Missionare, verausgabt jährlich rund 50 Millionen und hat rund 17000 Schulen auf den Missionsgebieten aufgerichtet. Der Erfolg- läßt sich in seiner Bedeutung noch nicht einschätzen.

Auch im Verhältnis der Konfessionen zueinander trat eine Verhältnis der

. Konfessionen.

wesentliche Verschiebung des Bestandes nicht em; emzelne Konversionen im Zeitalter der Romantik, Verluste der englischen ritualistischen Be- wegung an den Katholizismus und Verluste des letzteren in Frankreich und Osterreich verschoben die Lage nicht bedeutend; im ganzen gewann der Protestantismus durch die stärkere politische und wirtschaftliche Entwick- lung und vor allem durch die stärkere Bevölkerungsvermehrung der protestantischen Völker. Im Verhältnis von Luthertum und Calvinismus haben so gut wie alle erheblichen Konversionen aufgehört; dagegen ist freilich der Fortschritt und die Ausbreitung der calvinistischen Nationen bedeutend größer als die der lutherischen; das Luthertum ist heute stark in der Minorität, auch w'enn man das durch schroffsten Archaismus aus- gezeichnete amerikanische Luthertum mitrechnet. Dagegen hat im Ver- hältnis des Geistes der Konfessionen zueinander die stärkste Wandelung stattgefunden. Aufklärung und Pietismus brachten es zu einer fast völligen, auch den Katholizismus einschließenden, Indifferenz der Konfessionen. Aber diese auf Ermüdung und Oberflächlichkeit beruhende Indifferenz gegenüber dem Katholizismus verschwand mit dessen neuer aggressiver Stellung seit der nachnapoleonischen Reorganisation des Katholizismus; der Kampf ist wieder überall entbrannt, nun aber nicht mehr als Kampf geschlossener Systeme mit offizieller Kontroverstheologie, sondern als der Kleinkrieg konfessionell gemischter Bevölkerungen mit rein prak- tischer Abwehrtendenz; das relative historische Recht des Katholizis- mus ist im ganzen überall anerkannt, die alte Theorie vom römischen Antichrist so gut wie verschwunden. Im Gegensatze dazu aber hat die Annäherung der beiden protestantischen Konfessionen Bestand behalten und sogar in dem größten Teil Deutschlands zu der Union beider geführt, die freilich ein heftiges, aber nun schon längst wieder abflauendes Auf- wallen des strengen Luthertums zur Folge hatte; immerhin sind manche deutsche Landesteile noch von einem harten, selbstgenügsamcn Luthertum erfüllt. Unter allen Umständen bedeutete doch schon die Verselbständi- gung der lutherischen Kirchen, die Einführung des Synodalwesens und das Eindringen der freien Vereinsbildungen eine weitgehende tatsächliche

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Ernst Trokltsch: Protcstanlisches Christentum und Kirche in der Xeuzeit.

Calvinisierung'. Dabei hat die moderne Gewöhnung an historische Selbst- besinnung den Unterschied der beiden Konfessionen zwar meist ohne Polemik, aber doch mit zunehmender Schärfe erfaßt. Beide Reformations- kirchen stehen samt ihren pietistischen Tochterkirchen in einem so starken gemeinsamen Gegensatz geg'en die moderne Welt, daß jetzt der kirchliche Protestantismus sich als Einheit fühlt und auch als Einheit von dem Histo- riker behandelt werden darf. Innere Nach innen fand das protestantische Kirchentum mit Aufklärung und

Pietismus zunächst Ruhe von den alten dogmatischen Lehrkämpfen und Freiheit der Einzelgemeinde, die auf dem Gebiete des Luthertums natürlich zur Freiheit und oft Willkür der Geistlichen wurde, soweit sie nicht etwa durch Patronatseinflüsse gebunden waren. In dieser Freiheit konnte sich teils der Anschluß an pietistische und methodistische, teils der an modern wissenschaftlich gefärbte Theologie vollziehen. Der Optimismus der von uralten Fesseln befreiten Kulturwelt und der Glaube an eine neue glor- reiche Fortschrittsperiode übertrug sich auch auf die Kirchen, aber so, daß auch sie den Fortschritt wesentlich auf weltlichem Gebiete und im Anschluß an die allgemeine humane Verbesserung der Menschheit erstrebten. Die Kir- chen fühlten sich immer noch als die Träger und Organisatoren des geistigen Lebens, aber sie stellten sich der profanen und humanen Kulturbewegung, oft auch politischen, polizeilichen und administrativen Zwecken als Organe zur Verfügung; in dieser Richtung schützte sie auch der gegen jede selb- ständige Tätigkeit mißtrauische Polizeistaat des aufgeklärten Absolutismus, er behandelte sie als Mittel der moralischen Volkserziehung zum Besten des Staates. In dieser Freiheit ist in der Tat mancher Fortschritt erzielt worden und die Kirche jedenfalls populär geworden; insbesondere hat das Luthertum den Weg zu einer kirchlichen Liebestätigkeit erst jetzt ge- funden; das Flallesche Waisenhaus mit seinem Schulwesen und seiner Kinderpflege wurde ein Vorbild für zahlreiche ähnliche Stiftungen; die humanen Reformen erfüllten auch die Kirche mit dem Eifer der Mitarbeit, und so sind bedeutende Reformen des Armenpflegewesens versucht worden; ein Pestalozzi stellt die Vereinigung beider Strömungen und den Aus- gangspunkt der Verbesserung der Erziehung dar. Allein diese Freiheit und Toleranz entsprang zum großen Teil der religiösen Ermattung und Unkraft; ward auch oft zur Willkür und Neuerungssucht; vor allem der Kultus verfiel in dem Bestreben der Anpassung an die neue Sprache und den neuen Geist, und in die kirchliche Verwaltung kam ein Geist der Stagna- tion, der lieber überflüssig erscheinende kirchliche Stellen einzog als das System der kirchlichen Versorgung ausbreitete und den sich wandelnden Bevölkerungsverhältnissen anpaßte. Das Ende des i8. Jahrhunderts bedeutet nach dem enthusiastischen Aufschwung der pietistischen Periode und nach der Höhe der eigentlich begeisterten Aufklärung einen entschiedenen Niedergang des kirchlichen Wesens. Zu einer Erneuerung kam es überall, in Amerika, England und im Kontinent, durch den Aufschwung des Pietis-

D. Der niod. Prot, (i 8. u. i<). J;ihrli.). \'III. Der inixl. I'rol. in seinem lionkretcn (ies.'inUli'hen usw. aa\

mus nach dem Xiedcrt^ant^ der Aufklärunj^ in den Wirkung-en der franzö- sischen Revolution. Zunächst freilich betätigt sich der Pietismus in freiem Vereinswesen und schafft, zunächst in T^ngland, die großen Gesellschaften für Mission, liibelverbroitung, Traktatverbreitung', Liebestätigkeit aller Art. In Verbindung mit den englischen Kirchen erhebt sich dann der deutsche Pietismus und schafft neben den gleichartig-en Vereinen solche für Rettungs- häuser, Anstalten zur Ausbildung von Helfern in allen Liebeswerken, wie die Diakonen- oder Brüderhäuser und die Diakonissenhäuser, damit die Voraussetzung für Aufrichtung und Pflege eines sich immer weiter aus- breitenden Netzes von Liebesarbeiten; es kamen die Gründungen von Anstalten für Kinder-, Jugend-, Blinden-, Krüppel-, Krankenpflege, für Rettung der Verlorenen, Verbesserung der Gefängnisse, Pflege der Ge- fängnisentlassenen, für Stadtmission und Gemeindehilfe, Herbergen und Arbeiterkolonicen; ja auch an so allgemeine Fragen wie Wohnungsfrage und Sparkassenwesen geht diese Vereinstätigkeit. Inzwischen hat dann auch die Kirche selbst nach innen sich überall konzentriert und mit den neuen Verfassungen zentralisierende Kräfte gewonnen; sie stellt den alten Kultus und die alten Lehrordnungen wieder her, gewinnt in steigendem Maße Uniformität und paßt sich mit Bildung neuer Parochieen, Ver- mehrung der Ämter und mit Kirchenneubauten der neuen Lage einer kolossal vermehrten Bevölkerung, den Fluktuationen der Freizügigkeit, den Anforderungen der wachsenden Großstädte und der verwickelten Diaspora an. Dabei hat sie anfänglich das Vereinswesen des Pietismus mit dem- selben Mißtrauen betrachtet, wie dieser das steife Amtswesen der Kirche. Aber allmählich hat sich eine immer engere Verschmelzung beider voll- zogen, so daß heute die kirchliche Tätigkeit aller protestantischen Kirchen in einer engen Verbindung von kirchlich -organisatorischer und freier Vereinstätigkeit besteht; mit diesem ganzen Apparat verflicht sie sich unlösbar in die staatliche Wohlfahrtspflege und die humane Vereinstätig- keit der modernen AVeit. Die hier aufgewandte Energie ist ganz außer- ordentlich, und der Beitrag dieser religiösen und kirchlichen Tätigkeit zur Gesamtleistung der Gesellschaft wesentlich und unentbehrlich, wenn er auch freilich zur Lösung ihrer Probleme keineswegs ausreicht und vielen wegen des damit verbundenen meist spezifisch pietistischen oder dogma- tischen Geistes die Beteiligung unmöglich macht. Hier verteilen sich in der modernen Gesellschaft eben die Aufgaben; manche Dinge sind in der Tat nur einem religiösen Enthusiasmus möglich, der dann meist mit einer gewissen geistigen Enge verbunden ist, und manche Aufgaben sind nur durch eine bedeutend weltlichere Gesinnung lösbar, die dann aber ihrer- seits doch auch ihre freiere und allgemeinere religiöse Grundlage hat.

Am schwersten ist unter diesen Umständen die ethische Leistung des Ethik des

" modernen kircn-

modernen Protestantismus zu charakterisieren. Da die kirchliche Doktrin Heben ivote-

stan.ismus.

nicht mehr das Gesamtleben beherrscht und die theologischen Ethiken größtenteils nur Fortsetzungen alter Schultraditionen ohne wirkliches Ein-

AA2 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

gehen auf das total verwandelte Leben sind, so hilft die Kenntnis der ethischen Theorie wenig zum Verständnis der tatsächlichen ethischen Leistung. Von ihr tritt im ganzen nichts deutlich hervor als die Pflege der persönlichen Privatmoral sowohl in der religiösen und sittlichen Selbst- bildung des Individuums als in der Liebesgesinnung und Liebestätigkeit des Einzelnen gegenüber dem Einzelnen; der alte Untergrund der Erbsünde, der diesen Tug^enden früher stets ein stark asketisches Gepräge gab, ist außer in den engeren pietistischen Zirkeln überall stark verblaßt. Neben der Privatmoral tritt eigentlich als Beitrag zur öffentlichen Moral und zur Gestaltung des christlichen Lebenssystems nur die geschilderte Liebes- tätigkeit des christlichen Vereinswesens hervor. Die independenten Kirchen Englands und Amerikas und mit ihnen die ganze neureformierte Doktrin haben auf die direkte Beeinflussung des Gesamtlebens ausdrücklich ver- zichtet, machen aber die öffentliche christliche Meinung gelegentlich auf dem Wege der allgemeinen Mittel zur Geltendmachung öffentlicher Mei- nungen mit starker Wirkung geltend; nach innen besteht zur sittlichen Regulierung und Kontrolle der Kirchenglieder selbst die alte Kirchen- zucht und Abendmahlsvorbereitung vielfach noch in voller Kraft. Die Kirchen sind daher dort überhaupt noch die tragenden Kräfte der allge- meinen öffentlichen Moral, wenn auch in völlig independenter Weise. Auf dem europäischen Kontinent ist das in viel bescheidenerem Maße der Eall. Die einzige Fortsetzung der alten ethischen Idee von einer christlich be- stimmten Gesamtkultur findet sich in den Programmen des preußischen Konservatismus und des christlichen Sozialismus. Der erstere hebt in Wahrheit den modernen Staat und seine Kultur auf und ist bei der Un- möglichkeit einer solchen Aufhebung zu einem Programm der Klassen- politik, des Schutzes des alten feudalen Agrarwesens, des handwerk- lichen Kleinbetriebes, der patriarchalen Autoritäten und der kirchlich- dogmatischen Orthodoxie geworden. Der zweite geht gerade aus den modernen Kulturbewegungen hervor, und, wenn er sich zunächt auch nur auf ein Teilproblem, auf das von der modernen Wirtschaftsform, Freizügig- keit und Industrie geschaffene Problem der Arbeiterschaft und des Prole- tariats konzentriert, so behandelt er doch in seinen daran geknüpften allgemeinen Theorieen das ethische Kulturproblem überhaupt. Insofern ist er der einzige moderne Nachfolger der alten christlichen Ethik, der einzige Versuch zu einer modernen Umgestaltung der altprotestantischen Kulturethik auf der Basis der Freiheit und der Bruderliebe. Charakteristischerweise stammen auch hier die Anregungen aus England, d. h. von reformiertem Boden, und haben sich die offiziellen Kirchen teils nur zögernd, wie in Eng- and, teils gar nicht, wie in Deutschland, auf die neuen Aufgaben eingelassen. So verschmilzt hier am meisten der kirchliche Protcstantisnuis mit dem Pro- testantismus der allgemeinen human-idealistischen Weltanschauung auf reli- giöser Grundlage; immerhin aber stammen doch die meisten Mitarbeiter aus den Reihen der Geistlichen und haben gerade diese das Problem als ein

D. Der moil. l'rol. (i8.u. 19. Jahrli.t. \'III. Der nioil. Prot, in seinem konlircten (lc»aiiilleben usw. 11 7

die moderne Kirche direkt angehendes bezeichnet. In England setzte die Bewegung bei den Chartisten-Unruhen ein, in denen sich zum erstenmal das schwere soziale Problem des modernen Industriestaates auftat und eine rücksichtslose industrielle Bourgeoisie dem Arbeiterproletariat gegenüber- stand. In diesem Kampf schob sich zwischen die Bourgeoisie und die agrarische Interessenpartei der christliche Sozialismus als Anwalt der Arbeiterpartei und des Gesamtwohls ein. Unter Führung von Maurice, Carlyle und Kingsley erklärten sie gegenüber dem utilitaristischen Indi- vidualismus einen ethischen Sozialismus für die religiöse Kulturforderung; die praktische Machtverteilung und die wirtschaftliche Besitzverteilung muß vom Ganzen aus so beeinflußt werden, daß möglichst jeder Mensch zur Ausbildung einer selbständigen Persönlichkeit von eigenem Wert gelangen kann. Die praktischen Mittel sind die von den vSozialreformern überhaupt vorgeschlagenen: Gewerkschafts- und Genossenschaftswesen, Pro- dukti\assoziationen und außerdem Verbreitung der höheren Bildung im Volke durch Settlements und Vortragskurse und Austausch zwischen den verschiedenen Klassenangehörigen. Diesen Prinzipien schlössen sich Rus- kin und die Pabier, dann die kantisch gesinnten Universitätsphilosophen Green, Toynbec und E. Caird samt ihrem zahlreichen Studentenanhang an. Eine nicht bloß die Produktion, sondern auch die gerechte Verteilung der Güter erleichternde Gestaltung von Staat und Gesellschaft und die Ermög- lichung weitgehender Anteilnahme an den geistigen Gütern erscheint als christliche Liebespflicht des Ganzen gegen den Einzelnen und des Einzelnen gegen das Ganze; charakteristisch für den christlichen Sozialismus ist liier bei aller Betonung der Persönlichkeit und der Pflicht der Gesamtheit gegen den Einzelnen doch die Verwerfung aller abstrakt demokratischen und naturrechtlichen Glcichheitsideen, überhaupt der eudämonistischen Gleichheit im Anteil an den Lebensgütern. Der deutsche christliche Sozialismus erwuchs aus den 48 er Bewegungen und den Einwirkungen des englischen Vorbildes. Zunächst lenkte Wicherns großartige Tätigkeit die Bewegung auf das Gebiet der inneren Mission und des freien Vercins- wesens. Victor Amadeus lluber machte nach englischem Vorbild Propa- ganda für das Genossenschaftswesen. Dann trat Rudolf Todt, angeregt von der kolossal rasch entwickelten Sozialdemokratie, in deren Gedanken ein und bildete sie vom christlichen Standpunkt aus um; das christliche Ideal ist ein gegenüber der natürlichen Selbstsucht und den natürlichen Klasseninteressen völlig radikaler Neubau der Gesellschaft, wo Staat und Kirche für die Verwirklichung dieses Ideals zu sorgen haben; Freiheit und Brüderlichkeit müssen ihre Grundsätze werden, und das kann nur eine Organisation des Gesamtlebens leisten. Zur theoretischen Durch- bildung dieser Sätze und Vorbereitung einer politischen Aktion bildete er seinen „Zentralverein", Die Übersetzung- dieses Programms in prak- tische Parteipolitik übernahm Stöcker, der aber bald in die Bahnen der kleinbürgerlichen Mittelstandspolitik und damit der Konservativen geriet,

AAA Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

um schließlich dann doch wieder von diesen abgestoßen zu werden. Gleichzeitig wuchsen in dasselbe Programm die christlichen Arbeiter- vereine hinein, deren Charakter zwischen einer Wahltruppe der Konser- vativen und einer ein selbständiges christliches Gesellschaftsideal vom Arbeiterstandpunkt aus erstrebenden Reformpartei schwankt. Entsprechend den modernen politischen und kirchlichen Grundsätzen wird dabei nirgends mehr auf die alte staatskirchliche Zwangskultur, sondern immer auf freie Parteibildung und Durchsetzung des Programms durch christliche Majori- täten hingewirkt. Immerhin aber zieht sich durch die ganze Bewegung die Nachwirkung der altkirchlich patriarchalischen Erziehungs- und Be- herrschungsideen hindurch und steht dem überall das neu-protestantische Prinzip des Individualismus und der Independenz, verbündet mit den mo- dernen politischen und sozialen Freiheitsideen, gegenüber; zur wirklichen Klärung gerade dieses Gegensatzes ist es noch nirgends gekommen. Bei der Herrschaft der französisch - rationalistischen Gleichheitsideen in den liberalen Parteien Deutschlands konnte der christliche Sozialismus hier nur von den Konservativen ausgehen, die ihn von Anfang an mit konservativen und kirchlichen Ideen in Verbindung brachten. Allmählich mit der fortschreitenden Industrialisierung Deutschlands gewann er einen großen Teil der g^ebildeten Welt und die die idealen Kräfte schätzenden Nationalökonomen für sich. Im „Evangelisch - sozialen Kongreß" fanden diese Interessen ein glänzendes Organ, wo gerade die konservativ- luthe- rischen und die modern freiheitlichen Elemente der Beweg-ung sich aus- einandersetzten. Allein man scheiterte im ganzen an dem Widerstand der Arbeiterschaft, die sich der stärkeren atheistischen Sozialdemokratie an- schloß, an der Abneigung der nicht-katholischen Parteien gegen alle reli- giös-ethischen Gesichtspunkte, an den dogmatischen Differenzen der prote- stantischen Gruppen und an der steigenden Feindseligkeit der offiziellen Kirche und der Konservativen, die mit dem alten Luthertum auch unter den ganz veränderten modernen Verhältnissen Bescheidenheit, Geduld und Berufsergebung für die erste Christenpflicht des gemeinen Mannes hielten. Trotzdem ist die Rolle der Bewegung schwerlich ausgespielt; in irgend einer Form wird sie wiedererstehen; denn sie i.st die einzige Leistung der Ethik des modernen Protestantismus, die auf das Ganze der modernen Verhältnisse eingeht, und somit seine einzige wirklich umfassende Ethik. Die Theologie. Augenfällig verschieden von dem Kirchentum bewegt sich das dritte

Die Fakultäten.

große Lebensgebiet des modernen Protestantismus, die Theologie. Der Grund dieser Erscheinung ist die verhältnismäßige Selbständigkeit der theologischen Fakultäten gegenüber den Kirchen, wenigstens soweit Deutschland, die Schweiz, Holland und Frankreich in Betracht kommen. In Amerika und England sind die theologischen Hochschulen Kirchen- institute oder doch kirchlich stark beeinflußt; nur zwei amerikanische theo- logische Schulen, in New -York und Boston, sind Versuche unabhängiger Gründungen; dazu kommen die kongrcgationalistischen und unitarischen

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Schulen, die ebenfalls volle Bewegungsfreiheit genießen. Diese Stellung vor allem der deutschen Fakultäten als Bestandteile der staatlichen Uni- versitäten und die Besetzung rein durch den Staat, der meist nicht direkt dogmatisch interessiert ist und auf die Gesamtheit der Bevölkerung Rück- sicht nimmt, ist die Ursache der großen Blüte und Selbständigkeit der Theologie; mit dieser Stellung der Fakultäten würde die ganze Theologie selbst verschwinden, und es fehlt daher seit hundert Jahren nicht an immer wiederholten Bemühungen der Kirche, diese Stellung zu unter- graben. Diese Fakultäten sind, wie sie den Gesamtverbänden der Wissen- schaften angehören, so auch deren geistigem Einfluß aufs stärkste ausge- setzt. Sie bilden daher eine Vermittelung zwischen der Kirche und dem allgemeinen wissenschaftlichen Geist von höchster Bedeutung, und dieser ausgleichende Einfluß geht bis tief in die ].ehren der noch als kirchen- gläubig anerkannten oder auch ertragenen Theologen hinein. In ihrer Hand liegt die Fortbildung des religiösen Gedankens, sofern er noch auf kirchliche Gemeinschaft und Organisation Wert legt. Sie sind nach links die Wahrer der Kontinuität und die fachmäßigen Kenner der christlichen Religionsgeschichte, nach rechts die Fortbildner des kirchlichen Denkens.

Diese Aufgabe stellt sich sofort mit dem Beginn der Aufklärung, mit Der Gesamt- der Veränderung des allgemeinen geistigen Klimas ein. Waren bis dahin '^ rheoiogie.^'^ die theologischen Fakultäten die Obergutachter und Diktatoren der Wissen- und''LuisungV- schaften und die eigentlichen Spitzen der Kirchenlehre, so treten sie von da ^"^^ ' ab in die Rolle der Vermittler ein, die zwischen der allgemeinen kirchen- freien Wissenschaft und der Kirchenlehre vermitteln. Die völlige Ver- änderung der frei gewordenen Wissenschaft und der alte Anspruch der Kirche, am wissenschaftlichen Leben teilzunehmen, nötigt ihnen diese Stellung natumotwendig auf. Damit lockert sich aber andrerseits auch naturgemäß ihre Stellung zu der Kirche. Die Vermittlung ist ihr wesent- licher Charakter, und all ihre Vorzüge und Schwächen, auch ihre Schick- sale, beruhen auf dieser Vermittlungstätigkeit; daß einzelne bedeutende Theologen zugleich originelle Philosophen oder große Historiker sind, ist dabei nicht ausgeschlossen, aber dem Geiste des Ganzen gegenüber Zufall. Im ganzen folgt die Theologie hierbei überall in weitem Abstand der Entwicklung der allgemeinen Wissenschaft und Philosophie. Ihre Geschichte ist die Geschichte der Übernahme und Adaptierung oder Be- kämpfung und doch zugleich Plünderung der philosophischen Religiosität. Sie trägt größtenteils die alten Kleider der Philosophie auf oder schneidert sich aus ihnen neue passende Gewänder zurecht. Wirkliche religions- philosophische Originalität kommt dabei nur wenigen wie Schleiermacher, Kierkegaard und Richard Rothe zu. Andere wie Ritschi, Frank, Bieder- mann geben übernommenen Gedanken wenigstens eine kraftvolle und be- deutende Wendung, ihre ganze Feinheit und Energie, ihre Kraft und ihr Wissen geht in der immer erneuerten Kombination auf, in dem heißen Bemühen, das überkommene Erbe den neuen Verhältnissen anzupassen. Nur

AA.6 Ernst Troeltsch: Prolcstantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

in einer Richtung erwirbt sie ein neues und selbständiges Arbeitsgebiet, in der historischen Erforschung der Entwicklung des Christentums, vor allem in der der großen Grundlagen und Knotenpunkte. Die Religionsgeschichte Israels, die Begründung des Christentums durch Jesus und Paulus, die Ent- stehung des Katholizismus und des Mittelalters, die Reformation rücken mit dem modernen historischen Denken und der Ausbildung der philologischen Methoden in eine völlig neue Beleuchtung. Was die wissenschaftliche Theologie hier geleistet hat, ist in der Tat großartig, ausgezeichnet durch weiten Blick über große Perioden und durch Feinheit der Nachempfindung und Analyse. Freilich steht sie auch hier zunächst unter dem Impuls der allgemeinen Methoden und Denkweisen und ist langsam genug auf diese Forschungen eingegang"en. Zunächst behalf sie sich mit umständlicher gelehrter Kommentierung und rein sprachlicher Forschung. Seit aber David Friedrich Strauß unter Zusammenfassung' der entwicklungsgeschicht- lichen Methode des deutschen Idealismus und der g'elehrten Kommentie- rung' der älteren Generation den Anstoß zu einer rückhaltlosen historischen Forschung gegeben hat, ist die Arbeit in vollster Tätigkeit und rastlosem Fortgang'. Dabei steht die historische Arbeit der Theologie immer zugleich unter einem besonderen theologischen Motiv. Es handelt sich für sie nie bloß um Feststellung des Gewesenen, sondern zugleich um die Ab- schätzung' der religiösen Bedeutung des Gewesenen, um die Anknüpfung religiöser Impulse und Erkenntnisse an den von der Forschung aufge- deckten Sachverhalt; es handelt sich für sie immer zugleich um den Offenbarungsbegriff und um die Umbildung dieses Begriffes durch die neuen historischen Erkenntnisse. Das Christentum ist und bleibt positive Religion, und sein Wesentliches bleibt daher immer die Anknüpfung seiner relig'iösen Ideen an das lebendige persönliche Leben, an die tatsächliche Offenbiirung der g'öttlichen Kräfte in der geschichtlichen Wirklichkeit. Urchristentum und alte Kirche verschmolzen in einer wissenschaftlich und historisch völlig unkritischen Atmosphäre das Geschichtliche und das Religiös -Gegenwärtige, machten durch das große Christusdogma das Ge- schichtliche zur Menschwerdung des Göttlichen, und auf solchen Offen- barungsglauben konnte und mußte sich ein allbcherrschendes Eebens- und Kultursystem aufbauen, wie Mittelalter und Alt-Protestantismus es ge- wesen waren; die Menschwerdung Gottes tilgte in Christus und der Bibel alles Menschlich-Relative aus, und diesen absoluten Maßstäben mußte alles Menschliche unterworfen werden. Aber nun hob die historische Forschung erst das Menschlich-Bedingte in dem Christusbilde und in der Bibel hervor, und bald verschlang sie beide in den Gang einer mensch- lich-geschichtlichen Entwicklung, die nur die Originalität und geistige Schöpferkraft des Heros übrig ließ. Vom Trinitätsdogma kam man auf die paulinisch-johanneische Lehre und von ihr auf den historischen Christus. Von da aus galt es die ganze christliche Ideenwelt auf eine neue histori- sche Basis, auf einen neuen Offenbarungsglauben, zu stellen. Die einen

D. Der nuid. T'rot. (i8.u. iq. Jaliili.V VIII. Der mod. Prot, in soinoni IconkrotPii ricsamtlchrn ii^w. .147

opferten bcn der Unsicherheit aller Üb(>rheferung" und dem stark legcnda- rischen Charakter des biblischen C'hristusbildes die historische Begründung- ganz und hielten sich an die christliche Gottesidee und Ethik als an die Offenbarung- Gottes in der Entwicklung des menschlichen Geistes; die anderen setzten in die Erforschung Jesu besondere auf innere Erfahrung begründete relig-iöse Motive und Postulate ein, die den Mythus hier schonender zu behandeln veranlassen sollten, als auf nichtchristlichem Gebiet; und wieder andere glaubten, an das bei strengster historischer Forschung verbleibende Große und Gewaltige, an die durch die Jahr- hunderte wirkende gotterfüllte Persönlichkeit Jesu, Nachfolge, Glauben und Liebe anknüpfen zu können und zu sollen. Von dieser Veränderung im Zentralpunkt des Systems gehen die tiefsten Wirkungen aus; das alte christologische Dogma und der Mythus sind zersetzt, Trinitäts- und Ge- nugtuungslehre aufgelöst oder unsicher gemacht, dem Sakraments- und Kirchenbegriff die Wurzel entzogen, der direkte Verkehr mit der Bibel erschwert. Vor allem aber ist der Ofifenbarungsbegriff in seiner innersten Wurzel verwandelt, und völlig unfähig, ein allgemeines supranatural orien- tiertes Kultursystem, wie das des Mittelalters und des Alt-Protestantismus, zu tragen. Es gibt nur mehr qualvolle Repristinationen der alten Christo- logie, die genug an sich selbst zu tragen haben und daher ihrerseits nichts anderes mehr tragen können, oder freien Glaubensanschluß an die Persön- lichkeit Jesu, die Kräfte der Gesinnung und Festigung im Glauben von sich ausgehen läßt, aber nichts mit unwandelbaren Maßstäben normiert, oder schließlich allerhand Verworrenheiten und rhetorische Überschwenglich- keiten. In diese Krisis des Offenbarungsbegriffes ist dann aber auch der Erlösungsbegriff hineingezogen. Wo ein supranaturaler Eingriff Gottes in die übrigens sich selbst überlassene Welt vorliegt, da kann dieser Eingriff zugleich ein einmaliges zentrales Erlösungswunder sein. Die paulinische Lehre, die die Geschichte aus dem Jesusbilde ausgetilgt hat, konnte Jesus und seinen Tod auch zur Erlösung von Sünde, Gesetz und Tod machen. Aber wo das Geschichtliche im Christusbilde wiederhergestellt wird und Jesu Leben und Tod schließlich den allgemeinen historischen Gewalten verfällt, da kann die Erlösung nicht mehr ein einmaliges in ihm voll- zogenes Wunder sein. Überdies wirken die Bedenken moderner Ethik und des modernen Gottesbegriffes gegen ein stellvertretendes Strafleiden und gegen einen kosmischen Verwandlungszauber. So kommt es zur Um- bildung des ErlösungsbegTiflfes und zum Kampf um ihn. Die einen bleiben bei dem von Jesus vollbrachten Erlösungswunder, aber ethisieren und verinnerlichen es zu einer stellvertretenden Anerkennung menschlicher Sündhaftigkeit und zur Grundlegung eines reineren religiösen Lebens, die anderen verlegen die Erlösung" in die Religion überhaupt, in die wahre Gotteserkenntnis, und sehen in Jesus nur den Führer zur höchsten, am innerlichsten wirkenden und zugleich rein ethischen Erlösung durch Gott selbst.

AaS Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

Entwicklung Am Anfange, wo das natürliche System der Geisteswissenschaften

mit der Theologie in dem normativen Geiste und den begrifflichen Mitteln noch übereinstimmten und ein freudiger Fortschrittsglaube alles beherrschte, war die Vermittlung noch leicht; sie bestand im wesentlichen darin, daß in Übernahme der sozinianischen und arminianischen Kritik die großen altkirchlic!ien Dogmen der Trinität, der Gottmenschheit Christi, der Satis- faktion und der Welt- und Menschheitsverderbung durch die Erbsünde ab- getragen wurden; sie sind seitdem für das allgemeine wissenschaftliche Bewußtsein nicht wieder aufgestanden. Außerdem wurden die ersten Grundlagen einer kritischen, religionsgeschichtlichen und religions ver- gleichenden historischen Forschung in Bibel, Kirchen- und Dogmen- geschichte gelegt. Die positive Lehrdarstellung hielt sich wesentlich an eine Vereinerleiung der christlichen Idee mit der natürlich-rationalen Meta- physik und Ethik des natürlichen Systems, wobei nur die einen mehr die inhaltliche Übereinstimmung, die andern mehr die formelle Ver- schiedenheit, d. h. den Vorzug des Christentums, auf supranaturaler Offen- barung und Kräftigung seiner Wahrheiten zu beruhen, betonten. Es ist eine mehr oder minder weitgehende Angleichung an die von Locke, Leibniz und Wolff geschaffene philosophische Religionslehre. Schwie- riger wurde die Vermittelung im 19. Jahrhundert nach der pietistischen Restauration des Kirchentums und nach der Fortentwicklung des wissen- schaftlichen Geistes durch die evolutionistische Metaphysik und Ge- schichtslehre des deutschen Idealismus, wozu dann als ein neues Motiv noch die Attacken der auf die Naturwissenschaften begründeten natura- listischen Philosophie kamen. Von nun ab gingen die Wege immer weiter und bunter auseinander. Das eine Extrem bildet die Tübinger Schule, die die Anfänge der rationalistischen Geschichtsforschung zu einer wirklich universalhistorischen Auffassung fortbildete und zugleich die reli- giöse Idee selbst als in diesem geschichtlichen Werden sich entfaltend an- sah. Sie sind die ersten Begründer einer im eigentlichen Sinne modernen wissenschaftlichen Theologie, und auf den Zusammenhang mit ihnen weist alles näher oder femer zurück, was heute an eigentlicher wissenschaftlicher Arbeit geschieht. Sie gehen auf Hegel, d. h. auf die Religionsphilosophie des deutschen Idealismus zurück und wahren die kirchliche Bestimmung der Theologie mit Hegel durch die Theorie von dem Nebeneinander der religiösen Idee und ihrer populären Vorstellungsform; die Philosophie hat die religiöse Wahrheit in der Gestalt der Idee, die Theologie hat sie in der Gestalt der Vorstellung; die Theologie pflegt diesen Vorstellungs- besitz vor allem durch geschichtliche Erforschung seiner Entstehung und geschichtliche Darstellung seines Reichtums; in der Dogmatik vollzieht sie die möglichste Konformierung der von den religiösen Heroen getragenen Vorstellung an die Forderungen der Idee. Das andere Extrem bildete die Hengstenbergische Schule, welche auf pietistischer Grundlage das Bibel- christentum wieder aufrichtete, alle historische Forschung an die An-

D. Der niod. Prot. (i8.u. Mj.Jahih.). VIII. I)rr nxxl. l'rol. in scinfn» konkreten Gesanitlflx-n u.-.w. 440

erkennung- einer weniq-stens jirundleg-enden Übernatürlichkeit der liibel und Heilsg-eschichte baiul und die doj^fmatische Theologie irgendwie auf die übernatürliche Versöhnung" und Krlösung im Werke Christi begrün- dete; hier herrscht die Theorie von der inneren Erfahrung, die, auf der Sündenerfahrung beruhend, von der Erbsünde aus das Erlösungswunder postuliert und die Erlösung auf Grund der Bibellektüre als Erfahrung bezeugt; sie ist Zeugnis- und Erfahrungstheologie, die entweder die Er- fahrung von der erlösenden Wirkung der Bibel zugrunde legt und dann zum Biblizismus wird oder von der Erlösungserfahrung im allgemeinen ausgeht und von ihr aus die dogmatischen Lehrsätze postuliert, die dann von Bibel und Kirchenlehre bestätigt werden. Von da aus sind An- lehnungen an die idealistische Lehre Schellings und später an die empi- rische Psychologie erstrebt worden; die unerträglichsten Spitzen der antik- mittelalterlichen Weltanschauung werden abgebrochen, Christologie und Genugtuungslehre mannigfach erweicht; im ganzen aber besteht das alte anthropozentrische Weltbild mit dem Supranaturalismus des Erlösungs- wunders, mit Engeln und Teufeln fort. Sie hat jedenfalls nicht über die gelehrte Theologie, aber über die Geistlichen im ganzen die Herrschaft davon getragen; sie ist die populärere und faßlichere Macht. Zwischen beiden Extremen bewegen sich die buntesten Kombinationen, unter ihnen aber nur eine wirklich groß und bedeutend, die Lehre Schleiermachers (gest. 1834), welche die Theologie bewußt und prinzipiell als Kompromiß von Religionswissenschaft und praktisch - kirchlicher Arbeit auffaßte, die Dogmatik als Darstellung der vollendeten religiösen, nicht im Erkennen, sondern im Gefühl wurzelnden, Menschheitsidee in den Formen der kirch- lichen Überlieferung bezeichnete und so ihr prinzipiell eine exoterische Aufgabe stellte, die auch von dem Geistlichen die möglichste Einkleidung seiner persönlichen religionswissenschaftlichen Überzeugung in biblisch- kirchliche Formeln, freilich aber dann auch eine offene Preisgabe des un- verkennbar Überlebten, verlangte. Die Tendenzen Schleiermachers sind in einer ähnlich großen Weise nur von Ritschi (gest. i88q) wieder aufgenommen worden, der Schleiermachers Neigring zum ästhetischen Pantheismus durch stärkeren Anschluß an die Ethikotheologie Kants korrigierte, aber bei weit geringerem philosophischen Interesse als Schleiermacher nur die Unabhängigkeit der Religion von der Metaphysik proklamierte und im übrigen die christlichen Ideen mit stark lutherisch- kirchlicher Ten- denz als religiöse Befähigung zur ethischen Gesinnungsautonomie, zur freien gewissenhaften Berufserfüllung- und zu einem allem Leid trotzenden Vorsehungsglauben darlegte; von da aus hat er eine eigentümliche histo- rische Anschauung von der Geschichte des Christentums entwickelt, die in der Verherrlichung von Luthers unphilosophischer Gesinnungsreligion und Berufsethik gipfelt, dabei aber die protestantische Askese und den Zusammenhang mit Geist und Dogma des Mittelalters unterschätzt. In diesen drei Hauptgruppen bewegt sich die deutsche Theologie; sie hat

DiK Kultur ukk Gegenwart. I. 4. 29

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

darin nach und nach in Holland, Frankreich, England und allmählich auch in Amerika ebenbürtige Nachfolger gefunden. Eine Religion des Glaubens und der persönlichen Überzeugung muß naturgemäß allen Wert legen auf den Gedanken, und so ist die Arbeit an der Theologie und der Kampf um die Theologie ein Hauptlebensinhalt des Protestan- tismus geworden, während der Katholizismus seine großen Dogmen als unantastbare Kircheninstitutionen außerhalb jeder Diskussion hält und praktisch sich den verschiedensten, von ihnen ganz unabhängigen Inter- essen hingeben kann. Der beständige Kampf um das Dogma aber hat für den Protestantismus wie etwas Belebendes so auch etwas Aufreiben- des, und es ist sein Hauptinteresse, diesen Kampf, sei es durch Kirchen- spaltungen, sei es durch Verträglichkeit verschiedener Richtungen unter einem Kirchendach, zu beenden. Neben dieser wissenschaftlichen ver- bleibt die spezifisch pietistische Theologie, die lediglich im erbaulichen Bibelstudium besteht und um die Ideen der Bekehrung, Genugtuung und Heiligung mit fast technischer Ausbildung einer bestimmten religiösen Psychologie sich bewegt, im übrigen die Wissenschaft mit zu der Welt rechnet, die den Weltkindem zu überlassen ist. Von beiden wieder unter- schieden ist die rein traditionalistische Theologie der englischen und besonders amerikanischen Kirchen, die die Kontroversen des 17. Jahr- hunderts fortsetzt und sich nur als effektvolle Rhetorik modernisiert hat, im übrigen aber hinter der praktischen Betriebsamkeit und dem äußeren Konkurrenzkampfe der Denominationen zurücktritt. Die Flucht ins Prak- tische ist das Mittel, den eindringenden modernen Ideen zu entgehen, während man über das unfruchtbare Theoretisieren der deutschen Theo- logie sich erhaben fühlt. Schluß- Der Blick auf die Kämpfe der Theologie erneuert den Eindruck

betrachturifj. t-» i i

der Zerklüftung, den der moderne Protestantismus auch von anderen Seiten her darbot. Und es ist kein Zweifel, daß diese Zerklüftung ein kritischer Zustand ist, der so nicht ewig dauern kann. Große Verände- rungen liegen in der Luft. Allein die Zukunft zu prophezeien, ist nicht Aufgabe des Historikers; es ist Aufgabe des Willens und der Über- zeugung, sie zu machen. Was eine unbefang^ene Geschichtsforschung lehrt, das ist der fundamentale Unterschied zwischen Alt- und Neu- Protestantismus. Die religiöse Geisteseinheit, die religiöse Volkskultur und ihre Begründung auf die zusammenwirkenden Institutionen der Kirchen- anstalt und des aus dem sittlichen Naturgesetz hervorgegangenen Staates sind nicht bloß als Wirklichkeit, sondern auch als Forderungen ver- schwunden. Der Geist der Independenz und der freien Überzeugungs- gemeinschaft, die Ausgleichung der Religion mit einer neuen Wissen- schaft, wie sie seit Bildung der Kirche nie vorhanden war, sind seine charakteristischen neuen Züge. Auf dieser neuen Basis erzeugt er die beiden Haupterscheinungen des asketischen Pietismus und der mit der Welt sich ausgleichenden Bildungsreligion. Die fortgeführten Kirchen-

I). Drr mod. Prot. ( i8.u. ro. Jahrb.). \'III. Der mod. Prot, in seinem konkreten Gesamtleben usw. ^c j

org'anisationcn und die weiter neu ,i»"ebildeten .stehen unter den EinHüssen beider Strömuncfen und haben ein richtig-es Verhältni.s beider bi.s jetzt nicht q-efunden, obwohl beide unverkennbar tief in der men.schHchen Natur wurzehi und sich irgendwie miteinander einrichten und vertragen müs.sen, Sie können sich beiderseitig befruchten und stehen beide einem außer- ordentHchen Verfall des religiösen Gedanken.s und Lebens in der modernen Welt kämpfend gegenüber. Das ist die Lage der Gegenwart. Das Ideal, das die Alten und das Mittelalter vor sich hatten, der Gedanke einer ein- heitlichen, von religiösem Geist erfüllten Kultur, ist vorläufig in weiter blauer Feme der Vergangenheit, und seine Erneuerung auf dem Boden der freien geistigen Übereinstimmung ist etwas, wonach sich der ermüdende Individualismus allmählich immer .stärker sehnen wird, aber vorläufig in mindestens ebenso blauer Ferne der Zukunft.

Literatur.

Eine wissenschaftliche Erforschung des Protestantismus unter rehgions- und kuhur- geschichthchen Gesichtspunkten gibt es, wie überhaupt eine wissenschafthche Geschichte des Christentums, erst seit den Arbeiten der Tübinger Schule. Unter ihren \'orgängern sind nur die heute noch wertvollen Arbeiten Plancks (Geschichte des protestantischen Lehrbegriffes, 1781 f.) hervorzuheben, alles übrige hat nur Materialwert. Die Gesichtspunkte der Tübinger (Baur, Zeller, Schneckenburger, Weingarten, auch Alex. Schweizer) sind dabei überwiegend darauf gerichtet, in der Reformation die Entstehung der modernen autonomen Überzeugungs- religion und -Sittlichkeit, sowie den spekulativen, der modernen Philosophie homogenen Gehalt ihres Gottesbegriffes zu zeigen. Eine zweite Gruppe bedeutsamer Forschungen und Auffassungen hat RiTSCHL eingeleitet (außer RiTSCHL selbst Harnack, Loofs, Goitschick, Herrmanx, Kattenbusch, auch Seeberg), wobei der reformatorische Gedanke unabhängiger von seinem spekulativen Gehalt und mehr in seiner eigentlich religiösen Besonderheit erfaßt ist; doch ist die ganze Betrachtung hier einseitig lutherisch, das Luthertum stark modernisiert, der Abstand Luthers von der Orthodoxie überschätzt und die umwandelnde Bedeutung der modernen Welt unterschätzt; auch ruht diese Auffassung auf einer sehr einseitigen Betrachtung des Mittelalters, an dem fast nur die areopagitische und neuplatonische Unterbauung des Systems beachtet wird; andrerseits ist dann auch im Luthertum der hier fortbestehende, nur andersartige Abstand zwischen Gott und Welt unterschätzt und den Reformatoren eine allzu weltfreudige Lebensauffassung zugeschrieben. An die Forschungen der Ritschlschen Schule schließt sich Dilthey an (Archiv f. Gesch. der Philos. IV, V, VI und Preuß. Jahrb. 1894), indem er einerseits die Weltfreudigkeit der Reformatoren noch steigert und sie aus der Weltbejahung der städtischen Kultur ableitet und andrerseits die Refomiation in das Ganze der der modernen Welt zuströmenden Geistesentwicklung einreiht. Das erste ent- spricht nicht den Tatsachen und das zweite unterschätzt trotz der äußerst lehrreichen Einzel- ausführungen den Zusammenhang der Reformation mit dem Mittelalter. In der letzteren Hinsicht findet man weitaus richtigere Ansichten in den kirchenrechtshistorischen Arbeiten von K. Rieker. Die Profanhistoriker Ranke, Bezold, Erdmannsd()rffer, Gardiner, Rn TER, Marcks haben im Grunde doch immer nur den politischen Rahmen der rehgions- geschichtlichen Ereignisse gezeichnet, und, so unentbehrlich diese Arbeiten auch für die Religionsgeschichte sind, diese selbst ist von ihnen wesentlich den theologischen Darstellungen entnommen. Einen besonders wichtigen Beitrag hat ein Teil der katholischen Forscher ge- liefert; die Werke von Kampschulte, Mühler und A. Ehrhardt können durchaus ihren Einfluß auf die Auffassung des Protestantismus verlangen.

Dem Verfasser der vorliegenden Darstellung scheint die heutige Aufgabe vor allem eine klare Herausarbeitung des Verhältnisses zum Mittelalter und zur modernen Welt zu sein, und zwar scheint ihm das am deutlichsten in der Herausstellung der ethischen Ge- danken bewirkt werden zu können; er geht aus von den Oundlinien einer Geschichte der christlichen Ethik, wie er sie sich denkt und wie er sie mehrfach bereits angedeutet hat; vgl. ,, Grundprobleme der Ethik", Zeitschr. f. Theologie und Kirche 1902; Anzeige von See- bergs ,, Dogmengeschichte", Gott. Gel. Anzg. 1901 ; Artikel ,, Moralisten, Englische" in Herzogs Realenzyklopädie''; ,, Politische Ethik und Christentum" (^Göttingen, 1894). Die für Mittelalter

Literatur.

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und Protestantismus gleich wichtige Ergänzungstheorie von der Lex naturae ist von ihm für das Luthertum historisch dargestellt in „Vernunft und Offenbarung bei J. (ierhard und Melanchthon" (Göttingen, 1891).

Unter den gebräuchlichsten Handbüchern der protestantischen Religions- und Kirchen- geschichte ist KURIZ, ,, Lehrbuch der Kirchengeschichte für Studierende" II, 13. Aufl. i^Lcipzig, 1899) durch Reichtum an Stoff und Mangel an Ideen, MöLLKR-Kawerau, ,, Lehrbuch der Kirchengeschichte" III (Freiburg, 1894) durch den Einschlag feiner Spezialforschungen Ka- WERAUs, NiPPOLD, ,, Handbuch der neuesten Kirchengeschichte"' (Berlin, 1889 ff.) durch Mangel an Stoff und Zerflossenheit der Ideen charakterisiert. Vielversprechend ist die von aller Schablone freie, auf sorgfältigster Forschung beruhende, aber erst in den Anfängen stehende Arbeit von Kaki. MÜLLp:r, ,, Grundriß der Kirchengeschichte" II (Tübingen, 1902). Vortreffliche Dispositionen und wertvolle Hinweise gibt LOOFS, ,, Grundlinien der Kirchen- geschichte" (Halle, 1901).

S. 257. Renaissance: K. NEUMANN, ,,Rembrandt" (Stuttgart, 1902) und ,, Byzantinische Kultur und Renaissancekultur" (Stuttgart, 1903).

S. 257. Verhältnis des Paulinismus zur Reformation: Wernle, ,,Der Christ und die Sünde bei Paulus" (Freiburg, 1897).

S. 259. mediana und favor: Corpus Reformatorum XXI 158 (Braunschweig, 1854); Luthers Petschaft: De WETTE, „Luthers Briefe" IV (Berlin, 1827) 79 f.; Rechtfertigung: ,,Ideo justificamur, ut justi bene operari et obedire legi Dei incipiamus" (Symbolische Bücher der evang.-Iuther. Kirche, herausgeg. von J. T. Müller** [Gütersloh, 1886], S. 146).

S. 261. Lex naturae: Troelisch, ,,Joh. Gerhard und Melanchthon" und Anzeige von Seebergs ,, Dogmengeschichte" (Gott. Gel. Anz. 1900).

S. 263. Protestantische Askese: die ausgezeichneten Abhandlungen von Max Weber (Archiv f. Sozialwissenschaft u. Sozialpolitik XX u. XXI); Troeltsch, ,, Moralisten, Englische" a. a. O. und „Grundprobleme" a. a. O. S. 154, 165.

S. 263. Das Wort P'rancks bei Hegler, ,, Geist und Schrift bei Seb. Franck" (Tü- bingen, 1892) S. 26.

S. 267. Psychologisierung der Religion bei den Reformatoren: Troeltsch, Anzeige von Seebergs ,,Duns Scotus" in Gott. Gel. Anz. 1903.

S. 269. Theologie der Florentiner und Erasmus: Wernle, ,,Die Renaissance des Christentums" (Tübingen, 1904).

S. 271. Universalismus des Erasmus: I3ILTHEY, Archiv f. Gesch. d. Philos. V 341—348, VI 87; seine anfänglich stark lutherfreundliche Stellung: Kai.kOFF, ,,Vermittelungspolitik des Erasmus und sein Anteil an den Flugschriften der ersten Reformationszeit", Archiv f Ref.- Gesch. 1904.

S. 273. Übergang der Evangelientheologie zur paulinischen Theologie der Reformation : Wernle, a. a. O. S. 33 f

S. 274. Antitrinitaricr und Soziniancr: Trechsel, ,,Die protestantischen Antitrinitarier vor Faustus Socin" II (Heidelberg, 1844), und FOCK, ,,Der Sozinianismus" (Kiel, 1847).

S. 275. Comheert: DiLTHEY, Archiv f. Gesch. d. Philos. VI S. 487—496, und BUSKEN- HuET, „Rembrandts Heimat" (Leipzig, 1886/ 1887) II 21 26; Arminianismus: Schweizer, ,,Die Zentraldogmen der reformierten Theologie" (Zürich, 1854/56); Grotius: Dilthey a.a.O. VI 90—93.

S. 276. Luther: die bekannten Biographieen von KüSTLIN, 2 Bde., 5. Aufl. (Berlin, 1903), Lenz, 2. Aufl. (Berlin, 1883), Buchwald (Leipzig, 1902^, Berger (Berlin, 1895), R.\DE (Tübingen, 1901), Koldk (Gotha, 1884/89 93), Hausrath, 2 Bde. (Berlin, 1904).

S. 280. Luthers Stellung zum Staat: G. J.\GER, „Politische Ideen Luthers und ihr Ein- fluß auf die innere Entwicklung Deutschlands", Preuß. Jahrbb. 1903; E. Brandenburg, ,, Martin Luthers .\nschauung vom Staat und der Gesellschaft", Schriften des Vereins f. Ref- Gesch., Halle, 1901; die Lex naturae bei Luther: E. Ehrhardt , ,,La notion du droit

454

Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der >Jeuzeit.

natural chez Luther" in Etudes de theologie et d'histoire, Festschrift von Paris fiir Mon- tauban 1901; die Ethik Luthers: Kapp, „Rehgion und Moral im Christentum Luthers" (Tübingen, 1902).

S. 281. Die rehgiösen Grundideen Luthers: GOTTSCHICK, ,,Die Heilsgewißheit des evangelischen Christen im Anschluß an Luther", Z. f. Theologie u. Kirche 1903; sein Verhält- nis zu den übrigen Gruppen vorbereitender Reform: W. KÖHLER, ,, Luther und die Kirchen geschichte" I (Erlangen, 1900).

S. 283. Die Wandlungen Luthers: W. Köhler, , .Reformation und Ketzerprozeß" (Tü- bingen, 1901), und O. Scheel, ,, Luthers Stellung zur Heiligen Schrift" (Tübingen, 1902).

S. 283. Bezugnahme auf das Alte Testament bei der Berufslehre: K. Eger, ,,Die An- schauungen Luthers vom Beruf" (Gießen, 1900), S. 124.

S. 284. Die Berufslehre Luthers: Eger, die eben genannte Schrift, und Max Weber, ,,Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" I, Archiv f. Sozialwiss. u. Sozialpol. XX, 1904.

S. 287. Zwingli: RUDOLF Stähelin, H. Zwingli (Basel, 1895/97), Baur, Zwingiis Theo- logie (Halle, 1885/89), Zeller, Theologisches System Zwingiis (Tübingen, 1853).

S. 291. Zwingiis Ideal des christlichen Gemeinwesens: HuNDESHAGEN, ,, Beiträge zur Kirchenverfassungsgeschichte und Kirchenpolitik insbes. des Protestantismus" I (Wies- baden, 1864).

S. 296. Die Täufer: CORNELIUS, ,, Gesch. d. Münsterschen Aufruhres" (Leipzig, 1855,60); E. Belfort Bax, Rise and fall of the anabaptist (London, 1903); Gesamtcharakteristik bei Hegler, ,,Seb. Francks lateinische Paraphrase der deutschen Theologie" (Tübingen, 1901) und ,, Geist und Schrift bei Seb. Franck" (Tübingen, 1892).

S. 297. Unterschied der Lex naturae in Naturstand und im Sündenstand: Zwingli, ,,Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit" (Werke, hgg. v. SCHULER u. SCHULTHESS Bd. I [Zürich, 1828] S. 428 ff.), und HoOKER, ,,The laws of ecclesiastical polity" 1594 (Morleys Universal Library, London, 1888) S. 94 ,,Howbeit the corruption of our nature being pre- supposed, we may not deny but that the law of nature doth now require of necessity some kind of regiment; so that to bring things into the first course they were in, and utterly to take away all kind of public government in the world , were apparently to overturn the whole world". Ähnlich S. loi.

S. 300. Holländische Spiritualen und Täufer: Hylkema, ,,Reformatcurs" (Haarlem, 1900/02).

vS. 303. Analyse der Geistlehre und der Spiritualisten bei R. Grütz.macher, ,,Wort und Geist" (Leipzig, 1902).

S. 305. Calvin: Kampschulte, ,, Calvin, sein Staat und seine Kirche" (Leipzig, 1869/99), Cornelius, ,, Historische Arbeiten" (Leipzig, 1899), Choisy, La theocratie ä Gencve (Genf, o. J.).

S. 307. Calvins Prädestinationslehre: Al. Schweizer, ,, Zentraldogmen" (Zürich, 1856/58), und W. Scheibe, ,, Calvins Prädestinationslehre" (Halle, 1897); Zusammenhang Calvins mit Butzer und durch ihn mit Zwingli und den Täufern: LANG, ,,Der Evangelien- kommentar Martin Luthers" (Leipzig, 1900), dazu die Anzeige von W. Köhler in Gott. Gel. Anz. 1902; der Zusammenhang mit Straßburg: Anrich, ,,Die Straßburger Reformation", Christi. Welt 1905 S. 602 IT. u. 63off. ; die geschichtlichen .\ntezedentien dieses volunta risti- schen Gottesbegriffcs: K.\HL, ,, Lehre vom Primat des Willens bei .\ugustin, Duns Scotus und Descartes" (Straßburg, 1886); leider ist der Calvinismus nicht mitbehandelt; auch RiTSCHL, ,, Geschichtliche Studien zur christlichen Lehre von Gott" (Jahrbb. f. deutsche Theo- logie 1865 u. 1868), eine literargeschichtliche Behandlung eines nicht literarischen Problems. S. 311. Calvins Institution in ihren verschiedenen Ausgaben: J. KÖSTLIN, ,,Über Calvins Institutio" in ,, Studien u. Kritiken" 1868.

S. 313. Die verschiedenen Typen von Kirchenbegriff und Kirchen Verfassung, die hier konkurrierten: HUNDKSHAGKN, ,,Konllikte des Zwinglianismus, Luthertums und Calvinismus in der Bernischen Landeskirche" (Bern, 1842).

Literatur.

455

S. 313. Calvins Asketismus. MARTIN ScHUl-ZE, „Meditatio futurac vitae" (Leipzig, 1901); die calvinistischc Moral: Max Wf.ber, „Protest. Ethik usw." (a. a. O.).

S. 315. Zum (ianzen: M. Riiter, ,, Gesch. d. Gegenreformation" (Stuttgart, 1889/95); B. Erdmannsdörffkr, ,, Deutsche Geschichte" 1648— 1740 (Berlin, 1888/93); W. Röscher, ,, Gesch. d. Nationalökonomik" (München, 1874).

S. 317. Die Ausbreitung: K. MÜLLER, ,, Grundriß d. Kirchengesch." II (Tübingen, 1902), und M()LLER Kawkkau, ,, Lehrbuch d. Kirchengesch." III (Freiburg, 1894).

S. 318. Seckendorff und der Geist der preußischen Regeneration: G. J.\GER, ,,Die poli- tischen Ideen Luthers und ihr Einfluß auf die innere Entwicklung Preußens", Preuß. Jahr- bücher 1903.

S. 319. Staatskirchentum : RiEKER, ,,Die evangelische Kirche Deutschlands in ihrer rechüichen Stellung" (Leipzig, 1893), doch ist hier das Gemeindeprinzip zu sehr unter- schätzt.

S. 320. Der Kultus: Kawerau-Möller a. a. O. III 359fr.

S. 321. Die Lchrkämpfe: Planck, ,,Ciesch. d. prot. Lchrbegriffes" (Leipzig, 1781 ff.); der Symbolzwang: Johannsen, „Die Anfänge des SjTiibolzwanges" (Leipzig, 1847).

S. 323. Charakter der Theologie und Melanchthons Universität: Tro?:ltsch, „J. Ger- hard und Mclanchthon"; Ellingkr, ,,Melanchthon" (Berlin, 1902).

S. 323. Die Erbauungstheologie: Ritschl, ,,(^esch. des Pietismus" II (Bonn, 1884).

S. 324. Die Ethik des Luthertums: die besten Literaturangaben bei Luthardt, ,,(iesch. d. Christi. Ethik" II (Leipzig, 1888); femer Hoennicke, „Studien zur altprotest. Ethik" (Berlin, 1902); wichtige \'eranschaulichung bei Schauenburg, ,, Hundert Jahre oldenburgischer Kirchengeschichte" (Oldenburg, 1894 ff.), und V. L. v. Seckendorff, ,,Teutscher Fürstenstaat"; ich brauche die .Ausgabe von 1687; auch Uhlhorn, ,, Christliche Liebestätigkeit" III (Stutt- gart, 1890).

S. 329. Das Widerstandsrecht: die umfassende Darstellung von Cardauns, ,, Lehre vom Widerstandsrecht des Volks im Luthertum und Calvinismus" (Bonner Inaug.-Dissert. 1903).

S. 329. Ehre Gottes: Seckendorff a. a. O. S. 56.

S. 330. Der Anspruch auf Rechtsschutz usw.: ebenda S. 72.

S. 331. Würde der Beamten: ebenda S. 194; Antrag auf Haustaufc: Uhlhorn a.a.O. III S. 257.

S. 332. Ständetrennung: SECKENDORFF a. a. O. S. 206; die Tagelöhner: S. 210; die Erwartung der Behauptung eines Existenzminimums: .S. 205.

S. 334. Die Ausbreitung: Karl Müller a. a. O. und Möller-Kawerau a. a. O.

S- 337- I^ie amerikanischen Kirchengründungen: Robert Ellis Thompson, ,,.\ Hi- story of Presbyterian church in thc United-States" (New York, 1895;, H. K. Caroll, ,,The reli- gions forces of the L'nited- States" 1893 ""^ I- ^^- Bacon, ,,A history of American Chri- stianity" 1897 (Bd. VI, I u. XIII der American Church History Series), Doyle, „The English in America", 2 Bde. (London, 1887).

S. 338. Der Kirchenbegriff : Rieker, ,, Grundsätze reformierter Kirchenverfassung" (Leipzig. 1899).

S. 342. Die Zustände in Genf: Choisv, ,,L'dtat chretien calviniste ä Geneve au temps de Beze" (CKinf, o. J.); John Kno.x und das Widerstandsrecht : Cardauns a. a. O.; der Huge- nottismus: E. .Marcks, „Coligny" I i (Stuttgart, 1892); Ranke, „Französische Geschichte", und Cardauns a. a. O. ; Giercke, „Althusius"* (Breslau, 1902); M6alv, ,,Les publicistes de la reforme sous Fran^ois II et Charles IX" (Pariser Th^se, Dijon, 1903;.

S. 344. Die Niederlande: v. Hoffal\nn, ,,Das Kirchenverfassungsrecht der niederlän- dischen Reformierten" (Leipzig, 1902); BusKEN-HuET a. a. O.; Ritschl, „Geschichte des Pie- tismus" I Bonn, 1880).

S. 345. Neu-England: DOYLE, „The English in America", 2 Bde. 'London, 1887).

S. 346. Winthrops „.Model of Christian charity" ebenda I 133; Gewissensfreiheit: II 103; wahre Freiheit: I 356.

S. 347. Die Universitäten: BORGEAUD, ,,L'academie de Calvin" Genf, u/X),; \'emunft

456

Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

und Offenbarung im Calvinismus: Alex. Schweizer, „Die Glaubenslehre der ev.-ref. Kirche" I (Zürich, 1844). Eine Darstellung, wie ich sie in meinem ,,J. Gerhard und Melanchthon" zu geben versucht habe, wäre für das reformierte Gebiet dringend zu wünschen; erst das würde auch die Vorgeschichte der Aufklärung vervollständigen. Doch ist hier ein sehr viel größeres Terrain zu bestreichen.

S. 350. Die reformierte Theologie: Heppe, ,,Dogmatik der reformierten Kirche" TEIber- feld, 1861); Alex. Schweizer, , .Zentraldogmen" (Zürich, 1856/58).

S. 351. Die Ethik: Schneckenburger, ,, Vergleichende Darstellung des lutherischen und reformierten Lehrbegriffes" (Stuttgart, 1855), und die bereits angeführten Abhandlungen von Max Weber; außerdem Choisy, ,,L'etat chretien" (Genf, o. J.); Kuyper, „Het Cal- vinism", deutsch unter d. T. ,, Reformation wider Revolution" (Gr.- Lichterfelde , 1904). \'er- zeichnis und Analyse der ethischen Literatur: A. Schweizer, , .Entwicklung des Moral- systems in der reformierten Kirche" (Studien u. Kritiken 1850).

S. 353. Die Liebestätigkeit: Uhlhorn a. a. O. IIL

S. 354. Die Identität der Lex naturae mit den alttestamentlichen Gesetzen und Pre- digten: das hochinteressante Gutachten der Venerable Compagnie bei ChoiSY a. a. O. 179 ff. Ausführliche Konstruktion der Lex naturae, ausgehend vom Wesensgesetz Gottes und endend im positiven Recht: Hooker a. a. O. ; hier Illustration des Naturgesetzes aus der Schrift S. HO 1X2. Hooker ist Anghkaner, aber sein erstes Buch ist reformiertes Gemeingut, nur im Detail originell, darin ein Vorgänger Lockes, der ihn oft zitiert.

S. 357. Wirtschaftsleben: Max Weber a. a. O. XXI; die Verwelthchung im geschäft- lichen Puritanismus und Prinzip ,,to make the best of both worlds": Dowden, ,,Puritan and Anglican" (London, 1900) S. 275.

S. 358. Bescheidenheit des Arbeiters: Weber a. a. O. XXI 105.

S. 359. Politisches Leben: JELLINEK, ,, Allgemeine Staatslehre" (Berlin, 1900) S. 214 220, 164 193, 288 294, 366 379; derselbe, ,, Erklärung der Menschenrechte"* (Leipzig, 1905); Regierung der Besten: HoOKER S. 94.

S. 360. Zustimmung der Regierten: HooKER S. 94; Zurückführung des Staates auf göttliche Beanlagung: Hooker S. 100.

S. 362. Die Church of England: Makower, „Verfassung der Kirche in England" (Berlin, 1894); die anglikanische Theologie: Tulloch, ,, Rational theology and Christian philosophy during I7th c." (Edinburgh, 1874), E. DowDEN , ,,Puritan and Anglican" (London, 1900).

S. 363. Die englische Entwicklung: Ranke, Englische Geschichte (Sämtl. Werke" 1890, Bd. 14 22); Charakter des neuen Puritanismus: LooFS, ,,KongregationaHsten" und ,,Familisten", in Prot. Real-Enz.*, sowie Hofmann, ,, Baptisten", ebenda; ferner Bax, ,,Rise of the anabaptists" (London, 1903) S. 332ff. ; auch Dougl.\S Ca.mbpell, ,,The puritan in Holland, England and America" (New- York, 1902), der den Einfluß Hollands übertreibt, aber doch viel Richtiges enthält.

S. 364. Independentismus: WEINGARTEN, ,,Die Revolutionskirchen Englands" (Leipzig, 1868); R. Barclay, ,,The inner life of the religious societies of the Commonwealth" (London, 1876); Gj\rdiner, ,,Cromwell" (London, 1899 ; Sanford, „Studies and illustrations of the great rebellion" (London, 1858); GOOCH, ,,History of english democratic ideas" (Cambridge, 1898); Stern, ,,Milton und seine Zeit" (Leipzig, 1876/79).

S. 366. Entstehung des Liberalismus: Leslie Stephen, ,, English thought in the i8th Cent." (London, 1881); H. Michel, „L'idee de l'^tat" (Pariser These, Paris, 1895); Glafev, ,, Gesch. des Rechts der Vernunft" (Leipzig, 1739).

S. 367. Independentismus in Amerika und Roger Williams Beziehungen zum Baptis- mus: Doyle a. a. O. Die Bildungsgeschichte von R.W. ist leider noch unaufgehellt.

S. 371. Die Auflösung der bisherigen christlichen Ethik im Reich der Heiligen: Troeltsch, ,, Moralisten, Englische" in Prot. Real-Enz.*

S. 372. Die moderne Welt: die .Artikel ,, .Aufklärung" und ,, Idealismus, Deutscher" von Troeltsch in Prot. Real-Enz.''

Lilcratur.

457

S. 380. Die moderne Ethik: Troki.tsch, ,,Oundproblemc der Ethik" a. a. O., Artikel „MoraUstcn, Enghsche" a. a. O. , und Anzeigen der Ethiken von KÖSTUN und Häking in Gott. Ciel. Anz. 1899 und 1904.

S. 385. Die moderne Religionswissenschaft: Troeltsch, Art. „Deismus", I'rot. Real- Enz.'; „Rehgionsphilosophie" in „Die Philosophie am Beginn des 20. Jahrh. Festschrift für Kuno Fischer" 1904; „Theologie und Religionswissenschaft des 18. Jahrhunderts" in Preuß. Jahrbb. 1903; „Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte" (Leipzig, 1902).

S. 391. Das Kirchenrecht: Riekp:r, „Die rechtliche Stellung usw." a. a. O. und „Staat und Kirche nach lutherischer, reformierter und moderner Anschauung", Hist. Vierteljahrschr. 1898; SOHM, ,, Kirchenrecht" I (Leipzig, 1892); Förster, ,,Die Rechtslage des deutschen Prote- stantismus 1800 und 1900" (Tübingen, 1900); Troeltsch, ,, Religion und Kirche", Preuß. Jahrbb. 1895; Jki.linek, ,,Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte"- (Leipzig, 1905); R. ROTHK, ,,Dic Anfänge der christl. Kirche" (Wittenberg, 1837); Lezius, „Toleranzbegrifif Lockes und Pufendorfs" (Leipzig, 1900).

S. 395. Der Satz aus der revidierten \V. C. bei Rieker, Hist. Vierteljahrschr. 1904 S. 395 f.

S. 398. Absterben der Askese: Dowden a. a. O.; Heitner, „Literatur (iesch. des 18. Jahrh."' (Braunschweig, 1894); Gervinus, ,, Gesch. der poetischen Nationalliteratur der Deutschen"^ (Leipzig, 1871 74); Biederm.aNN , ,, Deutschland im 18. Jahrhundert" (Leipzig, 1854/80/81).

S. 400. Franklins Tagebuch: Weber a. a. O. XX 13 f.; Bunyan und Defoe: Dowden a. a. O. S. 276.

S. 407. Der Pietismus: RiTSCHL, ,, Gesch. d. Pietismus"; Art. ,, Pietismus" von MiRBT in Prot. Real.-Enz.^; Troeltsch, ,,Leibniz und die Anfänge des Pietismus" in dem Sammel- werk: ,,Der Protestantismus am Ende des 19. Jahrhunderts" ^Berlin, 1901); Bartholdt, „Die Erweckten im protest. Deutschland" (F. v. Raumers Hist. Taschenbuch 1852 und 1853).

S. 414. Die Spiritualisten : Gottfried Arnold, ,, Unparteiische Kirchen- und Ketzer- historien" (Schafl hausen, 1740/41), Kap. über Paracelsus, Enthusiasten und Rationalisten S. 983 fr., und A. Brucker, ,,Hist. crit. philosophiae", das Kap. über die Theosophen IV, i S. 644 ff.

S. 416. Der iMethodismus : Schneckenburger, ,,Die kleineren protestantischen Kirchen- parteien" (Frankfurt, 1863), LOOFS, Art. ,, Methodismus", Prot. Real-Enz.'

S. 418. Baptisten: Prot. Real-Enz.^ Hof.M.\nn; Quäker: Prot. Real-FZnz.* BuddensieG; außerdem Bacon, „American Christianity" (New-York, 1897).

S. 420. ,,R^veil" und ,, Erweckung": F. H. R. Frank, ,, Geschichte und Kritik der neueren Theologie"^ (München, 1898) S. 197 221 und Nippold, ,, Handbuch der neuesten Kirchengeschichtc" (Berlin, 1889) I 674 76.

S. 421. Hierzu: Nippold a. a. O. und ,,Der Protestantismus am Ende des 19. Jahr- hunderts" (Berlin, 1902).

S. 423. Umsetzung in Bildungsreligion: Leslie Stephen a. a. O.; Tulloch a. a. O.; EuCKEN, „Lebensanschauungen der großen Denker", 5. Aufl. (Leipzig, 1904); Bauch, „Luther und Kant" (Berlin, 1905); DE LaGARDE, , .Deutsche Schriften" (Göttingen, 1886); Gelzer, „Die neuere deutsche Nationalliteratur" (Leipzig, 1847/49); TROELTSCH, „Idealismus, Deutscher" a. a. O.

S. 434. Der Protestantismus als Weltanschauung: Sell, ,, Die Religion unserer Klassiker" (Tübingen, 1904); Förster, „Christentum der Zeitgenossen" (Tübingen, 1902); Orro, ,, Natura- listische und religiöse Weltansicht" (Tübingen, 1904); VON Schulze - Gaevernitz , ,.Zum sozialen Frieden" (Leipzig, 1890/91).

S. 437. Die Kirchenverfassungen: Rieker, ,, Kirchliche Stellung" (Leipzig, 1893; und ,, Grundsätze reformierter Kirchenverfassung" (Leipzig, 1899).

S. 437. Die Emanzipation der Schule: Paulsen, ,, Gesch. d. gelehrten Unterrichtes", 2. Auli. 2 Bde. ^Leipzig, 1896/97).

458 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit.

S. 438. Die Mission: Warneck, „Abriß einer Geschichte der prot. Missionen"* (Berlin, 1899).

S. 440. Die Liebestätigkeit; Uhlhorn a. a. O. III.

S. 442. Der christliche Sozialismus: V. Schulze-Gaev'ERMTZ, „Zum sozialen Frieden" I (Leipzig, 1890), und GÖHRE, ,,Die evangehsch-soziale Bewegung" (Leipzig, 1896); G. Traub, ,, Ethik und Kapitalismus" (Heilbronn, 1904).

S. 444. Die Theologie: Gass, ,, Gesch. d. Dogmatik" (Berlin, 1867 ff.;; L.A.XDERER, '.Neueste Dogmengeschichte", herausgeg. von Zeller (Heilbronn, 1881); Hausrath, ,,D. F. Strauß und die Theologie seiner Zeit" (Heidelberg, 187678;; derselbe, ,, Richard Rothe und seine Freunde" I (Berlin, 1902^; Seeberg, ,, Kirche Deutschlands im 19. Jahrhundert"^ (Leipzig, 1903); Bernoulli, ,,Die wissenschaftliche und die kirchliche Methode in der Theologie" (Freiburg, 1897); OvERBECK, ,,Die ChristHchkeit der modernen Theologie"* (Leipzig, 1903).

S. 446. Offenbarungsbegriff: D. F. Strauss, ,, Leben Jesu" (Tübingen, 1835 36); der- selbe, ,, Die Christi. Glaubenslehre" (Tübingen, 1840 '41); derselbe, ,, Der Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte" (Berlin, 1865); KAHLER, ,,Der sog. historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus" (Leipzig, 1892).

S. 447. Erlösungsbegriff: Nagel, ,, Problem der Erlösung" (Basel, 1901); Wrede, ,, Paulus" (Halle, 1905); Kahler, ,, Dogmatische Zeitfragen" (Leipzig, li

II

SYSTEMATISCHE CHRISTLICHE THEOLOGIE

WESEN DER RELIGION UND DER RELIGIONSWISSENSCHAFT.

Von Ernst Troeltsch.

Einleitung. Die Wissenschaft von der Religion steht wie ^llle Voraussetzungen Kulturwissenschaften von Hause aus unter der großen Schwierigkeit, daß oder positivisti- die entscheidende Grundvoraussetzung für ihre Behandlung gleich am Anfang festgelegt werden muß und daß diese Voraussetzung die ganze Behandlung durch und durch beherrscht. Es handelt sich um die Frage, wie man die großen Kulturschöpfungen des menschlichen Geistes be- trachtet, ob man in ihnen selbständige Anlagen und Kräfte des Geistes erkennt, die aus eigener innerer Notwendigkeit eigene Gedanken und Werte gestalten, oder ob man in dem Geiste nichts als die formelle Kraft sieht, welche möglichst sachlich aufgefaßte äußere Sachverhalte zu einem naturgesetzlichen Zusammenhang gestaltet und diesen Zusammen- hang den menschlichen Zwecken der Sclbsterhaltung und Gattungsförderung dienstbar macht. Im ersten Falle haben wir geheimnisvolle, nicht weiter abzuleitende, immer neu sich gestaltende Anlagen und Triebe der Ver- nunft vor uns, aus deren Spontaneität und Autonomie die großen Kultur- bildungen in Familie, Staat, Gesellschaft, Recht, Kunst, Wissenschaft, Reli- gion und Moral hervorgehen; im andern Falle haben wir vor allem die regelmäßige und gleichartige \'erknüpfung der objektiven Tatsachen der Außenwelt und in der Innenwelt kein anderes Geheimnis, als daß sie diese Gesetzlichkeit zu erkennen und der Lebenserhaltung der Gattung dienstbar zu machen weiß. Das erste ist die Position des Idealismus, der nicht bloß die Wirklichkeit überhaupt in dem Geiste begründet denkt, sondern den Geist als mit qualitativ schöpferischen Kräften zur Erzeugung spezifisch geistiger Werte ausgerüstet betrachtet; das letztere ist die Position des Positivismus, der in erster Linie nur gesicherte Tat- sachen und deren gesetzliche Verknüpfung anerkennt und dann diese Tat- sachen dem Willen zur Bearbeitung übergibt, wobei der einzige Wert die Behauptung und Vervollständigung des menschlichen Daseins selber ist. Zwar gibt es noch andere prinzipielle Voraussetzungen, die die Reli-

a()2 Ernst Troeltsch: Wesen der Reli^on und der Religions^\^ssenschaft.

gionswissenschaft von Hause aus zu bestimmen beanspruchen: den auf die Naturphilosophie begründeten Materialismus oder auch den parallelistischen Pantheismus, welch letzterer durchaus idealistisch gewendet werden kann, aber dann durch den naturphilosophischen Gedanken der mathematischen Notwendigkeit das geistige Leben erst recht seiner qualitativ - schöpfe- rischen und pluralistischen Eigentümlichkeiten beraubt. Allein die Absur- ditäten, in welche beide Theorieen die Kulturwissenschaften verwickeln, und die in solchen Konflikten genährte Abneigung gegen alle Metaphysik haben gerade für die Religionswissenschaften die Macht solcher Voraus- setzungen nie groß werden lassen. Hier dominiert vielmehr der Einfluß des Positivismus, der auf jede metaphysische Kausalitätstheorie überhaupt und auf jede Metaphysik der Beziehungen von Geist und Materie ins- besondere verzichtet, dem naturwissenschaftlichen Interesse der Gegenwart durch Einschränkung aller Erkenntnis auf geordnete Tatsachenverknüpfung und Ausschluß aller romantisch - nativistischen Erkenntnisquellen gerecht wird und andererseits den Kultunvissenschaften in der Fähigkeit des Geistes, diese Erkenntnisse für die Zwecke des Einzel- und Gesamtwohls zu verarbeiten, eine selbständige Grundlage läßt. Dem steht als klarer Gegensatz nur ein Idealismus gegenüber, der seinen Schwerpunkt nicht in der abstrakten metaphysischen Lehre von der Phänomenalität der Körper- welt, sondern in der konkreten Auffassung des geistigen Lebens als einer jeweils Neues und völlig Eigentümliches hervorbringenden Kraft hat; die Kontinuität zwischen diesen Manifestationen des Geistes und deren Zusammenhang mit der Basis der materiellen Natur sind dabei Fragen zweiten Grades. Zwischen beiden Positionen ist von Anfang an die Entscheidung zu treffen. Die Entscheidung- wird im wesentlichen ent- weder eine Sache persönlicher Überzeugung, des sachlichen Eindrucks jener Lebensinhalte und ihrer eigenen Aussagen über sich selbst sein, oder sie wird von dem Grunddogma ausgehen, daß wirkliche Wissen- schaft nur die gesetzliche Verknüpfung der positiven Tatsachen sei und daß der Autonomie und Spontaneität des Geistes nur so viel übrig gelassen werden dürfe, als mit dieser Grundvoraussetzung verträglich sei, während alles darüber Hinausgehende auf das große Totenfeld menschlicher Illu- sionen zu werfen ist.

Die hier zu gebende Skizze der Religionswissenschaft steht mit aller Entschiedenheit auf dem ersten Standpunkt und verwirft den zweiten, weil der sachliche Eindruck der idealen Kulturinhalte ihm widerspricht, weil das Grunddogma eine naturalistische Voraussetzung ohne jede zwin- gende Begründung ist und schon für die Körperwelt nicht ausschließlich gelten kann, schließlich weil der vom Positivismus beibehaltene Rest geistiger Autonomie und Spontaneität eine Inkonsequenz gegen seine eigene Voraussetzung-, unverkennbar der nicht völlig totzuschlagende und nur möglichst ausgehungerte Rest einer viel reicheren geistigen Wirklich- keit, ist

Einleitung. ^63

Steht die vSache aber so, dann ist von Hause aus die positivistische Religionstheorie abzulehnen, welche in der Religion prinzipiell nichts anderes sieht als eine Betätigung menschlichen Denkens in der Verknüp- fung der Erscheinungen und des menschlichen Willens in der Dienstbar- machung dieser Erkenntnis für menschliche Individual- und Gattungs- zwecke. Darnach wäre die Religion nichts als eine aus der Abwesenheit wissenschaftlich -objektiver Methode erwachsende Verknüpfung und Deu- tung der Wirklichkeit und die Verbindung der menschlichen Gattungs- zwecke mit den Vorstellungen von den so gefundenen Mächten und Kräften der Wirklichkeit. Sie wäre primitive Wissenschaft und daran angelehnte Ethik und vSoziallehre der menschlichen Urpsyche, deren alles personifizierendes Denken die Gottesidee hervorbringt und deren naive Verlegung menschlich -persönlicher Zwecke in die außermenschliche Wirklichkeit diese Götter zu Förderern und Garanten der menschlichen Zwecke macht. Unentbehrlich und segensreich, unvermeidlich und natür- lich für diese Periode des Denkens verschwindet sie daher notwendig mit der Wandlung des menschlichen Denkens von der personifizierenden Phan- tasie zur depersonifizierenden Wissenschaft, von der kosmischen, anthropo- morphen Verallgemeinerung der menschlichen Lebenswerte zur Einsicht in die Beschränkung der menschlichen Zwecke auf den Menschen selbst und auf seine durch wissenschaftliche Erkenntnis zu begründende Förde- rung des Gattungswohles. Die ganze Religionswissenschaft wird unter diesen Umständen zur entwicklungsgeschichtlichen Untersuchung über die Denkformen der Urpsyche in ihrem allmählichen Übergang zur positiven Wissenschaft und darauf begründeten wissenschaftlichen Ethik. Entstehung und Auflösung wird ihr einziges Thema; ihre Aufgabe ist rein historisch und psychologisch, völkerpsychologisch; das sachlich-systematische Inter- esse kann nur darauf gerichtet sein, daß die wichtigen sozialen Funk- tionen, die diese Schöpfung ausgeübt hat und ohne die sie nicht zu ihrer großen Bedeutung gekommen wäre, mit ihrer Auflösung nicht vernach- lässigt, sondern auf die moderne positive Wissenschaft nachdrücklich über- nommen werden.

Nicht auf eine Widerlegung dieser Theorie kommt es als Ausgangspunkt an, sondern auf die Leugnung der Voraussetzungen, aus denen sie als einzig mögliche hervorzugehen beansprucht. Der Auffassung der Religion muß freier Spielraum bleiben. Bei jener Theorie weiß man von vornherein, was Religion ist. Es gibt für sie überhaupt keine andere geistige Tätig- keit als verknüpfendes Denken und Benützung dieses Denkens durch den Selbstbehauptungswillen der Gattung. Das muß daher auch die Religion sein, nur daß sie aus den besonderen Bedingungen des urmenschlichen Denkens stammt, das die Stufe der Personifikation noch nicht über- wunden und die menschlichen Zwecke von dem gegen sie gleichgültigen Universum noch nicht hat unterscheiden lernen. Wird diese Auffassung abgelehnt und die Möglichkeit qualitativ eigentümlicher geistiger Anlagen

a6a. Ernst Troeltsch: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

und Lebensinhalte anerkannt, dann braucht die Religion nicht von vorn- herein in ihrer Entstehung, Entwicklung und Auflösung ein lediglich histo- risches, vorübergehendes Problem zu sein, sondern kann in ihrem inneren Wesen und in ihrer Bedeutung für die Kultur ein sachliches und dauerndes bilden. Dann weiß man nicht ohne weiteres, was sie ist, und es muß erst aus ihrer Analyse eine Erkenntnis von dem gewonnen werden, was sie wirklich ist. Und was sie ist, läßt sich dann in erster Linie nur aus ihr selbst erkennen, aus der Erforschung und Vergleichung ihrer eigenen Aus- sagen über sich selbst, aus dem Verhältnis, das sie sich zu den anderen Kulturinhalten gibt und das ihr von diesen ihrerseits gegeben wird. Man ist dann nicht von vornherein daran gebunden, zu wissen, was sie alles nicht sein kann, daß sie insbesondere unmöglich sein kann, was sie sein will. Die Analyse ist nicht auf eine fertige Grundanschauung von den Dingen verpflichtet, die die ganze Auffassung bereits von festen Grund- anschauungen aus normiert, sondern sie kann dem Gegenstand selbst sein eignes inneres Wesen entnehmen, wie er jedenfalls zunächst sich selbst empfindet; und es ist erst die zweite Frage, wie dieses eigene Wesen des Gegenstandes sich in die übrige Wirklichkeit einreiht, ob es sich dabei überhaupt zu behaupten vermag, welche Modifikationen es hierbei erleidet oder erleiden muß. Das ungeheure Tatsachenmaterial, das ins- besondere der Positivismus zusammengetragen und, soweit es mit den eigentümlichen Formen primitiven Denkens zusammenhängt, in der Tat oft überaus sinnreich gedeutet hat, ist nur erst Material für die wirkliche Untersuchung. Es handelt sich darum: was ist das Religiöse in diesen im allgemeinen als Religion bezeichneten, sehr bunten und mannigfaltigen Erscheinungen, wie kann man des Religiösen in ihnen habhaft werden und welche Bedeutung, Entwicklungstiefe, Konsequenz hat dieses Reli- giöse in seiner geschichtlichen Entfaltung? Erst daran können sich dann die weiteren Fragen nach dem Wahrheitsgehalt, nach den Entwicklungs- gesetzen und -zielen, nach dem Verhältnis dieses Kulturinhaltes zu den anderen Kulturinhalten schließen.

Andrerseits aber besagt doch auch die hier gemachte allgemeine Voraussetzung des Idealismus nicht mehr als die Mög'lichkeit, in der Religion eine qualitativ eig'entümliche und schöpferische Kraft des seelischen Lebens zu sehen. Sie bedeutet in keiner Weise eine von vorn- herein festgelco-te Deutung der Religion und die Unterschiebung meta- physischer Philosopheme unter die religiösen Ideen. Es hat dem Ratio- nalismus aller Zeiten nahe gelegen, die von ihm als vernunftnotwendig begründeten Begriffe vom Weltgrund in die religiösen Ideen als ihr Wahrheitsmoment hineinzudeuten, weil der Religion ja bei diesen Voraus- setzungen kein anderer Wahrheitsgehalt übrig bleiben konnte, wenn sie überhaupt einen haben sollte. Aber diese Behandlung scheitert teils an der Skepsis, der gerade solche Metiiphysik heute begegnet, teils und noch mehr an der Befangenheit und Vergewaltigung, die sich für die Auf-

I. Naive und wissenschaftlich bearbeitete Religion. 46s

fassung der Reliq-ion hieraus überall ergibt. Der auf das Tatsächliche, Konkrete und Erfahrung-smäßige gerichtete Sinn des neueren Denkens hat die Forschung daher wesentlich auf die Untersuchung der in der historisch-psychologischen Wirklichkeit vorliegenden religiösen Phänomene gelenkt. Die Religionsphilosophie ist zur Religionswissenschiift ge- worden, aus einem Zweige der Metaphysik zu einer selbständigen Unter- suchung der Tatsachenwelt des religiösen Bewußtseins, aus der höchsten Generalwissenschaft zu einer neuen Einzelwissenschaft. Sofern der Posi- tivismus auch seinerseits dies gewollt hat, soweit er die metaphysische Religionsphilosophie als wissenschaftliche Verblassung der eigentlich trieb- kräftigen religiösen Ideen bezeichnet hat, ist seine Einwirkung nur eine förderliche gewesen. Es ist nur die aus seiner Voraussetzung erwachsende und alle Auffassung von Grund aus bedingende Deutung abzulehnen. Nach beiden Seiten hin handelt es sich daher um eine Verselbständigung der religionswissenschaftlichen P'orschung, die den religiösen Phänomenen weder eine Deutung als Wahrheit noch eine solche als Unwahrheit von Hause aus aufdrängt, sondern nur um die von Hause aus festzuhaltende Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, daß die Religion eine eigentüm- liche qualitative Anlage des menschlichen Geisteslebens sei, und um die Frage, was diese Erscheinung zunächst für sich selbst, für ihr eigenes Bewußtsein und Wollen, sei.

I. Naive und wissenschaftlich bearbeitete Religion. Um auf Fixierung des diese Fragen antworten zu können, ist es vor allem nötig, eine von jeder durch Unter- wissenschaftlichen Deutung und Bearbeitung unabhängige Anschauung von naiven und

,,,,.. . .. , . , , . , T-. . , wissenschaftlich

der Religion zu gewinnen, wo möglichst ohne jede Einwirkung unserer reflektierten wissenschaftlichen Einreihungen, Vergleichungen, Erklärungen und Zurück- " '^°"' führungen der Gegenstand selbst zur Sprache kommt. Aber nun steht dem freilich die vSchwierigkcit entgegen, daß die Religion in ihrem wirk- lichen Leben mit wissenschaftlichen Vorstellungen, Interessen und Be- ziehungen reichlich durchwachsen ist und daher gar nicht so ohne weiteres, auch beim besten Willen eigene Deutungen und wissenschaftliche Theorieen zurückzuhalten, in ihrem von wissenschaftlichen Beimischungen irgendwelcher Art freien Wesen zu erfassen ist. Die primitive Religion ist vom primitiven wissenschaftlichen Denken großenteils genau so durch- wachsen wie jede Kulturreligion von dem Denken höherer Kulturstufen, von Philosophie und populärer Welterklärung. Zwar ist die Religion auch noch mit einer Fülle andersartiger Interessen, mit ethischen, künstlerischen, rechtlichen, politischen und sozialen, durchzogen, aber hier ist überall die Scheidung leichter oder jedenfalls uns geläufiger als bei der Verschmelzung der religiösen Funktionen der Gottesidee mit ihren rationalen der Welt- erklärung und gegenständlichen Ausmalung der Gottesidee. Ist es das W^esen der Wissenschaft, in irgend welchen Formen zu vergleichen, zu beziehen und zu verknüpfen und dadurch auf allgemeine, das Einzelne

Die Kultur der Gegenwakt. I. 4. 30

^66 Ernst Troeltsch: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

beherrschende und beleuchtende Begriffe zu kommen, so muß es das Wesen der von wissenschafthcher Einwirkung freien ReUgion sein, daß sie naiv ohne Vergleiche und Beziehungen, ohne künstlich gesuchte Zusammenhänge und allgemeine Vorstellungen dem unmittelbaren Drang der religiösen Idee folgt. Wir haben die Religion in ihren naiven unmittelbaren Äußerungen zu suchen, wo sie in Verbindungen mit dem übrigen Leben und Denken nicht weiter eingeht, als zur Beherrschung und Beeinflussung des Lebens notwendig ist, wo ihr aber Einheit und Zusammenhang der Wirklichkeit, Selbstbehauptung durch Vergleich und Apologetik gegenüber andern reli- giösen Ideen, Befestigung durch Anschluß an allgemeine, objektive Welt- betrachtungen völlig ferne liegt oder doch ohne wesentliches Interesse ist. Naive Religion wird man überall treffen, wo der Sinn für Wissenschaft und allgemeine Zusammenhänge wenig" entwickelt ist, wo die alles ausdeutende Phantasie des Mythos sie nicht überflutet hat und wo andererseits doch ein starkes religiöses Empfinden vorhanden ist. Die gewaltige Schöpfupg der überall in gewissen Grundzügen analogen reli- giösen Ideenwelt durch die uns unbekannte Urmenschheit muß aus einem naiven starken Drang hervorgegangen sein, und so wird man vielfach, wo man diese Schöpfung etwa in ihren Ausklängen noch beobachten kann, naive Religion vermuten dürfen. Wirklich primitive Völker und die von Philologen und Archäologen aufgedeckten ältesten erreichbaren Perioden werden daher . Zeug-nis ablegen von naiver Religion, wobei man nur sich hüten muß, das personifizierende Denken und den Mythos selbst schon überall für Religion zu nehmen und jedes Vorkommen religiöser Gebräuche als wirkliche Religion zu interpretieren. Natürlich sind hier überall die göttlichen oder dämonischen Mächte in der Weise der allge- meinen Weltanschauung- gedacht, aber darum sind nicht umgekehrt alle Vorstellungen unsichtbarer und das Geschehen bestimmender Mächte religiös. Religiöse Bedeutung haben sie nur in dem Kult und durch den Kult, und ein Kult findet nur da statt, wo diese Mächte von sich aus eine Offenbarung und Kundgebung von sich gegeben haben, die die Verbindung mit ihnen im Kult eröffnet. An bestimmten Ereignissen und Eindrücken entsteht erst der religiöse Gedanke, daß die in ihnen kund- gegebene Macht religiöse Bedeutung hat und religiösen Verkehr, sei es vorübergehend, sei es dauernd, will. Nur soweit dieser Offenbarungs- glaube und diese kultische Beziehung starke, einfache und unmittelbare Geltung hat, kann von naiver Religion die Rede sein, und wir nähern uns ihr in dem Maße, als wir den Kult und die ihm vorangehenden und ihn begleitenden Gefühle erraten zu können hoffen dürfen. In Kulten, Gebeten und Liturgieen, sofern sie nicht auch hier zur bloßen Konvention geworden sind und als Konvention betrieben werden, steckt der Sinn der primitiven Religionen, der all die großen Kultstätten und Götterideen neben den zahllosen kleineren und wechselnden geschaffen hat. So ist die bloß ethnographische und anthropologische Religionsforschung zwar nur

I. Naive und wissenschaftlich bearbeitete Religion. 467

mit Vorsicht als Zeugnis für naive Relicfion zu verwenden, kann aber aller- dings den Blick für si(> in unvergleichlich(>r Weise schärfen, weil hier das wissenschaftliche Interesse und die wissenschaftliche Kunst noch zu wenig ausgebildet ist, um die natürliche Selbstgewißheit und den natürlichen Instinkt der Religion zu beirren. Wohl ist auch das mythische Denken eine Art Wissenschaft und überdies geneigt zum Übergang in künst- lerische Phantasie, und es hat in beiden Richtungen die Religion oft genug überwuchert. Aber sein Zusammenhang ist zu wenig geschlossen, und so ist hier die Durchbrechung durch völlig naive Glaubensbildung leichter. Des weitem ist die naive Religion in all den großen, spezifisch religiösen Persönlichkeiten zu finden, die meistens den wissenschaftlich nicht belasteten Volksschichten entstammen und deren ganzes Leben und Wirken nichts als die völlige Hingabe an die sie durchaus beherrschende, zweifellose und beweislose religiöse Idee ist. Hier kommen die Stifter und Reformatoren, die Propheten und vSeher, die Prediger und Missionare in Betracht, die wohl in ihrer religiösen Selbstvertiefung und in der Dia- lektik der religiösen Idee mehr oder minder reflektiert sein mögen, die aber in der Religion selbst nur auf den religiösen Gedanken sehen und in ihrer Selbstgewißheit keinerlei oder nur wenig Rückgang auf allge- meine Wahrheiten und Erkenntnisse bedürfen. Auch hier ist der Gottes- gedanke selbst natürlich mannigfach verwandt oder identisch mit über- kommenen Vorstellungen und steht im allgemeinen Rahmen der jeweiligen Weltanschauung, aber das Wesentliche ist doch auch hier jedesmal die Eröffnung des Verkehrs von Seiten der Gottheit, Erleuchtung, Offenbarung, Erfaßtwerden durch ein reales göttliches Sein und infolge davon Kultus, Gebet, Verkehr, Einheit mit dem göttlichen Wesen, Vorgänge, die von eigentümlichen, spezifisch religiösen Gefühlen und Stimmungen begleitet sind. Des weiteren liegt das Studienmaterial in allen einseitig oder aus- schließlich religiösen Persönlichkeiten, Sekten und Gruppen, in denen wissenschaftliche Einwirkungen nur lose aufliegen oder völlig abwesend sind, die aber auch nicht etwa durch den Kampf gegen die Wissenschaft ihre religiöse Unschuld verloren haben. Schließlich kommen aus der inneren Erfahrung und Selbstbeobachtung des Darstellers alle die Momente in Betracht, wo er sich bewußt ist, ohne Seitenblicke und Xebeninteressen, vor allem ohne philosophische Spekulation, rein den religiösen Impuls zu empfinden und sich in ihn zu vertiefen. Es gilt etwa, wie in Forschungen über die Kunst, das Phänomen möglich in seiner instinktsichersten Offen- barung zu fassen, eine „reine Erfahrung" von ihm zu gewinnen, wie die reine Erfahrung im Unterschied von der schon wissenschaftlich gedeuteten überall als Ausgangspunkt für jede neue Orientierung und Gewinnung wissenschaftlicher Deutung gesucht werden muß.

In all diesen Erscheinungen liegt das nächste und eigentlichste For- i>iese Unter-

'-''-' Scheidung nur

schunefsmaterial. Hält man sich an sie, so hat man Aussicht, das Charak- Ausgangspunkt,

" , . . kein \\ erturteil.

teristische und Wesentliche dieses Kulturgebietes zu erfassen. Freilich

30*

^58 Ernst Trokltsch: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

kann hierbei fast nie von völlig" reiner Naivität die Rede sein, aber doch von so überwiegender, daß die Untersuchung wenigstens auf die wesentlichen Haupterscheinungen gelenkt wird. Nur darf dabei diese Unterscheidung der naiven und der wissenschaftlich reflektierten Religion nicht als ein Werturteil genommen werden. Die naive Religion, soweit man ihrer h^ibhaft werden kann, führt auf die wesentlichen Grundzüge des Phänomens, aber sie ist darum nicht etwa die echtere, reinere, wahrere Religion, der gegenüber die wissenschaftlich reflektierte die unechtere, gefälschte, mit fremdem Beisatz vermengte wäre. Im Gegenteil, die naive Religion ist bei ihrer meist obwaltenden Fremdheit gegen allen Erwerb der Wissenschaft an Klarheit und Harmonie meistens einseitig, kulturlos, exaltiert oder geisteseng, unharmonisch und verworren. Nur die wenigen ganz Großen, in denen naive Religiosität mit einer ebenso naiven großen, reinen und klaren Seelenanlage ohne alle Selbstsucht und Rechthaberei verbunden ist, machen davon eine Ausnahme. Ihnen ist die Wissenschaft und ihr Erwerb fremd, und rein wissenschaftliches Denken kann auch ihnen sich nicht schlechthin anschließen, aber sie haben das Siegel des Genius, von dem Schiller spricht: dich kann die Wissenschaft nichts lehren, sie lerne von dir. Ihnen ähnlich sind manche der kleineren Seelen, die rein und unreflektiert dem religiösen Zuge sich hingeben, aber gerade durch diese Hingabe das übrige Leben, das sie nicht verstehen, sich selbst überlassen und in die Hand ihres Gottes stellen. Im großen und allge- meinen aber ist das mit der naiven Religion nicht der F'all. Sie fordert überall das Korrektiv wissenschaftlicher Bildung und Zucht, Ruhe und Harmonie, sachlicher Weltkenntnis und gerecht abwägender Toleranz, überall die Ausweitung des Blickes auf die übrige Welt und die Har- monisierung mit ihren Inhalten. Ja, das letztere ist die Forderung, die auch von den reinsten und größten religiösen Offenbarungen aus ent- steht, wenn sie nicht schließlich doch bei den von ihnen erregten Massen in Unkultur und enges Sektenwesen ausmünden sollen. Das Christentum ist das, was es geworden ist, nur im Bunde mit der Antike geworden, während es bei Kopten und Athiopen zur reinen Fratze wurde. Der Islam hat seine Ausbildung- unter dem Einfluß persischer und grie- chischer Bildung g^ewonnen und ist unter dem lünfluß der Türken zur zerstörenden Unkultur geworden. Die Unterscheidung der naiven und wissenschaftlich reflektierten Religion hat daher nur ihre Bedeutung für die Grundleg"ung einer wissenschaftlichen Untersuchung selbst, die das Wesentliche und Eigentümliche des religiösen Lebens sich klar machen möchte, um nicht oberflächlich verwischend oder verständnislos zer- störend auf die Religion zu wirken. Der Zweck wissenschaftlicher Arbeit an der Religion aber ist durchaus und notwendig der, auf die Reli- gion selbst zu wirken, die, wie jedes andere Kulturg'ebiet, der Har- monisierung und Ausgleichung mit dem übrigen Leben bedarf, nur so Kern und Schale unterscheiden lernen und ihren Kern in fruchtbare

II. Die verschiedenen Versuche zu wissenschaftlicher Rearhcitun;,' der Religion. 460

Verbindung- mit den übrigen Kräften des Leben.s bringen kann. Die Wissenschaft ist die spätgeborene unter den Kräften der menschlichen Kultur, ihr gehen alle großen Bildungen als Schöpfungen naiver, starker Kräfte voraus. Aber die Wissenschaft erwächst, weil sie notwendig ist, weil die naive Isolierung nirgends zu behaupten ist und in der Ver- bindung und Ausgleichung der menschlichen Kulturinhalte die Aufgabe einer bewußt arbeitenden geistigen Kultur besteht. Aus den naiven Kräften und ihren Schöpfungen stammt die Frische und Energie aller Lebensinhalte, und nur in der Berührung mit ihnen oder der Erneue- rung- der naiven Kräfte wird die lebendige Fortdauer dieser Kräfte gewonnen ; aber aus der Wissenschaft stammt Ordnung, Klarheit, Ruhe, Zusammenhang und gegenseitige Befruchtung. Die wissenschaftliche Re- gulierung der Kräfte in ihrem Verhältnis zueinander ist so wichtig wie die naive Hervorbringung dieser Kräfte selbst. Daher muß die Wissen- schaft zunächst lernen, sich selbst von den naiven Kräften und ihren Her- vorbringungen zu unterscheiden, muß aber dann mit voller Energie und Klarheit auf die vorhandenen Gebilde wirken. Daß diese Einwirkung sie nicht unverändert läßt, ist selbstverständlich. Die Wissenschaft ist auch in der Religion nicht die Kunst, den Pelz zu waschen, ohne ihn naß zu machen. Die durch die Einwirkung der Wissenschaft hindurchgegangene Religion wird eine andere werden und muß eine andere werden. Darin sind auch all die schweren unausbleiblichen Kämpfe zwischen Religion und Wissenschaft begründet, der Unterschied der naiven Religion und der Bildungsreligion und eines Mitteldinges zwischen beiden. Es kommt nur darauf an, diese Kämpfe so zu schlichten, daß weder das Eigentüm- liche und die natürliche Kraft der Religion gebrochen, noch der Segen wissenschaftlicher Ausgleichung, Harmonie, Toleranz und Verständigung verscherzt werde.

II. Die verschiedenen Versuche zu wissenschaftlicher Be- arbeitung der Religion. In diesem Sachverhalt hat es seinen Grund, daß die Versuche zu wissenschaftlicher Bearbeitung und Beeinflussung der Religion so alt sind, wie die Kulturwelt überhaupt. Dabei handelt es sich nicht um die naturwüchsige und unbewußte Verschmelzung der reli- giösen Ideen mit den allgemeinen Bildern von den Dingen, wobei bald religiöse Ideen das Denken, bald die Weltanschauung die religiösen Ideen unentwirrbar durchdringen. Das ist selbstverständlich, sobald der Ver- such gemacht wird, die religiöse den Kult stiftende Offenbarung auszu- deuten und auszusprechen. Es handelt sich vielmehr um die bewußte Arbeit an der Unifizierung der verschiedenen einander stoßenden Kulte und Göttervorstellungen und um die bewußte Ausgleichung und Verbin- dung der religiösen Idee mit dem sonstigen Weltwissen.

Hier stehen für unsere heutige Geschichtskenntnis an erster Stelle die i. Monotheisti- sche Priester- großen Hervorbringungen priesterlicher Spekulation in Indien, Babylonien Spekulation.

AVO Ernst Troeltsch: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

und Ägypten. Die verschiedenen nebeneinander stehenden oder auch durch politische Eroberung vereinigten Götterbilder und Kulte werden vereinigt und auf eine Wurzel zurückgeführt. Es wird ein Pantheon geschaffen, in welchem die einzelnen Gottheiten durch Abstammung und Verwandtschaft miteinander verbunden und auf eine oberste Urgottheit zurückgeführt werden. Die Lehre von einer Theogonie, von ursprünglicher Teilung und Spaltung oder von familienhafter Abstammung, schafft Einheit und Zusammenhang, zugleich werden die Kultmythen systematisiert, ausge- glichen, umgedeutet und mit dem Mythos überhaupt zu einer Art Theologie redigiert, die freilich Weisheit der Priester und Kenner ist und den ein- zelnen Begehern des Kultus nicht zugemutet wird. Von hier aus schreitet die Spekulation aber noch weiter, sie wird zum spekulativen, den popu- lären Mythos völlig umdeutenden Monotheismus. Die Einzelgötter werden depotenziert zur bloßen besonderen Manifestation des göttlichen Wesens überhaupt, zu verschiedenen Namen und Ofifenbarungsformen der einen Gottheit. Der populäre Polytheismus verschwindet nicht, aber über ihm schwebt die priesterliche Deutung, und gelegentlich wird etwa auch ein praktischer Reformversuch in dieser Richtung gemacht, ein monotheisti- scher Kult eingeführt, der den Urgrund und die Einheit aller Gottheiten unter einem bestimmten Symbol verehrt, eine einzelne oberste Gottheit alle übrigen Götter verschlingen läßt. Damit verbindet sich dann auch die Einreihung des Weltbildes in die religiöse Idee, teils um auch hier Einheit und Zusammenhang herzustellen und damit die Religion in ge- schlossenem Zusammenhang mit der Gesamtwirklichkeit dem Denken darzustellen, teils um Widersprüche und Einwürfe zu beseitigen, die von hier aus gegen die religiösen Ideen entstehen können. Von der Theogonie schreitet man fort zur Kosmogonie, zur Lehre von dem Hervorg-ang der Welt aus dem göttlichen Tun und zum Aufweis des göttlichen Waltens in allen Geschehnissen der Wirklichkeit. Es entsteht eine mythische Kosmologie, die Lehre von der oberen göttlichen und unteren mensch- lichen Welt, von der durchgängigen Entsprechung beider, von der Wieder- holung aller Vorgänge der oberen Welt in der unteren, die Astrologie und systematisierte Mantik. Der ungeheure Einfluß, den namentlich die baby- lonische Wissenschaft in diesem Sinne über die alte Welt gewonnen hat, wird heute immer deutlicher; auch die ältesten Spekulationen der Griechen gehen diesen Weg, nur sind sie hier nicht in den Händen der Priester, sondern freier Denker und Schreibkundiger. 2. Synkretismus. Eiuc andcrB Form wissenschaftlicher Ausgleichung verschiedener

Religionen, die durch ihre Verschiedenheiten und Gegensätze zur Ver- einheitlichung reizen und nur in solcher Zurückführung auf etwas Allge- meines sich behaupten können, ist der Synkretismus. Er tritt überall ein, wo die naive Voraussetzung der Autochthonie und völligen Trennung von allen Fremden und Barbaren g"ebrochen ist und eine Kultureinheit ver- schiedener Völker entsteht. In ihm werden die verschiedenen Götter ver-

II. Die verschiedenen Versuche zu wissenschaftlicher Bearbeitung der Religion. aj i

.schiedener Völker nur als verschiedene Namen der an sich identischen Gottheiten angesehen. Eine ausführliche und mühselige Identifikation der verschiedenen Volksgötter mit den entsprechenden fremden, eine Aus- gleichung und Vermischung der Mythen tritt ein, und es erscheint alles als dieselbe Religion, die nur immer mit verschiedenen Sprachen in ver- schiedenen Göttornamen sich äußert. Der sogenannte Hellenismus und dann die Verschmelzung griechischer und römischer Gottheiten sind die großartigsten Beispiele hierfür. Vereinigt die priesterliche Spekulation Babyloniens und Ägyptens die Gottheiten ihres Herrschaftsbereiches, so vermengt die hellenistisch-römische Göttermischung die Gottheiten der ver- schiedenen Staats- und Kultursysteme. Ist aber einmal die Bahn der Reduk- tion in dieser Weise betreten, dann liegt auch der Gedanke der Reduktion dieser verschiedenen identifizierten Gottheiten auf eine gemeinsame Grund- lage und die Verbindung mit kosmologischen Spekulationen nahe. Das ist in der Zeit der großen Völker- und Kulturmischung im römischen Welt- reiche im größten Stil geschehen. Nachdem die Stoa darin vorangegangen war, ist der Gnostizismus ein solcher Versuch, die verschiedenen Gott- heiten und Kulte in der Erkenntnis einer grundlegenden Weltcinheit und der aus ihr hervorgehenden theogonischen und kosmogonischen Emana- tionen zu vereinigen. Ohne jede historische Kritik die verschiedenen Mythen benutzend und glaubend und in phantastischer Spekulation stoische und platonische Philosophie verwendend, ist er ein Vorläufer jener Versuche, die in modernen Zeiten mit geklärterer historischer Auf- fassung und strengerem metaphysischen Denken Hegel und Schelling unternommen haben.

In allen diesen Fällen ist der Gegenstand der religionswissenschaft- 3- Mystik, liehen Bemühungen das fertige Produkt des religiösen Lebens in Mythos und Kultus; es wird in allgemeine Systeme verbaut und wohl zum Zweck der Einpassung verändert, aber der lebendige innere religiöse Vorgang selbst wird nicht zum Gegenstand des Denkens gemacht. . Dies geschieht in den ganz andersartigen Systemen, die von der Belauschung und Be- schreibung, der Analyse und Technik der religiösen Stimmung und Stim- mungserzeugung, ausgehen. Hier steht in erster Linie die indische Mystik, die von gewissen Zweigen des Brahmanentums gepflegt und aus den heiligen Schriften der polytheistischen Volksreligion kunstvoll herausinter- pretiert wird. Hier verschwindet schließlich alle Konkretheit des Mythos und des Kultus, und es wird nur der Vorgang der Entstehung und Wir- kung der religiösen Stimmung mit ihrer Hingabe an das Göttliche heraus- gehoben und in der ganzen Tiefe seines Gehaltes beschrieben. Es ist die erste psychologische Analyse der Religion, für die bei der Verflüchtigung- aller konkreten Äußerlichkeiten die Religion selbstverständlich etwas zeit- los überall Gleiches wird und jede historische Beziehung auf äußere ge- schichtliche Veranlassung verschwindet. Aber solche Psychologie bedarf dann des festen Haltes in einem allgemeinen Weltbild, und so wird aus

A'i 2 Ernst Troeltsch: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

der mystischen Psychologie der Religion neben der Technik zur Hervor- bringung dieser Zustände auch eine Metaphysik entwickelt, welche die be- kannten Züge des schroffsten und verwegensten Pantheismus trägt. Das Göttliche ist das allein Wirkliche, und in der religiösen Hingabe wird der .Schein der endlichen und einzelnen Sinnenwelt vernichtet. Eine ähnliche Entwicklung geht von der griechischen Mystik aus, wo dann die mystische Erhebung durch Piaton mit der philosophischen Lehre von der Erhebung zu den Ideen als den wahren Grundlagen der Wirklichkeit und durch die Neuplatoniker mit der Metaphysik der verschiedenen Wirklichkeitsstufen und der Rückkehr des denkenden Geistes zum allein wahrhaft wirklichen Weltgrund in Verbindung gebracht wird. Durch die letzteren insbesondere ist die Lehre als psychologische Analyse, als prak- tische Technik der religiösen Stimulierung und als Zurückführung auf metaphysische, allgemeinste Weltgrundlagen zu einer viele Jahrhunderte hindurch wirkenden Macht gebracht worden, an welche auch die Christen und Mohammedaner sich mit ihrer Analyse und Technik der subjektiven Religiosität angelehnt haben.

4. Illusionistische Eiuc psychologischc Analyse, die gleichfalls auf die seelischen Motive

Ableitung der -, ^r 1 ,. . .. ^n i-ii

Religion, und V oraussctzungcn der religiösen Ideenbildung eingeht, aber von ganz anderen Voraussetzungen, von fertigen die Religion als Wahrheit aus- schließenden metaphysischen Voraussetzungen, ausgeht, ist die illusionistische Religionstheorie. Sie geht aus der reifen griechischen Kultur hervor und hat ihre Voraussetzung in einer rein mechanistischen Metaphvsik, die für die Götterlehre keinen Platz hat, und einem rein immanenten Hedonismus, der für transzendente Werte keinen Sinn hat. Hier kommen für die Analyse nicht sowohl die mystischen Zustände und Gefühle als die Götter- ideen, die religiöse Welterklärung, die kultische Praxis und die Motive von Furcht und Hoffnung in Betracht. Die Religion erscheint als Er- zeugnis der unwissenschaftlichen Phantasie, als Produkt von Furcht und Hoffnung, als politisch zweckmäßige Institution und Gründung. Das prak- tische Ergebnis der Religionstheorieen soll die Befreiung des Aflfektlebens von Beunruhigungen und Inkommensurabilitäten sein. Aus der Schule Epikurs ging diese Lehre besonders eindrucksvoll hervor; ihre Mythen- erklärung durch Euhemerus hat dem ganzen vSy.stem den besonderen Namen des Euhemerismus gegeben. Die Lehre ist wiedererweckt worden in der Renaissance und hat in den Kreisen des modernen Materialismus und Positivismus aus ähnlichen Gründen eine reiche Fortentwicklung ge- funden.

5. Supian.ituraie Die Ictzte dcr großen Theorieen ist die des exklusiven Supranaturalismus

Ofifenbarung. ^ rr 1 ' c^

oder der ürrenbarungslehre. Sie i.st grundlegend vom Judentum ausgebildet, vom Christentum und vom Islam fortentwickelt worden; wie weit Ahnliches bei Parsismus und Buddhismus der Fall war und ist, kann bei unserer heutigen Kenntnis dieser Religionsgebiete schwer gesagt werden. Jeden- falls hat sie von der jüdischen Wurzel aus eine durchaus eigentümliche

II. Die verschiedenen Versuche zu wissenschaftlicher BearbeitunR der Religion. 47^

Entwicklung- erlebt. Die Religion Israels ist der einzige ])opuläre, nicht aus Spekulation entsprungene Monotheismus. Er ist ethischer Monotheismus, der seinen letzten Grund in der Einheit und Selbständigkeit des ethischen göttlichen Willens hat, daher nicht eine spekulative Hülle über einem ver- bleibenden Polytheismus, sondern eine aggressive, radikal antipolytheistische religiöse Volksmacht. So eignet ihm die Allgemeingültigkeit und Ein- heitlichkeit seiner Wahrheit und der Gedanke einer Gottesoffenbarung, neben der alle andern angeblichen Gottesoffenbarungen zu Trug und Schein werden. Die heiligen Schriften, in denen dieser Wille niedergelegt ist, werden zur ausschließlich alleinwahren und -heiligen Erkenntnisquelle und die Geschichte des erwählten Volkes Israel zu einer völlig einzigartigen Offenbarungs- und Wundergeschichte, der gegenüber alle außerjüdischen Wunder P^abel oder dämonische Täuschung sind. Die mit dem jüdischen Gottesbegriflf eng zusammenhängende Vergöttlichung des Geschichtlichen gibt dem ja auch sonst nicht seltenen Gedanken heiliger inspirierter Schriften eine Folie und eine Sonderstellung, vermöge deren sie und die in ihnen bezeugte heilige Geschichte ein allumfassendes und alles be- leuchtendes System der Offenbarung und Geschichtsphilosophie bilden: der Wille Gottes mit der Welt ist die Erfüllung seines heiligen Sittengebotes; der größte Teil der Menschheit ist abgefallen; nur dem Volke Israel ist die Erwählung zum Träger der W^ahrheit und zum Führer der Umkehr und Rückkehr der Menschheit gegeben. Diese Theorie ist dann ins- besondere von der werdenden wissenschaftlichen Theologie der Christen ausgebildet und mit dem Erbe der antiken Kosmologie und Religions- philosophie verbunden worden. Die Offenbarung ist mehr als bloße Oflfenbanmg, sie ist die seit Anbeginn der Welt wirkende Vorbereitung und die in Christus erfolgte Vollendung der Erlösung, und diese Er- lösung besteht in der vollen Erkenntnis Gottes, vollen Einigung mit Gott und vollen Gewißheit ewiger Seligkeit verbunden mit Tilgung und Vergebung der ^Sünden. Dieser die jüdische Offenbarungsidee in sich aufnehmende Erlösungsprozeß wird eingesetzt in den allgemeinen Rahmen der spätantiken Metaphysik, in die Lehre von der Emanation und Re- manation des Geistes aus der Gottheit zurück in die Gottheit. Im Aus- gang aus der Gottheit ist der Geist in Sünde gefallen und seinen natür- lichen Kräften und dem unverlierbaren Reste der Vernunft überlassen worden. Bei der Zurückführung zur Gottheit ist die leitende Kraft die zuerst in den engeren Kreisen der Patriarchen und dann Israels er- folgende Offenbarung und vorbereitende Erlösung durch immittelbare wunder- bare Eingriffe und Mitteilungen der göttlichen Vernunft, bis diese schließ- lich in ihrem vollen Wesen durch die Menschwerdung Christi sich ver- menschlicht und durch die Stiftung der Kirche und ihrer Sakramente den Anteil an dieser erlösenden Menschwerdung der Vernunft eröffnet und zur Gottwerdung des Menschen wird. Die allgemein idealistische Meta- physik der Emanation und Remanation, die geschichtsphilosophische Lehre

AJA Ernst Tkoeltsch: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

von der Spaltung der Menschheit in eine erbsündige und eine erlöste Hälfte, die Anerkennung der profanen Offenbarung in der heidnischen Wissenschaft, die Fixierung der heiligen Volloffenbarung im Gottmenschen, die Kon- struktion der Kirche als Organ der Vemunftvollendung und Erlösung: das sind die Grundbegriffe dieser Theorie, die zu einer ungeheuren welt- historischen Rolle bestimmt war und in ihrer weiteren Entwicklung den zugrunde gelegten Begriff der göttlichen Vernunft mit immer reichlicheren philosophischen Mitteln hat stützen lernen. Der eigentlich entscheidende Beweis für die religiöse Kernwahrheit bleiben freilich die Wunder der Heilsgeschichte, an denen die direkte Offenbarung und Mitteilung Gottes erkannt werden konnte, während alles andere menschliche und darum bestenfalls nur indirekt göttliche, meistens aber sündig verfinsterte Er- kenntnis war. Es änderte daher an dem Aufriß des ganzen Systems nicht viel, wenn man wie die Reformatoren den Rahmen neuplatonischer Meta- physik zerbrach und die erlösende Menschwerdung nicht wesentlich als Menschwerdung der mit der Profanoffenbarung prinzipiell identischen Gottesvernunft betrachtete. Die Theorieen der Erbsünde und die Er- klärung der nichtchristlichen relativen Wahrheiten in Religion und Ethik aus natürlicher Vernunft sowie die Wunderapologetik mit dem Beweis der absoluten Wahrheit aus der direkten, die Natur aufhebenden Gottesmit- teilung blieben, und der alte Aufriß kehrte schließlich in vorsichtigerer Form auch bei den protestantischen Theologen und Apologeten wieder.

Neue Grundlage III. D i c mo d e r u 6 n Haup t s v s t e m c. Gegenüber allen diesen früheren

der Kcligioiis- . .

Wissenschaft im wissenschaftlichcn Voraussetzungen und Mitteln hat die moderne Welt in

modernen

europäischen der modemcn Naturwissenschaft und der modernen kritisch-entwicklungs-

Denken. . .

geschichtlichen Historie eine neue Basis des wissenschaftlichen Denkens geschaffen, die zwar mit der antiken Wissenschaft vielfach zusammenhängt, die aber doch eine völlig neue Grundlegung bedeutet. Von diesen Ver- änderungen der wichtigsten Fachwissenschaften aus ist auch das prinzipielle Denken oder die Philosophie auf neue Voraussetzungen gestellt worden und, wie die Philosophie im ganzen, so auch die Religionswissenschaft. Es gilt daher zu deren Verständnis die Hauptsysteme zu charakterisieren, die sich auf diesen neuen Grundlagen gebildet haben. Die Neubildungen treten seit dem 17. Jahrhundert hervor. Zunächst die Versuche der großen Meta- physiker, die Gottesidee wissenschaftlich neu zu begründen und zu gestalten, wobei diese Gottesidee als mit der christlichen Offenbarung bei richtigem Verständnis der letzteren mehr oder minder identisch erscheint; so bei Descartes, Spinoza, Malebranche, Leibniz. Sodann die Bestrebungen, von dem Gewirr der Konfessionen und statutarischen Offenbarungen durch psychologische Analyse auf einen aller Religion gemeinsamen Wahrheits- kern zu gelangen, der sich zugleich mit der neuen, auf die Naturwissen- schaften eingerichteten Metaphysik verträgt; man fand ihn in dem sitt- lichen Bewußtsein und seinen metaphysischen Korrelaten, wobei das

III. Die modernen Hauptsysteme. 475

Christentum eine Art g-öttlicher Introduktion dieser natürlichen Wahrheit war; so der Deismus und sein philosophischer Mittelpunkt, Locke. Schließ- lich der Kücksrangf auf die mystischen Stimmungselemente der Religion, die sie als Erfahrung und Empfindung der Einheit Gottes und der Welt erscheinen ließen und in denen sie die Entzweiung beider erlösend über- windet, zeitlos und geschichtslos, überall in allen wirklichen Religionen identisch und in einem mystischen Christentum den Sinn aller und jeder Religion erkennend; so der radikale Pietismus und die erneuerte neuplatonische Mystik, auch Rousseaus Lehre von dem einfachen natür- lichen religiösen Gefühl. Daneben fehlt es auch nicht an prinzipieller Religionsskepsis, indem neben der selbstgenügsamen Natur kein Raum für das Übersinnliche bleibt und die vergleichende historische Kritik alle Religionen unsicher macht; so Humes Lehre und ihn überbietend der französische Radikalismus. Doch sind das nur erst die ersten Regungen eines neuen Verständnisses. Die großen Haupttypen der modernen Religions- wissenschaft hat erst das neunzehnte Jahrhundert aus diesen Bewegungen hervorgebracht. Man wird im großen vier solche zählen dürfen.

An erster Stelle steht die Religionsphilosophie des k r i t i s c h e n i- Der kritische

* ^ ^ Idealismus.

Idealismus. Dieser Idealismus ist das Endergebnis der metaphysischen Theorieen, die sich bemüht hatten, die neue mathematisch-mechanische Naturphilosophie mit einer idealistisch-teleologischen Weltanschauung zu kombinieren. In der Überzeugung von der Fruchtlosigkeit dieser Ver- suche verzichtet er radikal auf jede Metaphysik, auf den Versuch, aus einer im Denken erfaßten Grundrealität die Wirklichkeit mit ihrem Doppel- charakter abzuleiten, und beschränkt sich auf die Analyse der subjektiven menschlichen Vernunft, in der die Wirklichkeit allein enthalten ist und aus deren Grundbedingungen sie für uns entsteht. Dabei ist aber die Analyse nicht eine wesentlich psychologische, welche den Bewußtseins- inhalt zergliedert und in seiner psychologischen Entstehungsweise unter- sucht, sondern eine erkenntnistheoretische, welche aus dem psychologisch- tatsächlichen Inhalt die autonomen Gültigkeitsgesetze unseres Erkennens herausholt. Durch diese Gültigkeitsgesetze kommt diejenige Realitäts- erkenntnis allein zustande, welche der menschlichen Vernunft möglich ist. Unter diesen Gültigkeitsgesetzen befindet sich nun neben den Gesetzen des naturwissenschaftlichen, des moralischen und des ästhetisch-teleologischen Denkens auch das Gesetz der religiösen Ideenbildung. Bei Kant und seinen nächsten Anhängern ist dieses Gesetz der religiösen Ideenbildung im engsten Zusammenhang mit der ethischen Begrififsbildung und stellt nur die Her\^orbringung derjenigen religiösen Weltanschauung dar, welche im moralischen Bewußtsein logisch mitgesetzt ist. Der wesentlich religiöse Gedanke, daß es in der Religion sich um eine Berührung mit dem Grund der Dinge handelt, ist dabei trotz aller Einschränkung auf die subjektive Vernunft und ihre Gesetze dadurch gewahrt, daß eben in diesen Gesetzen nicht das zufällige Bewußtsein des Einzelnen, sondern die innere Not-

And Ernst Troeltsch: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

wendigkeit des Bewußtseins überhaupt, also eine den Individuen über- geordnete allgemeingültige Vernunftnotwendigkeit, sich ausspreche. Im Verein mit dem Endergebnis der naturphilosophisch-theoretischen Begriffs- bildung, die für einen absoluten Weltgrund bei dem antinomischen Charakter dieses Begriffes die Möglichkeit seiner Realität übrig läßt, und mit dem der ästhetisch-teleologischen Begriifsbildung, welche ein unbegreifliches Ineinander von Naturnotwendigkeit und Zweckfreiheit bedeutet, wächst dieser Begriff der „Vernunft überhaupt" in die Region des Metaphysisch- Religiösen, ohne daß freilich umgekehrt eine Deduktion des wirklichen Bewußtseins und seiner Inhalte aus diesem metaphysischen Grundbegriff versucht werden dürfte. Ist Kants Religionstheorie dabei unverkennbar in Abhängigkeit von der deistisch-moralistischen Religionsanalyse, so unter- nimmt von denselben Voraussetzungen aus Schleiermacher eine erkenntnis- theoretische Analyse der Religion, welche das Gültigkeitsgesetz und Apriori der Religion unabhängig von der Moral in einer spezifisch religiösen Ideenbildung sucht und in diesem Gesetz den Schlußstein und die Zu- sammenfassung der apriorischen Bewußtseinsgesetze überhaupt aufweist. Das Gültigkeitsgesetz liegt ihm in der aus dem Wesen und der inneren Notwendigkeit des Bewußtseins fließenden Empfindung der Einheit des Endlichen und Unendlichen, einer Empfindung, die an sich ohne jeden begrifflichen oder anschaulichen Inhalt ist und einen solchen erst durch poetische Symbolisierung der empfundenen Einheit mit den allgemeinen Mitteln der jeweiligen Weltanschauung gewinnt. Schleiermachers Lösung des Problems hängt deutlich mit der mystischen und radikalpietistischen Religionsanalyse zusammen. Von diesem Apriori und Gültigkeitsgesetz muß dann freilich der Weg zur psychologischen und historischen Wirk- lichkeit der Religion erst gesucht werden, eine Aufgabe, die Kant nur in sehr allgemeinen und dürftigen Umrissen gelöst hat und die Schleiermacher sich sehr viel prinzipieller gestellt und sehr viel erfolgreicher gelöst hat. Aus dieser zweiten Aufgabe ergibt sich mit Notwendigkeit die dritte, die historisch-psychologische Entwicklung der Religion kritisch zu würdigen, wobei der Maßstab naturgemäß der ist, daß diejenige Religion die höchst- stehende ist, in der das Apriori der Religion am reinsten zum Ausdruck kommt. Kant und Schleiermacher haben beide diese Stellung dem Christen- tum zugeschrieben, wobei sie natürlich die christliche Idee kritisch be- arbeiteten und aus ihr die dem modernen Bewußtsein wesentlichen Momente heraushoben. 2. Der evoiutio- Die zweite große Gruppe schließt sich an Hegels Lehre an. Ihr

nistische Idea- . , .

lisraus. Wesen ist, daß sie den von Kant nur als End- und Grenzbegriff der Be- wußtseinsanalyse gewonnenen Begriff der „Vernunft überhaupt" wieder voll entschlossen metaphysisch verwendet und aus der Vernunft überhaupt die Wirklichkeit in Natur und Geistesg-eschichte als logisch notwendige Ex- plikation der Vernunft deduziert. Um das zu können, nimmt Hegel unter dem Einfluß des modernen historischen Denkens in den Begriff der „Ver-

ITI. Die modernen Ilauptsysteme. ^-^y

nuiift Überhaupt" oin neues Merkmal auf, das Merkmal der Bewegung durch den Gegonsat/ zur Versöhnung des Gegensatzes auf einer höheren Stufe. Der Begriff der „Vernunft überhaupt" wird auch bei ihm durch erkenntnistheoretische und logische Untersuchung gewonnen, aber es ist eine neue Logik, die sich ihm dabei ergibt, die die Notwendigkeit des Widerspruchs einschließende und ihn überwindende Logik. Damit ist ein Prinzip der Bewegung und Entwicklung in der Vernunft gewonnen, das sich dem menschlichen Denken als zeitlicher Fortschritt darstellt, das aber an sich nur eine zeitlose P'ülle und Bewegtheit der Vernunft in sich selbst ist. Ein solcher Begriff der Vernunft läßt sich metaphysisch hypo- stasieren, und aus ihm läßt sich Werden und Bewegung der Wirklichkeit als vernünftig-gesetzlich und teleologisch-ideal zugleich konstruieren. So ist die Wirklichkeit in jedem Punkt immer nur die notwendige Vernunft oder Idee in einem bestimmten Stadium der Entwicklung und ist ins- besondere der menschliche Geist nur das uns bekannte entwickeltste Stadium der Vernunft, wo sie durch Selbstbesinnung die ganze auf sie hinführende und sie hervorbringende Entwicklung aus sich heraus ana- lysieren und rekonstruieren kann. Indem die Religion als ein wesent- licher apriorischer Bestandteil der menschlichen Vernunft erkannt wird, braucht sie nicht bei der bloßen Konstatierung ihrer apriorischen Natur stehen zu bleiben, sondern kann sie durch Selbstbesinnung die Notwendig- keit ihres Hervorgehens aus der „Vernunft überhaupt" und die Notwendig- keit der bisher durchlaufenen Entwicklungsstadien als eine logische aus sich selbst heraus analysieren. Indem die Religion der mystische Glaube an die Welteinheit ist, läßt sie sich gerade aus der sich selbst in ihrem Zen- trum erfassenden Vernunft verstehen. Sie ist eben gerade das Bewußtwerden der endlichen Vernunft um ihren notwendigen Hervorgang aus der un- endlichen kosmischen Vernunft und dadurch die Wiedergewinnung der Einheit des gewordenen Endlichen mit dem es hervorbringenden Unend- lichen für das Bewußtsein. Ereilich ist die Religion dieses Bewußtsein um Wesensgehalt und Entwicklungsziel der Weltvemunft nur in Gestalt der Vorstellung, indem sie den dunkel und ahnend erfaßten Vernunftsinn der Welt in anschaulichen Bildern und Symbolen sich zum Bewußtsein bringt, und bedarf sie erst der Religionsphilosophie, um diesen ihren Gehalt sich in begriffliche Erkenntnis zu übersetzen. Dabei ist aber doch für die populäre Kraft der Religion dieser Vorstellungscharakter fest- zuhalten, nur für den Denker übersetzt sich die Vorstellungsreligion in die Begriffsreligion der Philosophie; die Volksreligion ist nur aus dem philo- sophischen Verständnis heraus zu regulieren und vor fanatischen oder abergläubischen Abwegen zu bewahren. Diese Hegeische Lehre hatte einen ungeheuren Erfolg, zunächst einen größeren als die Kantische und Schleiermachersche. Ihr Vorzug war unverkennbar, daß sie dem meta- physischen Bedürfnis der Religion nach Realitätsbeziehung näher kam und daß sie für die Entwicklungsgeschichte der Religion eine feste innere

AyS Ernst Troeltsch: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

Notwendigkeit der Abfolge und Zielrichtung gewährte. Ihr lag das Ziel in der vollen Selbsterfassung der Vernunft, in der Einswerdung göttlicher und menschlicher Vernunft aus der von der Entwicklung bewirkten Tren- nung heraus, Sie hat darum in der Gottmenschheits-Lehre des Christen- tums das Ziel der Religions- und Vernunftentwicklung gesehen, wobei diese Gottmenschheits-Lehre natürlich als mystisch-religiöse Einigung durch die Erkenntnis der Weltvernunft gedacht ist und an die kirchliche Christo- logie sich nur als Erfassung- der in diesem Vorstellungsdogma enthaltenen Idee anschließt. Freilich haben sehr bald Hegels radikale Nachfolger aus dieser Lehre die Konsequenzen eines radikalen Progressismus gezogen, das Christentum für eine abwelkende, an theistisch-anthropomorphe Vor- stellungen gebundene Religionsperiode erklärt und einen mehr oder minder ästhetischen Pantheismus als Zukunftsreligion in Aussicht genommen. 3. Der Positivis- Schroff Steht dicscn beiden ersten Typen der dritte Hauptt}'pus gegen-

über, die positivistische Religionsphilosophie vorwiegend aus der Schule Comtes. Sie ist bereits im Eingang berührt worden, um die Voraus- setzungen und grundsätzliche Stellung dieser ganzen Skizze zu charak- terisieren. Bei allen Unterschieden sind die beiden bisher geschilderten Typen doch auf der idealistischen Grundthese erbaut und von der prinzi- piellen Denkrichtung geleitet, den Grund der Wirklichkeit im Übersinnlichen zu suchen und zugleich ideale autonome Werte der Vernunft anzuerkennen. Daher nehmen sie auch beide eine bejahende Stellung zur Religion ein. Der Positivismus dagegen ist auf der gegensätzlichen Überzeugung und Denkrichtung begründet, auf der Voraussetzung, daß ein gesetzlicher oder doch regelmäßiger Zusammenhang der sinnlichen Wirklichkeit das einzige wirklich feste Denkelement, das eigentliche Wesen der Wissenschaft, ist und daß dem Übersinnlichen nur verbleiben kann, was damit verträglich ist. Er tut damit deutlich seine Abkunft von den Voraussetzungen des französischen Materialismus des 1 8. Jahrhunderts kund, und, wenn er auch, um dessen Schwächen zu vermeiden, jede Metaphysik perhorresziert, auch keine Metaphysik der Naturgesetze anerkennt, so ist doch sein Prinzip die Einschränkung auf nach Regeln verknüpfte Erfahrung und daher das Endergebnis dieser skeptischen Haltung gegen die Metaphysik kein sehr viel anderes, als das des Materialismus gewesen ist. Regelmäßige, von der Erfahrung beobachtete Zusammenhänge treten an Stelle der dogmatischen Naturgesetze, und der geistigen Wirklichkeit wird ihre Verschiedenheit von der Körperwelt zuerkannt. Aber das einzig Feste der wissenschaftlichen Erkenntnis bleiben doch die beobachteten und systematisierten Regelmäßig- keiten des Naturgeschehens und des Aufbaus der menschlichen Gesellschaft, und die Selbständigkeit des Geistes besteht nur in der ^Möglichkeit, diese erkannten Regelmäßigkeiten der Lebens- und Existenzbehauptung dienst- bar zu machen. Da bleibt für die Religion als Wahrheit kein Raum, sie muß zur Illusion werden; und die große Rolle, welche die Religion ge- spielt hat, muß in etwas anderem ihren Grund haben, als in dem, was sie

III. Die modernen Hauptsysteme. 470

selbst zu sein niointo, in oinor ihr bloß nicht bewußten wichtigen Funktion. Diese Funktion ist die der vorwissenschaftlichen Welterklärung- und der vorwissenschaftlichen Sozialethik. Von diesen Voraussetzungen aus fiel aller Nachdruck auf die Religionen der Primitiven und der Prähistorie. Sie galt es aus dem vorwissenschaftlichen Denken des Urmenschen zu er- klären, und die Analogieen der darwinistischen Entwicklungslehre mit ihrer Theorie von den survivals und revivals, von der Anpassung und Trans- formation, gab hierzu eine Fülle methodischer Hilfsmittel, So trat der symbolischen Mythenerklärung und Religionsgeschichte der Hegeischen Schule, welche sich überall nur für den Ideengehalt der religiösen Vor- stellung interessiert hatte, eine anthropologisch-ethnographische Mythen- forschung zur Seite, die aus den allgemeinen Denkformen der Primitiven und aus der Anpassung an die Umwelt das religiöse Denken der Ur- menschheit und der Vorstufen der Kulturwelt aufhellte. An Stelle des Hegeischen F^ortschrittes und des Entwicklungstriebes der Idee traten aus massenhaftem Material abstrahierte Naturgesetze des mythischen Denkens, und die soziale Dynamik war die Theorie von dem Absterben dieses mythischen Denkens in den Spiritualisierungen und Philosophemen der Kulturreligion, von dem schließlichen Übergang in die religionslose Sozial- lehre der positiven Wissenschaft. Daß bei dieser realistischen Fassung der Religion gegenüber den Hegeischen Theorieen über den Symbol- charakter der primitiven Religion große Fortschritte in der Erforschung der alten Religionen gemacht worden sind, darf nicht verkannt werden. Freilich für das Verständnis der höheren spiritualisierten und ethisierten Religionen ist hierbei so gut wie nichts herausgekommen. Nur das von ihnen vorgefundene und verwendete mythische Material hat ein klareres Verständnis gefunden.

Zum Schlüsse ist auch noch der Umbildung der kirchlich -dogma- 4. Die modemi- tischen Offenbarungs lehre zu gedenken, die im Zusammenhang mit den baruntjsiehre. modernen Umwälzungen der Wissenschaft steht und die vermöge ihres Ein- flusses auf theologische und kirchliche Kreise noch heute die verbreitetste Gestalt der Religionswissenschaft ist. Im allgemeinen hat sich die kirch- lich einflußreiche Theologie in neuerer Zeit überhaupt von der Religions- wissenschaft zurückgezogen und beschränkt sich unter fast völliger IgTio- rierung der nicht-christlichen Religionen auf die Darstellung der christ- lichen Idee als der Offenbarungswahrheit. Aber in dem Aufweis und der Art der Begründung dieser OflTenbarungswahrheit zeigt sie den Einfluß der modernen Wissenschaft. Sie begTÜndet ihren OflFenbarungsbegriflf nicht mehr mit dem Wunderbeweis, mit dem Inspirationscharakter der Bibel und der unmittelbaren Naturdurchbrechung in den Wundem der Heilsgeschichte, sondern durch die psychologische Analyse der christlich- religiösen Stimmung; diese erscheint auf der F'olie von der Erfahrung der Sünde und der natürlichen Unkraft als ein inneres göttliches Wunder und bezeugt so erst auf dem Umweg über dieses innere Wunder auch die dieses

480 Ernst Troeltsch: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

Wunder bewirkenden Heilsvermittler, d. h. Kirche, Bibel und Heils- geschichte, vor allem die die Bibel in sich zusammenfassende Gestalt Christi, als Wunder. Auch ist die in diesem inneren Wunder wirksam werdende und sich als göttlich bezeugende Offenbarungswahrheit nicht mehr eine Summe autoritärer Dogmen, sondern ein einheitlicher, um die Sündenvergebung gruppierter, spezifisch religiös-ethischer Gedanke, der so gehalten ist, daß er den naturwissenschaftlichen und geschichtswissenschaftlichen Erkennt- nissen der Gegenwart möglichst wenig präjudiziert. Die Wahrheits- momente und Analogieen der nichtchristlichen Religionen werden aus der in der natürlichen Vernunft fortdauernden Vernunftanlage des Urmenschen erklärt und als vorbereitende Grnade gewürdigt. Die ganze Begriffsbildung selbst beruft sich darauf, daß alle wirklich kräftige Religion von einem bestimmten positiven Offenbarungsglauben ausgehen müsse und daß nur einem solchen Glauben gemeinschaftsbildende Bestimmtheit eigne. Außer- dem beruft sie sich mit Vorliebe auf die Unmöglichkeit der Voraussetzungs- losigkeit. Die Religionswissenschaft könne daher nur die Aufgabe haben, den Begriff der christlichen Offenbarung als den der allein eigentlichen, die Erbsünde durch ein inneres Wunder überwindenden Offenbarung fest- zustellen, und müsse die Explikation des Erfahrungsinhaltes dieser Offen- barung der spezifisch christlichen Theologie überlassen. Es ist eine Theorie der übersinnlichen Erfahrung" und zugleich der Erfahrung dieses Christlich- Übersinnlichen als absolut einzigartig und übernatürlich. Wo man weiter geht in der Spannung des allgemeinen religionswissenschaftlichen Rahmens für die Theologie, da ist oder war es die Lehre des späteren Schelling, die die Mittel lieferte und die in der Tat sehr wichtige Gedanken enthielt. Sie ist eine Modifikation der Hegeischen Lehre, die in dem Hegeischen Begriffe der kosmischen Vernunft dem Alogischen und Irrationalen, dem grundlosen aus der Notwendigkeit der Idee herausfallenden Willen, einen Platz einräumt. Aus dieser Natur in Gott geht die Entzweiung und Ent- gegensetzung gegen Gott hervor, die der Welt die nächste Signatur gibt und die in der christlichen Idee des Sündenfalls richtig geahnt ist. Aber diesem sich gegen die Vernunft entgegensetzenden und sich zur Kreatur Verendlichenden Willen wirkt die göttliche Vernunft in aufsteigender Offen- barung wieder entgegen. Die nichtchristlichen Religionen sind die vor- bereitenden Manifestationen der Vernunft, die israelitische und christliche Religion dagegen sind ihre Volloffenbarung und dadurch die Versöhnung und Erlösung, die in der ethischen Organisation der Menschheit zum Ver- nunftsorganismus sich auswirken soll. Hier erfährt der Hegeische Ratio- nalismus und Optimismus, auch die angebliche deterministische Fortschritts- notwendigkeit, ihre Korrektur, zugleich wird der Erlösungs- und Ver- söhnungsgedanke metaphysisch fester begründet und die historische Positivität stärker gewertet. Die religiöse Entwicklung ist nicht mehr identisch mit dem Geistesprozesse überhaupt, sondern hat ihre besondere Stellung in ihm und geht überall aus von Grundlagen, die durch Offen-

rV. Das Wesen der Religion. ^^i

barung- j^esetzt sind. Trotz dieser ihren Interessen entgegenkommenden Grundanlage hat freilich die christliche Theologie es nur selten gewagt, diesen BegrifFszusammenhang voll auszudenken und auf ihren dogma- tischen Stoff ernstlich anzuwenden.

IV. Das Wesen der Religion. Bei dem schroffen Gegensatz dieser Kntschei.iun^' Haupttheorieen ist von einem allgemeinen Stand, einem durchschnittlichen i.cUrc-n. Allgemeinbesitz der Religionswissenschaft, nicht zu reden. Zwar wird der unbefangene Forscher von allen Gruppen vieles zu lernen imstande sein, aber ihnen allen irgendwie recht zu geben und aus ihnen dann einen Kompromiß zusammenzusetzen, wäre der verworrenste und feigste Eklek- tizismus. Es muß notwendig zwischen diesen verschiedenen Theorieen Stellung genommen werden. Man muß hier den Mut seiner Meinung haben, darf weder vor scharfer Polemik gegen die prinzipiell entgegen- stehenden Lehren, noch vor dem unvermeidlichen Vorwurf bald der Irreli- giosität und bald der Unwissenschaftlichkeit sich scheuen. So kann sich auch die folgende Skizze von dem, was die Religionswissenschaft nach der Meinung des Verfassers sein sollte, nicht neutral halten, sondern ist eine keinen dieser Vorwürfe scheuende Entscheidung zwischen den ver- schiedenen vorgelegten Möglichkeiten, nachdem eine neue Möglichkeit zu suchen durch die tiefdringende Untersuchung der bisherigen Arbeit aus- geschlossen ist. Der Verfasser schließt sich im wesentlichen an die Kantisch- Schleiermacherische Methode der Religionswissenschaft an und sucht ledig- lich innerhalb ihrer grundlegenden Begriffe Raum für die Einverleibung der Wahrheitsmomente der anderen Theorieen, die er in ihrem prin- zipiellen Grundriß teils mit der Begrenztheit unseres Wissens, teils mit dem wirklichen sicheren Besitz unseres Wissens, teils mit der persönlichen Stellung zu dem idealen Werte der Religion für unvereinbar hält.

Man pflegt die moderne Religionswissenschaft als Untersuchung Begriff iics

Wesens cicr

über das Wesen der Religion zu bezeichnen. Der Ausdruck ist '" Religion", richtig und zutreffend, wenn damit die Verschiebung der Methode von einer metaphysischen Feststellung der religiösen Objekte oder des Gottes- begriffes zu einer Untersuchung der Religion als eines Bewußtseins- Phänomens ausgedrückt sein soll. Das ist in der Tat die uns durch den Verlauf aller metaphysischen Bemühungen aufgedrängte und seit Kant grundlegend formulierte Fragestellung. Im übrigen aber ist der Ausdruck „Wesen der Religion" wegen seiner Vieldeutigkeit sehr irreführend. Er erweckt den Anschein, als sei es möglich, die verschiedenen in ihm zu- sammengeknüpften Fragen mit ein und derselben Untersuchung auf einen Schlag zu beantworten. Er bedeutet zunächst die wesentlichen und charakteristischen Eigentümlichkeiten, an denen die religiösen Phänomene als seelische Erscheinungen psychologisch erkannt werden können, einen Allgemein- und Gattungsbegriff, der die durchgängigen und besonders charakteristischen Eigentümlichkeiten der psychologischen Erscheinung

Die Kultur dbr Gegenwart, I. 4. 31

aS2 Ernst Troeltsch: Wesen der Religion und der Religions-vvissenschaft.

fixiert. Aber er bedeutet außerdem das wirkliche Wesen im Gegensatz zur bloßen Erscheinung oder den Wahrheitsgehalt der Religion. Das jedoch ist mit einer solchen psychologischen Untersuchung in keiner Weise sichergestellt, es bedarf einer eigenen, völlig anders zu führenden Untersuchung, die man im Gegensatz zur psychologischen als erkenntnis- theoretische bezeichnen muß. Aber auch damit ist die Problemstellung nicht zu Ende. Was auch immer eine solche erkenntnistheoretische Unter- suchung über Erkenntnis- und Wahrheitsgehalt der Religion ergeben mag, sie bezieht sich stets auf die Gesamterscheinung der Religion, auf das in allen geschichtlichen Formen enthaltene Gemeinsame; jedoch soll der Begriff des Wesens wirklich auf den Wahrheitsgehalt der Religion gehen, so kann er nicht bei dem Gattungsbegriff der Religion überhaupt stehen bleiben, sondern, wie schon die Religionspsychologie eine außerordentliche historische Verschiedenheit der religiösen Bildungen anerkennen mußte, so muß der Begriff des Wesens oder des Wahrheitsgehaltes kritisch auf die verschiedenen Bildungen angewendet werden; er wird zu einer kritischen Wertabstufung der historischen Religionsbildungen, zu der Frage nach dem Religionsideal und der Zukunftsreligion, wo nun das Besondere der einzelnen Religionen im Vordergrunde steht. So führt der Wesensbegriff zu einer geschichtsphilosophischen Untersuchung, welche nicht bei dem gemeinsamen allgemeinen Wahrheitsgehalt stehen bleiben kann, sondern die innere Bewegung dieses Wahrheitsgehaltes durch die Geschichte hin- durch auf ein von unserm Willen zu gestaltendes Ziel zu erkennen streben muß. Und schließlich ist die Frage nach dem Wesen nichts anderes als die F"rage, wie es um eine Sache steht, welchen Sinn und welche Bedeu- tung sie im Ganzen unseres Lebens hat; sie läßt sich daher nie aus der Sache heraus allein beantworten, sondern muß immer die Umgebung und verwandte oder zusammenhängende Erscheinungen mit berücksichtigen. So kann die Frage nach dem Wesen der Religion nie gestellt werden, ohne daß sie zugleich die Frage ihres Verhaltens zu unserer übrigen Welterkenntnis und Weltbetrachtung stellte. Mit ihr verbindet sich daher notwendig die Frage nach der Stellung unseres allgemeinsten und prin- zipiellen Weltwissens zu den von der Religion behaupteten Realitäten. Sie geht immer über in die Frage nach dem Verhältnis der Gottesidee zur Philosophie und ihrer Zusammenfassung unserer Erkenntnisse in allge- meinsten Begriffen. So nachdrücklich die moderne Entwicklung der Reli- gionswissenschaft dazu geführt hat, die Religion zunächst aus sich selbst zu verstehen, so ist das doch immer nur ein „zunächst", und die alten Bemühungen der im engeren Sinn sogenannten Religionsphilosophie, die Untersuchungen über die philosophische Beg^ründbarkeit oder Einordnung der religiösen Ideen, bleiben in letzter Linie immer zu Recht bestehen. Definitionen der So löst sich die scheinbar so einheitliche Fragestellung nach „dem

Wesen der Religion" auf in eine Anzahl sehr verschiedener, aber unter sich eng zusammenhängender Fragestellungen, deren Beantwortung nur

IV. Das Wesen der Religion. 483

zusammen das darstellt, was wir mit einem vielleicht etwas stolzen Worte „Religionswissenschaft" nennen. Die alte Meinung- aber, als ließe sich das Wesen der Religion mit einer wissenschaftlichen Definition der Religion bezeichnen und als seien in dieser Definition alle die aufgeworfenen Fragen zusammen zu beantworten, ist irreführend. Die ganze Scholastik, die mit solchen Definitionen heute noch getrieben wird, ist veraltet.

Noch schlimmer steht es mit einer weiteren üblichen Fragestellung, die Ht-griff der

,, Entstehung der

gerne mit dem Begriff des Wesens verbunden oder gar als mit ihm iden- Religion". tisch angesehen wird, mit dem Begriff „der Entstehung der Religion". Soll damit die „Entstehung" im eigentlichen Sinne gemeint sein und nach Art und Weise wie nach Grund und Ursache der Entstehung gefragt sein, so kann es nur die Entstehung der Religion in jedem einzelnen heutigen oder früheren uns bekannten religiösen Individuum bedeuten. Allein eine völlige Neuentstehung haben wir hier nie vor uns; die indi- viduelle Religion entsteht immer aus der Überlieferung religiöser Ge- danken, die Überlieferung mag noch so schmal oder die Umbildung der Überlieferung mag noch so groß sein. Eine völlige Urzeugung zu be- obachten, ist uns versagt, und als Ursache der Entstehung mag immer in erster Linie die Fortsetzung und Macht der Tradition angegeben werden. Woher aber die erste Entstehung dieser Tradition selbst stammt, wie die Urentstehung der Religion in den Anfängen der Menschheit sich vollzogen habe und auf welche Ursachen sie zurückzuführen sei, das ist uns völlig un- bekannt und wird wie bei Moral und Logik uns immer unbekannt bleiben. Alle Versuche der Phantasie, eine solche Entstehung zu konstruieren, ver- fahren nach Analogie der heutigen Entstehung, die aber ihrerseits immer schon die Hauptsache, das Vorhandensein religiöser Vorstellungen, voraus- setzt. Will man daher die Frage der Entstehung nicht als Frage nach der Urzeugung der Religion, sondern als Frage nach den inneren Gründen und Notwendigkeiten ihrer Hervorbringung auffassen, so ist der Ent- stehungsgrund selbst immer schon in einer Anlage oder inneren Nötigung vorausgesetzt und es handelt sich nur um Wesen und Recht dieser An- lage; dann aber stehen wir vor der erkenntnistheoretischen Frage, die nicht eine Entstehungs-, sondern eine Gültigkeitsfrage ist. Will man aber gar nicht die Gründe der Hervorbringung selbst, sondern nur die Art des Hervorgehens, die Gelegenheitsursachen der Äußerung und die bedingenden Einflüsse der Ausbildung untersuchen, so steht man bei der psychologisch - genetischen Frage, welche, sobald man sich über die Un- möglichkeit der Beobachtung einer religiösen Urentstehung klar ge- worden ist, über die eigentliche innere Ursache überhaupt nichts aus- zusagen hat, sondern nur das „Wie" und die Gründe der Äußerung und der konkreten Bildung aus dem psychischen Zusammenhang verdeut- licht. So ist der Begriff der „Entstehung der Religion" nach allen Seiten hin unbestimmt und wertlos. Er hat nur unter einer Bedingung Sinn, nämlich wenn man aus andern Gründen bereits gewiß ist, daß die Religion

3i*

484 Ernst Troeltsch: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

nur ein vorübergehender Nebeneffekt der eigentlich wesentHchen seehschen Tätigkeiten ohne eigene innere Notwendigkeit ist. Dann muß und kann man die „Entstehung der Rehgion" als die eines vorübergehenden abgeleiteten psychischen Gebildes untersuchen und wird in dem gelungenen Aufweis dieser Entstehung das Siegel auf die zugrunde gelegte Gesamttheorie er- kennen. Das ist dann die Theorie des Positivismus, die aber ihren eigent- lichen Ausgangspunkt nicht in dem Problem der Entstehung der Religion, sondern in der metaphysischen Einsicht von der Unmöglichkeit der Wahr- heit der Religion hat. Der Begriff der „Entstehung" enthält somit das ganze Problem der Religion überhaupt und muß, wie der des „Wesens", in seine Einzelprobleme zerlegt werden. Es gibt keine formelhafte Ant- wort darauf, sondern nur die Einzeluntersuchungen, die besser nach den sie charakterisierenden besonderen Problemen benannt werden. Die vier Einzel- Die Aufgabe der Religionswissenschaft oder die Frage nach dem

Probleme der

Reiigions- Wescu dcr Religion beschränkt sich auf die Analyse des möglichst rein und sachlich aufgefaßten geistigen Phänomens, das wir Religion nennen, unter den vier genannten Gesichtspunkten; sie zerfällt in Psychologie, Erkenntnistheorie, Geschichtsphilosophie und Metaphysik der Religion. Die Synthese dieser vier Untersuchungen ergibt das erreichbare wissen- schaftliche Verständnis der Religion und den Beitrag, den die Wissen- schaft zu dem praktischen Leben und der Fortentwicklung der Religion leisten kann. Diese vier gilt es daher in aller Kürze nach ihren Aufgaben zu skizzieren. i.DieReiiKions- Die Religionspsychologie ist die Grundlage und Voraussetzung aller

Psychologie.

erkenntnistheoretischen Arbeit an der Religion, wie die psychologische Analyse überall die Voraussetzung aller erkenntnistheoretischen Unter- suchungen ist. Es gilt das Phänomen in seiner Tatsächlichkeit und sach- lichen Eigentümlichkeit zu kennen, ehe wir nach seinem Geltungswerte fragen können. In der Viernachlässigung dieser Voraussetzung liegt eine der Schwächen von Kants Religionstheorie, und auch Schleiermacher hat bei aller Feinheit psychologischer Beobachtung doch in sie allzurasch onto- logische und erkenntnistheoretische Sätze eingetragen. Nun ist bei der ungeheuren Ausdehnung, Mannigfaltigkeit und Intimität des Phänomens die Aufgabe der Psychologie so reich an Schwierigkeiten als an Möglich- keiten der Anpackung. Die erste Aufgabe wird sein, das Phänomen möglichst in seiner Naivität zu fassen, die „naive" von wissenschaftlicher Deutung noch unbeeinflußte Erfahrung oder Anschauung von ihm zu ge- winnen, wie es oben bereits als Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Bearbeitung fixiert worden ist. Hier, bei dieser Fixierung, setzt die Psycho- logie ein. So ist die erste Unterscheidung die zentraler und peripherischer Er- scheinungen und hat die Psychologie die Aufgabe, die einen wie die anderen in ihren charakteristischen Merkmalen zu schildern. Unter den zentralen erscheint überall der Glaube an eine unter bestimmten Bedingungen zu erlebende Präsenz des Göttlichen, wobei der Gedanke des ,,Göttlichen"

IV. Das Wesen der Religion. 4^5

selbst Überall schon vorausgesetzt ist, und die davon bewirkte eigentüm- liche religiöse Gefühls- und Willensbestimmtheit. Unter den peripherischen erscheinen überall die ethischen und sozialen Elemente der Religion und vor allem der Mythos, der nicht selbst Religion ist, sondern nur eng mit ihr zusammenhängt. Die Untersuchung kann weiter eine mehr völker- psychologische oder eine mehr individualpsychologische Richtung nehmen. In der ersten Richtung treten mehr die gleichartigen Massenerscheinungen, die Gleichförmigkeiten und Gesetze der Formen des Kultus und des mythischen Denkens hervor; man kann hier geradezu eine Formenlehre des religiösen Denkens aufstellen. In der zweiten Richtung handelt es sich um die religiöse Gefühlsinnerlichkeit, die ebenfalls überall etwas Gemeinsames hat, die aber doch stets nur in individueller Besonderheit wirklich ist und nur an den Personen einer individualisierten Zeit mit Nachrichten und Äußerung über ihr individuell persönliches Innenleben studiert werden kann. In all diesen Fällen handelt es sich um Nachfühlen und Beschreiben von psychischen Zuständen vermöge des eigenen reellen oder wenigstens hypothetischen religiösen Gefühls. Aber man versucht, auch die Methoden der exakten Psychologie anzuwenden, durch ein System von Umfragen und möglichst objektiven Beobachtungen eine Art Statistik der Erscheinungen und ihres Verlaufes zu gewinnen; ja auch die Psychopathologie wird herangezogen, um aus krankhaften Verläufen Schlüsse auf die normalen zu ziehen. Insofern bei vielen Psychologen die Entdeckung des „unterschwelligen" Bewußtseins als Schlüssel für zahl- lose bisher unverständliche Erscheinungen gilt, wird auch dieses in weitem Umfange herbeigezogen. Als Ergebnis von alledem wird gelten dürfen, daß das Urphänomen aller Religion die Mystik, d. h. der Glaube an Präsenz und Wirkung übermenschlicher Mächte mit der Möglichkeit der inneren Verbindung mit ihnen ist. Es ist im wesentlichen eine Be- stätigung der mystischen Religionstheorie, nur daß der naiven Religion stets eine konkrete, an Offenbarung oder an Herkommen sich anschließende Vorstellung von Art und Wirkung des Göttlichen zukommt, während diese Vorstellung in der mystischen Theorie verflüchtigt und durch die eigen- tümliche pantheistische, zugleich doch den schroffsten Dualismus ein- schließende, Metaphysik ersetzt ist.

An die Aufzeigung dieses Urphänomens in seinen verschiedenen zD'eF.rkenntnis-

T^ IT •• 1 1 n theorie der

rormen und intensitatsgraden schließt sich die erkenntnistheoretische Keiigion. Untersuchung nach dem Gültigkeits- oder Wahrheitswert dieser psychischen Vorgänge an. Dabei ist die Frage, wie überhaupt Gültigkeitsurteile aus dem konstatierten Psychologisch-Tatsächlichen gewonnen werden können, eine Grundfrage, die nur im Anschlüsse an die allgemeine Erkenntnis- theorie beantwortet werden kann. Ist diese Frage beantwortet, so erhebt sich die weitere, was überhaupt eine solche Untersuchung des Wahrheits- wertes auf dem besonderen Gebiet des religiösen Lebens leisten kann. Sie kann jedenfalls nicht mehr tun, als daß sie ein im Wesen der Ver-

4.86 Ernst Troeltsch: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

nunft liegendes apriorisches Gesetz der religiösen Ideenbildung aufweist, das seinerseits in einem organischen Zusammenhang mit den übrigen Apriori der Vernunft steht. Nur den Beweis der Vemunftnotwendigkeit der religiösen Ideenbildung, nicht den für eine Existenz des religiösen Objektes an sich selbst kann sie zu liefern unternehmen. Die Erkenntnis- theorie kennt nur Gewinnung von Gültigkeit und Verbindlichkeit für vor- handene Bewußtseinsinhalte und Unterordnung aller übrigen unter die als gültig erkannten, aber sie kennt keine Existenzbeweise als solche. Der ihr allein mögliche Existenzbeweis ist der Aufweis einer gültigen Ver- nunftnotwendigkeit, die auf allen Gebieten, auf dem naturphilosophischen, historischen, ethischen, ästhetischen und religiösen, nach verschiedenen Grundsätzen gewonnen wird; insbesondere darf der Gültigkeitsbeweis für die religiöse Idee nicht verwechselt werden mit dem Gültigkeitsbeweis für die Erkenntnis einzelner Objekte, da dieser nur auf dem Nachweis gesetz- lichen Zusammenhanges mit andern Objekten beruht, während das religiöse Objekt überhaupt nicht ein Objekt neben andern ist. Die wichtigste Frage ist daher die nach dem Inhalt und Wesen des religiösen Apriori. Es liegt in der aus dem Wesen der Vernunft heraus zu bewirkenden abso- luten Substanzbeziehung, vermöge deren alles Wirkliche und insbesondere alle Werte auf eine absolute Substanz als Ausgangspunkt und Maßstab bezogen werden. Damit ist schon gesagt, daß dieses religiöse Apriori auf den Zusammenhang mit den andern Apriori angewiesen ist und ihrer inneren Einheit überhaupt erst den festen Substanzgrund gibt Da unter diesen andern Apriori für das allgemeine Bewußtsein das ethische das wichtigste ist und das logische und ästhetische erst in zweiter Linie kommt, so ist die Harmonisierung der Religion mit der Ethik und erst dann mit dem logischen und ästhetischen Leben ein weiteres Kriterium ihrer Gültigkeit oder ihres Wahrheitsgehaltes. Die Gültigkeit einer reli- giösen Idee kann größer oder geringer sein, je nachdem sie der Har- monie des Bewußtseins sich einfügt oder etwa gar die F"ührung- in dieser Harmonisierung übernimmt. So ergibt sich von hier aus auch eine innere Beweglichkeit des Gültigkeitskriteriums, das dem verschiedenen Maß von Gültigkeit verschiedener Religionsformen gerecht werden kann. Schließ- lich ist von diesem GültigkeitsbegrifF wieder der Weg zur psychologisch- genetischen Wirklichkeit der Religion zu suchen und zu zeigen, wie in den psychologischen Formen dieser Wahrheitsgehalt sich aktualisiert .vDicGcschichts- Damit kehrt die Untersuchung zur historisch-psychologischen Wirk- Reiigion. Uchkcit Und Mannigfaltigkeit des religiösen Lebens zurück, das überall in bestimmten konkreten oder positiv-historischen Bildungen vorliegt. Dabei aber ist die Aufgabe jetzt, diese Mannigfaltigkeit als eine aus innerer Einheit hervorgehende und in ihrer Abfolge als einem normativen Ziel entgegenstrebende zu begreifen. Das ist die Aufgabe der Geschichts- philosophie der Religion. Die großartigste Lösung dieser Aufgabe liegt bisher in der Hegeischen Lehre vor. Da aber diese Lehre auf einer

IV. Das Wesen der Religion. 487

in dieser Gestalt und Begründung unhaltbaren rein metaphysischen Kon- struktion der Weltvcmunft und auf dem ihr immanenten logischen Gesetz der Vemunftdialektik beruht, so ist das Ziel Hegels zwar festzuhalten, aber seine Erreichung auf anderen logischen und methodischen Wegen zu er- reichen. Ohne Metaphysik wird es auch so nicht abgehen, aber es wird eine Metaphysik des Rückschlusses aus den Tatsachen und nicht eine deduktive Metaphysik des Absoluten sein müssen. Insbesondere muß ein Ersatz für Hegels Dialektik, ein teleologisches Entwicklungsgesetz, ge- funden werden, das unter allen Umständen der letzte und wichtigste Be- griff aller Geschichtsphilosophie ist. Damit gehen die Untersuchungen hier in die prinzipiellen der Geschichtsphilosophie über, die über Wesen und Sinn des Entwicklungsbegriffes die Entscheidung zu treffen und ins- besondere über den Unterschied der Vernunftentwicklung von dem bloßen Fluß und Ablauf des Bewußtseins Auskunft zu geben hat. Das hierbei sich ergebende speziell religionswissenschaftliche Problem ist dann die Frage nach dem Ziel der religiösen Entwicklung, ob dieses in einer geschichts- losen allgemeinen Vernunftreligion, in einer synkretistischen Summierung aller bisherigen Wahrheitselemente oder in der Entwicklung der positiven Religion liege, welche Stellung und Bedeutung die gegenwärtigen Haupt- religionen in der religiösen Entwicklung einnehmen. Da unter diesen das Christentuni jedenfalls die wichtig^ste und reichste ist, so wird die Endfrage wesentlich die nach der Bedeutung- und Zukunft des Christentums sein.

Allein die Religion ist nie bloß die seelische Tätigkeit der Hervor- 4DieMetaphi-sik

. ,_ ... der Religion.

bnngung und Gestaltung des religiösen Glaubens; sie ist m alledem zu- gleich die Behauptung eines realen Objektes ihres Glaubens, der Gottesidee. Die Gottesidee ist nun freilich auf keinem andern Wege als auf dem des religiösen Glaubens direkt zugänglich. Aber sie behauptet doch einen Sachverhalt, der mit den übrigen wissenschaftlichen Erkenntnissen in Ein- klang stehen und der von ihnen aus auch in irgend einer Weise indi- ziert sein muß, wenn anders die menschliche Vernunft eine innere Ein- heit ist So kommt es zu der philosophischen Behandlung der Gottesidee, die freilich nicht auf dem Weg einer deduktiven Metaphvsik möglich ist, die aber irgendwie mit den metaphysischen Rückschlüssen sich ergibt, die aus der Bearbeitung und Vereinheitlichung der Erfahrung in letzten Begriffen entstehen; auch eine streng erkenntnistheoretisch an- gelegte Philosophie wird, wenn sie nicht in Psychologismus und Skepsis stecken bleiben will, in ihren Begriffen der Gültigkeit und der „Vernunft überhaupt" immer die Ansätze zu einer solchen Metaphysik enthalten, bei der nur die Frage ist, wie weit sie führen kann. Damit gehen die Pro- bleme der Religionswissenschaft in die der prinzipiellen Philosophie oder der Metaphysik über. Das wird dann auch erst die endgültige Rechtferti- gung des Ausgangspunktes sein, von dem die ganze Untersuchung mit ihrer Verwerfung des Positivismus ausging. Hierbei wird bei der heutigen Lage der Dinge die Hauptaufgabe die Behauptung eines die geistigen Vernunft-

^88 Ernst Troeltsch: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

werte im Weltgrund verankernden Idealismus gegen die alles verschlingen- den naturphilosophischen Begriffe sein, die von dem Satze der Erhaltung des Stoffes und der Arbeit als metaphysischen Prinzipien aus dem Idealismus nur übrig lassen wollen, was von ihnen aus möglich ist, und das ist bei einer konsequenten Durchführung so gut wie nichts. Des weiteren wird ihr zweites Hauptproblem sein, in dem Verhältnis des Weltgrundes oder absoluten Bewußtseins zu seinen Teilinhalten oder den endlichen Geistern die Möglichkeit beständig neuer Anfänge und Wirklichkeiten zu be- haupten, ohne welche alle religiöse Redeweise zur Phrase oder zur un- fruchtbaren Mystik wird; es ist das Problem des Pluralismus und der Freiheit gegenüber dem Monismus, der nur notwendige Entfaltungen der stets mit sich selbst identischen Substanz kennt. Wird aber dieses Ziel erreicht, so ist diese Metaphysik der Religion nicht bloß eine Apologetik, die einer feststehenden Gottesidee Schutz und Deckung verschafft, sondern zugleich eine Umgestaltung der religiösen Gottesidee und eine Konformie- rung mit dem modernen wissenschaftlichen Weltbild, die in die herkömm- liche Gottesidee tief genug einschneidet, wie sie auch bisher immer in die religiöse Ideenwelt tief hineingewirkt hat. Die Darstellung dieser Wirkungen aber gehört nicht mehr der Religionswissenschaft selbst an, sondern gehört in die Darlegung der auf sie begründeten persönlichen religiösen Lehre.

Schluß. Die Wirkung und Bedeutung einer solchen Religionswissen- schaft, die sich das Ganze der Religion zu ihrer Aufgabe macht, liegt in der Zurückdrängung des Einflusses der alten kirchlichen Autoritäts- lehren und in dem Geiste der Toleranz und Abwägung vor, mit dem reli- giöse Ideen in der gebildeten Welt behandelt werden. Immerhin ist ihre positiv einigende Wirkung- bis jetzt noch ziemlich gering. Man möchte sie zunächst in der Versöhnung und Ausgleichung der religiösen Diffe- renzen der Kulturmenschheit suchen. Aber was man bis jetzt an inter- nationalen Religionskongressen und religionswissenschaftlichen Kongressen erlebt hat, zeigt davon, außer der Tatsache, daß man sich überhaupt zu- sammenfindet, nur sehr wenig. Es ist auch sehr wenig wahrscheinlich, daß diese großen Kämpfe durch die Wissenschaft entschieden werden. Hier pflegen elementarere Kräfte zu entscheiden. Die geschilderte Reli- gionswissenschaft ist eben doch ein spezifisches Erzeugnis der europäisch- amerikanischen Kultur und erstreckt daher ihre Wirkungen bis jetzt ganz vorzugsweise auf diesen Kulturkreis. Auch hier ist nun ihre Wirkung bis jetzt nichts weniger als versöhnend und ausgleichend. Sie hat einerseits der Abwendung eines großen Teils der modernen Welt von aller Religion überhaupt den wissenschaftlichen Rechtstitel und die Propagandamittel gegeben. Sie hat andrerseits den mit dem christlichen oder jüdischen Kirchentum zerfallenen Bildungsmenschen eine allgemeine, zeit- und ge- schichtslose Vernunftreligion eröffnet, die freilich in den einzelnen Individuen

Schluß. 48g

und Gruppen wieder sehr verschieden ist und eine starke relicfiöse Wir- kung überhaupt nicht hervorbringt. Sie hat schließlich die christliche Theologie der verschiedenen Konfessionen, vor allem des Protestantismus, in den Bann ihres Einflusses gezogen und hierdurch den erbitterten Streit in die Reihen der Theologie getragen, aber auch außerhalb der Fach- theologie das moderne Christentum tiefgreifend beeinflußt, so daß man von einer Umbildung und Neubildung des Christentums auf anderen Grund- lagen als den bisherigen spezifisch kirchlichen reden muß. Von dem Standpunkte aus, daß die Religion ihre volle Kraft nur als positive Reli- gion entfaltet und daß in der europäisch-amerikanischen Welt das Christen- tum immer noch die einzige wirkliche religiöse Kraft ist, wird man in der letzteren Wirkung den bis jetzt wichtigsten Einfluß der Religions- wissenschaft sehen. Wie weit er sich in die heutige Theologie der christlichen Konfessionen hineinerstreckt oder auch nicht hineinerstreckt, werden die folgenden, welche Zukunftsausblicke sich von hier aus für das religiöse Leben unserer Kulturwelt im ganzen ergeben, wird der letzte Artikel zeigen.

Literatur.

Die Literatur der Religionswissenschaft ist bei der Verzweigtheit ihrer Interessen und der Unendlichkeit ihres historischen Materials unerschöpflich. Ihre wichtigsten prinzipiellen Gedanken sind in der älteren Literatur der großen Hauptsysteme niedergelegt; die Gegenwart ist auf diesem Gebiet nicht sehr originell und schöpferisch. Nur die antiquarischen oder anthro- pologisch-ethnographischen Studien über die primitiven Religionsformen sind eine eigentüm- liche und zugleich bedeutende Schöpfung der Gegenwart. Ihr Mittelpunkt sind die beiden Zeit- schriften: die „Annales du Musee Guimet" und die von der gleichen Anstalt ausgehende „Revue de l'histoire des religions" (herausgeg. von RJlvlLLE, Paris), sowie das deutsche „Archiv für Religionsgeschichte" (herausgeg. von DiETERiCH, Leipzig, Teubner). Neben ihnen treten noch psychologische Forschungen originell hervor, an denen allerdings die deutsche Psychologie auffallend wenig beteiligt ist; bei ihr ist, wie überhaupt in der deutschen Philosophie, das Interesse an der Religion auch das polemische sehr schwach; ein Mittelpunkt solcher Studien hofft ,,The American Journal of religious psychology and education" (herausgeg. von G. Stanley Hall, Clark University Press, Worcester, Mass.) zu werden. Kompendien der Religionswissenschaft, in welchen freilich die philosophische Seite sehr zurücktritt, sind: Morris Jastrow, „The study of religion" (London, 1901); C. P. Tiele, „Elements of the science of religion" (Edinburgh und London, i897;99), auch deutsch (Gotha, 1899 1901); derselbe, ,, Grundzüge der Religionswissenschaft" (deutsch von Gehrich [Tübingen und Leipzig, 1904]). Hier wird überall die Verselbständigung der Religionswissenschaft als Be- arbeitung eines ihr eigentümlichen empirischen Materials betont. Stärkere Hervorhebung der philosophischen Seite des Problems zeigt das kantisch gefärbte Lehrbuch von H. Siebeck, ,, Lehrbuch der Religionsphilosophie" (Freiburg und Leipzig, i893\ oder die hegelisch gefärbte Einführung von JOHN Caird, ,,Introduction to the philosophy of religion"* (London, 1889). Den Stand der Forschung auf den verschiedenen Gebieten schildert referierend Troeltsch, ,, Religionsphilosophie" in ,,Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer", Bd. I (Heidelberg, 1904), mehr kritisch derselbe in ,,Die Selbständigkeit der Religion" (Z. f. Theol. u. Kirche 1895/96).

S. 465. Naive und wissenschafüiche Religion: DUHM, ,,Das Geheimnis in der Reli- gion" (Freiburg, 1896); James, ,,Varieties of religious experience" (London, 1902); Heim. „Das Weltbild der Zukunft" (Berlin, 1904); Vierk.^nDT, ,, Naturvölker und Kulturvölker" (Leipzig, 1896).

8. 475. Kritischer Ideahsmus: Kant, ,, Religion innerhalb der Grenzen der reinen \'er- nunft" (1793); Fichte, ,, Versuch einer Kritik aller Offenbarung" 1^1792" ; derselbe, „Anweisung zum seligen Leben" (1806); Schleiermacher, ,, Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern" (1800); derselbe, ,,Der christliche Cilaube" (1821); Fries, ,, Wissen Glauben Ahnung" (1805); derselbe, ,, Handbuch der Religionsphilosophie" (1832); De Wette, ,, Vorlesungen über die Religion, ihr Wesen und ihre Erscheinungsformen" (1827); Rauwen- HOFF, ,,Wijsbegeerte van den Godsdienst" (Leiden, 1887), deutsch von Hanne (Braunschweig, 1889); A. Sab.'VTIER, „Esquisse d'une philosophie de religion"* (Paris, 1897).

's. 476. Hegeische Lehre: Hegel, , .Vorlesungen über die Philosophie der Religion", herausgeg. von M.xrhkinekk (1832"); dieselben gekürzt und mit Anmerkungen versehen von Drews (Jena und Leipzig, 1905); Pfleiderer, ,, Religionsphilosophie auf geschichtlicher

Literatur.

4gi

Grundlage"' (Berlin, 1896); Bikdkrmann, , .Christliche Dogmatik" (Zürich, 1869; 2. Aufl. Berlin, 188485).

S. 478. Positivistische Lehre: HUME, „The natural history of religion" (1755); COMTE, ,,Cours de philosophie positive" (1830—42); Herbert Spencer, ..F'irst principles" (System of synthetic philosophy, Bd. I, 1862); derselbe, ,, Principles of sociology" (System Bd. VI, \TI, VIII, 1 876-- 96); (iOBI.ET d'Alviella, ,,Introduction h l'histoire generale des rcligions" (1887); derselbe, ,,L'idee de Dieu" (1892); Feuerb.\ch, ,, Wesen des Christentums" (1841^; Tvi.OR, ,, Primitive Culture" (1871); derselbe, ,,The early history of mankind" (1878;: Andrew Lang, ,,Custom and Myth" (London, 1885); derselbe, Art. ,,Mythology" in „Ency- clopaedia Britannica", derselbe, „Myth, ritual and religion"* (London, 1899).

S. 479. Theologische Offenbarungslehre : F. H. R. Frank, ,, Gesch. der neueren Theo- logie"' (Erlangen, 1898;; Schelling, ,, Philosophie und Religion" (1804); derselbe, ,, Philo- sophie der Mythologie" und ,, Philosophie der Offenbarung" (sämtl. Werke Abt. II, Bd. i 4); C. Frantz, ,,Schcllings positive Philosophie" (Cöthcn, 1879—80); PORTiG, , .Weltgesetz des kleinsten Kraftaufwandes" (Stuttgart, 1903/04).

S. 484. Religionspsychologie: James, ,,The varieties of religious experience" (London, 1902); Starbuck, „The psychology of religion"* (London, 1901); A. George Coe, „The Spiritual life, studies in the science of religion" (New- York, 1900); Derselbe, ,,The religion of the mature mind" (Ncw-York, 1903); MURISIER, ,,Les maladies du sentiment religieux" (Paris, 1901); Flournoy, „Les principes de la psychologie religieuse" (Archive de Psy- chologie Genf, 1902 und 1903); Leuba, ,, Studies in the psychology of religious phe- nomena" (American Journal of Psychology 1896); E. KoCH, ,,Die Psychologie in der Religionswissenschaft" (Freiburg, 1896); SlMMEL, , .Beiträge zur Erkenntnistheorie der Reli- gion" (Zeitschr. f. Philos. u. philos. Kritik, 1902); A. Dieterich, ..Mithrasliturgie" (Leipzig, 1904); HÖFFDING, , .Religionsphilosophie", deutsch von Bendixen (Leipzig, 1901); F. W. H. Mvers, ,, Human personality and its survivals of bodily death" (London, 1903); übersetzt und gekürzt von Jankelevitsch, ,,La personnalite humaine, sa survivance, ses manifestations supranormales" (Paris, 1905).

S. 485. Erkenntnistheorie der Religion: Windelband, ,,Uas Heilige" (in Präludien* [Berlin, 1902]); Fkchner, ,.Die drei Motive und Gründe des Glaubens" (Leipzig, 1863); Eucken, ,, Der Wahrheitsgehalt der Religion"* (Leipzig, 1905); Zeller, ..Ursprung und Wesen der Religion" (Vorträge I [Leipzig, 1877];; RtctjAC, , .Essais sur les fondcments de la connaissance mystique" (Paris, 1897); Troeltsch, ,, Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft" (Tübingen, 1905); J.\MES, ,.The will to believe" (London. 1897).

S. 486. Geschichtsphilosophie der Religion: Jevons. ..Introduction to the history of religion" (London. 1896); Eucken a. a. O. ; Siebeck a. a. O. ; Tiele a. a. O. : Pfleiderer a.a.O.; v. Hartmann. ..Religionsphilosophie" (Berlin. 1888;; E. Caird, ,,The evolution of religion ' (Edinburgh, 1893); RiCKERT, ,, Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" (Freiburg, 1896,1902); Troeltsch. ..Moderne Geschichtsphilosophie" (Theologische Rund- schau. 1903); derselbe. ,,Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte" (Freiburg, 1902); Rickert, ..Geschichtsphilosophie" (in Festschrift für Kuno Fischer. Bd. II, Heidelberg. 1905).

S. 487. Metaphysik der Religion: WEISSE, ,, Philosophische Dogmatik" (Leipzig, 1855 62); Teichmüller. ..Religionsphilosophie" ^Breslau. 1886); LorzE. ..Mikrokosmus"* (Leipzig. 1896); derselbe. ..Grundzüge der Religionsphilosophie"* (Leipzig, 1884); Glog.\U, , .Vorlesungen über Religionsphilosophie" (Kiel. 1898); J. H. Fichte, ,.Die theistische Weltansicht und ihre Berechtigung" (Leipzig. 1873); SecrÄTAN. ,,La philosophie de la libertd"" (Paris, 1879); Renouvier, ,, Essais de critique generale"* (Paris, 1875—96); Volkelt, ..Kants Erkenntnis- theorie nach ihren Grundprinzipien analysiert" (Leipzig. 1879); EucKEN. ..Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt" (Leipzig. 1896); Drews. ..Die deutsche Spekulation seit Kant mit besonderer Rücksicht auf das Wesen des Absoluten" (Berlin. 1895'); Rickert. ..Fichte und der Atheismusstreit" (Berlin, 1901).

CHRISTLICH-KATHOLISCHE DOGMATIK.

Von Joseph Pohle.

Die Theoiofiie Einleitung. Während des Vatikanischen Konzils (1870) wurde in

im vorigen Jahr-

hundert. Prälatenkreisen das Scherzwort kolportiert: „Die Spanier haben ihre Theologie aus Folianten, die Italiener aus Quart-, die Franzosen aus Oktavbänden und die Deutschen aus Broschüren studiert." Ob schon dem Wesen der Theologie nichts so widerspricht als das nationale Aushänge- schild, so enthält dieses Bonmot daneben noch eine schwere Ungerechtigkeit gegen die Deutschen. Wenn es auch wahr ist, daß die kirchliche Wissen- schaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland arg da- niederlag, so muß doch anerkannt werden, daß dieselbe sich seit den dreißiger Jahren unter den ungünstigsten Verhältnissen aus ihrer Ver- sumpfung allmählich erhob und eine Reihe ebenso kenntnisreicher als würdiger Vertreter gewann. Wie Italien seinen Perrone, so hatte Deutsch- land seinen Liebermann. Der Niedergang war übrigens nicht eine Eigen- tümlichkeit Deutschlands allein. Auch die Nachbarländer litten schwer unter den Nachwehen der französischen Revolution und napoleonischen Fremdherrschaft. Dazu kam, daß der Einfluß der falschen Aufklärung, des englischen Deismus und des deutschen Kritizismus dem Aufblühen der Theologie wenig günstig war. Einen Wendepunkt bezeichnet eigentlich erst das Vatikanum: die Weckung des kirchlichen Geistes übte einen Das Vatikanum hcilsamcn Rückschlag auf die theologische Wissenschaft. Insbesondere

und Leo XIIl. ° . °

Deutschland nahm am allgemeinen Aufschwung einen her\"orragenden Anteil. Nicht nur die deutschen Jesuiten, welche in den letzten Jahrzehnten eine achtunggebietende Rührigkeit entfalteten, auch andere Kreise traten begeistert in den Wettbewerb ein. Die grundlegende Encyklika Adcrni Patris Leos XIII. (1878) vollends brachte der theologischen Bewegfung durch den Rückgriff auf den Thomismus eine Vertiefung und stellte die zeitweilig unterbrochene Kontinuität mit der Scholastik wieder her.

So sehr dem Versuch entgegengetreten werden muß, unser modernes Zeitalter auf den Bildungsstand des Mittelalters zurückzuschrauben, so hat dennoch der innere Gehalt der Dogmatik durch das Zurückgehen auf die scholastische Gedankenwelt ebenso erheblich gewonnen, wie die Philo-

Einleitung. ^,^3

Sophie durch die Wiederanknüpfung- an den allezeit lebensfähigen Aristo- telismus, welcher bekanntlich in der vScholastik eine herrschende Stellung einnahm. Indes bleibt noch viel zu tun, um die Gefahren eines Versinkens in rein mittelalterliche Denkart zu beschwören und die Theologie vor der geisttötenden Schablone zu bewahren. In Deutschland freilich, wo die unmittelbare Berührung mit moderner Bildung jede Stagnation fernhält, ist diese Gefahr nicht so groß, wie in Ländern, welche bei ihrer unzu- reichenden Seminarbildung über das berüchtigte systeine de uiediocrüe nicht hinauskommen. Vor allem auffallend ist die verhältnismäßige Unfrucht- Spanien, Italien barkeit Spaniens, das seit Jakob Balmes keinen großen Philosophen, noch "" weniger einen überragenden Theologen mehr hervorgebracht hat, wenn auch Namen wie Gonzalez, Orti y Lara, Urraburru keinen üblen Klang haben. Obgleich die Italiener, namentlich in ihrem Gelehrtenzentrum zu Rom, länger als andere Nationen in der Scholastik ihr Vorbild suchten, so taten und tun sie es dennoch einzelne Ausnahmen abgerechnet viel zu wenig in dem von Leo XIII. so eindringlich empfohlenen Sinne, daß nicht so sehr das veraltete, nur dem 13. Jahrhundert zu Gesicht stehende Rüstzeug als vielmehr die „Weisheit" des hl. Thomas von Aquino zum Maßstab der Wiedererneuerung der philosophischen und theologischen Studien genommen werden soll. Wie Ritterpanzer und Hellebarde, so hat auch vieles aus der mittelalterlichen Wissenschaft heute höchstens den Wert eines altmodischen Schaustückes. Reges Leben hat in letzter Zeit das in heftiger Gärung begriffene Frankreich entwickelt, aber nicht ohne in biblischen, philosophischen und apologetischen Fragen weit über das Ziel hinauszuschießen, welches nun einmal dem katholischen Theologen durch den historischen Entwicklungsgang und die unveränderliche Glaubens- regel von vornherein gesteckt ist. Die Wellen dieser Bewegung machten sich jüngst bis über die Ufer des Rheines hinaus bemerkbar (Loisy). In Deutschland haben vor allem die Universitätsfakultäten an der Pflege und Deutschland. Weiterbildung der Theologie erfolgreich mitgewirkt und sich als wahre Pflanzstätten der Wissenschaft erwiesen. Mit ihnen wetteiferten die Priesterseminarien, einige von ihnen in hervorragendem Grade. Ohne die Verdienste anderer Körperschaften im geringsten schmälern zu wollen, müssen wir ein besonders anerkennendes Wort über die Tübinger Fakultät xübingerSchuie, sagen, welche seit ihrer Gründung (18 17) unter den Fakultäten Deutsch- lands stets eine eigenartige Stellung eingenommen hat. Zwar ist die „Tübinger Schule", ihrer schwäbischen Eigenart folgend, gerne ihre eigenen Wege gegangen, ohne die Grenzen der Kirchlichkeit zu überschreiten. Allein durch ihren wissenschaftlichen Ernst, ihre ungebrochene Arbeits- kraft, ihr kluges Maßhalten zwischen extremen Auffassungen, ihren kriti- schen Sinn und Instinkt, ihre ausgesprochene Duldsamkeit gegen ab- weichende Überzeugungen hat sie ohne Frage nur vorteilhaft auf das Gesamtleben eingewirkt und durch ihren Widerspruch den katholischen Gelehrten zur Vorsicht, Kritik und Einkehr gemahnt. Ein tüchtiger Stab

AQA Joseph Pohle: Christlich-katholische Dogmatik.

von geschulten, mit den Gegenwartsbedürfnissen wohlvertrauten, mit den protestantischen Kollegen freundlich verkehrenden Gelehrten, haben die Tübinger es verstanden, durch bedeutende Schriftwerke wie durch die von ihnen herausgegebene „Theologische Quartalschrift" auf den Gang der theologischen Forschung einen maßgebenden Einfluß zu gewinnen und auch in protestantischen Kreisen sich Achtung und Gehör zu verschaffen. Um die innere Struktur, die lebenden Aufgaben und die hauptsäch- lichen Lehrrichtungen, wie sie das theologische Leben der Gegenwart in einem Querschnitt dem Auge des Kulturhistorikers darbietet, einer ebenso unparteiischen wie für die Zukunft fruchtbaren Würdigung zu unterziehen, ist es vor allen Dingen nötig, zwei große und verschiedene Gebiete sorg- sam voneinander abzugrenzen und getrennt zu betrachten: i, die allge- meine Dogmatik oder Apologetik; 2. die spezielle Dogmatik oder Dogmen- lehre. Es liegt in der Natur der Sache wie in der Verschiedenheit der Methode beider Wissenschaften, wenn jene bei ihrer freieren Beweglich- keit und elastischen Anpassungsfähigkeit sich dem jeweiligen Zeitgeist enger anzuschmiegen vermag als diese und bei der Behandlung ihrer Probleme ein durchaus modernes Gesicht annehmen kann. Denn eine Verteidigungswissenschaft muß wie die Kriegswissenschaft strategisch verfahren und die Auswahl ihrer Waffen und Streitführung ganz nach der Kampfstellung des Gegners bemessen.

System der christlich-katholischen Dogmatik. A. Die allgemeine Dogmatik oder Apologetik. Apologie und L Das Wcscn der Apologetik. Apologetik ist der wissen-

poogeti . j,pj^g^f^.|j(,j^g Beweis des Christentums in begründender, aus prinzipiellen Voraussetzungen schöpfender Darlegung. Wie durch letzteres Moment die verhältnismäßig junge Apologetik sich von der uralten, schon den alt- christlichen Apologeten geläufigen „Apologie" wesentlich unterscheidet, so gewinnt sie auch im Plane der theologischen Fächer die Stellung einer eigentlichen Grundwissenschaft daher auch „Fundamentaltheologie" ge- nannt — , weil sie eben das Fundament zur ganzen Theologie, d. i. die Göttlichkeit und Wahrheit des Christentums, auf seine Probehaltigkeit untersucht und wissenschaftlich stützt. Ihre Bezeichnung als „Allgemeine Dogmatik" (Klee, Egger) paßt insofern weniger, als sie mit Bezug auf die spezielle Dogmatik weder im Verhältnis des Allgemeinen zum Besondern steht, noch auch mit dem Beweise oder der Verteidigung der eigentlichen Dogmenlehre sich abmüht. Gleichwohl hat der Name einen guten Sinn, weil die Apologetik tatsächlich die natürliche „Vorhalle" zur speziellen Dogmatik bildet und dem Besucher die Türe zum Tempel, der die Christentum und Dogmenschätze beherbergt, dienstbereit öffnet. Weil Beweis des Christen- tums als der von Gott geoffenbarten absoluten Religion, kann die

A. Die allgemeine Doijmatik oder Apologetik. 1. Das Wesen der Apolo^^'elik. dUS

Apologetik uniiKiglich die von Christus gestiftete Kirche ignorieren, in welcher die christliche Religion verkörpert, unversehrt bewahrt, den Menschen authentisch verkündet und vermittelt wird. Zwar lassen Christentum und Kirche sich gedanklich trennen, aber in Wirklichkeit gehören sie zusammen und schweißen ineinander wie Materie und Form, Leib und Seele, weil das lebendige Christentum von innen heraus zur Kirchenbildung treibt und es zu widersprechenden Lehrmeinungen und falschen Sekten führt, wenn der Stifter des Christentums die alleinberechtigte Kirchenform nicht persönlich festgesetzt hat. Hieraus rechtfertigt sich die alte Einteilung der Apologetik in zwei Teile, die man als demonstratio christiaria et caiholica zusammenzufassen pflegte. Die Xot der Zeit jedoch hat dazu gezwungen, ihr Fundament noch tiefer zu graben und hinter den Beweis des Christentums auf die Naturreligion zurückzugehen, indem ihr Natürliche unterster Aufbau tatsächlich mit der demonstratio religiosa einsetzt. Wie überall, so benutzt sie auch hier teils historische, teils philosophische Be- weismittel, insofern sie sowohl an die Tatsachen der Religionsgeschichte als an die Endergebnisse der Religionsphilosophie anknüpft und von diesem Boden aus den suchenden Menschengeist aus der natürlichen Religion bis an die Hallen des Christentums und von da zu den Pforten der Kirche heraufführt. Lst doch das religiöse Bewußtsein der Völker in seiner zeitlichen wie örtlichen Allgemeinheit nicht minder eine unleugbare Geschichtswahrheit, die philosophisch auf das Wesen des Geistes zurück- geführt werden will, als es Christentum und Kirche sind, welche als welt- geschichtliche Tatsachen in die äußere Erscheinung tretend den Verstand zu einer allumfassenden, höheren Erklärung herausfordern.

Aus dem dreifachen Gegensatz, der sich wider die katholische Die Gegensätze Religion erhebt, konstruiert sich Plan und Aufriß der Apologetik von Veiigiön. ^" selbst. Von oben nach unten schreitend, läßt sich der Widerspruch gegen den Katholizismus in planmäßiger Abfolge kurz so formulieren: i. Die katholische Kirche ist nicht die von Christus gestiftete Heils- und Gnaden- anstalt, sondern ein Zerrbild der apostolischen Urkirche, deren reine Gestalt erst die Reformation wiederhergestellt hat : Protestantismus; 2. das Christentum überhaupt ist keine übernatürlich geoffenbarte, gottgewollte Rehgionsform : Judentum, Islam, Heidentum; 3. jede auf den Monotheis- mus gegründete allgemeine Vernunftreligion überhaupt ist eine grundlose Fiktion und ein großer Irrtum : Atheismus, Pantheismus, Materialismus. Vergleichen wir diese Dreigliederung mit einer terrassenförmigen Hoch- burg, so leuchtet ein, daß auf der untersten Zinne sämtliche Theisten aus allen Lagern zusammenstehen, um den Gottesglauben und die theistische Religion mit vereinten Kräften gegen ihre gemeinsamen Widersacher in Schutz zu nehmen. Aber schon auf der mittleren Terrasse vollzieht sich eine Trennung der Lager, indem die nichtchristlichen Bekenntnisse aus- scheiden, um die Verteidigung der christlichen Religion den Schulter an Schulter kämpfenden Katholiken und Protestanten allein zu überlassen.

4q6 Joseph Pohle: Christlich-katholische Dogmatik.

Aber auf der höchsten und letzten Zinne trennen auch sie sich vonein- ander, die auf zwei Stationen als treue Waffenbrüder Seite an Seite ge- fochten hatten, und werden plötzlich zu Gegnern, da der Protestantismus von Papst und Kirche, Hierarchie und Verfassung, Tradition und Unfehl- barkeit, Siebenzahl der Sakramente und opus operatum usw. nichts wissen will. Geschichtlich hat sich der Kampf der Weltanschauungen in umge- kehrter Reihenfolge abgespielt, indem zuerst durch die Reformation die gottgesetzte Autorität der Kirche, sodann durch die deistische Auf- klärungsphilosophie die Berechtigung des Christentums und zuletzt durch den atheistischen Monismus die Grundlagen des Theismus und der Ver- nunftreligion erschüttert und preisgegeben wurden. Ein flüchtiger Blick auf Grundriß und Bauplan zeigt schon, daß die Apologetik nicht nur im besten Sinne des Wortes eine wahre Wissenschaft verkörpert, sondern Einheitlichkeit auch trotz ihrer Dreistufigkeit der Ausführung eines einheitlichen, das ganze straff durchziehenden Grundgedankens dient. Von der völker- geschichtlichen Tatsache der überall angetroffenen Religion ihren Ausgang nehmend, deren Wesen, Inhalt und Notwendigkeit sie zergliedert, verfolgt sie diese geistige Grunderscheinung durch alle Stufen hindurch bis hinauf zu ihrer erhabensten Ausprägung in christlicher Offenbarung und Kirche, deren Existenz, Daseinsberechtigung und Göttlichkeit sie mit allen zu Ge- bote stehenden Mitteln der natürlichen Wissenschaft historisch, kritisch und philosophisch dartut, wenn sie auch darauf verzichten muß, den eigentlichen Inhalt der Oflfenbarungssätze, namentlich der übervemünftigen Glaubensgeheimnisse, durch einleuchtende Vernunftgründe zu beweisen. Weil das Christentum mit dem bcAvußten Anspruch einer Mysterienreligion auftritt und ohne diesen Vorzug seines reichsten und tiefsten Inhaltes be- zi.i der raubt würde, so kann das Ziel, das die Apologetik erreichen will, nur in zweierlei bestehen: r. Die Glaubwürdigkeit der in Christus vollendeten und in seiner Kirche sorgsam gehüteten Offenbarung zur wissenschaft- lichen (äußeren) Evidenz zu erheben; 2. dem reflektierenden Verstände und dem nach besonnenen Motiven handelnden Willen die Glaubenspflicht zum klaren Bewußtsein zu bringen. Durch ersteres Moment wird dem von der Gnade getriebenen Glauben seine Vernünftigkeit, durch letzteres seine sittliche Freiheit und Verdienstlichkeit gewährleistet. So wird der Un- gläubige unter dem Beistand der göttlichen Gnade zum übernatürlichen Glauben geführt, während der Gläubige, welcher nachträglich auch die praeatubula fidci und viotiva crcdibüitatis mit Glaubensgewißheit umfaßt, durch eben diese Betrachtungen in seiner unerschütterlichen Überzeugung neu befestigt und gestärkt wird.

Die prinzipielle Verschiedenheit zwischen dem apologetischen und dogmatischen Beweisverfiihren löst auch das bekannte Rätsel, inwiefern der Katholik ohne Zirkelschluß für die Göttlichkeit der Bibel das Zeugnis seiner Kirche und umgekehrt für die Göttlichkeit seiner Kirche das Zeugnis der Bibel anrufen darf. Tatsächlich liegt keine petitio

Apoloj^etik.

A. Die allfjemeinc Dogmatik oder Apologetik. II. Die Methode der Apolofjetik. 4Q7

principii vor, da die jeweilige Betrachtung unter einem gänzlich ver- schiedenen Gesichtswinkel angestellt wird. Denn bei der zweiten Be- trachtung g^lt dem Katholiken die Bibel vorerst noch nicht als ein vom heiligen Geist inspiriertes, mit göttlichem Ansehen besiegeltes Buch, sondern lediglich als eine Sammlung von Urkunden ähnlicher Art wie Xenophon oder Tacitus, an deren Erforschung nach Entstehungszeit, Ur- sprung, Echtheit, Unverfälschtheit und Glaubwürdigkeit er mit den gewöhn- lichen Mitteln der profanen Kritik vorurteilslos herantritt, als ob er ein Ungläubiger wäre. In diesem natürlichen Milieu erscheint ihm aber nach gewissenhafter und unbefangener Prüfung der evangelische Bericht über die Gründung und Beschaffenheit der Kirche Christi mit so helleuchtenden Charakteren umgeben, daß er auch vom rein wissenschaftlichen Stand- punkt aus nicht umhin kann, in Kirche und Papsttum eine wahrhaft gött- liche Einrichtung anzuerkennen. Wenn er nun hinterher findet, daß diese von ihm als gottgesetzt anerkannte Kirche ihrerseits durch ihr authentisches Zeugnis die Heilige Schrift, in der er forschte, als kanonisch verbürgt und ihren Ursprung und Inhalt auf eine Theopncustie zurückführt, so geht er nicht etwa denselben Weg zurück, den er schon genommen hatte, sondern schlägt unter Verlassung der alten Straße einen neuen Pfad ein, der ihn auf seinen Anfangspunkt zurückbringt. Das ganze Verfahren ist ein in- struktives Beispiel für die Fruchtbarkeit der auch in manchen Wissen- schaften üblichen sog. „regressiven Methode".

II. Die Methode der Apologetik. Nach dem Vorgetragenen Metboden, kann die Methode der Apologetik nur die historisch - philosophische, keinenfalls die dogmatische sein. Denn im Vorstadium des Glaubens ist die Glaubwürdigkeit und Wahrheit des Christentums nur mit den natür- lichen Mitteln menschlicher Wissenschaft erweisbar, während der Dog- matiker den bereits gewonnenen Glaubensstandpunkt als gegeben voraus- setzt. Die apologetische Aufgabe bringt es mit sich, daß auch die polemische Methode einen breiten Raum einnimmt, da die Position des Polemik und Gegners auf allen drei Stufen erst genau ermittelt sein will, um wissen- schaftlich erschüttert zu werden. Jedoch soll das Ziel der Polemik niemals die Beschämung, Kränkung und Verletzung, sondern immer nur die Ge- winnung und Überzeugung des GegTiers sein. So endet die Polemik zu- letzt in der Irenik. Faßt man das Wesen der Apologetik vollends als strenge Prinzipienlehre auf, so kann die Polemik als solche ganz in den Hintergrund treten, weil eine Fundamentaltheologie darauf bedacht sein muß, die Grundlagen des Theismus, des Christentums und des Katholizis- mus in einer Weise zu legen, daß die gegnerischen Einwendungen sich mehr sachlich als polemisch sozusagen von selbst erledigen. Man wundert sich vielleicht auf protestantischer Seite darüber, daß die katholischen Universitätskreise es bis jetzt geflissentlich verabsäumt haben, den be- kannten Werken von Hase und Tschackert ihrerseits etwa ein „Handbuch

DiK Kultur dkr Gegenwart. I. 4. 32

4g8 Joseph Pohlk: Christlich-katholische Dogmatik.

der katholischen Polemik" großen Stiles entgegenzusetzen, obschon es an Stoff, Anreiz und Gelegenheit hierzu nicht mangelt. Diese auffallende Erscheinung, die allerdings mit dem Zeitalter Bellarmins stark kontrastiert, hat einen tieferen Hintergrund. Einmal ist es das tiefe und stark empfundene Bedürfnis nach konfessionellem Frieden, welcher den Katho- liken gerade in den erregten Zeitläuften der Jetztzeit als ein so hohes und für die Blüte des gemeinsamen Vaterlandes so unentbehrliches Gut erscheint, daß sie bei der völligen Aussichtslosigkeit einer Wiederver- einigung der getrennten Konfessionen sich darauf beschränken, ihren eigenen Besitzstand zu erhalten und die feindlichen Spannungen nach Kräften zu vermindern. Daneben kommt für diese polemische Zurück- haltung noch ein zweiter innerer Grund hinzu: die Tatsache des allmäh- lichen Fallenlassens der „symbolischen Bücher" seitens der Protestanten. Hat der katholische Theologe es mit keinem geschlossenen Konfessions- system mehr zu tun, weil der Symbolzwang ins Wanken geraten ist, so sieht er sich, wollte er als Polemiker auftreten, der trostlosen und unfrucht- baren Aufgabe gegenüber, mit den Überzeugungen und Aufstellungen von Individuen statt mit den autoritativen Feststellungen kirchlicher Gemein- Zerfaii der schaftcn kämpfen zu müssen. Eben diese Sachlage hat in den letzten

Symbolik.

Jahrzehnten allmählich dazu geführt, daß auch die ehemals so emsig ge- pflegte Symbolik oder vergleichende Darstellung der Lehrgegensätze katholischerseits auf den Aussterbeetat gesetzt worden ist, weil die pro- testantische Orthodoxie, die allein noch einen ruhenden Pol in der Er- scheinungen Flucht darbot, immer weiter zurückgedrängt wurde. Daß aber diese in immer weitere Kreise eindringende Glaubenszersetzung, welche einer förmlichen Selbstauflösung immer näher zu kommen droht, dem Katholizismus erwünscht sei oder gar ihn schadenfroh mache, kann man gewiß nicht behaupten. Geschieht doch die langsame Abbröckelung fast ausschließlich in dem Sinne, daß nicht die katholische Kirche, sondern der Unglaube den größten Profit davon zieht. Wie einst der weitschauende Kardinal Manning in England der von Gladstone angestrebten Entstaat- lichung der anglikanischen Hochkirche aus religiösen Gründen abwehrend und feindlich gegenüberstand, indem er von dieser politischen Maßnahme ganz richtig die Entchristlichung der englischen Gesellschaft befürchtete, so schauen auch die deutschen Katholiken dem Zerfall der Orthodoxie mit wehmütigen Blicken zu, weil sie besorgen müssen, daß der religiöse Skeptizismus auch auf die Grundlagen des noch immer christlichen Staates nachteilig und zerstörend zurückwirkt. Wie stände es auch um das Christentum der Deutschen, wenn der Glaube an die Gottheit Christi und an die im Namen der Trinität zu spendende Taufe in allen Bevölkerungs- klassen endgültig vernichtet wäre? Psychoioßische An Stelle der historisch - philosophischen Methode hat man nament-

i-rankreich. Uch iu Frankreich, wo der Kantianismus das Geistesleben der Nation stark durchsetzt und in Skepsis aufgelöst hat, neuerdings eine neue

A. Dio allfjcmeinc Dogmalik oder Apologetik. III. Aktuelle Fragen. 4QQ

Methode einzuführen oder zu bevorzugfen angefang-en, nämlich die anthro- pologisch-p.sychologische. Weil nicht so sehr der helle Verstand als das zweifelsüchtige Herz des modernen Menschen schwer krank danieder liege, so müsse man neue Mittel und Wege aufsuchen, um eher das Ge- wissen und das Gemüt aufzurütteln, als den Verstand durch Gründe zu überführen. Ohnehin führe im Geistesleben der Wille den Primat, wie schon Duns Scotus erkannt habe, weswegen überhaupt die voluntaristische Richtung vor der intellektualistischen den Vorzug verdiene. Aus diesem Grunde sei auch im Beweis des Christentums den inneren Kriterien der Harmonie, Schönheit und sittlichen Kraft eine größere Aufmerksamkeit zu schenken als den äußeren Kriterien, welche sich auf die Weissagungen und Wunder stützen. Machen doch die sog. moralischen Wunder, die man kurz den Beweis des Geistes und der Kraft nennen kann, auf den modernen Menschen einen weit tieferen Eindruck als die physischen Wunder Christi an Naturelementen, Kranken und Besessenen. Wer ein- mal das Evangelium in sich innerlich erlebt und seine Wunder an sich selbst erfahren habe, der könne nicht anders als dessen göttlichen Ur- sprung anerkennen. Diese Erwägungen beweisen jedenfalls so viel, daß der moderne Apologet, welcher die Zeichen der Zeit versteht, dem psy- chologischen Moment eine viel höhere Beachtung als früher schenken muß, wenn er als Arzt und Helfer in der Not des Nächsten einen wirk- lichen Einfluß auf die Zeit gewinnen will. Aber wenn auch dem Herzen und Gemüt heute mehr geboten werden muß als bisher, so verliert dennoch der intellektuelle Faktor nichts von seiner Macht und Wichtigkeit, einmal weil die zahlreichen kritisch oder skeptisch veranlagten Geister sich schwerlich von religiöser Sentimentalität leiten lassen, sodann weil auf alle Fälle auch objektive Maßstäbe und Normen gewonnen werden müssen, um allen denen zu Hilfe zu kommen, welche die innere, umwandelnde Kraft des Evangeliums noch nicht persönlich an sich erfahren haben. Dabei sollen aber die biblischen Weissagungen und Wunder nicht als bloße Schaustücke der göttlichen Wundermacht hingestellt werden, als welche sie apologetisch kaum einen Wert besitzen, sondern als feierliche Beglaubigungen und Besiegelungen der Lehre und des Werkes Christi von oben.

III. Aktuelle Fragen. Wenngleich der gesittete Durchschnitts- Beweis der

, .. -Lin -IT r natürlichen

mensch mit der bloßen „Vemunftreligion" wegen ihrer Unvollkommenheit, Keiision. Lückenhaftigkeit und Unsicherheit in der Praxis nicht auskommt, so bleibt dennoch die Grundlegung der natürlichen Religion, welche auf dem Dasein Gottes, der Geschöpflichkeit der Welt, der Unsterblichkeit und sittlichen Willensfreiheit der Seele wie auf drei mächtigen Tragbogen ruht, eine der wichtigsten, vielleicht die wichtigste Aufgabe der modernen Apologetik. Im Zentrum steht die Existenz Gottes, der Monotheismus. Denn wer sich zum persönlichen Gott bekennt, dem fällt es nicht schwer, in der sicht-

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coo Joseph PohlE: Christlich-katholische Dogmatik.

baren Welt eine Schöpfung Gottes und in der Menschenseele ein unsterb- liches, sittlich-freies Geistwesen anzuerkennen. Die zwei Lebensfragen: Woher wohin? sind für ihn ein für allemal gelöst. Das Vertrauen in die Gottesbeweise hat bekanntlich Kant zuerst in nachhaltiger Weise er- Gottesbeweise. schüttcrt. Und doch war es ihm nicht gelungen, alle Gottesbeweise durch einen dialektischen Kunstgriff auf das sog. ontologische Argument des Anseimus von Canterbury als Typus zurückzuführen und durch die Be- seitigung des letzteren auch alle übrigen wie mit einem Axthieb über den Haufen zu werfen. Das Anselmsche Verfahren, schon von einem Zeit- genossen namens Gaunilo und später von Thomas von Aquino als haltlos getadelt, war Jahrhunderte hindurch auf der ganzen Linie preisgegeben, nachdem die Wiederbelebungsversuche durch Scotus, Cartesius und Leib- niz erfolglos geblieben waren. Der alte Gottesbeweis selbst, der mit dem apriorischen Verfahren a simultaneo nichts gemein hat, ist wie ein Fels in der Brandung stehen geblieben, hat die Jahrhunderte überdauert und lebt in verjüngten Formen kraftvoll fort. In der einsichtigen Erkenntnis, daß sogar Kant, der Zerstörer der Gottesbeweise, das Dasein Gottes als sittliches Postulat der praktischen Vernunft unangerührt wissen wollte, beginnt die neuere Apologetik, dem sittlichen Gottesbeweis aus der sitt- lichen Ordnung und dem Gewissen eine umsichtigere Pflege zu widmen, da von hier aus auch für solche passende Anknüpfungspunkte sich linden, welche durch ihre einseitige Beschäftigung mit der Empirie den Sinn für Metaphysik eingebüßt oder wenigstens abgestumpft haben. Und doch läuft schon der bloße Versuch, die Metaphysik um jeden Preis los zu werden, in letzter Linie wiederum auf Metaphysik hinaus und tut so ihre Berechtigung und Notwendigkeit dar. Eben darum aber darf über dem ethischen oder auch psychologischen Gottesbeweis der kosmologische, welcher an die aufdringliche Weltwirklichkeit appelliert, keineswegs ver- nachlässigt werden, nur daß man nicht aus dem Auge verliere, daß der volle Erfolg erst vom Kausalitätsgesetz abhängt, ohne dessen Anerkennung nicht einmal die exakten Wissenschaften auch nur einen Schritt vor- wärts können. Die Leugnung der Kausalität bedeutet eben Stillstand der Vernunft. Der sog. teleologische Gottesbeweis aus der Zweckmäßig- keit und Zielstrebigkeit, dem auch Kant seine Achtung nicht versagte, gewinnt im selben Maße an schlüssiger Beweiskraft, als es den Natur- wissenschaften gelingt, immer tiefer in das Innere des Naturgetriebes ein- zudringen und uns zu vergewissern, daß die Zielstrebigkeit nicht den Weltdingen von außen sozusagen aufgezwungen worden ist, sondern mit ihrem Sein und Wesen als innere Form unzertrennlich verknüpft erscheint. So weist denn die gegebene Weltordnung nicht nur auf einen Weltordner oder Demiurgen, sondern auf einen Weltschöpfer zurück. Mit einer ge- wissen Vorliebe wirft man sich heute auf den Ausbau von Gottesbeweisen, welche die neuesten Errungenschaften der Naturforschung zum Ausgangs- punkte nehmen, insofern der aus dem Entropiegesetz gefolgerte Anfang

A. Die allgemeine Dogmatik oder Apologetik. III. Aktuelle Fragen. c^oi

des Weltlaufes auf einen ersten Beweger des Weltalls, die empirische Unmöglichkeit der Urzeugung oder gcmrafio acqiiivocn auf einen über- weltlichen Urheber des ersten Lebens, endlich der durch kein Kunststück verwischbare Wesensunterschied zwischen Tier und Mensch auf einen Schöpfer des ersten Menschen schließen läßt. Mögen alle diese mehr physischen als metaphysischen Argumente bei gleichgestimmten Seelen ihres tiefen Eindruckes auch nicht ganz verfehlen, so verdienen doch die streng metaphysischen, auf soliderer Basis aufgeführten Gottesbeweise aus der Kontingenz, Veränderlichkeit und Kausalität der Weltdinge ent- schieden den Vorzug, während die augnstinischen Betrachtungen über die Urwahrheit, Urg-üte und Urschönheit nur dem an die sublimste Meta- physik gewöhnten Verstände intellektuelle Befriedigung gewähren. Wie immer aber man die Ausw^ahl treffe, in der einen oder anderen Weise muß unserem suchenden Zeitalter geholfen werden. Der moderne Mensch Das Gottsuchen

. der Gegenwart.

fühlt sich geistig verlassen. Er schmachtet nach emem Ideal, das er m der nihilistischen Philosophie vergeblich sucht. Sein Sinn für Höheres ist nicht erstorben, aber betäubt. Im Atheismus findet er auf die Dauer weder Ruhe noch Glück. Allein dieser muß eben überwunden werden. Die greisenhafte Abgelebtheit der Geister, die ziellose Jagd nach dem Glück, die Unzulänglichkeit von Kultur und Wissenschaft, die erschreck- lich zunehmende Unsittlichkeit und Frivolität, die noch stets den natür- lichen Troß des Atheismus bildete alles dies muß mit der Zeit in ge- waltsamem Rückschlag wie von selbst einen heilsamen Umschwung herbeiführen und den religiösen Geist aus seinem tiefen Schlummer wieder wecken, jenen Geist, der vom Gottesbewußtsein unlöslich ist. Vielleicht, daß auch schwere Schicksalsschläge über ganze Völker und Länder, wie vormals die französische Revolution, nötig sein werden, um der modernen Gesellschaft die Augen über den klaffenden Abgrund zu öffnen, an dessen Rand sie mit verbundenen Augen tanzt.

Die Stellung zum Darwinismus ist eine andere aktuelle Frage für v> die Apologetik. Seit in den Reihen der Naturforscher selbst seit einiger Zeit ein merkwürdiger Umschwung zuungunsten der Zulänglichkeit des „Kampfes ums Dasein" als eines artbildenden Prinzips sich vollzogen hat, beginnt die neue Reihung sich schon in dem von Kölliker, von Baer, Wigand u. a. beg-ünstigten Sinne zu formen, daß zwar bei der Unhaltbar- keit der früheren Konstanztheorie eine Deszendenz der Arten angenommen werden muß, aber auf dem Wege der Entwicklung aus inneren Ursachen. Selbst ein deutscher Je.suit, P. Wasmann, hat die Abstammungslehre für gewisse Ameisengäste als höchst wahrscheinlich nachzuweisen vermocht und der Forschung neue Wege eröffnet. Im übrigen haben verständige Theologen schon längst sich bemüht, die moderne Entwicklungslehre gegen übereifrige Zeloten in Schutz zu nehmen, und sogar den Darwinismus in der Gestalt, wie ihn der ältere Darwin und sein treuester Anhänger A, R. Wallacc vortrugen, als vereinbar mit dem Theismus und der christ-

arwinismuj

C02 Joseph Pohle: Christlich-katholische Dogmatik.

liehen Weltanschauung hingestellt. Dagegen lehnen sie es mit allen ein- sichtigen Naturforschern nach wie vor ab, der Abstammungslehre in ihrer Anwendung auf den Menschen nach seiner geistig-sittlichen Seite Kon- zessionen zu machen, weil eben die Kluft zwischen Mensch und Tier durch kein vermittelndes Übergangsglied überbrückt werden kann. Allein es ist doch als ein bedeutender Fortschritt zu begrüßen, daß die neueste Apologetik dem Entwicklungsgedanken ein großes Stück Weges entgegen- kommt und so die Reibungsflächen zwischen Theologie und Xaturforschung vermindert. Mosaischer In noch erheblicherem Maße trifft dies für das Verhältnis zwischen

bericht. Naturwissenschaft und Bibel zu, wo gegenüber den heißen Debatten früherer Dezennien eine vollständige Ernüchterung Platz gegriffen hat. Nachdem die altmodische Sintflut- und Restitutionstheorie ebenso glücklich in der Versenkung verschw^unden ist wie der strenge Konkordismus, hat man sich jetzt fast allgemein dem Idealismus zugewandt, welcher sich mit der pragmatischen statt chronologischen Auslegung des Hexaemeron zufrieden gibt. Von allen idealistischen Erklärungsversuchen genießt zur Zeit wohl die Visionstheorie das größte Ansehen, die das Sechstagewerk für eine ursprüngliche Vision Adams über sechs in der Verzückung geschaute Schöpfungstableaus ausgibt und durch diesen Griff die Bibel gründlich außer jeden Kontakt mit der Naturforschung setzt. Naturforscher und Theologen wandeln nunmehr getrennte Wege: zu einem Zusammenstoß kann es nicht mehr kommen. Damit ist eine lästige und unerquickliche Streit- frage hoffentlich für immer glücklich aus der Welt geschafft. Gegenüber der Bibel- und Babelfrage hat der mosaische Schöpfungsbericht seine geistige und ethische Überlegenheit über alle außerjüdischen Schöpfungs- sagen siegreich behauptet. Die Christus- Kein anderes Thema hat die Geister der Gegenwart so ergriffen, er-

schüttert und voneinander geschieden als die brennend gewordene Christus- frage. In der Mitte aller Fragen thronend, bleibt sie auch für den Un- gläubigen „das Problem der Probleme". Gibt zwar die neueste Kritik des Lebens und Wesens Jesu vor, auf streng wissenschaftlichem Wege mit Hilfe der historischen Methode zu den Ergebnissen gelangt zu sein, welche mit der Leugnung der Gottheit Christi, seiner Wundertaten und Auferstehung, seiner Stiftung und Ausstattung einer Kirche endigen, so hat sie dennoch ihr ten- denziöses Verfahren so wenig zu verschleiern gewußt, daß sie gleich am An- fange den historischen Tatsachen selbst, wie den Wundern Jesu, ungescheut Gewalt antat und die lebendige Erscheinung des Christentums gegen alle geschichtliche Auffassung auf ein inhaltloses Ostermärchen, dem keine Ostertatsache in der wirklichen Auferstehung des Herrn entspricht, grün- dete. Allein schon Paulus sagt: Ist Christus nicht auferstanden, so ist euer Glaube eitel. Nachdem die Betrugs- und Scheintodhypothese jetzt wohl von allen Seiten verlassen ist, erwächst der Apologetik die dringende Aufgabe, die heute bevorzugte Visionshypothese in ihren neuesten Ge-

A. Dio all^'cmcinc Doj^miatik oder Ap(>lo<;elili. III. Akluolle I'"rapcn. SOS

staltungen desto gründlicher als leeren Schein aufzuzeigen und ihre historische und psychologische Unmöglichkeit darzutun. Auch in der Verteidigung des gottmenschlichen vSelbstbewußtseins Christi darf sie keine Anstrengungen scheuen, um die Lieblingsillusion zu zerstören, als habe Jesus in der bib- lischen Lehre vom „Himmelreich" lediglich eine eschatologische Hoffnung aufpflanzen statt auch ein Gottesreich von Christgläubigen auf Erden d. i. seine Kirche gründen wollen. Die Beweiswaffen liegen schon bei den Synoptikern bereit. Hier sei jedoch eine wichtige Zwischenbemerkung erkenntnistheoretischer Natur eingeschaltet. Schon bei den Gottesbeweisen läßt sich die Beobachtung machen, daß ihre Einschlagkraft eine gewisse sittliche Empfänglichkeit voraussetzt, wie guter Ackergrund für das Keimen und Gedeihen der Saatfrucht. Wollte der Atheist sich auch nur zu dem hypothetischen Gebet erschwingen: „O Gott, wenn du wirklich existierst, so schicke mir mehr Licht, daß ich dich erkenne", so wäre schon viel gewonnen. So setzen auch die apologetischen Beweise für die Auf- erstehung und Gottheit Jesu, welche ihrer Natur nach niemals bis zu mathematischer Evidenz hinaufgehoben werden können, im Herzen die Reinigung von bewußten Vorurteilen, die Abneigung gegen jede Sophistik und hohe Lauterkeit des Wahrheitsstrebens voraus, wie denn schon Theophil von Antiochien (f um i86) das schöne Bild vom rostigen Spiegel ge- brauchte, der die Sonne sowenig widerzuspiegeln vermöge wie eine sündige Seele das Licht der Gottheit. In der Tat, hinge das ewige Heil der Menschen von mathematischen Axiomen ab, man müßte mit der Erwartung rechnen, daß die häßlichste Sophistik der Menschen sich gegen ihre Allgemeingültigkeit mit derselben unverwandten Kraft kehren würde, wie jetzt gegen Gott, Seele und Christus. Nur weil niemand ein persönliches Interesse daran hat, ob ein Alexander der Große oder Julius Cäsar historische Gestalten sind oder nicht, unterläßt man es, über ihre Existenz und Welttaten ernstliche Zweifel zu erheben, wogegen erst kürz- lich die geschichtliche Wirklichkeit Christi gegen sozialdemokratische Oberflächlichkeit hat in Schutz genommen werden müssen.

Ein wichtiges Kapitel bildet die durch die neuesten Babelforschungen Inspiration der

, j . - Bibel.

brennend gewordene Bibelfrage. Im Vordergrunde des Interesses steht nicht so sehr der Schriftkanon, welcher geschichtlich gesichert ist, als vielmehr die Inspiration, welche von der höheren Bibelkritik mit allen Kräften zu er- schüttern versucht wird. Nach katholischer Überzeugung, der auch gläubige Protestanten zustimmen, sind alle im Schriftkanon enthaltenen Bücher beider Testamente auch die deuterokanonischen unter dem Antrieb des Heiligen Geistes verfaßt, so daß ihr ganzer Inhalt als „Wort Gottes" zu verehren ist. Genügt diesem Postulat zwar vollauf die Annahme einer bloßen Realinspiration, da Stil, Gliederung, Auffassung der verschiedenen Hagiographen jede Verbalinspiration ohnehin ausschließen, so hat sich doch je länger je mehr die Notwendigkeit herausgestellt, den menschhchen An- teil, den die inspirierten Schriftsteller aus eigenem hinzubrachten, vom

C.OA Joseph Pohle: Christlich-katholische Dogmatik.

göttlichen Element schärfer zu sondern und in seiner Tragfweite für die Art der Wahrheit festzustellen, welche der göttliche Inspirator der Mensch- heit hat mitteilen wollen. Für das naturwissenschaftliche Grenzgebiet ist diese reinliche Scheidung unter der nachhaltigen und warnungsvollen Nachwirkung des berühmten Galileistreites bereits glücklich vollzogen. Kein Mensch denkt mehr daran, aus der Bibel astronomische, geologische, botanische, zoologische Kenntnisse schöpfen zu wollen, da die Hagiographen als echte Kinder ihrer Zeit nur die volkstümliche Anschauung wieder- geben, welche unter Verzicht auf die absoluten Maßstäbe lediglich auf der relativen Wahrheit des äußeren Augenscheines ruht. Nunmehr gilt es, die gleichen Grundsätze in vorsichtig abwägender Weise auch auf die historischen Fragen des Alten Testamentes zu übertragen und das Prinzip der Relativität auch hier, wo es nottut, unn achsichtlich zur Geltung zu bringen. Den Maßstab der modernen Geschichtschreibung mit ihrem kritischen Apparat an die historischen Bücher der Bibel anlegen wollen, hieße einem offenbar trügerischen Anachronismus verfallen. Schon hat die Encyklika Pruvidentissiinus Dens des Papstes Leo XIII. (1893) den richtigen Weg gewiesen und die französische Apologetik bereits eine Reihe fruchtbarer Ansätze gezeitigt, welche der Bewältigung der großen Aufgabe baldigen Erfolg versprechen. Schon jetzt kann man voraussagen: der Sturm gegen die Inspiration wird siegreich abg^eschlagen werden. Das Toieianz- Dic Lchrc von der „alleinseligmachenden Kirche" zwingt die Apo-

logetik zur Stellung der prinzipiellen Frage nach dem Verhältnis der christlichen Konfessionen zueinander: das Problem der Toleranz. Wir stehen nicht an zu erklären, daß dasselbe im freiheitlichen, modernen und nicht im mittelalterlichen Sinne gelöst werden muß. Man unterscheidet mit Recht eine dreifache Toleranz: die theoretisch-dogmatische, die prak- tisch - bürgerliche und die staatlich - politische. Von diesen drei Arten ist die zweite durch das Gebot der christlichen Nächstenliebe, die dritte durch Rücksichten der Staatsräson vorgeschrieben und für die Aufrecht- erhaltung des konfessionellen Friedens unerläßlich. Wie steht es aber mit der zuerst genannten, der theoretisch -dogmatischen Toleranz? Es ist Dogmatische von hervorragender Seite behauptet worden, daß von konfessionellem Frieden so lange keine Rede sein könne, als bis die Katholiken sich dazu entschließen, auch im Protestantismus eine „berechtigte Art des Christen- tums" anzuerkennen. Wäre gesagt worden: „eine historisch berechtigte Erscheinungsform des Christentums", so ließe sich darüber reden. Allein die Anerkennung der inneren Gleichberechtigung beider Konfessionen würde im Grunde auf nichts geringeres als die widerspruchsvolle Zu- mutung hinauslaufen, daß der Katholik sich nebenbei innerlich als Protestant und der Protestant innerlich auch als Katholik fühlen müsse, da beide ja unter der gemachten Voraussetzung eine berechtigte Art des Christentums darstellen sollen. Eine Wahrheit mit doppeltem Boden aber kann es eben- sowenig geben wie eine friedliche N'ersöhnung zwischen Ja und Nein.

A. Die allgemeine Dogmatik oder Apologetik. III. Aktuelle Fragen. e^o^

Wer sich nicht von vornherein auf den vStandpunkt des relig-icisen In- differentismus stellt, indem er alle Religionen für gleich gut oder gleich schlecht ausgibt, der ist logisch genötigt, seiner eigenen Konfession die Wahrheit und folglich Alleinberechtigung beizulegen und jeder andern Religionsforni die theoretische Gleichberechtigung abzusprechen. Es liegt eben in der Natur der Sache, daß sowohl die subjektive Wahrhaftigkeit wie die objektive Wahrheit gegen den wirklichen oder vermeintlichen Glaubensirrtum den Widerspruch herausfordert. Deshalb sehen wir, wie sogar innerhalb der protestantischen Landeskirche die Orthodoxen gegen die Liberalen und die Liberalen gegen die Orthodoxen eine viel schärfere sachliche Intoleranz an den Tag legen als die Katholiken gegen beide. Aber sachliche Opposition bedeutet weder persönliche Unverträglichkeit noch politische Vergewaltigung, wie schon ein Blick auf unsere parlamen- tarischen Kämpfe dartut. Sogar die Kriegserklärungen zwischen den modernen Staaten, dieser Ausbruch sachlicher Intoleranz in höchster Potenz, werden heute im ausgesuchtesten Stile internationaler Höflichkeit erlassen. Was die religiöse Toleranz von jedem gesitteten Menschen verlangt und verlangen muß, das ist einzig die sittliche Hochachtung vor der fremden Glaubensüberzeugung. Weiter kann und darf auch der überzeugte Pro- testant nicht gehen, will er nicht seinem eigenen Bekenntnis untreu werden.

Die These, daß für alle überzeugten Religionsgesellschaften ohne Aus- Ewige Rettung

_ Anders(jläubiger,

nähme die theoretisch-dogmatische Intoleranz der einzig mögliche Standpunkt sei, ist aber mit der Aberkennung der ewigen Seligkeit Andersgläubiger durchaus nicht gleichbedeutend. Namentlich die katholische Kirche trägt dem guten Glauben und der Entschuldbarkeit der Irrenden alle Rechnung. Nicht als ob sie die ewige Rettung der Andersgläubigen ausschließlich auf den unüberwindlichen Irrtum als Ursache zurückführen und so die Ignoranz zur Himmelspforte machen wollte; denn den bewirkenden Grund der ewigen Seligkeit aller Menschen verlegt sie objektiv in das Leidens- verdienst des Erlösers, subjektiv in die Rechtfertigung, sei es durch das Sakrament der Taufe oder den in der Liebe lebendig gewordenen Recht- fertigüngsglauben, lauter Stücke, welche unter Voraussetzung der bona fides, deren Verbreitungsradius möglichst groß anzunehmen ist, auch außer- halb der katholischen Kirche angetroffen werden. Hieraus bestimmt sich der Sinn des vielfach mißverstandenen Satzes: Kxfra Ecclesiam nulla salus. Der vielberufene Grundsatz will selbstverständlich nicht die ebenso un- sinnige wie unchristliche Maxime aussprechen: „Alle Nichtkatholiken werden verdammt", sondern nur im Sinne der „symbolischen Bücher" des Alt- Protestantismus die Wahrheit einschärfen: „Der Beitritt zur Kirche ist für jeden heilsnotwendig, der sie als unumgängliche Heilsanstalt erkannt hat." Was insbesondere das vielfach getrübte Verhältnis zwischen Katholiken Vorschläge zur und Protestanten in Deutschland betrifft, so erheben nicht nur die Staats- lenker, sondern alle aufrichtigen Vaterlandsfreunde den gemessenen Ruf: Die konfessionelle Hetze muß aufhören. Hier möge nur kurz skizziert

5o6 Joseph Pohle: Christlich-katholische Dogmatik.

werden, was die Katholiken zur Verbesserung der gespannten Beziehungen beitragen können. In erster Linie sollten auch sie trotz ihrer ablehnenden Haltung gegen das System sich die wohltätigen Wirkungen vergegen- wärtigen, welche die Reformation auf die katholische Kirche und Wissen- schaft fraglos ausgeübt hat. Denn der Reformation allein war es zu danken, daß mit der jahrhundertelang geplanten und immer wieder ver- schobenen „Reform an Haupt und Gliedern" endlich Ernst gemacht, daß mit den zahlreichen Mißbräuchen in der Kirche gründlich aufgeräumt, daß der Verkommenheit und Unwissenheit des Klerus wirksam gesteuert und der theologischen Wissenschaft ein ungeahntes Feld neuer Betätigung er- öffnet wurde. Man braucht nur das Tridentinum und die darauf folgende Blüte der Spätscholastik zu nennen, um sich von all diesen im Gefolge der abendländischen Kirchenspaltung einherziehenden Wohltaten zu über- zeugen. Sodann haben aber auch die Reformatoren selbst als historische Gestalten ein strenges Recht auf vorurteilslosere, unparteiische, objektive Würdigung, wie denn namentlich auch ihre guten Seiten und persönlichen Vorzüge, an denen es nicht fehlt, gerechte Hervorhebung erheischen. Erfahrungsgemäß ist es der gehässige Ton der Polemik, welcher drüben am meisten verletzt und auch im eigenen Lager verstimmend wirkt, während es doch ein Leichtes wäre, durch sachliche Vornehmheit, solide Beweis- führung, Hochachtung vor der fremden Überzeugung eine durchschlagen- dere Wirkung zu erzielen als durch polternd rohe Sprache, böswillige Verketzerung, Unterschiebung schlechter Motive. Auch die Leistungs- fähigkeit des Protestantismus in der Verbreitung und Förderung von Wissenschaft, Kunst, Religiosität und Kultur sollte nicht unterschätzt, noch weniger in Zweifel gezogen werden. Endlich möge man nicht ver- gessen, daß die Reformationskirchen, welche nunmehr auf eine beinahe vierhundertjährige Geschichte zurückblicken, doch so manches alte Erb- stück aus dem Katholizismus, wie Glaubenssymbole, Bibel, Taufe usw., treu bewahrt und damit ihre innere, wenn auch noch so lose Verbindung mit der Kirche nicht ganz aufgegeben haben. Ist doch schon die bloße Tauf- gemeinschaft ein innerer Kitt, steirk genug, um die christlichen Konfessionen zu einer großen Christusg'emeinschaft zusammenzuschließen, wenn diese auch bis zur eigentlichen Kirchengemeinschaft nicht fortschreitet. Eine solche Betonung des Gemeinsamen und Einigenden statt Hervorhebung des Ver- schiedenen und Trennenden ist in hohem Maße geeignet, einen gemein- samen Boden zu schaffen, auf dem alle Konfessionen für christliches Wesen in Familie und Staat wirken und für das gemeinschaftliche \'aterland ihre besten Kräfte einsetzen können.

B. Die sjicziellc Dogmatik. I. Allfjcmcincs. 507

B. DiK SI'EZnCLLK Dor.MATIK.

L Allee mein es. Im Gecfensatz zur alleremeinen Doematik oder we»en und Apolotretik ist die spezielle Docfmatik reine Glaubenswissenschaft, während li.i.keit cu-r

^ => r- f> Donmatlk.

sie von der Moraltheologie sich durch den besonderen Gesichtspunkt unter- scheidet, daß sie nicht die übernatürlichen Normen des sittlichen Handelns, sondern die des gläubigen Denkens an die Hand gibt. Was man in gegnerischen Kreisen der Dogmatik am meisten zum Vorwurf macht, ist die iVnklage, daß das Ziel ihrer Forschung durch die Vorschrift einer be- stimmten Marschroute zum voraus bezeichnet sei, weswegen bei ihr von unbehinderter Freiheit ebensowenig die Rede sein könne wie von wahrer Wissenschaft. Deshalb erscheine das wissenschaftliche Verfahren, das auch sie gleichsam zum Scheine anwendet, zur bedeutungslosen, formalen Spielerei herabgesetzt. Voreilige Stimmen halten sich aus diesem Grunde für berechtigt, die Entfernung der theologischen Fakultäten aus dem Universitätsverbande zu verlangen, obschon sie eigentlich wissen müßten, daß die Universitäten im Schatten der Theologie entstanden und auf- gewachsen sind. Auch darin tritt die Unbilligkeit ihrer Forderung her- vor, daß die Universitäten dazu da sind, nicht nur selbständige Forscher heranzubilden, sondern auch Staat und Kirche mit Beamten zu versorgen. Trotzdem verdient der Einwand nähere Berücksichtigung. Wegen der Dunkelheit des Glaubensinhaltes waren schon einzelne Scholastiker (Durand, Vasquez) geneigt, der Theologie den Charakter einer Wissenschaft im landläufigen Sinne abzuerkennen. Man sollte sich aber im eigenen Interesse wohl hüten, den Begriff der Wissenschaft zu enge zu fassen. Wenn die volle Einsicht in das Wie der obersten Axiome, auf denen jede Wissen- schaft letztlich ruht, zum inneren Wesen derselben gehörte, so müßte man nicht nur allen Subalternwissenschaften in Bausch und Bogen die Wissen- schaftlichkeit absprechen, weil sie ja ihre obersten Prinzipien aus einer höheren Disziplin entlehnen, sondern auch die euklidische Geometrie, diese echteste und konsequenteste aller Wissenschaften, zur Unwissenschaftlich- keit verdammen, da sie das grundlegende Parallelenaxiom nicht strenge zu beweisen vermag. Eine absolut voraussetzungslose Wissenschaft gibt vorausscuungs- es nicht; denn sie wäre gleichbedeutend mit der Wissenschaft des Nichts. sc-haft. Gleichwie der Logiker mit Begriffen, der Historiker mit Tatsachen, der Chemiker mit Atomen als einem Gegebenen anfängt, so arbeitet auch der Dogmatiker mit dem in Schrift und Tradition hinterlegten Gotteswort als seinem Material, welches der wissenschaftlichen Bearbeitung, Ausbeutung, Begründung und Systematisierung harrt. Indem er die apologetischen Aufgaben in der F'undamentaltheologie als gelöst betrachtet und auf ihrem Grunde weiterbaut, ist er sich zugleich bewußt, daß er nicht mit bloßen Fiktionen, Chimären, Luftschlössern hantiert. Zudem verwendet er beim Ausbau seines Lehrgebäudes alle Methoden der Induktion, Deduktion, Analyse, Synthese usw., welche auch die übrigen Gelehrten zur An wen-

eo8 Joseph Pohle: Christlich-katholische Dogmatik.

dung bringen, wenn auch das Ziel seiner Forschung insoweit gebunden erscheint, als die angenommene Richtigkeit seiner Resultate nicht mit klar erkannten Glaubenswahrheiten und kirchlichen Feststellungen in Widerspruch treten darf. Diese Gebundenheit bedeutet aber keinen Fehler; denn die Widerspruchslosigkeit der Forschungsergebnisse ist auch in jeder anderen Wissenschaft die unerläßliche Vorbedingung ihrer Wahrheit Die Freiheit der Forschung bedeutet nicht das Ungebundensein an Grenzen des Erkennens; denn solche Grenzen existieren überall, sowohl am Anfang Geistesfreiheit, wic am Ende jeder Forschung. Wahrhaft geistesfrei kann nicht derjenige heißen, der sich über alle Denk- und Sittengesetze frei hinwegsetzt; sonst wäre die wildeste Unvernunft zugleich die größte Geistesfreiheit, die schlimmste Libertinage die höchste sittliche Freiheit. Innerlich unfrei ist also auch nicht derjenige, w^elcher für sein Denken und Handeln Schranken anerkennt; denn die Freiheit ist nicht nur mit der Autorität vereinbar, sondern findet an ihr auch ihre innere Vollendung und ihr Korrektiv. Mithin mündet die gläubige Annahme göttlicher Wahrheiten, ohnehin durch die apologetischen motiva credibilitatis auch wissenschaftlich ver- bürgt, nicht aus in unwürdige Geistesknechtschaft, sondern stellt sich dar als pflichtschuldige Gehorsamswilligkeit gegen die überlegene Autorität der göttlichen Urvernunft, die weder trügen noch betrogen werden kann. Bussole und Leuchtturm sind für den Schiffer Orientierungsmittel, die weder die Kunst noch die Wissenschaft der Schiffahrt auf den Kopf stellen. Warum sollten die Dogmen für den Theologen etwas anderes sein als Warnungstafeln, welche ihn auf die Klippen des Irrtums aufmerksam Grenzen der machcn wollen? Im übrigen erreicht die dogmatische Gebundenheit Gebundenheit, bei Weitem nicht den Umfang, wie er behauptet wird. Denn neben den feststehenden Dogmen gibt es ein unübersehbares Gebiet ungelöster, vielleicht unlösbarer Kontroversfragen, an deren Aufhellung der Scharf- und Spürsinn sich nicht weniger frei erproben kann wie an den schwierigsten Problemen der höheren Mathematik, besonders auf dem Gebiete der Funk- tionentheorie. Mag dem Laien diese Behauptung zwar wunderlich vor- kommen, der Fachmann weiß es besser. Selbst hier ruht die Arbeit des Theologen noch nicht: auch den stabilen Dog^men wendet er sein wissen- schaftliches Interesse zu, indem er mit Hilfe der Exegese, Patristik und Dogmengeschichte ihren Unter- und Hintergrund aufhellt, die historischen Bedingungen ihrer Entstehung, Entwicklung und Auspräg-ung aufzeigt, die pragmatischen Berührungspunkte mit verwandten Xachbargebieten aus der analügia fidei aufdeckt und so das Besondere in einen großzügigen all- gemeinen Zusammenhang bringt: das Geschäft der Systembildung. Hinzu- kommt die selbstverständliche Freiheit, an ein gegebenes Dogma nicht zwar mit dem wirklichen, wohl aber dem sogenannten „methodischen Zweifel" heranzutreten und dasselbe rekonstruktiv aus seinen keimhaften Anfängen heraus vor seinem geistigen Auge, soweit es gelingen mag, aufzubauen, eine Aufgabe, welche namentlich die kritisch sichtende Dogmen-

B. Die spezielle Dofjinatik. I. Allgemeines.

509

g-eschichte zu lösen unternimmt. Somit ist die dogmatische Beweg-ungs- freiheit bei aller Gebundenheit immerhin noch groß genug, um mit der- jenigen anderer Forscher recht wohl in Vergleich gestellt werden zu dürfen. Aus dem Wesen, den Aufgaben und Zielen unserer Wissenschaft ergibt sich ihre Methode von selbst. Mehr als im Mittelalter wird vor allem die positive Methode zur Anwendung kommen, welche durch die quellenmäßige Erhebung des Glaubensinhaltes aus der Offenbarung zu- gleich die kirchlichen Feststellungen als wissenschaftlich berechtigt nach- weist; denn das kirchliche Lehramt kann bei seiner inneren Gebundenheit an die gegebene Glaubenshinterlage nichts zum Glaubenssatz erheben, was nicht in den Offenbarungsquellen ohnehin formell oder virtuell enthalten ist. Der positiven Theologie leistet die neuere Dogmengeschichte wert- volle Dienste. Weil diese junge Wissenschaft auf protestantischem Boden erwachsen ist, so empfanden die Katholiken anfänglich eine begreifliche Abneigung gegen ihre Anbauung- und Weiterpflege, zumal sie bald genug beobachten mußten, wie auch hier der freie Subjektivismus zu den ten- denziösesten Geschichtskonstruktionen verleitete. Diese unangenehme Wahr- nehmung darf jedoch nicht davon abhalten, dem vielversprechenden Fache eine größere Sorgfalt zuzuwenden, weil gerade die Dogmengeschichte ein höchst fruchtbares Mittel zur Verjüngung, Belebung und Vertiefung der Traditionsbeweise an die Hand liefert, wenn auch manche apriorische Lieblingstheorieen der Alten darüber zu Falle geraten sollten. Die wenigen Dogmengeschichten, die wir aus katholischer Feder besitzen, haben das Ideal noch nicht erreicht, weil sie teils bei der Ausführung viel zu frag- mentarisch und aphoristisch ausgefallen sind, teils bei der genetischen Zurückverfolgung die großzügige Pragmatik vermissen lassen. Die Be- rechtigung und Notwendigkeit der Dogmengeschichte gründet im Wesen der kirchlichen Lehre als einer fortschreitenden Entwicklung; denn wo eine allmähliche Entfaltung der Dogmen vorhanden ist, da muß es auch eine Geschichte dieser Lehrentwicklung geben. Je energischer die Lösung dieser gewaltigen Zukunftsaufgabe von den katholischen Theologen in die Hand genommen wird, desto klarer wird sich herausstellen, daß die DogTuengeschichte nicht die Auflösung des Dogmas, sondern seine histo- rische Bestätigung im Geleite hat. Hiermit soll jedoch nicht gesagt sein, daß die Dogmatik der Zukunft sich ganz in Dogmengeschichte umarten oder die dogmengeschichtliche Betrachtung die einzige und alleinberechtigte Methode im Lehrbetrieb werden soll. Würde diese einseitige Auffassung doch zu einer Vermischung der Grenzlinien zweier unabhängiger Wissen- schaften führen. Aber die Dogmatik soll die Dogmengeschichte ausgiebig berücksichtigen und ausnutzen, soll stets von ihr lernen und an ihr sich orientieren, soll den Traditionsbeweis nach ihren gesicherten Ergebnissen ausgestalten und vollenden. Noch aus einem anderen Grunde kann die Zukunftsmethode der Dogmatik nicht einseitig die dogmengeschichtliche sein. Es ist das intellektuelle Bedürfnis nach spekulativer Durchdringung

Positive Methode.

Dogmen- geschichte.

Spekulative Methode.

CIO Joseph Fohle: Christlich-katholische Dogmatik.

der Glaubenswahrheiten mit Hilfe der Philosophie, namentlich der Meta- physik. Diese Aufgabe hat wohl am glänzendsten die vScholastik gelöst, weshalb man kurz von der scholastischen Methode spricht. Dieselbe setzt sich eine vierfache Aufgabe: i. den tieferen Inhalt der Dogmen allseitig aufzuschließen; 2. die Zusammenhänge mit den übrigen Offenbarungssätzen aufzuzeigen und so das Ganze als geistigen Kosmos zu erweisen; 3. aus gegebenen Prämissen nach den Regeln der Logik theologische Schluß- folgerungen zu ziehen; 4. durch philosophische Betrachtung die Mysterien unter Anerkennung ihres übervernünftigen Inhaltes nach Möglichkeit auf- zuhellen. Fragt man nach der Art der Philosophie, welche bei der speku- lativen Bearbeitung der Dogmen Handlangerdienste zu leisten hat, so ist grundsätzlich zu bemerken, daß die Offenbarung, obschon an sich schon höchste Lebensweisheit und erhabenste Philosophie, von allen mensch- lichen Philosophiesystemen an und für sich unabhängig ist. Den Kirchen- piatonismus und vätcm mochtc dcr Piatonismus, dem Pseudo-Dionysius der Neuplatonismus

Aristotelismus. ....... f-, . .

am meisten zusagen, weil sie instinktiv in diesen Systemen eine innere Wahlverwandtschaft mit der Erhabenheit des Christentums herausfühlten. Dagegen erblickte die Scholastik im Aristotelismus diejenige Philosophie, welche zum wissenschaftlichen Ausbau des Glaubenssystems am besten sich eignete. Weil der Aristotelismus in seinen Grundzügen und Haupt- ergebnissen zugleich die Philosophie des g^esunden ISIenschenverstandes

Scholastik und Verkörpert, so hat Papst Leo XIII. die aristotelisch-scholastische Philo- sophie, die ihren Höhepunkt im hl. Thomas von Aquino erstieg, den katholischen Gelehrtenschulen als Richtschnur empfohlen und vorgeschrieben. Vermißt wird in der Gegenwart die Pflege der Mystik, einer Schwester der Scholastik. Die fromme Innigkeit, welche die Schriften eines Bernhard, Bonaventura, Heinrich Seuse, Thomas von Kempen inspirierte, scheint entschwunden zu sein. Allerding\s ist die äußere Zeitlage der Mystik allzu ungünstig. Die kritische Verstandesrichtung, das moderne Verkehrs- und Erwerbsleben, die niemals zu sich selbst kommende Berufshast, selbst das verflachende Zeitungsw^esen lassen den Hauch jener Innerlichkeit und Gott- versunkenheit nicht mehr aufkommen, in der allein die zarte Blume der Mystik gedeiht. Und dennoch würde die Mystik auch heute noch eine wertvolle Bereicherung, Vertiefung und Ergänzung für die spekulative Dogmatik bilden. Dem Herzen gebend, was des Herzens ist, käme sie der Verinnerlichung der Frömmig^keit und Liebe zustatten, ohne welche kein Zeitalter dauernde Früchte der christlichen Kultur hervorbringt.

Dogmenbiiduiig. Wie wir schon sahen, hat die Dogmatik mit der Tatsache der

Dogmenbildung zu rechnen, über deren Begriff die irrigsten Vor- stellungen im Schwange sind. Vom Grundsatze ausgehend, daß die ganze Offenbarung in und mit Christus ihre Vollendung sowie ihren krönenden Abschluß empfing, erblickt die Kirche in dem ihr übergebenen Glaubens- schatz ein schlechthin abgeschlossenes, unvermehrbares Ganzes, das sie als ihre Glaubenshinterlage (depositum fldei) eifrig hütet, authentisch

B. Die spezielle Dogmatik. II. Die Einzclgebietc. i^ I I

predig-t und organisch entfaltet. In der stufenweisen Entfaltunu" des ur- sprünglich Gegebenen liegt das Wesen der Dogmenentwicklung oder Dogmenbildung, welche von starrer Unveränderlichkeit und zielloser Ver- änderung gleich weit entfernt ist. Was Draußenstehende als „neue „NeueDogmen" Dogmen" ansehen, das ist bei Licht betrachtet nichts anderes als die letzte Stufe eines organischen Entwicklungsprozesses, in welchem man wie in drei Stadien Keim, Blüte und Frucht unterscheiden kann. Die kirchlichen Dogmen sind keine Petrefakten, die man als starre Gebilde in jedem Jahrhundert beliebig ausgraben kann, sondern lebendige Orga- nismen, die teils unter dem Antriebe ihrer inneren Lebenskraft, teils unter dem äußeren Reibungseinfluß der Häresieen sich aus ursprünglich ge- gebenen Keimen entwickelten und unter göttlicher Leitung zu ausge- wachsenen Pflanzen entfalteten. Wie groß der Unterschied zwischen einst und jetzt infolge dieser organischen Triebkraft geworden ist, lehrt ein Blick auf die griechisch - schismatische Kirche, welche seit Photius fast stationär auf demselben Entwicklungsstand stehen geblieben ist und in ihrer Erstarrung den Eindruck eines versteinerten Baumes hervorruft. Und doch erkennt der Katholizismus, wenn man die Lehrdifferenzen über den päpstlichen Primat und das Eilioque abzieht, in diesem Baume un- schwer sein eignes Wesen wieder, wenn auch auf einer niederen Stufe der Entwicklung. Denn der Lebensbaum der katholischen Kirche hat in- Keine

° . Rückbildunir.

zwischen weitere Blüten getrieben und auch reife Früchte gezeitigt. Die jetzt erreichte Entwicklungshöhe auf kritisch - historischem Wege auf den unentwickelten Stand des apostolischen Urchristentums künstlich zurückschrauben wollen, hieße nicht eine Reinigung von Auswüchsen, sondern die Verstümmelung der Kirche vornehmen, wie es denn ungereimt genug wäre, den ausgereiften Mann auf seine Kindheit zurückzubringen oder den ausgewachsenen Baum bis auf seine Wurzel zurückzuschneiden. Gegen Loisy mag noch eigens betont werden, daß nicht das Wesen des Christentums in der Entwicklung als solcher, sondern umgekehrt die Ent- wicklung im Wesen des Christentums gelegen ist, wobei diese Entwick- lung selbst als stetiger Fortschritt aus präformierten, substanziell unver- änderlichen Keimen, nicht aber als wesenhafte Veränderung in Weise der Epigenesis oder Heterogenie zu deuten ist. Die hier dargelegte An- schauung des Vincenz von Lerin (f um 450) hat auch das Vatikanum sich angeeignet.

IL Die Einzelgebiete. Unter allen Glaubenszweigen hat die all- Gouesiehre. gemeine Gotteslehre, bereits von der Scholastik mit allen Finessen bis ins kleinste durchgearbeitet, wohl die wenigsten Wandlungen erfahren oder auch in der Zukunft zu gewärtigen. Die heißen Kämpfe über Tra- ditionalismus und Ontologismus, welche vor wenigen Jahrzehnten noch die theologischen Hörsäle erfüllten, sind eingestellt, seitdem erkannt ist, daß die natürliche Gotteserkenntnis weder allein auf die menschliche

ei2 Joseph Pohle: Christlich-katholische Dogmatik.

Überlieferung und Sprache, noch auf eine unmittelbare Intuition des Wesens Gottes zurückführbar erscheint. Dagegen findet die Annahme einer angeborenen Gottesidee hie und da noch Liebhaber, welche ihre Position mit der Gotteslehre der ältesten Apologeten und Kirchenväter Aseität. zu decken suchen. Obschon es dem Theologen völlig freisteht, die sog. metaphysische Wesenheit Gottes in ein beliebiges Attribut zu verlegen, in welches er will, so hat doch die meiste Zugkraft jene Auffassung behalten, welche in der Aseität (besser: Autusie) die Grundeigenschaft Gottes erblickt, zumal da auch die jüngsten Verhandlungen über den uralten Gottesnamen Jahve nachdrücklich auf diesen Weg hinweisen. Aber der Aseitätsbegriflf selbst bedarf noch immer einer genaueren Fassung und Begrenzung, um nicht dem verhängnisvollen Irrtum Vorschub zu leisten, als bedeute die Aseität entweder die Selbsthervorbring^ng Gottes

Wissen und odcr das abstrakte allgemeine Sein der Universalien. In einen Strudel von ' Fragen und Rätseln führt das eindringendere Studium über das Wissen Gottes, namentlich über das Medium des göttlichen Erkennens. Vornehm- lich zwei Schulrichtungen sind es, welche sich heftig kämpfend gegen- überstehen, nämlich der Thomismus und der Molinismus, die schon hier ihren tiefsten und untersten Ankergrund suchen, um die Grundlagen ihrer Gnadensysteme hier die scientia media, dort die praemotio physica in den sicheren Hafen zu bringen. Eine Verständigung ist noch nicht erzielt und überhaupt aussichtslos. In der Lehre vom göttlichen Willen steht das Problem der Sünde obenan und bedarf der steten Übenvachung, um keine Verdunkelung der göttlichen Heiligkeit, P'reiheit und Souveräni-

Trinität und tat durch dlc Einreden des Pessimismus eintreten zu lassen. Das Trinitäts- dogma, dieser Eck- und Grundstein des Christentums und so recht die Herzmitte der ganzen Dogmatik, ist in seinen Grundlinien mit festem Griffel unverrückbar festgelegt und läßt sich auch durch die neuesten Angriffe des modernen Antitrinitarismus nicht mehr von seiner Stelle rücken. Nur der johanneische Logosbegriflf bedarf in seiner Beziehung zur stoisch -neuplatonischen, jüdisch -philonischen und altpatristischen Logos- lehre noch mancher Aufklärung, und die an ihn sich knüpfenden Streit- fragen können nur durch eingehende Monographieen zum Austrag ge- bracht werden. Schöpfungslehre. In der Schöpfungslehre behauptet das Kreationsdogma mit seinen Begleiterscheinungen seine zentrale Stellung, die ihm die Rücksicht an- weist, daß von seiner Anerkennung- die Läuterung und Vollendung des christlichen Gottesbegriffes abhängt. Dabei ist die Freiheit des Schöpfers nicht weniger zu betonen wie seine Macht in der Erhaltung, Mitwirkung und Vorsehung drei Funktionen, in denen zugleich die herablassende Liebe Gottes gegen seine Geschöpfe einen sprechenden Ausdruck findet. Das Werk des Schöpfers, das nicht unbesprochen bleiben darf, gliedert sich in die drei übereinandergebauten Reiche: Welt, Mensch, Engel, welche der Reihe nach in der christlichen Kosmologie, Anthropologie

n. Die spc/.iclle DoKniatik. II. Die Kin/clgcbirto. e I -^

und Anjrelolog-ie zur BohaiKlluni>- koinnieii. Am wichtig-.sten erscheint die Grundlegung der Übernatur in der Menschen- und Engehvelt, weil Pela- gianismus, Protestantismus und Bajanismus in verjüngten Formen fortleben und über das Wesen des Übernatürlichen, welches zugleich die Basis der Gnadenlehre legt, verkehrte Anschauungen vortragen. Auch erscheint erst von hier aus ein klares und korrektes Verständnis vom Wesen des paradiesischen Urstandes und der Erbsünde, sowie von der Tragweite des Engelsturzes möglich. Inhaltlich bieten alle diese schwierigen Unter- suchungen sehr viel und berühren sich zum Teil mit den tiefsten Fragen der Anthropologie und metaphysischen Psychologie.

Die auf dem Fuße folgende Erlösungslehre zerfällt in die vielfach ChrUtoiogie. ineinanderspielenden drei Hauptabschnitte der Christologie, Soteriologie und Mariologie. In der Christologie kehrt unter einem anderen Gesichts- punkt wie in der Apologetik die alte Frage wieder: Was haltet ihr von Christus? Daß die auf der einzigartigen Gottessohnschaft beruhende wahre Gottheit Christi ebenso scharf bewiesen werden muß wie seine auf der Geburt aus Maria beruhende wahre Menschheit, rechtfertigt sich aus dem Umstände, daß ohne diese Doppelvoraussetzung der Grundbegriff der ganzen Christologie, die hypostatische Union, völlig in der Luft schweben würde. Die hypostatische Einigungsweise beider Naturen ist und bleibt so wichtig, daß sie auch heute noch gegen die zwei aus- gestorbenen Häresieen des Xestorianismus (und Adoptianismus) einer- und des Monophysitismus (und Monotheletismus) andererseits verteidigt und auch in ihrer theologischen Tragweite für die Seele Christi untersucht werden muß. Wennschon die philosophische Vereinbarkeit zwischen Un- sündlichkeit und sittlicher Freiheit der Spekulation nach wie vor ein schwer zu lösendes Rätsel aufgibt, so sind doch die Ansichten über die ethische Vollkommenheit des menschlichen Willens Christi entschieden mehr geklärt als diejenigen über die Wissensvollendung seines Verstandes. Wer sich aber von der Hoheit der menschlichen Erscheinung Jesu, sowie von der Entstehung seines nicht zu umgehenden Gottesselbstbewußtseins genügende Rechenschaft geben will, der wird schwerlich der Einsicht sich verschließen, daß man für die menschliche Seele Christi eine relative Allwissenheit annehmen und ihren tiefsten Grund in der Prärogative der beseligenden Gottschauung als einer Wirkung der hypostatischen Union suchen muß. Tatsächlich gibt es nur noch wenige Dogmatiker, welche dieser Folgerung ihre Zustimmung versagen. Im Dogma von der An- betungswürdigkeit des Menschen Jesus endlich findet der im Mittelalter unbekannte und erst im 17. Jahrhundert aufgekommene Herz -Jesu -Kult seine theologische Begründung und Rechtfertigung. Wie die hypostatische Union in der Christologie, so wird in der Soteriologie die natürliche soterioiogie. Mittlerschaft des Erlösers zum Grundbegriif. Denn sowohl die stellver- tretende Genugtuung im blutigen Opfertod als auch die drei Ämter des Hohepriester-, Propheten- und Königtums stellen im Grunde nur ebenso

DiK Kultur dbk Gkosmwakt. I. 4. 72

514 Joseph Pohi.K: Christlich-katholische Dogmatik.

viele Funktionen des Mittleramtes Christi dar. Im Rahmen dieser Gliede- rung kommen die tiefgründigsten Probleme, wie über die Angemessenheit und Notwendigkeit der Erlösung, die Prädestination des Erlösers, die Stellvertretungsidee, die innere und äußere Vollkommenheit der Genug- tuung, die soteriologische Bedeutung der Auferstehung, Höllenfahrt und Himmelfahrt u. dgl. zur Erörterung. Soviel die Scholastik in der wissen- schaftlichen Ausbildung der Satisfaktionstheorie auch geleistet hat, so bleibt dennoch eine allumfassende, einheitlich durchgeführte, alle Momente harmonisch berücksichtigende Gesamtdarstellung ein Desiderat der Zu- Marioiogie. kuuft. Wcil wcdcr die Person noch das Werk des Erlösers sich trennen läßt von seiner Mutter, so bildet die Mariologie einen integrierenden Be- standteil der Erlösungslehre; denn von der Realität der Gottesmutterschaft (öeoTÖKOc) hängt die hypostatische Union mit all ihren Konsequenzen, so- wie die Wahrheit des gottmenschlichen Erlösungswerkes ab. Damit ist die Gottesmutterschaft selbst zum Grundbegriff erhoben, aber auch zum Prinzip und Maßstab der Würde, Würdigkeit und Gnadenfülle Marias, Ave, gratia plena! Die dogmengeschichtliche Entfaltung der Gnadenfülle hat zur Anerkennung von vier Privilegien geführt: unbefleckte Empfängnis, persönliche Sündenlosigkeit, ewige Jungfrauschaft, leibliche Himmelfahrt. Während mit Bezug auf die drei ersten Gnadenvorzüge die Akten ge- schlossen sind, ist das letzte Wort über die Himmelfahrt noch nicht gesprochen. Tiefere Untersuchungen sind im Gange. Die hyperdulische Verehrungswürdigkeit, sowie die besonders wirksame Fürbitte der Mutter Gottes darf aber nicht zu dem falschen Versuche verleiten, durch unvor- sichtige Erschleichung einer Koordinations- statt Subordinationsstellung die einzige Mittlerschaft Christi zu verdunkeln und zu verschleiern. Ohne ihren Sohn vermag die Mutter nichts, und alles, was die Mutter kann, kann sie nur durch ihren Sohn. Manche Mariologen, mehr von falscher Sentimentalität getrieben als erfüllt von Wissenschaft, führen nicht immer eine Sprache, welche die Einzigkeit und Unverschiebbarkeit der mittlerischen Stellung des Gottmenschen deutlich erkennen läßt, so daß der Katholizismus in den falschen Verdacht geraten konnte, als ob er die fürbittende Macht der Mutter der Allmacht ihres göttlichen Sohnes koordiniere. Da auch sonstige Übertreibungen, ja offenbare Irrtümer manche sonst gute Werke über Mariologie stark verunzieren, so gilt es, mit allen Kräften gegen diese ungesunden Auswüchse Protest zu erheben und die Mariologie im Lichte der echten kirchlichen Lehre von allen Extravaganzen zu säubern. Guadeniehre. In der Guadenlehrc konzentriert sich das Hauptinteresse auf die

Rechtfertigung als ihren Mittelpunkt. Aktiv in der Eingießung und formell in der Aufnahme der habitualen Rechtfertigungsgnade bestehend, liegt die Bekehrung des Sünders derart jenseits aller natürlichen Kraft- anstrengung, daß er das übernatürliche Heilsgut aus eigener Kraft nicht erreichen kann. Da in dieser Erwägung die Anerkennung einer doppelten Gnade eingeschlossen liegt, so ist die jetzt übliche Zweiteilung in der

B. Die spezielle Dogmatik. II. Die Einzelgebiete. ^l')

Lehre von der wirklichen Gnade (yfratia actualis) und von der heilij^-- machenden Gnade (gratia sanctificans) methodisch gerechtfertigt. Indem die Kirche gegen den Alt-Protestantismus und den Jansenismus eine ge- wisse sittliche Leistungsfähigkeit der nackten Natur, gegen den Pelagia- nismus die absolute Ohnmacht der Natur in Heilssachen, gegen den Semi- pelagianismus endlich die absolute Gnadennotwendigkeit zum Glaubens- anfang und Beharren im Guten verficht, nimmt sie in glücklicher Weise zwischen allen falschen Extremen die richtige Mitte ein und läßt zugleich auch die Unverdienbarkeit und Allgemeinheit der wirklichen Gnade zu ihrem unverkürzten Rechte kommen, gestattet also den Theologen in der sehr schwierigen und dunkeln Prädestinationslehre eine gewisse Bewegungs- freiheit. Fließen hier zwar die thomistisch - molinistischen Schlachtlinien Thomismus und

1 rr Molinismus.

ohne scharfe Begrenzung in etwa noch ineinander, so kommt der schroffe Gegensatz dagegen scharf zum Durchbruch, wo es gilt, das Verhältnis von Gnade und Freiheit wissenschaftlich aufzuhellen. Hier formiert sich die Schlachtstellung genau nach dem Parteiprogramm, wenn auch der vormals so erbitterte Streit heute viel mildere Formen angenommen hat. Aber immer noch stehen sich Thomismus bezw. Augustinianismus und Molinismus bezw. Kongruismus unversöhnt gegenüber, während der kom- promißlustige Synkretismus vergeblich die Versöhnung der feindlichen Brüder anstrebt.

Vielleicht nirgends sonst zeigt sich der Wert dogmengeschichtlicher saUramenten- Forschungen in so hellem Licht wie in der umfangreichen Sakramenten- lehre. Nur den historischen Studien verdankt der beliebte Präskriptions- beweis seine durchschlagende Kraft. Die Siebenzahl der Sakramente, das Alter der Lifusionstaufe, Materie und Form der Firmung-, die eucha- ristische Gegenwart und Transsubstantiation , Beichte und letzte Ölung, die Einheit des Weiheritus im Abend- und Morgenland, Ehe und Zölibat alle diese und ähnliche Probleme gewinnen im Lichte geschichtlicher Betrachtung ein ganz anderes Aussehen als im unhistorischen Zeitalter der Scholastik. Den Schlußstein des ganzen Lehrgebäudes bildet die Eschatologie, d. i, die Lehre von der Vollendung des Einzelmenschen wie i-:sch.itoiogie. des gesamten Menschengeschlechtes. Auf keinem anderen Gebiete ist die Scheidung des Sicheren vom Ungewissen oder bloß Wahrscheinlichen so geboten wie hier, weshalb sich methodisch prägnante Kürze und Be- schränkung auf das Notwendigste von selbst empfiehlt. Die kopemika- nische Weltanschauung hat die Sicherheit, mit der man vor alters Fege- feuer und Hölle in den Erdmittelpunkt verlegte, untergraben, wenn nicht vernichtet. Deshalb kann die geozentrisch befangene Patristik und Scho- lastik in diesen und ähnlichen Fragen heutzutage, wo das ptolemäische Weltsystem als eine Verirrung des Geistes erkannt ist, nicht mehr als sichere und zuverlässige Führerin gelten. Mit Bezug auf den Weltunter- gang, der schon in der Bibel mehr terrestrisch als kosmisch gefärbt

erscheint, kommen dem Eschatologen die Feststellungen und Ahnungen

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ri5 JOSKPH Pohi.k: Christlich-katholische Dogmalik.

der modernen Astronomie bestätigend zu Hilfe. Über den Chiliasmus der Alten verbreiteten wieder die dogmeng-eschichtlichen Studien der Neuzeit helleres Licht. Ihr Ergebnis geht dahin, daß selbst die mildesten und gemäßigtsten Auffassungen über das tausendjährige Reich Christi auf Erden ihr Existenzrecht verwirkt haben.

Schlußbetrachtung. Der katholischen Dogmatik im weitesten Sinne läßt sich kühn eine Blüteperiode weissagen unter der Bedingung, daß sie in pietätvoller Anknüpfung an die bewährten Ergebnisse der Vorzeit die von der neueren Forschung gewonnenen Wahrheitsschätze in ihren Bau sinnreich einfügt und unter Verschmähung rein mittelalterlicher Denkart, welche den Kulturfortschritt von vollen acht Jahrhunderten schmählich ignorieren müßte, mit der wahren Bildung der Zeit voranschreitet und die Darstellung und Begründung ihrer Lehren verständnisvoll den Bedürfnissen der Gegenwart anpaßt. Wenn überhaupt im sog. Reformkatholizismus ein gesunder Kern steckt, so ist es der, daß die kirchliche Wissenschaft und das kirchliche Leben bei ihrer außerordentlichen Anpassungsfähigkeit an neue Verhältnisse etwas mehr als bisher den Menschen des 20. Jahr- hunderts ins Auge fassen möchte. Gilt dies zwar in erster und vorzüg- licher Linie von der allgemeinen Dogmatik oder Apologetik, deren mittel- alterliche Tracht uns moderne Menschen freilich wie eine antiquarische Kuriosität anmuten würde, so findet es doch, wenn auch in beschränkterem Maße, auch auf die spezielle Dogmatik sinngemäße Anwendung'. Der an sich unveränderte Dogmenschatz verlangt eben gebieterisch nach neuen Formen und Darbietungen, welche auf den Genius der Neuzeit gebührende Rück- sicht nehmen. Gebundenheit und Fortschritt sind so vereinbar wie Auto- rität und Freiheit. Fragt man nach den Kulturwerten, welche die katho- lische Dogmatik an die Zukunft weitergibt, so besteht der größte und kostbarste unseres Erachtens darin, daß sie die christliche Weltanschau- ung in ihrer ungekürzten Ganzheit und ungetrübten Gestalt in die zukünf- tigen Gesellschaftsbildungen glücklich hinüberretten wird. Dem titanen- haften Ansturm des Unglaubens, welchem die Entchristlichung breiter Schichten der Bevölkerung leider schon gelungen ist, setzt sie einen ebenso unbeugsamen wie unüberwindlichen Widerstand entgegen. Auch in außerkirchlichen Kreisen hat man das Gefühl, daß bei der herein- stürzenden Hochflut des Atheismus gerade die katholische Kirche es sein wird, welche mit ihrer straffen Organisation und Verfassung, mit ihrer unerbittlichen Konsequenz in Predigt und Lehre, mit ihrer hochgemuten Zukunfts/uversicht das gefährdete Glaubensschiff lein unversehrt durch die Brandungen steuern und der Welt das Evangelium auch dann erhalten wird, wenn sie, was wir nicht hoffen, rings um sich herum nur die schwimmenden Trümmer geborstener Fahrzeuge erblicken sollte. Die freisinnige Theologie, welche mit der Trinität und Gottheit Christi das wahre Christentum preisgegeben hat, rollt auf einer schiefen Ebene herab,

Srhlußbflrarhtunf;. eiy

auf der es keinen bestimmten Punkt mehr gibt, wo ihr ein wirksames Halt geboten werden könnte. Die Preisgabe des Christentums gefährdet so auch den Theismus. Und gerade in dieser katastrophenartigen Peri- petie, die dem Weltdrama eine verhängnisvolle Wendung gibt, nimmt die Kirche und ihre Theologie einen wichtigen Posten ein, indem sie die geistigen und sittlichen Kräfte erhält, stählt und stärkt, welche auf die Rettung der christlichen Philosophie, Kultur und Gesellschaftsordnung gerichtet sind. Wie die Dogmatik als rationalen Faktor die ganze theistische Weltanschauung in sich aufgenommen und verarbeitet hat, so schöpft hinwieder der Theismus aus den Offenbarungswahrheiten viel, vielleicht das meiste von seiner werbenden Kraft und findet am Dogma einen zwar ungesuchten, aber schwer zu beseitigenden Halt. Mit der Erhaltung der theistischen Weltauffassung in allen Schichten des Volkes erscheint aber die Pflege und Weiterbildung der christlichen Kultur zu innig verwachsen, als daß nicht beide miteinander stehen und fallen sollten. Hiermit hängt jedoch auch der Fortbestand der christlichen Ge- sellschaftsordnung kausal zusammen, weil diese mit dem Siege des Atheis- mus und dem Emporblühen einer unchristlichen Kultur haltlos in sich selbst zusammenbrechen müßte. In diesem Riesenkampf um die wichtigsten und heiligsten Kulturgüter wird der Katholizismus Hand in Hand mit den gleichgestimmten verbündeten Mächten aus anderen Lagern seinen vollen Mann zu stellen wissen, vielleicht sogar die Führerrolle übernehmen müssen.

Literatur.

Da keine Geschichte der Dogmatik geliefert werden sollte, so seien nur einige der brauchbarsten und gangbarsten Werke angemerkt.

Allgemeine Dogmatik: F. Hettinger, Fundamentaltheologie, 2. Aufl. (1888). GUT- BERLET, Lehrb. der Apologetik, 3 Bde., 2. Aufl. (1895 f.). Al. v. Schmid, Apologetik als spekulative Grundlegung der Theologie (1900). A. Schill, Theol. Prinzipienlehre, 2. Aufl. von Witz (1903). Noch unvollendet ist H. Schell, Die göttl. Wahrheit des Christentums I, 2. Aufl. (1902). Ottiger, Theologia fundamentalis I (1897). Apologieen für Gebildete schrieben: F. Hettinger, Apologie des Christentums, 5 Bde., 8. Aufl. (1900). A. WEISS, Apol. des Christentums vom Standpunkt der Sitte und Kultur, 5 Bde., 4. Aufl. (1904 flf.). P. Schanz, Apologie des Christentums, 3 Bde., 3. Aufl. (1903 flf.). C. H. VOSEN, Das Christentum und die Einsprüche seiner Gegner, 5. Aufl. (1905). Geschichtliches s. bei K. Werner, Geschichte der apologet. u. polemischen Literatur der christl. Religion, 5 Bde. (1861 fif.).

Spezielle Dogmatik: SiMAR, Lehrb. der Dogmatik, 2 Bde., 4. Aufl. (1899). J. POHLE, Lehrbuch der Dogmatik in sieben Büchern, 3 Bde., 2 Aufl. (1905 flf.). Originell und tief: ScHEEBEN, Handbuch der kath. Dogmatik, 4 Bde. (1875. IV von Atzberger, 1903). Die größte deutsche Dogmatik stammt von J. B. Heinrich, Dogmatische Theologie, 10 Bde. (vollendet durch (iUTBERLET, 1904). In Monographieen hat Oswald das Gesamtgebiet be- handelt. Dazu kommen die lateinisch geschriebenen Werke von HURTER, Egger, EiNIG, Tepe, Chr. Pesch, sowie die großen Thomaskommentare von Satolli, L. Janssens, Le- PICIER, Buonpensiere u. a.

S. 492. Zur Theologie des vorigen Jahrhunderts: K. Werner, (icschichte der Theo- logie in Deutschland seit dem Trienter Konzil bis zur Gegenwart, 2. .Aufl. (1889% J. Bel- lamv, La theologie catholique au XIXe siecle (1904). Hurtek, Nomcnclator literarius theo- logiae catholicae, 3 vol., 4. Aufl. (1904 flf.).

.S. 492. Zur Encyklika Aeterni Patris: J. V. de Groot, Leo XIII. u. der hl. Thomas (1897). Berthier, De I'etudc de la Somme theologique de St. Thomas (1893).

S. 495. Gegensätze der katholischen Religion : Theoretisch wiirc neben dem Prote- stantismus noch das griechische Schisma in seinen verschiedenen Verzweigungen zu nennen gewesen , das aber wegen seines stationären Charakters in einem Werke über .\ufgaben und Ziele der Kultur der Gegenwart füglich außer Ansatz bleiben durfte.

S. 497. Methode: P. vSchanz, Über neuere Versuche der .\pologetik gegenüber dem Naturalismus und Spiritualismus (1897). Le Brachelet, De l'Apologetique traditionelle et de l'Apologetique moderne (1898). Chr. Pesch, .A.lte u. neue Apologetik (Theol. Zeitfragen 8. 67 ff"., 1900J. LECLfCRE, Lc mouvement catholique kanlien en France ä l'heure presente (1905). Polemik: J. RöHM, Der Protestantismus unserer Tage ^1897). Ph. Huppert, Der deutsche Protestantismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts, 3. Aufl. (1902). Irenik: J. RÖHM, Die Wiedervereinigung der christl. Konfessionen (1900). C. Seltm.\nn, Zur Wieder- vereinigung der getrennten Christen zunächst in deutschen Landen (1904''. S>Tnbolik : A. MÖHLER, Neue Untersuchungen der Lehrgegensätze zwischen Katholiken und Protestanten, 5. Aufl. (1900).

I jteratui. 5 IQ

S. 500. (iottesbeweise: Gkyser. Das philos. (iottesproblcm in seinen \vichtij,'sten Auf fassungen (1899). K. Rolfes, Die Gottesbeweise bei Thomas von Aquin und Aristoteles (1898). I'H.J. Mayp:r, Der teleologische Gottesbeweis u. der Darwinismus (1900J. Ch. DiDIO, Der sittl. Gottesbeweis (1899). R. ScHWEiZKR, Die Energie und Entropie der Naturkräfte mit Hinweis auf den in dem Entropiegesetz liegenden vScliöpferbeweis (1903).

S. 501. Darwinismus: A. Fi,i:ischm.\nn, Die Deszendenztheorie, Vorlesungen tiber den Auf und Niedergang einer naturwissenschaftl. Hypothese (1901). Dennert, Vom Sterbe- lager des Darwinismus (1902). J. Müi.i.KR, Probleme und Schwächen des Darwinismus (1901). E. Wasmann S. J., Zur neueren Geschichte der FLntwicklungslehre in Deutsch- land (1895); derselbe, Vergleichende Studien über das Seelenleben der Ameisen und der höheren Tiere, 2. Aufl. (1900); derselbe, Die moderne Biologie und Entwicklungstheorie, 2. Aufl. (1904).

S. 502. Hexaemeron: A. Sch()PFER, Bibel und Wissenschaft (1896). v. Hummelauer, Nochmals der biblische Schöpfungsbericht ri898). Zapi.etal, Der Schöpfungsbericht der (»enesis (1902).

S. 502. Zur Christusfrage: Ad. Harnack, Das Wesen des Christentums (1900 ff.). J. Müllendorf, Der Glaube an den Auferstandenen (1900). P. Roh, Was ist Christus? 7. Aufl. (1900). A. LOISY, EvangeHum und Kirche (deutsch 1903). H. Schell, Christus (1902). B. Bartm.\nn, Das Himmelreich und sein König nach den Synoptikern (1904)- Meffert, Die geschieh tl. Existenz Christi (1904).

S. 503. Inspiration: F"r. SCHMIO, De inspirationis Bibliorum vi et ratione (1885). P. D.\USCH, Die Schriftinspiration (i8gi). K. Holzhev, Schöpfung, Bibel und Inspiration (1902). V. Hummelauer, Exegetisches zur Inspirationsfrage (1904).

S. 504. Toleranz: Reichhaltige Literatur s. POHLE, Toleranz (Kirchenlexikon, 2. Aufl. XI, 1857 ff., 1899; Staatslexikon der Görresgesellschaft, 2. Aufl. V, 751 ff., 1904).

S. 509. Dogmengeschichte: J. ZOBL, Dogmengeschichte der kathol. Kirche (1865). Schwane, Dogmengesrhichte, 4 Bde. (I, 2. Aufl., 1892. II, 1895). J. Bach, Dogmengeschichte des Mittelalters vom christolog. Standpunkt, 2 Bde. (1873—75). v. Schäzler, Die Bedeu- tung der Dogmengeschichte vom kathol. Standpunkt (1884). Ehrhard und J. P. Kirsch, Forschungen zur christl. Literatur- u. Dogmengeschichte (seit 1900). In Frankreich hat maß- gebenden Einfluß gewonnen Kardinal Newman, An Essai on the Development of Christian Doctrine, 2. Aufl. (1878). Vgl. De la Barre, La vie du dogme catholique (1898). J. TlXE- ront. Histoire des dogmes I: La theologie anteniceenne, 3. Aufl. (1906).

S. 510. Scholastik: K. WERNER, Der hl. Thomas v. Aquin, 3 Bde. (1858 ff.); derselbe. Die Scholastik des späteren Mittelalters, 4 Bde. (1881 ff.); derselbe, Franz Suarez und die Scholastik der letzten Jahrhunderte, 2 Bde. (1860). Mystik: RiBET, La mystique divine, 4 vols. (1895 ss). R. Langenberg, Quellen und Forschungen zur Geschichte der deutschen Mystik (1902).

S. 511. Gotteslehre: Größere Monographieen von Franzelin, Kleutgen, Stentrup, de San u. a. Empfehlenswert: L. Janssens, De Deo uno, 2 tomi (1900). Die Trinität be- handeln vorzüglich: Franzelin, De Deo trino secundum personas, 3. Aufl. (1881). De RteNON, Etudes de theologie positive sur la SteTrinite, 4 vols. (1892 ss.). Stentrup, De ss. Trini- tatis mysterio '1898). L^PiciER, De ss. Trinitate (1902).

S. 512. Schöpfungslehre: Palmieri, De Deo creante et elevante (1878). M.\zzella, De Deo creante (1880 . Andere Literatur s. J. Pohle, Lehrbuch der Dogmatik, 2. Aufl.,

1, 367 flf. (1905).

S- 513. Erlösungslehre: Franzelin, De \'erbo incarnato, 3. Aufl. (1881). Stentrup, De Verbo incarnato, 4 tomi (1882 88). Oswald, Die Erlösung in Christo Jesu, 2 Bde.,

2. .\ufl. (1887). Reiche Literatur s. J. POHLE, a. a. O. U-, 3 (1905). B. Dörholt, Die Lehre von der Genugtuung Christi (1891). Muth, Die Heilstat Christi als stellvertretende Genug- tuung (1905}. Mehr oder weniger empfehlenswerte Mariologieen besitzen wir von MORGOTT, A. Kurz, Stamm, Korber, Li?;picier, Bucceroni, Livius u. a. Übertreibungen enthält auch das vorzügliche Werk; J. Terrien, La m^re de Dieu et la möre des hommcs d'apres

^20 Joseph Pohle: Christlich-katholische Dogmatik.

les Pferes et la theologie, 4 vols. (1900 ss.). Biblisch ist: Al. Schäfer, Die Gottesmutter in der Hl. Schrift, 2. Aufl. (1900).

S. 514. Gnadenlehre: Ausführliche Monographieen schrieben Cerci.\, Mazzella, Schiffini, Lahousse, Oswald u. a. Dazu Palmieri, De gratia divina actuali (1885). Zur Prädestinationslehre s. O. RoiTMANNER , Der Augustinismus (1892). Castelein, Le rigo- risme, le nombre des elus et la doctrine du salut, 2. ed. (1899J; dagegen F. H. Godts, De paucitate salvandorum, ed. 3. (1899). Zu den Gnadenstreitigkeiten vgl. Schnee>L'VNN, S. J., Entwicklung der thomistisch-molinistischen Kontroverse, 2 Bde. (1879 80). Dummermeth, O. P., S. Thomas et doctrina praemotionis physicae (1886). Reiche Literatur s. J. POHLE a. a. O. IP, 452 f. (1905).

S. 515. Eschatologie: Außer den einschlägigen Monographieen von J. Bautz s. Os- wald, Eschatologie, 5. Aufl. (1893); Billot, Quaestiones de novissimis (1902/ L. Guv, Le Mill^narisme dans ses origines et son developpement (1904). Andere Literatur s. J. Pohle, Lehrbuch der Dogmatik III, 647 (1905).

CHRISTLICH -KATHOLISCHE ETHIK.

Von Joseph Mausbach.

Einleitung. I. Wesen und Begfriff der Ethik. Das Wort „Ethik" weist uns Natürliche un.i

. . . ° . . " christliche Ethik.

auf die griechische Philosophie zurück, die es zu einer ihrer vornehmsten Aufgaben rechnete, die Bildung des „Ethos", des menschlichen vStrebens, Fühlens und Handelns in der Richtung auf das höchste Lebensziel wissen- schaftlich zu begründen; bei Cicero und Augustin finden wir für diesen Zweig der Philosophie die Bezeichnung „Moral". Christliche oder theolo- gische Ethik bezeichnet eine Moralwissenschaft, die ihre Aufschlüsse über Ziel und Bedeutung des Lebens sowie ihre wichtigsten praktischen Normen der göttlichen Offenbarung entnimmt, die in Christus ihren Höhepunkt und wesentlichen Abschluß gefunden hat. Die Verbindung beider Worte kann uns als Hinweis dienen auf die weitgehende Überein- stimmung des Inhaltes und der Methode, die zwischen philosophischer und theologischer Moral besteht; dieselbe wurzelt im Wesen des Sittlichen und kommt in der ganzen Entwicklung der katholischen Moral zum Aus- druck. Schon der hl. Paulus sagt, daß die Heiden ohne Gesetz in natürlicher Weise die Werke des Gesetzes erfüllen, indem ihr Gewissen ihnen Zeugnis gibt Nach Augustin erkennt die menschliche Seele in sich wie die Ge- setze der Zahlen und der Schönheit so auch die Gesetze des Guten, der sittlichen Ordnung; sie „gibt sich durch den vernünftigen Geist Mahnungen aus dem Lichte Gottes heraus", vor allem die Mahnung, das vergänglich Gute dem ewig und absolut Guten unterzuordnen. Auch Thomas von Aquin betont, daß die Moral nicht in derselben Weise, wie die Dogmatik, auf die Offenbarung angewiesen sei; „zu den Werken der Sittlichkeit leitet uns die Vernunft an, welche die Regel des menschlichen Handelns ist"; der Christ übt die gleichen Tugenden, wie der natürliche Mensch, aber „in vollkommenerer Weise". Auf der andern Seite bemerkte schon der Märt>Ter-Philosoph ApoUonius vor dem Richterstuhl: „Wir haben von Christus fromme Gebote gelernt, die wir früher nicht kannten", und er- blickt Clemens von Alexandrien, der Vater der wissenschaftlichen kirch- lichen Moral, mit Recht einen dreifachen großen Vorzug der christlichen

C22 Joseph Mavsbach: Christlich-katholische Ethik.

Weisheit vor der philosophischen in der Vollständigkeit ihrer Erkenntnis, in der eindringlichen Einschärfung der Lehren und in der Kraft der Motive und Gnadenmittel. Diemeta- Der wiss 6 n s c h af tli ch e Charakter der Ethik ist auf philo-

phvsischeGrund-

läge der Ethik, sophischem Standpunkte vor allem dadurch bedingt, daß ihre Normen als Gesetze der Vernunft, und zwar einer nach Ideen urteilenden Ver- nunft, anerkannt werden. Die Ableitung des Sittlichen aus dem Gefühl, aus individuellem Erleben führt nicht zur Erfassung und systematischen Darstellung sittlicher Wahrheiten; sie verwandelt die ethische Forschung in eine psychologische, die ethische Darstellung in eine zergliedernde oder künstlerisch entwickelnde Beschreibung persönlicher Erfahrungen. Ebenso ungenügend ist die Gleichstellung der sittlichen Norm mit der äußeren Sitte, mit den Gebräuchen und Rechtsnormen der Völker; nur scheinbar weist die Etymologie des Wortes „Sittenlehre" auf einen solchen Zu- sammenhang; in der Sache lehnen gerade Aristoteles und Cicero, denen war das Wort verdanken, die geschichtliche, positivistische Begfründung der Sittlichkeit aufs entschiedenste ab und lehren eine natürliche, in ewigen Ideen wurzelnde Moral. Ohne diese ideale Grundlage müßte die „Sittenlehre" zu einem Zweige der Ethnographie oder der Kultur- und Rechtsgeschichte herabsinken. Andererseits ist zuzugeben, daß die Ver- nunft nicht von Natur ausgebildete sittliche Ideen besitzt, nicht eine fertige Moral a priori in sich trägt; wie alle ihre Begriffe, so erwachen auch die sittlichen auf Grund der Erfahrung, der empirischen Welt- und Selbst- erkenntnis. Weder der idealen Größe des Sittlichen noch seiner realen Bedeutung wird endlich eine Vemunftmoral gerecht, die ihre überzeugende und verpflichtende Kraft aus der logischen Form der „Allgemeinheit der Maxime" schöpfen will, die ihr Grundgesetz an die konkreten Aufgaben des Lebens in unerklärlicher Weise heranträgt. Nach der in der katho- lischen Wissenschaft stets herrschend gewesenen Anschauung ist die Ordnung des Sollens auf der Ordnung des Seins aufgebaut. Das Sein der Welt ist kein zusammenhangloses und chaotisches, sondern von schöpferischen Ideen und Zweckgedanken gestaltet und geleitet; die Ver- nunfterkenntnis greift hinter die Sinneserscheinung', schafft Begriffe und Ideen, die nicht bloße Verallgemeinerungen oder willkürliche Zutaten zum Sinnlichen sind, sondern geistige Nachbilder des Wesens der Dinge; die Vernunft erfaßt zugleich notwendige Beziehungen zwischen diesen Be- griffen, am deutlichsten auf dem Gebiete der Logik und Mathematik, aber in hinreichender Klarheit auch auf dem der Metaphysik und Moral. Der metaphysische (kausale) und der praktische (teleologische) Zusammenhang der Welt sind nicht zu trennen; der letztere wird zum moralischen, sobald wir über der Vielheit der näheren Zwecke einen höchsten Zweck, über der Mannigfaltigkeit der partikulären und vergänglichen Güter ein Gut von absoluter, ewiger Bedeutung erkennen. So gründet die sittliche Ord- nung auf der Ordnung des inneren Wertes, der sachlichen Vollkommenheit,

Einleitung. I. Wesen und Begriff der Ethik. ^2 3

mit andern Worten auf der Wahrheit; so ist auch eine wirkliche Wissen- schaft des menschlichen Strebens und Handelns möglich.

Da keines der relativen, endlichen Güter aus sich Sittlichkeit zu er- zeugen imstande ist, da überdies der sittliche Zweck der Welt den Wechsel und Fortschritt der irdischen Kultur geradezu fordert, so steht der natürliche Aufbau der sittlichen Werte weder einer unendlichen Ver- schiedenheit der individuellen Lebensgestaltung, noch einem unabsehbaren Fortschritt der gesellschaftlichen Aufgaben im Wege. Die sittlichen Normen sind Ideen, nicht mechanische Gesetze oder Buchstabennormen; sie können wachsen, neue Gedanken und Forderungen hervortreiben, ohne einer inneren Änderung oder Reform zu bedürfen; sie müssen es, weil sie jedem Geschlechte von neuem die Aufgabe stellen, in ihrem Lichte nicht bloß zu denken, sondern auch praktisch tätig zu sein. Es ist daher nichts Verwunderliches, daß eine und dieselbe sittliche Idee zu verschie- denen Zeiten und unter verschiedenen Verhältnissen moralische Pflichten auflegt, die scheinbar entgegengesetzt sind. Somit ist die Ethik trotz ihrer wesentlichen Unveränderlichkeit eine fortschreitende Wissenschaft, fort- schreitend auch bezüglich des Gegenstandes, den sie behandelt.

Eine ähnliche Verbindung von Einheit und Dauer mit Fortschritt und d.is weson des

° , . . rhristlichcn

Anpassung finden wir bei der übernatürlichen, christlichen Sittlich- Gesetzes, keit. Das Gesetz Israels allerdings, soweit es nicht bloß Einschärfung natürlicher Moralgrundsätze war, konnte als Buchstabengesetz, als national bedingte Lebensordnung, als pädagogische Einrichtung nicht jenen uni- versalen und lebendigen Charakter an sich tragen. Dagegen bildet das Gesetz des neuen Bundes auch Christus ist Gesetzgeber eine treffende Parallele zum Naturgesetze. Im Anschluß an den hl. Paulus bezeichnen Johannes Chrysostomus, Augustinus, in wissenschaftlicher Aus- führung besonders Thomas von Aquin, als lex nova die „Gnade des hl. Geistes, wie sie sich äußert im Glauben, der durch die Liebe wirksam ist". Wie die menschliche Natur sich selbst „Gesetz" ist, so und noch mehr kann die Gnade als höhere Richtung des Seins und Lebens, als spe- zifische Hinordnung der Natur zum sittlichen Endzweck Gesetz genannt werden. Wie die Natur ihre Bestimmtheit für Gott ausspricht in den Grundsätzen der Vernunft und dem Grundstreben des Willens, so offenbart die Gnade ihre sittliche Triebkraft im Glauben und in der Liebe. Da femer die Liebe das ganze Gesetz in sich schließt, so ist das natürliche Sittengesetz auch unter der Herrschaft der Gnade nicht aufgehoben, was seine Verbindlichkeit angeht. Es ist aufgehoben als Last und Fessel, weil der niederziehenden Macht der Sinnlichkeit in der Liebe ein stärkeres Gewicht gegenübersteht; es ist aufgehoben als Buchstabe, als äußerliche Norm, weil der Christ den Geist des Gesetzgebers in sich trägt; es ist aufgehoben als bloßes Sollen, weil die Liebe, die den Willen gottförmig macht, des Gesetzes Erfüllung ist. Wie aber die Gnade Christi trotz ihrer Innerlichkeit durch äußere, heilsgeschichtliche Taten verdient und be-

524 Joseph Mausbach: Christlich-katholische Ethik.

gründet wurde, so soll auch die Aneignung des neuen Lebens sakra- mental vermittelt werden. Da endlich die Wahrheit und Gnade Christi in einem sichtbaren Reiche sich erhält und auswirkt, so wächst aus dem Glauben und der Liebe naturgemäß die soziale, kirchliche Seite der Sitt- lichkeit hervor. So tritt auch dem pneumatischen Gesetz des neuen Bundes als Voraussetzung und Folge ein äußeres Gesetz an die Seite; die wesent- lichen, für alle Zeiten bestimmten Normen dieser Art sind aber von so geringer Zahl, daß das neue Gesetz im Vergleich zum jüdischen ein „Gesetz der Freiheit" bleibt. Kiitwickiungs- Indem wir das Wesen des christlichen Gesetzes nicht im neutesta-

fähij;keit der

rhristiichen mentlichcn Buchstaben und Worte aufgehen lassen, sondern als einen

Sittenlehre. ^

Organismus sittlicher Ideen fassen, ergibt sich auch hier die Möglich- keit und Notwendigkeit einer Entwicklung, die der Entfaltung natur- gesetzlicher Normen analog und schon von Christus unter dem Bilde des Sauerteigs vorherverkündigt ist. Manche Vorschriften des Herrn, und gerade solche aus der Bergpredigt, der umfangreichsten sittlichen Be- lehrung des Evangeliums, sind in einer Weise scharf und charakteristisch zugespitzt, daß sie, buchstäblich aufgefaßt, weder als Gebot noch als all- gemeiner Rat gelten können, daß sie nur als bezeichnende Einkleidung einer Idee unverkennbare Wahrheit und unvergängliche Bedeutung haben. Wie sich aber in der Natur der Organismus nicht aus form- und leblosem Stoffe, sondern aus einem Anfangszustande, der die Formen und Gesetze des vollkommenen Standes dynamisch in sich schließt, entfaltet und in der Entfaltung sein Wesen bewahrt, so ist auch das sittliche „Wesen des Christentums" nicht ein Allgemeinbegriflf von größtmöglicher Weite und Leere, der für die heterogensten Eintragungen Raum böte, sondern eine Lehre und Lebensmacht, die in ihrer Hinordnung auf Gott, in ihrer Ver- bindung mit Christus, in ihrer Stellungnahme zu der wesentlich gleichen Menschennatur, ihren Vorzügen und Sünden usw. von Anfang einen aus- geprägten Charakter trägt, der ebenso kräftig Fremdartiges abzuwehren, wie Verwandtes zu assimilieren versteht. Dieselbe Hochschätzung des Glaubens, die dem hl. Paulus so scharfe Worte gegen die irdische Weis- heit eingab, wurde bei Basilius und Augustinus ein Motiv zur Pflege und Empfehlung der Wissenschaft, dieselbe Liebe zu Gott und den himm- lischen Dingen, die Scharen von Einsiedlern in die Wüste zog und der Kirche in den evangelischen Räten ein dauerndes asketisches Element ein- verleibte, enthält auch Antriebe zur gotteswürdigen Gestaltung des Welt- lebens; derselbe Eifer für die Ehre Gottes und die Seelen, der im christ- lichen Altertum die ängstliche Scheu vor der Häresie, im Mittelalter den blutigen Kampf gegen dieselbe hervorrief, gestattet auch ein anderes, auf Toleranz und geistigem Gedankenaustausch beruhendes Verhalten. Da die Aufgabe der christlichen Sittenlehre die Durchdringung und Heiligung des ganzen Lebens der Menschen und der Menschheit ist, versteht es sich von selbst, daß für die Entfaltung ihrer Ideen der Fortschritt der Kultur,

lünlcilimt;. 11. Kiitwicklunf; der Moralwissenschaft. zi^

die jeweilig-e Lage und Gestalt dvx Welt, die sie durchsäuern soll, von hoher Bedeutung- ist; sind doch solche, bald freundliche, bald feind- liche Berührungen sogar für die lüitwicklung des Dogmas im engeren Sinne mitbestimmend gewesen. Auch der Gang der außerchristlichen Menschheits- und Kulturentwicklung steht unter Leitung der Vorsehung Gottes, des christlichen Gottes. Noch verständlicher ist es, daß solche Einflüsse der äußeren Darstellung und gesetzlichen Verkörperung sittlicher Ideen ein bestimmtes Gepräge verleihen mußten. Dabei kann sich für bestimmte Strecken und Strömungen sogar Fremdartiges und Ungesundes beimischen, so daß in der Kirche selbst und im Namen jener Ideen der Ruf nach Reform laut wird. Eine wirkliche Reform wäre aber nicht möglich, überhaupt eine eigentliche, organische Entfaltung des ethischen wie theoretischen Dogmas nicht denkbar, wenn im kirchlichen Organismus nicht ein fester, unantastbarer Wesenskern existierte, eine vom hl. Geiste gestützte, in ihren höchsten und abschließenden Kundgebungen unfehlbare Autorität. Daß solche Festigkeit und Unfehlbarkeit nur dem Lehramte, nicht dem Hirtenamte der Kirche zukommt, ist innerlich begründet: Wahr- heiten und Ideen sind überzeitliche, im Wechsel dauernde Größen; Gebote und Regierungsmaßregeln haben an sich vorübergehende Bedeutung, sind dem Werden, nicht dem Sein zugewandt.

II. Entwicklung der Moral Wissenschaft. Die Moral als Wissen- Die Morai- schaft, als literarische Erscheinung orientiert sich an dem moralischen ihren Anfängen. Dogma und Gesetz der Kirche; zugleich ist sie weit mehr als jene in ihrer Entwicklung von geschichtlichen Einflüssen, besonders von der Entwicklung der Wissenschaft und Bildung abhängig. Es gab Zeiten eines erhabenen, sittlichen Idealismus in der Kirche ohne eine moralische Literatur von irgendwelcher Bedeutung: „Magna vivimus, non loquimur". Es gab auch später Jahrhunderte, wo das, was den Titel Moraltheologie führte, trotz seines Umfanges nicht der volle, nicht einmal der reinste Aus- druck der katholischen Sittenlehre war. Die christliche Literatur der beiden ersten Jahrhunderte bietet uns zwar ethische Gelegenheitsschriften von praktischer, erbaulicher Tendenz .sowie Apologieen der christlichen vSittlichkeit gegenüber der heidnischen; aber erst mit Clemens von Alexandrien und Tertullian setzt eine durchdachte, wissenschaftliche Erörterung moralischer Fragen ein. Bei beiden tritt die religiöse Kraft und asketische Strenge der neuen Lebensauffassung im Gegensatz zur Weltlichkeit und Laxheit des heidnischen Lebens kräftig und begeistert hervor; bei beiden auch eine Kenntnis und Verwertung der philosophischen Weisheit, die bald mehr der platonisch -philonischen, bald mehr der stoischen sich nähert. Während Clemens als Theoretiker und als weit- herzige, geschmeidige Natur das Verbindende zwischen der christlichen und philosophischen Gedankenwelt betont, dabei leicht der den Ver- mittlungen anhaftenden Unklarheit verfällt, macht Tertullian als Polemiker

e26 Joseph Mausbach: Christlich-katholische Ethik.

durch Beruf, Begabung und Umstände besonders auf die Konflikte zwischen dem christlichen Gewissen und der Zeitkultur aufmerksam, oft unter rigo- ristischer Konsequenzmacherei; immerhin ist seine selbständige und würde- volle Behandlung der psychologischen Grundlagen und mancher kasu- istischer Einzelfragen für die Folgezeit von höchstem Belange. Unter den späteren Vätern bietet einen umfassenden, noch nicht ausgeschöpften Reichtum sittlicher Belehrung Chrysostomus; seine Predigten und ethi- schen Monographieen zeigen die vielseitigste und fruchtbarste Durchdrin- gung biblischen Geistes mit praktischer Lebensweisheit; sie geben als Ganzes unter gegenseitigem Ausgleich g-elegentlicher rhetorischer Überschwenglichkeiten ein harmonisches Bild angewandter christlicher Moral. Neben ihm steht als ähnlicher Typus der hl. Ambrosius; wenn er deutlicher den Einfluß der Schule in Lehr- und Begriffsformen merken läßt, so zieht doch durch seine ganze Darstellung der Strom innerlichster Frömmigkeit und sittlicher Begeisterung, ein Strom, der nicht nur zum^ Meere der Ewigkeit forteilt, sondern auch die Ufer der Zeitlichkeit be- fruchtet. Ambrosius, der Prediger der Weltflucht, ist auch der ernste Freund der irdischen Arbeit und Ordnung, im einzelnen besonnener und praktischer als Chrysostomus und Augustinus. Dennoch bleibt Augustinus der größte Ethiker des alten Christentums, ja trotz der Gegensätze, die er heraufbeschworen, und der Korrekturen, die er erlitten hat der größte Ethiker des Christentums überhaupt. Weder in der weltlichen noch in der kirchlichen Ethik gibt es einen Mann, der so, wie er, die tiefsten Prinzipienfragen der Ethik originell anfaßt und großartig durchführt, der zugleich seine persönliche sittliche Entwicklung mit so ungekünstelter Wahr- heit und frommer Ergriffenheit ausspricht, der endlich als Prediger und Ratgeber es so trefflich versteht, eine erhabene Moral auf die Bedürfnisse des Lebens, grobe wie feine, anzuwenden. Nach der ersten Richtung ist er für die Scholastik, nach der zweiten für die Mystik, nach der dritten für das Kirchenrecht und die Kasuistik vorbildlich gewesen. Gewisse Unklar- heiten und Schroffheiten seiner Doktrin, so z. B. die zu enge Verbindung zwischen Sinnlichkeit und Erbsünde, sein Rigorismus bezüglich der Ehe, seine geistreiche und tiefe, aber auch schillernde Auffassung der charitas, des timor servilis, der Civitas Dei, gingen mit dem Lehrganzen auf die mittelalterliche Moral über und beherrschten besonders die erste Hälfte desselben. Für die mystische Behandlung der Moral wurden neben ihm die ins Urchristentum hinaufdatierten Werke des sog. Dionysius Areo- pagita maßgebend und verstärkten mit ihrem stark neuplatonisch ge- färbten Inhalt die idealistische, unmittelbar auf das Jenseits, das gött- liche Zentrum der Moral hingewandte Betrachtungsweise. In den Schriften des hl. Bernhard konzentriert sich die mystische Begeisterung" auf die Person des Erlösers, das menschliche Vorbild seines Lebens und Leidens; sie zeigen in ihrem unvergleichlichen Reichtum an bib- lischen Sprüchen und Anspielungen, wie stark und unmittelbar die

Einleiluiifi. II. Mntwicklimfj der Morahvisseüschal't. =27

Schriften der Offenbarung- aucli damals auf das sittliche und religiöse Denken wirkten.

Die großen Scholastiker Albertus Magnus, Thomas von Aquin, oio »choia- Alexander von Haies, Bonaventura u. a. streben wie für die Theologie überhaupt, so auch für die Moral eine wissenschaftliche Einheit der philo- sophischen und theologischen Wahrheit an; Thomas ist der erste, der im zweiten Teil der Summa ein großartiges, im Aufbau wie in der Durchführung sorgfältig entwickeltes System der Moral schafft. In ihm kommen Augustin und die griechischen Väter, die römischen Eklektiker wie die Araber und Juden des Mittelalters zu Worte; vor allem aber wird nun die Metaphysik und Ethik des Aristoteles für die spekulative Behandlung der Moral fruchtbar gemacht. Sie wird in der Tat fruchtbar in jener Vertiefung und Verklärung, welche ihre an sich gesunden, aber nicht zur religiösen Einheit verbundenen Grundsätze im Lichte des Christentums erfahren. Die dem Stagiriten eigene, unbefangene Auffassung der Natur und des Menschen, seine Überzeugung, daß das Ideale nicht bloß über den Wolken, sondern auch im Irdischen wohnt, erwies sich als ein heilsames Gegen- gewicht gegen die Gefahr asketisch-mystischer Verstiegenheit; seine sorg- same Psychologie mit ihrer Annahme potentieller Anlagen und Kräfte, mit ihrer gleichzeitigen Betonung der Erfahrung und Gewöhnung be- günstigte die EntW'icklung der Tugendlehre, der natürlichen und über- natürlichen; seine sozialen und politischen Anschauungen kamen dem sich regenden Triebe nach Verselbständigung des staatlichen Lebens entgegen. Thomas ist übrigens nicht nur „der weiseste aller Vermittler", eine bedeutende „architektonische Kraft"; er hat fast im ersten Wurf eine Verbindung des Aristoteles und Augustinus, auf Grund dieser eine Verbindung der „philo- sophia perennis" mit der katholischen Sittenlehre geschaffen, so innerlich und organisch, daß sie sich in ihren Grundzügen unverwüstlich gezeigt und sowohl bei der Erneuerung der Scholastik zu Anfang des i6. Jahr- hunderts, wie in den jansenistischen Streitigkeiten und zuletzt nach dem Ablauf der Aufklärungszeit als fester Boden erwiesen hat. Neben dieser bis heute stark fortwirkenden thomistischen Spekulation haben sich stets mit Freiheit andere Richtungen geltend machen können, bald mehr im augustinischen Sinne einer strengeren, idealen Konzentration, bald mehr im Sinne größerer Freiheit des Denkens und Handelns, der Relativität und Vielseitigkeit des Sittlichen.

Das 15. Jahrhundert zeigt uns in der Summa theologica des Erz- bischofs Antoninus von Florenz ein großes Moral werk, das in seinen Grundlagen durchaus auf Thomas und andere Frühscholastiker zurückweist, aber zugleich in Schilderung und Kasuistik ausführlich auf die Gesell- schafts- und Kulturverhältnisse eingeht und der homiletischen Anwendung der Moral Rechnung trägt. Die sonst vielfach verknöcherte Scholastik erlebte schon vor der Reformation eine kräftige Erneuerung, die besonders nach dem Tridentinum zu bedeutenden Leistungen auf dem Gebiete der

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Moral führte. Die philosophischen Prinzipienfragen wurden tiefer verfolgt, die Fragen des Xaturrechts, des Gesellschafts- und Wirtschaftslebens in größerem Umfang mit der Sittenlehre verknüpft, theologische Probleme, wie das Verhältnis von Natur und Übematur, im Gegensatz zu Luther, Bajus u. a. ausführlich erörtert; da sich zugleich das geschichtliche Material mehrte und die Kasuistik ins einzelne entfaltete, wurde die Einheit des Systems vielfach gesprengt, und Einzeltraktate über bestimmte Moral- gebiete füllten ganze Folianten. Die Werke von Fr. Viktoria, Medina, Bellarmin, Vasquez, Molina, Lugo, Laymann und besonders Suarez er- rangen großes Ansehen, zum Teil über die Grenzen der katholischen Kirche hinaus; sie üben direkt und indirekt auch auf die heutige katho- lische Moral einen bedeutenden Einfluß. Sie vermitteln in ihren grund- sätzlichen Darlegungen das Verständnis gewisser Eigenheiten der Kasuistik im engem Sinne, die in derselben Periode einen starken, ja ungesunden Aufschwung nahm. Kasuistik und In Anlchnung an die Pönitentialbücher des Mittelalters wollten diese kasu-

Probabilismus. ..-•.i-, _.__. _

istischen Werke vor allem für die v erwaltung des Bußgerichts Material und Ratschläge bieten; daraus erklärt sich die kurze Behandlung der Prinzipien- fragen, die Beschränkung auf Pflicht und Sünde, das Streben, eine untere Grenze des Sittlich-Notwendigen festzustellen. Manche Kasus dienen außer- dem dem methodischen Interesse, die Begriffe zu klären, ein Prinzip mit logischer Schärfe zu Ende durchzudenken; die vielfachen Rücksichten, die ein solches Verfahren in praxi verbieten, werden dabei selten erwähnt, weil sie für jenen methodischen Zweck bedeutungslos sind. Auch der sogenannte Probabilismus entspringt an sich dem ernsten Gedanken, die sittliche Wahr- heit von dem bloßen Zweifel, das objektive sittliche Gesetz von der indivi- duellen Meinung zu unterscheiden; er erklärt in Fällen, wo eine Sicherheit in moralischen Fragen nicht zu erzielen ist, das Gewissen für frei und be- rechtigt, einer wahrscheinlichen (probablen) Ansicht zu folgen, auch dann, wenn derselben eine streng-ere und ebenso (oder gar mehr) wahrscheinliche gegenübersteht. Diese Freisprechung des Gewissens von zweifelhaften Pflichten bildete zudem einen Schutz gegen Überlastung mit kirchlichen oder staatlichen Obliegenheiten, gegen Schulsatzungen und rigoristische Seelenführer und sollte bei ängstlicheren Gewissen der Gefahr formeller Versündigung vorbeugen. Die allgemeine Anerkennung eines Minimums strenger Verpflichtungen ^Minimum im Sinne idealer Christlichkeit, keineswegs im Sinne des Libertinismus aller Zeiten bot eben durch die Allgemeinheit, mit der es durchgeführt werden konnte, einen unver- kennbaren Vorzug gegenüber einer strengeren, aber angefochtenen und zwiespältigen Praxis; dabei galt als selbstverständlich das Streben des Beichtvaters, durch Rat und Führung zum Höheren anzuleiten. Das tat- sächliche Bild der Kasuistik bietet dennoch manches unerfreuliche und Abstoßende: Zersplitterung der Fragen bis ins Abstruse und Lächerliche, übertriebene Erörterung sexueller Probleme über das an sich berechtigte

Einleitung. II. Entwicklung der Moralwissenschaft. ejQ

Maß, künstliche Ablösung- der Kin/.elfälle von ihrem natürlichen Boden, nicht selten auch ein zu großes Entgegenkommen gegen die menschliche Schwäche. Speziell der Probabilismus konnte solche Übelstände begünstigen, wenn er, wie es vielfach geschah, die Wahrscheinlichkeit einer Meinung, ohne tiefere Prüfung der inneren Gründe, von äußeren Autoritäten ab- hängig machte. Solche Auswüchse der Kasuistik boten in den janseni- stischen Streitigkeiten den Gegnern der Jesuiten eine willkommene Hand- habe, die Moral und Beichtpraxis des Ordens als eine laxe und unsittliche zu brandmarken; in glänzender, aber auch leidenschaftlicher und objektiv ungerechter Weise führte den Hauptschlag Pascal mit seinen Provinzial- briefen (1^)57). Eine Reihe von Päpsten verwarf in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts laxe Aufstellungen einzelner kasuistischer Autoren; Alexander VII. warnte auch im allgemeinen vor der hochgestiegenen „Will- kür ausgelassen scharfsinniger Geister" und Innocenz XL zeigte sich in einem Dekret vom 26. Juni 1680 als Gegner des eigentlichen Probabi- lismus. Die feindlichen Angriffe und die Reaktion im Inneren der Kirche blieben nicht ohne heilsame Wirkung. Unter den Versuchen eines ge- mäßigteren Probabilismus gewann am meisten Anklang und Verbreitung das System des hl. Alphons von Liguori, welches die Freisprechung von der Pflicht auf Fälle des eigentlichen Zweifels einschränkt. Die kirchliche Empfehlung seiner Werke, die mit der Erhebung zum Doctor ecclesiae verbunden war, bedeutet übrigens keine Dogmatisierung seines Systems; noch weniger will sie zur Zustimmung in einzelnen Moralfragen verpflichten oder auch nur dieselbe bei abweichendem sicheren Gewissensurteil erlaubt machen. In einzelnen Lehrstücken wirkt bei Alphons der Einfluß zu laxer älterer Autoren nach; anderswo läßt seine referierende und zurückhaltende Methode das eigene Urteil kaum hervortreten. Die zahlreichen latei- nischen Handbücher der Moral aus dem ig. Jahrhundert bleiben zum Teil, wie Gur>-, ausgeprägt kasuistisch, zum Teil suchen sie auch der grund- sätzlichen und positiven Seite der Sittenlehre gerecht zu werden, wie Lehmkuhl, Marc, Müller u. a.

Neben dieser ausgedehnten, .speziell für pastorale Zwecke bestimmten Asketische Literatur ist die ebenso bedeutende asketische und mystische als Zweig der katholischen Ethik nicht zu übersehen. Im Mittelalter treten den tiefsinnigen Mystikern, wie Tauler, Eckhart, Suso, den gewaltigen Predigern, wie Berthold von Regensburg und Geiler, den kernigen Asketen, wie Thomas von Kempen, gelehrte Theologen zur Seite, die wie Gerson und Dionysius von Ryckel eine Theorie des Tugendlebens und der höheren Mystik anstreben. Die nachtridentinische Zeit ist nicht lässiger in der Pflege der Lichtseite christlichen Lebens; Johannes vom Kreuz, Ludwig von Granada, Theresia von Jesus, Franz von Sales, Fenelon reden die Sprache innerlichster Frömmigkeit und hohen sittlichen Ernstes. Andere Schriftsteller bemühen sich um die ethische Belehrung der weltlichen Stände oder suchen, wie L. Vives und G. B. Vico, die Grenzgebiete zwischen

Die Kultur ubr Gegenwart. I. 4. ^a

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Moral und Gesellschaftslehre mit neuen Ideen und Anregungen zu be- fruchten. In unzähligen populären Schriften dringt jene erbauliche Moral auch in die breiten Volksschichten hinab; ihre gesunde und erhebende Wirkung wird hier und da beeinträchtigt, aber im ganzen nicht auf- gehoben durch einen Zug zum Außerordentlichen und Wunderbaren. Die neuere Die Entwickluug dcr Moralphilosophie und des Naturrechts von Grotius

Moral." und Hobbes bis auf Wolff und Rousseau bewirkte auch auf katholischem Boden die Abzweigung des Naturrechts und der philosophischen Ethik als einer eigenen, vieltraktierten Wissenschaft. Das 1 8. Jahrhundert führte mit seiner Lockerung der Schultradition weiterhin zu einer neuen Form der theologischen Moral. Das kanonistisch-liturgische Material wurde aus- geschieden und durch psychologisch-asketische Darlegungen ersetzt, der Stoff in ein innerliches und übersichtliches System gebracht, die Dar- stellung moderner und gemeinfaßlicher gestaltet. Mit dem Beginne des 1 9. Jahrhunderts trat einerseits hinzu der Einfluß von Kant und Schleier- macher; andererseits gewann das positiv christliche Element eine Neu- belebung und Stärkung, vor allem bei Sailer (18 17) und Hirscher (1835), von denen der erste durch Wärme, Lebendigkeit und individuelle Auf- fassung, der letztere auch durch strenge und einheitliche Konstruktion sich auszeichnete. Dennoch war der Erfolg dieser und ähnlicher Leistungen kein durchschlagender. Ihr Idealismus blieb der Wirklichkeit des Lebens zu fern, ihre subjektive Spekulation mißkannte den Wert des ererbten philosophischen Stammgutes, ihre Darstellung war mehr der erbaulichen Schilderung als der wissenschaftlichen Ergründung und Austragung der Probleme günstig. Von den späteren Werken, die eine ausgeprägte Eigen- art vertreten, ist die Ethik K. Werners wegen ihrer geschichtlichen Methode und Exkurse, die Moraltheologie von Linsenmann wegen ihrer allseitigen und maßvollen Beleuchtung moderner Gesellschaftsfragen rühmenswert. Die Lehrbücher von Simar, Schwane, Pruner u. a. streben gleichfalls eine Verbindung der Pflichten- und Sündenlehre mit der Vollkommenheitslehre an, halten aber bei ihrer Anpassung an die neuen Bedürfnisse doch engere Fühlung mit der scholastischen Tradition.

Eine erfolgversprechende Weiterführung der Moral als Wissenschaft ist nach dem Charakter und der Geschichte der katholischen Theologie in der Tat davon abhängig, daß die durch jahrhundertelange Erfahrungen und Kämpfe erprobten Grundsätze eines Augustinus, Thomas, Bona- ventura usw., die den Ertrag- der edelsten vorchristlichen Ethik mit den Ideen der Offenbarung in Einklang setzen, festgehalten, aber entsprechend den heutigen Aufgaben und Methoden fortgebildet werden. Die Möglich- keit und Fruchtbarkeit eines solchen organischen Fortschritts zeigt sich, je tiefer man in den wahren Geist jener Grundsätze einerseits und in die innerste Tendenz des heutigen Ringens um ethische und soziale Fragen andererseits eindringt. Anfänge derselben sind auf den meisten Teilgebieten vorhanden, müssen sich aber erst zu größeren Gesamtdarstellungen zu-

Einleitung. II. Entwicklung der Moralwissenschalt. e 1 1

sammenschlioßen. Nach dieser Richtung sind auch die jüngsten Angriffe gegen die katholische Moral nützlich gewesen; das Bedürfnis einer mit den Methoden und Aufgaben unserer Zeit fortschreitenden Moralwissenschaft wurde in den verschiedensten Lagern der katholischen Theologie an- erkannt. Die Angriffe selbst standen zu dieser Wirkung in keinem Ver- hältnis; sie wurden durchweg mit den allmählich stumpfgewordenen Waffen Pascals, aber ohne dessen glänzende polemische Kunst ausgeführt. Der außergewöhnliche Erfolg gewisser Flugschriften hatte von vornherein mit der Wissenschaft nichts zu tun; die scheinbare Gelehrsamkeit P, von Hoens- broechs ließ bald auch dem Auge gänzlich uninteressierter Kritiker ihre methodische Einseitigkeit und zahlreiche sachliche Unrichtigkeiten hervor- treten. W. Herrmann übersah die innerliche Begründung des Sittengesetzes im Katholizismus und mußte bei der subjektivistischen Art seiner sittlichen und religiösen Erkenntnislehre von der Kritik der katholischen Moral zur Bekämpfung jeder objektiven christlichen Glaubensnorm weitergehen.

Als eine wertvolle Vorarbeit für die Bereicherung der Moralwissen- schaft, die zugleich methodischen und apologetischen Gewinn verspricht, müßte die Hebung jener Schätze bezeichnet werden, die in den Quellen der Moral, Schrift und Überlieferung gegeben sind. Der zeitlich bedingte und fortschreitende Charakter der alttestamentlichen Sittlichkeit tritt heute klarer hervor als früher; andererseits aber auch die Reinheit und Größe derselben gegenüber heidnischer Lebensauffassung. Der unvergängliche, auch für die Schäden und Gefahren der heutigen Gesellschaft heilkräftige sittliche Gehalt der alttestamentlichen Prophetie wird anerkannt. Auch das Neue Testament wird gern unter dem Gesichtspunkt der Gesellschafts- lehre und Kultur untersucht; den tiefer ins Innere dringenden Studien des älteren Deutinger über neutestamentliche Ethik schließen sich neuere mit ähnlicher Wendung zum Homiletischen an. Die gesteigerte Regsamkeit auf patristischem Gebiete kommt zwar in erster Linie der literarischen Kritik und der Dogmengeschichte zugute; doch verbreiten die kritischen Studien erwünschtes Licht über manche Einzelfrage, beseitigen Vorwürfe gegen die altkirchliche Ethik, ihre Engherzigkeit, W^eltfeindlichkeit usw., zeigen aber auch bei den einzelnen Vätern wie im ganzen die Entwick- lungs- und Anpassungsfähigkeit der sittlichen Ideen des Christentums. Als wichtige und bisher zu sehr vernachlässigte Quelle für die Erkenntnis des sittlichen Geistes der Kirche muß die kirchliche Liturgie bezeichnet werden. Einzelnes aus derselben (Heiligenverehrung, Jungfräulichkeit usw.) kommt in den archäologischen Forschungen zur Darstellung, anderes bei der Ver- teidigung des Mittelalters gegen die Anklage der Äußerlichkeit, des Pela- gianismus usw. Ein wertvolles Zeugnis für die sittliche Lehre und Volks- erziehung im Mittelalter, das zur Ergänzung der trockenen und bisweilen abstrusen Gelehrsamkeit der Scholastik unentbehrlich ist, erschließt sich in der bekannt werdenden Predigtliteratur und einer Fülle erbaulicher Volks- schriften.

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System der christlich-katholischen Ethik.

I. Moralphilosophische Grund- und Streitfragen. Für den Ausbau der Wissenschaft noch bedeutsamer als die geschichtliche ist die philosophische Auffassung und Durchdringung der sittlichen Wahrheiten, vor allem für die allgemeine Moral, Das hergebrachte Schema der moral- philosophischen Lehrbücher erweiterte sich, je mehr die moderne Ethik ihre rücksichtslose und rastlose x\rbeit auf dem Gebiete der Prinzipienfragen entfaltete, je mehr die noch stärkere soziale Bewegung ihre wirtschaftlichen Forderungen zugleich als Postulate des Rechtes und der Sittlichkeit in den Mittelpunkt des Interesses rückte. Dabei halten die katholischen Schriftsteller durchgehends die überlieferte Grundlage, die realistische und metaphysische Erkenntnislehre der Scholastik, fest; doch hat die jüngste Kantströmung in Frankreich bei manchen französischen Theologen die Sicherheit dieser Grundlage erschüttert, bei anderen mehr aus taktischen Gründen zu neuen Methoden geführt. Für die ältere Schule ging in der Philosophie der Ethik die Metaphysik vorher, die Erkenntnis der Welt, des Geistes, der Gottheit; ebenso hatte in der Theologie der apolo- getische Beweis des Christentums aus den Wundem, Weissagungen usw. den Vortritt vor der inneren Würdigung des Christentums, der Geltend- machung seiner sittlich erhebenden Wirkung auf Gemüt und Gesellschafts- leben, Der weitverbreitete Positivismus der letzten Dezennien erzeugte eine bald feindselige, bald unempfängliche Stimmung gegenüber dieser Alethode; mit der Begründung, man suche ein festeres und allgemeineres Fundament oder man wolle die „kranken Augen" des modernen Menschen schonen und allmählich an das strenge Licht der Metaphysik gewöhnen, kehrte man die alte Ordnung um und nahm das jedem Menschen inne- wohnende sittliche Bewußtsein und religiöse Bedürfnis zum Ausgangs- punkt der Spekulation. „Wir sollen und müssen sittlich handeln, ganze, vollkommene Menschen sein; nicht nur wir, auch die Gesellschaft, die Welt soll und muß als geordnetes, geistig und sittlich lebendiges Ge- meinwesen bestehen; das aber ist nicht möglich ohne die Existenz des persönlichen Gottes; es ist nicht dauernd und vollkommen möglich ohne die Göttlichkeit Christi und der katholischen Kirche." Das Wahr- heitsmoment dieses Gedankens ist auch in der älteren Schule nicht über- sehen, wenn auch weniger betont worden; so schätzte man den moralischen Gottesbeweis, den Einfluß innerlich -persönlicher Motive beim Glauben, das Gewicht der stillwirkenden Momente im Kultus und sittlichen Leben der Kirche. Die umfangreiche Apologie des Christentums von A. Weiß ging in dieser Weise von sittlichen und sozialen Gesichtspunkten als den Prinzipien für die Verständigung mit modernen Richtungen aus. Zur Leugnung ihrer metaphysischen Grundlage wird sich allerdings die katholische Ethik niemals entschließen; diese Grundlage wird zwar häufig vom naiven Bewußtsein übersehen oder von einer angekränkelten Spe-

System der christlich-katholischen Ethik. I. Moralphilosophische Grund- und Streitfragen. ^^^

kulation verkannt; sie läßt sich aber nicht bestreiten, ohne daß bei konsequentem Denken auch die Sittlichkeit, und zwar schon ihr erstes „Sollen", erschüttert und entleert wird. Dieses Sollen ist nicht, wie jene Richtung meint, eine allererste, absolut unanfechtbare Tatsache; es ist nicht eine rein formale Evidenz, die von der Realität des Seins unab- hängig wäre, wie die des logischen Axioms; die bloße Wahrheit kann formal sein, die Güte liegt in der Realität; ein absolut Gutes, wie es in der Pflicht sich ankündigt, ist undenkbar ohne einen absoluten Wirklich- lichkeitszweck. Ebenso wie in der Erkenntnis des Absoluten als der ersten Ursache ein schluß weises, von der realen Welt ausgehendes Verfahren liegt, freilich oft in einfachster, instinktiver Form, so liegt auch im sitt- lichen Bewußtsein ein naheliegendes, aber doch nicht unvermitteltes Auf- steigen des Denkens von der zweckmäßig und zielstrebig geordneten Wirklichkeit der Welt und der Seele zum höchsten Zweck. Wie die metaphysische Wissenschaft jenen einfachen, unreflektierten Schluß erhellt und zerlegt, materiell und formell vertieft und erhärtet, wie sie zugleich die innere Beschaffenheit der Weltursache näher ergründet, so wieder- holt die Moralphilosophie jenen schlichten, gefühlsmäßigen Aufstieg zum höchsten Gute in methodischer Ruhe und zeigt weiter, daß das absolute Gut der Sittlichkeit, wie es in jenem Bewußtsein lebt und als Postulat auch von der nichtchristlichen Ethik vielfach anerkannt wird, nur in der Gottheit zu finden ist.

Den letzterwähnten Nachweis fordert heute besonders die Haltung der vom Christentum emanzipierten Diesseitsmoral. Soweit sie an einer verpflichtenden und teleologisch begründeten sittlichen Ordnung festhält, erhebt sie gegen die christliche und speziell gegen die katholische Moral den Vorwurf, sie habe den Sinn und Wert des Lebens in eine transzendente Höhe verlegt, die nur scheinbar erhaben, tatsächlich aber ein gesteigerter Eudämonismus sei. Das wahre Sittlichkeitsziel müsse hienieden gesucht werden, in dem Gemeinwohl der Menschheit oder im Bestände und Fort- schritt der Kultur. Diese Anklage gab der katholischen Wissenschaft zu- nächst Anlaß, die wirkliche Norm der christlichen Sittlichkeit klarzustellen, ihren nicht- eudämonistischen Charakter nachzuweisen. Alle namhaften katholischen Moralphilosophen verwahren sich gegen die Annahme, daß in der himmlischen Seligkeit das eigentliche Ziel der Sittlichkeit liege. Sie bezeichnen als letzten Erklärungsgrund des Sittlichen die Güte und Vollkommenheit Gottes, die er innerlich in seinem Wesenswillen bejaht und aufrechthält, nach außen in seinem Weltwillen offenbart und abbildet; in diesem Zwecke, der Verherrlichung Gottes, begegnen sich der tiefste Sinn des Weltlaufs und des Menschenlebens. Die meisten katholischen Ethiker nehmen die Beziehung zum „finis ultimus" in die Begriffsbestim- mung des SittHchen auf; andere halten diese Beziehung zwar für unentbehr- lich in der Konstruktion der „Pflicht", stellen aber als Norm des „Sittlich- Guten" (inkonsequent) „die vernünftige Menschennatur" hin. Dabei be-

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tonen alle, daß die Offenbarung der Herrlichkeit Gottes, die Entfaltung der in den Greschöpfen ruhenden Zwecke und Gesetze, für die vernünftigen Wesen zugleich die Entfaltung ihrer persönlichen Anlage zum beseligenden Gottesbesitz einschließt. Die Größe und Güte Gottes findet ihren höchsten Ausdruck in der vollendeten Erkenntnis und Liebe seliger Geister; um- gekehrt erreicht das Geschöpf seine höchste Würde und Beseligung nur in der vollen Hingabe aller geistigen Kräfte an die absolute Wahrheit und Güte. In dem Gedanken des Reiches Gottes kommt auch der von der modernen Ethik so stark betonte soziale Charakter des sittlichen End- zwecks zu seinem Rechte. Im Vergleich zu dieser Zielbestimmung sinken die diesseitigen Werte und Maßstäbe, auch das Ideal des Kulturfortschritts zu minderwertigen herab; ohne Aufnahme derselben in einen höheren, göttlichen Weltplan ist die Einheit und Absolutheit dieser Werte nur eine erträumte; unter der schimmernden Hülle eines großen Namens zeigt sich eine Vielheit endlicher, beschränkter, gegensätzlicher Interessen, die nicht imstande sind, dem Gewissen Ehrfurcht, dem Herzen Begeisterung und Opfermut einzuflößen und das soziale Leben auf eine gerechte, den irdischen Zufälligkeiten entrückte Basis zu stellen.

IL Naturgesetz und Naturrecht. Die zum Teil vom Darwinismus, zum Teil von der historischen und ethnologischen Forschung ausgehende Überspannung des Entwicklungsgedankens in der Aloral ist schon eingangs berührt worden. Die daraus entspringende Leugnung des Naturgesetzes veranlaßte die katholische Moral zu lebhafter Gegenwehr; dieselbe be- schränkte sich nicht auf prinzipielle Betrachtungen, sondern ging zu dem positiven Nachweise über, daß gewisse Grundzüge der natürlichen ^Sittlichkeit bei allen Völkern, sowohl denen der alten Kultur wie den heutigen Naturvölkern, in übereinstimmender Weise vorliegen. Dabei bot sich in den Berichten der Missionare, die meist in ein engeres Ver- hältnis zu den Eingeborenen treten als Weltreisende, ein Material, das von weltlichen Forschern zu sehr vernachlässigt worden war. Bei der Beurteilung der sittlichen Roheit tiefstehender Völker sucht die katho- lische Moral die Mitte einzuhalten zwischen einem Relativismus, der alles „Ländliche" als „sittlich" erklärt, und einem Rigorismus, der das Handeln solcher Wilden nach dem ausgebildeten Sittlichkeitsbewußtsein des Christen beurteilt. Sie hält fest an der objektiven Wahrheit und Allgemeingültig- keit des wSittengesetzes (z. B. des Dekalogs), ist aber weitherzig in der Annahme entschuldbarer Unkenntnis; schon Thomas von Aquin bemerkt, das Naturgesetz könne, was manche konkrete Forderungen angeht, „wegen verkehrter Überzeugungen oder wegen schlechter Gewohnheiten und ver- dorbener Neigungen aus den Herzen der Menschen schwinden". Eine be- sonders eingehend verhandelte Spezialfrage ist die Existenz des Natur- rechts. Nicht bloß die positivistischen Ethiker, sondern auch viele Schrift- steller, Juristen wie Philosophen, die eine rationale, innerlich begründete

System der christlich-katholischen Ethik. II. Xaturjijesrtz und Natunecht. :^ ^ «j

Moral annehmen, leugnen das natürliche Recht; alles Recht fußt nach ihnen auf dem positiven Gesetz und der dadurch gewährleisteten Erzwing- barkeit. Die katholische Ethik und Soziologie bestreitet nicht die Gefahren, die mit der Konstruktion eines Naturrechts aus der individuellen Ver- nunft für Wissenschaft und Rechtsbildung verbunden sind; sie verkennt ebensowenig, daß die historische Rechtsentwicklung der Regel nach den Ausdruck der natürlichen Bestimmtheit eines Volkes bildet. Aber beides hält sie nicht ab, die Existenz natürlicher Rechtsbeziehungen, die sich für das Denken und für die Geschichte gültig und siegreich erweisen, zu behaupten. Schon das Verhältnis der Staatsgewalt zu den Untertanen, das aller Gesetzgebung zugrunde liegt, ist ein rechtliches, die Pflicht der Untertanen, das Gesetz anzuerkennen, eine Rechtspflicht. Es gibt Rechte der Person auf Leben, Freiheit usw., es gibt Verbindlichkeiten aus Ver- trägen, die vor der Gesetzgebung gültig, die auch ohne positive Sanktion wirksam sind; der Staat schafft sie nicht, er bestätigt und schützt sie. Die natürliche Bestimmtheit gewisser Güter zum Dienste einer Person kann auch gegen das Staatsgesetz in Kraft und Geltung bleiben, wie denn die Menschheit stets von ungerechten Gesetzen menschlicher Gewalt- haber gesprochen hat. Speziell kommt das Völkerrecht, wenn es nicht zu viel schwankenderen Maßstäben (Gewohnheit, öffentliche Meinung usw.) greifen will, auch heute an der Anrufung natürlicher Rechtsforderungen nicht vorbei. So scheint denn neuestens eine schwache rückläufige Be- wegung in der juristischen Prinzipienlehre stattzufinden, eine sporadische Anerkennung einer natürlichen, der positiven Rechtsbildung zugrunde liegenden Rechtsordnung. Schließlich könnte man, solange die sittliche Verbindlichkeit dieser Ordnung nicht geleugnet wird, die Frage stellen, ob nicht die Differenz der Meinungen auf einen Wortstreit hinausläuft. Immerhin ist es wertvoll, den Worten ihren historischen Sinn zu lassen. Alle Völker und Zeiten sprechen von einem Recht im natürlichen Sinne, alle kennen die Tugend der „Gerechtigkeit" und unterscheiden sie von anderen sittlichen Tugenden; der Staat selbst erkennt den spe- zifischen Charakter eines vor seiner Gesetzgebung existierenden Rechts- gebiets an, indem er seinen Schutz und seine Zwangsgewalt zunächst nur in den Dienst der Gerechtigkeit, nicht in den der Dankbarkeit, der Liebe und anderer sittlicher Pflichten stellt. Die Frage des Natur- rechts ist ver\virrt worden zunächst durch Verwechslung der peripate- tisch - scholastischen Theorie mit der radikalen Theorie der Aufklärung, sodann durch das Eindringen des Moralskeptizismus in die moderne Juris- prudenz. Auch die besonnene moderne Rechtslehre wird gegen folgenden Satz des hl. Thomas wenig einzuwenden haben: „Das Gerechte und Gute kann in doppelter Weise betrachtet werden. Einmal formell; und so ist es immer und überall gleich; denn die Grundsätze des Rechts, die in der natürlichen Vernunft sind, ändern sich nicht. Zweitens materiell; und so ist das Gerechte und das Gute nicht überall und bei allen dasselbe, sondern

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es bedarf der gesetzlichen Feststellung. Der Grund hierfür liegt in der Veränderlichkeit der menschlichen Natur und in der verschiedenen Lage der Menschen und Dinge je nach der Verschiedenheit der Orte und Zeiten, So ist es z, B. immer gerecht, daß bei Kauf und Verkauf ein gleichwertiger Austausch stattfindet; aber je nach der Menge des Getreides ist es ge- recht, daß der Preis desselben nach Ort und Zeit bald höher, bald ge- ringer ist."

in. Die Willensfreiheit. Unter den Faktoren, die bei der subjektiven Verwirklichung des Sittlichen in Betracht kommen, nimmt in den heutigen Untersuchungen und Kontroversen die Willensfreiheit den ersten Platz ein. Die Tatsache der Freiheit steht für die katholische Ethik fest; sie wird gegenüber den verschiedenen Formen des Determinismus vor allem auch mit psychologischen Argumenten verteidigt. Die Selbstbestimmung des Willens ist der deutlichste Ausdruck der Geistig-keit und Selbständig- keit der Seele, die wichtigste Grundlage der moralischen Verantwortlich- keit. Weil aber die Seele nach peripatetischer Lehre zugleich das Lebens- prinzip des menschlichen Organismus (forma corporis) ist, fällt es dieser Theorie nicht schwer, auch die durchgängige Verflechtung der höheren Geistestätigkeit ins Sinnlich-Leibliche, wie sie besonders von der modernen Psychologie betont wird, zwanglos zu erklären. Nach ihrer Auffassung ist zunächst der Wille selbst nicht absolute Willkür oder Indifferenz; der Wille ist das geistige Begehrung-svermögen, daher von Natur ebenso auf das Gute angelegt, wie der Intellekt auf das Wahre. Jeder freie Akt wurzelt in dieser ursprünglichen Tendenz, jedes arbitrium voluntatis in der natura voluntatis. Der Vorzug des geistigen Begehrens vor dem sinnlichen liegt darin, daß sein adäquates Objekt nicht ein partiku- läres Sinnengut, sondern das Gute im allgemeinsten, universalen Sinne ist; ferner darin, daß der Charakter der Güte nicht vom Gefühl und Instinkt erfaßt wird, sondern von der Vernunft, die durch ihr begriffliches und diskursives Denken befähigt ist, das Einzelgut an der Idee des Guten zu messen, seine Zufälligkeit und Inadäquatheit für menschliches Begehren zu durchschauen. Liegt so in der imiversalen Anlage des Geistes, näher in der idealen und diskursiven Kraft der Vernunft, der Grund, weshalb keine Einzelvorstellung den Willen zu überwältigen, zu determinieren ver- mag, so hängt die positive Seite der P'reiheit, die Macht des Willens, sich selbst zu determinieren, mit einem anderen Vorzuge des Geistes, mit der Reflexionskraft und Bewußtheit des Denkens zusammen. In geheimnis- voller Weise erkennt die Seele, indem sie anders denkt, auch ihr Denken und sich selbst; der Blick, der nach außen schaut, bleibt auch sich selbst gegenwärtig. In ähnlicher Weise umfaßt der Wille, indem er einen Zweck will, auch dieses Wollen selbst; indem er eine äußere Tat gebietet, ge- bietet er sich selbst das Wollen der Tat. Diese „Selbstursächlichkeit" ist in der Kette der kausalen Zusammenhänge einzigartig; aber sie ist nicht

System der christlich-katholischen Klhik. III. Dio Willensfreiheit. IV. Die Sünde. cjy

fremdartiger als die unleugbare Tatsache des Selbstbewußtseins. Min Widerspruch läge in derselben nur, wenn die erste Erhebung über die Potentialität dem Willen selbst zugeschrieben würde; dieses leugnet aber auch die thoniistische Willenslehre auf Grund des allgemeinen Satzes, daß keine Potenz als solche sich den Akt geben könne. Das Wollen beginnt mit einem unreflektierten Impulse (a Deo, ab intellectu), jede Überlegung geht von unwillkürlichen Regungen aus; aber nachdem Vernunft und Wille zur Bewußtheit erwacht sind, ist ihr Handeln nicht an die Gesetze der äußeren Kausalität, an die „Äquivalenz" der Kräfte gebunden.

Nach dieser Theorie ist der Einfluß der Motive auf den Willen un- bestreitbar und unentbehrlich; aber er ist kein zwingender, er hebt die Freiheit nicht auf, sobald und solange das Denken seine diskursive und reflexive Tätigkeit entfalten kann. In Form von Motiven, auf dem ^Vege der Vorstellung, also mittelbar, treten auch die Einflüsse der animalischen Sphäre, des Milieus, der Gesellschaft usw. dem Willen nahe. Diese letzteren Einflüsse wirken aber zugleich unmittelbar auf das sinnliche Fühlen und Begehren, das im Menschen der Leitung des Geistes untersteht, aber ebenso- sehr von der Zuständlichkeit des Leibes, des Nerven- und Gefäßsystems, mit dem es verwachsen ist, abhängt. Das Reinsinnliche, Nichtgewollte ist als solches noch nicht sittlich; zu den sittlichen Aufgaben des Geistes aber gehört es, durch Leitung der Phantasie und konsequente Selbst- erziehung die allmähliche Läuterung des niederen Begehrens und die volle Harmonie des Innenlebens anzustreben. Dieses Ideal ist stets nur an- näherungsweise zu erreichen; von demselben führen tausend Nuancen und Abstufungen hinab bis zur vollen Erstickung der Freiheit in tierischer Sinnlichkeit. Die genauere Beschreibung dieser Schranken und Ano- malieen durch die moderne Anthropologie und Psychiatrie hat auch für die praktische Ethik besonderes Interesse, weil sie die natürliche Bedingtheit mancher Entartungszustände klarstellt. Vorübergehende und dauernde, zu- fällige und angeborene Fehler des Organismus können die Gehimtätigkeit und damit den normalen Ablauf der sinnlichen Vorstellungen hemmen; das sinnliche Vorstellungsleben ist aber Voraussetzung der Vernunfttätigkeit, diese wiederum Bedingung der Freiheit. Die Lehre von der Imputabilität der Handlungen empfängt so durch die Erweiterung des empirischen Wissens eine reichere Ausgestaltung, die praktische Seelenleitung dankens- werte Winke und Aufklärungen.

IV. Die Sünde. In engem Zusammenhange mit diesen Fragen steht die Unterscheidung des schweren oder läßlichen Charakters der Sünde, die in letzter Zeit zu lebhaften Auseinandersetzungen geführt hat. Daß für die wirkliche Sünde jener tiefgreifende Unterschied stets subjektiv begründet sein muß, ist klar; die katholische Moral und Katechese spricht diesen Grundsatz aus, indem sie zur Todsünde die klare Erkenntnis eines wichtigen Verbotes und den freien Entschluß des Willens verlangt. Aber

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als entfernteren, objektiven Maßstab stellte sie den Gegenstand, den Inhalt des Verbotes und der Sünde hin. Der Vonvurf äußerlicher, quan- titativer Abschätzung des Sittlichen kann die Richtigkeit dieses Stand- punktes nicht aufheben. Gerade bei der Sittlichkeit, wenn sie eine tätige und ernsthafte sein soll, steht Inneres und Äußeres in Wechselbeziehung. Es gibt nicht einmal sittliche Gesinnung ohne irgend einen, wenn auch geistig' gefaßten Gegenstand (Gut, Zweck); die Sittlichkeit als solche ist Achtung und Liebe eines Gutes, des höchsten Gutes. Nur wenn der „Er- folg" zum Wertmesser des Sittlichen gemacht wird, veräußerlicht sich die Moral; nicht wenn dem „Zwecke" seine herrschende Stellung zugestanden wird. Da der Aufbau der sittlichen Zwecke zum Werke des Gottesreiches ein organischer, dem inneren Zusammenhang der Güter sich anpassender ist, so kommt auch der geschöpf liehe Wert dieser Güter für die Ab- schätzung des Guten und Bösen in Betracht; weil aber das Wesen der Sittlichkeit in der Hinordnung auf das höchste Ziel liegt, wird die Sittlichkeit als solche nicht aufgehoben, solange die Unordnung in der Zwecksetzung nicht bis zur Antastung des höchsten Zieles durchgreift. Das letztere ist der Fall bei der Todsünde; bei ihr darin stimmen alle überein findet in irgend einer Weise eine Gefährdung des höchsten Gutes, eine Abkehr des Willens von Gott statt. In welcher Bewußtheit und Voll- kommenheit dieselbe vorhanden sein muß, darüber herrschen verschiedene Ansichten. Die bezüglichen Ausführungen Schells sind zum Teil so auf- gefaßt worden, als fordere er zur Todsünde eine grundsätzliche Abwendung von Gott um ihrer selbst willen, den eigentlichen Gotteshaß; eine Fassung, die weder mit der bisherigen kirchlichen Anschauung noch mit Schells sonstigen Äußerungen übereinstimmt. Auch Sünden, in denen geschöpf- liche Tust und Leidenschaft die Triebfeder ist, können von Gott und seiner Lebensgemeinschaft trennen; dieses letztere, negative Moment braucht nicht einmal „grundsätzlich" in dem Sinne gewollt zu sein, daß eine Verhärtung „für immer" beabsichtigt wird. Gewiß besitzt die Todsünde gegenüber der läßlichen den Charakter des Dauernden, Ewigen, Unheilbaren; aber dieser Charakter folgt von selbst aus dem wirklichen Abfall vom sittlichen „Leben", das, wie das psychische Leben, zwar für immer zerstört, aber nicht ohne weiteres wiedererweckt werden kann. Aber ein wirklicher x\bfall von der Sittlichkeit, vom Prinzip des sittlichen Lebens muß auch stattgefunden haben; eine interpretative Zustimmung genügt nicht zur Todsünde. Ein solcher Abfall ist möglich ohne aktuelles Denken an Gott, ist möglich auch bei der Verletzung irdischer Ordnungen. Das höchste Ziel der Sittlichkeit tritt uns, wie schon gezeigt wurde, nicht nur in der Idee des persönlichen Gottes entgegen; es tritt in unseren Gesichtskreis, so oft das Gewissen die ganze Wucht des sittlichen Sollens in eine For- derung hineinlegt, so oft es eine Handlung in der Weise als schlecht ver- bietet, daß die Person, der ganze Mensch durch sie schlecht gemacht wird. Dagegen liegt das Charakteristische der läßlichen Sünde darin, daß

System der christlich-katholischen Ethik. V. Natur und Gnade. ^^g

die einzelne Tat vom Gewissen mißbilliget und verworfen, die Sittlichkeit der Person aber nicht aufgehoben wird; nach christlichem und allg-emein- menschlichem Bewußtsein gibt es zweifellos Sünden, die dem Guten, dem Gerechten anhaften, Sünden, welche die ISittHchkeit nur in der Peri- pherie, nicht in ihrem Mittelpunkte berühren. Wenn in den Erörterungen über die ganze Frage vielfach das Bestreben hervortritt, den Kreis des Todsündlichen enger zu ziehen, als es der bisherigen sententia com- munis entspricht, so liegen dabei nicht laxere sittliche Anschauungen zugrunde, sondern eher die Schwierigkeiten, welche das Dogma von der Hölle dem modernen Denken bereitet. Nach dieser Richtung ist wohl die Bemerkung am Platze, daß der Ausdruck „Todsünde" zunächst den Verlust des übernatürlichen Gnadenlebens, damit auch den Ausschluß von den Gnadenmitteln, die jenes Leben voraussetzen, nicht aber unmittelbar die Reife für die ewige Verdammnis ausspricht. Diese letztere tritt erst ein, wenn zum sittlichen der leibliche Tod hinzutritt, sie tritt auch dann nach Thomas nicht rein äußerlich ein, sondern durch eine beim Übergang in die andere Welt erfolgende innere Verhärtung der Seele, die den Charakter der Strafe erklärt. Die theologische Behandlung des escha- tologischen Geheimnisses muß an dieser inneren, idealen Beziehung zwischen Schuld und Strafe im Interesse der sittlichen Grundsätze festhalten; wenn alle Wege Gottes Weisheit sind, wenn seine positiven Anordnungen stets aus dem Boden ewiger Ideen hervorwachsen, dann gibt sicher bei dieser abschließenden, absoluten Gerechtigkeitstat nicht das positive Dekret oder gar eine äußerliche Abschreckungspolitik den Ausschlag, sondern die innere Natur der Verhältnisse, Eine tiefere Be- trachtung des sittlichen Wesens und Zweckes der Strafe nach der Heiligen Schrift, nach Augustin und Thomas, die unter vielen Gesichtspunkten erwünscht ist, würde die Überzeugung nur fester begründen, daß die Strafe ihrer Idee nach nicht willkürliche Reaktion, sondern die natürliche Aus- gestaltung, die Kehrseite der Sünde ist, eine Folge jenes wurzelhaften Zusammenhanges zwischen ^Sittlichkeit und Seligkeit, den wir oben (S. 534) andeuteten: „cum punit Deus peccatores, non malum suum eis infert, sed malis eorum eos dimittit" (Augiistin. Enarr. in ps. 5, 10).

V. Natur und Gnade. Sowohl die Tatsache der Sünde als die innere Erhabenheit (Übernatürlichkeit) der Heilsbestimmung des Menschen weisen auf die Notwendigkeit der Gnade hin; ihr Eintreten in das Seelen- leben und die hierdurch bewirkte Erneuerung und Erhöhung der sitt- lichen Verfassung des Menschen gehörten stets zu den wichtigsten Grenz- fragen der Dogmatik und Moral. Vielleicht in stärkerem Maße, als seit langem, und mit besonderer Betonung des Ethischen ist dies heute der Fall. Die rationalistische und autonome Moral weist jede verborgene, nicht auf sittlicher Motivation beruhende Willensbeeinflussung als Bedrohung der geistigen Selbständigkeit zurück; vom protestantischen Standpunkte

540 Joseph Mausbach: Christlich-katholische Ethik.

sieht man vielfach in der katholischen Auffassung der Heilsvermittlung etwas Magisches, in der Unterscheidung des natürlichen und übernatür- lichen Seelenstandes eine mechanische Trennung; im Schöße der Kirche selbst, die sich seit Überwindung der „Aufklärung" mit erneutem Eifer der sakramentalen Seite des Lebens annimmt, erheben sich Stimmen, die auf gewisse Gefahren einer äußerlichen Frömmigkeit und ungesunden Mystik aufmerksam machen.. Auf der anderen Seite zeigt auch die moderne Entwicklung einen starken Zug zum Mystischen; neue, aus verborgenen Tiefen strömende Lebensquellen sollen der an der Kritik und der Arbeits- hast verschmachtenden Menschheit geistige und sittliche Erfrischung bringen. „Nicht Gottesbeweise und Evangelienkritik, sondern innere Erlebnisse be- gründen den Glauben; nicht Freiheit und persönlicher Wille, sondern das Unbewußte, der geheime Zusammenhang des Einzelnen mit den Vorfahren, dem Geschlechte, der Geisterwelt, entscheiden über das sittliche Schicksal; nicht geistige Errungenschaften und Kulturwerte bringen das Herz zum wahren Frieden; suchen wir in den Schriften der Mystiker, bei den Indem oder Giordano Bruno, bei Silesius oder Thomas von Kempen das Arkanum der Seelenheilung!" Die katholische Theologie sieht in der Gnade ein höheres Lebenselement, das von Gott der Seele eingesenkt, von ihrem natürlichen Wesensbestande verschieden ist. Es ist zugleich Heilung, Erneuerung der Natur aus der Zerrüttung der Sünde und Erhebung der Natur zu geheimnisvoller Gottähnlichkeit und Gotteskindschaft. Die pau- linischen und johanneischen Gedanken von der Wiedergeburt und gött- lichen Lebensgemeinschaft des Christen sind in der Lehre von Natur und Übernatur theoretisch weiter entwickelt und schärfer ausgeprägt. Der Gnadenbegriff des Augustinus: sittliche Heilung und Befreiung der Seele und der im Orient vorwiegende Gedanke der mystischen Verklärung leben in der seit Thomas herrschenden, im Tridentinum bestätigten Gnadenlehre nicht bloß nebeneinander, sondern organisch verbunden fort. Der überall festgehaltene Grundsatz: Gratia non destruit, sed supponit et perficit naturam erkennt den Wesensbestand des Menschen auch nach der Erbsünde an, setzt seine sittlich-religiöse Anlage schon für die Erlangung der Recht- fertigung in Tätigkeit, wahrt innerhalb des Gnadenlebens die sittliche Not- wendigkeit des natürlichen Denkens und WoUens. Der Satz des hl. Bern- hard und des hl. Bonaventura, daß Gnade und Freiheit sich nicht in das sittliche Verdienst teilen, sondern beide das Ganze leisten, daß der Wille das Werk der Gnade „zu dem seinigen zu machen hat", verbietet grund- sätzlich ein falsches, quietistisches Vertrauen auf den übernatürlichen Beistand.

Das Ineinander von Natur und Gnade zeigt sich sogleich beim Glauben, dem Anfang des Heilswirkens; der Glaubensakt setzt die ver- nünftige Prüfung der Glaubensgründe und die daraus erwachsende sittliche Überzeugung über die Glaubenspflicht voraus. Der Glaube selbst entsteht nur durch einen von der Gnade unterstützten und beflügelten Aufschwung

System der christlich-katholischen F.thik. \'. Natur und Sünde. e^j

des Willens. Über das Wie dieses Zusammenwirkens herrschen ver- schiedene Auffassungen; entsprechend der schon erwähnten älteren und neueren apologetischen Strömung betont man auf der einen Seite das ver- nünftige „Wissen" vom Dasein Gottes und seiner Offenbarung als not- wendige Voraussetzung des Glaubens an Kirche und Dogmen; auf der andern Seite stellt man, neuestens unter Berufung auf Kardinal Newman, die Notwendigkeit eines solchen „Wissens vor dem Glauben" in Abrede und läßt für die Annahme der Offenbarungstatsache den persönlichen Motiven und dem Gnadeneinfluß größeren Spielraum. Die letztere Auf- fassung ist insofern im Rechte, als ein „Wissen" der Offenbarungs- tatsache vor dem Glauben auch den großen Theologen der alten Zeit unbekannt ist; sie fordern nur ein „Gewissen" über die sittliche Erlaubt- heit und Pflicht des Glaubens, lassen aber die Tatsache der Offenbarung mit in den Bereich des Glaubens fallen. Eine ähnliche Differenz macht sich geltend bezüglich des Verhältnisses, in welchem die Tugend der Liebe im Christenleben zu den natürlichen Tugenden steht, speziell be- züglich des Einflusses, welchen sie auf das irdische Arbeiten und Streben ausüben muß, damit dasselbe verdienstlich wird. Diese Frage hat inso- fern ein praktisches Interesse, als je nach der engeren oder weiteren Fassung der Antwort auch die Anempfehlung der „guten Meinung", d. h. der ausdrücklichen Beziehung des Handelns auf Gott, sich verschieden ge- staltet. Eine weitverbreitete Theorie fordert außer dem Stande der Gnade und Kindschaft Gottes zur Verdienstlichkeit eine ausdrückliche Beziehung des Irdischen auf Gott und die Heilsgüter, läßt aber dabei alle aus dem Glauben stammenden Motive, auch die Furcht und das Seligkeitsverlangen zu. Das tiefere Eindringen in den Geist der thomistischen Ethik bestärkte die gegenteilige Auffassung, die strenger und milder zugleich ist; strenger, indem sie nur das Handeln aus Liebe zu Gott, nicht das Handeln aus Furcht, für verdienstlich erklärt; milder, indem sie nicht eine aktuelle, sondern nur eine virtuelle Beeinflussung des Werkes durch das höhere Motiv fordert. Weil wirkliche Gottesliebe in der totalen Hingabe des Seins und Lebens an Gott besteht, weil femer alle berechtigten Bedürf- nisse unserer geistigen Xatur in Gott ihren Mittelpunkt haben, alle Ver- nunftzwecke in ihm ihren natürlichen Abschluß finden, darum ist durch den aufrichtigen Akt der Gottesliebe alles vernünftige Handeln von selbst auf Gott bezogen, ist gleichsam durch diesen goldenen Ring der elek- trische Strom geschlossen, der eine höhere Energie und Lebendigkeit auch über die niedere Sphäre verbreitet. Die Entwicklung und Frucht- barkeit des Gnadcnlebens wird ertötet durch die schwere Sünde; sie stockt bei jeder, auch der kleinsten sittlichen Unordnung; sie wächst durch jede gute Tat, mag sie natürlich oder übernatürlich motiviert sein, freilich in verschiedenem Maße. Die Superiorität und erneuernde Kraft der spezifisch christlichen Ideale bleibt bei dieser Ansicht voll ge- wahrt; die Bedeutung des Irdischen und die Einheitlichkeit der ganzen

CA2 Joseph Mausbach: Christlich-katholische Ethik.

religiös -sittlichen Lebensauffassung" tritt stärker hervor. Die sittliche Seite der Sakramente wurde besonders erörtert im Anschlüsse an mancherlei Angriffe auf die Bußpraxis und Reuelehre des Mittelalters. Die Vorstellung, als habe das Mittelalter die altchristliche, „religiös- ethische" Auffassung der Buße in eine „hierarchisch-magische" verwandelt, wurde auch von protestantischer Seite im Anschluß an den Orato- rianer Morinus als eine irrige nachgewiesen. Das 12. Jahrhundert, so er- kannte man, brachte die Bußtheorie umgekehrt nach der ethischen Seite hin in Fluß; die moralistische Auffassung Abälards gefährdete geradezu die Bedeutung des Sakraments, des opus operatum. Die Stadien der weiteren Entwicklung wurden untersucht; die glückliche Hand des Aqui- naten in der Entwirrung komplizierter Gedankenfäden, sein divinatorischer Blick für das Einende und Wesentliche der dogmatischen Entwicklung be- währte sich auch hier. Zugleich klärten sich bei eingehender Betrachtung des mittelalterlichen Sprachgebrauchs manche Mißverständnisse, was den Ernst der Reue (attritio) und des Vorsatzes angeht; die Heranziehung der populären Bußbelehrungen bestärkte die günstigere Auffassung.

VI. Askese und Kultur. Ein lange Zeit von der wissenschaftlichen Moral vernachlässigtes Gebiet wurde durch stärkere Berührung und Rei- bung mit gegnerischen Kräften in neue und fruchtbare Zusammenhänge gerückt; das Thema von den evangelischen Räten erweiterte sich zu der Frage der Welt flucht und Kultur. Die Grundlagen der Theorie, die Grundzüge der Lebensauffassung brauchten auch hier nicht verändert zu werden. Die besondere Wertschätzung des religiösen Opferlebens, wie sie sich in den Räten der Jungfräulichkeit, Armut und des Gehorsams institutionell verkörpert hat, ist mit der Geschichte und dem Leben der katholischen Kirche so unzertrennlich verwachsen, daß weder der moderne Kulturenthusiasmus noch die konfessionelle Bestreitung diese Überzeugung zu erschüttern imstande ist. Der innere Zusammenhang der Askese mit dem urchristlichen Denken und Leben wird auch von anderer Seite mehr und mehr anerkannt; ebenso der Wert gewisser asketischer Lebens- formen als eines sittlichen Fermentes des Gesellschaftslebens. Anderer- seits lag die Weitherzigkeit der Kirche in Duldung und Pflege der irdischen Kultur als geschichtliches Faktum klar zutage; es konnte zu- gleich der Nachweis geliefert werden, daß die katholische Sittenlehre und ihre maßgebenden Interpreten an der Gutheit und Gottgefälligkeit alles Geschaffenen, an der Heiligkeit der Ehe, an der Erlaubtheit des Besitzes und des geistigen Strebens usw. nie gezweifelt haben. Der scheinbare Gegensatz von Weltentsagung und Weltbeherrschung löst sich eben in einen Gradunterschied auf; nicht das Gute und Böse, sondern das Gute und Bessere stehen sich gegenüber. Das „Beste" aber, das Wesen der \'oll- kommenheit, ist niclit die Weltflucht, sondern die Gottes- und Nächstenliebe; ihre Reinheit und Kraft gibt für den sittlichen Wert des Menschen, seines

System <ler christlich-katholischen F.lhik. VI. Askese und Kultur. VII. Soziales. S4'?

Strebens und Handelns den Au.sschlag. Die Auspräg^ung dieser Grund- sätze in Theorie und Praxis ist zu verschiedenen Zeiten eine verschiedene gewesen; manches für uns Fremdartige erscheint vom Standpunkte früherer Zeitalter und ihrer Aufgaben als berechtigt, anderes erklärt sich wenigstens aus der individuellen Seelenentwicklung der Heroen und Lobredner der Askese, aus den sittlichen Bedürfnissen ihrer Umgebung, aus zeit- geschichtlichen und nationalen Dispositionen. In den bisherigen Dar- stellungen des katholischen Lebensideals kommen durchgehends die kultur- freundlichen Stimmen aus der alten und mittleren Zeit zu wenig zu Worte; andererseits ist innerhalb der Kirche ein gewisser Fortschritt von engerer Auffassung zu unbefangener Würdigung des Weltlebens unverkennbar. Daß es sich bei der Schätzung beider Lebensformen um die relative, sekundäre Seite, nicht um das Absolute der Sittlichkeit handelt, hatte schon die Vorzeit erkannt; ebenso, daß der theoretisch höhere Stand nicht für jeden praktisch vorzuziehen ist Unterscheidung des persönlichen „Berufes" vom abstrakten „Rate" ; aber beide Wahrheiten bedurften einer kräftigeren Betonung in der asketischen Literatur und einer schär- feren Durcharbeitung in der Wissenschaft. Die katholische Auffassung der Ehe und Jungfräulichkeit trat durch die heutige Frauenbewegung in neue Beleuchtung; es zeigte sich, daß die moderne Überspannung der Geschlechtsaufgabe des Weibes, die Forderung der Mutterschaft als des „höchsten Gutes" der Frau eine Gefahr für den christlichen Charakter, für die Einheit und den Bestand der Ehe bildete. Dagegen läßt die Hoch- schätzung der Jungfräulichkeit das selbständige Wesen und Können, die geistig-sittliche Persönlichkeit des Weibes deutlich hervortreten; die prak- tische Betätigung dieser Idee bietet auch für die Beteiligung der Frauen an höherer Kulturarbeit, an den sozialen und charitativen Aufgaben der Gegenwart den wünschenswerten Spielraum.

VII. Soziales. Wenn in der sozialen Frage zunächst wirtschaft- liche Interessen, politische und Klassengegensätze zum Austrag kommen, so erhält der Kampf doch seine größte Schärfe durch die tieferen, in der Lebens- und Weltauffassung liegenden Gegensätze; darum bedarf es zur Lösung der Frage, soweit sie überhaupt möglich ist, der Mitwirkung sitt- licher und religiöser Mächte. Die Beteiligung der Kirche an der sozialen Arbeit, die in verschiedenen Rundschreiben Leos XIII. ihren feierlichen Ausdruck erhielt, war, dem Zwecke der Kirche entsprechend, zunächst durch solche religiöse und sittliche Absichten bestimmt; aber schon früh (Bischof von Ketteier) setzte auch die wissenschaftliche und wirtschaftliche Betrachtung der sozialen Lage ein, die für eine fruchtbare Mitarbeit un- erläßlich und mit der eben entwickelten Kulturauffassung des Katholi- zismus wohl vereinbar ist. Das überlieferte Schema der Moraltheologie bot in dem Abschnitt „De iure et iustitia", besonders in der Lehre von den X'erträgen, Gelegenheit zur Berücksichtigung modemer Wirtschafts-

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Verhältnisse (Darlehen, Arbeitsvertrag, Versicherung); das Eingehen der Moral auf die Bestimmungen des neuen bürgerlichen Rechts beseitigte gewisse Archaismen römisch-rechtlicher Herkunft zugunsten neuerer, sozial gerichteter Ideen. Die Hauptarbeit aber geschah durch monographische Behandlung der sozialen Probleme. Die Herrschaft des sittlichen Prinzips über das Wirtschaftsleben, der grundsätzliche Zusammenhang zwischen Recht und Sittlichkeit wurde erörtert, der Sozialismus als Ausfluß mate- rialistischer Weltanschauung, aber auch als utopisches soziales Gebilde bekämpft, Arbeitsvertrag und Arbeiterfrage mit ihren Begleiterschei- nungen (Streik, Lohnfrage, Gewerkschaften) vom sittlichen Standpunkte untersucht, Armenpflege und Charitas nach der geschichtlichen und methodischen Seite behandelt. In letzter Zeit verstärkte sich auch das Interesse für die Frauenfrage, Mäßigkeits- und Sittlichkeitsbewegung. Im Anschluß an das erstarkte Selbst- und Rechtsbewußtsein aller Stände sucht die katholische Gesellschaftslehre die soziale Bedeutung des Arbeiter- standes und die Rechtsbasis desselben klarzustellen und im politischen Leben wie im Bewußtsein der höheren Stände durchzusetzen. Dabei zeigt sich, daß das bloße Privatrecht, die Wahrung der Freiheit des Einzelnen gegenüber den wirtschaftlichen Weltmächten nicht ausreicht; der Staat muß vom Schutz der Einzelrechte weitergehen zu öffentlichen Maßnahmen, er muß Forderungen, die an sich der Billigkeit entsprechen, durch das Gesetz zu Rechtsforderungen erheben. Diese Begünstigung einer staat- lichen Sozialpolitik entspricht den alten Grundsätzen über die iustitia legalis und commutativa, ebenso der Idee des Wohlfahrtsstaates, die bereits in der scholastischen Ethik sich durchgesetzt hatte. Bei den Katho- liken der romanischen Länder ist allerdings das Mißtrauen gegen die Ein- mischung des Staates in das Wirtschaftsleben noch nicht geschwunden, was zum Teil nicht so sehr mit prinzipiellen Bedenken, als mit dem Mißtrauen gegen die tatsächliche Leitung der Staaten zusammenhängt. Ein zweiter, von den deutschen Soziologen betonter Grundsatz fordert die Anregung der einzelnen Volksklassen zur Selbstbetätigung und Selbsthilfe; „was für das Volk geschieht, frommt ihm wenig, wenn man es nicht durch das Volk geschehen läßt". Dieser Gedanke hängt gleichfalls mit der stärkeren Betonung der persönlichen Freiheit und Energie zusammen. Übrigens liegt in der Erweckung zum regen, selbsttätigen Schaffen auch eine Liebestätigkeit, die dem Almosen an nachhaltigem Erfolg und Wert über- legen ist. Für die Aufgaben der eigentlichen Charitas, der barmherzigen Fürsorge und Mildtätigkeit, bleibt daneben der weiteste Spielraum. Je mehr der Staat in neuerer Zeit neben dem Rechtsschutz und der öffent- lichen Sicherheit sich den allgemeinen Aufgaben der Kultur und Humanität widmet, tritt auch die sittliche Idee desselben deutlicher hervor. Die Superiorität der Kirche über den Staat des Mittelalters erklärt sich zum größten Teil aus ihrem tatsächlichen Übergewicht auf allen Gebieten der Kultur und aus der Unfertigkeit des staatlichen Organismus. Thomas

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System der christlich-katholischen Kthik. VII. Soziales. caz

von Aquin bemerkt, beide Gewalten, die staatliche wie die kirchliche, seien von Gott; in bezug auf das Seelenheil müsse der Christ mehr der geist- lichen, in bezug auf das Irdische mehr der bürgerlichen Gewalt gehorchen. Eine Ausnahme bestehe nur hinsichtlich des Papstes, „der den Gipfel beider Gewalten innehat". Die geschichtliche Bedingtheit dieser Schluß- bemerkung ist heute klar; Leo XIII. hat sie deutlich ausgesprochen, indem er in den Enzykliken „Immortale Dei" (1885) und „Diuturnum illud" (i8gi) die w'eltliche Autorität als „in suo genere maxima", ihr Recht über das Irdische als „supremum" bezeichnete. Wie in dieser Koordination und Grenzbestimmung die Freiheit des religiösen Gewissens gegenüber dem Staate garantiert ist, so liegt auch in ihr der Schutz für die politische Bewegungsfreiheit gegenüber kirchlicher Beeinflussung. Die Behauptung mancher Theologen und Kanonisten, das politische Handeln unterliege, insoweit es moralisches Handeln ist, der kirchlichen Gesetzgebung, ist mit jener Teilung der Gebiete unvereinbar; denn alles politische, überhaupt alles bewußte menschliche Handeln ist moralisch. Innerhalb des Mora- lischen unterscheidet sich eben das Gebiet des religiösen und kirchlichen Lebens von dem des weltlichen und staatlichen, somit auch die Souverä- nität und Befehlsmacht beider Gewalten; wie denn neben beiden die Familie mit selbständigen Rechten besteht, und schließlich jeder Mensch eine natürliche Bewegungsfreiheit besitzt, in die ohne seinen Verzicht weder Papst noch Kaiser eingreifen darf: „in gewissen Handlungen ist der Mensch so sein eigener Herr, daß er sie auch gegen einen Befehl des Papstes ausführen kann" (Thomas). Jene Einschränkung kann nur den Sinn haben, daß das politische Handeln, w^enn es unmoralisch wird, wenn es den Kreis des Erlaubten und Indifferenten verläßt, von der Kirche ver- boten werden kann. Entsprechend greift ja auch der Staat trotz der ge- währten Religionsfreiheit zu Verboten und Zwangsmitteln, wenn die Lehren und Einrichtungen einer religiösen Gemeinschaft mit der öffentlichen Sitte und Ordnung in Konflikt treten. Zugunsten der Kirche kann hierbei noch angeführt w'erden, daß sie nicht bloß, wie der Staat, ein „Hirten- amt", sondern zugleich ein Lehramt zu verwalten hat; so selten dasselbe zu endgültigen doktrinellen Entscheidungen schreitet, so soll es doch durch Belehrungen und Ermahnungen sittlicher Art die Menschheit ständig auf das höhere Ziel des christlichen Kulturlebens hinweisen. Die Ent- wicklung zeigt übrigens, daß ein katholisches Volk, je mehr es unter Fest- halten seiner kirchlichen Gesinnung- nach der sozialen und kulturellen Seite zum Selbstbewußtsein erwacht und zur Selbstleitung befähigt ist, um so mehr von der Kirche seiner freien Selbstbestimmung überlassen wird, während das gelegentliche Eingreifen kirchlicher Instanzen in poli- tische Verhältnisse sich meist durch den jeweiligen Zustand der betreffen- den Völker erklärt, die an ihrer staatlichen Leitung irregeworden und infolge innerer Zwistigkeiten nicht zu zielbewußter Selbstleitung befähigt sind. Konflikte zwischen staatlicher Loyalität und kirchlicher Gehorsams-

DiK Kultur der Gegenwart. I. 4. 35

546 Joseph Mausbach: Christlich-katholische Ethik.

pflicht sind immerhin möglich, wie sie überall zwischen staatlicher und religiöser Verpflichtung vorkommen. Da eine irrtümliche oder mißbräuch- liche Anwendung der Befehlsgewalt auf beiden Seiten denkbar ist, so kann auch die katholische Moral für solche Ausnahmefälle keine absolute Formel aufstellen, sondern muß in ihnen schließlich dem Gewissen des Einzelnen die Entscheidung anheimgeben. Staat und Kirche finden ja auch in der positiven Geltendmachung ihrer Autorität keine tieferliegende, ursprünglichere Instanz, an die sie appellieren, auf der sie aufbauen könnten, als das mit der Natur des Menschen verwachsene sittliche Be- wußtsein, das Gewissen.

Die Erziehung der Gewissen zur Selbständigkeit, zur freien Verwirk- lichung der inneren Überzeugung im Lichte der christlichen Grundsätze, ist das Ziel der katholischen Moral. Wie aber das Gewissen der Mensch- heit nicht durch autonome Selbstbetätigung, sondern durch Offenbarung zur Anerkennung jener welterneuernden Grundsätze gelangt ist, so ist diese Moral überzeugt, daß eine autoritative Verkündigung- der sittlichen Wahrheit auch für alle Zeiten zur Anwendung und Durchführung jener Grundsätze notwendig ist eine Überzeugung, die durch den Entwick- lungsgang der unabhängigen modernen Ethik nur bestärkt werden kann.

Literatur.

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Moralphilosophisches: V. C.\threin, Moralphilosophie, 2 Bde., 4. Aufl. (1904). W. Schneider, Götthche Weltordnung und religionslose Sittlichkeit (1900). A. Weiss, Apo- logie des Christentums, 5 Bde., 3. 4. Aufl. (1894—98'. Monographieen über Heteronomie, Lohnsucht der chrisdichen Moral u. ä. von Ph. Kneib '1903 f.). Th. Meyer, Institutiones iuris naturalis, 2 tom. (1885. 1900). Philos. Jahrbuch 1899. 1901).

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S. 535. Thomas, Qu. disp. de malo, q. 2 a. 4 ad 13. Vgl. S. theol. I. II. q. 94 a. 6.

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C48 Joseph Mausbach: Christlich-katholische Ethik.

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Askese und Kultur: Berthier, De la perfection chretienne (1902). MAUSBACH, Die katholische Moral, S. 113 ff.; Christentum und Weltmoral, 2. Aufl. (1905). A. RÖSLER, Die Frauenfrage (1893). Heimbucher, Die Orden und Kongregationen der kath. Kirche, 2 Bde. (1896 f.). Denifle, Luther und Luthertum, 2. Aufl. (1904). N. Paulus, Zeitschr. f. kath. Theologie (1900 ff.).

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S. 545. Thomas, In 1. II sent. dist. 44. Expos, text. (Schluß). Thomas, In 1. I\' sent. dist. 38 q. I a. 4.

CHRISTLICH-KATHOLISCHE PRAKTISCHE THEOLOGIE.

Von Cornelius Krieg.

Einleitung. Die Pastoraltheologie hat sich unter ihren theologischen Genossinnen am spätesten von der Dienstbarkeit, in der sie bis dahin teils zum Kirchenrecht, teils zur Moral gestanden hatte, frei gemacht und sich im Organismus der Gesamttheologie eine selbständige Stellung errungen. Ja, den vollen wissenschaftlichen Charakter macht man ihr zum Teil heute noch streitig. Dies war und ist nur möglich, weil man das Wesen der Pastoral und ihre letzten Prinzipien nicht begriffen hat oder begreift und die vielspältige Tätigkeit der amtlichen Seelsorge nicht auf ihre innere Einheit zurückzuführen und die einzelnen Handlungen organisch zu gliedern unternahm. War die Pastoraltheologie Ende des i8. Jahrhunderts auch aus der Hörigkeit der Moral abgelöst worden, so versuchte man doch nicht den systematischen Aufbau der jungen Wissenschaft. Es ist begreif- lich, wenn wir bedenken, daß Tätigkeiten und gar so viel verzweigte, wie die des Hirtenamtes, der Systembildung weit größere Schwierigkeiten ent- gegensetzen als die Gegenstände der theoretischen Theologie. Dennoch hat sich diese jüngste theologische Disziplin wenn auch langsam zum Range einer eigenen Wissenschaft erhoben, so daß es sich lohnt, die Bilanz derselben zu ziehen, indem wir ihr Wesen, ihren Ursprung, ihre Methode, systematische Gliederung und Geschichte in engerem Rahmen darstellen und ihren heutigen Aufbau skizzieren.

I. Wesen und Aufgaben. Was wir im heutigen wissenschaftlichen Betriebe praktische Theologie nennen, enthält die wissenschaftliche Dar- stellung der Grundsätze und Regeln zur Ausübung jener Tätigkeiten, wo- durch die Kirche die Früchte des Erlösungswerkes Christi an die Menschheit vermittelt. Religion, Christentum und Kirche sind göttliche Institutionen, die ein ausnehmend praktisches Ziel verfolgen; die Kirche ein lebendiger und lebenschafiFender Organismus mit mannigfachen Funktionen, um die objek-

ccQ Cornelius Krieg: Christlich-katholische praktische Theologie.

tive, von Christus vollzogene Erlösung nun subjektiv, d. i. in den einzelnen Menschen, zu vollziehen. Trägerin und Verwalterin der von Christus erwor- benen Heilsgüter, setzt die Kirche das opus redemptionis unter den Menschen fort durch ihre ordinierten Organe. Um aber als sichtbare Gemeinschaft, als das „Reich Gottes" bestehen, als sozialer Körper Christi Werk fortführen zu können, bedarf die Kirche wie jede Gemeinschaft einer festen Organi- sation, einer Verfassung mit Gesetzen und Normen, und zwar solcher, wie sie diesem eigentümlichen und einzigartigen Organismus entsprechen. Als eine organisch gegliederte Gesellschaft arbeitet die Kirche an der Pflanzung, Erhaltung, Weiterbildung und Vollendung des Gottesreiches innerhalb der Menschheit. Weil ein lebendiger Organismus, setzt sie Tätigkeiten zur Lösung ihrer Aufgaben und Erreichung jener Ziele. Diese Lebenstätigkeiten und wesentlichen Funktionen bilden zusammen ein eigenes und eigentümliches Gebiet kirchlicher Wirksamkeit und be- gründen innerhalb der Theologie ein besonderes Feld von Disziplinen und Kunstlehren. Name. Wir heißen diese Disziplinen, also jenen Teil der Theologie, welcher

die Organisation und die Lebensfunktionen der Kirche zum Inhalt hat, gemeinhin praktische Theologie im Gegensatz zu den theoretischen Fächern derselben. Mit jenem Namen wollen wir aber nicht etwa den trivialen Gedanken ausdrücken, daß dieser Zweig der Theologie und er allein für die Praxis brauchbar und nützlich („praktisch") sei. Denn einerseits ist auch die praktische Theologie theoretisch und die theore- tischen Fächer haben zuletzt eine praktische Tendenz. Allerdings liegt in der Bezeichnung praktisch der Gedanke „für das Leben verwendbar und nützlich" angedeutet; aber sie besagt mehr. Es will die Bezeichnung ausdrücken, daß Inhalt und Objekt der praktischen Theologie sich mit Tätigkeiten (TrpdHeic, actiones) befaßt und daß dieser Teil der Theologie unmittelbar dem Leben, der Verwirklichung göttlicher Zwecke dient. Denn mittelbar dient alle Theologie dem Leben, sind auch die historischen und systematischen Fächer praktisch, für den Theologen ausnehmend praktisch. Allein während diese Disziplinen die theoretische Erkenntnis der christlichen Offenbarung und der Kirche nach ihrer historischen und didaktischen Seite zum Zwecke haben, gewährt die praktische Theologie Einsicht in die Organisation und in das „Leben", d. i. das Wirken (TTpdTTeiv) der Kirche. Die praktische Wissenschaft sucht ihren Gegen- stand unmittelbar wirklich zu machen; ihre praktischen Erkenntnisse beziehen sich auf die zu verwirklichenden Zwecke. Die Zweckbestimmung ist somit bei diesem Wissen die Grundfrage. Gliederung. Die praktische Theologie selbst zerfällt in zwei Hälften; den Ein-

teilungsgrund entnehmen wir den Organen der kirchlichen Tätigkeiten und dessen Aufgaben. Nach ihrer hierarchischen Stellung liegt nämlich einem Ordinierten der kirchliche Dienst (biaKOvia) in einer Einzelge- meinde, aber in durchgängiger Abhängigkeit von den kirchlichen Obern

Kinlcitunf:;. I. Wesen und Aufgaben. z c j

ob; die Summe clor Tätigkeiten dieses Dienstes fassen wir mit dem Worte Kirchendienst zusammen und nennen diesen Dienst Pastoraltheologie im weiteren Sinne. Andern Organen der kirchlichen Hierarchie, dem Papste und den Bischöfen, fällt das Kirchenregiment zu, nämlich die Leitung der Gesamtkirche oder einzelner Sprengel. Ihre Tätigkeiten so- wie die rechtlichen Verhältnisse der Gläubigen zueinander und zu den kirchlichen Obern behandelt die Kirchenrechtswissenschaft. Hier haben wir uns nur mit dem ersten Teile der praktischen Theologie zu befassen, für den wir den Namen Pastoraltheologie fast ausschließlich im Gebrauch haben, und zwar wird im katholischen Systeme diese technische Bezeichnung im weiteren Sinne genommen, alle drei Gebiete der Pastoral umfassend.

Die bildlichen Benennungen Pastoral, Hirte, Hirtenamt, Hirtentätig- keiten haben ihre Wurzeln in alttestamentlichen Stellen; insbesondere die Propheten Isaias und Ezechiel schildern den Messias unter dem Bilde eines Hirten und entwickeln diese Idee in verschiedenen Formen. Christus ging auf Idee und Namen ein, indem er, anlehnend an die alttestamentlichen Vorstellungen, das Hirtenbild (Joh. lo) zeichnet. So wurde die Sache und der Name in den neutestamentlichen Ideen- und Sprachschatz eingeführt und ging von da in die theologische Sprache der Kirchenschriftsteller, zunächst der altchristlichen Pastorallehrer, über. Stehend wurde die Benennung erst, seitdem man eine selbständige pastorale Wissen- schaft geschaffen, d. i. seit Ende des i8. Jahrhunderts. Jetzt wurde die Pastoraltheologie als Wissenschaft neben den historischen und syste- matischen Fächern in den enzyklopädischen Rahmen der Theologie ein- geführt.

Nach unserer Auffassung hat die Pastoraltheologie eine zwiefache Aufgabe der

^ Hastoral.

Aufgabe zu lösen: sie hat Wissenschaft und Kunstlehre zugleich zu sein. In ersterer Hinsicht lehrt sie die obersten Prinzipien des kirchlichen Handelns kennen, weist das Material- und Formalprinzip nach. Als Theorie führt sie in die Methode der kirchlichen Funktionen ein, um den künftigen Kirchendiener für seinen Dienst praktisch vorzubereiten. Denn es handelt sich bei der Pastorallehre nicht um ein bloßes Wissen, sondern zugleich um ein Können, nämlich um ein ideegemäßes Vollziehen der kirchlichen Obliegenheiten. Ein Kennen (der letzten Gesetze) und ein Können wird bei Ausübung der pastoralen Tätigkeiten verlangt.

Um sich als Wissenschaft zu erweisen, muß die Pastoraltheologie die Gesamtheit der hirtenamtlichen Tätigkeiten als ein positives Ganzes, das von einer Grundidee getragen wird, darstellen und zeigen, wie die mannig- faltigen Fähigkeiten einen geistigen Org^anismus bilden und aus einem Prinzip fließen; daß sie aus dem Willen und Werke Christi und den Auf- gaben der Kirche stammen und zur Verwirklichung der Erlösung not- w^endig sind. Dies ist das innere formale Prinzip des pastoralen Handelns. In dieser Hinsicht ist die Pastoraltheologie in allen (drei) Einzeldisziplinen

CC2 Cornelius Krieg: Christlich-katholische praktische Theologie.

zuerst Prinzipienlehre: dies ihre theoretisch -theologische und wissen- schaftliche Seite.

Auf der andern Seite muß sich mit dem rein wissenschaftlichen Cha- rakter der Pastoral notwendig der weitere Zweck und die Aufgabe ver- binden, Kunstlehre zu sein, indem sie zum Können, nämlich zur Gewandt- heit anleitet, das richtig auszuführen, was die Wissenschaft als Aufgabe nachweist. So müssen sich Wissenschaft und Kunstlehre vereinigen, um den Theologen und den im Dienste stehenden Praktiker zu einem sichern Kennen und bewußten, grundsatztreuen Können zu führen.

Geschichtlich betrachtet, ist allerdings auch die Pastoraltheologie dem bekannten Gesetze gefolgt: zuerst Praxis, dann Theorie, zuerst Leben, dann Wissenschaft, wir wollen sagen: auch die Pastoralwissenschaft folgte dem natürlichen Gesetze, daß sie sich aus der Unmittelbarkeit des Lebens und Tuns allmählich entwickelte. Lange schon war die Seelsorge in den Formen des Lebens und Lebensbedürfnisses vorhanden, man predigte, spendete Sakramente und leitete die Gemeinde, ehe die Reflexion ein- setzte und man daran dachte, eine Theorie von den Lebenstätigkeiten der Kirche aufzustellen.

Wir bezeichnen den Inbegriff jener kirchlichen Lebensäußerungen, wodurch die Kirche das abgeschlossene Erlösungswerk subjektiv an die Menschen vermittelt und ihre eigene Idee und Aufgabe verwirklicht, auch mit dem Kollektivnamen: Seelsorge, cura antmartini. Der Name Seelsorge erscheint bereits in der neutestamentlichen Sprache und drückt subjektiv ein teilnahmsvolles Bekümmertsein, eine innige Hing^abe und eine Spannung des Interesses für die Seele aus. In der kirchlichen Sprache des Abend- landes erlangte das Wort cum unter Vermittlung der staatsrechtlichen und publizistischen Redeweise der Römer, vornehmlich seit Gregor d. Gr. und dessen weitreichendem Einflüsse auf die Entfaltung und Vertiefung der Idee der Seelsorge, die Bedeutung von Amt im objektiven Sinne, ähnlich wie in der griechischen Kirche der Name eTTiCfKOTTri, das im Neuen Testament die Tätigkeit des Wachens ausdrückt (Apost. lo, i; L Tim. 3, i), die Bedeutung für Hirtenamt erlangt hat. In diesem objektiven Sinne für (öffentlichen) Dienst oder Amt (iniuius, officium publicum) gebrauchten die Römer das Wort. Bei dem kirchlichen Dienste der cura fließen beide Vorstellungen, die des pflichtmäßigen Besorgtseins und jene des amtlichen Dienstes, ineinander. In dem Sinne von Amt und Dienst gebrauchten die griechischen Väter im Anschluß an das Neue Testament die Bezeichnungen biOKOvia und oiKovo|Liia für Amt und amtliche Funktionen. Ursprung der Da die Seelsorgc die Zumittelung der Erlösungsgnade ist, so kann sie nur

in Christus und seinem Werke ihren Ursprung haben. Nicht darf sie als die Frucht einer rein natürlichen Entwicklung, gezeitigt auf einer gewissen Höhe der Kultur, angesehen werden. Sie läßt sich nicht aus einem bloß anthropo- logischen, sozialen oder individuellen Bedürfnisse ableiten, wenn sie schon allen diesen Bedürfnissen entgegenkommt, überhaupt das tiefste Verlangen

cum.

Einleitun}^. I. Wesen und Aufgaben. S S ^

der vSeele befriedigt. Daß die Seelsorg-e nicht auf dem Boden natürlicher Entwicklung entstanden, lehren Geschichte und Erfahrung. Eine Lebens- tätigkeit wie die der kirchlichen Seelsorge konnte außerhalb der positiven Offenbarung nicht entstehen, weil der antiken Welt die richtige Erkenntnis einerseits (iottes als einer Persönlichkeit und anderseits des Menschen abging. Wie die antike Theologie nicht zur wahren Gotteserkenntnis vordrang, so blieb die antike Psychologie in der Erkenntnis der Seele und ihres Wertes weit hinter der Wahrheit zurück. Sind die Götter nur Namen für blind waltende Naturkräfte, so fehlt die wahre Beziehung der Seele zur Gottheit, Zwar redet man in platonischen Kreisen und in der Schule der Stoa von der Reinigung und Heilung der Seele in Ausdrücken, die sich der Idee der christlichen Seelsorge zu nähern scheinen, und die antiken Mysterien und die „Orden" der Therapeuten und Essener zielen ja auf Heilung der Seele von Leidenschaften und sinnlichen Strebungen ab. Allein die tiefsinnigsten Denker bleiben mit ihren Anschauungen doch an der Naturseite des Menschen haften; zur richtigen Vorstellung von der Selbständigkeit der Seele, ihrem individuellen Leben, ihrer Un- sterblichkeit und ihrem ewigen Fortleben gelangten sie nicht. Ver- schieden liegen die Dinge beim Volke der Verheißung, das unter dem Lichte der positiven Offenbarung steht, Gott als heilige, geistige Persön- lichkeit erkennt und seinen Willen als Gesetz des Handelns anerkennt.

Da heute die Pastoraltheologie als selbständiger Wissenszweig im Knzykiopädische

. . , ... Stellung.

Organismus der Gesamttheologie steht, erhebt sich die Frage, wie sie sich zu den älteren Hauptzweigen, den historischen und systematischen, stellt oder welches ihre vStellung im System der gesamten Theologie ist. Alle positive Theologie ist im tiefsten Grunde und in ihrer Wurzel ungeteilt: sie ist Wissenschaft von der Person und dem Werke Christi, fortlebend und fortgesetzt in der Kirche. Erst das wissenschaftliche Bedürfnis hat sie in Einzelzweige gespalten. Mit allen steht die Pastoral in engster, unlöslicher Verbindung, alle bieten ihr Inhalt und feste Richtlinien der Orientierung, Und alle Theologie, die historische und die systematische, mündet zuletzt in die praktische ein, weil Ziel aller Theologie nicht das Wissen, sondern das Tun, das rrpaTTeiv, ist, Ist die Kirche die konkrete Erscheinung des Christentums, so hat sie dieses fortzuerhalten und sich als das Reich der Wahrheit und Gnade in die Menschheit hineinzubauen, die christliche Religion fortzuführen und allezeit zu verwirklichen. Dies geschieht eben durch die pastoralen Tätigkeiten der Kirche. In der prak- tischen Theologie hat deshalb die Wissenschaft zu zeigen, wie die Offen- barung und Erlösung in der Stiftung der Gottesanstalt, der Kirche, gipfelt und durch sie in Zeit und Raum sich weiterpflanzt und verwirklicht.

So wie objektiv die Gottesoffenbarung, ihre Taten und Lehren, ein GiiederunR •' * ' der Pastoral-

pragmatisches Ganze bilden, ebenso stellen die Tätigkeiten des pastoralen theoiogie.

Amtes einen geschlossenen Organismus, ein Svstem von ineinander greifen- den Handlungen dar. Zwar spricht der Herr nur von einem Werke (epYOv),

cc/1 Cornelius Krieg: Christlich-katholische praktische Theologie.

das ihm der Vater zu vollbringen aufg"etragen habe (Joh. 17, 4, vergl. 2, 34): das war das Lebenswerk des Erlösers zur Verwirklichung des Heiles (cuuTripia), um dessentwillen er in die Welt eingetreten. Allein dieses eine und einheitliche Werk umfaßte eine Fülle von notwendigen Tätigkeiten, alle gesetzt mit seiner „Sendung", Christus selbst deutet eine Verschie- denheit von Werken an, wenn er sich in einer dreifachen Eigenschaft in die Welt einführt. Denn er nennt sich {Joh. 14, 6) die Wahrheit, das Leben und den Weg. In dieser dreifachen Eigenschaft war der Erlöser tätig und ist die Kirche an seiner Statt durch alle Zeit und allen Raum tätig. Einteiiungs- Die Wlssenschaft ihrerseits sucht nun, um eine Gruppierung und

grund.

Gliederung der mannigfaltigen „Dienste" der einen biaKOvia des Herrn und seiner Kirche zu finden, nach einem objektiven Einteilungsgrunde. Solcher Versuche sind viele gemacht worden seit dem 2. Jahrhundert oder der Zeit der ersten Väter. Insbesondere trat die Notwendigkeit einer organischen Systematisierung der Hirtentätigkeiten ein, seitdem die Pastoraltheologie den Rang einer selbständigen Wissenschaft erlangt hat. Keine Einteilung erscheint uns so zutreffend, kein Maßstab so objektiv und deshalb so sicher als jener, den die Heilige Schrift selbst an den bereits angeführten und an andern, hier nicht näher zu erörternden Stellen, wenn auch nicht mit scharfen Worten ausspricht, aber doch an- deutet: wir teilen die pastoralen Obliegenheiten ein nach dem Inhalte, Lebensgüter, der in jcdcr Tätigkeit zu verwalten ist, genauer, nach dem Lebensgute, das in ihr und durch sie an die Menschheit vermittelt wird. Unbestreit- bar hat Christus Lebensgüter in die Welt gebracht, sonst wäre er nicht der Erlöser oder Mittler gewesen. Die Kirche aber hat das große drei- fache Erbe zur Verwaltung (oiKovo|uia). Dies sind die „mysteria^^ zu deren Verwalter die Organe der Kirche bestellt sind (i. Kor. 4, i). Ihnen liegt Dreiteilung der zur subjcktivcu Verwirklichung des Erlösungswerkes ein dreifacher

Funktionen. . ' ^

Tätigkeitskreis ob: das Lehren, das Gnadenspenden und die spezielle Seelenleitung. Kulturwert. Diese Lcbeusgüter von absolutem Werte schaffen die neue, die christ-

liche Weltepoche, leiten die christliche Kultur ein. Schon dadurch sind jene Güter von unvergleichlichem Kulturwerte, daß sie zugleich indivi- duellen und sozialen Charakter haben, individuellen und sozialen Be- dürfnissen und Zwecken dienen. Jene drei Güter haben für die Mensch- heit absoluten Bildungswert, und ihre Verwaltung ist eine Bildungsarbeit, welcher an Wert keine andere Tätigkeit gleichkommt. Um den Kultur- wert zu ermessen, bedarf es nur, daß wir die Geschichte der Scelsorge erforschen. Was die Vergangenheit von dem Einflüsse des dreifachen Amtes auf die Neugestaltung der Menschheit erzählt, ist ein Lobpreis auf Christentum und Kirche, deren hauptsächlichstes Arbeitsmittel die Seelsorge ist.

Die Verwaltung eines jeden der drei Lebensgüter erfordert einen be- sonderen Dienst, schafft ein eigenes Amt {officium), und der Pastoral liegt

Einleitung. II. Geschichte der Pastorallhcologic. ccc

ob, die Wissenschaft und Kunstlehre eines jeden der drei Amter zu zeigen. Wir erhalten demnach folgende Architektonik der Pastoral- theologie.

A. Die Lehre von der Verwaltung des Lehramts, d. i. pastorale Di- Aahiuktonik. daktik.

Die Heilswahrheit ist aber anders den Ungläubigen oder üngetauften, den „Draußenstehenden" (oi eEuüOev), anders den Getauften oder Gläubigen (oi ectuBev, oi TricToi, fideles) zu verkündigen. Und aus pädagogischen Gründen muß bei der Austeilung der OfTenbarungswahrheit wiederum Rücksicht genommen werden auf den Grad der christlichen Erziehung oder Heranbildung im Christentume. Unter letzterem Gesichtspunkte teilen sich die Gläubigen in christlich Unmündige und Mündige,

Diese Gliederung der Hörer des göttlichen Wortes bedingt eine dreifache Verwaltung des Heilswortes der Menschheit gegenüber und dem- entsprechend eine dreifache Gliederung der pastoralen Didaktik in

L die Lehre von der Missionspredigt, d. i. der Predigt vor den

Ungläubigen; IL die Lehre von der Predigt vor den Unmündigen = Katechetik; IIL die Lehre von der Predigt vor den mündigen Gläubigen = Homi- letik.

B. Die Lehre von der Verwaltung des hohenpriesterlichen Amtes oder der Heilsgnade, Liturgie genannt, wonach die Lehre den Namen Liturgik trägt.

C. Die Lehre von der Verwaltung des königlichen oder Regie- rungsamtes, kirchliche Disziplin oder spezielle Seelsorge. Alle amt- lichen Tätigkeiten des „Hirten" fallen unter eine jener drei Disziplinen.

IL Geschichte der Pastoraltheologie. Die Pastoration wie die Wissenschaft von ihr, also Praxis und Theorie, jedes hat seine eigene lange Geschichte. Beide entfalten sich allmählich und jede hat ihre Stufen der Entwicklung. Die Pastoration beginnt an dem Tage, als die Kirche ins Dasein trat und sich die erste, wenn auch noch so kleine Gemeinde von Gläubigen innerhalb des „k6c|uoc" konstituierte . Das „Reich Gottes" war damit tatsächlich geworden und als lebendiger Organismus gegründet. Von da ab hatte sie ihre freilich primitive Or- ganisation, ihre Predigt, ihren Kultus und Disziplin. Sonach ist das Ob- jekt unserer Wissenschaft so alt als die Kirche: man predigte, opferte, übte Seelsorge im Rahmen des unmittelbaren Bedürfnisses, ehe man daran dachte, diese Tätigkeiten zum Gegenstande der Reflexion und zur Theorie zu erheben. Gregors des Nazianzeners Wort trifft hier zu: TrpdHic ^tti- ßacic Beujpiac. Das biblische Lehr wort und das nicht geschriebene Wort der Tradition mit der Lehre der Erfahrung verbunden und von Geschlecht zu Geschlecht weiter gepflanzt, war die Richtschnur der Seelsorge; das Charisma griif wirksam ein. Als die kanonischen Schriften gesammelt

556 Cornelius Krieg: Christlich-katholische praktische Theologie.

waren und Licht und Kraft von Kirche zur Kirche trugen, waren sie das „Pastoralhandbuch", aus dem die Diener der Kirche ihre Gesinnung und ihre Grundsätze der Seelenführung entnahmen.

Sehr früh setzte die nichtkanonische Literatur, die gänzlich auf dem Felde der Bibel erwuchs, ein. Die Didache als ältestes Kirchenbuch, dann die klassische Briefliteratur, angefangen von den Briefen des römi- schen Klemens, des Ignatius und des Polykarp bis auf Gregor d. Gr. herab: sie alle behandeln pastorale Fragen. Im 3. Jahrhundert stellt die nordafrikanische Kirche in Tertullian und Cyprian rührige Vertreter unserer Disziplin. Es folgt das goldene Zeitalter der patristi- schen Literatur, und eine große Zahl der kirchlichen Schriftsteller liefern Pastoraitriiogie. Beiträge zum pastoraltheologischen Schrifttum. Drei Werke, eine Pasto- raltrilogie, bezeichnen den Höhepunkt der pastoralen Literatur des Altertums: es sind die Schriften Xötoc dTToXoTtiTiKOC irepi qpuTnc Gregors von Nazianz (f 390), des hl. Chrysostomus (j 407) 6 Bücher Tiepi lepuü- aüvric und Gregors d. Gr. (f 604) erwähnter Liber regulae pastoralis. Diese Pastoralschriften ziehen sozusagen die Bilanz der Leistungen, welche die vorausgegangene Zeit bis dahin auf dem Gebiete der pastoralen Theorie geleistet hatte. Wir möchten diese drei Schriften die „klassi- sche Gesamtpastoral" des Altertums nennen; doch dürfen in der klassi- schen Pastoralliteratur die später zu nennenden Schriften Augustins nicht fehlen. Und dessen Zeitgenossen Ambrosius und Hieronymus lieferten nicht unwichtige Beiträge. Was bis dahin gleichsam noch ein aus dem unmittelbaren Leben herauswachsendes „Naturprodukt" war, so wie der göttliche Geist den Menschengeist lenkte, trat allmählich durch Re- flexion ins Bewußtsein, war aus dem „Naturprodukt" ein Kunstprodukt, indem sie die denkende Vernunft des objektiven kirchenamtlichen Aktes bemächtigte und von dem Seinig'en das Beste hinzufügte. Denn die Kunst kann sich nur auf die natürlich-menschliche Seite erstrecken. In dieser Hinsicht bezeichnen die griechischen und die römischen Kirchen- schriftsteller des 4. Jahrhunderts einen bedeutenden Fortschritt in der An- bahnung einer Kunsttheorie der Predigt und der speziellen Seelsorge. Dort hatte schon Origenes Bahn gebrochen; in der Seelsorge im engeren K^'^dokir ^"'^'^^ leiten die drei Kappadoker Basilius der Gr. (f 379), Gregor von Nyssa (f 395), Gregor von Nazianz und Chrysostomus (f 407) eine neue Periode ein. Sie erkannten die Bedeutung des Psychologi- schen, nämlich des Individuellen in der Seelenleitung- und so hat denn Gregor von Nazianz erstmals jene Gedanken von der Notwendigkeit eines individuellen Verfahrens wie bei der Erziehung, so bei der Seelenführung ausgesprochen, die alsbald Gemeingut bei den griechischen und durch Gregor d. Gr, bei den lateinischen Praktikern und Theoretikern wurden. In die Fußtapfen des Nazianzeners trat zunächst der feinsinnige Psycho- loge Chrysostomus mit seinem Pastoralbuche: „Über das Priester- tum" und später der vorzüglichste Pastorallehrer des Abendlandes, Gregor

Kinloitun«,'. II. Geschichte der Pastoralthcolofjic. ccy

d. Gr. Erstmals hatte es Gregor von Xazianz ausgesprochen, daß die Führung des Menschen, des TToXuTpoTruoTavov tüjv Iüj^vv Kai TroiKiXuüTaxov die höchste und schwierigste aller Künste (Texvr) lexvdjv) sei. Die vSchwierig- keit dieser geistigen Kunst fand Gregor mit Recht in der Individualität des Menschen. Darum mahnt er den Seelenarzt, wie er an antike Vor- stellungen und neutestamentliche Stellen anlehnend den vSeelsorger nennt, zuerst die Diagnose einer jeden Seele vorzunehmen, den Charakter, die Leidenschaften, Lebensweise und Willensrichtung eines jeden zu studieren, ehe er zur Heilung (eeparreia) schreite. Die Erkenntnis der Notwendigkeit eines individuellen \'erfahrens war jenen griechischen Lehrern vorzugs- weise durch ihren Aufenthalt bei den Asketen aufgegangen, wo das Studium der biblischen Bücher und des eigenen Inneren die tägliche Be- schäftigung bildete. Auch der Umgang mit bewährten Seelenkennern in den Asketerien förderte ihre psychologischen Erkenntnisse. War die seel- sorgerliche Theorie bis dahin naturg'cmäß den analytischen Weg gewandert, so waren die großen Kirchenlehrer des 4. Jahrhunderts die ersten, welche die gewonnenen Erkenntnisse synthetisch verbanden. Vom Leben und unretiektierten Handeln waren sie zum Oeujpeiv geführt worden, d. i, zur genaueren Betrachtung des Hirtenamtes: des persönlichen Trägers des Amtes, des Wesens, der Idee und des Zieles derselben. Vom Boden des Tatsächlichen stiegen sie zum Bereiche des Wissens empor. Vermochten sie auch noch keineswegs eine wissenschaftliche Form für ihre Erkennt- nisse zu finden, d. h. die einzelnen Erkenntnisse auf ihre Gründe zurück- zuführen, bestehen ihre Theorieen hauptsächlich in der Zusammenstellung von Regeln, die kirchlichen irpotEeic in der rechten Gesinnung zu voll- ziehen, so suchten sie doch auch schon aus dem Vielfältigen die Einheit und das Wesen der Handlungen und das Bleibende zu finden. Und ferner sehen wir, wie diese Altmeister der pastoralen Praxis und Theorie bei dem Abfassen ihrer einschlägigen Schriften der Gedanke begleitete, nicht bloß dem praktischen, sondern auch einem wissenschaftlichen Bedürfnisse zu genügen, soweit wenigstens die Seelenleben sich errungen habe.

Würdig gesellt sich den drei Leuchten der kappadokischen Kirche chrysostomus der Antiochener Johannes Chrysostomus (- 407) bei. Auch er hat wie jene die Doppelschule, die profan-griechische und die theologische (bei den syrischen Asketen) durchlaufen. Seine klassisch-rhetorische Bildung hat er sich bei dem damals berühmtesten Rhetor Liborius erworben. Vom Geiste seines Lieblingsapostels, Paulus, beseelt, erringt er als Prediger die höchste Stufe der geistlichen Beredsamkeit. Seine Grundsätze und Anschauungen vom Priester- und Seelsorgeramt legt Chrysostomus in der köstlichen Schrift „über das Priestertum" nieder. In den Bahnen des Nazianzeners wandelnd entwirft auch er ein Idealbild vom Hirten, wobei er, ohne auf technische Fragen der Homiletik einzugehen, doch dem geist- lichen Redner treffliche Ratschläge an die Hand gibt. In der pastoralen Theorie bezeichnet diese und des Nazianzeners Schrift einen großen Fort-

ceg Cornelius Krieg: Christlich-katholische praktische Theologie.

schritt, und beide Werke zusammen enthalten sozusagen eine Synthese der vorausgegangenen, in die praktische Theologie einschlagenden Lehrsätze. Man kann diese zwei Schriften die klassischen Pastoralwerke der griechi- schen Kirche des iYltertums nennen. Die großen Meister der Praxis und Lehrer der Seelenheilkunde, welche hier die aus der griechischen Philo- sophie und Literatur geschöpften Kenntnisse in den Dienst der Predigt und Seelenleitung stellten, führten durch ihre gediegenere Psychologie zu einer richtigeren und tieferen Auffassung des individuellen Seelenlebens, wie uns schon die pädagogischen Grundsätze in ihren Schriften lehren. Sie erkannten, daß die wahre xe'xvri der Seelenführung nicht in der äußeren Technik und Disziplinierung bestehe, sondern in der Kunst, nach richtiger Diagnose der „Individualseele" diese von innen zu ergreifen, zu heilen und umzubilden. Daß die Seelenbildnerei die Kunst aller Künste sei, ist ja vom Nazianzener zum „geflügelten Worte" gemacht worden. Daraus erklärt sich auch, daß den Pastorallehrern die religiös-sittliche Bildung der Hirtenpersönlichkeit obenan steht.

Übergehend zum Mittelalter finden wir mancherlei Sprossen und Früchte am Baume des pastoralen Schrifttums. Das karolingische Zeitalter, die erste Blüteperiode der jungen germanischen Kirche, fördert zwei neue Zweige der pastoralen Literatur, nämlich die Beicht- oder Buß- bücher [libri poe7iite'nttales) zur Verwaltung des Bußgerichtes, und dann Scholastik und das liturgische Schrifttum, Die Ausbildung der Scholastik und

Mystik. .

Mystik seit dem 12. Jahrhundert beeinflußte auch die praktische Theo- logie, namentlich Predigt und Predigttheorie, obgleich die patristischen Pastoralschriften für die Praxis wie für die Theorie einen ungeminderten Einfluß ausübten und fast alle mittelalterlichen Pastorallehrer an jene Literatur sich anschlössen. Neuzeit. Die Ncuzeit beginnt für die Seelsorge und die Pastoral mit dem

Konzil von Konzil von Trient, welches für das kirchliche Leben und die kirchliche

Trient. . .

Praxis einen weithin sichtbaren Markstein bildet. Die Neuzeit selbst wird durch die Erfindung der Druckkunst, die Renaissance und die Glaubens- spaltung eingeleitet, um anderer Ursachen hier nicht zu gedenken. So- weit die Seelsorge und Seelsorgswissenschaft in Betracht kommen, hatte in materieller und formeller Hinsicht das Mittelalter dem Tridentinum vor- gearbeitet. Einmal war während der letzten Jahrhunderte abermals reicher Lehrstoff aufgehäuft worden, welcher der Ausmünzung und Verwertung für das Leben harrte; außerdem hatte sich seit dem 15. Jahrhundert der Sinn für die Fragen des praktischen Christentums aufs neue kräftig- belebt, wie aus der reichhaltigen religiösen Volksliteratur, die mit der Druckkunst ans Licht trat und weiteste Verbreitung fand, zu schließen ist. Zugleich hatte Humanismus, der Humauismus den Sinn für die sprachliche Darstellung geweckt, was wenigstens der Predigtform zugute kam. War dem Konzil die eine Aufgabe zugefallen, die kirchliche Lehre aufs neue festzustellen und genauer zu for- mulieren, so nicht minder die zweite, die kirchliche Disziplin in ihrem ganzen

Einleitung. II. Geschichte der Pastoraltheologie. c^cq

Umfange wiederherzustellen oder zu verbessern und für eine gediegenere wissenschaftliche und asketisch-praktische Ausbildung des Klerus Vor- sorge zu treffen. Das Konzil hat die überschwere Aufgabe mit kühner Kraft übernommen und die Überschrift, welche es dem Schlußkapitel einer jeden größeren vSitzung gab: De refonnaiione, ist bezeichnend genug. Reform in allen Zweigen der Amtstätigkeiten des Priesterstandes: Reform des seelsorgerlichen Wirkens auf der Kanzel, in der Schule, in Verwal- tung des Bußgerichtes. Es galt, alle Kräfte aufs äußerste anzuspannen. So unternahm die große „Reformsynode" die Neuordnung des theologischen Studiums, und der praktischen Vorbildung und sittlichen Erziehung des Klerus. Die Erfahrung der letzten Jahrhunderte hatte erwiesen, was ein umfassendes und gründliches Wissen des Klerus für sein Wirken vermöge, aber mehr noch, welchen Schaden das Gegenteil für Kirche und Volk bringe. Das Konzil hatte bei den besten Hirten seiner Zeit das lebhafteste Interesse für die praktische Seite des Christentums und für die pastorale l.iteratur geweckt. In großer Zahl sind schon während und unmittelbar nach dem Konzil die ersten Gelehrten insbesondere in Spanien und Italien, aber alsbald auch in Frankreich und Deutschland an der literarischen Arbeit: keine Sparte der praktischen Disziplinen, die nicht zuständige Schriftsteller gefunden hätte. Trägt die einschlägige Literatur der Spanier einen asketisch-mystischen Charakter, so schlägt sie in Italien, Frankreich und Deutschland, die alle reichliche Beiträge liefern, eine unmittelbar praktische Richtung ein. Predigt und Katechese, Kultus und Disziplin finden zu gleicher Zeit überraschende Förderung. Zu den führenden Geistern dieser Periode zählt Karl Borromeo (f 1574), w^elcher in drei Kari Borromeo. Pastoralschriften alle Haupttätigkeiten des Hirtenamtes mit tiefer Einsicht und Erfahrung behandelt. Ein ganzer Stab von gelehrten Pastoralisten schließt sich an ihn an.

Eine neue Gestalt gewann aber die Pastoraltheologie mit ihrer Mün- digerklärung. Es geschah dies in Deutschland (Österreich) durch den neuen theologischen Studienplan, der 1777 für die österreichischen österreichischer

Studienplan.

Staaten eingeführt wurde, und durch die Errichtung eigener Lehrstühle der Pastoraltheologie. Die Vertreter derselben gingen nun an die Her- stellung geeigneter Lehrbücher, wodurch sie zur Systematisierung der Einzelzweige der Pa.storal gezwungnen wurden. Zahlreich sind die Ver- suche zum Aus- und Aufbau unserer Wissenschaft und die „Systeme". Es gelang jedoch erst dem 19. Jahrhundert durch ein tieferes Eindringen in das Wesen des Amtes, und der Pastoralien die volle Wissenschaftsform zu finden, jedem der (vier) Einz«lzweige der Pastoral die richtige Stellung anzuweisen, die Beziehung der Einzelglieder zueinander zu begründen und endlich der Pastoral ihre Stellung als Wissenschaft im Umkreise der Ge- samttheologie zu verschaffen. Seit 5 Jahrzehnten ringen übrigens die ein- zelnen Fächer nach vSelbständigkeit und Loslösung vom einheitlichen Stamme, insbesondere die Liturgik und Katechctik, denen sich das

c6o Cornelius Krieg: Christlich-katholische praktische Theologie.

meiste Interesse zuwendet, während die Homiletik seit langem kaum ein Fortschreiten gewagt hat. Daß der Zug der vSpezialisierung, der den Wissenschaftsbetrieb unserer Zeit charakterisiert, auch die praktischen Zweige erfaßt hat, hängt mit der starken materialen Erweiterung der Ein- zelfächer und der hierdurch nötig gewordenen Arbeitsteilung zusammen.

System der christlich -katholischen praktischen Theologie. A. Die Pastorale Didaktik.

I. Die Lehre von der Missionspredigt.

I. Wesen und Aufgaben der Missionspredigt. Zu einer systematisch ausgebauten wissenschaftlichen Theorie der Missionspredigt ist es inner- halb der katholischen Theologie bis heute nicht gekommen, einesteils wegen der außerordentlichen Schwierigkeit, ein einheitliches Lehrsystem darüber zu schaffen, da einem solchen die Verschiedenheit der Völker, an denen die Mission arbeitet, im Wege steht, teils weil nur ein geringes Bedürfnis nach einer Missionswissenschaft vorlag und vorliegt. Wir be- schränken uns deshalb hier auf die nachfolgenden Bemerkungen.

Die Kirche ist die universale Missionsanstalt, hineingestellt in die Welt, den unerlösten „köcjugc", hat sie die Sendung (Mission), die g^esamte Menschheit nach und nach in das Netz der christlichen Heilslehre zu ge- winnen und umzugestalten kraft des göttlichen Auftrag^es: alle Menschen zu Schülern des Gottesreiches zu machen (Matth. 28, 19 f.). Die christliche Predigt ist laut jener Sendung an keine Nationalität gebunden (|uaeriTeü- caxe TrdvTa rd e9vr|), wie denn auch die apostolische Heilsverkündigung tatsächlich alsbald die nationalen Schranken überschritt (Gal. 3, 24; Eph. 2, ig), was wir aus der Geschichte der apostolischen Predigt, die ja wesent- lich Missionspredigt war und sein mußte, ersehen. Den Aposteln, diesen ersten Missionaren, die ihre Sendung unmittelbar vom Stifter des Gottes- reiches empfingen und von ihrer Sendung den feierlichen Namen Send- boten, ötTTocToXci, erhielten, war sozusagen die ganze Welt als Missions- gebiet angewiesen, und in diesem Gebiete, und zwar zunächst innerhalb der Grenzen des römischen Reiches, hatte die Kirche ihr Zelt aufgeschlagen, ehe sie beginnen konnte, ihr Netz über die entfernteren Heidenländer aus- zuwerfen. Aber ehe der letzte unmittelbare Schüler Christi seine Arbeit schloß, hatte die Mission das „Gottesreich" in den Hauptstädten des Römerreiches aufgerichtet. Das T:\iipuj)ua tüuv dGvüuv (Rom. 11,25) stand bereit, in das „neue Weltreich" einzutreten. Die Missionspredigt übernahm da in der Tat eine Aufgabe von wclteroberndem Umfange und welt- geschichtlicher Bedeutung.

Es liegt in der Natur der Sache, daß die Missionspredigt, d. h. die Austeilung der christlichen Wahrheit, an die Ungläubigen nach Inhalt und Form sich von der Predigt vor den Getauften, der sogenannten

A. Die pastorale Didaktik. I. Die Lehre von der Missionspredigt. cC)i

Kultusrede, unterscheiden muß. Der Inhalt ist, wie die Missionsreden der Apostelgeschichte und wie die Predigtweise der Missionen durch alle Jahrhunderte beweisen und wie es in der Natur der Sache liegt, vor- herrschend historisch, und eben dies spricht sich in den biblischen Be- zeichnungen eüaYT^XiZitiv und Kripuireiv, pracdicare aus. Die Methode des KTipuTM« hängt von den Verhältnissen der zu Bekehrenden ab: von ihrem Kulturzustande, ihren Anlagen, ihren religiösen und sittlichen An- schauungen.

2. Geschichte der Missionspredigt. Es konnte nicht fehlen, daß man schon in den ersten christlichen Jahrhunderten in der Missionspraxis Er- fahrungen sammelte, allgemeine Grundsätze für den Betrieb des Missions- werkes aufstellte und eine Methodik anbahnte. Allein wegen der Eigen- art eines jeden Missions Volkes, wegen der Verschiedenheit der Kultur, der Sprache, der Sitten, religiösen und sittlichen Anschauungen und Ge- wohnheiten der Heiden Völker mußte diese Methode wechseln und sich je der Sonderart des Volkes anpassen. Die christliche Predigt freilich, so- weit sie positiv verfuhr, hielt im allgemeinen den Gang ein, daß sie zuerst die Heilsgeschichte vorlegte, während die an die Predigt sich anschließende Katechese tiefer in das Verständnis der Heilslehre einführte. Diesen natürlichen Lehrgang empfahl auch Augustin in seiner Theorie der Kate- chese, die zugleich als ein Beitrag zur Missionslehre betrachtet werden kann; aber in Übung war er bereits von der apostolischen Missionspredigt an. Einzelne Reden Christi selbst tragen schon Missionsreden -Charakter. Und der Herr gab auch selbst bereits die erste Missionsinstruktion (Matth. lo, 5fF.: äTrecteiXev), also eine Art Missionsunterricht, ehe die Apostel ihre Probepraxis antraten. In der Apostelgeschichte haben wir den historischen Niederschlag der apostolischen Missionsreden, an denen wir Inhalt, Form und Methode ihrer Reden zu erkennen vermögen. Für das Kr|puY)na mußte sich allmählich von selbst ein fester Typus entwickeln, den im allgemeinen auch die mittelalterliche Predigt der iroschottischen, angel- sächsischen und fränkischen Missionäre trägt. Immer war die Missions- rede teils apologetisch, die christliche Lehre verteidigend, teils polemisch, die heidnischen religiösen und sittlichen Irrtümer angreifend und zurück- weisend. Daß die Missionspredigt jener Sendboten, welche unter griechi- scher oder römischer Bildung aufgewachsen waren, höheren Flug nahmen, läßt sich von vornherein erwarten, und die erhaltenen Überreste bestätigen es. Dagegen war die Missionspredigt bei den gennanischen und slawi- schen Völkern seit dem 6. Jahrhundert dem Inhalte nach kümmerlich und primitiv in der Form. Redete sie ja in unentwickeltem sprachlichen Idiom und zu Völkern tiefen Kulturzustandes. Eigene Missionsinstruk- tionen besitzen wir aus dem beginnenden Mittelalter zwei: die Gregors d. Gr. an den Missionar Augxistin, den er als Sendboten nach Britannien schickte; und die des Bischofs Daniel von Winchester an den hl. Bonifatius. Bedeutsam wurde für die Mission in Theorie und Praxis die Gründung

DiK Kultur ukr GbOEKWAKT. I. 4. 36

c62 Cornelius Krieci: Christlich-katholische praktische Theologie.

von eigenen Missionsschulen, wie der \on Utrecht durch Wihbrord {- 739). Die eigenthchen Pflanzschulen der Missionäre wurden aber die Klöster, zunächst die der Benediktiner, sodann die der jüngeren Orden seit dem 13. Jahrhundert.

Die Aufgabe der Mission beschränkt sich indes nicht auf die Predigt, vielmehr muß die Erziehung im weiteren Sinne des Wortes zur Belohnung hinzukommen. Vielfach mußten deshalb nomadisierende Volksstämme zuerst an Stabilität, als die Grundlage aller Kultur, femer an Ackerbau, Handwerke usf. gewöhnt werden: die Kultur des Bodens mußte der Kultur des Geistes vorarbeiten. Femer mußte das Streben der Mission dahin gehen, christliche Gemeinden und in ihnen Schulen zu gründen, dann die Gemeinden zu Bistümern zu organisieren. Eine Hauptaufgabe bestand ferner darin, aus dem bekehrten Volke taugliche Personen aus- zuwählen und sie zu Priestern und Katecheten heranzubilden. So läßt die katholische Kirche, um den vielfachen Aufgaben der Mission zu genügen, den künftigen Missionär nicht bloß in Theologie, Missionstheorie und fremden Sprachen unterrichten z. B. geschieht das in der römi- schen, 1622 gegründeten Propaganda de fide , sondern sie sorgt des weiteren dafür, daß die Zöglinge zugleich auch in Landwirtschaft, Archi- tektur, Malerei und in einzelnen Handwerken unterwiesen werden.

IL Die Katechetik. Das Objekt der Katechetik, die Katechese, steht in engster Verwandtschaft zur Missionspredigt, so zwar, daß in der Urkirche die eine die andere oft ersetzen mußte. Jedenfalls schließt sich bei der Heidenmission die Katechese unmittelbar an die Missionspredigt an und setzt dieselbe fort, tiefer in das Verständnis des Offenbarungs- inhaltes einführend. Aber während die Missionspredigt kaum zu einer Theorie geführt hat, entwickelte sich die Katechetik, seitdem sie zur Lehre von dem religiösen Jugendunterricht geworden ist, zu bedeutender Höhe innerhalb der pastoralen Didaktik. Name. I. Wcscu Und Aufgaben der Katechetik. Dem Wortlaute nach

bezeichnet Katechetik die Wissenschaft von der Katechese, jenem eigen- tümlichen Lehrvortrage, der die Katechumenen in die christliche Heils- wahrheit einführen soll, angepaßt. Waren im christlichen Altertume die Katechumenen die erwachsenen Ungläubigen, welche sich zum Eintritte in das Christentum oder zur Taufe gemeldet hatten und zu deren Emp- fang vorbereitet wurden, so bezeichnen wir seit Einführung der Kinder- taufe und seit Aufhören des alten Katechumenates mit dem Namen Kate- chumen den zwar Getauften, aber im Christentum Ununterrichteten oder Unmündigen. Die Katechese nimmt eine Mittelstellung zwischen der Missionspredigt und der Predigt vor den mündigen Gläubigen ein, hat am Charakter beider Lehrformen teil, wie denn auch das KnpuYIiCt bis herab in die zweite Hälfte des zweiten christlichen Jahrhunderts die Stelle der Katechese vertrat.

A. Die pastoralc Didaktik. II. Die Kalrchetik. 563

Es möchte nun scheinen, als ob die Katechetik dem Wortlaute ent- DoppeUufgab«. sprechend nur eine katechetische Didaktik oder eine Theorie des kate- chetischen Unterrichts wäre. Allein wir müssen trotz des Namens dem katechetischen Unterricht eine umfassendere Aufirabe zuweisen, nämlich die, nicht bloß in der christlichen Heilslehre zu unterrichten, sondern zugleich zu einem christlichen Leben zu erziehen, mit andern Worten: die Katechetik hat Didaktik und kirchliche Pädagogik zu sein. Denn wir lehnen jene Begriffsbestimmung ab, wonach die Katechetik nur eine Theorie der Katechese zu bieten hätte. Sie ist vielmehr die Wissenschaft vom kirchlichen Katechumenate, der nicht untergegangen ist, sondern all- zeit fortlebt, weil er zum Wesen der Kirche bezw. des Lehramtes gehört, und nicht untergehen kann, obschon er seine Form geändert hat. In dem Katechumenate wurde und wird jederzeit nicht bloß mündlich unterrichtet, sondern zugleich erzogen. Auf diese Doppcltätigkeit hat auch das christ- liche Altertum den Begriff erstreckt, obgleich das Wort Karrix^iv an sich nur den Unterricht bezeichnet. Die altkirchliche Theorie und Praxis ver- band mit dem Begriffe bibdcKeiv den des dcKeiv oder iraibeüeiv, legte sogar den Hochton auf das zweite, ohne indes die intellektuelle Bildung zurückzustellen. Lehre und Disziplin, Unterricht und Zucht waren in der kirchlichen Praxis stets aufs engste miteinander verknüpft, hatte doch auch die pädagogische Theorie der vor- und außerchristlichen Zeit keine andere Anschaung vertreten. In der christlichen Religionsschule gehen Unterricht und Erziehung Hand in Hand, findet tatsächlich ein erziehender Unterricht statt zur religiösen Durchbildung der Jugend. Man kann den Geist (Intellekt) der Unmündigen nicht fruchtbringend in die Heilswahr- heit einführen, wenn man nicht zugleich den Willen im und zum christ- lichen Leben schult oder christlich-religiöse Gesinnung pflanzt. So hat sich die alte Kirche nicht begnügt, die Taufkandidaten nur in der christ- lichen Lehre zu unterrichten, sondern ließ dieselbe einen Prozeß der Läuterung (KOtGapcic) von Gesinnung und Wandel durchmachen. Daher wir so oft dem Ausdrucke KaGapileiv, reinigen, neben Traibeueiv, erziehen, für Unterricht im Katechumenate begegnen. Nur so wird dem Auftrage fiaSriTeucaTe Genüge getan. Innerhalb der Gemeinde bilden auch heute noch die Katechumenen einen besonderen Stand der unmündigen Gläubi- gen, welche einer eigenen pastoralen Unterweisung und Behandlung bedürfen, bis sie zu christlichen Vollbürgern, zur Mündigkeit erzogen sind.

Nach dem Gesagten gliedert sich die Katechetik naturgemäß in zwei Einteilung. Teile, die materielle und die formale Katechetik. Dort handelt es sich um das Was? (^den Lehrstoff) der Katechese, hier um das Wie? derselben.

In beiden Teilen wird seit einigen Jahrzehnten eine lebhafte Kontro- Aktuelle Fragen, verse geführt. In der materiellen Katechetik dreht sich die Frage darum, welche Stellung die zwei Hauptstoffgebiete, nämlich biblische Geschichte und Katechismus, im religiösen Unterricht überhaupt einnehmen und in welch innerem Verhältnis beide Gebiete zueinander stehen sollen. Gab es

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cÖA Cornelius Krieg: Christlich-katholische praktische Theologie.

im IQ. Jahrhundert nicht wenige Vertreter, welche der bibhschen Geschichte eine führende Rolle zuwiesen, so überwiegt heute die Zahl jener Theore- tiker, welche den Katechismus als das „Normalbuch" angesehen wissen wollen und dem historischen Unterricht eine nebensächliche Stellung an- weisen. Noch lebhafter wird zurzeit die Frage nach der zweckmäßigsten Herbart-Ziller. Mcthodc Verhandelt. Diese Bewegung ward durch die Herbart-Ziller- sche Pädagogik veranlaßt, insbesondere durch die Zillerschen sog. Formal- stufen oder den eigentümlichen Lehrgang, den Ziller für eine Unterrichts- lektion in Übung brachte. Man hat die Formalstufen mit einigen Ver- änderungen auf die Katechese übertragen, wodurch in der katechetischen Methodik eine lebhafte Bewegung für und gegen jene Stufen entstand. Der tiefere Grund der Bewegung liegt indes darin, daß man in der zweiten Hälfte des ig. Jahrhunderts anfing, der Psychologie in der Päda- gogik und Didaktik einen weit größeren Einfluß einzuräumen, als es bis dahin der Fall gewesen war. Jetzt suchte und sucht man mit Recht die katechetische Lehrkunst psychologisch zu begründen. Man stiftet „Kate- chetenvereine", hält „katechetische Lehrkurse und Kongresse" ab, auf denen hauptsächlich über die (psychologische) Methode des Religions- unterrichtes, über die Begriffe Analyse und Synthese und ihre Ver- wertung verhandelt wird. Die Methodik hat durch diese Bewegung unstreitig gewonnen. Man kann sie mit einer ähnlichen Erscheinung" ver- gleichen, welche im i8. Jahrhundert die Geister der Pädagogen und Di- daktiker mächtig- beschäftigte, mit dem Kampfe um die „Sokratik". Aus der Herbart-Zillerschen Didaktik hat man in neuerer Zeit außerdem die Lehre von den „konzentrischen Kreisen" und der Apperzeption in die Katechetik verpflanzt, Gegenstände, welche zurzeit die Katecheten leb- haft beschäftigen.

2. Geschichte der Katechetik. Die katechetische Unterweisung fing zugleich mit der christlichen Predigt, also mit dem Christentume an. So war es in der Natur der Sache gelegen. Die älteste Predigt war zu- gleich die älteste Katechese: KripuY)ua und Karrixeiv standen sich in den meisten Fällen gleich. Hatte die Missionspredigt die Hörer notdürftig vorbereitet, so erfolgte die Taufe. Doch machte sich bald das Bedürfnis geltend, die Taufkandidaten in eine sorgsame Erziehung zu nehmen; dies war vornehmlich bei den Heiden unerläßlich, bei denen nicht nur die religiösen Anschauungen, sondern mehr noch die sittlichen umzuwandeln waren. Die patristische Literatur mußte, seitdem in dem Katechumenate eine organisierte, stufenweise Vorbereitung für das Christentum festgelegt war, auch dem praktischen Bedarfe der Katechese zu Hilfe kommen, bis Außustin. der Katechese in Augustin der Begründer der katechetischen Theorie er- stand: sein vortreffliches Schriftchen De catcchizandis rjidibus wurde der Kanon für die religiöse Unterweisung.

Doch hatten schon einzelne griechische Väter, insbesondere die drei Kappadoker und unter ihnen vorzüglich Gregor von Nyssa einer

A. Dir pastoralc Didaktik. III. Die Homiletik. ef^e

katechcti.scheii Ihcorie vorgearbeitet. Au.s clor Praxi.s geboren, wuch.s die Kunsttheorie mit jener heran. Daß die christliche Didaktik an die grie- chische und rcnnische Kultur, an die profane Wissenschaft und Kunst anlehnte, kann bei den obwaltenden Verhältnissen nicht anders erwartet werden. Mit dem Untergange des Katechumenates (vom 5. 6. Jahr- hundert) verlor die Katechese an die Erwachsenen ihren Zweck; bei den völlig veränderten Verhältnissen mußte die Predigt deren Stelle ausfüllen, ohne vollen Ersatz zu bieten. Eine Besserung in der katechetischen Praxis und Tlieorie trat mit dem Aufkommen von Pfarrschulen im karo- lingischen Zeitalter ein. Hier begegnen wir den ersten Ansätzen zu kate- Katechismen, chismusartigen Leitfäden und bald nimmt man die Tätigkeit der latei- nischen Väter, eines Ambrosius, Augustins, Rufins u. a., zu den vorhandenen katechetischen ] .ehrstücken Auslegungen zu schreiben, wieder auf Seit dem 14. Jahrhundert wird ein bedeutender Schritt in der Au.sbildung der Katechismen für den Katecheten {Cafechismus Vaiircnsis 1368) und bald für das Volk (als Lese- und Lernbuch) getan. Als in der zweiten Hälfte des 1 8. Jahrhunderts, des „pädagogischen Zeitalters", sich auf dem Gebiete der Pädagogik die gTÖßte Regsamkeit entfaltete, teilte sich die Bewegung auch der Hebung des katechetischen Unterrichts mit, vor allem der Ver- besserung der Methode, zumal sich die Katechetik hauptsächlich durch Hirsch er als selbständige Disziplin neben die Homiletik stellte.

lU. Die Homiletik. Als dritte Di.sziplin der pastoralen Didaktik erscheint die Lehre von der Predigt vor den mündigen Gläubigen oder die Homiletik, die in ihrem Entwicklungsgange schneller voranschritt als ihre Mitschwestern. Konnte sie doch, als die eigentliche Theorie der geistlichen Beredsamkeit, das, was die antike Spekulation und Erfahrung an Lehren über die profane Redekunst festgestellt hatte, sich zunutze machen. Denn es bestehen ja unstreitig zwischen profaner und geistlicher Beredsamkeit und folglich zwischen den beiderseitigen Theorieen natur- gemäß die mannigfaltigsten Beziehungen, l'rotzdem die Theorie der geist- lichen Rede von frühe an sich zu entwickeln begann und bis zur Gegen- wart einen gewissen Abschluß gefunden hat, ist doch in der Systembildung das letzte Wort noch nicht gesprochen.

I. Wesen und Aufgaben der Homiletik. Die dritte Form der Ver- neeriff a,.r mittlung des Gotteswortes an die Menschen heißen wir Predigt, das Wort im engern, technischen Sinne genommen. Dieser Lehrvortrag .stellt sich neben die Missionspredigt und die Katechese als eine besondere Art des religiös-christlichen Vortrages. Im Unterschiede von diesen zwei Arten nennen wir die Predigt (Xötoc, scnnd) Kultus- oder gottesdienstliche Kuitusredc Rede, da sie meist in Verbindung mit irgendwelchen Kultakten sich darstellt. Diese Gattung der christlichen Heilsverkündigung leg^ der mündigen Gemeinde (dies ist das eigentliche auszeichnende Merkmal der „Predigt") fort und fort das Evangelium als Geschichte und Lehre vor, sie

566

Cornelius Krieg: Christlich-katholische praktische Theologie.

der Predig^.

licgriff der Homiletik.

Stufenweise immer tiefer in die Erkenntnis und das Verständnis des OfFen- barungsinhalts einführend. Doppelcharakter Die Predigt trägt einen Doppelcharakter: sie ist kein rein mensch-

Hches Erzeugnis, vielmehr weisen Ursprung, Auftrag und Inhalt auf ihren höhern, übernatürlichen Charakter hin. Aber die Predigt hat zugleich eine natürliche Seite, denn ihr Inhalt tritt nach den Gesetzen der Logik und Rhetorik bearbeitet vor den Hörer. Das objektive Gotteswort bedarf, um geistiges Besitztum des Hörers zu werden, einer dialektischen Ver- mittlung. Der menschliche Logos, als Vernunft, Gedanke und Wort ge- faßt, verkündigt die Offenbarung des göttlichen Logos, mit andern Worten: die Predigt hat den Offenbarungsinhalt nach den Gesetzen des Denkens und Redens zuzubereiten. Dies erfordert, daß der gottgegebene Inhalt im Geiste des Predigers einen psychologischen Prozeß durchläuft, um in der Form eines menschlichen Erzeugnisses vor die Zuhörer zu treten. Darauf beruht ein Teil der Kunst des Predigens, daß der Redner den positiv gebotenen Inhalt so zum subjektiven Eigentume macht und so im Vortrage darstellt, daß der Inhalt wie das Erzeugnis seines individuellen Geistes erscheint und dennoch bei diesem psychologischen Prozesse an göttlicher Wahrheit und Kraft nicht vefliert.

Wir bestimmen demgemäß die Homiletik als die wissenschaftliche Darstellung der Gesetze und Vorschriften, nach denen der OfFenbarungs- inhalt („Wort Gottes") an die mündigen Gläubigen in zweckmäßiger Weise vermittelt wird. Die Predigtlehre hat nach dem obigen eine Doppelreihe von Prinzipien aufzustellen, die sich einerseits aus dem übernatürlichen Charakter der Predigt und anderseits aus der Beredsamkeit ergeben. Der Doppelreihe von Gesetzen hat die Avahre Predigt zu genügen, wie die Homiletik im einzelnen nachzuweisen hat.

Der Name Homiletik für Predigttheorie bürgerte sich erst im i8. Jahr- hundert allgemein ein. Er geht zurück auf das Wort 6|LiiXeiv, ö|aiXia, was ursprünglich gleich biaXeY€c8ai ein Wechselgespräch, dann Volksrede be- zeichnet, bis Origenes, der „Vater der Homilie", dem Worte die tech- nische Bedeutung schuf: praktisch erbauliche Auslegung der Heiligen Schrift. Dieser Sinn blieb der Benennung Homilie bis heute. All die großen kirchlichen Prediger des Altertums und ihrer viele im Mittelalter erklärten auf der Kanzel das Evangelium in Homilienform. Doch bildete Der freie s<rrwp. sich frühe ucbcn der biblischen Homilie die Form der freien Rede, die sich zwar an einen biblischen Text anlehnte, aber den heilig"en Text frei entfaltete. Die Scholastik des Mittelalters schuf nach der Form der akademischen disputaiio die Predigt im heutigen technischen Sinne als einen systematisch gegliederten Vortrag über eine oder mehrere geoffen- barte Wahrheiten zum Zwecke der religiösen Belehrung und Erbauung. Der scri/io weist demnach einen genau disponierten Lehrgang auf; er hat eine strenge innere oder logische Struktur der Gedanken und psycho- logische Abfolge der Teile und Abschnitte.

Name Homiletik.

A. Dir ])ustmalc Didaktik. III. Di«- Flomilctik. ^5y

Von der Aufg'abe der Homiletik gilt zunächst, was wir früher \i.fn.ib.-. von der Gesamtpastoral ausgesagt haben: sie hat eine höhere Aufgabe zu erfüllen, als nur eine Summe von Regeln und Handgriffen zu reichen und Ratschläge zu geben, wie man schnell und sicher eine gute Predigt herstellt und vorträgt, sie hat ein historisch -ideales Wissen zu ver- mitteln. Die Wissenschaft von der Kultusrede muß aus dem Wesen und den Zwecken der christlichen Predigt ihre obersten Prinzipien und Normen darlegen und begründen. Jene ersten Grundsätze können und dürfen wir aber nicht in der profanen Rhetorik, sondern im Ursprünge und Wesen des Lehramtes Christi und der Kirche aufsuchen, so not- wendig und wertvoll daneben das Studium der Rhetorik, der Logik und Psychologie ist. Christus war es, der sich der Welt als die wesenhafte Wahrheit vorgestellt und als Quelle der Wahrheit in die Menschheit eingeführt hat. Seine Lehre hat Inhalt, seine Offenbarung oberstes Prinzip der Predigt zu sein, die mit der positiven Offenbarung gegeben ist und aus derselben ihr Leben schöpft. Seine Lehre will aber vor allem (jlaubenserkenntnis erzeugen: fides ex auditti (Rom. lo, 17). Schon diese wenigen Gedanken beweisen, daß zwischen geistlicher und profaner Beredsamkeit, zwischen Homiletik und Rhetorik ein grundwesent- licher Unterschied besteht, soviele Berührung.spunkte beide Gattungen der Rede auch aufweisen mögen. vSo fällt denn der Homiletik zunächst die Aufgabe zu, die Grundfragen der Predigt: ihr Wesen und Ziel, ihren Ursprung und übernatürlichen Charakter, ihre Quellen und Mittel darzu- legen und dnnn erst die praktischen Regeln und rhetorischen Maximen anzuschließen. Wie die Katechetik so zerfällt auch die Homiletik in einen Einteiinng. materialen und einen formalen Teil. Jener umschreibt den Predigt- inhalt und weist dessen Quellen nach (homiletische Topik), lehrt die Ge- setze der Auswahl, der Entfaltung und der Anordnung des Predigt.stoflfe.s, was die antike Rhetorik als inventio, elaboratio und disposiiio bezeichnete. Die formale Homiletik beschäftigt sich mit den xArten und der formellen Darstellung der Predigt, nämlich mit der sprachlichen Einkleidung und dem Vortrage.

2. Geschichte d er Homiletik. Naturgemäß waren Predigt und Kate- chese die zwei ersten und unentbehrlichsten Lebensäußerungen der Kirche. Diese gjiff mit wunderbarer Energie zunächst die Heilsverkündigung auf. Besonderer rhetorischer Mittel bedurfte die kirchliche Rede nicht, der „Völkerlehrer" lehnte sie geradezu ab und dennoch konnte die geistliche Rede sich nicht rein ablehnend gegen die Gesetze der profanen Bered- samkeit verhalten, und die Frage, welche schon in den paulinischen Schriften, wenn auch leise, durchklingt, wie sich nämlich die christliche Rede zur profanen zu verhalten habe, mußte einmal gelöst werden. Sie heischte zumal seit dem 4. Jahrhundert, als die christlichen Gelehrten die antike ars rhetorica eines Aristoteles studierten, eine Antwort.

In dieser Zeit beginnt sich bereits eine schulmäßige Rede zu ent-

c58 CoRN"ELlfs Krieg: Christlich-katholische praktische Theologie.

falten, ja es feiert die Kanzelberedsamkeit ihre erste Blüteperiode sowohl in der Ost- wie in der Westkirche, um allerdings bald wieder von ihrer Höhe herabzusteigen. Jene erste Blüte hängt einerseits mit dem Auf- blühen der theologischen Literatur, anderseits mit der gesteigerten redne- rischen und philosophisch - humanistischen Ausbildung der kirchlichen Redner zusammen, welche jetzt in den heidnischen Rhetorenschulen die Bekanntschaft mit der griechischen und römischen Rhetorik machen, nachdem die Gewissensbedenken, ob der Christ die heidnischen Bildungs- mittel sich aneignen solle, gehoben waren. Indes trugen auch die ersten christlichen Akademieen, d. i. die Katechetenschulen, das Ihrige zur Hebung der theologischen Ausbildung und dadurch zur Förderung der geistlichen Beredsamkeit bei. Hier setzt auch die erste Theorie ein: es sind die geistesmächtigen Vertreter des christlich -kirchlichen Gedankens, die, selbst humanistisch und theologisch tüchtig gebildet, ihre ganze Teil- nahme der theoretischen und sittlichen Ausbildung des Klerus zuwandten. Die ersten Theoretiker auf dem homiletischen Gebiete waren sich aber wohl bewußt, daß die Predigt nicht lediglich den Gesetzen der profanen Rhetorik, die sich auf der Logik und Psychologie aufbaut, folgen dürfe, weil Inhalt, Zweck und Methode die geistliche Rede von der weltlichen unterscheide. Wie zur gesamten Pastoraltheologie, so trugen Praktiker und Theoretiker der patristischen Zeit Bausteine zusammen zur allmäh- lichen Herstellung- einer eigentlichen Kunstlehre der Predigt. Die zwei

chrysostomus. Hauptvcrtrcter dieser Periode sind Chrysostomus im Osten unc Augustin im Westen. Jener hat insbesondere in seinem klassischen Buche „Über das Priestertum", aber auch in verschiedenen anderen Schriften treffliche Grundsätze über Predigt und christliche Beredsamkeit aufgestellt Augustin. und auf Jahrhunderte hin Theoretiker und Praktiker beeinflußt; Augustin aber verdanken wir die Grundlegung einer eigentlich systematischen Homiletik. In seiner Schrift De doctrina chrtsttana, einem theologischen Lehrbuche, entwirft er in großen Zügen den Plan einer gesunden, aus Schule und Praxis herausgewachsenen Predigtlehre. Schon die Gliede- rung der Homiletik in einen materiellen und formalen Teil hat im Grunde Gültigkeit für alle Zeiten. Die zwei Teile überschreibt er: viodus ifi- vcniciidi und modus proferoidi. Den geeig"neten Stoff aufzufinden und ihn geschickt darzustellen, sind ja die zwei Hauptaufgaben des Predigers. In formeller Hinsicht lehnt sich Augustin, der ehemalige Lehrer der (antiken) Rhetorik, an Cicero an, weiß aber sehr wohl, was den christ- lichen Prediger von dem Profanredner unterscheidet. Den Einfluß dieser gehaltvollen Schrift vermögen wir durch die nachfolgende Literatur bis herab zu den Sentenzen des Petrus Lombardus und den nachfolgenden Hraban. Scholastikem zu verfolgen. Durch Hraban wurde die Augustinische

Gregor d. Gr. „Normalhomiletik" dem Mittelalter zugeführt. \'on Gregors d. Gr. Liber rcgulae pastoralis gehört nur das dritt(> Buch hierher, obschon es mehr ein Führer für die individuelle Seelenleitung in Bußgerichten als für den

B. Die LiturRik. I. Wesen und Aufgaben der Liturßik. 560

Kanzelredncr ist. Für die Schüler des Mittelalters hat Ilraban in seinem theologischen Lehrbuche De insfitutionc clericorum aus Augustin, Isidor u. a. homiletische Gesetze und Vorschriften zusammengestellt. Das spätere Mittel- alter hat, obgleich für die homiletische Theorie nicht sonderlich schöpfe- risch tätig, dennoch die Predigttheorie nicht völlig vernachlässigt, auch die Scholastiker lieferten ihre Beiträge, Mit dem i6. Jahrhundert zieht durch den Humanismus die antike Rhetorik, voran die oratorische Lehre Ciceros und Quintilians, in die kirchliche Kunstlehre ein. Den Anfang machen Reue hl in und Erasmus. In der klassischen Zeit der französischen RoucWin.

F.rasmus.

Kanzelberedsamkeit gab Fenelon seine höchst wertvollen Dialogues sur Foncion. l'eloquence und Briefe an die Akademie (171 8) und Blasius Gisbert die bedeutende Schrift: L'eloquence chretienne dans l'idee et dans la pratique (Paris, 1703) heraus. Großen Einfluß übten beim Übergang vom 18, zum 19. Jahrhundert Michael Sailers (-J- 1832) kurzgefaßte Erinnerungen an Saiicr. junge Prediger und seine Beiträge zur Bildung des Geistlichen aus. Zu einer Wissenschaft, die diesen Namen verdient, reifte die Homiletik wie die Gesamtpastoraltheologie erst im ig. Jahrhundert aus, wo ihr syste- matischer Ausbau energisch betrieben wurde.

Gegenüber der Katechetik, auf deren Gebiet zwischen der alten und neuen Schule der vStreit mit einiger Erregtheit geführt wird, herrscht innerhalb der Predigttheorie fast völlige Ruhe; die Homiletik führt ein Stillleben. „Brennende Fragen" gibt es hier zurzeit nicht. Unstreitig hat die Predigt im 19. Jahrhundert nach der materialen und formalen Seite bedeutenden Fortschritt aufzuweisen; und auch die Theorie blieb nicht zurück; sie hat die Aufgaben der Predigt tiefer erfaßt, ihre Selbständig- keit klarer begründet, die letzten Prinzipien schärfer betont, das Material zum organischen System gegliedert. Daneben stellte die homiletische Praxis im ig. Jahrhundert vor allem eine Reihe glänzender bischöflicher Redner ins Feld, wie Diepenbrock, v. Ketteier, Förster, Rauscher, Eber- hard, Ehrler u. a. Trotz allem bleiben der homiletischen Wissenschaft noch materielle und formelle Aufgaben zu lösen übrig. Wir erinnern nur an die reinlichere Scheidung zwischen profaner und geistlicher Rede und an die ernste Frage, inwieweit der höheren Konferenzrede und zeit- geschichtlichen vStoffen (soziale Frage u. a.) Bürgerrechte auf der Kanzel zu gewähren sei.

B. Die Liturgik. L Wesen und Aufgaben der Liturgik. Weit größere Anstrengungen als die Homiletik bedurfte die Liturgik oder Kultuslehre, um sich eine selb- ständige Stellung innerhalb der Pastoraltheologie zu erringen. Der Grund liegt nahe. Die ars Jioinilctica hatte in der hochentwickelten ars rhctorica der Alten eine Vorlage, so verschieden auch die profane und die geistliche Rede ihrem Ursprünge, ihrem Wesen, ihren Mitteln und ihrem Inhalte und

cyo Cornelius Krieg: Christlich-katholische praktische Theologie.

Zwecke nach sind. Demgegenüber befand sich die Liturgik in einer völHg verschiedenen Lage: ihr ward keine solche Erbschaft zuteil. Hier mußte vom Fundament auf ein Neubau hergestellt werden. So hat es einer jahr- hundertlangen Arbeit bedurft, bis das wissenschaftliche Material so weit gesammelt und bearbeitet war, daß man eine Kultuslehre, die den Xamen Wissenschaft verdient, unternehmen konnte. Erst die Mitte des 19, Jahr- hunderts sah eine Liturgik als Wissenschaft erstehen. Bei dieser Arbeit fehlte jede Analogie: nicht die antike Welt der Griechen und Römer, auch nicht Israel kannte eine Wissenschaft des Kultes, Die christliche Theologie mußte diesen Wissensbau ganz aus eigenen Mitteln und auf eigene Kosten aufführen.

Die zweite Lebenstätig^keit der Kirche besteht nämlich in der Fort- setzung der hohenpriesterlichen Tätigkeiten Christi oder in den Akten des Gottesdienstes, dessen Zweck die Verehrung Gottes und die Entsühnung und Heiligung der Menschheit ist. Denn im Kulte setzt der Erlöser sein mittlerisches Amt in der Kirche fort. Wir bezeichnen die Gesamtheit der sinnenfälligen Formen des kirchlich normierten Gottesdienstes mit dem Aus- Liturgie. druck Liturgic und nennen danach die Wissenschaft von der Verwaltung Begriff Liturgik. der kirchlichen Liturgic Liturgik, welche eine wissenschaftliche Darstellung von den kirchlich-gottesdienstlichen Verrichtungen der ordinierten Organe, die Gesetze und Normen der liturgischen Funktionen zu geben hat. Besteht der christlich-kirchliche Kult aus einer Summe von sinne nfälligeu Formen, und zwar aus Gebeten, Handlungen und Zeichen, die zusammen einen ge- schlossenen Organismus ausmachen, so hat die Liturgik eine wissenschaft- liche Erkenntnis von dem Wesen, den Zwecken, Aufgaben und den obersten Grundsätzen dieses kirchlichen Tuns, aber auch eine (praktische) Anleitung zur rechten {rite) Ausführung der Kultakte zu bieten. Name Dcn Namcu Liturgie entlehnte die neutestamentliche bzw. die theo-

logische wSprache unmittelbar aus der Septuaginta, das Wort geht indes zurück auf die staatsrechtliche Sprache des athenischen Staats- lebens. In Athen bezeichnete man ursprünglich die durch einen Bürger freiwillig übernommene , öffentliche Dienstleistung zugunsten des Volkes mit XeiToupTia, d. i. Xe^Tov epToc, inunus {officium) publicum. Insbesondere hießen die freiwillig und unentg-eltlich übernommenen Staatsämter XeiToupYiai, und der Staatsdiener wohl auch XeiTOupYÖc. Die LXX wählten den Namen XeiTOupTict zur Übersetzung des hebräischen abodah, was Tempeldienst oder den öffentlichen, heiligen Dienst {mini- sterium sacruni) der Priester und Leviten bezeichnete. Für Tempel- und namentlich für Opferdienst kam so das Wort XeiTOupYia bei den griechisch redenden Juden in Umlauf In jener Bedeutung begegnet uns der Ausdruck bei Luk. 1, 23 (wozu V. 8 und g zu vergleichen) wieder. Zur Bezeichnung des Opferdienstes des himmlischen Hohenpriesters stehen die Ausdrücke XeiToupTÖc und XeitoupYia (neben Trpocq)epeiv, opfern) Hebr. 8, 2 und 6, und tiefsinnig wird das mittlerische Tun des verklärten Gott-

B. Die Litur^'ik. I. Wesfu und Aufgaben der Liturfjik. zji

menschen (ebendii 5, i ff.) mit XeiTOupTcTv bezeichnet, insofern Christus seinen „Dienst" freiwillig und für alle />ro u^iivrrso populo über- nommen hat. Im Neuen Testament kommt XeiTOupYeiv nur ein einziges Mal vor und zwar im vSinnc vom neutestamentlichen Gebets- und Opfer- dienst (Apg". 13, 2). In der altchristlichen Literatur gebraucht das Wort Klemens v. Rom (Ad Cor. 44, 3) gleichzeitig mit lepaxeueiv, und von da ging es in dem wSinne von Opfern auf dem christlichen Altare in die patristische und theologische Sprache über. Der Xame Liturgik für die Kultuslehre ward durch das Werk von F. X. Schmidt (1840) in der katho- lischen Theologie der stehende.

Die Liturgik ist ihrem Begriffe nach eine positive Wissenschaft, auf Positive die positiven Quellen der Schrift und Tradition sich stützend. Wohl hat man schon versucht, eine Theorie des christlichen Kultus auf philo- sophischem Wege durch Spekulation über die Idee der Religion oder des Gottesbewußtseins herzustellen. Allein auf dem Wege der Spekula- tion und psychologischen Analyse können wir sie doch nicht gewinnen. Denn sie ist ein Teil der positiven Offenbarung und nicht von ihr zu trennen. Die Grundformen und letzten Prinzipien des kirchlichen Kultes gehen zurück auf die Lehren und Anordnungen Christi und der Apostel; aus jenen Grundzügen hat die Kirche im Laufe der Jahrhunderte nach den in ihrer Natur gegebenen Grundsätzen die Liturgie entwickelt und aus- gestaltet. Mithin ist der Inhalt der liturgischen Wissenschaft etwas auto- ritativ Gegebenes, ein posifum, und so ist auch die Liturgik eine positive Wissenschaft, die nicht eine Kultustheorie nach den allgemeinen reli- giösen Ideen zu konstruieren, sondern aus dem positiven Material der christlichen Offenbarung und aus den Lehren und dem Kultusleben der Kirche herzustellen hat.

Die Methode der Liturgik anlangend, kann sie bei ihrem Forschen Methode der

j-i-M T^ ii i'-i TiT liturgischen

und bei ihrer Darstellung verschiedene Wege einschlagen. Da aber die Avisscnschaft. Liturgie, wie sie heute als ein organisch gegliederter geistiger Bau da- steht, keineswegs von den apostolischen Tagen an fertig gewesen, viel- mehr das Ergebnis einer langen Entwicklung und nur zu verstehen ist, wenn wir ihre Geschichte kennen, so muß die Liturgik, um ein volles Ver- ständnis heutiger Kultformen zu gewinnen, den genetischen Weg ein- schlagen.

Die wissenschaftliche Gliederung des sehr umfangreichen Materiales Gliederung, bietet nicht geringe Schwierigkeiten, weshalb auch die verschiedensten Versuche zur Disposition des Stoffes gemacht wurden. Wir zerlegen wohl den gesamten Stoff am zweckmäßigsten in einen allgemeinen und einen AiigemeinerTeü. besonderen Teil. Im ersteren, gleichsam der Vorhalle, werden die Vor- fragen nach den Prinzipien, dem Ursprünge, dem Zweck, den Elementen, Mitteln und Formen des Kultus überhaupt und des christlich-kirchlichen im besonderen beantwortet. Diese Beantwortung der Grundfragen bereitet besondere Schwierigkeiten. In dem allgemeinen Teile werden ferner die zum

572 Cornelius Krieg: Christlich-katholische praktische Theologie.

Vollzuge des Kultus notwendigen fünf Requisite behandelt, nämlich die Kultstätte (Kirchenbau usw.), Kultzeit (Heortologie), Kultsprache, die heilig-en Gegenstände und heiligen oder symbolischen Handlungen. Besondere Die bcsonderc Liturgik hat zum Gegenstande das Opfer, das liturgische Gebet, die Sakramente und Sakramentalien.

Geschichte und H. Geschichte der Liturgik. Die Kirche finef seit dem ersten

Literatur. ^ °

Pfingstfeste an, einen eigenen Gottesdienst, wenn auch in den engsten Formen einzurichten; Jerusalem war das „Mutterhaus" auch des Kultes. Hier erlangte die christliche Liturgie ihre erste Ausgestaltung durch die Apostel selbst. In den drei ersten Jahrhunderten hält sich der christliche Gottesdienst schon der äußeren Lage der Kirche wegen in einfachen Formen; reichere Ausgestaltung erlangte er seit dem 4. Jahrhundert, und zwar hing diese Entfaltung zum Teil mit der Entwicklung der kirch- lichen Kunst, vorzugsweise mit dem Beginne des Baues größerer und kunst- vollerer Gotteshäuser zusammen. Denn Liturgie und Kunst übten durch alle Jahrhunderte einen wechselseitigen Einfluß aus. Mit der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts beginnt die Entwicklung des Kirchenjahres, sodann nehmen Baukunst und Hymnenpoesie sowohl in der Ost- als in der West- kirche einen raschen Aufschwung; auch der kirchliche Gesang, welcher bis dahin die einfache Formsprache der Basilika redete, wird mit der Ent- faltung der Kultusformen und des kirchlichen Festkreises reicher gestaltet. Hymnodik Dic kirchliche Hymnodik erreicht vom 4. bis 5. Jahrhundert ihre erste Blüte. Der ganze Reichtum christlicher Ideen gelangte in der Hymnen- poesie zur Darstellung. Es verging selbstverständlich eine geraume Zeit, ehe der Kult zum Gegenstand der Reflexion erhoben wurde. Auf einer gewissen Höhe der Vollendung rief derselbe mit seinen mannigfachen KuK.iusiegung. Formen und Symbolen nach einer Deutung, und dieser Trieb vor allem und daneben das Streben, dem Liturgen Anleitung und Sporn zur rechten Verwaltung der liturgischen Funktionen zu geben, bahnten die liturgische Literatur an. Wie die Theologie an den Offenbarungsurkunden ihr erstes Objekt fand, an dem sich die Geistesarbeit erprobte, so trat allmählich neben die kirchlichen Urkunden das kirchliche Leben, nämlich der Kultus, der zur theologischen Betrachtung aufforderte. Leider schlug-en die Exe- geten der Liturgie unter dem Einflüsse der alexandrin ischen Exegese einen Weg ein, der manche Nachtreter bis ins Mittelalter herab zu irr- tümlichen Deutungen der Liturgie führte.

Statt auf historischem und dogmatischem Grunde das Verständnis der- selben zu erschließen, überließen sich manche Liturgiker einer ausschwei- fenden Spekulation. Der Reigenführer ist der unter dem Einflüsse neu- Pseudo- platonischer Ideen schreibende Pseudoarcopagite (um =>oo), der die

arcopagitc. . j >_ \ >-

mystagogische Deutung einleitet. Den Ticfgehalt der einzelnen Kult- handlungen zu erschöpfen, ergeht er sich in einer ungesunden Spekulation, gonfe^or, Ihm folgt Maximus Confessor [~ öö^s) in Konstantinopcl, der nicht nur

I. Die Lilurfjik. II. Geschichte der Liturf^k. ^7 7

die KulthandlungXMi, sondern auch das Kultgebäude und dessen Einrich- tung unter seine Spekulation stellt; an ihn schließen sich die mittelalter- lichen Syniboliker an. Eine andere Richtung schlägt der Verfasser der jLiucTiKri öeujpia ein, vermutlich Bischof (jermanos von Konstantinopel Oermanos (i 733)) der die Liturgie dramatisch deutet, d, h. sie als Darstellung- der Endstationen des Lebens des Erlösers, also „geschichtlich" auffaßt. Den Pfaden dieser spekulativen Liturgiker des Ostens folgt nicht der gelehrte Enzyklopädiker Isidor von Sevilla (-{-636), der auch den Kultus zum isidor v. seviii;.. Gegenstande seiner geschichtlichen Forschung gemacht hat. In der Schrift Dr officiis ecclesiasticis behcmdelt Lsidor in nüchterner historischer Be- trachtung die Liturgie. Eine eigentümliche Erscheinung tritt auf dem liturgischen Gebiete in der abendländischen Kirche mit dem karolingischen Zeitalter auf, eine Erscheinung, die wir kurz als „liturgische Bewegung" bezeichnet haben. Als nämlich unter Karl dem Großen die erste Renais- Karoiiii!,nsche sance eine starke Strömung in der Wissenschaft und Literatur hervor- brachte, erhielt ein Zweig des kirchlichen Lebens und der Theologie, der bis dahin nur sehr wenige Arbeiter gefunden hatte, eine Pflege, die unsere Bewunderung erregen muß: es ist der kirchliche Kultus, der fast mit einem JMale von allen hervorragenden geistlichen Gelehrten der Karolingerzeit zum Gegenstande der Forschung und literarischen Be- handlung erhoben wird. Der Gründe dieser eigenartigen neuen Erschei- nung sind viele; sie aufzuzählen mangelt hier der Raum. Aber diese Er- scheinung gehört zu der interessantesten Seite der theologischen und all- gemein literarischen Bewegung jenes merkwürdigen Zeitraumes, In der Neuordnung der kirchlichen Dinge, welche die fränkischen Herrscher Pippin und Karlmann eingeleitet hatten und die ein Größerer durchführen sollte, nahm die „Kultusfrage" eine bedeutsame Stelle ein. Für die nicht zivilisierten Völker, die sich nach den großen Wanderungen zu einem neuen Gebilde zusammenschlössen und sich unter dem Karolingerzepter neu ordneten, gab es nur eine Kulturmacht die Kirche; und die Kirche bot den neuen Völkern die Erziehung mehr noch durch ihre Schulen und ihren Kultus, als durch die Predigt. Der Kultus übernahm bei der Kul- tivierung der Germanen einen Hauptteil der Arbeit, Hier zeigt sich im Unterschiede vom christlichen Altertum neben der sprachlichen die Sach- verwandtschaft der Begriffe Kultus und Kultur. Bei den Germanen er- hielt der Gottesdienst eine umfassendere und viel Aveiter reichende Auf- gabe. Nicht durch das Predigtwort allein war und ist die Kirche Lehrerin und Bildnerin, sondern zugleich durch den gesamten Kultus mit seiner reichen Symbolik, welche jene rohen Völker mit heiliger Scheu vor dem Göttlichen erfüllen mußte. Bei so gearteten Naturen vermag der Unter- richt nicht alles, vielmehr fällt dem Kultus, abgesehen von seinem überall gleichen Hauptzwecke, noch eine eigentümliche Kulturmission zu: er ist ein vorzügliches Erziehungsmittel, das die rohen Gemüter in Zucht nimmt und ihnen eine ideale Richtung gibt. Die Kirche luit diese Kultus- und

cyA Cornelius Krieg: Christlich-katholische praktische Theologie.

Kulturaufgabe beim Eintritt ins Mittelalter wohl begriffen und in groß- artiger Weise gelöst. x'Vber es bedurfte einer Arbeit von Jahrhunderten, bis die neuen Stämme den Kulturvölkern eingereiht waren, und diese Jahr- hunderte erfüllt eine ungewöhnlich rege literarische Tätigkeit auf dem Gebiete der Liturgie,

Zuerst ging die Bewegung aus dem Zuge nach einheitlicher Gestal- tung der abendländischen Gottesdienstordnung hervor, und dieses Einheits- streben vor allem gab den Anstoß zu jener schriftstellerischen Tätigkeit, Die Einheitsbestrebungen stehen zugleich in engem, ursächlichem Zusam- menhang mit der großen Reformbewegung der Karolingerzeit, Zahlreiche Synoden und Erlasse des 8. und 9. Jahrhunderts arbeiteten daran, die germanischen Völker in die Bahnen des christlichen Glaubens und Lebens zu lenken und zur christlichen Gesittung emporzuführen. Dieses Auf- streben der germanischen Stämme zur christlichen Kultur in unserem Zeitalter ist eines der interessantesten Schauspiele in der Geschichte, Ein erstes Mittel jener Reform war die Seelsorge und besonders die Hebung des Gottesdienstes und der kirchlichen Rechtsordnung, sowie der kirch- lichen Disziplin, Seit Bonifatius und den Pippinen begegneten sich die geistlichen und weltlichen Häupter mit rastlosem Eifer in diesem Streben; Schule und Unterricht sollten demselben dienstbar gemacht werden. Die karolingische Gesetzgebung befaßte sich mit der Gottesdienstordnung und dem Vollzuge des Kultus, Dieser wurde jetzt in ganz anderer Weise, als es in der anatolischen und der altokzidentalischen Kirche der Fall ge- wesen war, Gegenstand der kirchlichen Sorge und Tätigkeit, littciaiteriiche Fast alle gelehrten Theologen des Frühmittelalters widmeten sich mit

Eifer der wissenschaftlichen und praktischen Behandlung des Kultus: Alkuin, Amalarius von Metz, Agobard, Erzbischof von Lyon, Wal a- frid Strabo u, a, x\n sie reihen sich Berno von Reichenau (j 1048), Bernold von St. Blasien (iiio), Rupert von Deutz (f 1139), Wilhelm Durandi (f 1296) mit seinem vielgelesenen Rationale divinorum o/ßciorum, um nur diese Namen zu nennen, Sie alle hielten durch das ganze Mittelalter das Interesse für die liturgischen Studien wach. Neuzeit. Mit dem Aufblühen der patristischen, historischen und archäologischen

Studien im nachtridentinischen Zeitalter ging eine rege literarische Be- schäftigung mit der Liturgie Hand in Hand. Die nächste Aufgabe fand man in der Sammlung und Kommentierung alter Liturgieen und liturgi- scher Texte,

Die systematische Bearbeitung der Liturgik begann indes erst, als die Gesamtpastoral den Rang- einer selbständigen Wissenschaft erhalten hatte, und der streng wissenschaftliche Ausbau im 19. Jahrhundert knüpft sich an die Namen Staudenmaier (| 1856), Schmid (f 187 1), Luft (f 1870) und Thalhof er (f 1891).

C. Die Theorie der speziellen Scclsurj^'c. I. Wesen und Aufgaben der speziellen Seclsorge. S7S

C. Die Theorie der speziellen Seelsorgr.

I. Wesen und Aufgaben der speziellen Seelsorge. Am ärm- lichsten war bis in die Gegenwart die dritte Genossin der pastoralen Schwestern an Mitgift ausgestattet und sie fristete in materieller und formal - methodischer Hinsicht ein kümmerliches Dasein die spezielle Seelsorge. Nicht einmal daß ihr wie ihren Mitschwestern ein kurzer, be- zeichnender Name konnte gegeben werden, als ob die griechische Termi- nologie erschöpft wäre, g'cschweige, daß man versucht hätte, auch nur die wichtigsten Fähigkeiten des königlichen Amtes vollständig zu beschreiben und wissenschaftlich zu gliedern. Meist ward aus dem hcichst dürftigen Wissenszweig der speziellen Seelenführung ein dürftiger Anhang zur Homiletik, ohne daß man versucht hätte, die hier dräng'enden Aufgaben auch nur annähernd zu erschöpfen. Und doch stellt gerade die spezielle Cura ein hochbedeutsames, weites und selbständiges Lebensgebiet kirch- licher Seelsorge dar, ein Gebiet eigenster Geistesarbeit, wo es sich um die höchsten Aufgaben der Seelenpflege handelt, Aufgaben, die sich bei dem Wechsel der sozialen, rechtlichen und volkswirtschaftlichen Verhält- nisse der Gegenwart ungewöhnlich steigern.

Die Lehre von der speziellen Seelsorge oder die Wissenschaft der negnfr und speziellen Seelenführung hat zum Inhalte die Verwaltung des dritten Erlösungsgutes, der christlichen Lebensordnung. Wohl schaffen die Predigt der Glaubenswahrheit und die Mitteilung der eigentlichen Gnade das Leben in der Seele. Allein dieses durch die Gnade erzeugte über- natürliche Leben soll der Mensch durch freie Betätigung zu seinem vollen Eigentum machen, es freitätig entwickeln und ausgestalten. Bei dieser pflichtmäßigen Ausgestaltung des übernatürlichen Lebensstandes bedarf der Geist der sicheren Führung. Denn auch im erlösten Zustande gravitiert die verderbte Xatur zur Sünde hin, und so ist der Heils- stand der Seele zeitlebens gefährdet. Es kann die Seele, von innen und von außen angefochten, das „Leben" einbüßen, und nicht wenige büßen es tatsächlich wenigstens zeitweilig, nämlich bis zur Wiedergeburt im Bußsakramente, ein. Dies zu verhüten und die begnadete Seele zu schützen in ihrem Heilsstande und zugleich zu fördern, bedarf es einer neuen seelsorgerlichen F"unktion, eines speziellen Erziehungsmittels, der Disziplin, welche einerseits den Christen vor dem Rückfalle bewahren und, wenn er eingetreten, das „Leben" in ihm erneuern soll. Diese Son- deraufgabe hat die spezielle Seelenführung zu übernehmen. Das Lehren (bibdcKeiv) allein genügt, wie wir früher gezeigt haben, nicht; die Predigt und die Erhebung in den Gnadenstand wird erst gesichert durch das ttüi- beueiv oder die Schulung und Gewöhnung des Willens. Die Kirche be- lehrt nicht nur, sondern sie nimmt den Christen in Zucht. So bestimmen wir jetzt den Begriff des dritten pastoralen Wissenszweiges als die Wissenschaft des kirchlichen Erziehungsamtes, von dessen Verwaltung

cy6 Cornelius Krieg: Christlich-katholische praktische Theologie.

dieselbe eine wissenschaftliche Erkenntnis und praktische Anleitung zu geben hat. Name der Unserc Wissenschaft hat es innerhalb der katholischen Theologie

noch zu keinem feststehenden Xamen gebracht, so viele Versuche auch schon gemacht worden sind. Wir bleiben bei der umschreibenden Be- zeichnung: Wissenschaft der speziellen Seelenleitung- stehen. Den Xamen „Privatseelsorge" müssen wir abweisen, weil er mißverständlich ist. Denn alle von priesteramtlichen Personen geleistete Seelsorge ist öffentlich („offiziell"), weil im Xamen der Kirche geübt, niemals private Tätigkeit.

ciira specialis. Mit dem Wortc „speziell" {cura specialis) bezeichnen wir eine spezi-

fische, intensive KxX. der Seelsorge, eine cura animarum im ausnehmen- den Sinne. Denn die Führung der Seele auf der via regia Christi er- fordert eine gesteigerte Art des „Sorgens"; hier prägt die cura ihr inner- stes Wesen eigentümlicher aus als bei der Verwaltung der Predigt

T«;-« ^«;fra/jv. und dcr Llturgle. Wenn wir alles seelsorgerliche Tun als cura gene- ralis bezeichnen, so stellen wir ihr die cura specialis gegenüber. Ge- wöhnlich faßt man specialis im Sinne von individuell, was irrig ist; denn das Objekt der disciplina wird ebenso auf die Gemeinde als die Einheit der Parochianen wie auf die Einzelperson angewendet; die cura specialis ist Individual- und Gemeinschaftsseelsorge; sie sucht das Ganze wie jedes Glied des Ganzen zu leiten und zu erziehen. Aufgabe der Als Wisscnschaft hat dieser Zweig der Pastoral die Aufgabe, die

obersten Gesetze, Wesen und Zweck, Mittel und Methode der speziellen Seelenführung zur Erkenntnis und zur Darstellung zu bringen, aber auch durch Darlegung der eigentümlichen Technik zur Führung des Amtes an- zuleiten. In letzterer Hinsicht wird die Theorie zu einer „Funktionen- lehre" für die kirchlichen Organe. In keinem Falle darf sie zu einer bloßen Kasuistik herabsinken, hat sich vielmehr als Wissenschaft zu be- haupten, indem sie die einzelnen Vorschriften auf die allgemeinen theolo- gischen Wahrheiten und die psychologischen Gesetze zurückführt: denn sie sucht ihre obersten Leitsätze in der positiven Offenbarung und im Wesen des Menschen auf; daraus leitet sie die praktischen Regeln ab, welche sie wissenschaftlich ordnet und wo nötig- begründet. Aufgaben. Die Aufgaben der speziellen Seelsorge sind sehr mannigfaltig, ja

unerschöpflich und können nur im allgemeinen umschrieben werden. Denn der Strom des Lebens und der stete Wechsel der Dinge stellen immer neue Aufgaben, fordern Individualisierung des einen pastoralen Amtes. Die Veränderungen und Verschiebungen der rechtlichen, wirtschaft- lichen und sozialen Verhältnisse schaffen neue seelische Bedürfnisse und demzufolge neue seelsorgerliche Pflichten, Auf der andern Seite bedarf der Seelsorger der Orientierung an den allzeit gültigen Prinzipien wahrer Pastoration. So umfaßt denn dieser Teil des Seelendienstes viele Einzel- aufgaben und pflichtmäßige Tätigkeiten {officia). Wir erinnern nur an die Gefährdung des religiösen und sittlichen Lebens durch das moderne

C. Die Theorie der speziellen Seelsorge. I. Wesen und Aufgaben der speziellen Seelsorgc. cyy

Fabrikwesen, die Industrie, den Sozialismus usw., Verhältnisse, denen gegenüber Religion und Sittlichkeit gebieterisch eine neue Organisation und Erweiterung der seelsorgerlichen Tätigkeiten erfordern. Es erstehen der heutigen cnra neue Aufgaben, die vor loo Jahren noch nicht bestan- den, um nicht zu reden vom christlichen Altertum und Mittelalter. Mittel, Ziele und Prinzipien der Pastoration bleiben unabänderlich dieselben, ebenso wie das Wesen der Seele bleibt; nur deren Bedürfnisse wechseln.

So muß sich die Theorie darauf beschränken, das Ackerfeld abzu- stecken, die Pflichten und Tätigkeiten zu klassifizieren, Gruppen oder Typen von Gläubigen zu beschreiben, um es der Weisheit und dem Takte des Seelsorgers zu überlassen, die Mittel: Wort und Zucht, je auf Indivi- dualität und Persönlichkeit zuzurichten.

Die vier Hauptfunktionen sind:

a) den einzelnen und die Gesamtheit der Gemeinde zu hüten (qpuXdT- reiv), auf daß keiner aus dem Glaubens- und Gnadenleben herausfällt.

b) Die trotzdem Abgeirrten zu suchen (Z^nTeiv). Das Suchen des Ver- lorenen gehört zu den Hauptpflichten des Hirten, wie es der Herr in Parabeln andeutet.

c) Wiedergefunden werden die „Verlorenen" durch Sinnesänderung (laeTotvoia) und den Reinigungsprozeß im Bußgerichte, welches die „Wiedergeburt" bewirkt.

d) Zu jenen Obliegenheiten kommt noch die positive Arbeit, das reli- giöse und sittliche Leben zu fördern und mehr und mehr der Vollendung entgegenzuführen. Für diese Tätigkeit gebraucht die Schrift gerne das Bild vom Bauen (oiKobo)aeiv).

Die Einteilung unserer Wissenschaft ward bestimmt durch das Subjekt der speziellen Cura. Nun hat die Kirche sowohl den Einzel- menschen als die Gemeinde nach der christlichen Lebensordnung zu regieren und zu erziehen.

a) Der Charakter des Erziehens, die Bildung, Förderung und Obhut legt es der Cura auf, zunächst die Einzelpersönlichkeit in ihrem religiös- sittlichen Leben zu schützen und zu fördern, und so hat die spezielle Seelen- leitung zuerst Individualseelsorge zu sein. Aber Gegenstand der kirch- lichen Zucht ist das Individuum nicht nach seiner Natürlichkeit, sondern als Gläubiger, als Glied der Kirche. In seiner Beziehung zu Christus und der Kirche tritt das Einzelwesen in den Bereich der amtlichen Seel- sorge. Grundgesetz der individuellen Cura ist, bei jedem Individuum die kirchlichen Erziehungsmittel zuzurichten nach der

a) leiblich-seelischen Verfassung, nämlich nach Alter, Geschlecht, Temperament, Stand und Beruf, religiöser und sittlicher Beschaff"enheit im ganzen Umfange seiner vielfältigen Lebensbeziehungen.

ß) Aber die Seelenhut darf den einzelnen nicht lediglich in seiner Isoliertheit als bloßes Individualwesen, sondern zugleich als soziales Wesen in seiner Beziehung zur Gesamtheit der Gemeinde pflegen. Indem

Die Kultur der Gkgbswart. I. 4. ;-

Die vier Funktionen.

Einteilung.

Individual- seelsorge.

cyg Cornelius Krieg: Christlich-katholische praktische Theologie.

die Kirche durch ihre Seelenführung den Einzelnen in Beziehung setzt zur Gesellschaft, kommt sie einem Doppelstreben, dem individuellen und sozialen Zuge, des Menschen entgegen und schlichtet den Widerstreit zweier Prinzipien, verbindet gleichsam die zwei entgegengesetzten Pole jenes Strebens, Gerade unsere Zeit ist durch einseitigen Individualismus und Sozialismus gekennzeichnet.

Gemeinschafts- b) Der zwcitc Teil der speziellen Cura umfaßt die Gemeinschaftsseel-

see sorge. gQj-gg^ deren Aufgaben wiederum sehr mannigfaltig sind. Die Gemeinde muß in ihrem religiösen und sittlichen Stande gehütet und gefördert werden und die Seelsorge hat sich der leiblichen und geistlichen Wohlfahrt, des intellektuellen Fortschritts und all der sozialen Xöte der -irapoiKia anzu- nehmen: Armen- und Krankenpflege und das ganze Gebiet der christlichen Charitas, endlich die soziale Frage mit ihren vielfältigen Problemen treten da an die Cura heran, Antwort, Hilfe, Lösung erwartend. Die Ein- zelaufgaben, an denen die Kirche zur Lösung der sozialen Frage beteiligt ist, sind gar mancherlei. Wir sagen: die Kirche ist mit ihren geistigen Mitteln an der Lösung beteiligt, nicht daß sie allein die ganze Summe der schwierigen Probleme, welche wir in dem Begriff soziale Frage ein- schließen, lösen könnte. Obenan steht die Arbeiterfrage, bei welcher Arbeits- lohn und Arbeitszeit die Hauptstreitpunkte bilden. Schon hier tut sich der kirchlichen Seelsorge ein weites Feld der Tätigkeit auf. Freilich die Predigt des Evangeliums Christi reicht allein nicht aus zur Heilung der Schäden, wenn nicht die Vereine aufgeboten werden, um mit vereinten Kräften die allseitige Verbesserung der Lage des Arbeiterstandes anzu- streben.

Methode der Die Methode der individuellen Seelenführung bedarf besonders klarer

'""^duaL'!"' Grundsätze; denn diese Führung bewegt sich auf einem schwierigen Ge- biete und ist, um den berühmten Ausspruch Gregors von Nazianz zu ge- brauchen, die „Kunst aller Künste", die nur jenem Kün.stler gelingt, der das geheimnisvolle Mittel besitzt, Geister zu regieren. Das erste ist, daß der „Künstler" dieser höchsten Kunst planmäßig verfährt, d. h. mit sorg- fältiger Erwägung der Mittel, die er je bei einer Individualität anwenden will. Wobei die Tatsache nicht zu übersehen ist, daß nicht nur die ein- zelnen Lebensformen sich merklich ändern, sondern selbst die allgemeine Denkweise (nicht die Denkgesetze) sich wandelt. Ist die Seelsorge vpuxa- YuuTict, so muß das Verfahren psychologisch oder dem Wesen der Seele angemessen sein, was nur möglich ist, wenn wir die p.«5ychischen Gesetze, die Biologie der Seele kennen.

Geschichte und I'i ueuerer Zeit hat die Theorie der speziellen Seelsorge die Pastoral- Literatur. i^-^e^jj^in uud die Psychiatrie als Hilfswissenschaften in ihren Kreis gezogen, mit Recht. Kann doch kein sicherer „Seelendienst" bestehen ohne Rücksicht auf körperliche und seelische Erkrankungen.

C. Die Theorie der speziellen Seelsor^e. II. Geschichte der Seelsorgclheoric. cyq

II. Geschichte der Seelsorgetheorie. Auch die spezielle Lebens- führung und Kr/iehung hob mit den Aposteln an, deren Schriften, insbesondere die paulinischen, sich bereits mit der Zuchtübung den Gemeinden wie einzelnen Gliedern gegenüber befassen. Sodann be- handeln die ältesten patristischen Schriften, die Didache, die Briefe der apostolischen \'äter, vornehmlich aber die früher erwähnten Werke der griechischen und lateinischen Kirchenväter: eines Gregors von Nazianz, eines Chrysostomus, Ambrosius, Augustinus, Hierony- mus und Gregors d. Gr. eingehender die verschiedensten Fragen der speziellen Seelenführung. Im christlichen Altertum sind es hauptsächlich zwei Anstalten, um welche sich die seelsorgerliche Praxis und Theorie dreht: der Katechumenat und die Bußdisziplin. Beide waren kirchliche Erziehungsanstalten, in denen die spezielle und vor allem die individuelle Seelenführung den Mittelpunkt bildete. Wen die Missionspredigt vor den Eingang- (den materiellen und ideellen) der Kirche führte, der wurde einer eigenen Pädagogie unterstellt, deren Grundzüge wir bei Klemens von Alexandrien kennen lernen. Reichhaltig ist die Literatur über das Bußinstitut, die vorzüglichste Anstalt der individuellen Seel- sorge. Über die Buße handelt der Pastor des Hermas, TertuUian in der Schrift De poenitentia^ Cyprian in Briefen und andern Schriften, besonders in De lapsis, womit er eine schwierige Streitfrage der kirch- lichen Disziplin zu lösen suchte. Im 5. Jahrhundert beginnt die Literatur der Bußbücher [libri poenitentiales) ^ die bis heute in lebendigem Flusse ist, ob auch Inhalt und Form gewechselt haben. Alle hervorragenden Kirchenschriftsteller des Alorgen- und Abendlandes stellten zu dieser Lite- ratur ihre Beiträge. Gregor von Nazianz war der erste, welcher in seiner genannten Verteidigungsrede die pastorale qjuxaTUJTia zur Theorie (lexvri) erhob und insbesondere über die Seelenheilung (eepotTieia ipuxüuv) vortreff- liche Gedanken ausspricht. Hervorragendes leistete Chrysostomus in seinen Homilien, wie in seinen asketischen Schriften, abgesehen von der mehrfach erwähnten Schrift über das Priestertum.

Eine Geschichte der Seelsorge und Seelsorgetheorie läßt sich nicht schreiben, ohne daß des frühe beginnenden weitreichenden Einflusses des Mönchtums gedacht wird, eines Einflusses, der bald unmittelbar, bald mittel- Mönchtum. bar ein bestimmender Faktor wie der Seelenführung so des gesamten Kultur- lebens geworden war. Dieser Einfluß beginnt bereits bei dem orientalischen Asketen- und Mönchtum, das seine Grundsätze des religiösen und sitt- lichen Lebens vom Xil und Euphrat bis nach Italien und weiter im Süden und W^esten Galliens bis an die Loire verbreitete. Es verpflanzte den griechisch-orientalischen Ideenschatz nach dem Abendlande und schon im christlichen Altertume bildeten nicht wenige klösterliche Genossenschaften wahre Erziehungsanstalten und -schulen, waren Mittelpunkte, wo man das Ideal der Vollkommenheit zu erstreben und den Einzelnen mit dem geist- lichen Leben zu durchsäuern suchte. Nicht nur, daß die Asketen die

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i^So Cornelius Krieg: Christlich-katholisclie praktische Theologie.

Seelenführer und Berater im geistlichen Leben waren, sie haben teils un- mittelbar, teils mittelbar die geistliche Ausbildung der Priester geleitet und so auf die Seelsorge bestimmend eingewirkt. Zumal in S}Tien, Nordafrika und Südgallien waren die klösterlichen Institute die Sitze, wo der ßioc ttvcu- lUttTiKÖc sich entfaltete und klärte und die Theorie des geistlichen Lebens neue, festere Grundsätze empfing. Zu der auf diesem Boden erwachsenen Literatur gehören die genannten Schriften des Chrysostomus und seines Schülers Kassian {j- 435). Werke: De institutis coenobiorum und die vielverbreiteten, einflußreichen Collattones; ferner die Homilien und mysti- schen Schriften des Makarius (f395) und die trefflichen asketischen Werke des Nilus (f 430). Die sog. kanonische Briefliteratur und ihre späteren Fortsetzungen in den Ordensregeln schlagen ebenfalls in dieses Gebiet ein.

An der Wende zum Mittelalter steht Gregor d, Gr., der nicht nur in seinem Liber regulae pastoralis der mittelalterlichen Seelsorge das fast mit kanonischem Aussehen ausgestattete „Normalbuch" spendete, sondern außerdem in seinem großen Moralwerke viele Seiten der Seelenführung erörterte. Gregors Schriften, sowie die reichhaltige pastorale Literatur der früheren Jahrhunderte deckte für das Mittelalter den Bedarf an ein- schlägiger Literatur. Indes zeigte sich das spätere Mittelalter keineswegs unfruchtbar an pastoralen Schriften. Da das Bußinstitut naturgemäß im Mittelpunkte theoretischer Erwägungen stand, so lieferte auch diese Zeit ihre Bußbücher, zu welchen seit dem 13. Jahrhundert eigene Unterweisungen für die Beichtabnahme {confessionalis, iusfructiones pro confessariis) kamen. Das größte Ansehen erlangten die Beichtbücher Bonaventuras (-}• 1274) und Antonins v. Florenz (f 1459), des berühmten Hauptes der Floren- tiner Dominikaner. Vor diesen einflußreichen Geistern hatte S.Bernhard durch Vorbild und Schriften mächtig- auf die seelsorgerische Praxis und Theorie eingewirkt, eine Lichtgestalt und der Prophet seines Jahrhunderts, der durch die Macht seiner Persönlichkeit seiner Zeit den Stempel auf- drückte und durch die Stiftung eines neuen Ordens, des der Zisterzienser, seinen segensreichen Einfluß auf Jahrhunderte hin geltend machte. An Bernhard schloß sich die Mystik, vorab die der deutschen Dominikaner an, welche im Gegensatz zur Scholastik dem inneren Leben größere Sorg- falt widmeten. Auch die Brüder vom Gemeinsamen Leben erwarben sich um die Reform der Seelenführung große Verdienste. Reich ist die Literatur, welche seit dem Konzil von Trient erschien und sich über alle Sparten, besonders der individuellen Seelenpflege, verbreitet. Wenn das Schrifttum für die Wissenschaft der speziellen Seelsorge durch alle Jahr- hunderte bis herab in die Neuzeit vielfach eine vorherrschend ethische Tendenz hat, wenn durch die ganze reiche Literatur, wo immer Fragen der kirchlichen Seelsorge wissenschaftlich behandelt werden, ein asketi- scher Zug geht, so hat dies seine Begründung. Die Persönlichkeit des Hirten, seine Gesinnung, gleichsam sein Ethos ist es vorzugsweise, worüber

II. Die Theorie der speziellen Seclsorgc. II. Geschichte der Scelsorpetheoric. cgj

die führenden Geister naciisinnen. Gregor d. Gr. hat im Xanien aHer Theoretiker und Praktiker der alten und mittleren Zeit gesprochen, wenn er in seinem Pastoralbuche die Frage an die Spitze stellt: (jiinlifer (juis voiiat ad rc^imen ani)nanim und (junliter vivfit. Der Grundsatz, den Cicero und Quintilian an die Spitze ihrer rhetorischen Unterweisungen stellten: ,y\on/n'si opiinius qitisqui'''- galt jenen als der Leitsatz ihrer Pastorallehre. Mit tiefem Verständnis der hohen Bedeutung des persön- lichen Momentes wendet sich der denkende Geist zunächst dem Organe der Seelsorge, nicht der Technik und Methode der Ausführung zu. Meist nur so weit lenken die Meister der Pastoraltheologie ihr Augenmerk den Amtshandlungen, ihrer Höhe und Bedeutung zu, als sie von da die Motive holten zu ihrem Bilde von der Amtsperson. Sie schlössen sich in diesem Verfahren an das Vorbild an, das die heiligen Schriften, vor allem die apostolischen Briefe vom Hirten entwerfen. Sie bemaßen den Schaden, den sittlich untaugliche Organe dem geistlichen Tempelbau zufügten: wenn das Werkzeug stumpf ist.

Wenn wir zum Schlüsse Rückschau auf das Vergangene halten, das Rückschau. Geleistete und Gewordene an dem Maßstabe der Amtsidee und dem Ideale der Persönlichkeit messen, um die Orientierung für die Zukunft zu gewinnen, so darf unsere Wissenschaft nicht die Beantwortung der ernsten Frage um- gehen: Wie läßt sich das Ideal der Seelsorge in allen ihren Teilen und Auf- gaben unter den veränderten Lebensverhältnissen, den Forderungen und zu- mal der sozialen Not der Zeit entsprechend verwirklichen, ohne daß sie die objektiven Gesetze und unabänderlichen Prinzipien schwächt? Was kann etwa an dem bisherigen Betriebe zurückgestellt, was mehr in den Vorder- grund oder Mittelpunkt des pastoralen Wirkens gestellt werden? Welch neue Aufgaben schafft die Gegenwart? Was hat die pastorale Theorie ihrerseits beizutragen, daß die Anschauungen über die Aufgaben der Neuzeit geklärt, die Grundsätze der Pastoration schärfer herausgestellt werden, so daß die Seelsorge selbst bei veränderten Zeitverhältnissen an den ewig gültigen Prinzipien festhält, und nicht dem individualistischen und subjektiven Zuge zu sehr folge? Diese und andere Aufgaben und Probleme treten, Lösung fordernd, an die Seelsorge der Gegenwart und sie werden es in der Zukunft in gesteigertem Maße tun an die pastorale Tätigkeit heran, aber sie fordern zugleich die Arbeit der Pastoral- theologie heraus. Hatte diese Wissenschaft bisher im Organismus der theologischen Lehrfächer einen schweren Stand; ringt sie immer noch nach genauerer Begriffsbestimmung, nach innerlich begründeter, systema- tischer Gliederung, nach Umgrenzung der ihr zufallenden Tätigkeiten, so wird sie um so energischer um der Pastoration selbst willen ihre Stellung festigen, ihre Wissenschaftsform begründen müssen, um ebenbürtig neben ihren Schwestern im Zyklus der theologischen Wissenschaften dazustehen.

Literatur.

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CHRISTLICH-PROTESTANTISCHE DOGMATIK.

Von Wilhelm Herrmann.

Einleitung. Die protestantische Dogmatik wird zu jeder Zeit be- dio Au/gabe. einflußt durch die Wandlungen der Denkweise, die sich in den Schicksalen der philosophischen Systeme und Richtungen darstellen. Aber sie hat doch ihre eigene von diesen Wandlungen unabhängige Geschichte. Das in der Reformation erreichte Verständnis der christlichen Religion zum Ausdruck zu bringen, ist die Tendenz dieser Bewegung. Sie ist mit der Überzeugung verbunden, daß diese Aufgabe unerschöpflich ist, weil das Christentum der Reformation nichts anderes sein will als die treue Er- fassung des geistigen Gutes, das in der Person Jesu Christi der Mensch- heit geschenkt ist. In dieser Gabe sieht der christliche Glaube den Sieg des persönlichen Lebens ruhen, das sich in der Menschheit eine ewige Zukunft bereitet. Wer keinen Grund hat, das zu glauben, kann sich für die protestantische Dogmatik interessieren, wie für andere große Be- wegungen der Kulturgeschichte; aber ihm selbst dient die Arbeit, die darin geleistet wird, nicht.

I. Die Geschichte. Jene Tendenz ist jedoch von Anfang an verdeckt Die Anfange, und vielfach gehemmt durch die in dem Namen Dogmatik angedeutete Auf- gabe. Das Wort Dogmatik fängt freilich erst am Ende des 17. Jahrhunderts an, sich einzubürgern. Die Vorstellung des Dogmas hat dagegen schon die ersten Versuche, das Christentum der Reformation darzustellen, beeinflußt. Was man in der Geschichte der christlichen Religion unter dem Dogma zu verstehen hat, ist nicht in erster Linie die von den kirchlichen Autoritäten getroffene Festsetzung. Denn damit wird nur die endgültige Formulie- rung dessen gewonnen, was schon vorher der Kirche in andern Formen als geoffenbarte Lehre mitgeteilt sein soll. Dieser Gedanke einer geoffen- barten Lehre ist das Wichtigste im Dogma. Natürlich verband sich damit die Vorstellung, daß der Mensch einer solchen Kundgebung Gottes zu gehorchen habe. Dieser Gehorsam hieß christlicher Glaube und galt als

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das wichtigste Werk, das der Mensch zu verrichten habe, um Gott wohl- gefällig und selig zu werden.

So die Offenbarung, den Glauben, das Heil sich vorzustellen, ist ein Hauptkennzeichen katholischen Christentums. Wenn nun auch in der Anfangszeit des Protestantismus das Wort Dogma noch keine große Rolle spielte und der Name Dogmatik noch nicht gebraucht wurde, so hat doch der Gedanke einer geoffenbarten Lehre, die Gehorsam oder Glauben ver- lange, schon die ersten Regungen einer evangelischen Theologie in seinem Bann gehalten. Und nichts steht noch gegenwärtig der herrschenden kirchlichen Frömmigkeit im Protestantismus so fest als die Vorstellung, daß Gott durch ein solches Mittel und unter dieser Bedingung die Menschen selig machen wolle. Daß das gerade der wichtigste Grundsatz des Katho- lizismus ist, kommt dieser Frömmigkeit in der Regel nicht zum Bewußt- sein, und wenn es g'eschieht, so meint man doch noch immer durch viele andere Dinge sich von der scharf bekämpften römischen Kirche zu unter- scheiden. Es ist den Regierungen nicht zu verdenken, wenn sie unter diesen Umständen in den beiden Gestaltungen des abendländischen Christentums wesentlich dieselbe Größe sehen, in der evangelischen Kirche dieselbe nur mit etwas weniger Nachdruck und in der Masse etwas ge- bildeter auftretende Frömmigkeit, die sich in ihrer römischen Richtung rücksichtslos gebärdet und sich politische Geltung zu erzwingen weiß. In der Reformation ist das Verhältnis ganz anders aufgefaßt. Man emp- fand den Gegensatz als eine Scheidung in der Religion selbst, nicht bloß als eine Differenz in einigen ihrer Mittel und Äußerungen.

Um so folgenreicher war es, daß nun doch sogleich in den ersten syste- matischen Darstellungen der christlichen Religion die Reformatoren selbst die geoflfenbarte Lehre zusammenfassen wollten, der man gehorchen müsse, um dadurch christlichen Glauben zu haben und ein Christ zu werden. Das gilt von den loci communes Melanchthons ebenso wie von der institutio religionis christianae Calvins. Luther selbst hat das Werk seines jugend- lichen Genossen fast auf dieselbe Stufe stellen wollen wie die Heilige Schrift, weil er deren wichtigsten Inhalt darin mit solcher Schärfe und Klarheit ausgedrückt fand wie nie zuvor. Das Buch zeigt auch eine erstaunliche Fähigkeit, Luthers Verständnis des Evangeliums in seinen einfachsten Grundzügen und in seiner ungeheuren praktischen Bedeutung zu erfassen. Die erste Auflage von 152 1 überrascht zunächst durch die kühne Abweisung der trinitarischen und christologischen vSpekulation. Die wirkliche Erkenntnis Gottes und Christi, in der der Glaube lebe, sei etwas ganz anderes. Nichts soll in der christlichen Lehre Platz finden, als was dem Menschen dazu helfen kann, seine Sünde zu erkennen, die Gnade Gottes zu erfassen und Gott in Wahrheit zu dienen. Bisher hatte in der Kirche vieles als docirina sacra gegolten, was schlechterdings nicht dazu beitragen konnte, einem Menschen ein freies Herz und ein ruhiges Gewissen zu geben. Das Verlangen nach einem solchen Heil der

I. Die Geschichte,

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Seele sollte nun endlich die Menschen daz.u brinj^en, die wirkliche Heils- lehre zu erkennen und zu verstehen. In der Heiligen Schrift lag sie, so lange verborgen, für die Suchenden bereit.

Melanchthon hat der Heiligen Schrift gegenüber offenbar nichts anderes empfunden als die Freude an ihrer Herrlichkeit, Das paulinische Evan- gelium, das Luther im wesentlichen wieder neu entdeckt und richtig ver- standen hatte, war diesen Männern wirklich ein Evangelium. Die Be- sorgnis lag ihnen gänzlich fern, daß jemals diese Verkündigung für einen Menschen den Charakter eines Gesetzes gewinnen könnte. Sie war an ein Bild der Heilsgeschichte geknüpft; aber ihnen war der Inhalt dieses Bildes ein zweifelloser Ausdruck des Wirklichen. Sie enthielt Gedanlcen, an denen sich viele ärgern mußten ; aber zu ihnen hatte darin der Gott geredet, der sie retten wollte. Für die Reformatoren war es daher nicht nur selbstverständlich, daß jeder, der ein Christ sein wolle, sich dieser Heilslehre als einem geheimnisvollen Worte Gottes zu unterwerfen habe, sondern sie waren auch gegen das Bedenken geschützt, daß jemals ein Mensch durch eine solche Zumutung vergewaltigt und zu einem leeren Gesetzeswerk verleitet werden könne. Sie selbst gehorchten in ihrem Glauben an dieses Evangelium der geistigen Macht, die sie zu freien Menschen machte. Nichts war daher ncitürlicher, als daß sie die Glaubens- forderung mit viel größerer Strenge geltend machten, als es bisher kirch- licher Brauch gewesen war. Der Glaube sollte nicht nur bedeuten, daß man nichts gegen diese Lehre sagen wolle, sondern daß man in ihr das Gewisseste finde, worauf man alle seine Lebenshoffnung setze.

Von einer systematischen Geschlossenheit ist an diesem ersten Ver- such einer protestantischen Dogmatik wenig zu bemerken. Die lutherische Theologie hat das auch bis in das ig. Jahrhundert hinein nicht als einen Mangel empfunden. Auch als man im 17. Jahrhundert anfing, sich des Namens System zu bedienen, blieb es doch im wesentlichen bei der ein- fachen Aneinanderreihung der dogmatischen Themata, für die Melanchthon und seine nächsten Nachfolger den passenderen Namen loci theologici gewählt hatten. In der reformierten Theologie freilich ist viel mehr mit dem Streben nach einem System Ernst gemacht. Hier hatte man eine fester umgrenzte Vorstellung von dem Endzweck, auf den die göttlichen Werke der Schöpfung und Erlösung gerichtet seien. Aber diese Frage der Systematik ist von geringer Bedeutung im Vergleich mit der anderen, wie sich die von Melanchthon begründete Art von Theologie weiter ent- wickelt hat. In dieser noch immer nicht abgeschlossenen Geschichte ent- falten sich die Folgen der Tatsache, daß in der Reformation eine in ihren Grundzügen katholische Theologie die Aufgabe übernehmen mußte, ein Christentum durch ungeheure Nöte zu geleiten, das neben dem katho- lischen eine neue Art des geistigen Lebens darstellte.

Melanchthons Dogmatik umfaßte alles, worin dieser neue T\t3us des Menschlichen sich ausgesprochen hatte. Als ein gesundes, in der Wirk-

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lichkeit der Geschichte wurzelndes Gewächs erwies sich dieses Christen- tum durch seine Pietät gegen die alte Kirche, Die Reformatoren redeten mit hoher Verehrung von den großen Theologen der Periode, die das Dogma erzeugt hatte. Aber das Christentum dieser Zeit blieb ihnen in seiner eigentümlichen Art ebenso verborgen wie dem abendländischen Mittelalter, Dagegen haben sie das abendländische Christentum in seinen besten Kräften sicher ergriffen, Sie haben ein Element dieses Christen- tums, das immer wieder hervorbrechende Verlangen, in der Besinnung auf Jesus Christus die Kraft des Gottvertrauens und den Frieden des Gewissens zu gewinnen, als den eigentlichen Lebenstrieb der Kirche erfaßt und haben an der kirchlichen Überlieferung alles, was irgendwie diesem Triebe anzugehören schien, als ein heilig-es Erbe ehren und vertreten wollen. Diese Pietät des kraftvoll Lebendigen findet sich bei Melanchthon ebenso wie bei Luther. Sie steht wie immer in Spannung mit der Selb- ständigkeit eines neuerwachten Lebens, die nicht anders kann, als sich von dem alten zu lösen. Das Christentum der Reformatoren wußte sich in dem, was ihm selbst das Wichtigste war, dankbar mit der bisherigen Kirche verbunden, in der Zuversicht zu Gott, die in der Erinnerung an Jesus Christus ihre Kraft gewinnt, also in der Tatsache seiner Person wurzelt. Aber es wurde eine neue Gestalt des persönlichen Lebens, weil es in diesem Mächtigwerden Gottes in der Seele das eine geistige Gut fand, um dessen willen alles verlassen werden muß, was nicht in ihm zusammenfließt. Die Kirche führte vieles mit sich, wodurch das Evan- gelium von dieser Herrschaft Gottes durch Jesus Christus verhüllt und gehemmt wurde. Indem sie das zäh verteidigte, schied sie sich vor den Augen der Reformatoren von dem, was das wahre Leben der Kirche ausmacht. Aber schon bevor das den äußeren Bruch herbeiführte, war das Christentum Luthers von dieser Kirche geschieden, weil es eine Ge- wißheit der Zuversicht zu Gott gewann, die aus der eigenen Erfahrung der Offenbarung Gottes in Christus erwuchs. Diese Zuversicht zu Gott nannte Luther den Glauben, der aus dem Menschen ein neues Wesen macht, das nun aus allen Ängsten herauskommen kann, weil es weiß, wie es frei und selig wird. Dieser Glaube bedurfte der Heiligen Schrift, weil sie die Tatsache vermittelte, durch deren Gewalt er selbst immer von neuem erzeugt wurde, und weil er in ihr dem wunderbar reichen Aus- druck des Lebens begegnete, das in ihm selbst seinen Anfang genommen hatte. Er bedurfte auch der Gemeinschaft mit Christen, die ebenfalls von der mit Christus gekommenen Befreiung zu zeugen wußten. Durch seine Dankbarkeit und seine Sehnsucht ist der Glaube mit solchen Erlösten verbunden. Aber einer kirchlichen Heilsanstalt bedurfte er von dem Moment an nicht mehr, wo er wußte, daß er das Heil in einer von ihm selbst ergriffenen Tatsache gefunden habe.

Für dieses Christentum der Reformation, das in Melanchthons loci kräftig leuchtet, paßt nicht eine Theologie, die den Glauben meistern

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will. Denn der Glaube, wie ihn die Reformatoren verstanden, ist ja selbst das durch Gottes Offenbarung geschaffene neue Leben, in dessen Regungen sich der Reichtum dieser Offenbarung entfaltet. Ihn meistern wollen, bedeutet eine Auflehnung gegen die Offenbarung Gottes, einen Versuch, ihr Wirken zu beschränken. Er verträgt nur eine Theologie, die ihm dient, indem sie darstellt, was in ihm lebt, seinen Grund und seine das menschliche Wesen erhöhende Kraft. Die wichtigste Lehre für eine wahr- haft christliche Kirche ist nach der Augustana Art. 20 die, welche den Glauben selbst, also seinen Grund und seine Kraft verständlich macht. Aber die Reformatoren selbst haben nun doch eine Theologie begründet, die zwar ihr Verständnis des Glaubens wahren wollte und auch an ein- zelnen Stellen herrlich aussprach, aber doch im ganzen nicht eine Theo- logie des Glaubens war, sondern eine Theologie des zeremonialgesetz- lichen Gehorsams. Sie war damit im wesentlichen katholisch und zog auch bald dieselbe Erleichterung der von ihr geforderten Unterwerfung herbei, die man in der katholischen Kirche benutzte, die möglichst aus- gedehnte Rationalisierung dessen, was der christliche Glaube glaubt.

Schon die Reformatoren haben in der Regel unter der Offenbarung '>'<■ orthodoxe geoffenbarte Lehre verstanden. Damit verließen sie aber den Weg des Glaubens. Denn der Glaube, der selbst das Erlebnis der Erlösung- sein soll, die ihres Grundes gewisse Zuversicht zu Gott, vergegenwärtigt sich die Offenbarung seines Gottes nicht als eine Lehre, der er sich unter- werfen soll, sondern als eine selbsterlebte Tatsache, die den Menschen bezwingt, indem sie ihm das zu ihm geredete jenseitige Gotteswort wird und so den Glauben in ihm schafft. Diese Erkenntnis des Glaubens ging zwar nie ganz verloren, aber die Art von Theologie, in die man ein- lenkte, hat ihr im ganzen entgegengewirkt. Der schon durch die Refor- matoren auf diese Bahn gestellte Protestantismus hat nun immer gemeint, sich dennoch von dem römischen Christentum scharf unterscheiden zu können, durch das Schriftprinzip seiner Theologie. Ohne Zweifel hat auch der Grundsatz, daß in den evangelischen Kirchen nichts als öffent- lich anerkannte Lehre gelten dürfe, was sich nicht durch seine Herkunft aus der Heiligen Schrift legitimieren könne, eine ungeheure geschichtliche Bedeutung gehabt und hat sie noch. Man kann sich auf jeden Fall nicht vorstellen, wie sich diese neue Gestalt des Christentums durch die Nöte ihrer Geschichte hätte hindurchschlagen sollen, wenn nicht die Bindung an das Schriftwort einen Schutz nach außen, einen festen Zusammen- schluß nach innen, und vor allem eine beständige Berührung mit dem gesichert hätte, was wirklich die Quelle ihrer Lebenskräfte war. Ein Protestantismus, aus dessen Struktur dieses Erbe seiner Anfangszeit ver- schwände, würde bald zerflattem. Aber die Art, wie schon die Reforma- toren dieses Schriftprinzip wirksam machten, bedeutete nun doch wieder einen damals vielleicht unvermeidlichen Anschluß an das katholische Christentum. Das neuentstandene Kirchenwesen konnte wohl nur dadurch

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die feste Gestalt gewinnen, deren damals die christliche Gesellschaft bedurfte. Zumal auf lutherischem Gebiete war schließlich die möglichst festgefügte theologische Lehre das einzige, was die notwendige Stabilität des kirchlichen Lebens verbürgte. Die Heilige Schrift wurde daher als eine Sammlung geoffenbarter Lehren angesehen, die in der Dogmatik für den kirchlichen Gebrauch geordnet werden sollten. Es wurde üblich, Offenbarung oder Wort Gottes und Heilige Schrift einander gleichzusetzen. Die Reformatoren waren darin vorangegangen, und die orthodoxe Theo- logie hat nichts weiter getan, als sorgfältig die Konsequenzen dieses Schrittes durchzuführen.

Man hat zwar oft darauf hingewiesen, daß die orthodoxe Lehre von der Heiligen Schrift, die vor der historischen Forschung des i g. Jahrhunderts zusammengebrochen ist, sich bei Luther noch nicht finde. Namentlich da ist dies üblich g-eworden, wo man nicht in dem Christentum der Refor- matoren, sondern in ihrer theologischen Lehre ein unvergängliches Ele- ment im Leben des Protestantismus sehen will. Aber die Anfänge jener Lehre, die heute niemand mehr vertreten mag, liegen doch schon bei Luther vor. Er teilt die katholische Auffassung, daß der christlichen Gemeinde eine geoffenbarte Lehre gegeben sei, an der festzuhalten eine Hauptbedingung ihres Christentums ausmache. Daß er und der Prote- stantismus nach ihm diesen Gegenstand des Glaubens allein in der Heiligen Schrift sicher gegeben sehen wollten, macht keinen wesentlichen Unter- schied vom Katholizismus aus. Denn ein Glaube, der überhaupt einen solchen Gegenstand hat, also sich auf eine irg"endwie überlieferte Lehre bezieht, ist katholischer Glaube. Er ist nicht ein neues selbständiges Leben, sondern ein Werk zeremonialgesetzlichen Gehorsams. Es gehört zu den Bedingungen der geschichtlichen Leistung Luthers, daß er hierin die geistigen Mittel, die ihm seine Erziehung gegeben hatte, bewahrte. Wenn aber der Glaube für seinen Bestand an eine geoflfenbarte Lehre gewiesen war, und diese Lehre in der Heiligen Schrift vorliegen sollte, so mußte angenommen werden, daß man in allen Teilen der Heiligen Schrift eine absolut einheitliche und unfehlbare Lehre finden konnte. Daß die protestantischen Dogmatiker des 17. Jahrhunderts bei der Durchführung dieses Gedankens auch absurde Folgerungen, die ihren modernen Nach- folgern unerträglich sind, mutig auf sich nahmen, gereicht ihnen zur Ehre. Handelte es sich doch darum, das zu sichern, was dem Glauben im Sinne der Reformatoren das Unentbehrlichste ist, den Grund seiner Gewißheit Nicht daß sie mit dem Verlangen danach rücksichtslos Ernst machte, ist an der orthodoxen Dog'matik zu tadeln, sondern daß sie ihn in einer falschen Richtung suchte. Diesen Fehler teilt sie aber mit den Reforma- toren, die die katholische Auffassung nicht ausgeschieden hatten, daß der christliche Glaube in einer geoflfenbarten Lehr-?» seinen letzten Halt finde.

Da nun diese Auffassung der eigentliche Kern des Dogmas ist, so war es auch sachgemäß, daß man die Arbeit, , die die Lehre der Heiligen

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Schrift genau definieren und in eine für die Bedürfnisse der kirchlichen Verkündigung passende Ordnung bringen sollte, schließlich Dogmatik nannte. Diese Wissenschaft, die nicht Tatsachen ermitteln und genau beschreiben, sondern überlieferte Lehren als Gesetze für das Denken in ihrem logischen Gehalt entwickeln wollte, soweit dadurch nicht etwa sie selbst gefährdet wurden, war eine F'ortsetzung der scholastischen Wissenschaft des Mittel- alters. Daß diese Art von W^issenschaft auf katholischem Gebiete fort- bestand, hatte dort nicht viel auf sich. Aber auf evangelischem Gebiete wächst sich diese Art von Theologie immer mehr zu einem Hemmnis des kirchlichen Tebens und zu einer Gefahr für die Wohlfahrt der Völker aus. Die Leistung der protestantischen Dogmatik des 17. Jahrhunderts ist freilich nicht gering zu achten. Sie hat die von den Reformatoren über- kommene theologische Lehre in vielen Punkten überaus gründlich durch- gearbeitet. Namentlich in den Lehren von der Heiligen Schrift, von der Person und dem priesterlichen Werke Christi ist die Sorgfalt bewunderns- wert, mit der hier allen Verzweigungen der einmal festgelegten Theorie nachgegangen wurde. Alles was als Inhalt des orthodoxen Gedankens nachgewiesen war, wurde durch eine möglichst große Ansammlung von Schriftstellen als geoffenbarte Wahrheit erwiesen. Freilich war dabei die Bemühung um den wirklichen Sinn dieser Schriftworte gering; man war zufrieden, wenn irgend ein Zug darin an den Gedanken erinnerte, den man sichern wollte. Ohne Zweifel ging auch, wenn man sich der Kon- sequenzen der reformatorischen Lehre bemächtigte, das Verständnis für das an der Wurzel der Lehre liegende religiöse Alotiv nicht selten ver- loren. Beides ist besonders an der Lehre von der Person Christi zu be- obachten, deren künstliches Netzwerk wenig von den Gedanken des Neuen Testaments festgehalten hat. Auch das Motiv, aus dem heraus Luther eine Weiterbildung des altkirchlichen Dogmas versuchte, hat sie gründlich in Vergessenheit gebracht. Aber trotz dieser Mängel hat die orthodoxe Theologie das damals für den Protestantismus Notwendige ge- leistet. Die protestantische Form des Christentums kann nur da bestehen, wo Christen sich allein durch eine geistige Macht geeinigt und regiert wissen. Das Ideal ist, daß das Bewußtsein der gleichen Erlösung durch Christus oder der Glaube die Christen vereinigt. Das kann von diesem Glauben nur erwartet werden, wenn er selbst zur Klarheit über sich selbst entwickelt und zum gemeinsamen geistigen Besitz aller geworden ist. Frei- lich wird das nie vollkommen unter Christen erreicht. Jeder hat sein Leben lang daran zu lernen, was die Erlösung durch Christus für ihn bedeutet, und jeder, der sie überhaupt erlebt, erlebt sie in besonderer Weise. Daraus ergeben sich notwendig Unterschiede in der Art und im Ausdruck des Glaubens, so daß Christen in keinem Moment durch diesen geistigen Besitz völlig geeint sein können. Deshalb bleibt für die Christen ihre Gemeinschaft allezeit eine Aufgabe, aber in der Richtung auf das Ziel wissen sie sich erhalten durch die Macht der Person Christi über ihr

5go Wilhelm Herrmann: Christlich-protestantische Dogmatik.

Herz. Ihre Gemeinschaft ist ihnen nicht fertig gegeben, aber daß sie im Werden und in Gottes Wollen und Wirken begründet ist, wird jedem einzelnen von ihnen dadurch verbürgt, daß Christus in ihrer Mitte ver- kündigt wird durch Worte und Werke. Steht es so mit Christen, so können sie mit Recht sagen, daß sie nicht durch irgend eine sichtbare Gewalt regiert werden, sondern durch die geistige Macht der Person Jesu. Menschen, die das Leben in einer so geleiteten Gemeinschaft für das kostbarste irdische Gut halten, sind wirklich evangelische Christen. Der ältere Protestantismus hat nun diesen Charakter des evangelischen Christen- tums nie gänzlich eingebüßt, sondern hat ihn im Geg"ensatz zu der römi- schen Art kräftig" betont. Er hat wenigstens das ,,}ion vi sed verbo^'' nie verleugnen wollen. Aber daß er doch noch selbst von der römischen Art beeinflußt war, zeigte sich darin, daß er es nicht wagen konnte, der bloßen Verkündigung von der in der Person Jesu erschienenen rettenden Macht seine Zukunft anzuvertrauen. Daß hierin wirklich das liege, was die Menschen innerlich umwandelt und die Geister wirksam einigt, ist zwar immer wieder gesagt, aber in der eigenen Haltung nicht bewährt. Die Bedingungen, ohne die eine solche Haltung nicht durchzuführen ist, mußten und müssen erst in der weitem Geschichte des Protestantismus gewonnen werden. Damals regten sich Anfänge davon bei einigen der Größten, wie vor allen schon bei Luther selbst. Die Masse der evange- lischen Christen wußte nichts davon. Für diese war die geistige Macht, unter deren Herrschaft sie stehen wollten, das in der Heiligen Schrift mit- geteilte Wort Gottes. Dessen wichtigsten Inhalt aber meinte man in der orthodoxen Dogmatik zu besitzen. Trotz ihrer inneren Widersprüche hat diese Dogmatik für viele Generationen die geistige Macht repräsentiert, der unterworfen zu sein zum Wesen des evangelischen Christentums gehört. Eine ähnliche allgemeine Einigung über diese Macht hat der Protestantismus nicht wieder erlebt. Die Unterschiede der lutherischen und reformierten Konfession werden geringfügig", sobald man sie neben die Tatsache hält, daß man auf beiden Seiten der dogmatischen Lehre, die man der Heiligen Schrift entnommen zu haben meinte, eine solche Bedeutung" beimaß. Die Dog"matik aber, die sich ein solches Ansehen gewann und in dem Leben der evangelischen Kirchen im ganzen noch immer besitzt, ist ohne Zweifel als geschichtlich wirksame Macht allen späteren Versuchen einer protestantischen Dogmatik, die bisher aufgetreten sind, überlegen.

Daß sie gegenwärtig in Auflösung begriffen ist, läßt sich nicht ver- kennen. Es geht ihr jetzt ähnlich wie der katholischen Kirchenlehre in der Reformationszeit. Gerade bei denen, die mit der Lehre, zu der sie sich bekennen, vollen Ernst machen wollen, verliert sie an Überzeugungs- kraft. Das liegt nicht an den Widersprüchen, die sie einschließt. In dieser Beziehung" verträgt die lebendige Religion sehr viel, weil ihr nie verborgen bleiben kann, wie sie selbst den Menschen, in dem sie erwacht,

I. Die Geschichte. i^qi

in ein widerspruchsvolles Denken versetzt. Die Ursache des Verfalls ist in dem Widerspruch zu suchen, den die orthodoxe Dogmatik im ganzen auf sich nahm. Sie will das Christentum der Reformation vertreten, aber in Wahrheit bemüht sie sich, die Theologie der Reformatoren, besonders Melanchthons, zu verfechten. An ihrem Untergang arbeiten daher vor allem die Gedanken des neuen persönlichen Lebens, das in der Reforma- tion sich in die Welt gewagt hatte. Diese Gedanken erweisen sich als unverwüstliche Kräfte, weil sie wahr sind. Die orthodoxe Dogmatik da- gegen verdankt ihre Macht über die Gemüter dem Nutzen, den sie der aus der Reformation entsprungenen kirchlichen Gemeinschaft leistete. Sie war lange Zeit die einzig mögliche Form, in der dem kirchlichen Be- dürfnis genügt werden konnte, nach der Zertrümmerung der Hierarchie und der Zurückführung des Kultus auf die einfachsten Formen wenigstens durch eine feste Schulung der Denkweise den Bestand der Gemeinschaft zu sichern. Nun erwuchs aber allmählich in den protestantischen Völkern eine eigentümliche, von der katholischen tief verschiedene Sittlichkeit und Kultur. Als die notwendige Folge dieser Einigung durch eine eigentüm- liche Denkweise und Sitte stellte sich bald heraus, daß der Wert jenes Lehrzwanges der alten Dogmatik zu sinken begann.

Der erste große Abfall von der orthodoxen Denkweise, der sich in Die rationiisti-

. . . sehe Dogmatik.

Deutschland mi i8. Jahrhundert vollzog, war kemeswegs zugleich ein völliger Abfall von dem Christentum der Reformation. Wie hoch man auch die Verwüstung der Religion durch den Rationalismus einschätzen mag, das kann man doch nicht verkennen, daß in ihm eine Frömmigkeit lebte, die sich in einfachen, kräftigen Gedanken und in einer ernsten Lebensführung aussprach. In diesen beiden Äußerungen aber trug die Frömmigkeit des Rationalismus das geistige Gepräge der Reformation. Daß theologische Lehren, von denen man nicht überzeugt wurde, für das Leben der Religion eine Last waren, daß sie auf jeden P'all keinen W^ert hatten neben den starken Überzeugungen des Gottvertrauens und der Furcht vor dem Richter, war eine Erkenntnis, in der eine Saat der Refor- mation zu keimen begann. Am stärksten empfanden die Notwendigkeit, jene Lehren abzuwerfen, die Theologen, die das komplizierte Gefüge der Lehre wenigstens verstandesmäßig erfaßten. Aber die Dogmatik, die der Rationalismus selbst auf diese Weise gewann, war doch nichts anderes als eine bis auf das in der kirchlichen Masse Lebendige zurückgeschrittene Orthodoxie. Die rationalistische Dogmatik behielt nicht nur die Form der altprotestantischen bei, sondern auch der Inhalt blieb in den Grund- zügen derselbe. Es blieb vor allem der Gedanke, daß die christliche Religion von Lehren lebe, die innerlich angeeignet werden müßten. Der Rationalismus setzte freilich voraus, daß die Lehren, die er als das wahr- haft Mächtige im Christentum ansah, nicht als Gaben einer besonderen Offenbarung aus der Geschichte stammten. Sie könnten von jedem als freie Erzeugnisse der die Wahrheit suchenden Vernunft verstanden werden.

5Q2 WiLHELii Herrmann: Christlich-protestantische Dogmatik.

Aber sie waren doch tatsächlich der Rest der überUeferten Lehre, der sich den Gemütern so fest eingeprägt hatte, daß er über jede Kritik er- haben schien. Es war freiUch ein ungeheurer Irrtum, der sehr bald den Spott herausforderte, daß der Gedanke einer väterlichen Vorsehung Gottes aus der Erkenntnis des nachweisbar Wirklichen gewonnen werden könne. Dem Tieferblickenden mußte es im Gegenteil höchst wunderbar vor- kommen, daß Menschen das im Ernst für wahr halten könnten.

Die orthodoxe Dogmatik hatte nie versucht, die religiöse Würdigung der Person und des Werkes Christi verständlich zu machen. Die Gedanken, in denen das sich ausgesprochen hatte, waren einfach als geoffenbarte Lehren mitgeteilt. Die rationalistische Dogmatik rechnete diesen Kern der christlichen Frömmigkeit zu dem Überflüssigen. Jesus wurde als der große Lehrer und als Vorbild heiligen Lebens anerkannt. Daß seine Person dem Menschen, dem ihre Herrlichkeit aufgeht, die ihn erlösende Offenbarung' Gottes werden könne, wurde in dieser Dogmatik nicht mehr gewürdigt. Das Verständnis dafür verlor sich um so mehr, als man bei allem Reden von dem Vorbild die sittliche Forderung, wie Jesus sie ver- standen hatte, nur noch sehr undeutlich hörte. War die Orthodoxie so weit in eine sittlich leere Gesetzlichkeit geraten, daß sogar die schlimmste Blüte der katholischen Moral, der Probabilismus, in ihrer Ethik einen Platz finden konnte, so stand es mit dem Rationalismus in dieser Be- ziehung nicht viel besser. Man verstand in der Regel das sittliche Gesetz als eine Anweisung zu einem vollkommenen und glücklichen Leben und gab damit überhaupt den Gedanken eines unbedingten Gesetzes preis. Deshalb hatte man keine sichere Empfindung mehr für die Schärfe, mit der die sittliche Forderung das Herz des Sünders trifft. Wenn man auch fortfuhr, von Vergebung zu reden, so verstand man doch nicht mehr, daß für den Sünder die Vergebung- ein Wunder ist.

Lessing und Herder haben g-esehen, daß die christliche Lehre im Rationalismus verarmen mußte, weil sie von der Geschichte gelöst war, aus deren Anschauung ihre Gedanken entspringen. Der größte Ratio- nalist des i8. Jahrhunderts, Kant, hat das Werk der Reformation in einem wichtigen Punkte ergänzt. Hatten die Reformatoren das Wesen des Glaubens neu entdeckt und darin den wichtigsten Gedanken der christlichen Gemeinde (vergl. Conf. Aug. Art. 20) nachgewiesen, so hat Kant für das mit diesem Glauben innerlich verbundene sittliche Wollen zuerst die wissenschaftlich klare Formel gefunden. Von jeher hatte jeder, der zu dem Verständnis des Gebots der Liebe befreit war, in der Wahr- heit des Gedankens gelebt, daß das sittliche Wollen nur seinem eigenen Gesetz gehorchen kann und ein Wollen ist, das Ordnung unter Menschen oder Gemeinschaft schafft. Kant hat zuerst diese Wahrheit wissenschaft- lich erfaßt und nachgewiesen. Die Verkündigung der Reformatoren von dem Glauben, der seiner Sache gewiß ist, läßt die Orthodoxie nicht zur Ruhe kommen, die das Heil in einem Glauben von überlieferten Lehren

T. Die (ieschichte.

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sucht. Etwas Ahnliches hat Kant bewirkt. Seine Erkenntnis des Sitt- lichen macht denen das Eeben schwer, die auch im Protestantismus unter christlicher Sittlichkeit innere Unselbständigkeit verstehen wollen. Viel mächtiger als seine rationalistische Religionsphilosophie hat jene Ent- deckung Kants in die Geschichte des Protestantismus eingegriffen. Auch die Dogmatik hat dadurch neue Impulse empfangen, die freilich erst nach langer Zeit sich bemerklich gemacht haben.

Einer der größten Schüler Kants hat zunächst die protestantische •'^'^hieiermacher»

TA -1 j T-» Religionsbegriff.

Dogmatik m einer andern Richtung über ein mächtiges Hemmnis ihres eigentümlichen Lebenstriebes hinausgebracht. Schleiermacher gilt mit Recht als der größte Theolog, der dem evangelischen Christentum seit der Reformation geschenkt ist. Aber er ist kein neuer Anfänger wie Luther. Das Neue, das er gebracht hat, ordnet sich dem Werke Luthers ein. Er ist der Befreier einer zuerst in dem Reformator hervorgebrochenen Tendenz. Diese Befreiungstat ist besonders der Aufgabe, die die Dog- matik für das evangelische Christentum zu erfüllen hat, zugute gekommen.

Die Bedeutung Schleier m achers für die protestantische Dogmatik tritt schon darin zutage, daß er sich gleichmäßig über die beiden Gruppen erhebt, die bisher auf diesem Gebiet sich gegenüberstanden. Er „hat mit den Orthodoxen und Rationalisten sich gleich feindselig berührt. Er hat die Wehklagen derer, welche die Mauern des alten Zion wieder empor- schreien möchten, barbarisch gefunden und sich lustig gemacht über das vollendete Spielzeug, welches die Weisen, die vernünftigen und auf- geklärten Kirchenmänner, als die natürliche Religion empföhlen" (F. Katten- busch, Von Schleiermacher zu Ritschi, 3. Auti., Gießen, 1903). Das weist darauf hin, daß er die Vorstellung, in der diese beiden Gegner einig waren, überwunden hatte. Für ihn ist die Grundform der Religion oder des Glaubens nicht mehr das willige Annehmen überlieferter Lehren. Seine eigentümliche Leistung ist aber auch nicht, daß er die Religion als ein besonderes Gebiet des geistigen Lebens, das sich vom Erkennen und Wollen abgrenze, ermittelte. So hört man es oft, und Schleiermacher selbst hat das durch die Darstellung in der Glaubenslehre veranlaßt. Trotzdem wird dadurch seine Auffassung sehr mangelhaft bezeichnet. Es sieht dann so aus, als wäre die Religion eine dritte, dem Erkennen und Wollen, also der Wissenschaft und der Sittlichkeit gleichwertige Betäti- gung des Bewußtseins, bei der es sich um ein eigentümliches Erfassen des Transzendenten im Gefühl handelte. Damit wäre man aber bei einem gänzlichen Mißverständnis der Absicht Schleiermachers angelangt. Bei einer solchen Auffassung würde der Gegensatz gegen die Orthodoxie und gegen den Rationalismus nicht erreicht, auf den es Schleiermacher an- kam. Das Wiederaufleben beider Richtungen ist dann unvermeidlich, wie es denn tatsächlich unter scheinbarem Anschluß an Schleiermacher statt- gefunden hat.

Handelt es sich in der Wissenschaft und der Sittlichkeit um das

L)lK HULILK UbK GhoENWAKr. I. 4. }{J

^QA Wilhelm Hkrrmanx : Christlich-protestantische Dogmatik.

volle Bewußtwerden des allgemein Gültigen oder Nachweisbaren, so handelt es sich in der Religion um das volle Bewußtwerden des Individuellen oder nur Erlebbaren. Wer innerlich so lebendig wird, daß er eine An- schauung von dem Sinn seiner eigenen Existenz gewinnt, hat damit Reli- gion. Dieser Gedanke Schleiermachers klingt zunächst sehr fremdartig, wenn man von der Gewohnheit herkommt, unter Religion das Annehmen- wollen irgend einer Verkündigung von Gott zu verstehen. Aber zunächst läßt sich doch das heraushören, daß Schleiermacher sagen will, was Luther unermüdlich wiederholt hat: es handelt sich in der Religion nicht um irgendwelche zu ewigen Wahrheiten befestigte Allgemeinheiten, sondern es handelt sich um dich selbst; du sollst aus dem Scheinleben heraus und zu wahrhaftigem Leben kommen. Aber allerdings reicht der Gedanke Schleiermachers weiter. Er meint nicht nur, daß wir alles, was zur Religion gehört, erst damit religiös besitzen, daß wir es auf uns selbst anwenden. Alles, was zur Religion gehört, soll vielmehr eben darin erst gegeben sein, daß ein geistig lebendiges Wesen zu seinem vollen Leben erwacht. Der Auffassung Luthers entspricht der in der protestantischen Theologie herrschende Ausdruck, daß die Lehren oder Gedanken der Religion im Glauben angeeignet werden müssen. Nach der Auffassung Schleiermachers ist zu sagen, daß diese Gedanken in der Religion oder im Glauben erst entstehen können. Wir suchen in ihnen das zu gestalten, was der innere Vorgang der Religion enthält. Damit, daß sie so ver- standen werden, erfahren nun freilich die religiösen Grundgedanken eine tiefgreifende Umwandlung. Der Glaube ist dann nicht eine vom Menschen aufgebrachte Anstrengung, etwas seiner eigenen Existenz Fremdes sich anzueignen. Er bedeutet vielmehr die zu ihrer Wahrheit kommende Exi- stenz des Menschen selbst. Die Offenbarung bedeutet nicht, daß dem Menschen etwas ihm innerlich Fremdes gesagt wird, damit er ihm folge. Die Offenbarung, durch die die Religion begründet wird, empfängt der Mensch vielmehr damit, daß sich ihm die Tiefen seines eignen Daseins öffnen. Ohne Zweifel liegt aber auch diese Deutung der Offenbarung und des Glaubens in der Richtung des evangelischen Christentums. Denn das Christentum Luthers scheidet sich dadurch am schärfsten von dem katholischen, daß für ihn der Glaube nicht ein Werk ist, das der Mensch nur als das seine erleben kann, sondern das ihm geschenkte Leben, in dem seine Seele frei wird; und daß für ihn in diesem Zusammenhang die Offenbarung nicht eine Mitteilung ist, die Anerkennung fordert, sondern die das neue Leben des Glaubens schaffende Macht. Damit ist aber auch gesagt, daß der Mensch nur deshalb Glauben hat, weil er in seiner eigenen Existenz dem begegnet, dessen Offenbarwerden bewirkt, daß er glaubt. Ist nun die Religion immer das volle Lebendigwerden eines Menschen, so gibt es nicht eine allgemeine in allen gleiche Religion, sondern es gibt nur Individuen der Religion. Mit dieser Erkenntnis erhebt sich Schleiermacher über die Fläche, auf der die Orthodoxie und der Ratio-

T. Die Geschichte.

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nalismus nebeneinander stehen. Für sie bedeutet die Religion ein All- gemeingültiges, dem sich die Jünzelnen zu untenverfen haben. Die Reli- gion läßt sich daher hier den andern Ausdnicksformen des Allgemein- gültigen anreihen, der Wissenschaft und der Sittlichkeit. Im Rationalismus kann das ohne Einschränkung geschehen, auf orthodoxem Boden wird es dadurch eingeschränkt, daß der religiöse Glaube sich den an ihn gerich- teten Forderungen der Offenbarung auch dann unterwerfen soll, wenn er ihre Wahrheit nicht erkennt. Daß nun dort sowohl wie hier die Würde der Religion verloren geht, wird jetzt allgemein eingesehen. Das Ver- weilen bei allgemeinverständlichen W^ahrheiten ist ebensowenig Religion, wie die Zustimmung zu vSätzen, deren Wahrheit man nicht fassen kann. Trotzdem hat sich jener bahnbrechende Gedanke Schleiermachers, ohne den man weder die Orthodoxie noch den Rationalismus los wird, bei uns nicht durchsetzen können. Die Unterweisung in der christlichen Religion ist in der protestantischen Dogmatik immer wieder darauf verfallen, einen allgemeingültigen Ausdruck der Gedanken der Religion zu suchen, als ob es in den Wind gesprochen wäre, daß die Religion in allen ihren Äußerungen individuelles Leben hat. Der Grund für dieses Unwirksam- bleiben seiner wichtigsten Erkenntnis liegt in Schleiermachers eigenem Verhalten.

Wie tief er in das Feben der Religion geblickt hat, zeigt sich in der berühmten Definition ihres Wesens: „daß wir uns unser selbst als schlecht- hin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind". Solange der Mensch nur Mächte kennt, die er bekän\pfen, oder denen er entrinnen kann, hat er nicht Religion. Er hat sie nur, wenn sie in seinem Innersten herrscht. Das tut sie aber nur dann, wenn er es erlebt, daß er sich gerade deshalb als ein selbständiges Wesen auf- richtet, weil er in dem Bewußtsein der reinen Abhängigkeit von der in dem Wirklichen waltenden Macht sicher ruht. Das Gebetswort Augu- stins: „wir sind innerlich ruhelos, bis wir in dir ruhen" wird an Klarheit und Gehalt weit durch den Gedanken Schleiermachers überboten. Nur in dem Bewußtsein jener Abhängigkeit kann der Mensch dessen inne werden, daß in ihm alle Kräfte des Wirklichen zur Erzeugung eines indi- viduell Lebendigen zusammengehen. Also ohne den Innern Vorgang, in dem Schleiermacher das Wesen der Religion entdeckt, hat der Mensch, der etwas für sich selbst oder lebendig sein will, nicht nur keine Ruhe, sondern auch nicht die Kraft, sich in der unermeßlichen Welt als wahr- haft lebendig zu behaupten.

Nun haben freilich andere, von Hegel beeinflußte Theologen, wie A.Biedermann und O. Pfleiderer, gemeint, die Formel Schleiermachers so ergänzen zu müssen , daß in der Religion das Abhängigkeits- und FVeiheitsgefühl miteinander verknüpft seien. Ebenso urteilt J. Kaftan, die Formel sei zu eng, denn in der Religion walte nicht nur ein Bewußt- sein von dem Woher, sondern auch von dem Wohin des Menschen, der

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= q5 Wilhklm Hkkrmanx : Christlich-protestantische Dogmatili.

Fromme wisse sich mit seinem Lebensziel in Gott g"eborg"en. Diese Ein- würfe weisen allerdings auf einen Fehler bei Schleiermacher. Nur das ist nicht richtig", daß er von dem, was man zu seiner Ergänzung geltend macht, nichts gewußt haben soll, in den Reden über die Religion kommt es reichlich zum Ausdruck. Mit Recht sagt F. Kattenbusch im Hin- blick auf eine solche Kritik: „Wir haben in seinem Sinne zu antworten, die Religion sei Seligkeit, es sei unbegreiflich, wie jemand das schlecht- hinige Abhängigkeitsg-efühl anders auffassen könne. Schleiermacher glaubt gerade den beglückenden Charakter der Religion hervortreten zu lassen, indem er sie in seiner Weise definiert." „In diesem Gefühl ist für den Menschen alles beglückend, innerlich befreiend, weil vergeistigt. In ihm weiß er sich allen brutalen Mächten des Weltlebens entzogen, er ahnt und spürt überall die ewigen Harmonieen." So dürfen wir Schleiermacher ver- teidigen. Aber es ist doch auf der andern Seite nicht zu leugnen, daß in seiner Glaubenslehre dieser Gehalt der Formel, da, wo sie aufgestellt wird, nicht zur Entfaltung kommt. Und das ist nun überhaupt der ver- hängnisvolle Fehler bei Schleiermacher, daß er anfänglich viel zu wenig bei seiner Entdeckung verweilt hat. Er scheint sich ihrer als eines glück- lichen Einfalls zu freuen. Er genoß, wie er nach der Vollendung der Reden in einem Brief voll tiefer Erregung aussprach, das Glück des Ent- deckers, der sich zu Großem berufen weiß. Aber die Pflicht, die ihm seine Entdeckung auferlegte, hat er mangelhaft erfüllt. Die Bedingungen und den Vollzug des Bewußtseins reiner Abhängigkeit im Menschen hat er nicht erwogen und entwickelt. Als er später in der Dialektik und in der Glaubenslehre darauf einging, war die ursprüngliche Frische der Konzeption bereits vergangen, so daß er nun die Religion aus der Gestaltung des individuellen Lebens herausnehmen und einem allgemeinen Element des Bewußtseins zuweisen konnte.

Wie sehr er versäumt hatte, die Bedingungen für das Bewußtsein reiner Abhängigkeit im Menschen zu erwägen, vergegenwärtigen gerade die obigen Einwürfe gegen seine Formel. Sie sind nur möglich, wenn man nicht bedenkt, daß es sich um ein Erlebnis reiner Abhängigkeit, also um etwas handelt, was sich in dem Innern Leben des Menschen vollziehen soll. Es ist nicht die Rede von einer Gefühlserregung, die etwa den Ge- danken an die gänzliche Abhängigkeit unserer Existenz von den Schicksals- mächten begleiten möchte. Eine solche Erregung hat Schleiermacher nicht als Religion im Auge gehabt. Nur das bewußte Erlebnis reiner Ab- hängigkeit wollte er so nennen. Das aber kann ohne Zweifel nur statt- finden in dem Bewußtsein freier Unterwerfung. Die nicht so bedingte Erfahrung von Abhängigkeit könnte immer nur den Charakter einer Ver- gewaltigung haben, gegen die der Mensch, der ihr äußerlich unterliegt, im stillen sich auflehnt. Auf einen solchen Vorgang köimte man den Ausdruck „schlechthinige Abhängigkeit" nicht anwenden, und mit Religion hätte das Ganze nichts zu schaffen. Das Erlebnis reiner Abhängigkeit ist

I. Dir Geschichtr.

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nur in clor freien Unterwerfung des Freien m(")glich. Die Einwürfe gegen Schleiermachers Formel, die Versuche, sie durch den Hinweis auf das in der Religion waltende Freiheitsgefühl /u ergänzen, erklären sich nur, wenn man übersah, daß das Abhängigkeitsgefühl, an das Schleiermacher denkt, notwendig in jener Weise bedingt ist. Aber er selbst hat das dadurch veranlaßt, daß er der Tatsache keine Aufmerksamkeit schenkte, wie das Wirklichwerden der Religion, das Vernehmen der Offenbarung an das Erwachen der sittlichen Erkenntnis gebunden ist, in der dem Menschen das Bewußtsein seiner FVeiheit aufgeht, ohne die er also der freien Unter- werfung und deshalb des Bewußtseins reiner Abhängigkeit nicht fähig wäre.

Schon diese Unterlassung hat die durch Schleiermacher beeinflußte Theologie des ig. Jahrhunderts schwer geschädigt. Infolgedessen ist hier das Verständnis für die Zusammengehörigkeit von religiösem Eeben und sittlicher Erkenntnis nicht recht aufgekommen. Man gefiel sich im Gegen- teil in der Betonung der Selbständigkeit der Religion, die Schleiermacher entdeckt und gesichert habe. Daß das Bewußtsein der sittlichen FVeiheit ein Element aller wahrhaftigen Religion sei, ließ man sich selten einfallen. Man redete wohl viel von der „ethischen Vermittlung" der religiösen Re- gungen, aber daß die reine vSelbständigkeit der leitende Gedanke aller wirklichen Sittlichkeit ist, und daß diese Erkenntnis jedes ernste religiöse Erlebnis durchdringt, wag^e man sich nicht einzugestehen. In dieser Trü- bung des sittlichen Verständnisses suchten dann Theologen wie J. Müller und Luthardt den Gedanken der Willensfreiheit in seiner Anwendung auf den Menschen um der Religion willen einzuschränken. Es kam aber vielmehr darauf an, einzusehen, daß erstens dieser Gedanke keine Ein- schränkung verträgt, und daß zweitens nur da, wo der Mensch dabei bleibt, sich als frei anzusehen und aus sich heraus leben zu wollen, das Erlebnis der Religion sich vollziehen kann, eben weil es ein Bewußtsein reiner Abhängigkeit ist. In der Behandlung des FVeiheitsproblems ist die protestantische Dogmatik des ig. Jahrhunderts .Scholastik geblieben, ein Versuch, die einmal feststehenden Gedanken der Abhängigkeit von der Allmacht Gottes und der menschlichen FVeiheit so lange abzuschwächen, bis sie sich zu vertragen schienen. Hätte man dagegen im Anschluß an den von Schleiermacher gemachten Anfang gefragt, woraus diese Gedanken in Menschen entstehen, so hätte man bemerken können, daß beide Ge- danken Vorgänge im innern Leben bezeichnen, von denen der eine durch den andern vermittelt ist.

Noch verhängnisvoller aber ist für die protestantische Dogmatik der mit jenem ersten verknüpfte zweite Fehler Schleiermachers geworden, daß er der FVage überhaupt nicht nachgegangen ist, ob nicht das Bewußtsein reiner Abhängigkeit in dem innern Leben von Menschen an bestimmten von ihnen erlebten Tatsachen entstehe. Er hat sich damit begnügt, jenes Bewußtsein als ein Faktum anzuschauen. In den Reden über die Religion

egg Wilhelm Herrman.v : Christlich-protestantische Dogmatik.

fehlt der Hinweis darauf nicht, daß der Mensch dann ReHgion habe, wenn er in allem Wirklichen eine Macht walten sieht, die das selbständige Leben des Geistes schafft oder Liebe ist. Die Kraft dieser Anschauung macht ihm das Alltägliche wundervoll, läßt ihm aus der verworrenen Vielheit der Dinge die Harmonie des Universums aufgehen und macht ihn selbst frei und glücklich. Der Weg, der den Menschen allein dazu führen kann, ist auch wenigstens angedeutet. Aber im ganzen begnügt sich Schleier- macher damit, die Fülle des religiösen Erlebnisses zu schildern, ohne zu zeigen, wie es ihm geschenkt wird. Er hat sich selbst darüber keine Klarheit geschaffen. Diese Unterlassung hat sich aber an ihm und seinen Nachfolgern schwer gerächt. Denn die Frage, wie wir diese Anschauung gewinnen, meldet sich unabweisbar. Wenn wir sie uns nicht in aufrich- tiger Besinnung auf unsere Erlebnisse zu beantworten suchen, so kommt der Moment, wo wir auf Verteidigung gegen den Zweifel sinnen, daß die beglückenden Gedanken der Religion auf Einbildung beruhen oder aus unsern Wünschen erwachsen sein möchten. Das ist auch bei Schleier- macher zu bemerken. Indem er die Erlebnisse, an denen die religiöse Anschauung tatsächlich entsteht, nicht beachtet, will er diese Anschauung dadurch vor dem Verdacht der Willkür schützen, daß er sie in ihrer Notwendigkeit zu begreifen sucht. Dazu dient ihm der Ausdruck „Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit". Dieser Ausdruck, in dem vollen Sinne freier und freudiger Hingabe genommen, konnte auf der einen Seite wohl dazu dienen, den wesentlichen Inhalt des Vorgangs der Religion in der Seele hervorzuheben; auf der andern Seite bildete er in seiner abstrakten Fassung eine gefährliche Versuchung, die Religion auf einen ganz andern Boden zu versetzen, als sie in Wahrheit steht. Dieser Versuchung ist wSchleiermacher erlegen, weil in ihm das trügerische apologetische Ver- langen erwachsen war, die religiöse Anschauung als notwendig zu erweisen. Daß die Religion das Erwachen des Menschen zu dem Bewußtsein von dem tatsächlichen Gehalt seiner individuellen Existenz sei, hatte Schleiermacher erfaßt. Er gehört damit in die erste Reihe der religiösen Denker aller Zeiten. Wenn nun aber die Religion diese Klärung und Vertiefung des individuellen Lebens bedeutet, so muß sie da aufgesucht werden, wo überhaupt das menschliche Individuum zu finden ist. Dieses ist wirklich in seinen von ihm selbst durchlebten und innerlich ver- arbeiteten Beziehungen zur menschlichen Gemeinschaft oder in der Ge- schichte. Denn die Geschichte ist nicht die in dem Kausalzusammen- hang geordnete ziellose Menge von Ereignissen, sondern das immer neue Sicherheben individuellen Lebens aus der Gemeinschaft, zu der wir durch die Wahrheit und Macht der sittlichen Gedanken zusammengeführt wer- den. Aus dem geschichtlichen Leben oder aus der Gemeinschaft geht der einzelne Mensch hervor. Aber er gehört ihr erst dadurch wirklich an als ein lebendiges Glied der Menschheit, daß er ihr etwas Eigentüm- liches zuführt und daß er sie in ihren gemeinsamen Zwecken fördert. In-

I. Die Geschichte.

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dem pr dieso Zwecke /.u seinen eigenen macht, \ollbringt er das zweite, also durch sittHches Wollen. Das erste aber vollbringt er, indem er selbst in der Stille innerlich reich und glücklich wird. Es geschieht das, wenn wir die Wirklichkeit, in der wir stehen, nicht bloß tierisch erleiden und genießen, sondern sie mit der immer neuen Frage durchleben, wie wir dadurch in unserm Drange nach Selbständigkeit gespeist und gefördert werden. In dem Moment, wo die Masse der Ereignisse uns zu der Oifen- barung eines Universums wird, dessen Kräfte in unserm Herzen klopfen, ist die Religion in uns geboren. Denn dann schauen wir uns selbst an als umfaßt von einer Macht, die selbständiges Leben schafft. Wir stehen dann vor der Wirklichkeit einer allmächtigen Liebe. Diesen Moment müssen wir in uns selbst belauschen, wenn wir Religion und die Sehn- sucht der Menschen nach ihr verstehen wollen. Also in die Geschichte müssen wir blicken, um die Religion zu finden. Das heißt aber nicht in erster Linie, wie es jammervoll mißverstanden wird, in die Dokumente vergangener Zeiten, sondern vor allem in die Geschichte, die uns am nächsten ist, die wir selbst gegenwärtig mitleben und gestalten.

Diesen W^eg, der offen vor ihm lag, ist Schleiermacher nicht ge- gangen. Wie es scheint, hat ihn ein verhängnisvolles Mißverständnis der Kantischen Vernunftkritik dabei mitbestimmt. Die Arbeit Kants war auf die geistigen Schöpfungen oder die Voraussetzungen gerichtet, die der gesamten Erkenntnis des nachweisbar Wirklichen zugrunde liegen. Der Schüler Kants scheint von daher den Antrieb empfangen zu haben, in diesem Gefüge von geistigen Erzeugnissen oder in diesem Leben des Geistes einen Platz für die Religion und ihre Gedankenwelt nachzuweisen. Daß die Religion nach seiner eigenen Entdeckung eben nicht dem nach- weisbar Wirklichen angehört, sondern dem individuellen Leben, also dem nur erlebbar Wirklichen, kam ihm aus den Augen. Und bei seinem, von vielen geteilten Mißverständnis der Kantischen Arbeit fiel nun die Auf- gabe, das Wesen der Religion zu erfassen, der Psychologie zu. Das war aber eine höchst verhängnisvolle Wendung. Die Psychologie hat es mit den geistigen Kräften zu tun, die sich an jedem menschlichen Leben be- obachten lassen. Meint man, darin die Religion zu entdecken, so wird man schließlich finden, daß sich die Frommen bisher über das, was Reli- gion sei, gründlich getäuscht haben. Das deutlich gemacht zu haben, ist ein großer Dienst, den P. Natorps Buch „Religion innerhalb der Grenzen der Humanität" der Theologie geleistet hat. Sein Ergebnis ist, daß Reli- gion, die neben dem Erkennen und Wollen in jedem menschlichen Be- wußtsein soll nachgewiesen werden können, nichts anderes sein kann als das unbestimmte Wogen des Gefühls, das der Opposition des Bewußtseins und seines Gegenstandes immer voraufgeht. Sie hat freilich auch dann für das menschliche Leben eine unermeßliche Bedeutung. Denn sie würde die Tiefe sein, die die ganze Welt des wachen Bewußtseins beständig aus sich hervorgehen läßt, und beständig der Hintergrund bleibt, aus dem sich

6oo "Wilhelm Herrmann: Christlich-protestantische Dogmatik.

das menschliche Treiben mit ernsten Stimmungen erfüllt. Aber zu der so verstandenen Religion gehört natürlich der Gottesglaube nicht. Viel- leicht ist zu hoffen, daß wir, nachdem so der schließliche Sinn der Schleiermacherschen Auffassung herausgearbeitet ist, endlich von ihrem Irrtum loskommen.

Zunächst hat dieser Irrtum die evangelische Dogmatik auf eine ganz falsche Bahn gebracht. Man bediente sich der Psychologie zur Erfor- schung der Religion um so eifriger, weil man, wie schon vSchleiermacher, auf diese Weise aufs beste für ihre Verteidigung zu sorgen meinte. Ge- hört die Religion zu den einfachen Grundzügen der Menschennatur, so sind die in ihr entwickelten Gedanken ebenso wahr, wie die Menschheit wirklich ist. Das 19. Jahrhundert hindurch tauchte diese nicht gerade sehr tiefe Überlegung mannigfach abgewandelt an den Stellen der pro- testantischen Dogmatik auf, wo es galt, sich über ihre wissenschaftliche Begründung auszuweisen. Vielen, die sich durch die wachsenden An- sprüche an die wissenschaftliche Haltung der Theologie ebenso bedrängt fühlten wie durch die immer lauteren Zweifel an dem Recht der Religion, wurde so auf eine sehr einfacheWeise das Herz erleichtert. Nicht wenige Bearbeitungen der Dogmatik haben diese Art von wissenschaftlicher Grund- legung benutzt und dann darauf ein System errichtet, das freilich in Form und Inhalt durchaus nicht aus diesem Grunde erwachsen war. Es war in der Regel mit einigen zeitgemäßen Änderungen die orthodoxe Dogmatik. Nur ein fleißiger Gelehrter ist ernstlich daran gegangen, die psycholo- gische Ableitung der religiösen Gedanken aus dem menschlichen Geistes- leben durchzuführen. R. A. Lipsius in seinem „Lehrbuch der Dogmatik" (3. Aufl. i8g3) wollte diese Abkunft der Religion „ganz exakt psycho- logisch" nachweisen. Freilich hätte das, was Lipsius auf solche Weise aus praktischen Nötigungen des menschlichen Geistes entstehen ließ, eine Dogmatik von solchem Umfang nicht füllen können. Den eigentlichen Körper des Buches hat die Geschichte der Theologie hergeben müssen. Aber die feinsinnige Würdigung einzelner Lehren entschädigt nicht für den Mangel, der dieses Buch ebenso zur Unfruchtbarkeit verurteilt hat, wie zwei andere, die ihm in der Kunst der Systematik und in der Schärfe der historischen Kritik noch überlegen sind, die „Evangelische Glaubens- lehre" von A. Schweizer (2. Aufl. 1877) und die „Christliche Dogmatik" von A. E. Biedermann (2. Aufl. 1885). Diese Bücher, obgleich viel ge- priesen, haben die Geschichte des evangelischen Christentums wenig be- einflußt. Das kann besonders auffallen bei vSchwcizer und Biedermann. In der Kraft der Entfaltung" des Grundgedankens zum System kommt ihnen in der protestantischen Theologie nach Schleiermacher keiner gleich. Beide Männer haben auch, ebenso wie Lipsius, auf viele den Eindruck gemacht, daß ihre theologische Arbeit von einer reinen und starken Frömmigkeit getragen war. Aber wie sehr auch deshalb die Erinnerung an sie selbst fortwirken mag', so ist doch ihr theologisches J^ebenswerk,

I. Die Grschichtr. 6oi

ohne erhebliche Wirkungen zu hinterlassen, zerfallen. Das ist darin be- gründet, daß hier glänzende Kräfte an eine unfruchtbare Aufgabe ver- schwendet sind.

Diese Männer sind mit einigen andern derselben Richtung durch den übermächtigen Einfluß Schleiermachers zu einer Bearbeitung der Dogmatik gedrängt, die dem Theologen in einer bestimmten Situation als ein Be- freiungswerk erscheinen konnte, die aber für die in den evangelischen Kirchen lebendige Religion wertlos ist. Sie sind nicht etwa die Erben des Größten in Schleiermacher, aber sie sind die getreuesten Fortsetzer der Schleiermacherschen Dogmatik in ihren am stärksten ausgeprägten Zügen. Da^s gilt auch von Biedermann. Er ist zwar, besonders durch die Vermittelung von D. Strauß und E. Chr. Baur, erheblich von Hegel beeinflußt. Aber dieser Einfluß konnte sich mit dem der Schleiermacherschen Dogmatik leicht verschmelzen. Biedermanns Dogmatik zeigt am deut- lichsten, wie sich das von Schleiermacher eingeleitete Verfahren schließlich über die in der Kirche lebendigen Interessen der Religion erhebt, dagegen die orthodoxe Theologie in neuer Form Wiederaufleben läßt. Er sucht die Entwicklung der religiösen Gedanken von der Heiligen Schrift an durch die Geschichte der Kirche zu verfolgen, und will dann immer wieder zeigen, wie sich in diesem Prozeß die Offenbarung Gottes im Menschen- geist vollzieht. Diese bei allem darauf verwendeten Scharfsinn überaus monotone Arbeit bringt freilich als den eigentlichen Sinn dieser Gedanken etwas heraus, woran die orthodoxe Theologie nicht gedacht hat. Aber mit ihr vereinigt ist Biedermann in der Voraussetzung, daß man in dieser Lehr- entwicklung wirklich den Ausdruck des religiösen Lebens vor sich habe. Die echt protestantische Frage, ob und warum wir darin den Ausdruck der in uns selbst lebendigen Religion erkennen können, taucht bei ihm so wenig auf wie in der Orthodoxie. Bei ihm vor allem kann deutlich werden, daß die liberale Dogmatik des Protestantismus ebenso wie die sogenannte positive dazu mitwirkt, das evangelische Christentum in katholisches zurückzubilden. Denn die Voraussetzung, daß man in der Kirchenlehre den Gedanken- gehalt des religiösen Lebens anzuerkennen habe, ist katholisch. Ob dann durch logische Operationen der Sinn der Lehre auf Hegeische Meta- physik hinausgeführt wird, oder nicht, ändert an der grundsätzlich katho- lischen Stellungnahme zur Lehre nichts.

Schleiermachers Buch „Der christliche Glaube nach den Grundsätzen ScWeiermachcrs

(Haubcnslehrc.

der evangelischen Kirche" (1821/22) umschließt eine seltene Inille von Möglichkeiten weiterer Entwicklung. „Man kann sagen, daß die gesamte dogmatische Arbeit der Kirche im i q. Jahrhundert ihre Ziele und Bahnen durch jenes Werk Schleiermachers erhalten hat" (R. Seeberg, Die Kirche Deutschlands im i (j. Jahrhundert, IQ03, S. 84). Viel bewundert ist die Kunst, mit der er seine Gedanken in ein System gebracht hat, dessen strenge Einheit man an allen Punkten zu spüren meint, obgleich doch in diesen Gedanken der reiche Gehalt des evangelischen Christentums zu-

6o2 \\'iLHEXM PIerrmann : Chribtlich-protestantische Dogmatik.

sammengefaßt sein sollte, das so widerspruchsvoll ist, wie alles menschlich Lebendige. Mit noch größerem Recht bewundert man die Klarheit und Treffsicherheit der Formeln, in denen er die Grundzüge dieser Gestalt des Christentums, die er seinem System einzufügen weiß, wirklich in ihrer individuellen Art erfaßt und ruhig hinstellt, als ob er sich von allen Sorgen des Systems frei gemacht hätte. Es ist daher mit Freude zu begrüßen, daß jetzt die Paragraphensätze dieser „Glaubenslehre" allein abgedruckt sind, um jene beiden glänzenden Eigenschaften zu veranschaulichen. Aber diese nie verlegene Kunst des Systematikers und diese Sicherheit der geschichtlichen Anschauung machen doch nicht einen so großartigen Ein- druck wie jene Fülle von Keimen weiterer Entwicklung, die sich in dem Buch hervordrängt. Das Beste, was man von einem solchen System sagen kann, daß es durch seinen inneren Reichtum, sobald er deutlich wird, gesprengt werden muß, gilt von Schleiermachers Glaubenslehre. Darin liegt aber auch die Schwierigkeit, das Werk in wenigen Sätzen zu charakterisieren.

Zwei Gedankengruppen liegen in dem Buche nebeneinander. Erstens die Ausführungen, in denen er die Religion als ein psychologisch faßbares Faktum des menschlichen Geistesleben darzustellen sucht; zweitens die Schilderung einer bestimmten in der Geschichte lebendigen Art der Religion, des evangelischen Christentums. In dem ersten Teil der Glaubens- lehre überwiegt die erste Gruppe, in dem zweiten die zweite. Schleier- macher selbst hat es bereits als einen Mangel empfunden, daß die all- gemeinen Grundzüge der religiösen Weltanschauung, die der erste Teil zeichnet, sich noch nicht durch das bestimmt zeigen, wodurch doch im evangelischen Christentum alles bestimmt sein sollte, durch die Anschauung Jesu Christi als des Erlösers. Aber der Grundschaden des Werkes ist mit dieser oft wiederholten Kritik nicht getroffen. Dieser liegt in der Meinung, daß in jenen beiden Gedankengruppen lebendige Religion zur Darstellung kommen könne. Er ist gerade mit dem verbunden, worin Schleiermacher die neue dem evangelischen Christentum notwendige theologische Arbeit begründet hat, die bei uns den alten Betrieb der Dogmatik, der aus dem Katholizismus herübergenommen war, allmählich verdrängen muß.

Was Schleiermacher sich vorgenommen hatte, drückte der Titel seines Werkes aus. Nicht Lehren, die g-eglaubt werden sollen, sondern der Glaube selbst, oder die in dem evangelischen Christentum gegenwärtig lebendige Religion soll dargestellt werden. Damit war der Anfang dazu gemacht, die Reformation auch in der Gestaltung der Theologie durch- zuführen. In der Reformation hatte sich das Christentum als die Religion erfaßt, die nichts anderes sein will als Zuversicht zu Gott, die durch Gottes Offenbarung geschaffen wird. Dieser „Glaube" ist das Bewußtwerden einer dem Menschen vorher verborgenen Wirklichkeit, also Erkenntnis. In solcher Erkenntnis leben, ist evangelisches Christentum. Bedürfen wir nun einer

I. Die Geschichte.

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theologischen Arbeit, die das, was evangelischer Glaube sein will, mög- lichst genau und vollständig in Worten ausdrückt, so kann das Ergebnis dieser Arbeit nichts anderes sein als Darstellung des Glaubens oder Glaubenslehre, für die, da sie an die Stelle der alten Dogmatik zu treten hat, der Name Dogmatik beibehalten werden kann.

Die Erkenntnis, daß ein eigentümlich begründeter machtvoller Glaube an Gott das Ganze des Christentums ist, hat die Reformatoren von der alten Kirche geschieden und viele Lehren der Kirche zerstört oder um- gewandelt. Aber zu der Klarheit ist man damals nicht gekommen, nun auch die Aufgabe der kirchlichen Lehre selbst neu zu fassen. Darin liegt Schleiermachers Fortsetzung der Reformation, die, wie er selbst hervorhob, nicht die Herstellung eines neuen Instituts neben dem alten bedeutet, sondern das Mächtigwerden einer geistigen Bewegung in der Christenheit, die fortwährend neue Lebensformen schafft. Er ist der Re- formator der Theologie. Aus der Erkenntnis, daß der Glaube das ganze Christentum sei, hat er die richtige Folgerung gezogen, daß dann auch die Theologie der evangelischen Kirche nichts anderes darzustellen habe als den Glauben selbst, und hat danach seine Glaubenslehre entwerfen wollen.

Dieser Schritt war deshalb nicht leicht, weil eine Gewöhnung vieler Jahrhunderte abgeworfen werden mußte. Die alte Dogmatik hatte mit ungeheurem Fleiß die Lehren bearbeiten und verknüpfen wollen, die ge- glaubt werden müssen. Nun galt es, dafür einzutreten, daß Lehren mit einem solchen Anspruch in einer evangelischen Kirche überhaupt nicht geduldet werden dürfen. Nur die Lehren sind berechtigt, in denen der Glaube sich ausdrückt. Lehren, die geglaubt w^erden wollen, sind hier unbrauchbar, weil ein Glaube, der sich dazu bereit finden ließe, im evan- gelischen Christentum kein Heimatsrecht hat. Schleiermacher will aller- dings auch sorgfältig Lehrsätze formulieren, aber das sind nicht mehr Lehrgesetze, die dem Christen da, wo er keine eigene Erkenntnis haben kann, vorschreiben wollen, wie er denken soll. Es handelt sich vielmehr gerade um die eigenen Erkenntnisse des Christen. Die Erkenntnisse, die er in seinem Glauben besitzt, sollen genau herausgearbeitet und formuliert werden. Denn sein Glaube ist kein leeres Gefäß, sondern ein neues in ihm geschaffenes Leben, das den Drang und die Gewalt hat, in klaren Gedanken sich seine Formen zu erzeugen. Die Lehrsätze der Glaubens- lehre sind also keine Dogmen mehr, die dem Christen dargeboten werden. Sie sind die genauen Formulierungen der Erkenntnisse, die in der Seele des Christen damit entstehen, daß der Glaube in ihm geboren wird.

Diese Erkenntnis des Glaubens ist aber nicht bloß gründlich ver- schieden von den Dogmen, die als Lehrgesetze die fehlende Erkenntnis ersetzen wollen. Sie hat ebenso wenig zu schaffen mit dem, was die alten Dogmatiker aus der Metaphysik als allgemeine Erkenntnis Gottes zu entnehmen meinten. Denn da sie der Ausdruck einer eigentümlichen

6o4 Wilhelm Herrmann : Christlich-protestantische Dogmatik.

Art des Innern Lebens ist, so kann sie sich mit Erkenntnissen, die davon gelöst sein wollen, nicht verknüpfen lassen.

Damit war der Anfang gemacht, die alte Dogmatik durch eine Arbeit ganz anderer Art zu ersetzen, wie es von einer Theologie, die dem evan- gelischen Christentum dienen will, erwartet werden muß. Diese Arbeit kann einen genau bestimmten wissenschaftlichen Charakter haben, wenn sie sich nämlich die Aufgabe stellt, eine bereits vorhandene Erkenntnis, die Erkenntnis des Glaubens, vollständig zu entwickeln und, befreit von allem fremden Beisatz, möglichst klar und einfach auszudrücken. Die evangelische Theolog'ie war damit endlich auf die richtige Bahn wirklich wissenschaftlicher und kirchlich überaus fruchtbarer Arbeit gebracht. Der christliche Glaube konnte nun endlich in der theologischen Lehre und im kirchlichen Unterricht in der Würde und Kraft erscheinen, die die Re- formation in ihm entdeckt hatte.

Aber in der Durchführung hat Schleiermacher seinen Nachfolgern viel übrig gelassen. Er hat vor allem die Tatsache, daß der Glaube selbst eine eigentümliche Art von Erkenntnis einschließt, nicht richtig erfaßt. Das eine hielt er fest, daß die Gedanken der christlichen Religion in dem dogmatischen Lehrsatz als aus dem Glauben selbst hervorgehend dar- gestellt werden müßten. Es war richtig daß er die Glaubenssätze als den Ausdruck christlich frommer Gemütszustände angesehen wissen wollte. Sie sollen das ausdrücken, was der Christ in der inneren Verfassung, die er Glauben nennt, als wirklich sieht. Aber nicht Schleiermacher selbst, sondern erst einer seiner größten Schüler, der Erlanger Lutheraner J. Chr. K. Hofmann hat aus diesem Gedanken die richtige Aufgabe der syste- matischen Theologie des Protestantismus entworfen.

Schleiermacher selbst wollte doch schließlich nicht die Wirklichkeit darstellen, die der Glaube sieht, sondern meinte durch Reflexion über die Tatsache des Glaubens das erschließen zu sollen, was sein muß, weil dieser Gemütszustand ist. Man kann aber nicht einmal sagen, daß dieser Gesichtspunkt in seiner Glaubenslehre durchgeführt ist. Das Übergewicht hat in dem Buch der Gedanke, daß die Religion als erfahrungsmäßig vorliegende Tatsache zu beschreiben ist. Zunächst sucht er das allgemeine Wesen der Religion als ein Element jedes menschlichen Bewußtseins mit den Mitteln der Ps3'chologie festzustellen, und dann sucht er die Gedanken der konfessionell bestimmten Religion in geschichtlicher Anschauung zu erfassen. Mit sicherem Scharfblick hat er oft den religiösen Sinn der bisher im Protestantismus entwickelten Lehre herausgefunden. Bisweilen hat er auch die Tendenz dieser Lehre verkannt, wie in der Christologie, wo er fortfährt, das aus der alten Kirche übernommene Problem zu be- handeln, wie die Wirklichkeit des Gottmenschen in Jesus Christus gedacht werden könne, obgleich dieses Problem einer für uns vergangenen Auf- fassung des Christentums angehört. Darauf mußte eine Kirche verfallen, die sich in ihrer Vorstellung von Cliristus die N'oraussetzung für die Er-

I. Die Geschichle. 605

lösuiig, die sie glauben wollte, /u sichern suchte. Für Christen dagegen, die in der Tatsache, daß sie selbst mit der Person Jesu zusammen treffen, eine Erlösung finden, die sie selbst erleben, muß jenes Problem wider- wärtig werden. Für sie kann es nur darauf ankommen, sich zu vergegen- wärtigen, wie der Glaube, den die Macht der Person Jesu in uns schafft, von ihm denkt. An dieser Stelle wie an andern begegnet man auch bei Schleiermacher einer Fortsetzung der scholastischen Theologie, deren Horizont durch die gegebene Lehrüberlieferung begrenzt ist. Er hat richtig gesehen, daß im Protestantismus immer wieder sich die Pflicht melden muß, an der bisher geltenden Lehre Kritik zu üben. Immer von neuem ist zu fragen, ob diese Lehre dem Glauben gemäß ist. Aber die Kritik, die er selbst übt, ist oft genug nicht durch das Ringen des Glaubens nach Klarheit über sich selbst geleitet, sondern durch seinen allgemeinen Begriff von Religion, durch die nicht religiös klare, sondern metaphysisch oder physisch bestimmte Auffassung des Gefühls schlechthiniger Ab- hängigkeit.

Bei der Aufnahme und bei der Kritik der kirchlichen Lehre ent- scheidet keineswegs immer der in ihm um sein gegenwärtiges Leben kämpfende Glaube. Schleiermacher unterliegt bei der Aufnahme dem Druck der in der Kirche herrschenden Gewohnheit, und bei der Kritik ist er vielfach durch Gedanken bestimmt, in denen christlicher Glaube nicht zum Wort kommt. An beiden Punkten ist derselbe Fehler zu er- kennen. Weder die Kritik noch die positive Entwicklung der Lehre gibt sich als Werk eines seine eigene Überzeugung gestaltenden Glaubens. Was Schleiermacher als Glauben im Auge hat, ist entweder ein in jedem menschlichen Bewußtsein vorliegender Gefühlszustand, der ihm entsprechende Vorstellungen hervortreibt, oder es ist eine damit verschmolzene in der Geschichte vorliegende Denkweise. Psychologie und tatsächlich herr- schende Lehre liefern ihm das Material, das er zum System zu ordnen sucht. Mit solchem Material läßt sich aber das Leben des gegenwärtig in der Geschichte kämpfenden Glaubens nicht darstellen. Es kommt da- her auch hier wieder der alte Schaden der orthodoxen Dogmatik auf, daß vieles als christliche Lehre vorgeführt wird, was dem christlichen Glauben dessen, der sich zu dieser Arbeit hergibt, gar nicht angehört.

Der religiöse Glaube ist in allen seinen Formen persönliche Über- zeugung, aus dem individuellen Leben bestimmter Menschen erwachsen. Er kann daher jede Frage nach seinem Recht mit der Erklärung ab- weisen, daß er tatsächlich so ist, wie er ist, in der Welt wirklich, wie das Lebendige, zu dem er gehört. Das kann er aber nur so lange, als ihm verborgen bleibt, daß sich der Mensch zu einer wirklichen Selbständigkeit nur aufrichten kann, sofern er durch die Wahrheit der sittlichen Gedanken in seinem Wollen bestimmt ist. Dem Christen ist es irgendwie gegen- wärtig, daß zwischen der Kraft, mit der die persönliche Überzeugung im religiösen Glauben sich selbst behaupten will, und der sittlichen Gesinnung

6o6 Wilhelm Herrmann: Christlich-protestantische Dogmatik.

ein solcher Zusammenhang besteht. Er weiß auf jeden Fall, daß er die herzliche Überzeugung von der Wirklichkeit seines Gottes nur in sitt- lichem Gehorsam haben kann. Der Christ fragt daher notwendig nach dem Recht seines Glaubens. Und zu der Antwort auf diese Frage wird für ihn immer das gehören, daß sein Glaube Gehorsam gegen das sittliche Gebot ist. Damit ist freilich dem christlichen Glauben der Grund seiner Gewißheit, aus dem er immer von neuem seine Kräfte gewinnt, noch nicht völlig aufgedeckt. Aber der Weg dazu ist gewiesen.

Als eine solche um ihr Leben kämpfende persönliche Überzeugung hat sich Schleiermacher den christlichen Glauben nicht vergegenwärtigt. Er faßt ihn nicht als eine fortwährend aus ihrem Grunde sich erhebende Gewißheit, sondern als einen tatsächlich gegebenen Gemütszustand, zu dessen Eigenart bestimmte Vorstellungen gehören. Es ist erklärlich, daß an eine Dogmatik mit solcher Grundanschauung sich zwei Richtungen anschließen konnten. Auf Schleiermacher kann sich berufen eine liberale Theologie, die sich dem geschichtlich Gegebenen am Christentum nicht unter- werfen, sondern frei darüber verfügen will, weil es zur Veranschaulichung von Gedanken dienen soll, deren man sich ganz unabhängig davon be- mächtigen kann. Aber ebenso darf sich eine konservative Theologie auf ihn berufen, die die in der kirchlichen Masse gangbaren Vorstellungen als das tatsächlich gegebene Christentum ansieht, dem jeder, der ein Christ sein wolle, sich unterwerfen müsse. In beiden Richtungen wird notwendig verkannt, was christlicher Glaube als ihres Rechts sich be- wußte persönliche Überzeugung ist. Und ebenso wird auf beiden Seiten die Bedeutung des Geschichtlichen im Christentum nicht gewürdigt ; iDie verraitt- Trotzdem darf man nicht sagen, daß die von Schleiermachers Einfluß

beherrschte Dogmatik des 19. Jahrhunderts einfach in diese beiden Rich- tungen auseinandergehe. Die Motive, durch die jede von beiden charak- terisiert ist, schließen sich in der Regel nicht völlig aus. Die Liberalen können durch die kirchliche Lehrüberlieferung, die sie zur Illustration anderswo gewachsener Gedanken benutzen wollen, ebenso gebunden sein, wie die Konservativen, die ihr Gesetzeskraft zuschreiben. Das deutlichste Beispiel dafür ist die „Christliche Dogmatik" von A. E. Biedermann. Die Konservativen wiederum haben Schleiermachers ReligionsbegTiff reich- lich benutzt, das ergab sich schon aus seiner Brauchbarkeit für apologe- tische Zwecke. Aber noch etwas anderes verbindet als ein von Schleier- macher ausgehender Impuls alle, die nach ihm an der protestantischen Dogmatik arbeiteten. Schleiermacher hatte, was dem Pietismus nicht ge- lungen war, zu allgemeiner Anerkennung gebracht, daß als Lehre für Christen nur auftreten könne, was seinen Zusammenhang mit ihrem innern Leben nachweisen und überhaupt in seinem Gehalt erlebt werden kann. Das mächtige Wiederaufkommen des Pietismus hat er wesentlich gefördert und vor dem Rückfall in manche Engherzigkeiten der früheren Zeit be- wahrt. Auch die konservativsten Theologen nach ihm wollten doch nicht

I. Die Geschichte. ()Qy

mehr in der alten Weise orthodox sein. An die Stelle des „rechtgläubig'" trat bei ihnen das „gläubig". Eine lange Reihe ausgezeichneter Theo- logen hat sich darum bemüht, in den Lehren der altprotestantischen Orthodoxie die wirklich religiösen Gedanken, die in dem Glauben eines Christen wirksam werden konnten, deutlicher zu machen, als es jene selbst vermocht hatte. Eine solche religiös belebte Orthodoxie haben zum rei- chen Segen der evangelischen Kirche besonders die Theologen gefördert, die man unter dem Namen „Vermittlungstheologen" zusammenzufassen pflegt Von C. J. Nitzsch und A. Twesten an bis auf J. Köstlin haben diese Männer das von Melanchthon in den Grundlinien entworfene Lehr- gebäude an vielen einzelnen Punkten umgestaltet und bereichert. Aber auch die bedeutendsten unter ihnen, J. Müller und J. A. Dorn er, hatten keinen Blick mehr für das eigentümlich Große in Schleiermacher. Das geniale Verständnis der Religion in den „Reden" war für sie hinter den apologetisch verflachten Formeln der „Glaubenslehre" zurückgetreten. Vor allem waren sie außerstande, das von Schleiermacher entworfene, aber nicht durchgeführte Programm, den Glauben selbst in seinem gegen- wärtigen Leben darzustellen, in ihrer Dogmatik wieder aufzunehmen.

Ein Ansatz dazu, also eine wirkliche Fortführung des von Schleier- nie ErUoger macher begonnenen Werkes findet sich vielmehr in einem Kreise, der sich von den Vermittlungstheologen als konfessionell lutherisch absonderte. Schleiermacher hatte in seiner Darstellung des christlichen Glaubens nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Grunde ausgeführt, wie er sich selbst mit der in dieser Kirche herrschenden Lehre abfand. J. Chr. K. Hof mann dagegen hat die von Schleiermacher zuerst bezeichnete Aufgabe mehr durchgeführt als dieser selbst. Der Theolog soll das Ver- hältnis zu Gott, das er als ein wiedergeborener Christ erlebt, in allen seinen Beziehungen darzustellen suchen. 'Hofmann legte zwar Wert darauf, wie er dabei von der Aufgabe Schleiermachers abwich. Dieser habe den Glauben, also ein in dem Menschen erwachtes neues Leben oder etwas Subjektives darstellen wollen. Er dagegen wolle einen objektiven Tatbestand, in den sich der Mensch durch Gott versetzt wisse, in der Fülle seines Inhalts darlegen. Aber es ist doch nicht einzusehen, was Schleiermacher hätte hindern sollen, dieselben Formeln wie Hofmann zu gebrauchen. Was er unter christlichem Glauben versteht, ist doch eben auch nicht bloßes menschliches Erzeugnis, sondern der Tatbestand eines neuen Verhältnisses zu Gott, in das er sich durch Christus versetzt weiß. Hofmann befolgt aber auch bei der Herstellung seines Lehrganzen ein Verfahre«, das bei Schleiermacher bereits vorlag, aber nicht so konsequent durchgeführt war. Aus dem Faktum, das ihm in seinem christlichen Be- wußtsein gegeben ist, sucht er sich die es bewirkenden Mächte klar zu machen. Auf diese Weise meint er es zu erreichen, daß ihm nicht nur Lehren der Heihgen Schrift in ihrer Wahrheit klar werden, sondern auch einzelne von ihr berichtete Tatsachen, wie die jungfräuliche Geburt und

6o8 Wilhelm Hb:rrmann: Christlich-protestantische Dogmatik.

die Auferweckuiig Jesu, in ihrer Wirklichkeit gewiß. Er findet in ihnen die Faktoren, die das neue Verhältnis zu Gott konstituieren, dessen er sich bewußt ist. Was er nicht in dieser Weise als zu dem von ihm er- lebten Tatbestand g-ehörig ermitteln kann, ist für sein Lehrganzes nicht vorhanden. Ohne Zweifel erhält dieses dadurch eine Geschlossenheit, die der Glaubenslehre Schleiermachers fehlt. Aber daß das nun gerade be- sonders zu bewundern sei, kann man doch nicht sagen. Für Schleier- macher wäre es gewiß nicht schwer gewesen, einen ebenso geschlossenen Gedankenzusammenhang aus sich herauszuwickeln. Er hat mit vollem Bewußtsein darauf verzichtet, weil er der evangelischen Kirche dienen wollte. Deshalb hat er nicht bloß das Christentum, dessen er selbst sich bewußt war, analysieren wollen, sondern sich die Aufgabe gestellt, die in dieser Kirche herrschende Lehrweise als einen Ausdruck christlichen Glaubens zu verstehen, oder sie dazu weiterzubilden. Es ist wohl zu ver- muten, daß der energischere Drang zum System bei Hofmann auf philo- sophische Einflüsse zurückzuführen ist. Auf jeden Fall ist bei ihm die Methode der dogmatischen Arbeit weniger durch kirchliche Rücksichten bestimmt als bei Schleiermacher. Dagegen ist Hofmann etwas anderes zu danken. Er hat mit gewaltigem Nachdruck eingeprägt, daß der christ- liche Glaube, wenn er sich die für ihn geltende Lehre klar machen will, seinen eigenen Weg gehen muß. Was er nicht als zu ihm selbst gehörig sich klar machen kann, darf er auch nicht als dennoch geltende Lehren anerkennen wollen. Soweit er solches in sich aufnimmt, vernichtet er sich selbst. Daß Hofmann in seiner konfessionellen Umgebung diesen Grundsatz befolgen und in seinen gewaltigen „Schutzschriften" verfechten konnte, macht ihn zu einem der großen Bahnbrecher der Reformation.

Über die Zuverlässigkeit seiner Methode hat er sich freilich getäuscht. Im Vergleich mit der orthodoxen Dogmatik ist in seinem Lehrganzen das, was dem Glauben angehören soll, stark reduziert. Aber nach derselben Methode hätte er durch ganz ähnliche Reflexionen auch viel mehr aus der Überlieferung heranziehen können. Wenn er alsdann in einem Werke staunenswerten Scharfsinns den Versuch macht, aus der Heiligten Schrift eine Gesamtanschauung des Christentums zu erheben, und daran wiederum das Ganze seines Lchrsystems messen will, so ist freilich der Fortschritt dieses „Schriftbeweises" über die Orthodoxie hinaus evident. Der Miß- brauch der Heiligen Schrift, der aus ihr eine Sammlung- von Orakeln macht, war darin überwunden. Aber hier wie überall, wo die Heilige Schrift nachträglich zur Beurteilung eines bereits festgelegten Systems herangezogen werden soll, hat es sich gezeigt, daß es dann über Menschen- kraft geht, eine Vergewaltigung der biblischen Bücher zu vermeiden. Der wSchriftbeweis für das dogmatische System bereitet der Auslegung die größten Hindernisse. Die so schwer zu bekämpfende Bescheidung gegen- über dem geschichtlich Gegebenen, es ruhig hinzunehmen, es möge uns erschließen, was es wolle, ist dann fast unmöglich. In diesem Gebrauch

I. Die Geschichte.

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der Heiligeil Schrift bleibt Hotniaim ia dem Bann der orthodoxen Tradi- tion. Dagegen hat er bei seiner dogmatischen Methode sich durch das in andern Wissenschaften notwendige Verfahren beirren lassen. Er wollte den Tatbestand, den sein Glaube umschloß, zur Aussage bringen. Aber in der Ausführung sucht er die hinter diesem Tatbestand liegenden Ur- sachen zu ermitteln. Er geht also darauf aus, das Objekt seiner For- schung dadurch schärfer zu erfassen, daß er seine Genesis sich deutlich macht, oder es erklärt. Damit aber hören seine dogmatischen Sätze auf. Aussagen des Glaubens selbst zu sein, und werden Reflexionen über den Glauben. Vielleicht sind die Gedanken, die Hofmann in seinem Lehr- ganzen verknüpft, wirklich in dem Glauben evangelischer Christen lebendig. Aber er zeigt auf jeden Fall nicht, daß der Glaube an Gott, in dem der Christ sich erlöst weiß, sich in diesen Gedanken bewegt. Er zeigt auch nicht, wie sie aus dem Erlebnis, das ihm zur Offenbarung Gottes wird, entstehen. Er meint sie vielmehr als den Ertrag von Reflexionen zu ge- winnen, auf die nicht der Glaube kommt, sondern der theologische Techniker. Im verstärkten Maße finden sich die Fehler Hofmanns bei seinem Schüler F. H. R. Frank, der in drei weitschichtigen Systemen („der christ- lichen Gewißheit", „der christlichen Wahrheit", „der christlichen Sittlichkeit") dieselben Gesichtspunkte durchgeführt hat. Trotzdem hat gerade dieser Theolog dem deutschen Protestantismus einen wichtigen Dienst geleistet. Er vermaß sich, aus dem Bewußtsein, ein wiedergeborener Christ zu sein, die theologischen Lehren der Konkordienformel herausspinnen zu können. Die Behauptung klingt grotesk, und die Art, wie er sie in seinem etwas gravitätischen Stil durchführt, wird auf die meisten Leser peinlich wirken. Aber er hat damit doch in den Kreisen, die sich christlichen Glauben ohne das Festhalten an solchen Lehren nicht denken können, eine folgenreiche Krisis vorbereitet. Er hat bei denen, die in ihm eine der Säulen der po- sitiven Theologie sahen, Unruhe verbreitet durch den energisch verfoch- tenen Satz, daß der christliche Glaube nur das als wirklich erfassen könne, was er selbst als wirklich erlebt oder als darin enthalten sich klar machen kann. Denn die meisten mußten fühlen, daß die Lehren, an die sie glau- ben wollten, um gläubig zu sein, einen solchen Maßstab ihrer Geltung nicht vertragen. Von Anfang an hat die protestantische Dogmatik an dem Widerspruch gekrankt, daß die Lehren, für die sie Glauben forderte, so nicht geglaubt werden können, wie es der Grundsatz der Reformation verlangte. Eine solche Glaubensforderung rechnet auf einen Glauben, der sich bei dem Entschluß beruhigt, gegen die ihm durch die Lehrautorität aufgedrängten Lehren nichts sagen zu wollen. Aber die Reformatoren hatten dem evangelischen Christentum die Erkenntnis eingepflanzt, daß dem Christen nur ein Glaube helfen könne, der freie, von Herzen kommende Überzeugung ist. Man hatte sich freilich bald an einer Abschwächung dieses Gedankens genügen lassen. Die Lehren, zu denen man sich be- keime, wolle man nicht neben sich stehen lassen, wie kirchliche Geräte,

Die Kultur dkk Gegenwart. I. 4. jy

5io WiLHKL.M Herkmann: Chiistlich-prolesUnlische Dogmatik.

sondern wolle sie \'on Herzen glauben, oder innerlich aneignen. So hört man es noch oft. Frank aber hat das Verdienst, in die Kreise dieser Auffassung" die Fragte getragen zu haben, ob denn die Lehre, zu der man sich bekennt, etwas anderes sei als ein kirchliches Gerät, wenn man nicht in ihr die Wirklichkeit ausgedrückt findet, die man selbst erlebt. Wie kann ich sagen, daß ich eine Lehre von Herzen glaube, wenn ich damit nicht dies meine, daß sie die eigene Erkenntnis meines Glaubens aus- spricht? Frank hat sich unermüdlich bemüht, diese Frage zu wecken. Sobald sie aber erwacht ist, werden die meisten sich von vielen der Lehren, die ihnen im Namen der Kirche überliefert sind, lossagen müssen und alle werden darauf kommen, daß auf jeden Fall für sie die Aufnahme überlieferter Lehren nicht so wichtig sei, wie die Besinnung auf die Wirklichkeit, die ihr eigner Glaube erkennt. Damit ist der Auffassung des Christentums, die auch die evangelischen Kirchen im ganzen im Volke zu verbreiten suchen, die Axt an die Wurzel gelegt.

Der Gegensatz zwischen der Theologie und der kirchlichen Praxis, der jetzt mit Recht als ein Unglück für die Kirche empfunden wird, knüpft sich vor allem an diese Entwicklung der Dogmatik, die im ver- flossenen Jahrhundert niemand mehr gefördert hat als die Erlanger Luthe- raner. In dieser Entwicklung zeigt sich freilich nur, daß der evangelischen Theologie schließlich nichts anderes übrig bleibt, als die Konsequenzen aus dem Grundgedanken der Reformation zu ziehen, daß der Glaube selbst die Erlösung ist, die einen Menschen zu einem Christen macht. Ein solcher Glaube muß sich selbst als Gottes Werk ansehen. Die Offenbarung Gottes, die ihn in seiner inneren Lebendigkeit begründet, kann er aber nur in einer Tatsache finden, die sich ihm als sein Erlebnis aufdrängt. Sie kann ihm nicht eine Lehre sein, die der Mensch befolgten soll, und nicht ein kirchliches Kleinod, das seines Schutzes bedarf. Denn solche Dinge, mit denen der Mensch etwas anfangen soll, können ihn selbst nicht umwandeln oder den Glauben in ihm schaffen. Endlich ist alle Pracht überlieferter Lehre für den Glauben nicht so viel wert wie ein Gedanke, der sich müh- sam in ihm selbst emporkämpft. Dieser ganze in der erlebten Offenbarung" Gottes begründete und in eigenen Gedanken sich entfaltende Lebensvor- gang des Glaubens ist die Wirklichkeit, die durch die dogmatische Arbeit in helles Licht gesetzt werden soll. Den Trieb, diese Wirklichkeit zu er- fassen, werden keine kirchlichen Rücksichten wieder unterdrücken können, nachdem er einmal erwacht ist. Dadurch wird das, was der alten Dog- matik als das Wichtigste galt, die heilige Überlieferung, notwendig dieser Würde entkleidet. Sie soll dann freilich dem Glauben unentbehrliche Dienste leisten, aber sie darf ihn nicht beherrschen. Ein Glaube also, der sich dem Schriftwort, es möge enthalten, was es wolle, unbedingt unter- wirft, ist nicht der Glaube, von dem die Reformatoren sagen konnten, daß er die Erlösung bedeute. Denn in der Annahme dessen, was ihn nicht überzeugt, wäre er ein totes Werk. Aber wenn er dem Schriftwort dii.

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WO es ihm nicht den Inhalt seines eig"enen J.ebens klarer macht, sich nicht unterwerfen kann, so ist es ihm doch ebenso natürlich, daß er ein solches Schriftwort nicht als wertlos abweisen kann. Er wird ihm mit Zurück- haltung' i>egenüberstehen. Denn er denkt notwendig- mit Ehrfurcht an die Überlieferung, durch deren Gaben er sein J.eben hat. Es ist nicht schwer, diese Erkenntnis in der Dogmatik zu entwickeln, aber es scheint sehr schwer, sie in der kirchlichen Praxis zu betätigen. Die Kirche weiß, daß überall, wo in der Dogmatik ernstlich gearbeitet wird, ihre zukünftigen Diener jetzt einsehen müssen, daß der Glaube, in dem sich ein Christ er- löst weiß, sich schließlich zur Heiligen Schrift nicht anders stellen kann. Sie selbst aber verwehrt ihnen, das dem Volk zu sagen. Darin liegt die ungeheure Gefahr unserer kirchlichen Eage. Die Eeiter der Kirche ver- bergen sich, wie sich tmn im Volke die Vorstellung verbreitet, daß die Pfarrer mit der Wahrheit nicht herausrücken. Geschaffen ist diese Lage durch die Dogmatik. In ihr ist durch die Entwicklung des Grundgedankens der Reformation die Orthodoxie aufgelöst, während die Kirche es für un- möglich hält, das Evangelium dem Volke anders zu verkündigen, als in den Formen der Orthodoxie. Sie wagt nicht, den Leuten zu sagen, daß in einer christlichen Gemeinde die Heilige Schrift Diener und nicht Herr sein soll. Deshalb empfindet sie die Beachtung, die sich die historische Arbeit an der Bibel erzwingt, als das schlimmste Übel, unter dessen Druck sie alle andern theologischen Sorgen vergißt. Aber die Quelle ihrer Nöte ist die Dogmatik.

Mit dieser kirchlichen Lage hängt auch die Wirkung zusammen, a. Kitschi. die die dogmatische Arbeit A. Ritschis in einem Umfange ausübt, wie es von keinem andern Theologen nach Schleiermacher erreicht ist. Freilich meinen jetzt viele, daß dieser große Störer der Kirchen- ruhe bereits der vergangenen Geschichte angehöre, weil sich kaum noch ein Vertreter des dogmatischen Systems Ritschis finden lasse. Indessen das dogmatische System Ritschis, das aus seiner berühmten dreibändigen Monographie „Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung" deutlich zu erkennen ist, hat überhaupt nie einen Theologen zu seiner Vertretung ge- winnen können. Das ist gerade in einem seiner größten Vorzüge be- gründet. Der rückhaltlose Ausdruck einer kraftvollen persönlichen Über- zeugung und die beständige Anregung zu eigener Arbeit macht es kaum möglich, sich hier dem System zu unterwerfen. Ritschi konnte keine Schule stiften, die sein System verbreitete, und wollte es auch nicht. Will man die Bedeutung dieses Mannes richtig würdigen, so muß man zuerst das vorhin Berührte ins Auge fassen. Ritschi hat keinen so ursprünglichen und über die Jahrhunderte leuchtenden Gedanken erzeugt, wie Schleier- macher in den „Reden über die Religion". Aber das Beste bei Schleier- macher hat auf seine Zeit nicht stark gewirkt und ist noch jetzt wenig- wirksam. Er hat es selbst schließlich in Formen versteckt, die erst wie- der mühsam zerbrochen werden müssen. Ritschi dageg'en hat durch die

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5i2 Wilhelm Hi'".RR>rAXX : Christlich-protestantische Dogmatik.

Position, die er als Dogmatiker einnahm, befreiend auf die Theologie seiner Zeit gewirkt, und diese Wirkung ist durchaus noch nicht erschöpft.

Er sah wirklich ein, daß die Religion von der Geschichte lebt. Eine Religion, die sich aus der Geschichte flüchtet, wie die ]SIystik und der Rationalismus, war in seinen Augen eine Verirrung, nur entschuldbar, wo die Überlieferung die Relig'ion zu ersticken drohte, anstatt sie zu nähren. Zugleich aber hatte er in der vSchule F. Chr. Baurs, und indem er sich von diesem seinem Eehrer loskämpfte, die unermeßliche Bedeutung einer historischen Forschung verstanden, die sich von allen dogmatischen Vor- aussetzungen zu lösen weiß. Bei Baur hatte er als Historiker gelernt, sich von dem kirchlichen Dogma frei zu machen. Im Gegensatz zu Baur gewann er die Befreiung von den Dogmen der Hegeischen Geschichts- konstruktion. Deshalb hat er die volle Freiheit einer historischen For- schung gefordert, die einfach auf das in der Geschichte sich offenbarende individuelle Leben horchen will. Er hat also dies beides, die religiöse Verwertung des Gehalts der Geschichte und die im Xamen des evange- lischen Christentums geforderte Freiheit der historischen Forschung, wie keiner vor ihm in seiner persönlichen Haltung überaus kraftvoll zusammen- gefaßt. Dadurch hat er der theologischen Jugend, die durch die Span- nung- zwischen der Kirche und der historischen Forschung verängstigt und in den Mühlen der kleinen Apologetik ermattet war, das Herz ge- stärkt. In diesem Element der „Ritschlschen Theologie" hat man nicht eine Woge zu sehen, die steigt und fällt, sondern die Lebensflut des Protestantismus selbst.

Aber in dieser persönlichen Haltung war doch ein Problem einge- schlossen, das eine Lösung verlangte. Wie kann man aufrichtig die volle Freiheit der historischen Forschung- fordern, die, wo sie wissenschaftlich betrieben wird, immer bereit ist, ihre Erg'ebnisse zu korrigieren, wenn man zugleich einen bestimmten Gehalt der Geschichte als Grund des religiösen Glaubens verwertet, wie Ritschi ebenso entschlossen tat? Diese Frage hat er nicht beantwortet, er hat ihr Drängen kaum empfunden. Es schien ihm möglich, bestimmte Bestandteile der biblischen Überlieferung doch der historischen Forschung zu entziehen, wie vor allem die Auferweckung Jesu, offenbar deshalb, weil es für ihn zum Grunde seines Glaubens an Gott gehörte. Dadurch daß Ritschi die hier vorliegende Schwierigkeit nicht bearbeitete und überwand, hat er seinen Einfluß erheblich einge- schränkt. Er schien nun doch hinter der bei Hof mann imponierenden Ruhe und Klarheit der Glaubensgewißheit zurückzubleiben.

Die Art, wie sich seine Fassung der dogmatischen Aufgabe von der Hofmanns unterscheidet, wird freilich von einem Teil seiner Schüler (vor allen F. Kattenbusch und J. Kaftan) als ein bedeutsamer Fort- schritt angesehen. Das wäre auch riclitig, wenn Ritschi nicht, indem er sich von Hofmann scheidet, auf eine von diesem und von Frank verlassene Position d(M- orthodoxen Dogmatik zurückkäme. Fr will nicht

I. Die Geschichte.

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eine von der Tatsache des Glaubens oder der christlichen Frömmig-keit aus gewonnene Erkenntnis darstellen. Er will vielmehr zeigen, wie der christliche Glaube als Erkenntnis Gottes durch die Offenbarung- Gottes in uns g-eschaflfen wird. Das ist wirklich die Aufgabe der Dogmatik, bei der das evangelische Verständnis des Glaubens zu seinem Recht kommt. Der Orthodoxie gegenüber hat Ritschi damit das Richtige getroffen. Denn der christliche Glaube ist nicht Bereitschaft, das annehmen zu wollen, was einen Menschen zu einem Christen macht. Er ist vielmehr selbst die geistige Verfassung, in der ein Mensch ein Christ ist. Denn er ist die freie Unterwerfung unter Gott oder das reine Vertrauen zu ihm, das sich in der Offenbarung Gottes begründet weiß. Aber auch Hofmann und Frank gegenüber hat Ritschi damit recht. Denn bei diesen wird nicht berücksichtigt, daß der christliche Glaube nur deshalb in seinen eigenen Gedanken leben kann, weil er in dem Erlebnis der Offenbarung immer von neuem als Erkenntnis Gottes entsteht. Ohne Zweifel nähert sich Ritschi mit dieser Betonung der Offenbarung, die dem Glauben seine Ge- danken gibt, wieder mehr dem Standpunkt der orthodoxen Theologie. Er hat damit den Theologen, die mit dieser gebrochen haben, einen schweren Anstoß gegeben. Und es läßt sich nun auch nicht leugnen, daß er zu dessen Überwindung nicht alles getan hat, was getan werden kann. Er bleibt in seiner prinzipiellen Stellung doch schließlich mehr im Banne der orthodoxen Gewohnheit, als die Erlanger Lutheraner. Freilich ist deutlich, daß er sich in ganz anderer Weise auf die Offenbarung beruft als die Orthodoxie. Ihm ist die Offenbarung- nicht eine vSumme von Lehren, sondern die Person Jesu in ihrer Kraft, auf Menschen so zu wirken, daß sie um seinetwillen auf Gottes Macht und Gnade vertrauen können. Der sich so offenbarende Gott ist für Ritschi der Inhalt des Evangeliums, dessen Gedanken er in dem dogmatischen System entfalten will. Auch die Verwertung der Heiligen Schrift ist in diesem System eine andere als bei Hof mann und Frank. Sie ist bei Ritschi nicht nur die Norm, nach der die frei entwickelten Gedanken des Christen nachträglich beurteilt werden sollen. Er will vielmehr diese Gedanken aus dem in der Heiligen Schrift vorliegenden, aber allerdings nur dem Glauben faßbaren Evan- gelium gewinnen. Die Heilige Schrift ist dann doch die Quelle dessen, was in der Dogmatik gelehrt werden soll. Das hat sie auch dem Pro- testantismus von Anfang an bedeutet. Der Glaube der Reformatoren wollte freilich selbst seiner Erkenntnis gewiß sein. Aber er vergaß dar- über nicht, wie sehr er in seiner Schwachheit der Offenbarungszeugen der Heiligen Schrift bedurfte, um seines eigenen Inhalts sich bewußt zu wer- den. Auch darin suchte Ritschi den Anschluß an die Reformation, auf den er so großen Wert legte.

Aber wenn man zugibt, daß Ritschi damit den Gefahren der „Be- wußtseinstheologie" entgegentrat und seine kirchliche Besonnenheit be- wies, so ist es doch fraglich, ob er damit die volle Kraft und Kühnheit

6 1 4 Wilhelm Herrmann : Christlich-protestantische Dogmatik.

des reformatorischen Gedankens bewahrte. In der Wendung, daß er nicht den Glauben, sondern das in der Heiligen Schrift vorliegende Evangelium zur Darstellung bringen wollte, kündigt es sich an, daß auch bei ihm das alte Erbübel der protestantischen Dogmatik nicht überwvmden wird. Auch er will die Gedanken, in denen der Glaube lebt, als normative Lehre vor- tragen. Daran knüpfen sich dann wieder die bekannten Folgen, Da diese Gedanken der Heiligen Schrift entnommen werden sollen, so werden sie, sobald ihnen in einer bestimmten Form normative Geltung zugesprochen ist, zu einer P'essel für die Auslegung der biblischen Bücher, Eine gewalt- same Exegese findet sich bei Ritschi ebenso reichlich wie bei Hof- mann und den orthodoxen Theologen, Dieselbe Gewaltsamkeit, die die Exegeten der Orthodoxie aufbieten, um den Gedanken des stellvertretenden Straf leidens möglichst oft in der Heiligen Schrift nachzuweisen, haben Hofmann und Ritschi nötig, um ihn aus der Heiligen Schrift zu be- seitigen. Daß sich der christliche Glaube an dem Auftreten eines solchen Gedankens freuen kann, auch wenn er darauf verzichtet, eine Lehre von allgemeiner Geltung daraus zu machen, wird bei der Aufgabe, die Ritschi sich stellt, nicht beachtet. Und doch ist es eine Lebensfrage für den Protestantismus, ob es gelingt, viele zu einer unbefangenen Freude an der Herrlichkeit der biblischen Bücher zu bringen und sie vor der Furcht zu schützen, daß sie da Gedanken begegnen möchten, die nicht Ausdruck ihres Glaubens sein können, aber Norm ihres Glaubens sein wollen. Es ist freilich ein richtiges Urteil über Ritschi: „Ihm ist die Offenbarung eine Größe, welche freudigen Widerhall in den Gemütern erweckt, weil sie uns wirklich offenbart, klar macht, offenbart, was unser Heil ist." Richtig ist auch der Satz: „Wenn Ritschi die Offenbarung, das Evangelium, die Heilige Schrift als solche zum Ausgangspunkt der Doginatik macht, so ist ihm dabei immer alles einheitlich zusammengefaßt in der geschicht- lichen Person Christi" (vergl. F. Kattenbusch, a. a, O. 6i). Wenigstens die Tendenz Ritschis ist damit richtig bezeichnet. Er hat g^esehen, daß die Person Jesu allein die den Christen erlösende Offenbarung Gottes ist. Aber er hat nicht gesehen, daß man im Besitz dieser Erkenntnis darauf verzichten muß, irgend welche Lehren an jener Würde der Offenbarung teilnehmen zu lassen. Mit dem Vorgeben, sie seien in der geschichtlichen Person Jesu zusammengefaßt, ist nicht viel ausgerichtet. Denn Lehren, die allgemeine Geltung beanspruchen, sind etwas ganz anderes als eine Tatsache, die von vielen erlebt werden und vielen eine Offenbarung Gottes werden kann. Daß Ritschi das nicht bemerkte, erklärt sich aus der Art, wie er den Ausdruck „die geschichtliche Person Jesu" verstand. Er meinte damit die Überlieferung, die besonders in den synoptischen Evangelien zu finden ist, mit Abzug einiger sagenhafter Züge, aber mit Einschluß der Auferweckung, Der Inhalt einer solchen Überlieferung ist nun ohne Zweifel nicht eine Tatsache, die wir selbst erleben. Die Überlieferung mit diesem Inhalt ist selbst eine Lehre. Es ist daher auch nicht schwer.

I. Die GrschicbtP. '^ I S

sie mit aiulern Lehren zusammenzufassen. Aber wenn wir den Ausdruck „die vreschichtliche Person Jesu" so verstehen, so haben wir kein Recht, sie die Tatsache zu nennen, die uns erlöst; denn sie hat dann für uns nicht einmal die Gewalt einer von uns selbst erlebten Tatsache. Auf jeden ball ist es nicht schwer, von dieser Auffassuiii»- Ritschis aus den Rück- weg zu dem orthodoxen Grundsatz zu finden, daß der christliche Glaube mit der willii2ren Annalmie einer Lehre seinen Anfant;- nehme. Und was hat er wohl mehr bekämpft als diesen Grundsatz?

Wenn nun aber vollends aus normativen Gedanken ein System ge- macht wird, so werden sie dem Leben der Religion, das sich nach ihnen richten soll, erst recht gefährlich. Ritschis System ist ausgezeichnet durch seine Einfachheit. Er ist ernstlich bestrebt, sich auf die Gedanken zu beschränken, die wirklich der Religion angehören. Aber daß eine wahrhaft religiöse Theologie auf ein System ihrer Gedanken verzichten muß, hat er nicht bemerkt. Sobald ein religiöser Gedanke in seine lo- gischen Konsequenzen entwickelt wird, kommt er mit andern in Konflikt, die ebenfalls zu dem Leben der Religion gehören. Das zeigt sich bei Schleiermacher an dem Gedanken der Allmacht, bei Hofmann und Ritschi an dem Gedanken der Liebe, der in dem Erlebnis der Vergebung entsteht. Nichts kann klarer sein, als daß dieser Moment des religiösen Lebens von dem Gedanken einer Liebe Gottes erfüllt ist, die in uner- schöpflicher Güte den Menschen umfaßt, so wie er ist und obgleich er nicht liebenswert ist. Sie stellt den Gottlosen als einen Gerechten hin; da wir noch Feinde waren, ist Christus für uns gestorben. Aber dieser Gedanke der in ihrer Güte unerschöpflichen Liebe ist dennoch nur in dem Menschen mächtig, bei dem der Gedanke mitklingt, daß gerade eine allmächtige Liebe für den vSünder das Gericht bedeutet. Jener Gedanke der Liebe, mit dem Hofmann und Ritschi freilich mit Recht vollen Ernst machen wollten, ist doch gerade nur dann ernsthaft religiös, wenn er ein Überwinden in einem inneren Kampfe ausdrückt. vSobald er über die Höhe eines solchen Lebensmoments hinausgetrieben und zu einem alles beherrschenden systematischen Grundgedanken ausgedehnt wird, er- schlafft er. Er droht dann eine Trivialität zu werden, vor der sich Men- schen, die in dem ernsten Lebenskampfe der Religion stehen, mit Schauder flüchten.

Es waren zwar in der Regel die römischen Reste im evangelischen Christentum, die in der ungeheuren Erbitterung gegen Ritschi auf- schäumten. Aber für die, die ihm viel verdankten, war es doch sehr schmerzlich, daß darin auch bisweilen der Unwille der tief verwundeten Religion zu bemerken war. Ritschi hat am Pietismus oft getadelt, daß er es nicht zu einer eigentümlichen Theologie gebracht habe. Ohne Zweifel hängt es damit zusammen, daß diese Bewegung mit ihrem Ringen nach lauterer Frömmigkeit sich doch immer bald in Orthodoxie, Rationalismus und grobe Nachbildungen katholischer Frömmigkeit verlor. Aber in diesem

6 1 6 "Wilhelm Herrmaxx : Christlich-protestantische Dogmatik.

theologischen Unvermögen des Pietismus ist dennoch oft der gesunde Drang zu spüren, ein Unheil los zu werden, das im evangelischen Christen- tum die Einzelnen unruhig und gereizt macht, und die religiöse Lebens- gemeinschaft, nach der sich alle sehnen, und in der sich jeder an den andern freuen könnte, nicht aufkommen läßt. Gerade bei dem kraftvollsten Systematiker der Theologie der letzten Jahrzehnte tritt dieses Unheil not- wendig am stärksten hervor. Denn es ist der bisherige Betrieb der Dog- matik im Protestantismus. Darin haben sich die Gedanken des evange- lischen Christentums mit einer für selbstverständlich gehaltenen katholischen Gewöhnung verschmolzen; im vorigen Jahrhundert ist dann noch ein phi- losophisches Motiv dazugekommen, das diese Dogmatik erst zu der vollen Kraft, Unfrieden und Verwirrung zu stiften, entwickelt hat. Indem wir uns dieser beiden Fehler bewußt werden, ergeben sich leicht die dringendsten Aufgaben, die der protestantischen Dogmatik für die nächste Zukunft ge- stellt sind.

Die Schädigung II. Die gegenwärtige Aufgabe einer kirchlichen Theologie

sehen Christen- dcs Protcstantisuius. Für das katholische Christentum paßt es, daß eine

tums durch die /- ■%

bisherige Dog- Summe von Gedanken, die m der kirchlichen Überlieferung oder schließlich ni der Heiligen Schrift geg^eben sein sollen, als Lehrgesetz für die kirch- liche Gemeinschaft aufgestellt und den Einzelnen als eine Forderung, der sie sich unterwerfen sollen, vorgehalten wird. Diese Forderung ist dort keine schwere Last. Es wird zwar auch dem katholischen Christen gesagt, daß er die Lehre der Kirche von Herzen glauben soll. Aber dadurch wird er nicht bedrängt, weil für ihn die Glaubensforderung zurücktritt hinter der umfassenderen, die Kirche als die alleinige Macht des Heils anzu- erkennen. Diese Unterwerfung unter die Kirche soll sich in einer Reihe von Handlungen vollziehen, unter denen sich auch der Glaube an die kirchliche Lehre befindet. Der Protestantismus dagegen bewahrt den ur- christlichen Gedanken, daß wir damit, daß Glaube in uns lebt, dem Ver- derben entnommene Menschen sind. Auf die Glaubensforderung fällt daher hier ein ganz anderes Gewicht als im Katholizismus. Es ist naturgemäß, daß sich der katholische Christ nicht zum Bewußtsein bringt, was allein ein Glauben von Herzen heißen kann. Solange das aber nicht geschieht, hat die Erfüllung der Glaubensforderung keine Schwierigkeit. Sie ist dann schon darin gegeben, daß man um sich her die Geltung der kirchlichen Lehre zu schützen sucht und in sich selbst alle Gedanken, die sich da- gegen erheben wollen, niederhält. Der evangelische Christ dagegen wird immer zu der Erkenntnis gedrängt, daß für ihn das nicht genug sein würde. Soll für ihn der Glaube die Erlösung selbst sein, die innere Ver- fassung eines befreiten Menschen, so kann er nicht mit einem solchen Werk abgemacht sein, das jeder ohne Mühe fertig bringt. Dem evan- gelischen Christen wird das Glauben von Herzen eine ernstere Sache. Er muß daher merken, daß er nur den Gedanken aufrichtig zustimmt, die

II. Die j;('{;cn\vani';c Aufjjabc einci kirihliclun Theologie des l'rotcslaiUibmus. Ol/

er als den Ausdruck seiner eigenen persönlichen Überzeugunj^- \'erstehcn kann. Dann entsteht nun aber für ihn eine qualvolle Situation, wenn er es sich i>efallen läßt, daß an ihn ebenso wie an den katholischen Christen eine der Überlieferung" entnommene Lehre mit dem Anspruch der Glaubens- forderung herantritt. Diese Forderung kann ohne Mühe zu allseitiger Be- friedigung so behandelt werden, wie es der katholische Christ tun darf. Dagegen ist es unmöglich, ihr so nachzukommen, daß zugleich das evan- gelische Verständnis des Glaubens dabei gewahrt bleibt.

Die evangelische Dogmatik unter Schleiermachers Führung hat die Tendenz, aus dieser Fage herauszuführen. In \erschiedenen Formen htiben namentlich Hofmann und Ritschi es so versucht, daß nun eben die im Glauben oder in der persönlichen Überzeugung des Christen lebendigen Gedanken als die normative Lehre für eine evangelische Kirche in der Dogmatik dargestellt werden sollen. Es sieht dann so aus, als käme es aus dem eigenen Glauben des Christen, wenn er diesen Gedanken folgt. Das ist aber ein gefährlicher Schein. In Wahrheit wird durch eine Dog- matik, die in solcher Weise, also unter Berücksichtigung" dessen, was der Glaube im evangelischen Christentum bedeutet, normative Lehren produ- zieren will, die Not in den Einzelnen und die Verwirrung" in der kirch- lichen Gemeinschaft gesteigert.

Es ist freilich richtig, daß wir nur die Gedanken mit herzlichem Glauben umfassen können, die nicht bloß von außen an uns herandringen, sondern in unserm eigenen Glauben erwachsen. Aber eben deshalb können diese in dem Glaubensbekenntnis des Einzelnen erklingenden Gedanken niemals als die für die christliche Gemeinschaft normativen Gedanken formu- liert werden, wie es die moderne Dogmatik des Protestantismus tut. Denn die christliche Gemeinschaft besteht aus einzelnen Menschen von indivi- dueller Art. Wenn diese religiös lebendig werden, so heißt das nicht, daß ihre geistige Eigentümlichkeit nivelliert wird, sondern daß sie in jedem zur Blüte kommt. Die religiösen Gedanken entstehen bei jedem aus den besonderen Erlebnissen, die gerade ihm die wichtigsten sind und die eigentümliche Art seines inneren Lebens ausmachen. Wenn er sich also durch eine Dogmatik normative Gedanken aufhalsen läßt, so wird er ge- rade dem entfremdet, woraus er allein die ihn leitenden Gedanken ge- winnen darf, der Quelle seines religiösen Lebens, die immer in ihm allein gegebenen Erlebnissen rauscht. Der vSchaden wird noch größer, wenn er sich durch den Dog-matiker belehren läßt, diese Gedanken seien deshalb für ihn normativ, weil es die Gedanken „des" Glaubens seien. Denn das Gewicht dieser Gedanken wird dadurch für ihn so erhöht, daß er sich ernstlich bemüht, sie als seine eigenen anzusehen. Wenn es ihm dann auch nicht bewußt wird, daß das auf Selbsttäuschung hinauskommt, so wird er doch durch die Tatsache gequält, daß er die bescheidenen An- fänge eigenen geistigen Besitzes verkommen läßt, um einen geistigen Reichtum in Besitz zu nehmen, der ihm nicht gehört.

6i8 Wilhelm Herrmanx: Christlich-protestantische Dogmatik.

Man kann nun freilich das bisherige Verfahren der Dogrnatik durch den Hinweis darauf in Schutz nehmen, daß doch ein Christ innerlich ge- klärt werden kann, wenn er mit den Gedanken zusammentrifft, in denen sich der Glaube der Apostel ausspricht. Er eignet sich dann diese Ge- danken wirklich innerlich an, wenn ihm deutlich wird, daß in ihnen herr- lich klar wird, Avas auch bei ihm vorhanden ist, aber in vieler Verworren- heit stecken bliebe, wenn ihm nicht solche Hilfe käme. Das wollen wir gewiß nicht bestreiten. Denn das ist gerade die Erfahrung, die die Christen immer wieder an der Heiligen Schrift machen, und durch die die evan- gelischen Kirchen genötigt werden, diese Überlieferung zu den Grund- lagen ihrer Gemeinschaft zu rechnen. Aber gerade weil es so ist, ist nichts verkehrter, als aus den Gedanken der Apostel auf irgend eine Weise, nach orthodoxer oder nach wSchleiermacherscher Methode norma- tive Lehre für alle zu machen. Denn erstens wird dem Christen, falls er den von außen an ihn herantretenden Gedanken diesen Anspruch zu- gesteht, das unbefangene Aufhorchen darauf, ob sie ihm wirklich jene Hilfe leisten, fast unmöglich gemacht. Zweitens wird er sicher dazu ver- leitet, sich über die Tatsache hinwegzusetzen, daß er nicht durchaus die- selben Gedanken haben kann, wie die Apostel, weil in ihm ein anderes individuelles Leben erwächst wie in ihnen.

Durch die Zumutung-, sich nach der von der bisherigen Dogmatik hergestellten normativen Lehre zu richten, wird der Christ um so mehr gequält, je mehr in ihm die Ahnung von der wirklichen Art des Glaubens aufkommt, also der evangelische Christ in der Regel mehr als der katho- lische. Deshalb richtet nun aber auch der Betrieb dieser Dogmatik bei uns in der kirchlichen Gemeinschaft viel mehr Unheil an, als auf rö- mischer Seite. Wer das Opfer schmerzlich empfindet, das er dem Götzen einer aus den Gedanken anderer zusammengesetzten normativen Lehre bringt, wird leicht aufgebracht, wenn er sieht, wie andere, die auch zur Kirche gehören wollen, dieses Opfer verweigern. Der katholische Christ, dem seine Art von Zustimmung zum Dogma nicht schwer fällt, hat dazu viel weniger Anlaß. Dagegen in den Lehrkämpfen, die die evangelischen Kirchen erfüllen, spürt man deutlich die Gereiztheit von Menschen, die sich von irgend einer Dogmatik haben einschnüren lassen, gegenüber allen, die auf andere Weise Christen sein wollen. Diese Streitigkeiten über die richtige Lehre werden freilich von vielen als ein Zeichen einer gesunden Bewegung angesehen, in der man darum kämpft, sich geistig zusammen- zufinden. Das ist aber so lange eine Täuschung, als die Kämpfenden fort- fahren, das Ideal der normativen Lehre in der bisherigen Weise festzu- halten und für ihren wenigstens zur Zeit besten Ausdruck die eigene Dog- matik auszugeben. vSobald man die Gedanken, in denen sich an einer bestimmten Stelle der Glaube von Christen ausgesprochen hat, zu einer Norm für alle macht, richtet man, wie durch jede dem Lebendigen an- getane Gewalt, Unfrieden an. Mit solchen Mitteln kann man wohl zwangs-

II. Die jjrfjrnwiirti^r Aufj,'abp rinn kin-hlichcn 'l'hcologio drs Protrstimlisrmis. 6 in

weise eine äußerliche Einicfiincf herstellen, aber die innere Einigung-, auf die es im Protestantismus ankommt, wird dadurch vereitelt. Es gereicht dem Pietismus zur Ehre, daß er eine Kirche, die notwendig in solche Rechthabereien hineintreibt, als eine Karikatur der religiösen Gemein- schaft empfand. Aber er hat das Übel nicht an seiner Wurzel erfaßt. Wo er sich auf Theologie einläßt, ist er bald wieder auf der Bahn der alten Dogmatik. Noch weniger ist damit gedient, wenn er sich aller Dog- matik zu entschlagen sucht.

Trotz allem, was sich als Schädigung der Kirche aus dem Trachten Die Xotwcndig- nach einer normativen Lehre ableiten läßt, ist es doch so, daß diese Ten- nach normativer

Lehre.

denz zu den Lebensbedingungen des evangelischen Christentums gehört. Wir müssen uns dessen bewußt werden wollen, was uns als Christen inner- lich einigt. Der Protestantismus würde zerfallen, wenn dieses Bewußtsein nicht in klaren Gedanken zum Ausdruck gelangen könnte. Es ist unter evangelischen Christen vorhanden und es muß sich deutlich aus der Mannig- faltigkeit des individuell bedingten religiösen Lebens herausheben, wenn wir nicht die uns zugefallene geschichtliche Mission im Stich lassen wollen, der mit den Kräften einer unantastbaren Anstalt nicht gedient wird. Je entschlossener wir auf dieses Mittel verzichten, desto nötiger haben wir die innere Einigung in jenem Bewußtsein. Sein Ausdruck aber ist die reine Lehre, deren wir bedürfen.

Also die Erzeugung einer normativen Lehre ist in der Tat die Auf- gabe, die die Dogmatik im Dienst des evangelischen Christentums zu er- füllen hat. vSie fehlt auch in der alten Dogmatik der verschiedenen Rich- tungen nicht ganz. Aber sie kommt da nicht zu der Wirkung, die ihr gebührt, weil ausdrücklich in einer anderen verkehrten Richtung die Einigung des Glaubens gesucht wird.

Christen können niemals völlig einig sein in den Gedanken ihres Glaubens. Da hat jeder Lebendige seine eigene Weise. Wenn man sich durch das Neue Testament wirklich belehren lassen wollte, müßte inan das an der wundervollen Fülle individueller Auffassungen, die dort vorliegt, deutlich sehen. Es ist ein grober Mißbrauch der heiligen Schriften der christlichen Gemeinde, wenn man diese Mannigfaltigkeit in Einigungs- formeln aufzuheben sucht. Was man auf diese Weise erreicht, ist im Neuen Testament nirgends vorhanden. Es ist aber auch in dem Herzen keines Christen lebendig, sondern ein Kunstprodukt, das eine Last für das Leben ist. Die Dogmatik muß aufhören, sich in solcher Weise lästig zu machen. Bevor sie die Gemeinde leiten kann, muß sie selbst einsehen, daß die Gedanken des Glaubens als Ausprägungen individuellen Lebens auseinandergehen müssen. Jeder Versuch, in der Form solcher Gedanken evangelische Christen zu einigen, ist vergeblich. Auch wenn die Dog- matik einen noch so vorsichtig und fein erwogenen Durchschnitt herzu- stellen sucht, wird doch jeder Christ, in dem sich das Denken des Glau- bens kräftig entwickelt, |sich*unbefriedigt davon abwenden. Und die Zu-

()20 WiLHELM lljiKKiiANiV : Chribllich-piolesLanlibche Dogmatik.

mutung, darin normative Lehre anzuerkennen, wird schließlich immer erbittern. Es muß erreicht werden, daß jeder Christ an den Gedanken des Glaubens, die eine Dogmatik treu und sorgfältig darzustellen sucht, sich freuen kann. Das ist leicht möglich, wenn bei dieser Darstellung der Anspruch, normative Lehre geben zu wollen, fallen gelassen wird. Aber die Dogmatik darf auf dieses Ziel nicht vollständig verzichten; es liegt nur in anderer Richtung. Nicht in den Gedanken des Glaubens können wir einig sein, wohl aber in dem Verständnis des Glaubens selbst. Damit ist der Dogmatik keine kleine und eine kaum in Angriff ge- nommene x\ufgabe g-estellt. Können wir uns in dem Verständnis des Glaubens wirklich einigen, so ist sein Ausdruck die normative Lehre des Protestantismus. Wenn wir aber einer solchen Lehre folgen sollen, so muß uns darin der Glaube als sittlicher Gehorsam klar gemacht werden. Die Wahrheit, daß der Christ seinen Glauben als Gottes Gabe erlebt, wird dadurch nicht getrübt, sondern in ihrem richtigen Sinn gesichert. Wir finden uns alle zusammen in der Erkenntnis, daß das wirklich religiöse Bedürfnis, das ernsthafte Verlangen nach Offenbarung Gottes sich nur in dem Streben nach Wahrhaftigkeit des Innern Lebens, in der Besinnung auf unser wichtigstes Erlebnis äußern kann. Gibt es einen Gott, so hat er sich uns nicht unbezeugt gelassen und will sich von uns finden lassen. Wir können ihn aber nur in dem finden, was uns als unser wichtigstes Erlebnis vor die Seele tritt. Es bleibt aber keinem Menschen, der nach Klarheit des Innern Lebens ringt, verborgen, vor welcher Erfahrung alles andere in ihm zurücktreten müßte. Der Mensch, der sich in seinem Selbst- bewußtsein als wahrhaft lebendig erfassen will, weiß recht gut, daß ihm das nur unter einer Bedingung erreichbar ist. Er hat es nicht, solange er sieht, daß über das, was ihm im Moment das Herz füllt, doch immer noch andere nicht dadurch gebundene Kräfte seiner Seele emporwachsen. Solange es so mit ihm steht, fehlt seinem innern Leben die Einheit und damit seiner unauslöschlichen Tendenz auf Selbstbehauptung die Wahrheit. Aus diesem tödlichen Zwiespalt wäre er heraus, wenn er in seinem eigenen Erleben einer Macht begegnete, der er sich ganz unterworfen wissen kann und muß. Darauf ist die religiöse Sehnsucht immer gegangen. Das kann auch jeder Mensch als die an den Drang nach Leben oder nach Selbst- behauptung geknüpfte sittliche Pflicht verstehen. Die Frage nach einer solchen Macht klopft immer von neuem an, damit das innere Leben, in dem der Mensch sich selbst gegenüber dem Fluß des Geschehens ab- schließen will, seine Einheit und damit seine Wahrheit gewinne. Der Gedanke des Ewigen, der in dem wissenschaftlichen und in dem sittlichen Denken waltet, bringt den Menschen nicht über den Eindruck hinweg, daß das iimere Leben, das doch seine menschliche Existenz ausmacht, Schein ist. Der ewigen Idee, deren Herrschaft er freilich anerkennen muß, muß er doch zugleich dieses sein Selbst entgegensetzen; denn er ist nicht gut, sondern soll es werden. Solange diese Spannung gegenüber

IT. Dir gofjt'nwiiilii;«' Aureal»' oiiici kircliliclicn 'I'licoloj^'ic des Vrolcslantisimis. ^)_> j

dem bestehen bleibt, dem er sich unterworfen weiß, emptindet er dieses Selbst, das sich mit seinem Anspruch, etwas für sich zu sein, nicht aus- löschen läßt, immer wieder als Schein, Die relijriöse Sehnsucht des Men- schen ist das Verlangen nach Wahrheit seiner menschlichen Existenz. Wer ganz darauf verzichten wollte, würde doch diese menschliche Existenz nicht aufgeben köniuMi, aus der sich unabweisbar ein solches Verlangen erhebt. Wenn wir ihm aber folgen und entschlossen das sein wollen, was wir in unserm menschlichen Selbstbewußtsein sind, so bleibt unser Fragen nicht ohne Antwort.

Unser menschliches Leben ist immer ein Leben in menschlicher Ge- meinschaft oder Geschichte. Darin aber kennen wir alle einen Moment, in dem die Spannung unseres Selbst mit der Macht, der es sich unter- worfen weiß, sich löst. In dem Moment, wo die Macht sittlicher Güte uns innerlich bezwingt, wird unser Verhältnis zu dieser Macht freie Hingabe, In dem Erlebnis reinen Vertrauens wissen wir uns ganz unterworfen und doch zugleich aufgerichtet in unserer inneren Selbständigkeit. Unser Selbst- bewußtsein oder unser inneres Leben wird darin wahrhaftig. Das Unter- worfensein und das Bewußtsein des eigenen Selbst, die sonst immer aus- einandergehen, sind dann tatsächlich geeint in freier Hingabe. Das läßt sich nur als Tatsache erleben; aber da, wo unser menschliches Leben steht, in der Geschichte, w4rd es erlebt.

Die Glaubensforderung der Religion bedeutet zunächst nichts anderes, als daß w4r uns auf dieses wunderbare Faktum besinnen, an dem uns das Verständnis für Wahrhaftigkeit des inneren Lebens aufg^eht. Daran knüpft die Religion die Verheißung, daß uns das, was wir erleben, einmal den Mut geben wird, die Macht, der allein wir uns selbst ganz unterworfen wissen können, und die damit Einheit und Wahrheit in unserm innern Leben schafft, in allem Wirklichen zu suchen; dann werden wir sie finden. Daß ein solcher Moment eintreten kann, ist dem Menschen verständlich sobald er aus der Wahrheit ist, sobald er in sich gehen kann, oder so- bald er sich zu der wahrhaftigen Selbstbesinnung des inneren Lebens auf- gerafft hat. Aber es kann freilich nur als Tatsache erlebt werden, deren Behauptung jedem innerlich unklaren und unwahrhaftigen Menschen wie ein stumpfes Dogma klingen muß.

Innerhalb des geschichtlichen Bereichs, in dem wir selbst stehen, können wir aber dem Menschen, der sich nach Wahrheit des inneren Lebens sehnt, noch etwas mehr zumuten. Wir können ihn auffordern, sich darauf zu besinnen, ob nicht auch er in der Tatsache der Person Jesu der geistigen Macht begegnet, die allein in der Welt die wunderbare Gewalt hat, sich die Geister in reinem Vertrauen zu unterwerfen. Wir können es getrost auf die Probe ankommen lassen. Daß die Person Jesu diese Kraft hat, wissen wir. Wer sie verspürt hat und ihn dann doch vergessen kann, richtet sich selbst zugrunde. Wer aber um der Wahr- haftigkeit willen in diesem Faktum den wichtigsten Inhalt seiner Existenz

62 2 Wilhelm Herrmanx : Christlich-protestantische Dogmatik.

festhält und in allen seinen Kämpfen in ihm die Quelle innerer Erhebung sucht, wird der Offenbarung des Gottes inne werden, der ihn wahrhaft lebendig" macht. Wissen wir uns der Gewalt Jesu in reinem Vertrauen frei unterworfen, wie wir es sonst nirgends erfahren können, so kann in uns das geschehen, daß wir die schaffende Kraft, die in allem Wirklichen waltet, in dieser geistigen Macht anerkennen, an der wir es erleben, daß sie die uns am nächsten liegende Wirklichkeit, die Einheit unseres inneren Lebens schafft. Den Mut dazu gibt uns die Gewalt Jesu über uns und sein Glaube an Gott. Wir sehen, wie er aus seiner Hing-abe an Gott die Kraft der Güte gewinnt, in der er sich selbst und uns überwindet. In dem grenzenlosen Vertrauen zu seiner Güte wird sein Glaube an Gott unser Glaube. Wir merken, daß uns dabei nicht etwas uns Fremdes auf- genötigt wird, sondern daß eine Überzeugung, die in uns selbst hervor- drang, von den Schranken unserer Schwachheit befreit wird. Denn jeder Mensch, der einmal erlebt hat, daß er selbst in dem Vertrauen zu sitt- licher Güte völlig bezwungen wurde, ahnt auch, daß ihn dabei die schöpfe- rische Macht berührt hat, die in dem Wirklichen herrscht. Die Haupt- Dicscm Ursprung des Glaubens nachzuforschen, ist g'egenwärtig die

kirchlichen wlchtlgstc Aufgabc der Dogmatik. Sie soll eine Waffe werden gegen die beiden Übel, die jetzt die Christenheit unerträglich belasten, gegen die Pietätlosigkeit, in der die Menschen ihre Lebenskräfte verbrennen, und gegen die Gesinnungslosigkeit, die den Wahn des Dogmas erzeugt, als ob die Religion die Willkür einer Seele wäre, die sich in Vorstellungen ein- wickeln will, die nicht aus ihr selbst g'equollen sind.

Wir bedürfen dringend dessen, daß unter uns der kindische Übermut unterdrückt wird, der das, was er nicht verstehen kann, als wertlos bei- seite wirft. Ein solcher Übermut wird dem, der sich vor der Person Jesu gedemütigt und an ihr aufgerichtet hat, sicherlich vor der Über- lieferung vergehen, die uns die Anschauung der Macht Jesu vermittelt Jeder, dem sie das gegeben hat, hat auch die Bescheidenheit, ihr auch da verborgene Schätze zuzutrauen, wo für ihn gegenwärtig noch nichts zu gewinnen ist. Aber die Kirche selbst versucht die Menschen, die in ihrem Bereiche aufwachsen, selbst zur Pietätlosigkeit, solange sie ihnen eine Glaubensforderung vorhält, deren Erfüllung Gesinnungslosigkeit be- deuten würde. Menschen, die das Unrecht einer solchen Forderung emp- finden, sind leicht so schwach, daß sie dann pietätlos gegen die heilige Überlieferung werden, zu deren Reichtum ihnen die Kirche den Weg" weisen sollte. Die Kirche richtet aber ein solches Unheil an, weil sie den Menschen, bevor sie überhaupt den Weg zum Glauben gewiesen sind, früher erzeugte Gedanken christlichen Glaubens mit der Forderung vor- hält, daß sie das glauben sollen. Sie tut das vor allem damit, daß sie der Gemeinde immer wieder eine \'orstellung \ on der Unfehlbarkeit der Bibel zumutet, die von allen ihren theologisch arbeitenden Vertretern als un- wahr erkannt ist.

II. Die jji'gcnwärlige Aufgabe einer kirclilicheu llieulogic des l'roleslanüsmus. 623

Die Kirche wird iniiiier kraftloser werden, wenn sie nicht den Mut findet, often zu sagen, daß Jsolche sittlich unklaren ßehauptungen den Menschen ruinieren und daß dem Christen nichts mehr nottut als das Ver- ständnis des Cjlaubens selbst. Dieser Mut bedeutet die Absage an die alte Dog-matik, die das evangelische Christentum einst durch Nöte hin- durchgeleitet hat, in denen seine äußere Lage eine Anknüpfung der christ- lichen Erkenntnis an unchristliche, aber noch lebendige Denkgewohnheiten der alten Kirche notwendig machten. Jetzt kann dem evangelischen Christentum die alte Dogmatik nicht mehr helfen, weil die ünsittlichkeit der Glaubensforderung, die dort erhoben wird, sich nicht mehr verhüllen läßt. Dann muß sich aber die Kirche an die hier geforderte Arbeit machen, die es rückhaltlos aufdeckt, daß imr das erlösender Glaube ist, der in seinen Wurzeln keine Willkür, sondern den Willen zur Wahrhaftig- keit und die in einem eigenen Erlebnis erfaßte Offenbarung Gottes findet. Das ist die dogmatische Arbeit, deren der Protestantismus jetzt bedarf.

Wenn wir aber so das Wesen und den Ursprung des Glaubens zum nie apoioge Verständnis zu bringen suchen, so dienen wir damit zugleich der apolo- "" * * " °'' ' getischen Aufgabe, auf die die christliche Gemeinde nicht verzichten kann. Ihr Glaube ist dadurch nicht zu schützen, daß man in ihm einen inneren Zusammenhang mit der Erkenntnis des nachweisbar Wirklichen darzulegen sucht. Die Theologen, die das immer wieder unternehmen, geben dabei das, was sie verteidigen wollen, auf. Was sich irgendwie aus dem All- gemeingültigen entwickeln läßt, kann nicht Ausdruck des Glaubens sein. Die Religion ist die Wahrhaftigkeit des individuellen Lebens. Die Wahr- heit ihrer Gedanken besteht also gerade darin, daß in ihnen sich die innere Lebendigkeit bestimmter Menschen aufrecht erhält. Aber viele Menschen können sich dadurch religiös zusammenfinden, daß ihnen die- selbe Tatsache das wichtigste Erlebnis verschafft. Wir Christen wissen, daß wir durch dasselbe wahrhaft lebendig werden. Wir werden als In- dividuen wahrhaftig in der freien Hingabe an die sich uns offenbarende sittliche Güte. Mit unserm so begründeten Glauben können wir uns, nur mit den Menschen auseinandersetzen, die auch etwas zu kennen meinen, woran ihr Selbstbewußtsein sein inneres Recht gewinne. Ihre so ent- stehende Weltanschauung können wir getrost an unsern Glauben heran- kommen lassen. Es wird sich wohl erweisen, daß allein der Grund unseres Glaubens dem individuellen Leben seine Einheit schaffen und seine Wahrheit geben kann. Denn kein Mensch, der zu sittlicher Er- kenntnis erwacht ist, kann sich einer andern Macht völlig unterworfen wissen als der sittlichen Güte, die sich seiner annimmt. Und wenn^es Menschen gibt, die darin ebenso wie wir die Lösung für die Schicksals- frage der Menschheit suchen, so wird es immer darauf ankommen, ihnen dazu zu verhelfen, daß ihnen die Person Jesu offenbar wird. Dann werden sie bald mit uns darin einig sein, daß seine Erscheinung für uns Menschen Leben und Tod bedeutet. Alle andern Versuche, den christHchen Glauben

524 WiLHF.r.Nr Hkrrmanx: Christlich-protestantische Dogmatik.

ZU verteidigen, kommen darauf hinaus, daß man ihn preisgibt. Wir können ihn g-egenüber den Menschen, die ihn ablehnen, nur dann theologisch verteidigen, wenn wir auch sie um Wahrhaftigkeit des Selbstbewußtseins oder des inneren Lebens kämpfen sehen. Nur in der Gemeinsamkeit dieses Strebens ist eine Verständigung möglich. Gegen die Angriffe von Menschen, die uns nicht verstehen können und die uns in ihrem Verzicht auf die sittliche Klarheit des individuellen Lebens unverständlich sind, dürfen wir uns mit Worten nicht wehren wollen. Überall aber, wo wir zu bemerken g-lauben, daß einem Menschen die innere Welt seines Selbst- bewußtseins wichtiger wird als alles andere, kann die theologische Apo- logetik ihr Werk beginnen. Es kommt dann aber nicht in erster Linie darauf an, daß wir ihn zu widerlegen suchen, sondern daß wir verstehen, wie auch er in seiner Weise die Zuversicht des Lebendigen gewinnen will. Wir können ihm dann mit der Erkenntnis beikommen, daß jeder Einzelne das Recht dazu nur in seinen eigenen Erlebnissen finden kann. Daß der Weg zu innerer Lebendigkeit die Treue ist, mit der wir auf das Wirkliche merken, das uns etwas zu sagen hat, weiß jeder, in dem der Drang nach Leben erwacht ist. Wir Christen aber können vielen helfen, wenn wir aufrichtig bezeugen können, daß wir das, was uns Religion ist, auf diesem Wege gefunden haben. Keiner kann es erkämpfen, jeder muß es als wunderbare Gabe empfangen, daß ihm etwas begegnet, woran er reine Abhängigkeit in freier Hingabe erlebt. Darin allein aber wird er wahrhaft lebendig oder in christlichem Sinne fromm. Indem wir dieses Verständnis der Religion verbreiten, bereiten wir der Herrschaft der Person Jesu in der Geschichte den Weg. Die Menschen werden ihm unterworfen werden, die keine Ruhe finden können, wenn sie nicht das Recht und die Kraft eines eigenen Lebens gewinnen. Wer die geistige Macht Jesu, einen Menschen zu völliger freier Hing-abe zu bringen, an sich selbst erfährt, hat die Frage gelöst, mit der sich sonst die Menschen vergeblich quälen, wie sie, grenzenlos abhängig, doch in dem Bewußtsein eigenen Lebens sicher ruhen können. Sich auf eine Tatsache, die uns zu freier Hingabe bringt, als auf den wichtigsten Gehalt der eigenen Existenz besinnen, heißt individuell lebendig werden. Und wo gäbe es eine Tat- sache, die darin dem persönlichen Leben Jesu gleichkäme, das uns aus der Überlieferung des Neuen Testaments aufleuchten kann? Die Entwicklung Dieses Verständuis der Offenbarung Gottes und der Religion macht

iler Glaubens- . ,,. -ti i i-i r^t

Bedanken, die rcmc odcr die normjitive Lehre des evangelischen Christentums aus, dem die Zuversicht zu Gott wirklich das Heil bedeutet. Darüber hinaus soll die Dog"matik freilich, wie bisher, das Leben des Glaubens an seinen Gedanken zur Anschauung bringen. Aber sie muß nicht nur darauf ver- zichten, diese Gedanken in der von ihr gebotenen Form für normativ aus- zugeben, sondern auch darauf, sie als ein wohlausgeglichenes System zur Darstellung zu bringen. Dieses Verfahren gehört dahin, wo das Denken seine Macht, seinen Gegenstand zu erzeugen, bewähren will, in ein System

II. Dil' <;i'iji>n\v;irlij,'i- Aufj,'al)e einer kirchlichen The()lo<,Me des Protestantismus. 62 '^

der Philo.sophie. Handelt es .sich aber in der Dogmatik darum, den Glauben darzustellen, der aus bestimmten Erlebnissen erwächst und den Menschen in seinem Selbstbewußtsein verwandelt, so können die Ge- danken, in denen diese Lebens vorgäng^e zum Ausdruck kommen, kein System bilden. Die orthodoxe Dog-matik hat mit sicherem Takt das System vermieden und die Form der loci bevorzugt. Man wollte die Lehren, die man aus Gottes Offenbarung in der Heiligen Schrift zu emp- fangen meinte, in ihrer ursprünglichen Härte stehen lassen und nicht ge- waltsam zusammenbiegen. Wir müssen das System aus einem andern Grunde ablehnen. Wir haben einen Lebensvorgang darzustellen, der ein Wechsel von Kämpfen und Siegen ist. Die Gedanken des Sieges, in denen sich die Freude an der eigenen Heilsgewißheit und an der Ge- meinschaft der Heiligen ausdrückt, sind andere als die Gedanken des Kampfes. Wenn jene in dem dritten Teil der Dogmatik dargestellt werden, so wird in den ersten beiden Teilen der Kampf des Glaubens in seinen beiden Richtungen als Überwindung der Welt und der Sünde behandelt. Aber auf allen Stufen und in allen Richtungen werden diese Gedanken nur dann richtig erfaßt, wenn ge^ieigt wird, wie sie in dem Lebensvorgang des Glaubens erzeugt werden. Geschieht das wirklich, so wird auch ohne weiteres klar werden, daß wir sie nicht zu einem wider- spruchslosen System vereinigen können. Denn sie tragen immer die Spuren des besonderen Anlasses, an dem sie entstehen. So trägt der Gedanke von Gott, den der Glaube faßt, wenn er das Bewußtsein der Sünde in uns klärt, besondere Züge, die sich nicht in dem Gedanken von Gott linden, der mit der Erkenntnis der Vergebung entsteht, die die Macht der Sünde überwindet. Deshalb kann man sich auch diese Gedanken nicht durch bloße logische Operationen aneignen. Wir können sie in ihrem wirklichen Sinn nur dadurch haben, daß wir an dem innern Vor- gang teilnehmen, in dem der Glaube erwächst und lebt.

Je mehr wir aber die individuelle Bedingtheit dieser Gedanken, ihre Das protestan- . . tischi' Schrift-

Verknüpfung mit dem eigenen Erlebnis eines jeden betont haben, desto prinzip.

weniger scheinen wir an dem festhalten zu können, was doch bi.sher das Leben der Religion in den protestantischen Kirchen kennzeichnete, näm- lich an der Absicht, uns in unserer religiösen Erkenntnis durch die Heilige Schrift leiten zu lassen. Aber die Wendung, zu der die Dogmatik in der Durchführung des Grundgedankens der Reformation auf der Bahn Schleier- machers gelangt ist, erweist sich gerade an diesem Punkte als echt pro- testantisch. Denn erst so wird es nun möglich, die Heilige Schrift wirk- lich in der Dogmatik zu verwerten. Früher konnte das nur in sehr be- schränktem Maße geschehen. Man wollte aus Schriftgedanken dogmatische Lehren machen. Aber indem man das tat, entzog man diesen Gedanken den Gehalt, den sie in einem biblischen Buch, das nicht als Fundgrube für dog- matische Lehren, sondern zu einem ganz andern Zweck geschrieben wurde, als Elemente eines besonderen geistigen Vorgangs gehabt hatten. Sobald

DiK Kultur dbr (^üüenwakt. I. 4. Ao

52 0 Wilhelm Herrmann: Christlich-protestantische Dogmatik.

die Verkümmerung überwunden war, unter der die Auslegung im Zeitalter der Orthodoxie gelitten hatte, wurde es oft bemerkt, wie stark die Ver- wendung in der Dogmatik den ursprünglichen Sinn der biblischen Gedanken veränderte. Daß man daher gerade in ernster Ehrfurcht vor der Heiligen Schrift auf diese Art von Schriftbeweis verzichten müsse, wird jetzt von Dogmatikem aller Richtungen eingesehen. Aber deshalb muß man keines- wegs etwa in der Art von Hofmann oder von Frank darauf verzichten, die Heilige Schrift als Quelle für die dogmatische Darstellung zu benutzen. Das wird im Gegenteil erst dadurch möglich und gefordert, daß sich die Dogmatik die einfache Aufgabe stellt, christlichen Glauben in seinem Leben und Wirken anschaulich zu machen. Während die Heilige Schrift die einheitliche normative Lehre, die die alte Dogmatik in ihr zu finden meinte, und die Kirche auch jetzt in ihr voraussetzt, überhaupt nicht darbietet, zeigt sie das Kämpfen und Ringen des Glaubens in solcher Mannigfaltig- keit und solcher Schärfe des Ausdrucks, daß jeder religiös Lebendige Licht für seinen Weg aus ihr empfangen muß. Es ist eine Tatsache, die sich immer wieder dem Christen aufdrängt, daß neben diesen strahlenden Bildern die Anschauungen, die er von dem Lebensvorgang des Glaubens aus sich selbst gewinnen kann, erbleichen. Dann können wir aber gar nicht anders, als für die Darstellung des Glaubens seine uns deutlichste Erscheinung in der Heiligen Schrift aufzusuchen. Daß Exegeten uns ein paulinisches Lehrsystem geben, kann uns nichts helfen. Paulus selbst hat keins g'ehabt. Dagegen haben wir nötig, daß wir den Apostel selbst in seinem Glaubenskampf kennen lernen. Eine solche historische Arbeit wie die von H. Weinel in seinem „Paulus", die von aller Rücksicht auf dog- matische Normen frei ist, aber das individuelle Leben in seinen feinsten Zügen aufzuspüren sucht, verschafft der Arbeit des Doginatikers die beste Förderung, auch wenn sie an einzelnen Punkten fehlgreift; daneben wären zahlreiche Arbeiten neuerer Exegeten zu nennen, die gerade in ihrer Befreiung von der Dogmatik für die Dogmatik fruchtbar werden. Niemand kann das Leben des Glaubens sehen, der nicht selbst zum Glauben erweckt wird. Unser eigener Glaube ist daher das unentbehr- liche Mittel zur Erfassung der Wirklichkeit, die wir darstellen sollen. Aber diese Wirklichkeit selbst suchen wir nicht bei uns auf, sondern da, wo Christen immer die mächtigste Erscheinung des durch Gott befreiten Geistes gefunden haben, in der biblischen Überlieferung. Da wird uns klarer als an unserem eigenen schwachen und durch die Gewohnheit ge- bundenen Leben, daß der Ursprung des Glaubens nicht in dem Annehmen von Lehren liegt, sondern in dem Vernehmen eines Gotteswortes, das zu uns selbst geredet wird. Da werden uns die Mittel gegeben, als unser eigenes Erlebnis die wunderbare Tatsache zu erfassen, die das uns völlig überzeugende Wort Gottes zu unserer Seele werden kann. Da sehen wir endlich in einer Mannigfaltigkeit, die sich in kein System zwingen läßt, das Emporwachsen dieses Glaubens im Überwinden der Weltmacht und

IT. Die {,'0<,'enwärtigc Aufgabe einer kirchlichen Theologie des Protestantismus. 627

der Sündonnot, und vernehmen aus den Feierstunden der Kinder Gottes zarte Gedanken, die \'orboten des Sieges.

Eine Dogmatik, die das Bild vom Leben des Glaubens zur Anschau- ung zu bringen sucht, das ein Christ aus der Heiligen .Schrift gewonnen hat, dient dem Frieden, dessen das evangelische Christentum bedarf, dem Frieden der Freude an dem individuellen Leben, das in unerschöpflicher Fülle in der Gemeinschaft sich hervordrängt, die in dem Dank für den Schatz der Heiligen Schrift und in dem Gedächtnis der für alle erlebbaren Tatsache der Person Jesu fest begründet ist. Die alte Dogmatik dagegen, die aus Gedanken, in denen fromme Menschen ihren Glauben ausgesprochen haben, normative Lehre machen will, jagt einem Phantom nach und schafft einen ziellosen Streit aller gegen alle, weil jeder am andern sehen kann, daß er das Ziel nicht erreicht hat, also nicht korrekt lehrt und glaubt. Schlimmer aber als das Getöse dieses Streites ist die Tatsache, daß dabei in der religiösen Gemeinschaft das Verständnis für die Religion versiegt. Die mit den Waffen der alten Dogmatik sich bekämpfenden Parteien ver- raten zumeist keine Ahnung mehr davon, daß der religiöse Glaube in jedem Falle ein Glück ist, das dem Einzelnen in besonderer Weise als die Wahrheit seines individuellen Lebens geschenkt wird.

Der Weg zur Religion liegt für jeden Menschen in dem Verlangen „Positive und nach Wahrhaftigkeit seines eigenen inneren Lebens. Diesen Weg scheinen tik.

die Vertreter der orthodoxen Dogmatik nach ihrer Theorie gänzlich ver- loren zu haben. Denn von dem Gehorsam gegen die Überlieferung er- wartet sie alles, von der Vertiefung in den Gehalt der eigenen Existenz nichts. Aber die in den Gewohnheiten der alten Dogmatik gebundenen Christen sind doch in ihrer Praxis immer noch auf dem richtigen Weg. Ihre radikalsten Gegner, die nur das wissenschaftlich Faßbare als wirklich anzusehen vorgeben, bemerken nicht, daß sie fortwährend in ihrem eigenen Selbstbewußtsein eine Wirklichkeit behaupten, die von keiner Wissenschaft als solche erwiesen werden kann. Ohne Zweifel sehen sie sich selbst als wirklich lebendig an, ihr gesamtes Verhalten ist von dieser Vorstellung durchdrungen. Aber wie sie das Recht dieser Vorstellung und damit die Wahrheit ihres eigenen inneren Lebens gewinnen möchten, kümmert sie nicht. Daß der Mensch in seinem Selbstbewußtsein auch eine Wirklich- keit sei, die neben den wissenschaftlich faßbaren Sachen auch Beachtung verdiene, fällt in diesem Zeitalter der Humanität vielen nicht mehr ein. Sie halten es sehr gut bei einem Scheinleben aus. Daß sie damit in sich selbst und in anderen den Untergang des Menschlichen fördern, macht ihnen keine Sorgen, obgleich sie sonst bereit sind, für die Idee der Huma- nität Opfer zu bringen. Gegenüber dieser Masse von Menschen, die in Arbeit und Genuß sich selbst verlieren, vertreten die wenigen, die wirklich noch in ihrer Denkweise durch die alte Dogmatik bestimmt werden, das wahrhaft Menschliche. Bei ihnen ist wenigstens in ihrer Ehrfurcht vor der Heiligen Schrift die Möglichkeit erhalten, sich auf den mächtigsten

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628 Wilhelm Herrmaxn: Christlich-protestantische Dogmatik.

Inhalt der Geschichte zu besinnen und dadurch ihre Existenz zu bereichem. Es bleibt ihnen damit möglich, in dieser Überlieferung das herauszufinden, was ihnen gegenwärtiges Erlebnis werden und durch seine Gegenwart ihnen die tiefe Ruhe und die rastlose Bewegung des Lebendigen geben kann. Wo die alte Dogmatik wirklich noch herrschen kann, kann sie auch den Menschen durch ihre Treue gegen die Überlieferung viel helfen.

Aber nun ist ja unleugbar, daß sie sich in der Theologie nicht mehr behaupten kann. In der Gemeinde ist die Voraussetzung der orthodoxen Dogmatik in der Regel noch in Kraft, und damit pflegt die Meinung ver- bunden zu sein, daß es mit den Theologen, denen man vertraut, ebenso steht. Es gibt auch noch immer viele Theologen, die es nicht für nötig halten, offen zu gestehen, daß sie mit dem Grundsatz der orthodoxen Dogmatik gebrochen haben. Sie werden von der Gemeinde positive Theo- logen genannt und nennen sich selbst so. Sie meinen auch nichts zu ver- schleiern, was sie offen legen müßten. Denn sie sind überzeugt, daß sie in der Hauptsache mit der orthodoxen Dogmatik einig sind. Sie sind es in dem Grundsatz, daß jeder Mensch, der sich nach Frieden und Kraft der Seele sehnt, an den Quellen der Heiligen Schrift sein Verlangen stillen kann. Aber der Gemeinde , die ihnen Vertrauen schenkt, genügt das in der Regel nicht. Hier ist die Voraussetzung nicht bloß die, daß die Heilige Schrift eine absolute Bedeutung in der Geschichte hat, sondern daß ihr absoluter Gehorsam gebührt. Man macht sich hier gar nicht einmal klar, welche ungeheure Bedeutung dieser Überlieferung damit zugesprochen wird, wenn man zu behaupten wagt, daß jeder sittlich erwachte Mensch nur an dem, was sich in ihr am herrlichsten ausspricht, an dieser Mensch- heit und an diesem Gott, seine innere Befreiung erlebt. Für die von den positiven Theologen unserer Zeit geleiteten Gemeinden verschwindet das alles neben dem einen, daß man ein Christ nur sein könne in unbedingter Unterwerfung unter die Heilige Schrift. Nur mit diesem Grundsatz meinen sie eine klare und gesicherte Stellung zu gewinnen. Sie meinen natürlich auch darin mit den Theologen, die sie positiv nennen, einig zu sein. Aber kein Theolog, der etwas Einblick in die ^Methode historischer Forschung gewonnen hat, kann eine solche X'oraussetzung in seiner Doginatik erfüllen. Die Dogmatik der „positiven" Theologie, von deren Existenz vor der Ge- meinde geredet wird, damit sie sich an diesem Wahrheitszeugen aufrichte, existiert gar nicht.

Es existiert nur die Tatsache, daß die evangelische Kirche nicht im- stande ist, ohne die geistigen Mittel der orthodoxen DogTiiatik das reli- giöse Bedürfnis der Gemeinde zu befriedigen, und daß die Theologie, die sich in diese Tatsache fügt, nicht mehr imstande ist, die orthodoxe Stellung zu behaupten, also notgedrungen es sich gefallen läßt, daß sie für etwas genommen wird, was sie nicht ist. Die positiv genannten Theologen wissen selbst am besten, daß infolge ihrer eigenen fortgesetzten Bemühungen die Gemeinde nichts weniger verstehen kann, als daß Jesus Christus allein so,

II. Die gegenwärtige Aufgabe einer kirchlichen Theologie des Protestantismus. 620

wie er g^egenwärtig erlebt werden kann, der Grund der Zuversicht zu Gott für einen Christen ist. Sie meinen daher wegen der von ihnen selbst gepflegten Verständnislosigkeit der Gemeinde der Kirche nicht anders dienen zu können, als so, daß sie wenigstens so tun, als ob sie die Kraft hätten, die Ansprüche der Geschichtswissenschaft, deren Methode das Fun- dament der orthodoxen Dogmatik zerstört, zum Heil der gläubigen Gemeinde niederzuschlagen. An dieser Praxis mag oft viel Schuld der Unlauterkeit und Feigheit haften. Aber noch sichtbarer ist, daß diese Männer dabei einer Not gehorchen, der sie als evangelische Christen bei ihrer Vorbildung nicht ausweichen können. Wenigstens für die meisten von ihnen gibt es nur die Wahl zwischen einer etwas modernisierten orthodoxen und einer liberalen Dogmatik. Wenn sie in solcher Notlage sich für jene entschei- den, so sind sie zu entschuldigen. Denn die orthodoxe Dogmatik behält auch in starker Verdünnung noch zwei gewaltige Kräfte. Das unbedingte Zutrauen zu der Bibel ist darin ebenso ausgedrückt, wie die Zuversicht, daß Jesus Christus der Erlöser des Gewissens und der Überwinder des Todes ist. Hier kann sich also christliche Religion oder das Verlangen nach ihr geborgen fühlen. Freilich ruft diese Dogmatik den Widerstand der Richtung, die sich liberal nennt, notwendig hervor. Denn die Religion, die wirklich bei ihr Schutz findet, meint sie dadurch schützen zu müssen, daß sie der Wissenschaft, besonders der historischen Forschung Schranken aufzuzwingen sucht, die diese selbst sich nicht setzen kann. Das soll zum Besten der Freiheit der Religion geschehen. Natürlich aber wird dadurch die Himmelstochter, die nur in der Wahrheit frei sein kann, jämmerlich gebunden. Diese Stricke will die liberale Dogmatik mutig durchschneiden und freut sich mit Recht ihres Werkes. Aber sie scheint auch nicht viel anderes behalten zu wollen als zerschnittene Stricke. Sie wäre der ortho- doxen Dogmatik religiös überlegen, wenn sie das legitime Verlangen des Glaubens nach einer Macht, der er sich völlig unterworfen wissen kann, besser zu befriedigen vermöchte. Die angeblichen Vertreter der ortho- doxen Dogmatik können das nur erstreben, indem sie der Heiligen Schrift durch die gewaltsame Abwehr der historischen Forschung eine unmög- liche Sicherung zu geben suchen. Diese Art von Theologie wird daher überwunden, wenn das richtige Ziel, das sie sich steckt, wirklich erreicht wird. Jeder erreicht es für sich, wenn er in der Person Jesu, so wie er sie gegenwärtig erleben kann, der einzigen Macht begegnet, der er sich \ r)llig unterwerfen kann und muß. Die Theologie würde den Weg dazu für die Gemeinde frei machen können, wenn sie das Verständnis für diese religiöse Notwendigkeit gewänne. Aber an der liberalen Theologie unserer Zeit ist das in der Regel völlig zu vermissen. Ihre Vertreter sind groß als Virtuosen des Nachempfindens fremder Frömmigkeit, aber der Wille zu eigener Frömmigkeit gelangt bei ihnen selten in das Licht des Bewußtseins. Sie wissen anschaulich zu machen, wie die Propheten die Rede Gottes vernahmen, und wie die Seele eines Apostels voll Kampf

530 Wilhelm Herrmann : Christlich-protestantische Dogmatik.

und Frieden ist. Sie können von Worten Jesu den Staub der Jahrhunderte abwischen, ja sie können mit hoher Begeisterung- die unvergleichUche geistige Art Jesu schildern. Aber selten zeigt sich eine Spur davon, daß sie sich darauf besinnen wollen, was die Tatsache für sie selbst bedeutet, daß in anschaulicher Fülle ein siegendes persönliches Leben aus der Heiligen Schrift an sie herandringt. Wenn sie sich darauf besännen, würden sie wenigstens dazu schweigen, wenn andere den als Herrn ehren wollen, der allein ihre Seele ganz bezwang. Solange sie dafür kein Ver- ständnis haben, können sie auch das Werk der Theologie nicht tun, das endlich das Gespenst der orthodoxen Dogmatik zur Ruhe bringen würde. Deshalb bleibt im Protestantismus der seltsame Schein, als ob es noch eine orthodoxe Dogmatik gäbe, und als ob diese die wirklich kirchliche Dog- matik wäre. Aber endlich wird sich doch in den Kirchen der Reformation die halbverschlafene Erkenntnis aufrichten, daß Religion Wahrhaftigkeit des inneren Lebens ist, und daß christliche Religion allezeit aus dem er- wächst, was ein Mensch selbst als die Wirklichkeit der Person Jesu er- lebt. Auch aus dieser Dämmerung wird einmal ein Tag, und dann wird die positive mit der liberalen Dog-matik in dasselbe Grab geworfen.

Literatur.

Die Literatur der protestantischen Dogmatik ist sehr umfangreich. Die Hauptmasse dieser Produktion pflegt aber schnell zu veralten, weil sie durch ihre Aufgabe immer mit den vorherrschenden geistigen Bedürfnissen der Gegenwart eng verbunden ist, Der Histo- riker, der sie zu lesen versteht, hat an diesen Büchern eine ergiebige Quelle für die Er- forschung eines Kulturkreises. Dagegen der Christ, der darin eine Hilfe bei seiner reh- giösen Klärung und Festigung sucht, wird selten etwas anderes als die Bücher seiner Zeitgenossen verwerten können. Eine Geschichte der Dogmatik, die in ihr einen Ausdruck des im Protestantismus sich entwickelnden geistigen Lebens veranschaulicht, besitzen wir noch nicht. Auch die sehr verdienstliche Geschichte der protestantischen Dogmatik von W. Gass (1854 67) hat ihre Stärke in der Behandlung technischer Fragen. Über die neueren Arbeiten orientieren vortrefflich die Übersichten von Arthur Titius in dem ,, Theologischen Jahresbericht", herausgegeben von G. Krüger und W. KÖHLER. Hier werden auch die wichtigsten französischen und angelsächsischen Beiträge zur protestan- tischen Dogmatik besprochen, auf die hier nicht eingegangen werden konnte, wenn der zur \'crfügung gestellte Raum nicht überschritten werden sollte.

Die Bücher, die ich bei meinen Ausführungen besonders im Auge hatte, sind die folgenden :

S. 583—87. Th. Kolde, Die loci communes Melanchthons (1521), 3. Aufl. (19c»); loannis Calvini Institutio rcligionis christianae, herausgeg. von B.AUM, CUNITZ und Reuss i86g.

S. 587 91. JOH. Gerhard, Loci communcs theologici (1610 25), zuletzt herausgegeben von Preuss 1864—75.

Gute Übersichten über die Arbeit der orthodoxen Dogmatik geben H. Schmid, Dog matik der evangelisch-lutherischen Kirche, 7. Aufl. (1893), und A. Schweizer, Glaubenslehre der evangelischreformierten Kirche (1847).

S. 591—93. S. Se.mler, Institutio ad doctrinam christianam liberaliter discendam (1774). Wegscheider, Institutiones theol. dogm. ed. 2 (1817}, ed. 8 (1884).

S. 593 601. R.Otto, Fr. Schleiermacher. Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Mit Übersichten, \'or- und Nachwort (1S99). O. RnsCHL, Schleier- machers Stellung zum Christentum (1888). E. FuCHS, Schleiermachers Religionsbegriff und religiöse Stellung zur Zeit der ersten Ausgabe der Reden (1901). Huber, Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher (1901). Schleiermacher, Erstes Sendschreiben an Lücke S. 271 72.

S. 601 6. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evange- lischen Kirche (1821, 2. Aufl. 1830). (Neuere Separatausgabe in der Bibliothek der Gesamt- literatur des In- und Auslandes, O. Hendel, Halle). M. Rade, Die Leitsätze der ersten und zweiten Auflage von Schleiermachers Glaubenslehre nebeneinandergestellt (1903). H. Bleek, Die Grundlagen der Christologic Schleiermachers (1898;. Schleiermacher, Zweites Send- schreiben an Lücke S. 481 83. P. Cle.men, Schleiermachers Glaubenslehre in ihrer Be- deutung für Vergangenheit und Zukunft (1905).

S. 606—7. J. MÜLLER, Lehre von der Sünde, 2 Bde., 5. Aufl. (1867); derselbe. Dogma- tische Abhandlungen (1870). J. A. DoRNER, System der christlichen Glaubenslehre, 2 Bde. (1879).

632 Wilhelm Herrmann: Christlich-protestantische Dogmatik.

S. 607—11. J. Chr. K. Hofm.\nn, Schriftbeweis, 3 Bde., 2. Aufl. (1857—60); derselbe, Schutzschriften (1856—59}. F. H. R. Frank, System der chrisüichen Wahrheit, 3. Aufl. (1894).

S. 611 16. A. RiTSCHL, Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, 3 Bde., 3. Aufl. C. V. KÜGELGEN, Die Dogmatik Ritschis, 2. Aufl. (1902). A. E. Garvie, The Ritschlian Theology (1899). G. Ecke, Die theologische Schule A. Ritschis (1897). O. Ritschl, A. Ritschis Leben, 2 Bde. (1896).

S. 616—19. J- Gottschick, Die Unkirchlichkeit der sog. kirchlichen Theologie (1890).

S. 619 25. J. Kaftan', Brauchen wir ein neues Dogma? 3. Aufl. (1890). M. Rade, Reine Lehre, eine Forderung des Glaubens und nicht des Rechts (1904).

S. 625 27. P. Gennrich, Der Kampf um die Schrift in der deutsch-evangelischen Kirche des 19. Jahrhunderts (1898). M. KAHLER, Unser Kampf um die Bibel (1902); derselbe, Das Offenbarungsansehen der Bibel (1903). O. Scheel, Luthers Stellung zur Heiligen Schrift (1902). E. Haupt, Die Bedeutung der Heiligen Schrift für den evangelischen Christen, 2. Aufl. (1891).

S. 627—30. M. KAHLER, Wissenschaft der christlichen Lehre, 4. Aufl. '1905). J. Kaftan, Dogmatik, 3. und 4. Aufl. (1901). M. Reischle, Christliche Glaubenslehre, 2. Aufl. (1904). O. Kirn, Grundriß der evangelischen Dogmatik (1905). M. SCHIAN, Unser Christenglaube (1902). P. Graue, Kurze Glaubens- und Sittenlehre für die evangelische Gemeinde (1902). R. B. Grützmacher, Hauptprobleme der gegenwärtigen Dogmatik (1902}. J. Kaftan, Zur Dogmatik, Zeitschrift für Theologie und Kirche, 13. Jahrgang. C. St.\NGE, Theologische Auf- sätze (1905). Th. Steinmann, Die geistige Offenbarung Gottes in der geschichdichen Offen- barung Jesu (1902). J. Lepsius, A. Harnacks Wesen des Christentums, 2. Aufl. (1903). Th. Kaft.\n, Moderne Theologie des alten Glaubens (1905). Th. Jellingh.auS, Das völlige gegenwärtige Heil durch Christum (1903). E. Troeltsch, Die Absolutheitheit des Christen- tums und die Religionsgeschichte (1902).

In diese Übersicht über dogmatische Schriften der neuesten Zeit habe ich nur solche Schriften aufgenommen, in denen ich ein Hinausstreben über den bisherigen Gegensatz von ,, positiv" und , .liberal" zu bemerken glaubte. Zur \'ervollständigung dieser Liste würde auch die Aufzählung zahlreicher Aufsätze in der ,, Neuen Kirchhchen Zeitschrift", in der ,, Zeitschrift für Theologie und Kirche" und in den ,, Protestantischen Monatsheften" gehört haben, unter denen besonders die Beiträge von J. GOTTSCHiCK und E. SULZE durch ihre Kraft hervorragen.

CHRISTLICH-PROTESTANTISCHE ETHIK.

Von Reinhold Seeberg.

Einleitung.

I. Geschichtliches, Die Ethik als Wissenschaft ist zuerst von dem Griechische Vater der abendländischen Wissenschaft zusammenhängend behandelt worden. Aristoteles beschrieb den Weg" zur Glückseligkeit als Tugend. Die Vernunft zügelt die Begierden, indem sie das Mittlere zwischen den Extremen wählt. Aus der Gewöhnung des Handelns erwächst die Tugend als ethische Beschaffenheit. Das beschauliche Leben , wie es auch die Götter führen, ist das Ideal, Weisheit die schönste der Tugenden. Die Stoa sah das Ideal in der Apathie den Gütern der Welt gegenüber. Die Schranke des Griechentums wird in seiner Ethik offenbar. Die Anschauung der Welt, die Ideen sind das Höchste. Die sittlichen Ideale sind klein, nah und schließlich negativ.

Dem hellenischen Intellektualismus trat der Voluntarismus des Urchristiiche Christentums gegenüber. Gott ist Wille und der Mensch ist Wille. Gottes Herrschaft leitet die Geschichte hin zu dem Ideal des Reiches Gottes. Der Herrschaft Gottes unterwirft sich der Mensch im Glauben, am Kommen des Reiches arbeitet er im Dienst der Liebe. „Schaffet mit Furcht und Zittern eure Seligkeit, denn Gott wirket in euch das Wollen und das Vollbringen" (Phil. 2, 12 f.). „Gott... mache euch bereit zu tun in allem Guten seinen Willen, indem er in euch das vor ihm ^Vohl- gefällige wirkt durch Jesus Christus" (Hbr. 13, 21). Gott wirkt, und wir sollen auch wirken, solange es Tag ist (Joh. 5, 17; g, 4). Das „Herz" oder die praktische Vernunft tritt in den Mittelpunkt des Lebens. Ein über- quellender Reichtum an Vorstellungen und Ausdrücken tritt ein, um die Gesinnung des Menschen gegen Gott und den „Nächsten" zu bezeichnen. Diese Gesinnung richtet sich auf das höchste, die ganze Welt umspannende Ziel des göttlichen Reiches und sie gibt sich kund in der Treue im kleinen und in der einfachen ungeheuchelten Tat der Liebe. So werden Gemüt und Wille unausgesetzt angespannt zum höchsten Ziel und betätigen sich doch im wirklichen Leben. Vor der „Lust" der Welt hat das Christentum

534 Reinhold Seeberg: (.'hristlich-protestantisclie Ethik.

gewarnt und ihre Güter hat es geringgeschätzt. Aber nichts ist so unzu- treffend, als es darum als „finster", „weltflüchtig" oder „asketisch" zu be- urteilen. Freilich sind auch diese Züge anzutreffen, aber einmal sind sie als Ausdruck des Gegensatzes zu der äußerlichen Moral des Judentums und zu der Weltversunkenheit der heidnischen Gesellschaft zu beurteilen, sodann sind sie in die Christenheit eingedrungen aus der weltflüchtigen Stimmung der späteren griechischen Popularphilosophie. Weltflucht und Asketismus gehören nicht dem Prinzip des Christentums an, sondern sie haften gewissen zeitgeschichtlich bedingten Ausprägungen dieses Prinzips an. Auf die Tendenz gesehen, hat das Christentum eine neue Ethik in die Welt gebracht. Gesinnung, Wille, Liebe, Hingabe an Gottes Sache, um mit Daransetzung aller Kraft das zu wirken, was Gott will und wirkt, das ist ihr Inhalt.

Augustins Ethik. In ungeheuren weltgeschichtlich programmatischen Gedanken hat

Augustin diese Tendenzen dargestellt. Verloren und verderbt ist das Menschengeschlecht, ewig unruhig pulsiert in ihm der Wille als böse Lust. Aber über der Menschheit waltet der allmächtige Gotteswille. Er wandelt sie um, indem er den guten heiligen Willen der Liebe den Herzen ein- gibt. Jetzt will der Mensch das Gute und er erkennt die ewige Wahrheit der göttlichen Ideenwelt. Das ist seine Lust und Seligkeit, sein Friede. Nun ringen hinfort zwei Welten in dieser einen Welt miteinander. Der Gottes- und der Weltstaat stehen einander gegenüber. In diesem vollzieht sich die Entwicklung des Bösen vom Teufel her, in jenem die Ent- wicklung des Guten von Gott her. Die Guten und die Bösen, die Christen und die NichtChristen, oder auch die Kirche und der Staat sind die beiden Faktoren der weltgeschichtlichen Entwicklung. Hier lag ein Schwanken vor, das verhängnisvoll geworden ist; ähnliches findet man in Piatos „Staat".

Die raitteiaiter- Dicsc Gedanken beherrschen die Ethik des Mittelalters. Mit ihnen

liehe Ethik.

verband sich ein weiterer Begriffskomplex der alten lateinischen Kirche : das Christentum ist das neue vollkommene Gesetz; wem in der Taufe die Sünde abgewaschen, soll dies Gesetz erfüllen, womöglich über das Ge- botene hinaus auch bloß Angeratenes tuend; so erwirbt er sich vor Gott geltende Verdienste. Mit Augustin lehrte man, die durch die Sakramente einge- gossene Gnade repariere die von der Sünde korrumpierte Natur und mache sie fähig, das Gute zu tun. Das Gesetz aber, wie Natur, Bibel und Kirche es lehren, führe jene Fähigkeit zur guten und verdienstlichen Tat. Dabei konnte der Ton mehr auf die eingegossene Gnade oder mehr auf das eigene Werk fallen; das augustinische sola gratia und die eigenen merita des Menschen schließen einander aus und sind doch mancher Kombination untereinander fähig. In die großen Systeme der mittelalterlichen Theo- logen ist viel ethischer Stoff" eingestreut. Feine psychologische Erörterungen über den Sündenzustand, eingehende Entwicklungen der Tugenden, wichtige sozialethische Anleitungen liest man in ihnen, oft an Stellen, wo man sie

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nicht eben sucht. Von Aristoteles lernte man die Jithik als Tugendlehre zu beschreiben. Zu den vier griechischen Kardinaltugenden (Weisheit, Tapferkeit, Mäßigung, Gerechtigkeit) treten die drei christlichen Tugenden (Glaube, Liebe, Hoffnung). Jene sind erworbene Habitualitäten und dienen zur Erfüllung des natürlichen Vernunftgesetzes, diese sind eingegossene Habitualitäten, durch die das göttliche Gesetz befolgt werden kann. Zum Gebrauch der Sakramente und zum Gehorsam gegen die Satzungen der Kirche leitete die mittelalterliche Ethik an. Darüber hinaus lag das Ideal der „Vollkommenheit", der Verzicht auf die Beziehungen zur Welt, auf Eigentum, Ehre, persönliche Geltung, das Leben der Askese mit der Hoffnung auf Ekstase. Und alles umschloß die katholische Kirche. Sie ist der Gottesstaat. Ihr Gesetz soll die Welt leiten und ihre Regenten sind die Oberherren der Staaten und ihrer Fürsten. In dieser Form wurde dem mittelalterlichen Menschen der Gedanke von dem Sieg des Christentums und seiner Absolutheit konkret, aber die konkrete Form zerdrückte den idealen Inhalt.

Die neue Zeit brach an. Das Bewußtsein persönlicher Freiheit, der Die Ethik der

Reformation.

Sinn für die natürlichen Güter, eine kräftige nationale Empfindung kenn- zeichnen sie. Die Ethik der Kirche wurde diesem neuen Geist zur Fessel. Sie bot Negationen statt positiver Leitung. Hier griff die Reformation ein. Sie hat das Christentum von den Hüllen der Antike befreit, sie ist auf das Urchristentum zurückgegangen und sie hat die christliche Religion den Menschen ihrer Zeit wieder verständlich und eindrucksvoll gemacht. Der Gedanke des Glaubens wird tiefer gefaßt, nicht Fürwahrhalten der Kirchenlehre, sondern inneres Empfinden, Erfahren, Annehmen, Vertrauen ist der Glaube. Der heilige Geist wirkt ihn und den heiligen Geist empfängt er. Eine persönliche Lebensgemeinschaft zwischen Gott und dem Menschen kommt durch ihn zustande. Der gläubige Mensch erfüllt in freudiger Hingabe Gottes Willen. Dem Glauben ist die Liebe gegeben, nicht nur aufgegeben. In den von Gott gegebenen natürlichen Formen des Berufs führt der Mensch den Dienst Gottes aus. Das natürliche Leben in der Ehe, dem sozialen Zusammenleben und Erwerb, im Staat ist von Gott. In diesen Lebensformen kann man Gott dienen. Man kann als Gotteskind eine freie Persönlichkeit, ein treuer Diener des Staates, reich, glücklich verheiratet sein, man kann Christ und ein Feind Roms sein. Der Staat und das soziale Leben sind in ihrer Natürlichkeit berechtigt; nicht durch gesetzliche Ordnungen, sondern durch die innerlich umwandelnde Kraft der Wahrheit und der Liebe soll die Kirche sie leiten. Aus einer kirchen- rechtlichen Größe wird die Kirche eine geistige Macht des sittlichen Lebens. Kirchlichkeit ist freie Überzeugung, nicht bloße Unterwerfung. Geistig und innerlich ist die Herrschaft, die in dem Dienst der Liebe die Kirche und der Christ über die Welt ausübt. Die guten Werke werden nicht aufgegeben, sondern sie werden in ihrer inneren Notwendig- keit erkannt und aus dem religiösen Glauben an Gott hergeleitet.

f)7(y Reinhold Seeberg: Christlich-protestantische Ethik.

Persönliche Lebensgemeinschaft mit Gott, der freie Gottesdienst der PersönUchkeit, sein Spielraum im natürlichen Leben und Beruf, die Auf- gabe, die natürlichen Gemeinschaften des Lebens geistig mit heiligen Kräften zu durchdringen das war die neue Ethik. Sie löste den Konflikt, in den die Kultur der Zeit mit dem kirchlichen Christentum ge- raten war. Man konnte Kind seiner Zeit und frommer Christ sein. Ein Idealismus ohnegleichen kennzeichnet die reformatorische Ethik. Nichts hat an der Reformation so sehr irre gemacht als dieser Idealismus des Glaubens und der Liebe. Die Humanisten wollten eine handgreiflichere Besserung der Sitten, die christlich sozialen Reformer wünschten eine christliche Lösung der sozialen Fragen der Zeit (Bauernkrieg). Man hat viel praktisch gebessert, aber ein unpraktischer idealistischer Zug haftete doch der lutherischen Reformation an. Eine neue Richtung ist dann aufgekommen, sie wollte die Reformation praktisch vollenden. Das war die Tendenz der „Reformierten". Das Christentum sollte das Leben durchgreifend im einzelnen umbilden. Das Gesetz des Evangeliums sollten die Einzelnen „präzis" erfüllen, die Kirche den Staat faktisch und praktisch leiten. Die Reformation Calvins ist wirklich „praktischer" gewesen als die Luthers, denn sie hat mehr acht gehabt auf die kleinen Bedürfhisse des wirklichen Lebens durch die Betonung des Gesetzes, der Kirchen- ordnung und der kirchlichen Pflichten des Staates, aber das ethische Programm des Luthertums griff tiefer und reichte daher weiter. Es be- herrscht die ganze ethische Entwicklung der Folgezeit. Absolut sicher im ganzen, dehnbar im einzelnen so sind die weltgeschichtlichen Programme immer. Die ältesten Die ältestcn ethischen Werke des Protestantismus, die wir besitzen,

protestantischen . . .••■ t^i -i -i k iiiorr i_

Ethiken. smd Sicher m ihrer 1 endenz, unsicher m der Auswahl des Stottes, schwan- kend in seiner Durchdringung. So die Lutheraner Thomas Venatorius (de virtute christiana libri tres, 1529), G. Calixt (Epitome theologiae moralis, 1634), Dürr (Enchiridion theologiae moralis, 1662), der Reformierte Danäus (Ethices christianae libri tres, 1577). Wichtiger als diese Werke war die ethische Psychologie in Luthers Schriften, Melanchthons aristote- lischer Begriffsapparat und Calvins unerbittliche sittliche Zucht. Die Ethik des Es ist bekannt, daß die Reformation auch die katholische Kirche

reformiert hat. Denkt man an die Ethik, so ist keine Erscheinung in dieser Hinsicht so wichtig, als der Jesuitismus. Das gjoße Problem, wie man als moderner ]Mensch Christ sein könne, hat auch der Jesuitismus in seiner Weise gelöst. Er wurde so zum Rivalen des Protestantismus, das ist seine weltgeschichtliche Stellung. Auch er richtete sein Interesse auf die freie Persönlichkeit, und er fand einen Weg, in der Welt zu leben und doch kirchlich zu bleiben. Die sinnliche Askese wurde zurück- gedrängt durch die „exercitia spiritualia", die den Willen narkotisierten und so den Menschen willig machten. Dazu kam das Raffinement des Beichtstuhls, wieweit man der Welt sich hingeben konnte, ohne der Kirch-

Einleitung. I. Geschichtliches. 5 in

lichkeit verlustig zu gehen. Welches Maximum an Weltlust möglich, und welches Minimum an Christlichkeit nötig ist, das war es, was schließlich die jesuitische Ethik leitete. Aber man hütete sich dabei vor äußerlichem Gresetztum, immer wieder wird die Persönlichkeit mit in die Betrachtung hineingezogen, auf ihre „Intention" kommt es an, sie muß nur richtig kirchlich „dirigiert" werden. Beispiele hierfür sind bekannt. Niemals ist die christliche Sittlichkeit so korrumpiert worden, als durch den Jesuitismus. Hier war schließlich alles erlaubt, wenn es nur klug überlegt und die äußere Form der Kirchlichkeit gewahrt wurde. Das Problem war gelöst: der moderne Mensch konnte in der Kirche bleiben und alle sündhaften Lüste der Welt behalten. Das ist eine Parallele zur Ethik des Prote- stantismus und es ist zugleich der schroffste Gegensatz zu ihr; hier Klugheit, dort Gesinnung, hier der gewahrte Schein, dort Wirklichkeit, hier Äußer- lichkeit, dort Innerlichkeit.

Die ethischen Gedanken der Reformation sind zunächst nur gebrochen Die Zcit der

r-Ti 1 Tx-/-^ i-i- /^i protestantischen

und abgestumpft ins Leben emgedrungen. Die Gerechtigkeit aus Glauben onhodoxie. wurde von der Orthodoxie des 17. Jahrhunderts lediglich unter dem Ge- sichtspunkt der Zurechnung der Gerechtigkeit Christi verstanden. Vom Verderben der Sünde hatte man ein starkes Empfinden, hatte sie doch den Tod des Sohnes Gottes nötig gemacht. Aber hierdurch war man gesichert und getröstet. Es fehlte an kräftigen Motiven, die Sünden zu bekämpfen. Es blieb bei der ideellen Gerechtigkeit der Sündenvergebung. Man gewöhnte sich an den Gedanken der Unüberwindlichkeit der Macht der Sünde. Der Kampf wider sie erschlaffte, im Beichtstuhle gingen die Sünden restlos auf in Christi Gerechtigkeit. Die Hoffnung blieb, daß es im Himmel besser werden würde. Dazu kam die einseitige Betonung der „reinen Lehre", sowie die Konzentration der sittlichen Gedanken auf die Privatverhältnisse. Es war eine schlimme Folge der Pietät Luthers gegen den Staat, daß man alle seine Institutionen als gegebene göttliche Ordnungen und alles, was von „oben" kam, als von Gott gewollt betrachtete. Die Theologie hatte den Primat in dem geistigen Leben, aber die Kirche stand unter dem Episkopat der Landesherren.

Pietismus und Aufklärung haben die Überwindung der ethischen Der Pietismus. Rückständigkeit der Orthodoxie angebahnt. Der Pietismus hat die Ge- danken Luthers, daß das Christentum persönliche innere Erfahrung und ein neues von Gott gewirktes sittliches Leben ist, wieder kräftig in den Vordergrund geschoben. Er hat sodann die reformierten Tendenzen auf strengere Zucht und Kontrolle des sittlichen Lebens und auf die sozialen Aufgaben der Christenheit Luther selbst hatte sie kräftig betont in das allgemeine sittliche Bewußtsein eingeführt. Diese beiden sittlichen Tendenzen des Pietismus haben sich aber zunächst konkret in der Hülle fremder Gedanken dargestellt, nämlich in dem Anschauungskreise der mittelalterlichen Mystik (Jesus der Bräutigam, die Seele die Braut usw.), sowie in dem gesetzlichen Rigorismus des calvinistischen Puritanismus

5^8 Reinhold Sekberg: Christlich-protestantische Ethik.

und Präzisismus, Genuine Tendenzen der Reformation haben sich also im Pietismus ausgewirkt, aber ihrer Form haftete noch ein Stück Mittel- alter an.

Die Aufklärung. Auch die Aufklärung mit ihrem Rückgang auf das Einfache und Natürliche hängt mit gewissen Tendenzen der Reformation zusammen. Aber die Grundanschauung war eine andere. Mit der Xatur des Menschen sind die sittlichen Grundwahrheiten gegeben. Vernunft- und naturgemäß handeln ist die Aufgabe der Sittlichkeit. Alle Kräfte sind möglichst vollkommen auszubilden, Glückseligkeit ist das Ziel der Sittlichkeit. K,int. Kant hat auch die Ethik der Aufklärung angefochten. Nicht um

Glückseligkeit oder natürliche Vervollkommnung handelt es sich in der Sittlichkeit, sondern um die Pflicht. Und nicht die Natur mit ihren Neigungen ist der Schauplatz der Sittlichkeit, sondern gut kann nur ein guter Wille genannt werden. Keinen anderen Ursprung hat die Pflicht als die Persönlichkeit des Menschen, die frei ist von dem Naturmechanismus, in den auch der Mensch als Naturwesen hineingehört. Die Pflicht aber ist im Menschen wirksam als ein kategorischer Imperativ. Das Sittliche hängt nicht ab von Neigungen, Wirkungen und Erfolgen. Es ist autonom, jede Bestimmung von außen her (Heteronomie) hebt die Sittlichkeit auf. Nun kann aber das sittliche Prinzip nur rein formal bestimmt werden: „Ich soll niemals anders verfahren als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden," Die Befolgung des „du sollst" in unserer praktischen Vernunft allein ist wirklich sittlich. Von dem kategorischen Imperativ aus erhellt sich die Welt wieder, die für die theoretische Vernunft in tiefes Dunkel gehüllt blieb. Weil Pflicht ist, daher ist auch Freiheit, Gott und Unsterblichkeit. In unvergeßlichen Tönen hat Kant unserem geistigen Leben die Erhabenheit der Pflicht ein- geprägt. Er bot damit die Formel zum Verständnis des größten Menschen der Aufklärungsepoche, Friedrichs des Großen, und er wurde dadurch ein Lehrmeister unseres Volkes in Tagen großer Not und großer Hoffnung. Viele Theologen haben in den Bahnen der Kantischen Ethik gewandelt, aber die Geschichte ist bei ihr nicht stehen geblieben.

Die Ethik des Die Ethik des ig. Jahrhunderts läßt sich im allgemeinen durch folgende

Züge charakterisieren: a) Der Gedanke Kants, daß sitthches Leben persön- liches Leben ist, wird ergänzt durch die Goethesche Anschauung, daß in der sittlichen Betätigung die Persönlichkeit zur Vollendung kommt. Die ehrfürchtige Ergebung in den Willen Gottes als der allbestimmenden Macht und die Erfüllung der Pflicht als der „Aufgabe des Tages" in Liebe und Tat das ist Goethes Sittlichkeit. Spinoza und Kant wirkten in ihr nach. Carlyle legte von der „Persönlichkeit" und ihrer sozial fördern- den Kraft und Aufgabe in Goethes Sinn sein flammendes ZeugTiis ab. b) Die Beobachtung des wirtschaftlichen Lebens leitete dazu an, das Sittliche in seiner soziiilen Bedingtheit und Bedeutung zu erfassen. Der egoistische Eudämonismus der Aufklärung macht Platz einer sozialen

I

Einleitung. I. Geschichtliches. 63g

Glückseligkeitstheorie. Die „Maximation der Glückseligkeit" oder „das größtmög-liche Wohl der größtmöglichen Zahl" (Bentham) wird zur Losung. vSittlich ist hiemach, was das Gemeinwohl fördert. c) Der soziale Gesichtspunkt beherrscht auch die Ethik des Evolution ismus. Die natürliche Entwicklung produziert, nach ihr, objektive geistige Werte oder die Kultur. Sittlichkeit ist die Entwicklung aller menschlichen Geisteskräfte in dieser Richtung (Wundt). d) Auf die breite Entwicklung hat die pessimistische Ethik keinen Einfluß erlangt. Zur Zeit macht Nietzsche großen Eindruck, bei ihm sind Personalismus und Evo- lutionismus miteinander verschmolzen ; die Entwicklung züchtet den „Über- menschen". — e) Die bürgeriiche Ereiheit, der Aufschwung von Handel und Industrie, sowie die politische Entfaltung haben diese sittlichen Ge- sichtspunkte gefördert und sind von ihnen gefördert worden. f) Wichtiger noch als dies war die Erweckung und Belebung, die das religiöse Leben im IQ. Jahrhundert erfahren hat. Die christliche Sittlichkeit hat fast alle die bezeichneten Gesichtspunkte in sich aufgenommen. Der sittliche Personalismus wird immer energischer vertreten, und der Sozialismus hat so große Bewegungen wie die Innere Mission und die christlich-sozialen Ideen gezeitigt. Auch die Christen sehen den Staat mit der Empfindung an, zur Mitarbeit verpflichtet zu sein, und das Bewußtsein, daß nicht die Eürsten die Brunnen der Kirche graben, sondern daß durch die lebendige Macht eines neuen Lebens die Kirche wird und wächst, ist allgemein geworden.

Wie in der Glaubenslehre, so hat auch für die Sittenlehre Schleie r-S'^Weiermachers macher die entscheidenden Anregungen im ig. Jahrhundert gegeben. Sittlichkeit ist, nach seiner Anschauung, die Durchdringung und Gestaltung der Natur durch den Geist. In den sittlichen Gütern erscheint diese Einigung als objektiv, in den Tugenden als subjektiv vollzogen, die Not- wendigkeit der Einigung spricht die Pflicht aus. Eür den Christen ist die Gemeinschaft mit Christus Motiv aller Handlungen. Wie es in Christus geschehen ist und der Kirche allezeit geschieht, so soll in jedem das Fleisch vom Geist durchdrungen werden. Wo jene Einigung noch nicht geschehen, fühlt sich der Christ durch die aus dieser Wahrnehmung her- vorgehende Unlust zu dem wiederherstellenden oder reinigenden Handeln veranlaßt. Sofern die Einigung Lust erregt, entsteht das ver- breitende Handeln. Beides wird als wirksames Handeln zusammen- gefaßt. Diesem wirksamen Handeln steht das darstellende gegenüber, das ohne besondere Tendenz aus dem Bedürfnis der Selbstdarstellung hervorgeht. Das reinigende Handeln hat es mit der Zucht in den ver- schiedenen Lebensgemeinschaften zu tun, das verbreitende mit der Er- ziehung im weitesten Umfang, d. h. der Einwirkung der geistig Stärkeren auf die geistig Schwächeren (Haus, Schule, Staat), das darstellende mit dem Kultus und der Geselligkeit. Hier ist die Isolierung der einzelnen sittlichen Personen überwunden, das Handeln ist wirksam auf andere

540 Reinhoi.D Sef.berg: Christlich-protestantische Ethik.

Personen. Und das Handeln ist nicht durch die Imperative der Gebote veranlaßt, wie früher, sondern ergibt sich mit innerer Notwendigkeit aus der Stellung zu Christus. Die Ethik hat als Wissenschaft die wirkliche Sittlichkeit bloß zu beschreiben, nicht aber Normen für sie zu finden. Von Bedeutung für die kirchliche Anschauung war es auch, daß Schleier- macher mit größter Energie die Freiheit der Kirche dem Staat gegenüber betont hat. Die theoioRische Schlelermachcr hat die Folgezeit vielfach die Einteilung der Ethik

Gegenwart, in Güter-, Pflichten- und Tugendlehre (er selbst wendet sie nur in der „Philosophischen Ethik" an) nachgeahmt. So R. Roth e, der mit Schleier- macher auch die Auffassung der Sittlichkeit als einer Vergeistigung der Natur teilt. Allgemein wurde das Handeln als eigentliches Objekt der Ethik und seine Beziehung zum Gemeinschaftsleben anerkannt. Vielfach folgte man Schleiermacher auch in der deskriptiven Methode der Darstellung. Hin- gegen wurde Schleiermachers Entwurf dadurch wesentlich ergänzt, daß man nicht bloß das aus der Gemeinschaft mit Christus hervorgehende Handeln in ihr behandelte, sondern auch die persönliche sittliche Entwicklung, die zu diesem Handeln führt, mit in die Ethik hineinzog. Dadurch trat das spezifisch christliche Element der Ethik auch äußerlich vor Augen. Dabei hat sich allmählich in der protestantischen Theologie eine ziemliche Einig- keit in der Bestimmung der Aufgabe, des Stoffes und der Einteilung der Ethik ergeben. Es handelt sich um die Entstehung und Entfaltung der christlichen Sittlichkeit und um ihre Bewährung und Durchführung in den konkreten Formen des Lebens. Diese Einheit schließt natürlich eine große Mannigfaltigkeit der Anschauungen über die Probleme der christ- lichen Sittlichkeit nicht aus.

Die praktische II. Die Grundp r ob 1 e ui 6 und die Methode. Die Tätigkeit der

Vernunft und ,,., r- i i aii •i-»-' r n^

der Wille, menschlichen Vernunft ist eme doppelte. Als theoretische V ernuntt stellt sie aus den Eindrücken von der Welt Gedanken und Ideen her. Als praktische Vernunft bildet sie sich Zwecke und Ideale und bewertet alle Dinge danach, ob sie zu Mitteln für jene Zwecke geeig-net sind. Die eine Betrachtungsweise hat es mit Ursachen und Wirkungen zu tun, die notwendig eintreten müssen, die andere mit Zwecken und Mitteln, die frei gewollt werden sollen. So präpariert die praktische Vernunft das Welt- bild für den Willen. Ziele werden hingestellt, Ideale in weiter Feme aufgerichtet, aber zugleich die Wege abgesteckt, auf denen der Wille jene erreichen kann. Über dieser Betrachtung erwächst in dem Menschen Lust an diesen Zielen und Wegen. Diese Lust ist die Brücke zwischen Vernunft und Wille. Sie ist nur Vorgefühl; bloß die Willenstat, die das Ziel erreicht, kann sie in Vollgefühl verwandeln. Das oberste Dis praktische Vernunft bildet nun aber ein höchstes Ideal, dem

'''nunft. ^^ gegenüber alle anderen Ziele zu Mitteln werden. Dies beherrscht daher das ganze menschliche Handeln. Es ist das Ziel der Ziele, es ist der

Kinleitunfj. II. Die rnuiulprobli-me und die Methode. ^)i I

eigentliche Inhalt der Seele. Sofern dies Ziel nicht verwirklicht ist, aber verwirklicht werden soll, nennen wir es oberstes Ideal; sofern es als verwirklicht oder verwirklicht werdend gedacht wird, reden wir vom höchsten Gut. Bei jenem denken wir an die höchste Aufgabe und sprechen daher von ihrer Verwirklichung, bei diesem denken wir an die höchste Gabe und reden daher von ihrer Erreichung. Das oberste Ideal oder das höchste Gut wird der Vernunft von der Geschichte \or- gehalten, die es allmählich herausgebildet hat. Aber jede einzelne Ver- nunft erfaßt es nur bruchstückweise und in eigenartiger Verbindung seiner Teile; sie individualisiert es völlig, denn nur als eigener Vernunftgedanke vermag es Gefühl und Willen in uns in Bewegung zu setzen. Dies Ideal ist der höchste Gedanke, dessen unsere praktische Vernunft fähig ist. Das Höchste, Beste, was von uns ver\virklicht w^erden kann und was wir erlangen können, stellt er uns vor. Er ist der Ausdruck unserer Erkenntnis davon, was unbedingt sein soll. Deshalb ist dieser Gedanke schlechthin verbindlich für unser Handeln. Unser eigenes Erkennen macht ihn zu einer absoluten Forderung, nicht Gewalt oder äußere Autorität. Übereinstimmung mit ihm nennen wir gut, Abweichung von ihm böse.

Sittlich ist unser Handeln nur, sofern es mit jenem obersten Ideal im Das sittliche Zusammenhang steht. Dieser Zusammenhang kann direkt oder indirekt sein, jedenfalls aber muß er selbstgewollt sein, nicht zufällig oder nur aufgedrängt. Aber die Beziehung zu dem obersten Ideal kann eine posi- tive förderliche oder eine negative hinderliche sein. Im ersteren Falle nennen wir die Handlung sittlich, im anderen unsittlich. Mit anderen Worten: der Begriff „sittlich" kann einmal ganz allgemein gebraucht werden, sein Gegensatz ist dann das „Nichtsittliche" oder rein Natürliche; so befaßt das Sittliche auch das Unsittliche in sich. Oder das Wort „sittlich" wird im engeren Sinn genommen als Gegensatz zum „Unsitt- lichen", es dient dann zur Bezeichnung des positiv guten Handelns des Menschen.

Wir haben die selbstgewollte Handlung als sittlich bezeichnet. Das ni.- sittiiciir führt auf ein neues Problem: gibt es selbstgewollte, d. h. freie Handlungen? Der Determinismus führt dawider an die Notwendigkeit des Geschehens im Naturzusammenhang oder auch die alles Geschehen bestimmende Allwirksamkeit (oder Allmacht) Gottes. Diese Gedanken verlegen freilich dem Indeterminismus den Weg, der jede äußere Ursache für den Willen ausschließt, so daß nur Willkür die Ursache des Wollens wäre. Nun ist aber die Freiheit nicht minder ein sicheres Faktum in unserem Geist als die gesetzmäßige Ordnung. Es sind zwei Betrachtungsweisen, die jeder Geist als gleich umfassend, real und notwendig empfindet. Nur ein vor- gefaßter Dogmatismus kann die eine oder andere aufheben, und nur ein kurzer Verstand wird sich mit der landläufigen Halbierung beider Be- trachtungsweisen zufrieden geben. Nach der einen sieht der Mensch im Gefüge von Ursachen und Wirkungen sich selbst als \ erursacht und als

Ulk KULTL-R UkH GhOKNWAKI. 1. 4. J |

()A2 Reinhoi.d Sef.bek<;: Christlich-protestiuilische Etliik.

Produkt an, nach der anderen ist er Anfänger und Urheber, sofern er selbst Zwecke ergreift und sein Leben zum Mittel für sie gestaltet. Er selbst will und hält aufrecht, was er will, im natürlichen Entwicklungs- prozeß. Er weiß sich in diesem AVollen verbunden mit einem Reich von Geistern. In diesem Reich herrscht Freiheit, denn alle Wirkungen auf unseren Geist erfolgen nur, sofern wir sie denkend und wollend bejahen oder sie zu einem Teil von uns selbst machen, und was wir wirken, wirken wir selber, nicht bloß eine hinter uns stehende Ursache. Das ist die sittliche Freiheit, die damit gegeben ist, daß wir persönliche Geister sind.

Das sittliche Das SittUchc bcstcht nun aber nicht bloß in einzelnen Handlungen,

sondern es ist ein Sein im Menschen. Dies faßt zweierlei in sich: i. Wer sich einem alles umspannenden Zweck ergibt, hat dadurch allen einzelnen Handlungen, die er ausführen will, von vornherein eine bestimmte Tendenz gegeben. Es ist m. a. W. eine Gesinnung und eine Grundrichtung in ihm, die vor den einzelnen Handlungen besteht. 2. Aus der Wiederholung der Handlungen entsteht aber die Habitualität oder die Gewohnheit und Übung des Handelns. Sofern viele Handlungen habituell werden und auch ein habitueller Zusammenhang unter ihnen entsteht, zeigt sich das sittliche Sein des Menschen in der Form des Charakters. In Gesinnung und Charakter besteht das sittliche Sein des Menschen.

Die christliche Die formale Bestimmung der Sittlichkeit gilt natürlich von der

Sittlichkeit. ^, .,.,,. . .. . ,, .,., -^ ,

christlichen Sittlichkeit, wie von jeder anderen rorm des sittlichen Lebens. Die Unterschiede der verschiedenen Formen der Sittlichkeit sind dadurch bedingt, was man als oberstes Ideal oder höchstes Gut ansieht. Im Christentum ist es der Begriff des Reiches Gottes. Reich Gottes ist der von Gott auf dem Wege der Geschichte hergestellte oder in der Geschichte sich anbahnende Zustand der höchsten geistigen religiös-sitt- lichen Befriedigung der Menschheit. Das Reich Gottes ist einerseits das Produkt der göttlichen Herrscher- oder Erlösertätigkeit und andrerseits das letzte Strebeziel für jede christlich -sittliche Betätigung. In jenem Sinne nennen wir es das höchste Gut, in diesem Sinne das oberste Ideal der Christenheit. In diesem wie jenem Sinn ist es aber eine reale gegen- wärtige Größe der Geschichte, die aber erst in der Ewigkeit ihre Voll- endung erreichen wird. Die Erlösung und Befriedigung des Menschen- geschlechts ist also für den Christen sowohl das höchste Gut, das Gott wirkt, als die höchste Aufgabe, die der Menschheit gestellt ist. Demgemäß wird der Christ sein Leben und Wirken, seine Habe und alle Beziehungen des Lebens, in denen er steht, als Mittel auffassen und verwenden zur Verwirklichung jenes Ideals. Diese Stellung zur Sache ist aber dem Menschen innerlich nur dann möglich, wenn jenes Ideal von seiner prak- tischen Vernunft ergriffen und völlig angeeignet worden ist. Oder wir müssen praktisch überzeugt und durchdrungen sein von der Wirklichkeit des Reiches Gottes und von seiner überragenden Kraft und Bedeutung". Das muß Inhalt unserer praktischen Vernunft und Frfiihrung geworden

Einloilung. II. Die (iiuiulpiohlenic uml die Methode. 643

sein ; eine bloß äußerliche Unterwerfung, etwa auf Autorität hin oder im Hinblick auf die Folgen („Heteronomie**), kann christlich sittliches Handeln ebensowenig hervorrufen, als sie überhaupt sittliches Handeln zu erzeugen vermag. Die Theonomie des Christentums schließt also die Autonomie der eigenen Überzeugung keineswegs aus.

Während Kant die Religion von der Sittlichkeit abhängig machte, Religion und

. Sittlichkeit.

und neuerding's Religion und Sittlichkeit oft ganz voneinander getrennt werden, ist in Wirklichkeit die Sittlichkeit stets abhängig von der Religion. Das zeigt das Christentum am deutlichsten. Das Erleben der erlösenden Herrschaft Gottes ist die Religion; aber eben dies Erleben gibt unserer Seele die Richtung auf die Erreichung und Verwirklichung des Reiches Gottes. Aber auch außerhalb des Christentums gilt das, sofern lebendige Religion da ist. Wo diese fehlt, treten allerlei Surrogate ein, wie etwa der „Weltwille" oder die „Entwicklung", man trachtet irgendwie nach dem Hintergrund einer höchsten Autorität für seine Ideale. Mit der Aner- kennung des religiösen Charakters der Sittlichkeit ist auch das Vorhanden- sein konfessioneller ethischer Typen anerkannt. Denkt man an Calvin und den Puritanismus, an Luthers w^eltoffenes Christentum, an den Jesui- tismus oder an die heilige Weltversunkenheit der griechischen Kirche, so haben wir Beispiele und Belege dafür zur Hand.

Es ist gerade der Zusammenhang mit der Religion, durch den ver- ><^■;''•'^'^efc^l.'•ist- schiedene prinzipielle Einwände wider die christliche Sittlichkeit hervor- gerufen werden. Man bezeichnet etwa das höchste Gut des Christentums als eine Utopie und sagt, daß dadurch die Christen zu einer Entwertung und Unterschätzung der Natur und ihrer Güter kommen müßten. Oder man meint, das Eingreifen der Gnade lähme Kraft und Schneidigkeit des sittlichen Handelns. Der erste Tadel wäre begründet, wenn das Christen- tum das Ziel absolut jenseitig faßte und nichts Konkretes und Weltliches gelten ließe; und der zweite Tadel hätte recht, wenn die Gnade entweder das sittliche Handeln unnütz machte oder Gott an Stelle des Menschen handeln ließe. Da aber das Christentum das oberste Ideal in der Ge- schichte und durch die Geschichte verwirklicht werden läßt, und da die Gnade in Wirklichkeit der höchste Antrieb zur sittlichen Betätigung ist, so sind beide Vorwürfe unbegründet. Daß aber die religiöse Überzeugung des Christen sein sittliches Leben besonders gestaltet, ist selbstverständlich. Aber diese Gestalt ist in keiner Weise minderwertig im Verhältnis zu den sonstigen sittlichen Ansichten.

Es kann im Gegenteil gezeigt werden, daß die tiefsten Tendenzen v°iienduiigaiier

'-'*-' ' sittlichen Ten-

der humanen Ethik nur in der christlichen Sittlichkeit sich entfalten J«=°."-"'l"^j^\d;''

christliche Lthik.

und durchsetzen können. Der Eudämonismus nennt sittlich, was das Glück vieler fördert. Aber was ist „Glück", und wird nicht das Glück auch durch Erfindungen und Fertigkeiten gefördert, die mit der Sittlichkeit nichts zu tun haben? Der Evolutionismus lebt der Überzeugung, daß die Geschichte einen stetigen Fortschritt der Kultur und eine Annäherung

41*

644 Rkinhold Sefbf.rg: ("hiistlich-protestantische Ethik.

an das Ideal darstellt. x\ber Kultur ist nicht .Sittlichkeit, und der Glaube an einen unausgesetzten Fortschritt ist nicht begründet, und worin eigent- lich der Fortschritt besteht, wird nicht deutlich. Kant erblickte in der uninteressierten Pflichterfüllung die Sittlichkeit. Aber er hat nicht umhin gekonnt, fremde, eudämonistische Elemente zur Begründung heranzuziehen, Widersprüche und Unklarheiten, wie sie in allen diesen Systemen vorliegen, sind im Christentum nicht vorhanden, und was wahr an ihnen ist, kommt zu ung^edrückter Geltung'. Die erlebte erlösende Herrschaft Gottes gibt dem Christen sowohl den Maßstab zur Bestimmung von „Glück" und „Fortschritt", als die begründete Überzeugung', daß ein Fortgang zum Guten in der Geschichte stattfindet. Und die aus der persönlichen Ge- meinschaft mit Gott hervorgehende sittliche Aufgabe g'ewinnt eine über- wältigende und beseligende Art, wie der kategorische Imperativ sie nie gewährt. Wie das Christentum als Religion die Wahrheit aller Reli- gionen in sich faßt, so beschließt auch die christliche Sittlichkeit das Gute aller sonstigen Sittlichkeit in sich. Ethik oder Unter den methodischen Problemen ist von besonderer Wichtigkeit

Sozialetliik ? . r c i ^

die Frage, ob die Ethik etwa in Zukunft als Sozialethik zu behandeln sein wird. Man kann hierfür anführen, daß die neuere Forschung uns immer klarer über den Zusammenhang der Sittlichkeit mit den Sitten des Volkslebens, mit dem Wirtschaftsleben, mit der Rasse oder mit der erb- lichen Belastung usw. belehrt. Dazu kommt der moralstatistische Nachweis, daß von der Geburt bis zum Grabe, von der geistigen Produktion bis zu den Untaten des Verbrechertums die menschlichen Handlungen jahraus jahrein in wunderbarer Regelmäßigkeit wiederkehren, so daß man sie im großen vorausberechnen kann, wie das Budget eines Staates. Bringen wir endlich noch die Abhängigkeit der Sittlichkeit von der Religion in Anschlag, die doch auch ein geschichtlicher und gemeinsamer Besitz ist, so ist das sittliche Eeben jedes Menschen in so hohem Grade und so all- seitig von der Gemeinschaft bedingt, daß nicht die freie Einzelperson, sondern die „gesetzmäßige" Bewegung der Menschheit als Gegenstand der Ethik scheint gelten zu müssen. Die Bedeutung" der angeführten Tat- sachen kann nicht in Abrede g'estellt werden. Die Notwendigkeit der Sozialethik würden sie aber nur dann beweisen, wenn sie die sittliche Freiheit aufhöben. Das ist aber nicht der Fall. Die religiöse Bedingtheit der Sittlichkeit spricht nicht gegen, sondern für die persönliche Art des sittlichen Lebens. Ebensowenig wird durch die Einwirkung der wirt- schaftlichen Verhältnisse die geistige persönliche Beherrschung derselben durch die Persönlichkeit aufgehoben. Es verhält sich damit nicht anders als mit allen natürlichen Bedingungen des menschlichen Lebens, wie etwa auch der Rassenzugehörigkeit. Sie bieten dem persönlichen Geist den Stoft dar, an dem er seine Freiheit betätigt. Die Tatsachen der Moral- statistik endlich beweisen nur, daß, wie der einzelne Mensch nicht zufallig, sondern gewolinheitsmäßij;' handelt, aucli das Zusanunenwirken der Mensch-

Einleitung. II. Die Grundprobleme und die Methode. ^45

heit ein im wesentlichen regelmäßiges und gewohnheitsmäßiges ist. Diese Tatsachen sind also in keiner Weise geeignet, die persönliche Freiheit zu verdrängen und ein ethisches Naturgesetz an ihre Stelle zu setzen. Es kann somit nicht erwiesen werden, daß die geistige Freiheit sich mit den Errungenschaften der neueren Wissenschaft nicht vertrage. Davon könnte nur dann die Rede sein, wenn man entweder die Freiheit als reine Willkür bestimmte, oder aber nur den mechanischen Naturzusammenhang gelten ließe und das Personleben leugnete. Aber dies wie jenes ist ein abstrakter Dogmatismus. Und beides würde die Sittlichkeit überhaupt kassieren. In dem einen Fall gäbe es nur mechanische Bewegung in der Menschheit, in dem anderen absolut zufällige Einfälle, die sich mit einer sittlichen Gesinnung und Gewöhnung schlechterdings nicht vertrügen.

Die Forderung einer .Sozialethik kann also nicht durch empirische Tatsachen begründet werden. Andrerseits ist das Handeln oder Sein des Menschen sittlich, nur insofern es persönlich gewollt ist. Daher ist keine andere Form der Ethik denkbar, als die einer Darstellung des persönlich sittlichen Lebens. Ob sich etwa aus der Betrachtung der Geschichte Sätze über die sittliche Gesamtentwicklung der Völker im Verhältnis zu ihren natürlichen und geschichtlichen Verhältnissen gewinnen lassen, ist eine Frage der Geschichtsphilosophie, die Ethik wird diese Probleme nur gelegentlich streifen können. Trotzdem sind die besprochenen An- regungen keineswegs umsonst gewesen. Es kann freilich eine schlechte individualistische Betrachtung der Ethik geben, die vergißt, daß die Menschen ihre sittlichen Inhalte aus der gewordenen Geschichte empfangen und sie in der werdenden Geschichte durchleben und durchsetzen. Dem gegenüber ist allerdings zu betonen, daß der Mensch sittlich wird und ist nur innerhalb der Gemeinschaften des Lebens. In diesem Sinn hat die Ethik freilich dem sozialen Faktor Rechnung^ zu tragen. Diese theoretische Erkenntnis bewährt sich an der Beobachtung des praktischen I>ebens mit seiner immer stärkeren Betonung der sozialen Aufgaben der Christenheit.

Weiter ist die methodische Frage zu erörtern, ob die Ethik eine i>ie Kihik als

*=■ , . . Wissenschaft.

praktische Wissenschaft (wie die Medizin) oder eine theoretische Wissen- schaft ist. In ersterem Fall läßt man sie die Imperative für das sittliche Leben festsetzen. Doch ist dies überhaupt keine Aufgabe wissenschaft- licher Gesetzgebung. Daher trat dieser Auffassung seit Schleiermacher oft die Erklärung entgegen, daß die Ethik theoretische Wissenschaft sei, aber rein deskriptiven Charakter habe, so daß die Ethik nur das sittliche Leben abzuzeichnen hat. Nun ist gewiß das konkrete sittliche Leben der Stoff der Ethik. Aber das wissenschaftliche Verständnis dieses Stoffes kann nur dadurch erreicht werden, daß man sein Wesen oder den ihn beherrschenden und gestaltenden Grundgedanken erkennt und von diesem aus den Sinn, die Berechtigung und den Zusammenhang der einzelnen Bestandteile des Stoffes bestimmt. Es liegt also ein kritisches Verfahren vor. Und gerade dies ermöglicht es, etwaige irrige sittliche Anschauungen

6a 6 Reinhold Seeberg: Christlich-protestantische Ethik.

in der Christenheit unserer Tage als irrig zu erkennen oder Einseitig- keiten und Lücken des ethischen Urteils zu verbessern. Das wissen- schaftliche Verfahren der Ethik hat demnach auch für das praktische sittliche Leben Bedeutung. So wenig in der Regel für den Moment die Theologie für die Menschheit zu bedeuten scheint, so lebhaft empfindet man ihre Kraft, wenn man etwas längere Zeiträume der Geschichte überblickt. Das System der Dic Eig-cntümlichkeit des christlichen Lebens wird dadurch bezeichnet,

daß es ein Leben in der Gemeinschaft mit Gott ist. Dies faßt einerseits das Erleben der erlösenden Herrschaft Gottes in sich, es bezieht sich andrerseits auf die durch diese erlebte Gottesherrschaft gewirkte Be- tätigung in der Richtung auf das Reich Gottes. Jenes behandelt die christliche Dogmatik, dieses die Ethik. Die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch ist hier wie dort das Prinzip oder der Mittelbegriflf, dort aber wird sie mehr als von Gott im Menschen gewirkt, hier mehr als vom Menschen verwirklicht betrachtet. Wie der Mensch in der Gemein- schaft Gottes lebt, um Gott zu dienen behufs Verwirklichung des obersten Ideals {oder Erreichung des höchsten Gutes) das ist der Grundgedanke der Ethik. Da nun aber die christliche Sittlichkeit dem Menschen nicht von Natur eignet, so wird es sich i. nach der Ent- stehung und dem Inhalt der christlichen Sittlichkeit fragen. Da sodann die christliche Sittlichkeit sich allmählich und im Gegensatz zu vielen sonstigen ethischen Tendenzen des Menschen durchsetzt, so muß 2. von der Entfaltung und Bewahrung der christlichen Sittlich- keit die Rede sein. Und da endlich das sittliche Leben des Christen in steter Beziehung zu den Gemeinschaften des Lebens steht, so ist 3. über die Bewährung und Durchführung der christlichen Sittlichkeit in den Formen der menschlichen Gemeinschaft zu handeln. Es wird bei dieser Einteilung also klar werden, i. worin das oberste Ideal des Christen besteht und welche sittliche Richtung mit ihm eintritt, sodann 2. wie das oberste Ideal behalten und in allmählichem Fortschritt ver- wirklicht wird, und 3. wie durch diese Verwirklichung eine Erhöhung und Vollendung des Alenschenwesens in allen seinen Beziehungen eintritt, oder wie durch den Dienst Gottes die Beherrschung des natürlichen Lebens erlangt wird.

System der christlich-protestantischen Ethik. Das Wesen der I. D i c En ts 1 6 h u ng Und der Inhalt der christlichen Sittlichkeit.

Sünde.

Jeder Christ gewinnt durch die besonderen Erlebnisse, die ihn zum be- wußten Christen machen, ein Urteil über das nichtchristliche Wesen, von dem auch er bisher beherrscht wurde. Sein bisheriger sittlicher Zustand erscheint ihm als das strikte Gegenteil des neuen Lebensstandes, der in ihm begonnen hat. Während er als Christ von der g^nädigen Herrschaft

Systrm der chri.sllich-protcslant. Kthik. I. Dir Knt^lchlln<,' u. d. Inhalt d. chiistl. Sittlichkeit. f) ly

Gottes durch das Erleben des Glaubens überzeus^t ist, ist er früher gegen die Offenbarung unempfänglich, ablehnend und stumpf gewesen, es war der Zustand des Unglaubens. Während er jetzt, weil er Gottes Herr- schaft im Glauben empfindet, sich Gott und seinem Zweck, dem Reich Gottes, in der Willensbetätigung der Liebe zum Dienst hingibt, hat er früher innerweltliche Güter und Ideale erstrebt, weil sie seine egoistische Lust zu befriedigen schienen. Die Lust an der Welt leitete ihn statt der Liebe zu Gott. Sofern nun aber weiter diese innerweltlichen Ideale in seiner Seele der absoluten Festigkeit entbehrten und der Mensch ihnen zu dienen vorgab, aber doch nur an ihnen hing, weil sie seinen Egois- mus befriedigten, erscheint dem Christen das unchristliche Leben als eine fortgesetzte Un Wahrhaftigkeit oder Lüge. Damit ist das Wesen des „alten Menschen" nach seiner sittlichen Seite vom Standort der christlichen Be- trachtung her als Unglaube, egoistische Lust und Lüge charakterisiert. Das ist die Sünde. Nur der Christ hat diese Erkenntnis, denn nur er kennt den neuen sittlichen Lebenszustand von dem her sich dies Urteil über das natürliche Menschenwesen ergibt.

Eine scharfe und klare Erkenntnis der Sünde erwartet der Christ uie Krkemitnis

y-., . , /^ 1 '^''^ Sünde.

demnach nur von dem Christen, denn nur wer das Gute kennt, vermag das Böse zu erkennen. Aber im Rückblick auf sein früheres sittliches Wesen es haftet ihm ja dauernd an weiß er auch, daß Ansätze und Anlässe zu der Selbstbeurteilung als böse oder sündhaft auch dem nicht- christlichen Menschen keineswegs fehlen. Einmal ist auch im natürlichen Menschen ein gewisses Bewußtsein, zumal in christlicher Umgebung, von einer Verpflichtung gegen Gott vorhanden. Dann aber ergibt sich in dem sittlichen Bewußtsein die Überzeugung, daß man auch vor dem Maßstab der anerkannten sittlichen Ideale mit seinem sittlichen Handeln nicht be- steht, sondern zu kurz kommt. Dies geschieht durch das Gewissen.

Das Gewissen wird durch die' vulgäre Definition: „die Stimme ü.is Gewissen. Gottes im Menschen" unklar und unrichtig beschrieben, wie aus der ein- fachen Tatsache hervorgeht, daß das Gewissen je nach der geschichtlichen Umgebung des Menschen sehr Verschiedenes und unter Umständen direkt Böses verlangt. Weiter hätte jene Definition nur dann einen Sinn, wenn man bestimmte „angeborene Ideen" im Menschen annehmen wollte. Wir wissen aber, daß zwar die Fähigkeit, Ideen zu bilden, nicht aber die Ideen selbst dem Menschen angeboren sind. Der Mensch ist nun aber so be- schaffen, daß er die Akte des Selbstbewußtseins auch als moralische Selbst- beurteilung vollzieht. Oder: wir werden unser selbst als eines zusammen- hängenden geistigen Ganzen nur bewußt, indem wir uns und unser Handeln zugleich als gut oder böse beurteilen. Diese Selbstbeurteilung als gut oder böse ist das Gewissen. Es ist somit eine Funktion der praktischen Vernunft. Der Maßstab aber, nach welchem diese ihr Urteil vollzieht, ist das oberste Ideal, das ihr einwohnt. Dies hat sie aber, wie wir gesehen haben, aus der Geschichte überkommen und sich angeeignet. Die be-

54.8 Reinhold Seeberg: Christlich-protestantische Ethik.

rühmte Streitfrage, ob das Gewissen etwas Angeborenes oder Anerzogenes sei, erledigt sich hiernach sehr einfach. Die Fähigkeit ist angeboren, der Maßstab, an dem diese Fähigkeit sich entwickelt, ist erworben. Daraus ver- steht es sich, daß das Gewissen eine schlechthin gemeinmenschliche Er- scheinung ist und daß es doch überall je nach den religiösen und mora- lischen Anschauungen einen besonderen Inhalt hat. Es richtet die Taten, die der Mensch getan hat, und es gibt ihm den Maßstab in die Hand, auch sein künftiges Tun zu beurteilen.

Diese gemeinmenschliche moralische Selbstbeurteilung vollzieht sich auch in dem NichtChristen, und sie zwingt ihn, das Böse in sich zu sehen, sie straft die Lust der bösen Handlung mit Unlust. Und gerade dadurch erhält sie den Menschen sittlich lebendig. Er kann wegen des Gewissens nicht in absolute ethische Skepsis oder Indifferenz versinken. Wie der Gottesgedanke, den er irgendwie überkommen hat, ein Stachel zur Gottes- erkenntnis und ein Motiv sich Gott zu unterwerfen bleibt, so irrig und unvollkommen er sein mag, so ist das Gewissen ein nie verstummendes heiliges Gericht, das das Streben nach dem Guten dies sei so dürftig und verkehrt, wie möglich aufrecht erhält.

Die Sünde als Mit dem Gewissen steht im Zusammenhang, daß die Sünde als Schuld

beurteilt wird. Das Schuldbewußtsein ist einmal eben hierin, daß der Sünder sich gegen seine eigenen Ideale verfehlt, begründet, sodann aber darin, daß diese Ideale nicht als sicher und gottgemäß erscheinen und daher selbst Anlaß zur Schuldempfindung geben. Nicht nur der Christ beurteilt sein vorchristliches Leben als Verschuldung gegen Gott, sondern überall in der Menschheit ist die böse Tat von Schuldbewußtsein begleitet und ist das Gesamtbewußtsein von Schuld gedrückt. Die Menschen werden von ihren Idealen verurteilt, aber sie verurteilen auch ihre Ideale. Je kräftiger dies Schuldbewußtsein sich entfalten kann, desto mehr fühlt sich der Mensch zu einem praktischen Pessimismus hingetrieben, der durch die Erfahrung der Nichtigkeit und Vergänglichkeit unserer Kräfte und der weltlichen Güter verstärkt wird. Er nimmt nach der obigen Gedanken- entwicklung eine doppelte Gestalt an: entweder erscheinen dem Menschen seine Kräfte als unzulänglich für den Zweck, oder der Zweck selbst er- scheint als nichtig. Die erste Form lehrt uns etwa die Stimmung Fausts zu Beginn der Goetheschen Dichtung kennen, die zweite ist in Mephisto- pheles' Wort: „denn alles, was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht" enthalten,

DersiuiiciicZu- Man redet in der Sprache der christlichen Lehre von dem „Tode"

stand des iiatür- .. ■■•■i-»#i tn-- rri j

lichcn.Menschcn. des natürlichen Menschen. Dies ist ganz zutreiiend, wenn man den Christenstand als den wahren sittlichen Lebensstand denkt und demgemäß den ihm entgegengesetzten Stand als sittlichen Tod ansieht. Aber die Bezeichnung wird leicht irreführend, wenn man nämlich durch sie sich dazu verleiten läßt, die sittlichen Kräfte und das sittliche Streben des nichtchristlichen Menschen zu ignorieren oder nur „glänzende Laster" in

System der cliristlich-jirotcslant. Ktliik. I. \)\e Miilslcluin;,' u. d. Inhiilt d. iluisll. Sittlichkeit. 64O

ihnen zu erblicken. Von einem Todsein im Sinne der Unlebendigkeit oder Iirstarrung kann nicht die Rede sein, weil ja derselbe „tote" Mensch der Bekehrung fähig ist.

Dieser Gedanke bestätigt sich an der Mannigfaltigkeit der Formen, Maiini,ffaitigkeii die die Sünde im Menschen annehmen kann. Unglaube, Lust und Lüge machen das Wesen der Sünde aus. Unter diesen Elementen ist der Un- glaube eine konstante Größe. Daß der Mensch die Einwirkungen Gottes ablehnt, daß er Gott nicht erkennt und empfindet das ist der konstante Mangel, die dauernde Verkehrung in seinem Wesen, die ihn eben zum Sünder macht. Dagegen sind die beiden Elemente der Lust und der Lüge variabel, sie bedingen die Mannigfaltigkeit der Sünde, und zwar im quan- titativen wie im qualitativen Sinn. Der Sündenstand der einzelnen Menschen ist individuell geartet. Einmal weil der Mensch verschiedene Objekte zum Gegenstand seiner Lust machen kann, es kann die sinn- lische Lust oder die geistige Lust ihn beherrschen, und innerhalb dieser beiden Hauptklassen ist wieder eine große Menge von Spielarten enthalten. Das ist die qualitative Differenz, von der aus man eine Sünden- tafel entwerfen kann. Dazu kommt, daß in dem Sünder Lust und Lüge im umgekehrten Verhältnis zueinander stehen. Das heißt: je mehr wirk- liche heiße Lust den Sünder beherrscht, desto geringer ist das Maß der Lüge bei seiner Sündentat, und je matter und schlaffer die Lust ist, desto mehr Selbsttäuschung ist nötig, um es zur Tat kommen zu lassen. Die Lüge war es aber, die der Sünde den Schuldcharakter aufdrückte. Daher wächst im Leben des Sünders in der Regel die Schuld in dem Maß an, als sein Leben eine Schule der Nichtigkeit der Lust wird. Mit Recht beurteilen wir daher die Sünden leidenschaftlicher Jugend milder, als die Sünden des reifen erfahrenen Alters. Es ist aber einleuchtend, wie sehr durch diesen Unterschied die Art des sündhaften Charakters bei den ver- schiedenen Individuen sich unterscheiden wird. Gewaltige Leidenschaften, die ohne viel Reflexion auf ihr Ziel sich stürzen, ergeben einen anderen Typus des Sündenstandes, als die mühsam emporgestachelten Begierden einer zähen Selbsttäuschung.

Ebenso mannigfach wie die qualitativen sind die quantitativen Differenzen der Sünde. Es ist ein Unterschied vorhanden zwischen der Begierde nach einem sündhaften Genuß und diesem Genuß selbst. Es ist nicht dasselbe, ob jemand sich einmal von einer Lust fortreißen läßt, oder ob sie gewohnheitsmäßig seine Seele erfüllt oder sein Handeln beherrscht. Objektiv betrachtet ist fraglos die Gewohnheit des Sündigens das Schlim- mere, subjektiv angesehen, werden wir die einzelne Tat, die einer Ge- wohnheit entspringt, milder beurteilen, als wenn sie zum erstenmal der Sitte und der Scham zum Trotz ausgeführt wird. Der Protestantismus hat uns daran gewöhnt, die Sünde nur nach ihrer Qualität oder der Ge- sinnung, die in ihr offenbar wird, zu beurteilen. Das ist richtig, denn die innere Stellung der Seele, nicht die oft durch Zufälligkeiten und Außer-

5^o RtiNHOLD Seeberg: Christlich-proteblanüsche Ethik.

lichkeiten gesteigerten oder herabgeminderten Taten machen das Wesen der Sünde aus. Aber dem gegenüber darf die große Bedeutung nicht verkannt werden, die das Quantitäts Verhältnis auf dem Gebiet der Sünde hat. Nach innen hin, sofern die Depravierung des Menschenwesens kon- kret und fest wird durch das Maß der Sünden. Nach außen hin, sofern das Maß der Sünden ihre verführende und korrumpierende Macht in der Menschheit steigert.

Das Verderben Man muß die quaUtativcn und die quantitativen Differenz des Sünden-

zustandes verbinden mit den Gegenwirkungen, die die Selbstkritik des Gewissens und die mit dem Gottesgedanken gegebene Kritik der Ziele und Ideale ausüben, um ein umfassendes Bild von der großen Verschieden- heit zu gewinnen, die der Sündenstand im Menschen annehmen kann. Dazu ist ergänzend noch ein Punkt hinzuzufügen. Die Sünde ist eine zer- störende Macht, sie ist naturwidrig. Statt der Lebensgemeinschaft mit Gott gibt sie der praktischen Vernunft niedere innerweltliche, sinnliche Inhalte, statt den Willen anzuspannen zur höchsten Leistung läßt sie ihn seine Kraft erschöpfen an den kleinen und nahen Zielen der Welt. Damit ist zugleich eine Verrohung" des Gefühlslebens und eine Erniedri- gung der Stimmung- des Menschen gegeben. So erlahmt und erschlafft das Beste im Menschen, seine Natur kann sich nicht ihrer anerschaflfenen Art gemäß entfalten, sie verkümmert, wird siech und krank.

Die Sünde der Aber die Sündc geht nicht nur den einzelnen Menschen an. Da die

Menschheit.

Menschen in sozialer Wechselwirkung miteinander em geschichtliches Leben führen, so werden alle Zusammenhänge dieses Lebens von der ISIacht der Sünde durchdrungen. Die Sünde des einen stärkt die Sünde des andern, und die Sünde hier ruft Sünde dort hervor. So entstehen die gemein- samen Sündentypen in Familien und Völkern. Ein Zusammenwirken vieler zu dem gleichen Ziel charakterisiert sie. Es wirken aber die Sünden auch einander entgegen und hemmen sich an der vollen Entfaltung. Die Lust des einen beschränkt den Spielraum der Lust des andern. Weiter aber schwächt die Entfaltung der Sünde die Kräfte des Sünders. Die Extensität lähmt die Kraft zur Intensität der Sünde. So ist der Ent- wicklungsgang der Sünde in der Menschheit gehemmt nicht nur durch die moralische Anlage des Menschen, sondern auch durch die Sünden selbst. Die Erlösung. Das i.st das christliche Urteil über den Sündenstand der natürlichen

Menschheit. Aus diesem Zustand will das Christentum erlösen. Die Er- lösung ist eine Wirkung Gottes auf den persönlichen Menschen. Daraus ergibt sich, daß sie auf geistigem Wege, d. h. durch Gedanken und Worte auf die Seele einwirkt, daß aber diese Gedanken und Worte andrerseits von der Seele unmittelbar als wirksame Gegenwart des göttlichen Willens erlebt werden. Das ist der neutestamentliche Gedanke, daß das Evan- gelium nicht bloß Wort, sondern Kraft, nicht nur Menschen-, sondern Gotteswort ist (Rom. i, i6. i.Thess. _', 13. 12; 1, 5). Sgeiium. I^as die sittliche Neubelebung des Menschen bewirkende Wort wird

System der chiisllich-prolcslanl. Klhik. I. Die Knlsteliuuj,' u. d. Inhalt d. clirij.tl. Sittlichkeit. 5= i

nun von alters her als Gesetz und Evangelium bezeichnet. Die Unter- scheidung- geht auf Paulus und weiter auf den Gedanken der alten Pro- pheten zurück, daß Gott einst das Gesetz in die Herzen schreiben wird, während es jetzt bloß fordernde Satzung ist. Die Pharisäer erwarteten von dem Gesetz, daß es die Herzen mit der Kraft zu seiner Erfüllung aus- rüste; Paulus hat dagegen auf Grund eigener Erfahrung behauptet, daß der Gesetzesbuchstabe bloß Unlust wider das Gute, Sünde und Tod hervor- bringe. Die zum Guten belebende und begeisternde Kraft, den „Geist", fand er dagegen im Evangelium oder der Botschaft vom gnädigen Gott. Zwei Religionsstufen treten einander hier gegenüber, die alte Moralitäts- religion und die Erlösungsreligion. Nach jener ist Gott fordernder Wille: er will das Gesetz, damit wir es erfüllen; nach dieser ist Gott wirksamer Wille: er bewegt unser Herz zum Guten. Diese Unterscheidung von Gesetz und Evangelium hat dann Augustin aufg'cnommen und vor allem Luther auf das kräftigste betont. Das Gesetz, das Luther als Ausdruck des „Xaturrechts", d. h. des Vernunftrechtes', ansieht, kann im Menschen nur Schrecken, Angst und Ingrimm erzeugen, es kann ihn aber nie gut machen. Es repräsentiert die Anschauung des natürlichen Menschen von Gott und es stammt nicht aus dem Geist. Dagegen macht das Evangelium die Herzen frei, froh und lustig zu allem Guten. An sich wäre, wo Evan- gelium ist, das Gesetz nicht nötig, aber da der Mensch immer von Sünde angefochten ist, bedarf er auch weiter einer äußeren sittlichen Norm.

Der Sinn dieser Unterscheidung ist einleuchtend. Analogien zu ihr bietet uns die Durchsetzung jedes Ideals in der Seele dar. Zunächst kommt im Hinblick auf seine Feme die Seele aus Furcht und Bangen und aus der Abneigung wider die Mühen, die ihr zugemutet werden, nicht heraus; dann wird ihr klar, daß das Ideal zugleich Gut ist, sie wird dafür begeistert und erwärmt und geht mit Lust an die anfangs so mühselige Arbeit. Im Christentum modifiziert sich die Sache in doppelter Hinsicht. Sofern der Christ das Bewußtsein der Sünde hat, wird die Erkenntnis des neuen ethischen Ideals zunächst verurteilend und ängstigend wirken, das neue Ideal wird sonach noch weit abstoßender wirken, als wohl sonst. Zum anderen wird die befreiende und begeisternde Wirkung, die das Ideal später ausübt, als Gottes Wirkung und Gabe verstanden. So viel ist klar, die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ist nicht zu ver- stehen als Unterscheidung von weniger oder mehr, von diesen oder jenen Geboten, es ist keine Unterscheidung von Lehrstoffen. Beides umfaßt die ganze Offenbarung; für den natürlichen, innerlich von der Sache noch nicht ergriffenen Menschen ist Gottes Offenbarung Gesetz, es sind Auf- gaben, deren Erfüllung Gott fordert und durch deren Nichterfüllung man schuldig wird. Für den von Gottes Geist innerlich berührten Menschen ist die ganze Offenbarung Evangelium, es sind Gaben, mit denen Gott das Herz erfüllt, und es ist die Vergebung für alles Böse, das trotzdem das Herz bewegt. Aber es ist in der Sündhaftigkeit begründet, daß wir die

652 ReinhüLD Seeberg: Christlich-prolcstanlische Ethik.

erste Stufe nicht zu überspringen vermögen. Und niemand steigt so hoch in seiner sittlichen Entwicklung, als daß der Sinn für das Gute in ihm nicht auch durch Gebote gestärkt werden müßte, des Avin""° Durch das Wort tritt nun ein Komplex zusammenhängender Begriffe

in die praktische Vernunft: der durch Christus offenbare Gott herrscht und erlöst, indem er den Seelen die Richtung auf das Reich Gottes gibt; er gibt das Reich als höchstes Gut, und er gibt es auf als oberstes Ideal. Diese Gedanken erscheinen der Seele zunächst als fremdartig, ihr sonstiger Inhalt widerstrebt ihnen; große Worte, paradoxe Kombinationen, hohl und leer - das scheint alles zu sein. Macht man aber ernst damit, so sind es ungeheure Lasten, die niemand tragen kann, oder furchtbare Anschuldigungen, die alle Freude am Dasein ersticken. So urteilt der natürliche Mensch zunächst über das Christentum: entweder ist es das Luftschloß der Weltgeschichte, oder es ist das grausamste Gesetz, das je erdacht worden ist. Dies beides erregt Unlust, aber beides hält die Ge- danken fest. In beiden Richtungen ist die Mißdeutung durch denselben Mangel bedingt, nämlich Gott ist für die Seele nur ein Begriff und Wort, keine lebendige und erlebte Realität, oder der Mensch hat nur Gedanken über Gott, aber er glaubt nicht an Gott.

Das Neue beginnt dagegen in dem Augenblick, da der Mensch der wirksamen Nähe und der lebendigen Kraft Gottes wirklich inne wird. Dies geschieht, indem die Offenbarung Christi als ewige fortdauernd wirk- same Willensmacht erlebt wird: der Christuswille will mich jetzt. Nun werden alle die Begriffe lebendig, die früher nur fremde Gedanken waren, wie Gott, seine erlösende Herrschaft, das Reich usw. Zunächst wird hier- durch aber das Bewußtsein der Schuld gegen Gott und ihrer Verdamm- lichkeit nur gesteigert. Aber bald wird der Mensch dessen inne, daß Gott trotz der Schuld ihm gnädig ist, und indem er innerlich überzeugt wird von der Realität der Offenbarung, ergibt er sich mit Freuden Gott und macht Gottes Zweck zu dem seinen. Sündenvergebung und eine neue Richtung der Seele hat er empfangen.

Diese innere Wandlung vollzieht sich zunächst in der praktischen Vernunft und dem Willen und zieht dann auch das Gefühlsleben in ihren Kreis. Aber so wenig sie als eine physische Änderung des Menschen zu erklären ist, so wenig ist sie das Produkt vernünftiger Deliberationen. Die Wandlung ist eine Wirkung der geistigen persönlichen Autorität Gottes in der Seele. Wie alle geistige Autorität, so überwindet auch diese durch die Macht des überlegenen Willens unser Denken und Wollen zur Unterwerfung und zur Annahme von Lebensimpulsen und geistigen Inhalten. Im Widerspruch zu den natürlichen Tendenzen des Menschen wirkt Gott in ihm das Erleben seiner geistigen Macht und die Unter- werfung unter sie. Deshalb ist der ganze Vorgang für den Christen ein Wunder der Neuschöpfung. Er ist eine „neue Kreatur" geworden, sofern Inhalt und Richtung seines inneren Lebens neu geworden sind. Nicht

System der christlich-inoleslanl. Klliik. I. Die I-'.iilstelniny ii. d. Inhalt d. christl. Sittlichkeit. b'^'i

das Sein der Seele als solches ist verwandelt, sondern ihr Sosein, nicht das physische Leben als solches ist, wie durch eine Metamorphose, ver- ändert, sondern das geistige LoIkmi hat schlechthin neue Motive und Ziele empfangen.

Nun kann aber dieser Vorgang wie jede geistige Wandlung nur so wi.-j<TB<ri.int geschehen, daß der Mensch unter dem Einfluß der beherrschenden geistigen "" Autorität selbst denkt und selbst will, was jene ihm bietet. Die Freiheit im Reich des Geistes besteht eben hierin, sie gilt auch für das Verhältnis des Menschengeistes zum Gottesgeist. Damit gewinnen wir aber eine doppelte Perspektive für diese Umwandlung. Sie ist von Gott und nur von ihm gewirkt, insofern wird sie als Wiedergeburt oder Neuschöpfung bezeichnet. Und sie verwirklicht sich im Menschen, sofern er seinen Sinn ändert und sich neuen Zielen zukehrt, insofern wird der Vorgang Be- kehrung genannt. Zeitlich angesehen fällt beides zusammen, aber logiscli ist die Wiedergeliurt die Ursache der Bekehrung'.

Wie ist nun der Inhalt des neuen Lebens zu umschreiben? Es han- Der Inhalt des delt sich darum, daß der Mensch zu dem sich ihm offenbarenden Gott in " " ' eine persönliche geistige Gemeinschaft kommt. Das geschieht dadurch, daß der Mensch rezeptiv Gottes geistige Wirkungen hinnimmt und daß er sich aktiv Gott hingibt. Jenes ist der Glaube, dieses die Liebe.

Der Glaube ist an sich weder theoretische Erkenntnis oder Fürwahr- halten einer Lehre, noch wird er ausreichend erklärt als Vertrauen auf Gott. Der Glaube ist zunächst Unterwerfung unter die geistige Autorität Gottes oder Gehorsam. Indem aber dieser Gehorsam das Mittel ist, durch das wir einen Vernunftinhalt gewinnen, ist der Glaube persönliche Überzeugung. Sofern nun dieser Inhalt das ganze Seelenleben erhöht und vertieft, ist der Glaube Lebensgefühl; und sofern der Mensch, der dies erfährt, sich von Gott hinfort nur des Guten versieht, ist der Glaube Vertrauen auf Gott. Alle psychischen Funktionen sind am Glauben beteiligt. Seine Grundrichtung ist aber die, daß der Mensch in sich eingehen läßt und erfaßt, was Gottes erlösende Herrschaft ihm wird und gibt. Es ist Re- zeptivität oder nach innen gewandte Aktivität. Der Glaube ist Wille, Überzeugung und Gefühl davon, daß Gott über uns herrscht und für uns ist und daß er über uns herrsche und für uns sei.

Nun ist aber die Herrschaft Gottes über uns empirisch durch subjek- tive wie objektive Hindernisse gehemmt, durch die Sünde in uns und durch die Macht des Bösen um uns. Aus der Gewißheit der Herrschaft Gottes entnimmt die Phantasie die Antriebe, sich jene Herrschaft durch alle Hindernisse hindurch als verwirklicht vorzustellen. Das ist die Hoff- nung. Sie ist nicht ein Zweites neben dem Glauben, sondern sie ist der Glaube in der Beziehung auf Zukünftiges. Im Innern Haushalt des Men- schen ist sie von größter Bedeutung, denn sie ermöglicht das geduldige Ausharren Täuschungen und Mißerfolgen gegenüber.

Die persönliche Art der Gemeinschaft mit Gott erfordert aber weiter,

(yc^A Reinhoi.d Sekbkrg: Christlich-protestantische Ethik.

daß zu der Hinnahme Gottes die Hingabe an ihn oder die Liebe tritt. Die besondere Art und Richtung dieser Liebe ist aber mit dem Glauben gegeben und durch ihn bestimmt. Der Glaube läßt Gottes Herrschaft in uns wirksam werden. Diese Herrschaft aber hat zum Zweck das Reich Gottes. Also kann niemand glauben, ohne zugleich zu wollen, daß Gottes Wirkung sich an der Welt durchsetze, oder daß Gottes Reich wirklich werde. Dieser Wille ist aber nur dann wirklich, wenn der Mensch sich ihm gemäß aktiv betätigt. Das wirkte ja Gottes Herrschaft in ihm, daß er ein neues oberstes Ideal in seine praktische Überzeugung aufnahm. Ideale sind Ideen für das Wollen und Handeln. Also will der Gläubige, was Gott will oder er will Gottes Reich durch Dienst verwirklichen. Und dies ist eben die christliche Liebe, die reinste und stärkste Anspannung des Willens im Dienst eines absoluten Zweckes. Dabei erwächst aber aus dem religiösen Gedanken, daß Gott selbst diesen Zweck will und ver- wirklicht, der Liebe der denkbar stärkste Antrieb zur kräftigen Tat und zur frohen Gewißheit der Fruchtbarkeit dieses Tuns. Was könnte mehr anspornen, als daß Gott es will, und was könnte sicherer machen des Er- folges, als daß Gott es tut?

Zwei Fragen liegen nahe: ist dieser Dienst Liebe zu nennen, und wie verhält sich die Liebe zu Gott zu der Liebe zu den Menschen? Auf die erste Frage ist zu sagen, daß die innigste und festeste Gemeinschaft zwi- schen zwei Personen in der Gemeinschaft des letzten Zweckes besteht. Das ist das tiefste Verständnis und die innigste Berührung, die zwischen Geistern möglich ist. Die zweite Frage aber ist dahin zu bescheiden, daß die Liebe zu den Menschen eine direkte Folge aus der Liebe zu Gott ist. Denn ist es Gottes Zweck, das Reich zu begründen, so bedeutet unsere Liebe zu Gott, daß wir die Menschen zu diesem Zweck fördern. Dem Mitmenschen das Beste wollen und alle Beziehungen zu ihm zu Mitteln dieses Willens machen: das ist die christliche Nächstenliebe. Sie hat es immer mit dem Höchsten zu tun, mit der Erlösung und Erhebung der Seele des Nächsten, daher ist sie offen und wahrhaftig. Aber sie weiß auch, wie schwach und leicht verletzt der irrende Mensch ist, daher ist sie freundlich, weise und zart. Und vor allem übersieht sie nicht, wie eng das äußere und das innere Leben zusammenhängen, daher hilft sie in äußerer Not oder hält, wo diese nicht vorhanden ist, eine wohlwollende Hal- tung in den äußeren Beziehungen dem Nächsten geg-enüber ein. Die Liebe zum Nächsten ist also nicht eine idealistische Phrase oder eine taktlose Seelenfängerei, Sie ist vielmehr der ernste Wille, den anderen innerlich auf das höchste zu fördern, worin aber die Freundlichkeit und Zartheit, der Takt und die Hilfsbereitschaft eingeschlossen sind. Der Nächste ist aber der Mensch, der uns regelmäßig nahesteht oder uns zur Zeit ge- rade nahekommt. An ihm ist die Liebe zu betätigen, und zwar darin, was am nächsten liegt oder wessen er gerade am meisten bedarf. Das zeigt Jesu Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Die Phrase, daß wir

System der christlich-protcstanl. lüliik. I. Die [•.nlstrhun^' u. cl, Inlialt d. cliristl. Sitllithkeil. f)=c

alle lieben, ist durch die Xüchstonliebe abgelöst, aber jeder kann mein Nächster werden.

Das Bild von dem neuen sittlichen Leben des Christen wird konkreter Die Formen d.-

', ...-,■. . . , ^ , . T, .. neuen Lebens

werden, wenn wir die rormen, in denen es sich bewegt, in Jirwagung ziehen. Glaube und Liebe ist der Inhalt der christlichen Seele. Sie be- stehen in uns in der Form der Gesinnung, und eben in dieser Form sind sie dauernd in der Seele gegenwärtig. Es ist nämlich klar, daß die seelischen Akte des Glaubens oder der Liebe bestimmte Zeitmomente aus- füllen und nicht immerfort von der Seele vollzogen werden können. Es kann z. B. jemand nicht eine schwere geistige oder technische Arbeit leisten und zu gleicher Zeit einen Glaubensakt vollziehen. Das ist nicht tadelns- wert, sondern eine psychologische Notwendigkeit, die ebenso auf allen sonstigen Lebensgebieten sich kundgibt. Macht man demgegenüber glei- tend, man müsse „immer wieder an Gott denken", so ist das nicht falsch, aber ungenau. Darum handelt es sich, daß die Grundrichtung im Men- schen erhalten bleibt, und daß sie das ganze System des Handelns leitet und bestimmt. Dann wird aber diese Richtung überall dort, wo Über- legung des Handelns eintritt, bei Ruhepunkten oder bei besonderen Schwierigkeiten und Erfolgen, sich mit Leichtigkeit in Akte des Glaubens und der Liebe umsetzen. Glaube und Liebe bleiben also dem Menschen bei aller Arbeit und allen Abziehungen als Gesinnung und Stimmung, d. h. als Zustand der Seele. Dieser Zustand läßt sich mannigfach be- zeichnen. In bezug auf den Glauben haben wir die Gesinnung der An- dacht und Innigkeit, des Kindschaftsbewußtseins und des Gehorsams samt den Stimmungen der Heilsgewißheit, der Lebenssicherheit und der Welt- freiheit. Die dauernde Unterwerfung unter Gott kommt hierin zum Aus- druck. In bezug auf die Liebe ist es die Gesinnung der Ehrfurcht und der Tatenlust, der Demut und der Geduld, sowie die Stimmung der Sieg- haftigkeit und der Beharrlichkeit. Die allseitige Richtung des Lebens auf den Dienst Gottes zeigt sich hierin. In diesen Formen ist der Zu- sammenhang mit Gott ein dauernder und ruhender, der bleibt, auch wenn die Akte des geistigen Lebens sich auf weltliche Größen richten. Durch sie wird aber zugleich das ganze Leben des Menschen in den Zusammen- hang mit Gott hineingezogen, und auch das rein Natürliche sittlich qualifiziert.

Eine zweite Form des christlichen Lebens sind die guten Werke. Das Christentum kennt und fordert gute Werke. Dieser Satz muß deut- lich zum Bewußtsein kommen entsprechend der rechten Frömmigkeit aller Zeiten. Gut aber sind die Werke des Christen, sofern sie aus dem Glauben stammen oder durch Gottes Geist gewirkt sind, sofern sie Betätigung der Liebesgesinnung sind oder in einer positiven Beziehung zur Verwirklichung des Reiches Gottes stehen, sofern sie sich in den von Gott gegebenen natürlichen Daseinsformen und -bedingungen halten oder Berufswerke nicht irgendwelche selbstwillige, widernatürliche und diiher praktisch nutz-

5^5 Reixhold Sf.ebkrc. : Chrisüich-piotestantische Ethik.

lose Betätig-ungen sind. Sie sind von Gott und kommen aus dem Herzen und wirken auf das wirkliche Leben ein.

Es kann wirklich gute Werke geben, da ja der Wille Gottes eine gute sittliche Richtung in uns wirkt. Daß dagegen kein christliches Leben nur gute Werke aufweist, ist empirisch, nach dem Selbstzeugnis aller Frommen, ebenso klar. Der Grund dessen liegt darin, daß ja auch das Böse im Menschen eine feste Richtung darstellt. Daher kann aber auch niemand durch seine guten Werke gut oder gerecht werden, denn ihre Reihe wird durch böse Werke unterbrochen. Gut ist ein Mensch im Sinne des Christentums, wenn er die Grundrichtung des neuen Lebens, trotz der dazwischenkommenden Sünden, einhält und für seine Sünden dauernd Vergebung begehrt. Zu diesem Bewußtsein kommt der Mensch aber durch das Gewissensurteil über die Reinheit und Ungeteiltheit seines Strebens (vgl. 2. Tim. 4, 7 f. mit 2. Kor. i, 12 und Hebr. 13, 18).

Die dritte Form können wir als Pflicht bezeichnen. Das oberste Ideal des Reiches Gottes wird zwar durch Gottes Herrschaft verwirklicht, wird aber zugleich von unserer praktischen Vernunft als etwas durch uns zu Verwirklichendes erkannt. Es legt uns daher eine Pflicht auf. Da diese Pflicht aber in mannigfachen Beziehungen und vielen Ansätzen zu verwirklichen ist, entsteht ein ganzes System von sittlichen Pflichten. Das ganze sittliche Leben tritt unter den Gesichtspunkt der Pflicht, die neue Gesinnung sowie die guten Werke. Da nun aber die geistige Gemein- schaft mit Gott uns unsere Pflichten gibt, empfangen wir mit ihnen die Anregung und Kraft zu ihrer Erfüllung. Sie quälen den Christen nicht mehr als fremde aufgedrängte Satzungen, sondern er ist innerlich von ihnen ergriffen und fühlt sich frei zu ihrer Erfüllung*.

An den Pflichtbegriff knüpft sich die bekannte Frage nach der Pflichtenkollision. Es können Fälle eintreten, wo die Erfüllung einer Pflicht die Nichterfüllung einer anderen Pflicht, d. h. eine Unterlassungs- sünde notwendig zu machen scheint. Sehr oft ist nun die Kollision nur eine scheinbare, sei es, daß die eine der beiden Pflichten überhaupt nicht meine Pflicht ist, sei es, daß die eine Pflicht nach der anderen erfüllt werden kann. Es sind aber auch Fälle denkbar, wo die beiden Pflichten not- wendig gleichzeitig erfüllt werden müssen. Hier gilt es die Ruhe und Harmlosigkeit des Glaubens zu behaupten und sich mit anderen sittlich erfahrenen Personen zu beraten, weil diese die Verhältnisse leicht klarer überblicken und das wirklich Notwendige egoistischen Selbsttäuschungen gegenüber nüchtern erkennen können. Indessen darf der sittliche Mensch nie die Entscheidung auf andere Personen abwälzen, sondern er ist zur eigenen Entscheidung verpflichtet.

Dagegen ist der BegTiflf der Notlüge aus der Ethik auszuscheiden. Da hier mit der sittlichen Pflicht der Wahrhaftigkeit die Sünde der Lüge konkurriert, kann hier nicht von Pflichtenkollision geredet werden. Prak- tisch ungesehen fehlt bei der sogenannten Notlüge entweder die Lüge oder

System der christlich-protest. Ethik. IL Die Entfaltung u. ßewahrun«^ der christl. Sittlichkeit, 657

die Xot. Die Lüge fehlt z. B., wo es sich um Antworten an feindliche Kundschafter (hier liegt eben Kriegszustand vor) oder um Beantwortung von Fragen von Kranken, Wahnsitmigen oder Kindern handelt. Die Not fehlt, wo etwa aus Rücksichten der Bequemlichkeit, des Gewinns, des Erlangens einer Stelle usw. die Unwahrheit gesagt wird. Direkt frivol wäre es, sich bei Steuerhinterziehungen, Zolldefraudationen usw. auf Not- lüge herausreden zu wollen.

II. Die Entfaltung und Bewahrung der christlichen Sittlich- Die Mittel zur

. ^, Entfaltung <les

keit. Es handelt sich weiter um die Entwicklung des sittlichen neuen Lebens. Lebens, dessen Ursprung und Inhalt wir kennen gelernt haben. Die geistige Entwicklung ist dadurch bedingt, daß wir die Mittel, durch die wir in eine Richtung gewiesen sind, weiter brauchen, ergreifen und in uns wirksam werden lassen. Eben dadurch entfaltet sich diese Richtung und greift in und um sich. Der Mensch, der durch das Wort der christ- lichen Verkündigung einen neuen Lebensinhalt empfing, hält sich an diese Verkündigung. Er sucht sie auf in der Kirche, er liest über sie in der Literatur. Unter Fragen des innersten Bedarfes geschieht dies hinfort, er ringt nach Klarheit und Gewißheit, nach Ausbreitung und Vertiefung des neuen Lebens. Jetzt erst versteht er den Sinn der erbaulichen und asketischen Literatur; was ihm früher als „alte Scharteke" durchaus un- sympathisch war, fängt an ihn zu ergreifen und zu erbauen. Dazu kommen die sittlichen Einflüsse, die von dem Bewußtsein durch die Taufe in ein dauerndes Verhältnis zu Gott aufgenommen zu sein ausgehen, sowie von dem Abendmahl als der innigsten Gemeinschaft mit Christus.

Da nun das Leben von dem Bestreben, die Gemeinschaft mit Gott für Das Gebet, immer zu empfangen, durchzogen ist, wird es zum Gebet sieben. Das Gebet ist ein Reden mit Gott. Richtet sich das Gebet darauf, was Gott in der Zukunft uns sein soll, so nennen wir es Bitte; handelt es von Taten Gottes in der Vergangenheit, so heißt es Dank; ist es der Ausdruck der Erhebung wegen der gegenwärtigen Nähe Gottes, so wird es zum Lobe. Es ist klar, daß der Gebetsakt mit dem Glauben in engstem Zusammen- hang steht. Nur wer glaubt, kann wirklich beten. Es geht jedem Gebets- akt ein Glaubensakt voraus, der in zeitlichem Zusammenhang zu jenem steht, denn nur dann kann unser Wort an Gott gerichtet werden, wenn wir zuvor seiner Gegenwart innegeworden sind. Aber darum sind die Glaubens- und Gebetsakte keineswegs identisch. Jene sind Gottesempfin- dungen, diese richten sich auf besondere Taten, die Gott getan hat oder tun will. Das christliche Gebet geschieht im Namen Christi (Joh. 16, 2^. Luk. II, 9 ff.). Das heißt der Christ betet auf die Autorität Christi hin und im Rahmen der Lebensgemeinschaft mit Christus. Damit ist auch gesagt, um was der Christ beten wird. Es ist das, was uns die Erlösung durch Christus darbietet, nämlich Glaube und Liebe samt ihren Inhalten. Hierum, nämlich um die Stärkung und Erhaltung seines inneren Lebens,

Die Kultur der Gegenwart. I. 4. 42

6c8 Reinhold Seeberg: Christlich-protestantisclie Ethik.

betet der Christ bedingung-slos, denn er weiß sich hierin schlechthin einig mit dem in Christus offenbaren Gotteswillen. Anders steht es dagegen mit der Bitte um äußere Dinge, wie Errettung aus einer Gefahr, Ver- mehrung des Besitzes, Hilfe in Armut usw. Daß gerade solche Gebete besonders lebhaft, ja stürmisch ausfallen, ist bekannt und verständlich. Aber es ist eine Vermessenheit, wenn wir die Schranke dieser Gebete übersehen. Wir wissen nie mit Sicherheit, welche Geschicke und Lebens- führungen unser inneres Leben wirklich fördern werden. Indem es sich aber hierum bei jedem Gebet handelt, kann das Gebet um äußere Dinge nur hypothetischen Charakter tragen. Wir bitten um dies und das, wie wir es eben verstehen, aber wir bitten eigentlich um die innere Hebung und Stärkung, und um jenes nur, sofern es dieses fördert. „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist", spricht Jesus ohne jede Beschrän- kung, aber in bezug auf das Vorübergehen des Leidenskelches heißt es: „nicht mein, sondern dein Wille geschehe".

Im Neuen Testament wird die Forderung „allzeit zu beten" aus- gesprochen (Luk, i8, I. Eph. 6, i8. i. Thess. 5, 17). Der Sinn dessen ist natürlich nicht, daß alle Zeitmomente des Lebens von Gebeten ausgefüllt sein sollen, sondern daß bei allen Gelegenheiten und Anlässen, die dessen bedürfen, wir zum Gebet greifen. Wer die Gebete im Leben Jesu sich zusammenstellt, der lernt die klassische Auslegung des „allzeit Betens" kennen. Übrigens erfordert die Art des Menschen, daß er das Gebet zu einer Gewohnheit seines Lebens macht (Gebetszeiten).

Wie steht es mit der Gebetserhörung? Erhörung findet auch bei dem Lob- und Dankgebet, nicht nur bei dem Bittg-ebet, statt. Sie besteht darin, daß der Betende das unmittelbare Bewußtsein der Nähe Gottes ge- winnt, d. h. daß das Gebet ausklingt in einem Glaubensakt. Wir tun um der Klarheit willen gut, die Gebetserfüllung von der Erhörung zu unterscheiden. Die Erfüllung hat es nur mit dem Bittgebet zu tun. Dabei wird bei der Bitte um Glauben und Liebe die Erfüllung mit der Erhörung zusammenfallen. i\.nders steht es mit der Bitte um äußere Ding-e. Hier kann, wie wir sehen, die Erfüllung unterbleiben oder doch ganz andere Formen als die in unserer Phantasie prämeditierten annehmen; und es kann gerade durch Nichterfüllung uns Erhörung werden. Paulus wurde erhört, als seine Bitte um Befreiung von einem schweren Leiden nicht erfüllt wurde (2. Kor. 12, 8 f.). Natürlich ist es dabei nicht aus- geschlossen, daß Gebete auch so, wie die Menschen es dachten, erfüllt werden; kein Ding ist zu groß oder zu schwer und wunderbar, als daß der Fromme nicht von Gott solche Erfüllung erwarten dürfte. Es ist aber freilich ein Zeichen des Unglaubens und des religiösen Materialismus, wenn man meint, Gott müsse um des Gebets willen Wunder tun. Wer so denkt, verwandelt die Unterwerfung unter Gottes Willen in den Ver- such, Gottes Willen zu bestimmen, damit ist aber ein irreligiöser Gottes- gedanke ausgesprochen.

System der chrisllich-protcst. Kthik. II. Die Kntfaltung u. Hewahrung der christl. Silllichkcit. 6^0

Indessen, man kann sag"en: die Bitten um den Glauben usw. brauchen nicht erhört zu werden, da Gott dies von selbst in uns wirkt; die Bitten aber um äußere Dinge können nicht erhört werden, sofern der Zusammen- hang unseres Lebens von Gott vorher bestimmt ist. Mithin wäre das Gebet zweck- und sinnlos. Was ersteres anlangt, so macht das Gebet uns fähig, jene Gotteswirkungen kräftiger in uns aufzunehmen. Es wird also freilich erfüllt, denn ohne Gebet hätten wir nicht, was wir durch das Gebet er- halten. Im andern Fall aber ist jene Vorherbestimmung zuzugestehen, aber auch vorzubehalten, daß sie wunderbare Wendungen in sich ent- halten kann. Allein daß die Führungen des Lebens von Gott sind, dessen inne zu werden, ist uns das Gebet ein Mittel. Im Gebet bereiten wir uns vor, durch Glauben auch alle Nöte und Freuden des äußeren Lebens aus Gottes Hand zu empfangen.

Daß das innere Leben des Christen erweitert und vertieft wird durch das Gebet, sowohl durch die Gebetsfunktion als die ihr folgende Erhörung, hat sich gezeigt.

Wir sehen weiter zu, wie das neue Leben durch die Stetigkeit seiner pie Habituaii-

,,,. ... p. -lA r^ sierunj; des sitt-

r unktionen gekräftigt wird. Aus der christlichen Gesinnung gehen uchen Lebens. Glaubens- und Liebesakte hervor. Zunächst bereitet dieser Vorgang Mühe, wennschon diese Akte mit Befriedigung verbunden sind. Allmäh- lich erleichtert die Gewöhnung das Zustandekommen der Akte. Sie fangen an immer leichter und häufiger einzutreten. Es macht der Seele keine Mühe, im einzelnen Fall Gott zu sich reden zu lassen, und häufig ver- bindet sich ganz von selbst mit dem Beginn oder Ausgang der Arbeit die Empfindung der Liebe gegen Gott. Es wird zur lieben Gewohnheit, die Gesinnung in Akte umzusetzen. Indem diese sittliche Habitualität sich über das ganze Wesen ausbreitet, erfüllt man regelmäßig seine Pflichten. Die Gewohnheit der Pflichterfüllung ist die Tugend. Hierdurch aber wird das Leben in seinem natürlichen Bestand allmählich gereinigt und geheilt. Wie das stetige Denken an das Ungöttliche die Seele schlaff, matt und gemein macht, so wird sie durch Glaube und Liebe erfrischt und veredelt. Ein höheres gesunderes Wesen man kann es an den schlichtesten Christen wahrnehmen geht von dem neuen Leben in die Natur des Menschen über.

Wenn nun Glaube und Liebe immer mehr als Grundbestand unseres Die ethische

^ Durchdringung

Lebens hervortreten, so w^erden dadurch auch unsere rein natürlichen .ler natürlichen Weltbeziehungen beeinflußt. Nicht freilich so, daß die Natur denatura- beziehungen. lisiert oder das vSinnliche in Geist verwandelt würde. Die Dinge und Beziehungen behalten ihre natürliche Art, aber sie werden als Mittel für das Reich Gottes beurteilt und benutzt. Hab und Gut, Verwandtschaft und Freundschaft, natürliche Begabung, Beruf und politische Stellung bleiben, was sie waren und werden doch zu etwas ganz Neuem, sofern sie gebraucht werden mit Dank gegen Gott und mit dem Bemühen, in diesen Formen ihm zu dienen. Die Herrschermacht des Glaubens und der Liebe

56o Reinhoi.D Seeberg: Christlicli-protestantisclie Ethik.

zieht so immer sicherer das ganze Leben des Christen in ihren Dienst. War anfangs nur der Idee nach das Leben dem Christentum unterworfen, so wird diese Unterwerfung allmähhch immer mehr zu einer konkreten Tatsache des sitthchen Lebens. Dabei können freiUch in dem Einzelleben Unreg"elmäßigkeiten auftreten. Es kann einem gewaltig intensiven christ- lichen Seelenleben ein ganz geringer Stoff an natürlichen Kräften und Mitteln zur Verfügung stehen, und es kann ein schwächliches Flämmlein inneren Lebens berufen sein, ganze Berge an Besitz und äußeren Kräften zu erleuchten. Doch das sind abnorme Erscheinungen. Aber die Unlust, die über der unbequemen Verteilung von Stoff und Kraft erwächst, wird aufgehoben werden durch die Lust, Gott Dienst zu leisten, die Qualität der inneren Arbeit muß über die quantitativen Mängel trösten. Gewohnheit und Ein Bedenken erhebt sich: wnrd das Christentum immer mehr zur

neuen Lebens, zwciten Natur odcr zur Gewohnheit des Menschen, muß dann nicht not- wendig seine Frische und Kraft verfliegen? Dann würde der paradoxe Satz zu bilden sein: je mehr jemand christlich wird, desto weiter entfernt er sich vom Christentum! Es ist ja richtig, daß die Begeisterung und Erregung der „ersten Liebe" schwindet, aber es heißt die Sache völlig verkennen, wenn diese Erregungszustände zum Maßstab des Christen- standes gemacht werden. Sie sind in den Anfängen der Entwicklung natürlich, aber in ihrem Fortgang den meisten Temperamenten nicht mög- lich. Es bedarf ihrer auch nicht. Die ruhige Stetigkeit des gewohnten Handelns ist nicht minder frisch und tief als die ersten Taten; und mehr als das, wer eine Sache dauernd fördern will, dem gelingt es nur, wenn er die Übung des Handelns erreicht hat. Das Bedenken als solches ist nicht berechtigt, aber immerhin liegt ihm eine Wahrheit zugrunde: das „Gewohnheitschristentum" im Sinn äußerer Observanzen und Formen ist nicht rechtes Christentum, auf die innere Gewöhnung kommt es an, von innen nach außen muß sich die Tugend bilden. Der Kampf Wir haben erkannt, daß Glaube und Liebe sich entfalten und aus-

zur Bewahrung breiten in der Seele, daß sie zur Gewohnheit im Menschen werden und Lebensstandes, dadurch alle seinc Lebensbeziehungen umspannen und leiten. Nun steht aber diesem neuen Leben der Gegner immer noch gegenüber, der seine Anfänge behindert hat, es ist die Sünde. Die sittliche Entfaltung, von der wir sprachen, muß daher immer verbunden sein mit der Bewahrung des neuen Lebens oder mit dem andauernden Kampf wider die Sünde. Die Mittel in diesem Kampf sind keine anderen als die, welche die Entfaltung bewirken, nämlich das wahre und bewußte Leben des Glaubens und der Liebe und die göttliche Offenbarung, die dies Leben wirkt und erfüllt. Keine neuen Offenbarungen sind in diesem Kampf zu erwarten und keine „besonderen" Kräfte werden uns für ihn zuteil. Der „Enthusiasmus" möchte wohl den Himmel entzweireißen und die Natur verwandeln, das gelingt nicht und er zieht nur die Aufmerksamkeit ab von dem Kern des Kampfes.

System der christlich-protest. Ethik. II. Die Entfaltung u. Bewahrunfj der christl. Sittlichkeit. 66 I

Auch der Christ bleibt Sünder, Ist auch durch die Wiedergeburt die Alleinherrschaft der Sünde gebrochen, und haben Glaube und Liebe die Leitung in der Ökonomie der Seele übernommen, so bleibt doch ein zweiter Seeleninhalt im Menschen lebendig und er trachtet mit psycho- logischer Notwendigkeit danach, die Herrschaft wiederzuerlangen oder wenigstens eine Nebenregierung im Menschen zu etablieren. Drei Mög- lichkeiten kommen dabei in Betracht: i. bestimmte Lieblingssünden sollen neben dem neuen Leben bestehen bleiben und es nur in etwas einschränken, ein Teil richtet sich wider einen Teil; 2. das Ganze erhebt sich wider das Ganze, die Durchführung des Christentums scheint nicht zu halten, was sein Anfang versprach, statt Sieg hat man nur Kampf, statt praktischer Erfolge nur schwankenden Besitz, das Ganze drückt statt zu befreien, so läßt man es fallen wie einen täuschenden Traum; 3. der Anfang wider die Vollendung: es soll bleiben bei den unklaren Gefühlen, bei den frommen Regungen und impulsiven Taten des Anfangs, man will gleichsam ein ewiger Konfirmand bleiben. Die erste dieser Möglichkeiten mündet in die zweite aus, jene ist mehr Sache der energischen, diese der schwäch- lichen Persönlichkeiten. Aber auch bei ihr wird aus der Nebenherrschaft der Sünde eine Alleinherrschaft; es kann nicht anders sein, denn die Sünde ist ein Ganzes, ein Prinzip, das, wenn man ihm den Spielraum läßt, das entgegengesetzte Prinzip aufhebt. Bei der dritten Möglichkeit kann der Zwiespalt das ganze Leben über dauern, Unsicherheit und Äußer- lichkeit, Furcht und Heuchelei kennzeichnen ein solches Leben. Statt zum Frieden und zur Tat zu kommen, wird man ein Märtyrer der Un- entschlossenheit, Halbheit und Furcht. Durch niemand wird das Christen- tum so sehr zum Spott als durch diese Halben. Und doch ist ein Stück wahren Lebens in ihnen, das ihnen selbst und anderen zum Segen werden kann.

Bei dieser Sachlage ist der Kampf gegen die Sünde eine sittliche Notwendigkeit. Zwei Methoden dieses Kampfes sind zurückzuweisen. Der Rigorismus, der durch den Pietismus repräsentiert wird, gebietet gewisse gute Handlungen als notwendig und verbietet bestimmte natürliche Hand- lungen, die an sich nicht unsittlich sind (die sog. Adiaphora, z. B. Tanzen, Theater, Rauchen, Vergnügungen), aber zur Sünde verlocken können. Der Laxismus er liegt dem Jesuitismus wie der Orthodoxie nahe weist auf die kirchlichen Gnadenmittel und die Sündenvergebung hin und gibt die Adiaphora frei. Die beiden feindlichen Brüder sind einander ver- Avandt. Beide veräußerlichen die Sachlage, beide halten bestimmte Satzungen oder Lehren für genügend und beide rauben dadurch dem Kampf seinen persönlichen geistigen Charakter, sie unterbinden das Leben, statt es zu entbinden.

Die rechte Art des sittlichen Kampfes lehrt uns der evangelische Begriff der Buße kennen. Nach altprotestantischer Anschauung faßt die Buße zweierlei in sich: die Reue und den Glauben, nicht nur die Reue,

562 Reinhold Seeberg: Christlich-protestantische Ethik.

die der neuere Sprachgebrauch vielfach irreführend als Synonym der Buße faßt. Die Sache ist nun diese. Wenn der Christ gesündigt hat, verurteilt ihn sein Gewissen deshalb, er fühlt sich schuldig. Dieser Ge- wissensvorgang ist von einem kräftigen Gefühl der Unlust begleitet. Diese Unlust ist die Reue. Sie ist ein Gefühl der Scham und der Unzufrieden- heit mit sich selbst. Es kann wohl vorkommen, daß jemand im heiligen Ernst sich eine „ewige Reue" gelobt. Diese ist aber psychologisch nicht möglich, denn das Reuegefühl wird notwendig in der Seele verdrängt durch positive Lustregungen. Es handelt sich also darum, daß der Affekt der Reue umgesetzt wird in positive sittliche Gesinnung. Nun war der Glaube der Maßstab, an dem sich das Reuegefühl erzeugte. Die Unlust der Reue besteht, weil der Glaube der Seele fehlte. Also drängt die Reue über sich hinaus wieder zum Glauben. Der Glaube hebt sie auf, indem er die Sündenvergebung zum Inhalt hat und indem er von Gott wieder die Motive und die Kraft zum guten Handeln empfängt. Er g^bt das wieder, durch dessen Mangel die Reue entstand. Oder die Reue des Sünders ist der Weg zurück zum Glauben und damit auch zur Liebe.

Dort ist der rechte christliche Kampf, wo die Stimme des Gewissens gehört, der Reue Raum gelassen und ihrem Antrieb zurück zum Glauben Folge gegeben wird. Der Schmerz und die Unlust der Reue weist durch die Negation des Bösen auf das Gute, und der Glaube hält durch die Antriebe, die er schafft, positiv vom Bösen zurück. Aber dies wie jenes erfordert Aufmerksamkeit auf sich selbst, Selbstverleugnung und innere Anstrengung. Niemand vermag diesen Kampf zu führen, der die wirk- lichen Freuden, Schmerzen und Erfolge draußen sucht und für die eigene Seele nie Sinn und Zeit findet. In das inwendige Leben weisen die Kämpfe der Buße, nichts dient so zur Reifung des inneren Lebens als diese Kämpfe.

Durch sie wird der Widerstand der Sünde überwunden. Mit anderen Worten: trotz der Unterbrechungen, die die Sünde verursacht, bleibt der Mensch auf dem Weg der sittlichen Entfaltung. Daß das innere Wachs- tum, trotz der Hemmungen, fortgeht dazu dient die Buße. Es ist verständlich, daß die schweren Kämpfe, von denen wir reden, auch das äußere Leben in Mitleidenschaft ziehen. Es handelt sich um den Be- griff der Askese. Im evangelischen Sinn besteht die Askese darin, daß wir unsere natürlichen Kräfte so üben und bilden, daß sie als Organe des neuen geistigen Lebens brauchbar werden, und daß wir auf alle Anregung und Erregung Verzicht leisten, die das Niedere in uns gegen das Höhere, das alte gegen das neue Wesen stärken. Bei ersterem handelt es sich um die positive Selbsterziehung (etwa durch Regelmäßigkeit des Lebens und Ordnung der Arbeit und Erholung, Ausbildung der Anlagen usw.\ bei dem zweiten um das „Fasten" im weitesten Sinn, d. h. den freiwilligen Verzicht auf an sich gute, uns aber gefahrliche Genüsse. Jenes kann als seelische Gymnastik, dies als Diätetik bezeichnet werden. Aber auf

System der christl.-prol. Ethik. III. Die Bewahrung u. Durchführung d. christl. Sittlichkeit usw. 55 %

diesem Gebiet sind die Ordnungen in persönlicher Freiheit und nach individuellem Bedarf zu gestalten. Dazu den Anstoß zu geben, ist eine wesentliche Aufgabe der Erziehung.

Wir haben die Entstehung, die Entfaltung und die Behauptung der i).^s ziei d.;r

christlichen Knt-

chnstlichen Sittlichkeit beschrieben. Daß Glaube und Liebe fester Inhalt «ickiun^. des menschlichen Geisteslebens werden, so daß sie das gesamte Handeln und den Zustand des Menschen bestimmen, das ist die Aufgabe der christ- lichen Sittlichkeit. So entsteht die sittliche Gewöhnung der sittlichen Gesamtbetätigung oder der christliche Charakter. Dadurch wird die Ge- sinnung und die Betätigung des Menschen konzentriert auf die Verwirk- lichung des Reiches Gottes. Alles dient dem Zweck, den Gott selbst in der Geschichte der Menschheit durchführt, nämlich die Menschheit auf ihre bestimmungsmäßige Höhe zu bringen, oder durch Glaube und Liebe einen Zustand der Seligkeit in der Menschheit herzustellen.

Dies Ziel wird in drei Stufen erreicht: i. Der einzelne Mensch ent- wickelt sich zum christlichen Charakter und erreicht dadurch die Stufe der sittlichen „Vollkommenheit", die ein aufrichtiges und kraftvolles Streben nach der sittlichen Vollendung ist. 2. Die Menscheit wird immer tiefer und weiter durchdrungen von der göttlichen Herrschaft und orga- nisiert sich in ihrem Zusammenleben immer einheitlicher zu einem Reich des höchsten sittlichen Ideals. Sie dringt in ihrer Geschichte immer weiter zum höchsten Fortschritt vor. Freilich wird sich dem gegenüber auch eine neue feste Organisation des Bösen in wachsender Geschlossen- heit ergeben. 3. Darüber hinaus liegt die Vollendung, da das Reich Gottes verwirklicht ist, und seine Glieder, ohne die hemmenden Fesseln der Sünde, sich im absoluten Glauben nur von Gottes Herrschaft leiten lassen und in der absoluten Liebe nur Gottes Willen dienen. Das ist die ewige Seligkeit im ewigen Reich Gottes. Da wir diesen Zustand in unserer empirischen Welt nicht verwirklicht zu denken vermögen, so müssen wir uns diesen Zustand als jenseitige Vollendung vorstellen, die durch Gottes absolute Erlöserherrschaft gewirkt wird.

in. Die Bewährung und Durchführung der christlichen Sitt- Die Lebens-

funktionen der

lichkeit in den Gemeinschaften des Lebens. Wir stellen an die kirchlichen

Gemeinschaft.

Spitze die kirchliche Gemeinschaft, denn sie ist die Gemeinschaft der direkten Arbeit für das Reich Gottes und sie stellt die derzeitige irdische Verwirklichung des Reiches Gottes dar. Die Kirche ist das Gemeinwesen des Glaubens und der Liebe, sie bekennt und verbreitet als Gemeinschaft den Glauben und sie betätigt als Gemeinschaft die Liebe. Das ist ihr ethisches Wesen. Daraus ergibt sich aber, daß die Kirche bestimmte Funktionen ausüben muß, die aus ihrem Wesen direkt abfolgen. Es sind folgende: i. die Predigt des Evangeliums samt der Sakraments- spendung. Alle Glieder der Kirche sollen Zeugen der göttlichen Offen- barung sein für die Menschen ihrer Zeit. Darin liegt, daß sie Gottes

5^4 Reinhold Seeberg: Christlich-protestantische Ethik.

Wahrheit vertreten, in persönlicher Überzeugung und nach dem Bedarf ihrer Zeit. 2. Die Einwirkung der jedesmahgen älteren Generation auf die jüngere oder die christliche Erziehung; nicht nur um die Mit- teilung bestimmter Kenntnisse und Lebensformen, sowie um die äußere sittliche Gewöhnung handelt es sich hierbei, sondern um die Fortpflanzung der erlebten Mächte eines neuen sittlichen Lebens. 3. Der gemeinsame Kultus oder die gemeinschaftliche Erbauung. Daß Ort und Art des Kultus zweckentsprechend, d. h. zur Erbauung geeignet gestaltet werden, ist die Aufgabe. Dazu kommt die sittliche Ausnutzung der Zeit der Er- bauung in dem Gottesdienst wie im Hause. Es handelt sich um den christlichen Sonntag. Er ist keineswegs bloß ein Tag der äußeren Er- holung, sondern er soll dem Christen vor allem zur inneren Erbauung und Erhebung dienen; das geschieht aber noch keineswegs dadurch, daß die Arbeit eing-eschränkt wird. Das Arbeitsverbot macht nicht das Wesen des Sonntags aus, sondern schafft dem Sonntag nur den Spielraum. Außer der kirchlichen Erbauung wird in unseren Verhältnissen der Sonntag der Gemeinschaft von Gemüt und Herz in dem Kreise der engeren oder erweiterten Familie zu dienen haben. Nicht große Geselligkeit, sondern intime Gemeinschaft der durch Bande des Blutes und der christlichen Gesinnung Verbundenen ist zu erstreben. Aber der Sonntag, dessen Recht heute allgemein anerkannt wird, ist in dem christlichen Leben vielfach zum Problem geworden. 4. Die Seelsorge wendet sich an den Nächsten, dessen Seele von besonderer Not und Gefahr bedrückt ist; auch sie ist eine gemeinchristliche Aufgabe. 5. Die Innere Mission ist die gemein- schaftliche christliche Liebesarbeit an allen denen, die durch die äußeren Nöte und Versuchungen des Lebens in Gefahr stehen, an Glaube und Liebe behindert zu werden oder Einbuße zu erleiden. Die Innere Missions- arbeit ist die größte Tat der Kirche des ig. Jahrhunderts; eine ungeheure Tätigkeit ist entfaltet worden und über fast alle Nöte und Gefahren hat die Liebe ihr Netz gebreitet. Das Netz ist immer weiter zu spannen und immer mehr Hände und Herzen sollen an ihm arbeiten. Die christ- lich-soziale Arbeit ist nur eine Erweiterung der Inneren Mission. Zieht diese die aus dem Sumpf, die in ihm zu versinken drohten, so ruft jene zur Arbeit auf, einen sicheren Weg durch den Sumpf zu bauen. Es handelt sich dabei wesentlich um die Verbesserung der Lage der Be- völkerungsklassen und der Personen, die trotz Arbeitswilligkeit und Arbeits- tätigkeit entweder keine Arbeit finden oder durch ihre Arbeit nicht die Mittel zum Leben nicht nur zur bloßen „Existenz" erwerben können. Die große Wendung zum Kapitalismus und zu dem Welthandel hat die sozialen Fragen der Gegenwart erzeugt oder aktuell gemacht. Der Staat und die Kirche haben das gleiche Interesse an der Lösung dieser Fragen auf friedlichem Wege. Der Staat hat die Aufgabe, auf dem Wege der Gesetzgebung diese Lösung anzubahnen, die Kirche oder die Christenheit aber hat das lebhafteste Interesse, daß ihre Glieder den sittlichen Sinn

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System der chrisll.-prol. Ethik. III. Die Hewährunp u. Durchführunf» d. ohristl. Sittlichkeit usw. 665

dieser Frage verstehen, an ihrem Teil an der Lösung- mitarbeiten und den Geist der Liebe verbreiten, in dessen Namen und in dessen Kraft die Notwendigkeit einer Lösung sich begreift. Dabei bekämpft die Kirche jenen „Geschichtsmaterialismus", nach dem der äußere Wohlstand das sittliche Leben verbürgt, durch den Gedanken, daß die sittliche Welt- anschauung den Völkern das wahre Leben bringt, welches der alleinige Bürge echten Kulturfortschrittes ist. Darin ist aber eine Fülle sittlicher Anregungen und praktisch-sittlicher Taten beschlossen. Diese Arbeit wird immer bedeutungsvoller werden, je mehr die Christenheit ein wirkliches Verständnis der wirtschaftlichen Lage erwirbt und je deutlicher sie erkennt, daß ihre Aufgabe nicht die technische Lösung der vorhandenen Schwierig- keiten sein kann, sondern die Forderung und die Förderung der Liebe in allen Lebensverhältnissen, 6. Der Glaube an den Herrn, dessen die Welt werden soll, und die Liebe zu allen denen, die er erlöst hat, macht die Kirche zu einer Missionskirche. So ist es von Anfang an gewesen und so wird es mit innerer Notwendigkeit bleiben, solange es lebendigen Glauben und heilige Liebe geben wird. Daß auch hierdurch, wie durch alle christliche Arbeit, die geistige Erhebung der Menschheit zur höchsten Kultur gefördert wird, bedarf keines Beweises mehr. 7, Daran schließt sich die letzte Lebensfunktion der Kirche, die Theologie oder das wissenschaftliche Verständnis des Christentums. Indem das Christentum in der Kulturwelt sich ausbreitete und eine Verbindung mit dem sonstigen geistigen Besitz der Menschheit erstrebte, ist die Theologie entstanden. Cnd indem diese Verbindung immer fester geworden ist, ist auch die Notwendigkeit der Theologie immer deutlicher geworden. In jedem Zeit- alter fällt der Theologie die Aufgabe zu, den Sinn des Christentums im geistigen Leben der Zeit zu deuten und seine Wahrheit und seine Kraft zu erweisen. So vertieft die Theologie in langsamer Arbeit, durch mancherlei Gegensätze hindurch nach innen hin die Erkenntnis der Geschichte und des Wesens des Christentums und eröffnet dadurch nach außen hin den neuen Kulturepochen den Zugang zum Christentum. Aber nicht um eine natürliche evolutionistische Religionsphilosophie oder Reli- gionsgeschichte handelt es sich ihr dabei, sondern um die Erkenntnis der Offenbarung Gottes, ihres Inhaltes und ihrer Wege und Ziele,

Das ist das Leben der christlichen Gemeinde für sich und für die i>ie amtliche

Organisation

ganze Menschenwelt. An diesem Leben nehmen alle Christen teil, und Jer Kirche, diese Funktionen sollen an sich von allen Christen ausgeübt werden. Aber damit sie nie stocken und mit den gehörigen Kenntnissen und Fähig- keiten regelmäßig ausgeübt werden, sind in der Christenheit besondere Ämter entstanden. Das oberste und wichtigste unter ihnen ist das Pfarramt. Dazu kommen die theologischen Lehrämter und das Kirchen- regiment. Die Aufgabe dieser Ämter ist durch die vorangegangenen Erörterungen gekennzeichnet. Der freien ungehinderten Ausübung der Lebensfunktionen der Kirche dienen sie, indem sie Organe dieser Funktio-

666 Reinhold Seeberg: Christlich-protestantische Ethik.

nen sind. Sie stehen daher nicht etwa kraft eines „götthchen Rechtes" über der Gemeinde, sondern sie stehen in ihr und unter ihr als ihre Mandatare und Organe.

Aber diese ideale Stellung" dreht sich in der Praxis notwendig um. Die Ämter als Ämter leiten und regieren, sie vertreten eine feste Ordnung und machen diese zur Norm der Entwicklung. Es handelt sich um die rechtliche Organisation der Kirche oder um das Kirchenrecht. Sofern die Kirche als Gemeinschaft im Staat lebt, muß sie sich als eine recht- liche Organisation darstellen und muß sich demgemäß rechtsgültige Ord- nungen, rechtlich befugte Behörden und rechtsverantwortliche Beamten gefallen lassen. Als Gemeinschaft bedarf die Kirche der Ämter, als eine Gemeinschaft des wirklichen Lebens bedarf sie der kirchenrechtlichen Organisation. Es muß also in ihr ein zu Recht bestehendes Bekenntnis, eine rechtliche Verfassung und Ordnung geben. Xur in diesen Formen kann sie als staatlich anerkannte Gemeinschaft leben. Nun aber sind alle diese Ordnungen nach evangelischer Anschauung nicht „göttlichen" Cha- rakters, sondern sie sind menschliche Ordnungen, wie alle Rechtsformen, daher der Kritik unterstellt und wandelbar. Auch durch die „Freikirche" würde hieran nichts geändert. Die Schwierigkeiten, die hier vorliegen, sind darin begründet, daß auf evangelischem Boden wenigstens die kirch- lichen Behörden staatlichen Charakter haben oder zu haben scheinen, sodann darin, daß die Autorität der kirchlichen Ordnungen nie als eine absolute gelten kann, wie in der katholischen Kirche. Aus dem ersten ergibt sich die Klage über den Mangel an „Freiheit" der Kirche, man empfindet die „Staatskirche" als Druck; aus dem anderen folgt der Kampf der „Richtungen" in der Kirche, die alle hinter das Kirchenrecht zurück- gehen auf die Offenbarung oder die Schrift und aus ihr das Recht ihrer Lehren und Tendenzen zu begründen versuchen. Beides, meint man nicht selten seit Schleiermacher, würde Besserung finden durch die völlige Trennung von Staat und Kirche. Allein die praktischen Bedenken, die dem gegenüberstehen, erscheinen den meisten als unüberwindlich. Sittliche Pflicht würde eine Separation von der Landeskirche erst dann, wenn diese die Predigt und Sakramentsspendung im Sinn der Offenbarung verböte. Die Kirchlich- In der Kirche betätiot sich der einzelne Christ sittlich, indem er

keit. ^^ „.,,,.

I. die Lebensfunktionen der Gemeinschaft an semem leil und nach semer Kraft mit ausübt, 2, indem er diese Funktionen auf sich wirken läßt, 3. indem er seine Kraft an die Reinigung und Ausgestaltung der kon- kreten Formen jener Funktionen setzt, in dem Bewußtsein, daß sie die wesentHchen Mittel zur Realisierung des höchsten Ideals des Reiches Gottes sind. In dieser dreifachen Betätigung besteht die Tugend der Kirchlich- keit, Wie in jeder Gemeinschaft das einzelne Glied allen übrigen gegen- über sowohl Subjekt als Objekt ist, so auch in der Kirche, Im Be- wußtsein, Propheten- und Priesterarbeit in Gottes Dienst leisten zu müssen und Organ heiligen Geistes zu sein, wirkt der Mensch auf die Gemein-

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System der christl.-iirot. Elhik. III. Die I5c\viihrunj,' u. Durchfüliniii;,' tl. (■hn^ll. Sitllichkcit usw. 56?

Schaft ein. Und in der Erkenntnis, daß Gottes Wirkungen im geschicht- lichen Leben dieser Gemeinschaft ergehen, läßt er dies Leben auf sich einwirken. Und dieses wie jenes weist auf die Pflicht, die Brauchbarkeit und Zweckmäßigkeit der kirchlichen Formen und Formeln behutsam im Auge zu behalten. Hierfür gilt Schleiermachers Wort: „Die Reformation geht noch fort."

Die älteste natürliche Lebensgemeinschaft ist die Familie. Sie er- nie lamiiie. wächst aus der Ehe. Der natürliche, nicht bloß physische, sondern auch seelische Gegensatz der Geschlechter zieht sie zugleich zueinander hin. Dieser allgemeine Trieb der Geschlechter zueinander nimmt in der Kon- zentrierung auf ein Individuum die Form der sinnlich-seelischen Geschlechts- liebe an. Diese führt zur Ehe. Die eheliche Gemeinschaft verbindet die beiden verschiedenen Individuen zu einer Einheit gemeinsamen Empfindens und Handelns, Erlebens und Auslebens, durch die das persönliche Leben beider gesteigert, aber die natürlichen Einseitigkeiten und Schroffheiten ausgeglichen werden. Durch diese wechselseitige Ergänzung stellt das Ehe- paar die Menschheit in sich dar und ist dementsprechend in seiner Ein- heit Erzeuger neuer Menschheit. Das gilt nicht bloß von der physischen Hervorbringung der Nachkommenschaft, sondern auch von ihrer geistigen Gestaltung. In seiner geistigen Einheit wirkt das Ehepaar auf die innere Ausbildung seiner Kinder ein, dadurch von vornherein den geistigen Er- trag der Einheit der Geschlechter auf sie übertragend. Nichts ist daher so verkehrt, als wenn der Vater sich nur die Erziehung der Söhne, die Mutter nur die der Töchter angelegen sein läßt, oder als wenn für jene nur die Strenge, für diese nur die Milde in Anwendung kommt. Vater wie Mutter haben an der Erziehung beider Geschlechter eine gleich große und wichtige Aufgabe. Sieht man auf das Ziel der Erziehung, so besteht es darin, daß die Eltern den geistigen sittlichen Ertrag ihres gemeinsamen Lebens den Kindern innerlich aneignen, wie sie ihnen auch den äußeren Ertrag ihrer Arbeit vererben. So wird das Haus zu einer Zelle in dem großen Organismus der Menschheit, in dem sich die Lebensbewegung der Geschichte abbildet: das Altere, Stärkere und Reifere leitet und bildet das Junge, Schwache und Unreife. Und wie in der Menschheit die Ge- leiteten die ihnen überlieferten Inhalte der Leitenden selbständig und in- dividuell sich aneignen, so geschieht es auch im Hause. Nicht bloße Erben sollen in ihm heranwachsen, sondern eigenartige selbständige Persönlich- keiten. Das geistige Erbe ist nur dann ein wirklicher Wert, wenn es inneres Eigentum wird.

Aus der Erkenntnis des Wesens der Ehe und der Aufgaben der Familie sind einige Folgerungen zu ziehen. Einmal die Monogamie sowie die prinzipielle Gleichheit der Ehegatten in ihrer Stellung und ihrem Recht, was die leitende Stellung des Mannes im Hause nicht ausschließt. Dann die prinzipielle Unauflöslichkeit der Ehe, es sei denn, daß sie in Wirklichkeit aufgehoben ist, so daß die „Scheidung" nur eine Tat der Sünde

568 Reinhold Seeberg: Christlich-protestantische Ethik.

konstatiert. Ferner aber ist die Pflicht zur Ehe aus der Erkenntnis ihrer Bedeutung zu folgern, es sei denn, daß besondere Mängel und Schä- den oder auch eigenartige Aufgaben ein Recht auf Ehelosigkeit gewähren. Nicht nur die sittlichen Gefahren der Ehelosigkeit (Prostitution) oder soziale Notstände (Frauenfrage) legen dem sittlichen Menschen die Pflicht zur Ehe nahe, sondern vor allem die Erwägung der sittlich geschichtlichen Aufgaben, die durch die Familie in der Menschheit zu lösen sind. Schließ- lich ergibt sich von diesem Gesichtspunkt her auch die Erwägung der sittlichen Bedingungen des Eheschlusses. Weder darf die natürliche sinn- liche Neigung fehlen, noch darf es mangeln an den Vorbedingungen zu einer geistigen, religiösen und sittlichen Gemeinschaft. Allzu große Differenzen in Alter, Bildung, religiös-sittlicher Anschauung, Stand pflegen zu einer Mesalliance ethischer Art zu führen.

Mit dem Gesagten ist auch die Stellung des Christen zur Familie be- zeichnet. Die Gaben der Ehe und der Familie nimmt er im Glauben als von Gottes Herrschaft gegebene hin und er trachtet seiner Gesinnung ge- mäß die Familie zu gestalten zu einem Organ der Verwirklichung des Reiches Gottes. Das gilt von der sittlichen Gemeinsamkeit des Lebens der Ehegatten, und besonders von ihrer Einwirkung auf die heranwachsende Generation, sowie auf das Gesinde und alle Personen, die das gesellige Leben in die Gemeinschaft der Familie führt. In der Gemeinschaft der Familie ist das neue Leben des Christen zu bewähren, und es ist in ihr und durch sie auszubreiten. In diesen besonderen Formen soll sich das neue Leben entfalten und durchsetzen. An Kämpfen wider die Sünde in uns und um uns wird es dabei nicht fehlen. Das Volk. Von der Familiengemeinschaft gehen wir fort zum Volk. Auch hier

ist zunächst die gemeinsame Herkunft das Band der Einheit. Die phy- sische Organisation gibt den Gliedern des Volkes g-emeinsame Fähig- keiten, die im Zusammenhang mit der Natur des Landes und der geschicht- lichen Schicksale eine eigentümliche Gestaltung aller ergeben (Rasse, Volkstum, Sprache, Sitte).

Dies alles ist nun aber die physische Grundlage für die geistige Ge- meinschaft des Volkes, die sich in der Arbeit für gemeinsame Ziele dar- stellt. Die physische Art des Volkes ist Produkt der natürlichen Ent- wicklung und ihrer Züchtung. Sie bietet einen weiten Spielraum den Möglichkeiten der geistigen Gemeinschaft dar. Diese aber entfaltet sich auf dieser Naturbasis zu einem freien Miteinander-, Widereinander- und Füreinanderwirken oder zu einer Gemeinschaft der Geister. „Führende Geister" oder „Helden" erleben neue Ideale und sie ziehen zuletzt alle in dies Erlebnis hinein. Sie organisieren die vorhandenen Kräfte zur Arbeit für diese erlebten Ideale. Dadurch wird die Beherrschung der Natur und die freie Verwendung der natürlichen Kräfte der Menschheit gehoben, und eben hierdurch wird der Mensch immer kräftiger seiner Persönlich- keit sich bewußt. In diesem Dreifachen besteht aber die Kultur: in der

System der cliristl.-prüt. Klhik. III. Die Bewährung u. Durchfiihiunfj d. chrisll. Sittlichkeit usw. 66()

Weltbeherrschung, der Selbstbeherrschung' und dem Bewußtsein freier Persönlichkeit. Der Weg iiber dieser geistigen Entwicklung eines Volkes i.st die Geschichte. Die Geschichte macht das zur Wirklichkeit, wozu die Natur eines Volkes, sein Land und dessen Umgebung- die Möglichkeit darbietet. Die Natur ist ein Feld physischer Möglichkeiten, die Geschichte ist ein Bau geistiger, aktiv realisierter Wirklichkeit, und das wird sie ver- möge der Kraft geistiger Ideale und Güter. Nicht eine rein physische Entwicklung, sondern die freie Betätigung der Geister zur Verwirklichung von Idealen produziert die menschliche Kultur.

Das Volk ist somit g^eschichtliche Kulturgemeinschaft oder, Die LeUcns- wie man auch sagt, Gesellschaft. Von diesem Gesichtspunkt aus lassen voikcs aU sich nun die Funktionen ableiten, in denen das geschichtliche Leben eines KuiturKi-m.-in- Volkes sich bewegt. In der Hauptsache sind es folgende, i. Die Be- herrschung der Natur und ihrer Kräfte und Produkte. Das faßt in sich die Erarbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Verwendung dieser Pro- dukte (Ackerbau, Bergbau, Industrie, Technik, Handel, Konsumtion). Die Wirtschaftsgeschichte zeigt, in wie mannigfachen Formen dies geschehen kann. Die Form, die das wirtschaftliche Leben unserer Tage beherrscht, läßt sich in das Wort „Kapitalismus" zusammenfassen. Verbände von Unternehmern lassen ungeheure Geldmassen arbeiten, sie kehren mächtig angeschwollen in die Hände der Besitzer zurück, der Anfang der alten Unternehmungen kann vergrößert, neue können angebahnt werden. Der internationale Zusammenhang und die Verbindungen ermöglichen es den Unternehmern, die Welt zu ihrem Markt zu machen und daher die Pro- duktion ins Ungemessene zu steigern. Die Ware kann den Konsumenten schneller, bequemer und billiger geboten werden, sie sind es ein.stweilen zufrieden. Die kleinen Produzenten werden zurückgedrängt. Hier setzt ein Bedenken ein. Das andere liegt in der Frage nach dem Arbeitslohn: ist die „Güterverteilung" als billig zu bezeichnen? Die Arbeiter organi- sieren sich wie die Unternehmer zu Genossenschaften, sie käinpfen für ihre soziale Lage (Streik usw.). Und w^eiter, dem ganzen System tritt ein anderes entgegen: nicht einzelne Personen, sondern die Gesellschaft oder der Staat selbst soll Kapital und Produktion in seine Hand nehmen. Da- durch könnte der Arbeiter mit weniger Arbeit mehr Lohn verdienen. Das materielle Glück entscheidet aber über die geistige Wohlfahrt und die Sittlichkeit der Menschen, also würde das neue System der Mensch- heit allseitig Heil bringen! Man muß von den dogmatischen und agita- torischen Auswüchsen des Systems absehen, um seine Wucht zu empfinden. Dem Individualismus tritt der Sozialismus entgegen, die Gewalt, die ein- zelne Kreise über das Ganze gewonnen, soll das Ganze an sich selbst ziehen, das Verfahren jener sich gleichsam zum Muster nehmen. 2. Die zweite Funktion ist die Gewinnung und die Durchsetzung von Idealen des geistigen Strebens (Sittlichkeit, Sitte) und die Regelung des Ver- hältnisses zu dem Überweltlichen (Religion). Das eine wie das andere

670 Reinhold Seeberg; Christlich-protestantisclie Ethik.

ist durch die geistige Anlage des Menschen bedingt und ist daher überall vorhanden, wo der Geist sich unbeschränkt verwirklicht. Die Weltbe- herrschung kommt erst durch diese Momente zur Vollendung, denn erst dann, wenn der Geist alles einem höchsten sittlichen Zweck unterwirft und diese Verbindung als göttliche Ordnung- empfindet, wird er der Herrschaft über die Natur sicher. Die Geschichte erreicht das Ziel der Xaturbeherr- schung nur, sofern sie eine religiöse und sittliche Lebensbewegung in sich faßt. Wie nun die Herrschaft über die Welt durch Religion und Sittlichkeit zur Vollendung- kommt, so auch die Selbstbeherrschung, als die Macht des persönlichen Geistes über die eigenen natürlichen Kräfte, und das Bewußtsein freier Personalität. In dem religiös-sittlichen Leben vollendet sich demnach die geschichtliche Kulturentwicklung. 3. Die wissenschaft- liche Forschung erstrebt das theoretische Verständnis der Gesetze des Naturzusammenhanges, sowie weiter der Bewegung und des Inhaltes des Geschichtsverlaufes. Die strengste Objektivität ist dieser Erkenntnis wesentlich, sie bezeichnet andererseits die Schranke, die ihr subjektiv wie objektiv gezogen ist. 4. Die Kunst ist die sinnliche Darstellung ori- ginaler tiefster Empfindungen. Sie macht das Innerste äußerlich und die geniale Intuition gemeinverständlich. Je höher die Kunst steht, desto origineller und kräftiger ist der geistige Gehalt und die sinnliche Form und desto inniger und „natürlicher" die Einheit beider. Die Entwicklung der Kunst oder die „ästhetische Erziehung" eines Volkes ist für seine Ge- schichte von höchster Bedeutung. 5. Den Ertrag der geistigen Arbeit eines Volkes macht die Schule zum Gemeinbesitz. 6. Der Bestand des Volkes hängt ab von seiner Wehr haftig keit, es ist eine notwendige Funktion, daß es sich zu einem „Volk in Waffen" erzieht, daher die For- derung einer allgemeinen Wehrpflicht und der Bestand einer bewaffneten Macht zu Lande und zu Wasser, in der sich die Machtgeltung eines Volkes anderen gegenüber erweist. Die militärische Volkserziehung erweist sich als Mittel der Kultur vermöge der Förderung der Weltbeherrschung, der Selbstbeherrschung und des persönlichen Bewußtseins. 7. Zu diesen notwendigen Funktionen des Kulturvolkes tritt die letzte, die alle übrigen unter sich zusammenfaßt und sie zweckmäßig leitet. Es ist die Funktion der Regierung. Durch sie erhebt sich aber das Volk zu einer neuen Stufe, es wird zum Kultur- und Rechtsstaat. Hiervon wird der folgende Abschnitt handeln müssen. Der bürh'eriiciic In dcr gcschichtlichcn Entwicklung wird in der Regel eine der ge-

nannten Funktionen zeitweilig den Primat im Kulturleben ausüben. Die Geschichte läßt uns diesen Wechsel beobachten. Das ideale Verhältnis ist aber immer in der gleichmäßigen Ausübung aller dieser Funktionen zu suchen. Hieran sind alle Glieder des Volkes beteiligt durch ihren bürgerlichen Beruf. Indem jeder den Beruf wählt, zu dem er besonders begabt ist, erreicht er sowohl seine persönliche Befriedigung, als er auch dem Volk den größten ihm möglichen Dienst erweist. In dem Beruf wird

System der christl.-piot. Ethik. III. Die Bewährung u. Durrhfüluun}^ d. christl. Sittlichkeit usw. ()■• j

jeder zu einem nützlichen Organ der Gemein.schaft, Berufslo.sigkeit ist da- gegen Nichtsnutzigkeit. Mit dem Beruf wird daher dem Berufsträger von der Gemeinschaft die Berufsehre, der Berufserwerb und da die Berufe ihre Geschichte haben sein Stand gewährt und gesichert.

Die geschichtliche Entwicklung des Volkes und der Völker ist der Der Christ la - ,^ 1 T^' T- ^'"^ Kultur-

Boden, auf dem sich das Christentum angebaut hat. Diese Entwicklung gemcinschafu

innerlich zu bestimmen, ist seine g'eschichtliche Aufgabe. Je kräftiger, zielgewisser und naturgemäßer sich diese Entwicklung vollzieht, desto tiefer und umfassender können sich die Einwirkungen des Christentums gestalten. Ein starkes, gesundes und arbeitsfrohes Volksleben ist der günstigste Geschichtsboden für die Arbeit der Kirche. Deshalb steht das Christentum allen Kulturfunktioncn prinzipiell freundlich gegenüber, denn da sie das Leben der Menschen geistig, ideal, zielbewußt machen, bieten gerade sie die naturgemäßen Anknüpfungspunkte für die Darstellung des höchsten Ideals und für die Erfüllung des geistigen Lebens mit dem höchsten Inhalt. Dabei kann das Christentum seinem Wesen nach sich mit jeder Entwicklungsstufe und Form geistigen Kulturlebens abfinden. Es haftet nicht an einer besonderen Stufe des wirtschaftlichen oder wissen- schaftlichen, des künstlerischen oder staatlichen Lebens, aber es trägt frei- lich den Trieb in sich von den niederen Stufen der Weltherrschaft, der Selbstbeherrschung und der freien Persönlichkeit die Entwicklung zu den höheren Stufen zu befördern. Das Christentum ist daher die stärkste Fortschrittsmacht im geistigen Leben der Völker, Nun wird aber dies Verhältnis scheinbar aufgehoben durch den Kampf des Christentums wider die Sünde. Dieser Kampf ist ein beständiger, denn es sind immer sündige Menschen, die die Lebensfunktionen der Gemeinschaft ausüben und sie dabei sündhaft mißbrauchen und entstellen. Der Christ, der hieran Kritik übt, wird leicht als Kulturfeind verdächtigt, in Wirklichkeit wendet er sich nur gegen den Mißbrauch des Kulturstrebens. Der Kampf kann nun aber weiter an besonderen Wendepunkten und bei bestimmten Entwick- lungsstufen der Kultur eine besondere Schärfe annehmen. Das liegt nicht daran, daß etwa schärfere wissenschaftliche Methoden, „realistische" Formen der Kunst oder die kapitalistische Wirtschaftsordnung an sich mit dem Christentum unverträglich wären, sondern es liegt daran, daß zeitweilig Egoismus, Roheit, Chauvinismus, bornierter Wissensdünkel und dergl. durch derartige Formen der Entwicklung gefördert werden, und daß diese daher zu einer schweren Gefahr des Volkslebens und zur Hemmung des christlichen Geistes werden können. In diesem Sinn richtet sich etwa in unsem Tagen vielfach eine scharfe Kritik wider die kapitalistische Wirt- schaftsordnung oder wider die geschichtsmaterialistischen Dogmen der Sozialdemokratie. Das bedeutet nicht, daß das Christentum mit einer be- sonderen Wirtschaftsordnung steht oder fällt, sondern es bedeutet, daß die Vertretung und Gestaltung dieser Ordnung in den Dienst der Sünde ge- rät und daher die Kulturentwicklung hemmt und den Wirkungen des

6-7 2 Reinhold Seeberg: Christlich-protestantische Ethik.

Christentums den Weg versperrt. Einerseits wird durch den geschicht- lichen Fortschritt der Menschengeist vertieft und verfeinert und daher positiv für die höchste Form geistigen Lebens in der christlichen Sittlich- keit vorbereitet, andrerseits begünstigt die Steigerung der geistigen Kultur den Wahn, als käme ihre bildende Kraft der des Christentums gleich oder überträfe sie. Dieser Gedanke wird aus den höheren Kulturstufen schärfer und klarer. Er hat in den modernen Völkern in weiten Kreisen eine religionslose Kultur hervorgerufen. Diesen beiden Sätzen entsprechend ist das christliche Zukunftsbild gestaltet, das einerseits die Reiche der Welt Christus unterworfen werden läßt, andrerseits den denkbar schärfsten Gegensatz zwischen Gottesreich und Welt von der Zukunft erwartet. Der Staat. Wir haben schließlich die Kulturgemeinschaft in der Form des

Staates zu betrachten. Das Wesen des Staates besteht in dem Recht. Das Recht aber stellt die schlechthin notwendigen und daher eventuell durch Zwang durchzusetzenden Normen des Zusammenlebens der Volks- gemeinschaft dar. Die rechtlich organisierte Kulturgemeinschaft ist der Staat. Indem aber diese rechtliche Organisation schlechthin notwendig- ist für den Bestand aller übrigen Lebensfunktionen der Gemeinschaft, ist sie allen übergeordnet, oder die staatliche Gewalt resp. ihr ober- ster Inhaber ist souverän. Nun stehen aber zwei Anschauungen vom Staat einander gegenüber: nach der einen hat er es nur mit der for- malen Sicherung des bestehenden Rechts zu tun, er ist somit nur der Schrittmacher und „Nachtwächter" der Kulturgesellschaft; nach der anderen steht ihm die positive Leitung der letzteren zu. Beides ist richtig und schränkt daher einander ein. Soll der Staat durch Rechtsordnung die Kulturgemeinschaft wirklich fördern, so muß er nicht nur negativ ihr die Hindernisse aus dem Wege räumen, sondern auch positive Ordnungen zum Wohl der Gesellschaft schaffen. Die Gesellschaft aber bedarf einer derartigen Leitung, da die Macht, die einzelne Kreise in ihr erwerben, leicht so ausgenützt wird, daß das summum ius zur summa iniuria wird. Die Gesellschaft findet ihre Schranke an der positiven Tendenz der Rechtsordnung, aller Recht zu fördern; der Staat dagegen hat seine Schranke an der persönlichen Freiheit, die die notwendige Voraussetzung des wirklichen Lebens vieler Kulturfunktionen ist. Der Staat kann also sehr wohl die Eisenbahnen verstaatlichen oder ein Tabaksmonopol schaffen, oder auch die gesamte Güterproduktion in seine Hand nehmen, aber er kann nicht der Wissenschaft oder der Kunst Wege vorschreiben oder auf das innere Leben der Kirche einwirken, denn die ihm zu Gebote stehen- den Mittel reichen zwar zu jenem, aber nie zu diesem hin. Zur Aus- übung seiner Funktionen bedarf der Staat resp. die Regierung der flacht. Diese hat er einerseits an den Staatsgütern und -einnahmen, andrerseits an der bewaffneten Macht.

Die Ordnung des Staatswesens ist durch die Verfassung festgesetzt. Unter den verschiedenen \'erfassungsformen scheint die konstitutionelle

System der chrisll.-i>rül. Klhik. III. Die Hcwiiliriiiijj u. DuiHlirühruug d. christl. Sittlichkeit usw. ()-j -i

Monarchie der gegenwärtigen Kulturstufe am meisten zu entsprechen, in- dem sie die Schäden der Republiken vermeidet, ohne ihrer Vorzüge bar zu sein. Hinsichtlich der verschiedenen Wahlsysteme zur Eruierung der Volksvertreter liegen bis jetzt sehr verschiedene Anschauungen vor. In- dem die Verfassung die Bedingungen zur Fortbildung ihrer selbst wie der Gesetzgebung im einzelnen enthält, ist der Fortschritt zum „richtigen Recht" und die Reform auf verfassungsmäßigem Wege möglich. Ver- fassungswidrige Tendenzen und Änderungen tragen dagegen den Charakter der Revolution an sich. Die Rechtsordnung setzt sich durch, positiv auf dem Wege der Staatsverwaltung, negativ durch die Strafe für Ge- setzesübertretung. Den unerschütterten Bestand des Rechts gegenüber der Übertretung tut die Strafe dar.

Die Organisation der Kulturgemeinschaft zum Staat ermöglicht weiter Der imematio- einen regelmäßigen und geordneten Verkehr der Nationen untereinander. Indem dadurch die Kulturarbeit der Völker in Wechselwirkung miteinander tritt, ergibt sich ein großer, die ganze Menschheit umfassender Geschichts- zusammenhang. Aber nicht nur der friedliche Wettbewerb von Handel und Industrie, Kunst und Wissenschaft, sondern auch das feindliche Wider- einanderstoßen der besonderen Interessen der Nationen ist in diesem Ge- schichtszusammenhang enthalten. Wenn diese Spannungen sich dahin ge- stalten, daß eine Nation der anderen gewisse Lebensbedingungen nehmen will, so pflegt die Entscheidung im Krieg gesucht zu werden. Die sitt- liche Berechtigung des Krieges besteht darin, daß er die zwischen den Völkern einzig mögliche Form der Notwehr ist, die ausgeübt wird, ohne daß der Haß des persönlichen Egoismus dabei entfesselt würde. Aber so wenig der Krieg in absehbarer Zeit entbehrlich werden wird, so sehr ist das friedliche Miteinanderarbeiten der Völker als Ideal hinzustellen. Die philosophischen Ideen vom „ewigen Frieden", die man vor hundert Jahren spann, sind doch nicht umsonst gewesen. Die Weltherrschaft, die die Großmächte ausüben, läßt Kriege, die früher geschlagen worden wären, nicht zum Ausbruch kommen. Kongresse, Schiedsgerichte, Verträge, Kon- sulate und Gesandtschaften etc. dienen friedlicher Verständigung. Die um- fassende Gemeinsamkeit der Interessen aller mächtigeren Nationen durch den Welthandel macht sie zu Wächtern des Friedens.

Die Stellung des Christen zum staatlichen Leben ist immer eine po- Der Christ im

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sitive gewesen. Die biblischen Mahnungen zum Gehorsam gegen die Leben. Obrigkeit haben sich dem christlichen Bewußtsein merkwürdig tief einge- graben, niemand hat in neuerer Zeit so viel dazu beigetragen als Luther. Durch Luthers Einwirkungen vor allem ist auch die Anschauung von der Aufgabe des Staates als einer bloß formal rechtlichen, deren Inhalt die Kirche bestimmt, zurückgeschoben; sie war dem mittelalterlichen Katho- lizismus eigen und wird wieder von dem modernen Liberalismus vertreten, nur daß dieser statt der Kirche die Gesellschaft zur Herrin des Staates macht. Andrerseits freilich ist jene alles in sich verschlingende Staats-

Dlls KlLTlR DtR GeC.ENWART. I. 4. ^J

6yA Reinhold Seebrrg: Christlich-protestantische Ethik.

omnipotenz, wie Hegel oder auch die Sozialdemokratie sie lehren, vom christ- lichen Standpunkt aus als Fessel der persönlichen Freiheit zu verwerfen. Da nun aber die Rechtsnormen des Staates dem persönlichen Leben den Spielraum sichern und dadurch eine umfassendere sittliche Betätigung er- möglichen, ist das Christentum prinzipiell antirevolutionär und staatsfreund- lich. Nach christlicher Anschauung ist die staatliche Organisation ein wesentliches Hilfsmittel, die Menschheit auf die höchste Sittlichkeit hin zu erziehen und die Entfaltung dieser in jener zu ermöglichen. Daher sieht der Christ im Staatsleben eine Gottesgabe und weiß die Leiter der Staaten als „von Gottes Gnaden" eingesetzt, ist Gott doch der Herr der Geschichte. Bei dieser Stellung der Kirche zum Staat lag das Streben nach dem „christlichen Staat" nahe. Diese Formel ist nicht unzutreffend im persön- lichen Sinn, sofern die Regenten und die Regierungen der meisten Staaten Christen sind und dadurch das Christentum im Staatsleben eine feste Stelle hat; sie ist aber unrichtig im sachlichen Sinn, denn die Mittel und Funk- tionen des Staates sind notwendig weltlich und nicht religiös -sittlich. Auch dann, wenn ein Staat etwa alle seine Gesetze im christlichen Sinn revidieren wollte, würden diese Gesetze sich nur auf das äußere Handeln richten, hierzu die Menschen zwingen, nicht aber die Herzen mit heiligem Geist erfüllen und zu freier Liebestat anregen. Das heißt, die staatliche Wirkung als solche ist nie christlich, so sehr sie christlichen Wirkungen den Boden bereiten kann.

Die Erkenntnis der ungeheuren Bedeutung des Staatslebens für die Sittlichkeit machte es dem Christen zur Pflicht, sich an dem staatlichen Leben zu beteiligen. Das Christentum hat wie alle Religionen einen konservativen Zug an sich, trotzdem ist der Christ im politischen Leben nicht an irgend eine Partei gebunden. Seine politische Stellung wird sich vielmehr nach folgenden Erwägungen gestalten. Soll die Staatsordnung als Mittel für das oberste Ideal des Christen wirksam sein, so muß sie ihrem nächsten und natürlichen Zweck entsprechen, d. h. sie muß durch Recht das Kulturleben leiten; dazu muß sie stark, frei und aller Sonder- interessen bar sein. Eine klerikale Beeinflussung der Regierung oder die Forderung widerrechtlicher Begünstigungen der Kirche oder ihrer Ver- treter liegt dem Christen ganz fern, denn er weiß, daß der Staat etwas Ordentliches nur dann leisten kann, wenn er sich seinem natürlichen Wesen gemäß betätigen darf Gerade das Interesse am Reich Gottes erfordert die Betonung der Macht und Freiheit des Staates. Aber weiter, es bilden sich im Leben des Volkes sittliche Gefahren, sündhafte Gewohnheiten, unbillige und ungerechte Zustände heraus; sie schädigen die Kraft und die Entwicklung des Volkes und sind eben darum schwere Hemmungen der Entfaltung des Reiches Gottes. Daß nun derartige Gefahren auf ver- fassungsmäßigem Wege, durch die Verwaltung und die Gesetzgebung be- kämpft werden, ist lebhaftes Anliegen der Christen. Demgemäß wird im Prinzip die Beteiligung des Christen am staatlichen Leben eine leb-

System der clirisll.-prol. Etliik. III. Die Rcwährung u. Duichführunfj d. clirisll. Sittlichkeit usw. f)n c

hafte und kräftige sein müssen, da er die Bedeutunji^ desselben für die Verwirklichung des obersten Ideals so hoch veranschlagt. Diese Beteili- gung bewegt sich in doppelter Richtung: Gehorsam gegen den Staat, Pietät gegen seine Ordnungen, sind sie doch unter Gottes Leitung in der Geschichte erwachsen; dann aber: ^Streben nach Besserung der sittlichen Zustände, Kampf wider die Sünde, Fortschreiten der Gesetzgebung. So ist der Christ im öffentlichen Leben sowohl konservativ als fortschrittlich gesinnt; jenes geht aus dem Glauben, dieses aus der Liebe hervor.

Auf diese Weise bewährt der Christ das christlich-sittliche Leben in den Formen der Gemeinschaften des Lebens, indem er sie als Mittel zur Verwirklichung des Reiches Gottes ansieht und sie zu solchen zu ge- stalten bemüht ist.

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Literatur.

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II. Zu den ethischen Prinzipienfragen; Kants Kritik der prakt. Vernunft, sowie die Schriften: Grundlegung der Metaphysik d. Sitten u. Zur Grundlegung usw. SCHLEIER- machers Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), sowie die philos. Ethik (1835); femer H. Spencer, Die Tatsachen der Ethik (deutsch von Vetter), 1879. Höffding, Ethik (deutsch von Bendixen), 1888. Paulsen, Ethik^ 1896 f. Wundt, Ethik'', 2 Bde. 1903. WiNDELBAND, Präludien", 1903. Windelband, Über Willensfreiheit, 1904. E. v. Hart- MANN, Das sittl. Bewußtsein. R. Stammler, Die Lehre von dem richtigen Recht, 1902; außerdem die Einleitungen zu den theologischen Ethiken. O. Pfleiderer, Moral und Reli- gion, 1872. H. Weiss, Einleitung in die Ethik, 1887. C. Stange, Einleitung in die Ethik,

2 Bde. 1900. Ol. R. Grützmacher, Die Quelle und das Prinzip der theol. Ethik, 1905. W. Kapp, Religion u. Moral im Christentum Luthers, 1902.

III. Ethische Systeme und Monographien: Reinhard, System d. christl. Moral, 5 Bde. 1788 ft". Schleiermachkr, Die christl. Sitte, 1843. Rothe, Theol. Ethik, 3 Bde. 1845 ff. 2. Aufl. 1869 ff. Harless, Christi. Ethik, 1842. Wuttke, Handbuch d. christl. Sittenlehre, 2 Bde. 1861. 63. Vilmar, Theol. Moral, 2 Bde. 1871. A. v. Oettingen, Moral- statistik, 1869, 3. Aufl. 1882, sowie Christi. Sittenlehre, 1872. Martensen, Christi. Ethik,

3 Bde. 1871 ft". Hofmann, Theol. Ethik, 1878. Frank, System der christl. Sittlichkeit, 2 Bde. 1884. 87. O. Pflkiderkr, (Grundriß der Glaubens u. Sittenlehre. Beck, Vor- lesungen über die christl. Ethik, 3 Bde. 1882 f. I. A. DoRNER, System d. chrisü. Sitten- lehre, 1885. Kahler, Die Wiss. d. christ. Lehre*, 1893, S. 439 ff. Luthardt, Kompendium d. christl. Ethik, 1896. 2. Aufl. 1898 (wertvoll als ethische Dogmengeschichte). Kübel, Christi. Ethik, 2 Bde. 1896. H. Schultz, Grundriß d. cv. Eth., 1897. J. Köstlin, Ethik, 1899. W. Herrmann, Ethik, 1901. Th. H.\kin(;, Das christl. Leben, 1902. Lemme, Christi. Ethik, Bd. I. 1905. J. MÜLLER, Die Lehre von der Sünde, 1839, 5. .-Kufl. 1867. Lutharut, Die Lehre vom freien \\'illon, 1863. Kähikr, Das Gewissen, 1878. Si.icp.krg . Gewissen

I-ilft;itur.

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CHRISTLICH-PROTESTANTISCHE PRAKTISCHE THEOLOGIE.

Von Wilhelm Faber.

Einleitung. Die notwendigen und natürlichen Lebensbetätigungen der Kirche, die in der praktischen Theologie gelehrt werden, sind seit ihrer Gründung in ihr geübt worden. Eine Unterweisung darüber hat sich jedoch erst nach und nach herausgebildet. Der Xame „Praktische Theologie" gar kommt erst im 13. Jahrhundert auf, und zwar zunächst auf die ganze Theologie bezogen unter der Frage, ob diese eine spekulative oder praktische Wissenschaft sei, und dann insonderheit gefaßt als die Lehre von der Gesinnung und Betätigung der Gotteskindschaft.

Was wir aber heute darunter verstehen, daß gewisse Teile der Theologie ausgesondert werden, in denen gelehrt wird, wie sich die Kirche erbauen soll durch wSelbstbetätig-ung, hat angeblich einen wunderlichen Ursprung, nämlich im Beichtstuhl, zu dessen Verwaltung ein genaues System der Inquisition geschaffen werden mußte, wie denn die vierte Laterans}Tiode (12 15) forderte, daß an jeder Metropolitankirche ein Theologe anzustellen sei, der Unterricht in der Seelsorge zu erteilen habe. Diese Disziplin fand auf evangelischem Boden keine Fortsetzung, wurde aber dem Mar- burger Theologen Hyperius (-}- 1564) zum Anlaß, seine epochemachenden Gedanken in bezug auf die praktischen Lebensbedürfnisse der Kirche aus- zusprechen. Der Name „Praktische Theologie" ist auf evangelischer Seite zuerst angewandt worden von Voetius (-}- 1676). Schleiermacher (-j- 1834), der ihr Studium die Krone des theologischen Studiums nennt, da „sie alles andere voraussetzt und deswegen zugleich für das Studium das letzte ist, weil sie die unmittelbare Ausübung vorbereitet", hat das große Verdienst, sie in engste Verbindung mit der Kirche gesetzt und ihr einen festen Platz im theologischen System angewiesen zu haben, und Nitzsch (f 1868) hat den großen Schritt weiter getan, die Kirche nicht nur als Objekt, sondern auch als Subjekt der in Frage kommenden Lebens- betätignngen zu erfassen.

Ist nun die Praktische Theologie die Lehre von der Selbstbetätigung der Kirche zu ihrer Selbsterbauung, so fragt es sich, welche Einzel-

I. Die Homiletik.

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disziplinen dazu ufehören und wie sie sich eingliedern. Da scheint mir das richtigste Teilungsprinzip das von E. Chr. Achelis in seinem „Lehr- buch der praktischen Theolog-ie" ang-ewandte. Er beschäftigt sich zuerst mit der Kirche selbst und ihren Amtern. Dann behandelt er, entsprechend den drei Attributen der christlichen Kirche im Apostolicum,

1. die Betätigung der Einheitlichkeit der Kirche (Liturgik und G e m e i n d e g o 1 1 e s d i e n s t) ;

2. die Betätigung der Heiligkeit der Kirche

a) durch den Dienst am Wort zur Glaubensgemeinschaft (dargestellt in den Disziplinen: Homiletik, Katechetik und Poimenik),

b) durch den Dienst am Werk zur Liebesgemeinschaft (Koinonik);

3. endlich die Betätigung der Allgemeinheit der Kirche (Heiden- und Judenmission).

Hierauf gibt Achelis in einem letzten Teile die Lehre vom Kirchen- regimente.

Diese Fülle von Stoff auch nur andeutungsweise auf so engbemessenem Räume, wie ihn der Plan unseres Werkes bedingt, zu behandeln, ist un- möglich. Ich werde mich im folgenden deshalb darauf beschränken, das wichtigste Gebiet der Praktischen Theologie, die Lehre vom Dienst am Wort zur Glaubensgemeinschaft, herauszuheben und auf ihre drei Teil- gebiete, die Homiletik, die Katechetik und die Poimenik, einige Streif- lichter zu werfen.

L Die Homiletik. Die Homiletik ist die Lehre von der Gemeinde- predigt. Denn das Wort Homilia, das in der Schrift soviel wie Unter- redung bedeutet (Luk. 24, 14. 15, i. Kor. 15, S3' Act. 20, i i und 24, 26), ist mit der Zeit zur feststehenden Bezeichnung für die Predigt an die mün- digen Gemeinde glieder geworden. Sie steht im Gegensatz zur Kate- chese, die den unmündigen Gliedern der Kirche gilt, und zum Kerygma, das den NichtChristen das Heil verkündet.

Viele Homileten sowohl als auch viele Homiletiker sind stark beein- flußt worden durch die Rhetorik des klassischen Altertums, die von Ari- stoteles bis Quinktilian eine reiche Ausbildung erfahren hat. Daß die Predigt eine Art der Rede ist, liegt auf der Hand, und man könnte daher meinen, es ließe sich nichts Besseres tun, als bei jenen Rhetoren in die Schule zu gehen. Man kann auch tatsächlich von ihnen lernen. Indessen zeigt sich sofort, daß hinsichtlich des Was? eine immense Kluft sich auf- tut zwischen dem Rhetor und dem Prediger. Die Rede kann alles Mög- liche zum Gegenstande und Ziele haben, die Predigt hat nur Ein Ziel: das Reich Gottes. Das beeinflußt aber naturgemäß dann auch das Wie? So tut man besser, anstatt an heidnischen Rhetoren sich an unseren be- deutenden Kanzelrednern zu orientieren oder an dem, was man in eigener Erfahrung gelernt hat. Den letztem Weg will ich im wesentlichen hier beschreiten.

58o Wilhelm Faber: Christlich-protestantische praktische Theologie.

Inhalt der Von der Predigt verlange ich, daß sie erstens textuell, daß sie

Predigt,

zweitens originell und daß sie drittens aktuell sei.

Die Predigt soll erstens textuell sein. Damit ist gemeint, daß sie aus der Schrift geschöpft ist, und daß nichts in ihr ist, was gegen die Schrift geht. Woher soll ein armer sündiger Mensch den Mut nehmen, auf die Kanzel zu gehen, unter der oft nicht bloß viel gelehrtere, sondern auch geheiligtere Menschen sitzen, als er selbst ist, wenn er nicht Gottes Wort zu bieten hat? Wenn Baumgarten es beklagt, daß das Predigenmüssen über festbestimmte Texte Hemmung und Dämpfung des göttlichen Wortes mit sich bringe, und Claus Harms etwas Ahnliches behauptet, so ist damit natürlich nicht gemeint, daß der Inhalt der Schrift nicht Grundlage der Predigt sein soll, sondern daß diese sich viel un- gehemmter und erschöpfender entfalten könne ohne solche Beschränkung durch den Text. Das ist bis zu einem gewissen Grade richtig. Aber in dieser Beschränkung liegt andererseits doch auch der große Segen, daß man eine zentrale Wahrheit unter immer neuen Gesichtspunkten darstellen kann. Dagegen sollte man den Perikopenzwang" allerdings fallen lassen. Die Perikopen müssen zwar, schon um der Tradition willen, Teile des kirchlichen Lektionsbestandes bleiben, und es ist auch dankbar anzu- erkennen, wenn sie zur Predigt dargeboten werden; doch sollte in ihrer Benutzung der Prediger volle Freiheit haben. Denn es ist gut, daß mög- lichst viel aus der Schrift zur Verkündigung herangezogen wird. Die Perikopen des Alten wie des Neuen Testaments haben ihre großen Vor- züge, aber warum andere Texte ausgeschlossen sein sollen, ist doch nicht zu sagen. Es gibt darunter solche, die uns nachgehen, und zwar so lange nachgehen, bis wir über sie gesprochen haben. Einer, Marc. 4, 11. 12, den ich für den schwersten in der ganzen Bibel halte, verfolget mich schon jahrelang, und noch getraue ich mich nicht an ihn.

Dann ist aber auch nötig", daß wir das einmal gewählte Wort nach dem Maße unserer Kraft erschöpfen und nicht etwa bloß zu einer Über- schrift für eine ganz andere Ausführung machen, wie es wohl in Ländern vorkommt, wo Jahr für Jahr über dieselbe Textreihe gepredigt werden muß. Es liegt sicher noch manches in der Schrift verborgen, das gehoben zu werden verdient; ist doch ein fundamentaler Gedanke wie der der Rechtfertigung durch den Glauben jahrhundertelang verborgen gewesen. Die Predigt hat ein Recht auf Universalität, Den Stoff zur Ausführung und Aufhellung der Textgedanken dürfen wir aus der ganzen Welt des Geistes wie des Naturlebens nehmen und sollten dabei die des Vater- landes nicht vergessen; denn eine Predigt auf deutschem Boden muß auch deutsches Gepräge tragen. Nur muß sich mit diesem Universalen das Zentrale verbinden: alles ist euer, ihr aber seid Christi! Es wird dann auch die Klage aufhören, daß der eine nur moralische, der andere nur dogmatische Predigten halte. Wer den ganzen Christus predigt, bringt weder das eine noch das andere, sondern die lebendige Grundkraft für

I. Die Homiletik. 68 1

Glauben und Leben und trifft darum denn auch den ganzen Menschen. Und das sollte immer der Fall sein.

Um immer den rechten Predigtstoff zu finden, dazu bedarf es eines täglichen \'erkehrs mit der Heiligen Schrift, und zwar eines solchen, der stets von der Frage begleitet ist, wie man das Gelesene zur Predigt ver- werten könne.

Um dann dem so gefundenen Texte inhaltlich ganz gerecht zu werden, dazu bedarf es vor allen Dingen einer sorgfältigen Exegese bei der Vorbereitung, ebenso wie der genauen Feststellung des Zusammen- hanges. Es kann sonst ein vollkommenes Mißverstehen des einzelnen Bibelwortes stattfinden. Auch ist es der Regel nach besser, einen in sich geschlossenen Abschnitt zum Vorwurf zu nehmen, als ein kurzes Wort, das sich mehr zu gelegentlichen Ansprachen eignet als zu eingehen- den Gedankenentwicklungen.

Schon äußerlich aber soll man die Schriftgemäßheit seiner Predigt dadurch bezeugen, daß man auch während ihres Verlaufes die Bibel benutzt und sie nicht etwa zuschlägt und beiseite legt, nachdem der Text verlesen ist, als wollte man andeuten, daß jetzt erst die Hauptsache komme.

Die Predigt soll zweitens originell sein. Originell zunächst in dem Sinne, daß Gott sie meiner Arbeit geschenkt hat. Denn auch auf diesem Gebiete geht es so, daß der heilige Geist nicht das ersetzt, was ich ver- fehle. Sondern er tut alles, wenn ich alles tue. Jeder gute Gedanke wird von oben geschenkt, aber nur dem Arbeitenden und Suchenden. Jeden Sonntag eine Predigt zu halten, setzt viel Fleiß voraus. Und es ist besser, daß eine Predigt nach der Lampe riecht, als daß sie nach Faulheit stinkt. Ex tempore verständig reden kann nur, der regelmäßig fleißig arbeitet und im gegebenen Falle das gute Gewissen hat, daß er sich nicht hat vorbereiten können. Was sonst aus dem Ärmel geschüttelt wird, pflegt des Auflesens nicht wert zu sein. Ohne Treue in der Vorbereitung wird der begabteste junge Geistliche mit der Zeit zum Schwätzer, dem zuletzt ein paar Lieblingsgedanken übrig bleiben, die an die Bedürfnis- losigkeit des seligen Herrn Götz von Bredow erinnern.

Weiter aber müssen meine Predigten wirklich meine Arbeit sein. Es wird auf diesem Gebiete viel gegen das siebente und zugleich gegen das achte Gebot gesündigt. Dadurch macht man sich zum unselbständigen Stümper und flachen Banausen:

„Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen,

Wenn es nicht aus der Seele dringt

Und mit urkräftigem Behagen

Die Herzen aller Hörer zwingt.

Sitzt ihr nur immer, leimt zusammen,

Braut ein Ragout von andrer Schmaus

Und blast die kümmerlichen Flammen

Aus eurem .\schenhäufchen 'raus!"

682 Wilhelm Faber: Christlich-protestantische praktische Theologie.

In der Vorbereitung sollte man nur wissenschaftliche Kommentare benutzen, nie eine Predigt über denselben Text vorher lesen. Entweder: man findet gute Gedanken, die man selbst schon hatte; dann verlieren sie an unmittelbarer Frische; oder man findet solche, die man noch nicht hatte, dann hat man keine rechte Freudigkeit, sie vorzubringen. Kommt man aber einmal in die Lage, zu anderer Leute Gedankengängen greifen zu müssen, weil einem der liebe Gott nichts schenkt, so muß man ehrlich sagen, daß man sie w^o anders her hat. Damit ist nicht gemeint, daß wir uns nicht an Meistern bilden sollen. Aber wir dürfen sie nur so zitieren, wie man andere große Schriftsteller in Gebrauch nimmt.

Ferner sollen meine Predigten meiner Eigenart entsprechen. Das wSichbilden an hervorragenden Rednern hat seine Grenze an der eigenen Art und Gabe. Ich darf nicht kopieren. Sonst verfalle ich in klägliche Manier oder angelernte Routine oder spiele die lächerliche Rolle des Esels im Löwenfelle. Ein großer Kanzelredner macht nur dann Schule, wenn er seine Jünger gew^öhnt, ihr Lied zu singen, und nicht seins. Dem steht Oosterzees Warnung nicht entgegen, daß man sich nicht selbst predigen soll. Das ist gesagt gegen das unschöne Hervordrängen der eigenen Persönlichkeit, gegen das Geistreichseinwollen, gegen das Wichtig- tun mit seinem Wissen und seiner Redekunst, nimmer aber dagegen, daß wir die großen Taten Gottes in unserer Sprache reden. Das ist viel- mehr unser Recht und unsere Pflicht, die Gabe zu wecken und zu pflegen, die gerade in uns ist. Wir sind eben nicht bloß ein Organon, sondern auch ein lebendiger Organismus, der alles Empfangene nach seiner Art verarbeitet und darreicht. Gerade dies Persönliche ist es, das der Rede das Anziehende und oft selbst breiten Auseinandersetzungen ein freund- liches Licht gibt, gleichwie die Diamantstäubchen beim Schliff den breiten Glasscheiben. Es bleibt doch auch eine bemerkenswerte Er- fahrung, daß Redner von besonderer Originalität sich am längsten im Gedächtnisse des Volkes erhalten. Aber die Forderung der Originalität ist doch noch eine höhere. Die Schrift ist gottmenschlich; wer nur ihre göttliche oder nur ihre menschliche Natur betont, der kommt aus den Widersprüchen nicht heraus. Genau so ist es mit der Predigt. Ihr tiefstes Geheimnis und ihre siegende Kraft liegt darin, daß das Wort Gottes ver- mittelt wird durch eine menschliche Persönlichkeit, die es mit sich durch- drungen hat. Der Prediger erzählt mir nicht nur etwas über den Text, belehrt nicht nur über diese oder jene Wahrheit, sondern dies Wort redet als ein lebendiges aus ihm:

„Volk und Knecht und Übcrwinder, Sie gestehn zu jeder Zeit, Höchstes Glück der Erdenkinder Sei nur die Persönlichkeit'"

Dies Wort gilt im vollsten Sinne von Jesu selbst, dann aber von allen, in denen er Gestalt gewonnen hat, und endlich von dem, den Jesu Geist

I. Die Homiletik. ^83

in der X'erkündigung durchglüht, verklärt und begeistert. Dies Alier- persönlichste ist durch keine Gelehrsamkeit noch Redekunst, durch keine P'ülle der Gaben zu ersetzen. Es macht die Predigt zur Prophetin, es gibt ihr den Lebensgflanz, von dem 2. Kor. am dritten die Rede ist; es gibt die Kraft der Überzeugung;, nicht der Überredung; es macht die Predigt zum Zeugnis; es kann den Prediger so über sich selbst erheben, daß es ihm ist, als rede er mit Zungen.

Die Predigt soll drittens vmd letztens aktuell sein. D. h. sie soll Rücksicht nehmen auf die Bedürfnisse gerade der Gemeinde, der der Prediger dient. Auf ihre geistliche und geistige Höhenlage, auf ihre äußerlichen Umstände; auf die Vorzüge, die sich hier geltend machen, auf die Sünden, die hier im Schwange gehen. Auch bieten die lokal- geschichtlichen Ereignisse viel Anlaß zur Anknüpfung, und es kann nur aufs dringendste empfohlen werden, wo immer es angeht, Ortskirchen- geschichten anzulegen und sie zu pflegen. Nicht minder muß die Predigt auf die Zeitläufe Rücksicht nehmen. Namentlich was König- und Vater- land, Kaiser und Reich angeht, gehört in den Bereich der Predigt, wobei allerdings die Parole lauten muß: national aber nicht politisch! Vor allem jedoch hat die Predigt zu sprechen von dem, was die Kirche Christi be- wegt in Förderung oder Schädigung: die Gemeinde muß hören von den Fortschritten der Mission und den besonderen evangelischen Bestrebungen, wie von der Not mit ihren Verfolgern. Nicht ohne einen Schein des P^echts ist dem gegenüber gesagt worden, vielen frommen Kirchgängern sei das nicht erwünscht. Sie wollen wenigstens in der Kirche Ruhe haben vor allem modernen Wesen, und nur das alte Evangelium hören ohne jede Erinnerung an die Unruhen dieser Zeit. Gewiß, solch eine Friedensstunde ist wunderschön; aber könnte sie nicht zugleich eine Freudenstunde sein, wenn man sich in ihr überzeugt, wie dies alte Evan- gelium auch noch jetzt allen P^einden gewachsen ist? Denn das Reich der Finsternis entsendet doch immer neue, schwerere Versuchungen, und die alte Schlange wechselt ihre Haut. Neue Probleme kommen auf, und die herrlichen Bahnen der Wissenschaft machen neue Irrwege möglich. Beispielsweise drängt die Not der Zeit dazu, die Gemeinde zu warnen vor der Art, wie man heute anstatt der christlichen Ethik eine das Ge- wissen verhärtende Herrenmoral zur Geltung zu bringen sucht, oder wie man die Weltvergötterung der Antike zur Menschenvergötterung ge- wandelt hat, von der es dann nur wieder noch einen Schritt kostet zur Selbstvergötterung hin. Andererseits hat die Gemeinde ein Recht, sich mitzufreuen an der Tatsache, daß die Ergebnisse der gelehrten Forschung im Gegensatz gegen die Anmaßungen der Afterwissenschaft mit dem Geist der Schrift harmonieren.

Man kann diese Forderungen auch so ausdrücken: die Predigt muß volkstümlich sein; sie muß Raum haben für alles Große und Schöne,

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Wilhelm Fabkk; Lliriaüich-pruleslanlische praktische Theologie.

Formen der Predigt.

Sprache der Predigt.

wa.s das Volksleben bewegt, für alle edlen Regungen und Ahnungen der Volksseele. Es muß die Gemeinde den Eindruck gewinnen, daß der Prediger nicht bloß ein Kind Gottes, sondern auch der Sohn seines Volkes ist, nicht bloß ein Bürger der Ewigkeit, sondern auch ein Kenner seiner Zeit.

Haben wir so als wesentlichen Inhalt der Predigt die Schrift, die persönliche Erfahrung und die Forderungen der Gegenwart innerhalb der besonderen Gemeinde erkannt, so ist über die Form derselben folgendes zu sagen.

Ein für alle Zeiten erschöpfendes Teilungsprinzip kann es unmöglich geben. Die Predigt hat eine reiche Geschichte, die eine lebendige Ent- wicklung gezeitigt hat. Carpzow sen. zählt hundert verschiedene Arten auf. Daher wird eine jede Epoche in dieser Frage ihre eigenen Forde- rungen zu stellen haben, und eben darum ist das Suchen nach neuen Formen auch in unseren Tagen berechtigt.

Mir erscheinen zur Zeit drei Arten, den Text aufzufassen, rätlich, für die ich die Namen vorschlage: die peripherische, die zentrale und die konzentrische. Die erste, der analytischen Methode entsprechend, geht von den einzelnen Gedanken des Textes aus und führt zu einem Zentralgehalt; die zweite, der S3'nthetischen entsprechend, geht von einem Zentralgedanken ausstrahlend zur Peripherie; die dritte bildet mehrere Gedankenkreise, die voneinander sonst unabhängig sind, aber ein gemein- sames Zentrum haben und daher einem leitenden Grundgedanken nicht untergeordnet sind, sondern durch ihn verbunden werden. Der ersten Art entspricht e.s, wenn ich von den Personen der Trinität auf den Begriff derselben komme; der zweiten, wenn ich vom übergeordneten Begriffe der Trinität ausgehend, zu den Personen gelange; der dritten, wenn ich die Personen der Trinität unabhängig voneinander verkündige und sie etwa durch den Taufbefehl verbinde.

Die Sprache der Predigt sei wie ihr Inhalt volkstümlich, aber nicht populär. Denn das letztere ist das der aura popularis entsprechende, das heute modern, morgen modernd ist. Dabei können auch schlechte Instinkte mitspielen; und die populäre Redeweise ist in Gefahr, salopp und trivial zu werden und dem schlechten Witze zu verfallen. Die volks- tümliche Rede dagegen ist edel. Sie verbannt die fremdsprachlichen Ausdrücke, wo sie nicht aus einem ganz besonderen Grunde am Platze sind. Dagegen liebt sie die biblische Redeweise, freilich, ohne die Sprache Kanaans da zu gebrauchen, wo sie manieriert erscheint oder dem ge- meinen Manne unverständlich ist. Gern verwertet sie auch den geist- lichen Liederschatz des Volkes und wendet den herrlichen Bilderschmuck an, an dem unsere Sprache so reich ist.

Damit hängt zusammen, daß die Predigt einfach sein soll, ohne Künstelei, denn das Einfachste i.st immer das Kräftigste. Aber sie soll nicht ohne Kunst sein! Gerade die Predigt durch alle Gedanken-

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Schwierigkeiten in eine so einfache Darstellung" zu retten, daß man die aufgewandte Arbeit nicht mehr merkt, ist die feinste homiletische Kunst. Darum hat man auch gesagt, die Predigt sei die beste, die man am leichtesten memorieren kimne. Und das Einfachste ist auch das Schönste, Auch Redeschmuck darf man anwenden warum sollte die Oratorik fehlen, da alle Künste ihr Bestes zum Gotteshause bringen , aber sie darf nur als freundliche Arabeske auftreten, nie sich als etwas Selbstän- diges hervordrängen, nie auf Haschen nach Effekt hindeuten oder gar auf persönliche Eitelkeit des Redners, Die religiöse Rede muß in keuscher Schönheit gebaut sein wie die Tempel der Antike. Ihre Wirkung darf nur erzielt werden durch Tiefe, Kraft und Klarheit der Gedanken. Alles, was mit den Haaren herbeigezogen scheint, verletzt das Empfinden.

Darum muß sie auch in würdiger Weise gehalten werden ohne Nachlässigkeit, aber auch ohne falsches Pathos. Mancher bewegt sich so salopp auf der Kanzel, daß man ihm, an i. Kor. 14, 40 erinnernd, sagen möchte, die Majestät Gottes erfordere in etwas die Hoftracht. Der Humor ist darum nicht von der Kanzel ausgeschlossen, der Witz durchaus. Man braucht auch vor starken Ausdrücken und neuen Wort- prägungen nicht zurückzuscheuen, aber wohl vor allem, was reinen Ge- mütern wehe tut. Das Nackte ist möglich, aber nicht das Unbekleidete. Prüderie verletzt oft mehr als ein derbes Wort. Es hört sich gut an, wenn jemand auf der Kanzel so natürlich spricht wie immer, und nicht auf einmal sich mit ganz andern Lauten und Redeweisen ziert; aber es ist doch auch nicht angemessen, so zu sprechen, wie in einer gemütlichen Unterhaltung. Wo es die Sache mit sich bringt, kommt das edle Pathos ganz von selber. Aber das hohle Pathos, in dem sich Faulheit und x-Vrro- ganz zu begegnen, Flachheit und Verlegenheit zu umarmen pflegen, ist wie die gleißende vSchale der vSodomsäpfel, die alsbald zerstieben, und ärgert Geist und Nerven. Darum Gedanken, nicht Phrasen! Haltung, nicht Pose! Es ist etwas Schlimmes um den gesalbten Kanzeljargon, und der hatte recht, den ich neulich sagen hörte, es sei uns nicht anbefohlen, mit Salbung, sondern mit Salz zu reden, und dem Propheten seien die Lippen nicht mit Öl gesalbt, sondern mit einer feurigen Kohle gereinigt.

Ein unschönes Widerspiel der rechten Würde ist auch die eilige Hast, mit der ein Prediger seine Predigt hersagt, anstatt sie zu reprodu- zieren, nicht selten den Eindruck hervorrufend, als könne er das Ende des Gottesdienstes nicht erwarten. Aber ebenso unwürdig wirkt die behäbige Breitspurigkeit, die den Gedanken möglichst lang zieht, sich in unnötigen Wiederholungen ergeht, und immer wieder ansetzt, wenn man endlich den Schluß erwartet hat. Die Predigt muß in unserer viel beschäftigten Zeit in der Regel kurz und knapp sein, namentlich aber in der Einleitung und im Schluß. In bezug auf erstere hat einmal Kögel gesagt, es sei besser, mit der Tür ins Haus zu fallen, als auf dem Vorflur sich zu erkälten, Auch ist es gar nicht nötig, daß in jeder Predigt alle Redeteile vortreten

586 Wilhelm Faber: Christlich-protestantische praktische Theologie.

seien, die ihr nach großen Mustern gebühren; wenn sie nur einen klaren Gedankenfortschritt hat, und man am Schlüsse weiß, was der Redner wollte. Es schadet auch gar nichts, wenn die Predigt einseitig ist und zu einem gewissen Widerspruche reizt. Sie soll eben dem Zuhörer etwas zutrauen und ihm die Freude gönnen, das, was in ihm gewirkt hat, weiter zu spinnen und gedankenvoll zu ergänzen:

„Getretener Quark Wird breit, nicht stark, Schlägst du ihn aber mit Gewalt In feste Form, er nimmt Gestalt."

Endlich wünsche ich die Predigt gehalten in demütigem Ernst und in frohem Siegesmute. Der Mann auf der Kanzel muß wissen, daß er ein armer Sünder und Diener am Wort ist. Er muß sich seine Predigt vorher selber gehalten haben. Und er muß zu seiner Gemeinde, wo es sich um Sünden handelt, mit „wir" und nicht mit „ihr" reden; muß auch wissen, daß er einmal mit verantwortlich ist für die Seelen, die er mit dem Worte .speist. Daher soll es ihn mit heiligen Schauern durch- beben, daß er keine Falschmünzerei treibe mit dem Golde der Offen- barung, die Sünde strafe mit rücksichtslosem Ernste und dem Sünder zu- .spreche mit linder Verkündigung der großen Barmherzigkeit. Er soll predigen, „wie ein Sterbender zu Sterbenden".

Diesem demutsvollen Ernste geselle sich aber der frohe Siegesmut, der da redet wie ein Lebender zu Lebenden, der es als Ehre ansieht, um Christi willen zu leiden, der für sein Bekenntnis seine ganze Persönlich- keit einsetzt und dem Zuhörer, auch wo dieser ihm sachlich durchaus widersprechen müßte, die Achtung abnötigt, die jeder treue und charakter- volle Zeuge verdient, der es Luther nachtun kann: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!" Während keine noch so glänzende Rhetorik den Widerwillen zu lindern vermag, den uns das feige Schwanken einflößt: „Hier krieche ich, ich kann immer anders."

In Summa, man soll merken, daß der Prediger ohne Menschenfurcht und Menschengefälligkeit alles, was er hat, vor dem Kreuze niederlegt um Jesu und der Gemeinde willen, und es soll Fenelons Wort gelten: „II faut que le fait de monter en chaire semble etre pour un predicateur un acte tout simple, une suite naturelle ä vos fonctions de tous les jours; il faut en un mot que l'on vous y retrouve tel qu'ailleurs: grandi, mais non c hange."

II. Die Katechetik. Die Katechetik ist die Lehre von der Be- lehrung und Erziehung der unmündigen Gemeindcglieder. In der Schrift (Luk. I, 4. Act. 18, 25. 21, 21, 24. Rom. 2, 18. i. Kor. 14, ig. Gal. 6, 6) bedeutet das dem Worte Katechetik zugrunde liegende Zeitwort im all- gemeinen: „einem brüderlich nicht Gleichstehenden etwas mitteilen", „ihn

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II. Die KatccluliU.

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belehren". Für den Geistlichen kommt als solche Belehrung- im be- sonderen hauptsächlich der K-onfirmandenunterriclit in Betracht.

Da erhebt sich nun als erste die schwerwieg^ende Frage: Ist es richtig, Ric Konfir- das jetzt übliche Konfirmationsalter von 14 Jahren bestehen zu lassen oder den Termin erheblich zu verschieben? Die vielen trostlosen Er- fahrungen, die man namentlich in der Großstadt mit den Neukonfirmierten, oft schon am Tage der Einsegnung macht; die Befürchtung, daß die Kinder bleibenden Schaden an ihrer Seele leiden, wenn sie ein Be- kenntnis und Gelübde ohne innere Zustimmung abgelegt und damit die heilige Handlung zu einer leeren Zeremonie, sich selbst zu Heuchlern geschändet haben, insbesondere noch die .Scheu, unwürdigen Abendmahls- genuß herbeizuführen: dies alles belastet das Gewissen vieler ernsten Männer, so daß sie ein späteres Konfirmationsalter, oder doch wenigstens eine längere Pause zwischen Einsegnung und Abendmahl fordern, die dann freilich mit einer besonderen Vorbereitung ausgefüllt werden muß. Nach meinem Dafürhalten kann die Konfirmation obligatorisch nicht in ein späteres Alter verlegt werden, einmal, weil sich eine Volkssitte schwer verändern läßt; dann aber, weil es aus bürgerlichen Gründen unmöglich ist. Ebenso würde es nicht angehen, einen bestimmten späteren Termin zu normieren, da die erforderliche Reife individuell verschieden ist. Ja, es kann sehr wohl geschehen, daß man jene Reife in früheren Jahren gehabt und in späteren verloren hat. Auch die vielfach geforderte Trennung der Einsegnung vom Abendmahl durch einen längeren Zwischen- raum, die zunächst etwas Bestechendes hat, muß, wenn man näher hin- sieht, auf Bedenken stoßen. Das erheblichste darunter ist für mich das, daß Konfirmierte, die durchaus reif zum Sakramente sind und sein von Herzen begehren, dieses Genusses ohne Grund auf längere Zeit verlustig gehen, und das andere, daß die Kindertaufe und damit die Grundlage der Volkskirche in Gefahr gerät. Eine Bürgschaft für nur würdigen Abend- mahlsgenuß und wahrhaftige Gelübde wird aber auch bei einer zweiten Vorbereitung (Kompetentenunterricht) nicht erreicht, die überhaupt aus bürgerlichen Gründen schwer zu ermöglichen sein wird.

Jedenfalls müssen wir bis dahin sorgen, daß wir die Konfirmierten Die Konfir- mierten, möglichst lange ni unserer Hand behalten und zwar ist das nur mög- lich durch die obligatorisch einzuführende kirchliche Unterredung- und durch Pflege von Jugendvereinen , und wir müssen ferner darauf sehen, daß wir die Kinder vor der Konfirmation beizeiten in die Hand be- kommen. Das geschieht durch Verbindung mit dem Hause und mit der Schule, sowie durch Sonntagsschulen und Kindergottesdienste. Wenn das Haus überall seine Schuldigkeit täte, so wäre das Problem überhaupt so ^\xt wie gelöst. Denn in den Jahren, wo es die Kinder allein hat, in denen die „Seele so eindrucksfähig ist wie weicher Ton, auf dem man die Füßchen eines vSchmetterlings erkennen kann", fällt meist die Ent- scheidung fürs Leben. Dann wollen wir auch nicht vergessen, daß die

688 AVli.HKi.Nr Fakf.r: Christlich-protestantische praktische Theologie.

Konfirmanden vorher bereits acht Jahre lang Religionsunterricht in der Schule genossen haben und viele ihn noch jahrelang nach der Konfir- mation weiter genießen, und ich wüßte nicht, warum der religiös -sittliche Einfluß eines gläubigen, sittlichen Lehrers geringer anzuschlagen wäre als der eines Pfarrers? Möchten wir nur alles tun, um unser Feld in Segen zu bestellen und das Konfirmandenjahr für die Kinder zu einem Zeitraum zu gestalten, dessen Früchte bis in die Ewigkeit reichen! Der Katechet. Dazu gehört ein Katechet mit pädagogischer Vorbildung, der

nicht bloß seines Stoffes vollkommen mächtig ist, sondern ihn auch an den Mann zu bringen weiß. Ein Lehrer mit dem Spruchbuche in der Hand ist ein kümmerlicher Anblick, und ein Lehrer, der an dem Stoffe umherstümpert, anstatt ihn zu entwickeln, zu gliedern und zusammenzu- fassen, wird bald vor einem schlafenden Coetus stehen. Nicht minder muß er zu erziehen verstehen und den vSchülern die Empfindung geben, daß er sich selbst in steter Selbstzucht hält. Er muß Ehrfurcht vor seinem Stoffe und vor der Kindesseele haben. Er muß seinen Beruf und seine Schüler lieb haben. Er muß mit innerster gläubiger Hingabe im Be- kenntnisse seiner Kirche stehen.

Die Kinder, deren Gemüt auf den Glauben an ihren Lehrer angelegt ist, verlangen eine geschlossene Persönlichkeit und sind, wenn ihnen eine solche entgegentritt, mit einem Winke in Disziplin zu halten und zu den Tugenden des Gehorsams, der Wahrhaftigkeit und der geg'enseitigen Zu- vorkommenheit leicht zu erziehen. Andernfalls können sie zu einer un- glaublichen Ungezogenheit ausarten und alle fromme vScheu mit Füßen treten. In der ersten Unterrichtsstunde entscheidet es sich, wer Herr in der Klasse ist, Lehrer oder Schüler. Bei Knaben ist es vielleicht noch leichter als bei Mädchen. Bei erstem pflegt es zu genügen, wenn der Lehrer tüchtig, gerecht und konsequent ist, bei letzteren kommt es noch gar sehr auf die Gesamthaltung an.

Aber die geschlossene Persönlichkeit allein tut es nicht. Die kann an sich ebenso großes Unheil anrichten wie Segen stiften; es muß auch eine geheiligte Persönlichkeit sein, von der „persönlichsten Persön- lichkeit" verklärt. Dann nur kann sie wieder Persönlichkeiten bilden, die „den Angel- und Drehpunkt ihres Lebens, zumal aber eines verantwortungsvollen und arbeitsreichen Lebens einzig und allein in der Stellung zu ihrem Herrn und Heiland haben". (Worte Kaiser Wilhelms IL an seine Söhne.) Ein solcher Pädagoge ver- fügt dann auch von selbst über die hohe Kunst des Tndividualisierens. Er weiß, daß jede Kindesseele ein Edelstein ist, aber daß auch jeder anders geschliffen werden muß. Er gewinnt das Auge für das Gute, das iiuch in einem vernachlässigten Gemüte verborgen liegt, und ruht nicht, bis es das zurückhaltende Arge überwunden hat. Er weiß auch den Mangel an Fortschritten in sich selber zu suchen, ''""""toff"'*"" ^V«'^'^ f^P" Unterrichtsstoff anlangt, so ist es mir als ein Grundfehler

ir. Die Katechetik.

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entgegengetreten, daß niiin vielfach dem Unterricht keinen Katechismus zugrunde legt. Es geht geradezu wie eine Epidemie durch die Zeit, ihn zu verdrängen zugunsten der biblischen Geschichte. Die letztere hat ihren unendlich hohen Wert auch im Konfirmandenunterricht, aber den Katechismus ersetzen kann sie nicht. Denn in ihm ist das zusammen- gefaßt, was der Christenmensch wissen muß, wenn er ein Mensch Gottes werden will, zu allem guten Werk geschickt. Der Katechismus ist noch heute die Laienbibel. Er zwingt auch den Lehrer, in richtigem Fort- schreiten bei der Stange zu bleiben und nicht nach allen möglichen und unmöglichen Dingen abzubiegen, die den Unterricht angeblich interessant machen sollen, in Wahrheit meistens aber die Zeit totschlagen.

Ein zweiter Grundfehler ist der, sich keinen Lehrgang auszuarbeiten, sondern, womöglich unvorbereitet, darauflos zu unterrichten, ohne Plan, ohne Verbindung des Alten mit dem Neuen, ohne vorher bedachte Ver- webung der verschiedenen religiösen Disziplinen. Diesem Unfug ist die Resultatlosigkeit manches Unterrichts zu verdanken. Neuerdings ist es ja behördlicherseits angeordnet, solch einen Lehrplan auszuarbeiten, was freilich nicht leicht ist. Wer es noch nicht kann, den will ich auf eine vorzügliche Arbeit von H. Malo verweisen, der meines Wissens zuerst einen derartigen Plan veröffentlicht hat; es ist ihm auch eine treffliche Übersicht über die Verwendung des Kirchenliedes und der biblischen Ge- schichte beigefügt.

Weiterhin wird versäumt, die fünf Hauptstücke unter einen überge- ordneten Gesichtspunkt zu stellen, wozu sich z. B. der des Reiches Gottes als höchst geeignet darbietet. Ohne einen solchen bekommen die Kate- chismusstücke den Schein des willkürlich und verbindungslos Zusammen- gestellten und verlieren an Kraft und Eindringlichkeit.

Auch das ist nicht richtiq-, daß der Konfirmandenunterricht wieder mit den zehn Geboten begonnen wird, die doch in der Schule mit besonderer, sich immer steigernder Ausführlichkeit besprochen worden sind. Abgesehen davon, daß das vierte und fünfte Hauptstück im Schulunterricht zurück- gestellt werden, sollte man aus den so naheliegenden sachlichen Gründen mit diesen beginnen und auch schließen, und zwischendurch die drei andern, das erste bis dritte Hauptstück besprechen. Es ist wohl selbst- verständlich, daß in der ersten Stunde von der Konfirmation die Rede sein muß, woran sich naturgemäß die Lehre von der Taufe schließt, nach- dem noch vorher von der Quelle unserer Heilserkenntnis ausführlich gehandelt worden ist. Die Hauptsache ist bei letzterer die Behandlung der göttlichen und der menschlichen Natur der vSchrift; durch die Betonung der letzteren büßt sie nicht an Autorität ein, sondern gewinnt, weil die scheinbaren Widersprüche sich erklären.

Der Konfirmandenunterricht muß auch eine Stoffverkürzung und eine Stofferweiterung gegenüber der Schule mit sich bringen. Das in der vSchule Behandelte ist nur in Verjüngung zu wiederholen: dagegen ist auf

Die Kultur der Gegenwart. I. 4. 44

5qo Wilhelm Faber: Christlich-protestantische praktische Theologe.

gToße kirchliche und sittUche Gesichtspunkte hinzuweisen. Des Raumes wegen beschränke ich mich auf einige Beispiele zum ersten Hauptstück. Zum I. Gebot ist heranzuziehen: die Vergötterung des Übermenschen, die ethische Kultur, der Neobuddhismus, die äußere Mission; zum 2.: Okkultismus, Spiritismus, Scientismus; zum 3.: die Sonntagsfrage, die Schönheit der Gottesdienste, Verständnis der Liturgie, Kirchenlied, etwas von der kirchlichen Kunst; zum 4.: Autorität und Pietät, das König- tum von Gottes Gnaden; zum 5: die Innere Mission; zum 6. ist statt des verwerflichen Eingehens auf allerhand Sünden und Schanden zu sprechen von der Herrlichkeit und gottgewollten Heiligkeit unseres Leibes, von körperlicher Gymnastik, peinlicher Sauberkeit, früh Aufstehen; von edlen Beschäftigungen und der Vorsicht in der Lektüre; vom Glück des Hauses; im 7. von der Unverletzlichkeit des geistigen Eigentums, Streber- tum, Anarchismus, Ehre und Segen der Arbeit; im 8.: von wahrer und falscher Ehre, geselliger Lüge, Bekenntnismut; im g. und 10. von Zu- friedenheit und dem wahren Glück; vom Mammonismus.

Vielfach ist mir im Konfirmationsunterricht aufgefallen, daß man die Kinder zwar über das Beten unterrichtet, sie aber nicht beten läßt. Ja, dies wird von einigen Pädagogen geradezu untersagt. Das kommt mir so vor, als ob man sie über die Schrift belehrte, ohne sie die Schrift lesen zu lassen. Nun kann ich das Bedenken, das diesem Verfahren zugrunde liegt, wohl verstehen. Man meint, das Gebet dürfe nicht zu einer bloßen Übung, zu einem Scheingebet erniedrigt werden. Im Prinzip vollkommen richtig! Das darf noch nicht einmal mit der Arbeit geschehen; man soll z. B. den Zwangsbeschäftigten niemals wert- und zwecklose Arbeit geben, nur um sie zu beschäftigen. Muß man dann aber nicht erst recht zweck- lose Gebete vermeiden? Gewiß, indes gibt es denn nicht Anlässe genug für das Gebet im Konfirmandenzimmer? Anfang und Schluß des Unter- richts, bevorstehende kirchliche und patriotische Feste, besondere Ereig- nisse im Königshause, im Vaterlande, in der Gemeinde, im Kreise der Kinder? Drohende Gefahren, abgewendetes Unheil, kurzum alles, worum man auch in der großen Gemeinde bittet und dankt?

Was den Abendmahlsgenuß anlangt, so macht man in der Seelsorge die Erfahrung, daß etliche unter den Erwachsenen ihn sehr leicht nehmen, weil sie ein geringes Sündenbewußtsein haben. Andere wieder nehmen ihn sehr schwer, ja sie halten sich dem Abendmahl ganz fern, weil sie sich als unwürdige Sünder fühlen. Noch andere endlich bleiben zurück, weil sie nicht verstehen, wie Brot und Wein sich mit Leib und Blut ver- binden können, wobei ich oft die Bedenken mit dem Gleichnis zerstreut habe: Wie ein Papierschein das Geld, darauf er lautet, wert ist, weil König und Staat dafür bürgen, so gilt Brot und Wein Leib und Blut, weil Jesus und sein Reich dahinter stehen.

Vor derartigen Zweifeln und Anfechtungen nun muß man die Konfir- manden schützen, auch ihnen sagen, daß nicht die Erkenntnis den Segen

II. Die Katechelik.

6g I

des Genusses vermittelt, sondern allein das Heilsvertrauen, Wo dies noch nicht vorhanden ist, soll man immer wieder raten, sowohl der Konfir- mation als der Abendmahlsfeier fern zu bleiben, ebenso wie man andrer- seits mit der zunehmenden Vertrautheit zwischen dem Lehrer und seinen Schülern immer inniger und dringlicher die Herzen für den Herrn auf- schließen soll.

Aber nicht durch gewaltsames Drängen auf Bekehrung, durch über- triebene pessimistische Schilderungen des Weltverderbens und durch über- spannte asketische Anforderungen in bezug auf harmlose Freuden. Die so gewonnenen Ergebnisse sind gewöhnlich von kurzer Dauer. Und dann tritt leicht die schlimme Reaktion ein, daß nun das ganze Christentum über Bord geworfen wird.

Auch nicht durch zu reichliches erbauliches Zureden. Das macht nur müde. Freilich, wo es die Gelegenheit gibt, wo es namentlich aus dem behandelten Stoffe als dessen Blüte von selbst hervorwächst, da kann es von mächtiger Wirkung sein. Die Freude am Gegenstande zu erwecken, ist die Kunst des Lehrers. Das kann geschehen, indem der Stoff das Erkenntnisvermögen von selbst reizt, sich in ihn zu versenken, oder indem er das Gemüt in seinen Tiefen beglückend erfaßt, oder endlich, indem er den Willen zur Begeisterung entflammt. Es entspricht das dem docere, delectare und movere der Predigt. Und auch wie dort soll stets der ganze Mensch etwas davon haben. Bei der Jugend ist aber namentlich zuerst der Sinn auf das Erkennen gerichtet. Es ist oft erstaunlich, mit welchem Eifer sie auf die Suche geht und mit welchem Triumphe sie findet. Denn die heuristische, den Schüler zum Selbstfinden nötigende Methode verdient unbedingt den Vorzug bei geistig angeregten Kindern; doch entscheidet auch hier der Stoff, ob sie oder die entgegengesetzte analytische Methode anzuwenden ist, die den Erkenntnisprozeß vom Lehrer entwickeln läßt.

Ungemein wird die Freude am Stoff erhöht durch die sinnige Ver- bindung von Katechismus, Spruch, Lied und biblischer Geschichte, und durch die Anschaulichkeit des Unterrichts, Und das nicht nur durch die selbstverständliche äußere, die durch Landkarten, Bilder und derartiges dargeboten wird, sondern auch durch die innere, die lebensvoll und plastisch darstellt, einen Stoff durch den anderen klar und interessant macht und die Gebilde der Natur und Kunst nicht verschmäht, sie zu Hebeln und Trägern biblischer Gedanken zu machen. Wenn ich z. B. die Kinder die Ähnlichkeit finden lasse, welche die acht Seligpreisungen in ihrer Reihenfolge mit der Kiefer, der Trauerweide, der Linde, der Erle, der Buche, der Birke, der Tanne und der Eiche haben, so erreiche ich ein Doppeltes: einmal wird der Bibeltext anschaulicher, und sodann ruft ihnen der Anblick eines jener Bäume immer wieder die betreffende Selig- preisung wach. Und lasse ich sie finden, wie die acht Seligpreisungen dem achtfachen Wehe (Matth. 2^) in ihrer Reihenfolge genau entsprechen, so gewinnen beide außerordentlich an Leben,

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5q2 Wilhelm Faber: Christlich-protestantische praktische Theologie.

Die Unterrichts- Die Frcude der Schüler wird ferner erhöht durch die Form des

art.

Unterrichts. Die rein akroamatische, die den Schüler nur zuhören läßt, ist zu verwerfen als leicht ermüdend; die erotematische, die fragweise Form soll vorherrschen. Selbstverständlich muß der »Schüler dazu bereits einen Schatz gewonnen haben, aus dem er etwas hervorholen kann. Den hat er aber schon von der Schule her und vermehrt ihn ja in jeder Lektion. Voraussetzen muß man dabei ferner noch, daß der Lehrer fragen und daß er schweigen kann; daß er deutlich, bestimmt und an- gemessen fragen kann; daß er mit der Begriffsfrage und mit der Urteils- frage umgehen kann; eine Voraussetzung, die leider nicht immer zutrifft und dann Haltlosigkeit, Verwirrtheit, Ergebnislosigkeit im Gefolge hat und nicht selten das Gelächter des Coetus provoziert.

Der Lehrer muß aber auch schweig"en können. Man kann mit der Zeit die Kinder daran gewöhnen, sich über den Stoff nach gründlicher Durchnahme auszusprechen in längeren Zusammenhängen. Da macht sich dann w^ohl die Unart breit, daß der Lehrer das Kind fortwährend mit Zwischenfragen unterbricht, seine Gedankengänge stört und es um die Freude seiner selbständigen Darstellung bringt.

Noch weiter wird die Freude erhöht, wetui der Lehrer umgekehrt auch einmal die Kinder fragen läßt und selbst antwortet. Man erreicht das sehr leicht, indem man ein Schriftstück zu Hause durchlesen läßt und in der nächsten Stunde den Kindern sagt: „Fragt nach allem, was euch dunkel ist, hernach werde ich fragen; und ich hoffe dann, auf nichts Un- verstandenes mehr zu stoßen." Dieser Methode könnte man mit dem Ein- wand begegnen: Wenn nun aber eine Frage an den Lehrer gestellt wird, die er im Aug-enblick nicht beantworten kann, gibt das nicht eine böse Verlegenheit? Ich finde, ganz und gar nicht. Entweder man weist sie als nicht hergehörig zurück, oder man bekeimt, daß man sie nicht beant- worten kann. Solche Ehrlichkeit macht gerade einen großen sittlichen Eindruck auf die Kinder.

Eine Erhöhung der Freude liegt auch in der Übung des ingeniösen und des judiziösen Gedächtnisses. Um für ersteres nur ein Beispiel zu geben: die Gemeinden der paulinischen Briefe von Galater bis Thessa- lonicher nach der Reihenfolge der Vokale a, e, i, o, die sich dann in Thessalonich zusammenfinden. Ein meisterhaftes Buch für das judiziöse Gedächtnis ist für die Hand des Katecheten: „Aus der Urkunde der Offen- barung"" von G. Voigt.

Die Anregung kann weiter auch erhöht werden durch den gemein- samen Unterricht der beiden Gcv'^chlechter, der auch von sittlichem Werte namentlich für die Knciben ist. Er setzt jedoch kleinere Coeten voraus und vor allem einen Katecheten, der in dem Saale der erste und letzte ist und seine Kinder \-ollkommen in der Hand hat.

Überhaupt, der wichtigste Faktor bleibt die Persönlichkeit des Lehrers, der seinen Coetus xon höchstens 50 Schükn-n überselien und jedem sein

II. Die Katcchctik.

6n,3

Teil Speise zukommen lassen kann, der ernst und milde keine harten Strafen kennt, weil absichtliche Vergehungen nicht vorkommen, und der, was er noch braucht zur richtigen Beurteilung seiner Schüler, sich von den Eltern sagen läßt, denen er wiederum seinen Rat zur rechten Behandlung ihrer Kinder zukommen läßt. Ebenso muß er mit der Schule in Verbindung bleiben. Er muß genau wissen, was dort durchgenommen ist und wäh- rend des Konfirmandenunterrichts durchgenommen wird: auf jenes muß er Rücksicht nehmen und dieses muß er in seinem Unterrichte mit bewältigen. Denn ich halte es nicht für gut, wenn ein Konfirmand zu gleicher Zeit Religionsunterricht in der Schule hat. Es kommt leicht eine Zwiespältigkeit in sein geistliches Leben, die von schlimmsten Eolgen sein kann. Es ist zwar für die Schule schwer, zwei Jahre lang denn diese Frist ist, wo irgend möglich, zu fordern oder beizubehalten auf diese Disziplin zu verzichten; denn der Lehrer sind doch wohl noch nicht viel, die ihrerseits diese Krone des Unterrichts hergeben möchten; aber sie wird mit Rücksicht auf die einheitliche religiös-sittliche Durchbildung des Schülers dies Opfer bringen müssen.

Nun hängt eine der größten Schwierigkeiten unseres Unterrichts da- mit zusammen, daß die Kinder aus ganz verschiedenen Gesellschaftsklassen und in größeren Städten aus ganz verschiedenen Schulen kommen. Ich halte es nicht für wünschenswert, daß die Coeten nach dem Range der Schulen geschieden werden, sondern bin aus sozialen Gründen durchaus dafür, daß Gymnasiasten und Realschüler mit den Gemeindeschülern zu- sammen unterrichtet werden. Die Vornehmen haben mit den Geringen heute nur noch die Kirche gemeinsam. Darum sollte man dies Band nicht auch noch lockern lassen. Der geschickte Katechet weiß auch sehr wohl das beiden Gemeinsame herauszufinden und das Besondere auch dem andern Teile zugute kommen zu lassen. Viel schwieriger sind die Diffe- renzen innerhalb der einzelnen Schulen selbst. Der Regel nach liegt in den höheren Schulen die Konfirmandenzeit von Tertia bis Untersekunda, in den Bürgerschulen in den ersten beiden Klassen. Diese Stufe müßte regelmäßig erst erreicht sein, ehe man ein Kind zum Konfirmandenunter- richt zuläßt. Kann es diese nicht erreichen, so dürfte es so schwach be- gabt sein, daß es an dem Hauptcoetus nicht mit Erfolg teilnehmen kann, sondern allein vorzubereiten ist oder in größeren Städten in einem aus mehreren Gemeinden, vielleicht einer ganzen Ephorie zusammen kommen- den Sondercoetus für Schwachbegabte, der allerdings viel Weisheit und Geduld erfordert, und zu dessen Leitung ein erfahrener Pädagoge unter den in Frage stehenden Geistlichen auszuwählen wäre.

Sodann ist Wert darauf zu legen, daß der Konfirmandenunterricht nicht in der Schule erteilt werde, sondern entweder in der Kirche (Sakristei) oder in einem am besten in der Pfarre befindlichen eigenen Saale, dessen Ausschmückung etwas Feierliches hat, möglichst auch mit einem Harmonium ausgestattet ist. Die Kinder müssen den Eindruck ge-

5q4 Wilhelm Faber: Christlich-protestantische praktische Theologie.

winnen, daß es sich um etwas Besonderes, für ihr Leben Entscheidendes handelt.

Dies Gefühl wird erhöht durch die Teilnahme der Gemeinde. Sehr zu empfehlen ist, wenn der Unterricht durch einen Sonntagsgottesdienst eingeleitet wird, zu dem die Kinder, wenn es angeht, von der Schule aus 171 corpore hinziehen, während sie nach Abschluß des Unterrichts zur Konfirmationsfeier von der Pfarre aus den Zug nehmen.

Der Konfirmation selbst hat die Prüfung voranzugehen. Ich schließe mich in dieser Frage den Aufstellungen Malos durchaus an, daß die Prüfung, wie sie jetzt gehandhabt zu werden pflegt, unzulänglich ist und durch eine Reihe von Prüfungen er schlägt sechs vor zwischen Weihnachten und Ostern ersetzt werden müsse. Dem von ihm mit Recht geltend gemachten doppelten Gesichtspunkte, daß die Gemeinde sich über- zeugt, wie weit die jungen Christen gefördert sind und ob sie die nötige (relative) Reife haben, und andrerseits, daß der Gemeinde selbst wieder einmal ein Spiegelbild vorgehalten wird, wieviel und was man alles von den Erwachsenen in christlicher Erkenntnis zu erwarten habe, kann man in der Tat wohl nur auf solche oder ähnliche Weise gerecht werden. Ich folge ihm auch darin, daß man dazu die Hauptgottesdienste (wenigstens auf dem Lande) nehmen könnte, weil eine Abwechselung mit der Predigt sehr anregend zu wirken pflegt. Die Städte verfügen ja über Abend- gottesdienste, die sie für diesen Zweck verwenden könnten. Freilich in Großstädten scheint mir die Maßregel überhaupt undurchführbar. Über die genügende Reife am Ende der Prüfungen ein Votum des Gemeindekirchen- rates herbeizuführen, halte ich für bedenklich; ebenso aber auch den Eltern die Teilnahme am Unterricht freizustellen.

In den letzten Unterrichtsstunden ist die Beichte durchzunehmen. Da ist mir nun ein Ahnliches wesentlich wie bei der Lehre vom Gebet. Man soll nicht nur von der Beichte lehren, sondern mit den Kindern Beichte halten. Die allgemeine Beichte in der Kirche ist gänzlich ungenügend. Sie ist es überhaupt; für den ersten Abendmahlsgenuß aber erst recht. Die Kinder müssen in der letzten Woche Gelegenheit finden, sich ihrem Beichtiger gegenüber auszusprechen, und der Beichtiger muß, falls das Kind kein Bedürfnis dazu fühlen sollte, seinerseits auf das aufmerksam machen, was dem Kinde gefahrvoll oder segensvoll werden kann. Selbst- verständlich wird dieser Privatbeichte nicht genügt, wenn ein auswendig gelerntes Beichtformular aufgesagt wird. Hierzu sind besondere Sprech- stunden anzusetzen. Daß diese Besprechungen in der keuschesten und zartesten Art vor sich gehen müssen, ist selbstverständlich. Ihr Erfolg ist um so größer, je inniger sich das väterlich-seelsorgerische Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler während des Katechumenats gestaltet hatte, und je mehr der erstere erzieherisch einzuwirken verstand.

Und nun, wo man ein schönes, hohes Ziel erreicht zu haben glaubt, tritt zutage, daß maji noch das Schwerste zu tun hat, nämlich den Kon-

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III. Die Poimenik.

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firmierten weiter durch die i»efährlich.sten Lebensjahre mit dem Segen und Schutze der kirchlichen Gnade und Wahrheit zu geleiten. Unzählig sind die Teufelskapellen, die sich vom Austritt aus der Einsegnungskirche auftun. Schon am selben Nachmittage pflegen sie zum Eintritt zu laden, und es ist zum Erbarmen, was ein Abend für Verwüstungen unter der jungen Saat anrichten kann. Es genügt nicht, daß der Geistliche abscheu- liche Sitten verbietet, wie die, daß die gesamte Schar am Nachmittage von einem Hause zum andern zieht, um sich mit allerlei Getränken be- wirten zu lassen, oder sich ganz ohne Aufsicht im Walde umherzutreiben und am Abend im „Kruge" zum Tanze zusammenzufinden: er muß sie selber zu fröhlichem Verein um sich sammeln und dafür sorgen, daß sie den Abend zu Hause verleben. Sind aber verwaiste Kinder dabei, so sollte er sie in sein Haus nehmen.

Das Wichtigste aber ist, daß alle Konfirmierten bei der Kirche er- halten werden, daß man die nach auswärts gehenden dem betreffenden Geistlichen überweist, die zuziehenden sich überweisen läßt und alle in der Gemeinde aufhältlichen zu Jünglings- und Jungfrauenvereinen wie zu kirchlichen Besprechungen sammelt. Bei diesen ist jedes Examinieren, das peinlich werden könnte, zu vermeiden und das Interesse an dem früher Besprochenen neu zu beleben. Bei den von außen Zugekommenen knüpft sich leicht an ihren Einsegnungsspruch an oder an den Namen ihrer Kirche. (Beiläufig: Der Konfirmationsschein sollte das Bild der betreffen- den Kirche tragen! Das bringt Heimatsluft mit.) Der Stoff dieser Be- sprechungen darf aber nicht ein mechanisches Wiederholen der früheren Pensen sein, sondern eine Behandlung des Bekannten unter neuen Ge- sichtspunkten, eine Erweiterung durch solche vSchriftgedanken, die über das Ziel des Katechumenats hinausgehen, und eine Anwendung auf die neuen Lebensverhältnisse, in denen die Konfirmierten zurzeit sich befinden. Dazu gehört ein persönliches Nachgehen, das die ganze Treue des Seel- sorgers erfordert.

in. Die Poimenik. Die Poimenik ist die Lehre von der speziellen ""^ Wesen. Seelsorge. Welche Aufgaben hat diese spezielle Seelsorge? Claus Harms teilt die Gesamttätigkeit des Geistlichen ein in die des Predigers, des Priesters und des Pastors. Die ersten beiden umschreibt er genau und fügt dann hinzu: „Was noch übrig, liegt uneingefriedigt; der das be- kommt, soll Pastor heißen." Dies ist ein Zeugnis dafür, wie schwer es der Wissenschaft wird, dies Gebiet einzufriedigen. Bald wurde der Pastoraltheologie alles zugewiesen, was zum geistlichen Amte überhaupt gehört, bald das sonst unter keiner andern Disziplin Unterzubringende, bald die Wissenschaft von der ethischen Beschaffenheit und Amtsführung geistlicher Lehrer, bald die pfarramtliche Geschäftsführung in den äußern Dingen bis hin zur Pastoralmedizin.

Schleiermacher hat das Verdienst der wirklichen Umzäunung dieses

5q6 Wilhelm Faber: Christlich-protestantische praktische Theologie.

Gebietes. Wir kennen es nun als das der be sondern vSeelsorge, die an den einzelnen Gliedern der Gemeinde zu üben ist im Gegensatz zu der allgemeinen Seelsorge, die der Predigt, der Katechese und der Liturgie zufällt. Wenn ich dem Namen „Poimenik", der für die Lehre von dieser speziellen Seelsorge von verschiedenen hervorragenden Männern gewählt worden ist, zustimme, so tue ich dies allerdings nicht ohne das Bedenken, daß dies Wort eigentlich die Seelsorge überhaupt bedeutet und daher auch die allgemeine Seelsorge mit umfaßt. Aber ich tröste mich da- mit, daß es mit den Namen der beiden andern Gebiete, die wir be- sprochen haben, zuletzt nicht anders steht. Denn die Homilia und die Katechesis (die Unterredung und die Belehrung) gehen, da sie zum Teil auch Probleme der speziellen Seelsorge sind, gleichfalls nicht völlig in den Wissenschaften auf, denen sie den Namen gegeben haben.

Wer bildet nun das Subjekt und wer das Objekt der Poimenik? Ihr Subjekt. Subjckt der speziellen Seelsorge ist zweifellos jeder gläubige Christ

gegenüber allen, die ihm durch Bluts- oder Seelenverwandtschaft oder als Haus- und Arbeitsgenossen nahe stehen oder ihm sonst mit ihren be- sonderen Nöten in den Weg kommen. Im hervorragenden Sinne aber ist es der Träger des Amtes unter Mithilfe der ihm beigeordneten Organe (Gemeindekirchenrat, Presbyterium). Ich lege auf diese allgemeine Christen- pflicht den vollen Ton. Sie beruht auf den klarsten Weisungen der Schrift (i. Thess. 5, II. Hebr. lo, 24. Gal. 6, 6. Rom. 14, i und viele andere Mahnungen), sie ist der Quell der reinsten Freude und eines unberechen- baren Segens geworden. Sie entsprach auch dem Urzustand der Gemeinde. Erst als diese größer und ihre Verhältnisse verwickelter wurden, als feste Amter eingerichtet werden mußten, wurde sie auch in vorzüglichem Sinne Sache des Amtes, allerdings nicht so früh und nicht so ausschließlich wie die Lehre. Und diese Auffassung hat ihre großen Vertreter. Luther wollte von dem „gemeinen christlichen Bruder" seelsorgerlich behandelt sein; Spener hat in seinem Desiderium jedem Christen die Macht zuge- sprochen, andere zu ermahnen, zu trösten, zu bekehren, zu erbauen, ihr Leben zu beobachten, für ihre Seligkeit zu sorgen, und viele gewichtige Stimmen aus der neuem und neusten Zeit erklären sich ebendahin. Und alle sind darin eins, daß es auf die Persönlichkeit dessen ankomme, der die Seelsorge übe. Seine eigene sittliche Integrität bezeugt Paulus den Altesten zu Milet und den Christen zu Korinth und verlangt sie von den Brüdern: Act. 20, 28. i. Tim. 4, 16; und diese Forderung hat einen tausend- fachen Widerhall gefunden. -

Während nun die meisten Homiletiker das Schwergewicht auf die Person legen, so daß z. B. Palmer fragen kann: „Bedarf es überhaupt des Amtes, um mit erwünschtem Erfolge ein Tröster, ein Wanier, ein Mahner und Zeuge zu sein?", erhebt Steinmeyer seine Stimme gegen die an- gebliche Überschätzung der Persönlichkeit und weist die Kraft der Seel- sorge dem Amte zu. Sein Hauptgrund ist der, der Person werde kein

III. Die Poimenik.

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Vertrauen entgegengebracht, wohl aber dem Amte, Steinmeyer erläutert das durch eine Analogie. Der Kranke müsse zu seinem Arzt Vertrauen haben. „Aber worauf rechnet dies Vertrauen bei dem Arzt? Auf dessen Sorgfalt und Treue? Oder auf sein diagnostisches und therapeutisches Geschick? Sowohl das eine wie das andere wäre nur ein sekundäres Moment. Die Hauptfrage ist die, ob der Kranke zur ärztlichen Kunst überhaupt ein Vertrauen hat." Dieser auf den ersten Blick so glückliche und so oft gebrauchte Vergleich ist meines Erachtens für die daran ge- knüpften Schlußfolgerungen nicht günstig« Hat man Vertrauen zur ärzt- lichen Kunst, so geht man darum noch nicht zu irgend einem beliebigen Arzte, sondern zu einem, zu dessen Person man Vertrauen hat. Im ent- gegengesetzten Falle sucht man etwa Hilfe bei der Naturheilkunde, bei erprobten Laien, oder versucht es trotz des Mißtrauens in zwingender Not doch mit einem Arzte, und dann kann es leicht geschehen, daß man durch die Erfahrungen, die man an seiner Person macht, das Vertrauen zur ärztlichen Kunst überhaupt gewinnt.

Gewiß, das Amt ist nötig. Schon aus dem nüchternen Grunde, den Nitzsch anführt: „Allerdings ist jeder jedem erbauungspflichtig; aber soll es im kirchlichen Lebenskreise dem Zufall überlassen sein, ob jemand da sei, Rater des Gewissens, Tröster und Vater im Hilfsbedürfnis zu werden? Es bleibt demnach bei dem festen Satze, daß die Gemeinde ihren amt- lichen Hirten habe." Es ist aber auch noch ein anderer triftiger Grund vorhanden. Das seelsorgerische Amt bedarf einer gründlichen Vorbildung, nicht nur der allgemein wissenschaftlichen, die den Seelsorger befähigt, geistig hochstehenden Gemeindegliedern ebenbürtig gegenüberzutreten in jener Geistesläuterung, die jede wissenschaftliche Tätigkeit mit sich bringt, und im Besitz der großen allgemeinen Gesichtspunkte, die den rechten Maß- stab für das Wichtige und Unwichtige geben; es muß auch eine gründ- liche theologische Schulung vorhanden sein, die den Träger des Amtes vor falscher Tröstung, vor falscher Anwendung eines Schriftwortes und vor unberechtigter Einseitigkeit bewahrt. Auch ist das wStudium der Psy- chologie nicht wohl entbehrlich; ebensowenig die Kenntnis guter Erbauungs- schriften; vor allem aber ist nötig eine praktische Vorbildung, wie sie auf einigen Seminaren und neuerdings im obligatorischen Vikariat geboten wdrd. Dazu kommt, daß das Amt den Mut zu dieser schwersten aller geistlichen Funktionen erhöht und andrerseits die Verantwortlichkeit voll auf unsre Schultern legt und uns treibt, die Gabe zu wecken und auszu- bilden, die in uns ist.

Aber noch viel mehr als bei der Predigt und Katechese kommt es hier auf die Person an, die unmittelbar auf eine Einzelperson wirken soll. Sowohl die diagnostische als die therapeutische Kunst des Seelenarztes muß sich immer reicher durch Erfahrung ausbilden. Es handelt sich da- bei nicht bloß um die ethische Unbescholtenheit des Geistlichen, sondern um ein aus der Liebe zum Herrn und zu den Brüdern geborenes und in

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der Erfahrung entwickeltes Feingefühl, jeden besonders zu nehmen. Der Seelsorger muß jenen Warmblick der Liebe neben dem ärztlichen Kalt- blick der nüchternen Prüfung haben. Er muß furchtlos und opferfreudig der ansteckenden Krankheit begegnen und wissen, daß das Licht dazu da ist, daß es brennend sich verzehrt; er muß jeder Xot wirkliches Mit- fühlen entgegenbringen; darf sich auch der geringen Handreichung nicht schämen; darf noch weniger verdrießlich sein, wenn nur ein „altes Weib" nach ihm schickt oder ein „alter Armenhäusler", deren Seelen doch genau so viel wert sind als seine eigne; er muß Geduld haben bei der er- müdenden Wiederholung der Klagen und der Einwände; muß den ehr- lichen Zweifel ehren und ihn nur durch Belehrung fördern, nicht durch Tadel oder gar Verketzerung gewaltsam brechen wollen. Bei starken Charakteren muß er die Klippen weise benutzen, um einen Hafen daraus zu gewinnen; die schwachen, wenn er sie aus der Flut des Verderbens gerettet hat, darf er nicht einfach auf der ersten Sanddüne sitzen lassen, sondern muß eine starke Mole zur Abwehr der rückkehrenden Wogen bauen. Er muß wissen, wann er den Sterbenden von Tod und Gericht, wann von Leben und Seligkeit zu sagen hat. Kurz: der Satz, daß es „auf die Botschaft und nicht auf den Boten ankomme", ist auf diesem Ge- biete ebenso falsch, als der, es komme nur auf die Botschaft an, aber nicht auf den Empfänger. Ihr Objekt. Wer ist denn der Empfänger? Wer ist das Objekt der cum spe-

cialis? Die Antwort, die Nitzsch darauf gegeben hat: „Die Sündigten, die Unglücklichen und die Irrenden", hat viel Zustimmung erfahren und ist von anderer Seite gestützt auf Gal. 6, i : „So ein Mensch etwa von einem Fehl übereilet würde, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist", auf Hebr. lo, ^,2, wo von dem großen Kampf des Leidens die Rede ist, und auf Jak. 5, 19: „So jemand unter euch irren würde von der Wahrheit, und jemand bekehrte ihn, der soll wissen, daß, wer den Sünder bekehrt hat von dem Irrtum seines Weges, der hat einer Seele vom Tode gehol- fen." Schleiermacher stellt den Grundsatz auf, da sei die cura specialis angezeigt, wo anderweite Funktionen des Amtes, wo namentlich die kate- chetische Tätigkeit nicht hindurchgedrungen sei. Stein meyer nennt zwei Kategorieen von Seelsorgebedürftigen; solche, die der Gemeinde nicht leisten, was sie ihr schuldig sind, und solche, die von der Gemeinde nicht empfangen, was ein berechtigter Anspruch erheischt. Wie er sich das praktisch vorstellt, ist mir unklar; ebenso wenn er, in das Gleichnis vom verlorenen Schaf den Zug eintragend, daß der Hirt das verlorene Tier zur Herde zurückbringe, sagt: „Von der Herde scheidet sich zeitweilig der Hirt; er geht dem einen verlorenen nach; aber mit dem gefundenen eilt er der momentan verlassenen, aber nichts weniger als vergessenen Herde wieder zu." Abgesehen davon, daß der Hirt im Gleichnis das verlorene Schaf vorläufig gar nicht zur Herde zurückbringt, wovon über- haupt nichts geschrieben steht, sondern nach seinem Hause trägt: wenn

IIT. Die Poimcnik.

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die Herde wirklich so lang^e verlassen sein sollte, bis alle irrenden Glieder einer Gemeinde zurückgeführt wären, so würde für die cura generalis kein Raum mehr bleiben.

Mir sind alle vorhin gezogenen Kreise zu eng. Sicherlich haben jene von Nitzsch genannten Kategorieen die hauptsächliche Fürsorge nötig, aber grundsätzlich ist jedes Gemeindeglied Gegenstand der beson- deren Seelenpflege. Wer hätte mit Leiden, Sünde und Irrtum nicht zu tun? Wer das meint, bedürfte erst recht des Seelsorgers.

Doch wie ist das zu machen? Das Natürlichste ist, daß ich in die Tür hineingehe, die mir der liebe Gott aufmacht. Das tut er sehr oft. Wo Kranke oder Sterbende liegen, wo Trauernde und Einsame sitzen, wo eine schwere Heimsuchung über ein Haus kommt, oder wo eine große Freude einkehrt und ein besonderes Lebensereignis gefeiert wird, da tut Gott die Türe auf. Ebenso, wo an einem Familiengliede eine kirchliche Handlung vollzogen werden soll oder vollzogen worden ist. Das Zweite ist, daß mir irgend ein Gemeindeglied die Tür auftut, indem es mein begehrt. Das Dritte, daß ich mir die Tür selbst aufmache, bei freiwilli- gen Hausbesuchen. Der von Lohe nachdrücklich aufgestellte und schon früher auf lutherischer Seite viel befolgte Grundsatz, der Geistliche müsse den spontanen Hausbesuch vermeiden, ist leider noch längst nicht obsolet geworden. Es gibt noch Geistliche, die alles auf ihrer Studierstube an sich herankommen lassen, da sie die von Steinmeyer mit Recht beklagte Abschaffung des Beichtstuhls, welche die Kirche um ihre Popularität gebracht hat, nicht wieder rückgängig zu machen vermögen. Gerade dieser Lehrer der praktischen Theologie hat sich aber ebenfalls aufs schärfste gegen die Hausbesuche ausgesprochen. Sie sind ihm ihres re- formierten Ursprungs wegen zuwider, als ob man nichts Gutes von einer andern Konfession lernen sollte, und als ob sie nicht vom Herrn selber geübt worden wären ! Und dann verstoßen sie nach seiner Meinung gegen die Würde des Amtes. Dem Pastor falle der Eliasmantel von den Schul- tern herab, und nur der frnter ckristianus bleibe zurück. Aber auch die seelsorgerische Einwirkung leide Schaden, sie nehme die Form der Kon- versation an; anstatt des Aggressiven, das sie haben müsse, finde ein Zurück- weichen und Zurücknehmen Platz, und derselbe, der auf der Kanzel offenes Visier habe, trage beim Hausbesuch die Decke Mosis vor seinem An- gesicht. Die Luft, wie sie innerhalb des Hauses sei, benehme dem Amts- diener den freien Odemzug, so daß er seine Doxa, seine Verkündigung, nicht entfalten könne. Auf das erste hat Achelis treffend entgegnet, daß der evangelische Geistliche einen Eliasmantel nicht trage; sollte er doch einen anziehen, so könne er ihm nicht rasch genug abgerissen werden. Ich meinerseits bin immer zufrieden gewesen, wenn meine Pfleglinge in mir den dienenden f rat er chris/ianus sahen, habe aber sie sowohl als mich für zu gut dazu gehalten, eine Feiglingsdecke vor das Angesicht zu nehmen. Und die Luft des Hauses sie ist ja in den verschiedenen

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Häusern sehr verschieden , aber die des Hauses im allgemeinen ist für den freien Odemzug und die Doxa des Amtes so geeignet, wie wenig andere Stätten. Ich habe in engen dunklen Kammern diese Doxa leuchten sehen in wunderbarer Ewigkeitsglorie.

Diese spontanen Hausbesuche sind erforderlich, wo sie willkommen sind. Bei den gläubigen Christen ist ein großes Verlangen danach. Sie möchten ihren Seelsorger teilnehmen lassen an allen Geschehnissen und namentlich an ihren inneren Erlebnissen. Ja, etliche möchten ihn so in Anspruch nehmen, als ob er nur für sie da wäre. Es liegt hier die große Gefahr, die Selbständigkeit zu verlieren gegenüber den Parteieinseitigkeiten, die man gern dem Geistlichen aufnötigt, und die Nüchternheit angesichts der Beräucherungen, die einem Modepastor in widerwärtiger Weise nament- lich von Frauen angetan zu werden pflegen. Andere freuen sich, wenn der Pastor kommt, weil es ihnen eine Ehre ist; die soll man mit der Zeit dahin führen, daß sie sich freuen über das, was er ihnen bringt. Aber auch nach und nach. Trotz aller der Kunstlehren, die verlangen, daß man gleich mit der Verkündigung aggressiv vorgehen soll, bekenne ich mich des schuldig, daß ich das bei den ersten Hausbesuchen nicht tue, sondern erst dann, wenn ich den J^^chlüssel zu den Herzen habe. Der liegt in den besonderen Interessen der besuchten Familie, namentlich in dem Ergehen der Kinder und Kindeskinder; auch in der sozialen Stellung und ihren Nöten; ihren Studien und Stellungen. Wer etwa auf dem Lande kein In- teresse für Saat und Ernte verrät und für das liebe Vieh, der wird seinen Gemeindegliedern lange fremd bleiben. Aber ebensowenig darf man das Gefühl erwecken, als ob man sich zu ihrem Standpunkte gewaltsam hinabließe oder gar hinabschraubte. Auch der einfache Mann hat ein feines Emp- finden dafür, ob man es einfältig meint, und er verschmäht eine aufdring- liche Gleichstellung. Er will zu seinem Pastor aufsehen. Daher liebt er auch die Predigt in hohem Ton, während sie vor Hochgebildeten nicht einfach genug sein kann. In Gegenden, wo nicht auch die Gebildeten selbst da- heim in ihren Häusern niederdeutsch reden, will der Bauer seinen Pastor hochdeutsch sprechen hören.

In bezug auf die Verkündigung des Wortes mache ich einen erheb- lichen Unterschied, ob mein begehrt worden ist, oder ob ich von mir aus komme. Im ersteren Falle kommt gleich der Pastor, im letzteren zunächst der frafer christianiis. Natürlich aber wäre es schlimm, wenn man dann nicht weiter käme; wenn nicht alsbald die Herrlichkeit des Herrn mit freiem Odemverzuge verkündet würde.

Diese spontanen Besuche sind jedoch auch da not, wo sie unwill- kommen sind. Da erst recht. Da sollen sie die ersten Anknüpfungen werden an den Herrn und seine Kirche. Ich habe oft erfahren, daß solche Leute dem Geistlichen den Gegenbesuch im Gotteshause machten, und daß sich allgemach daraus inn kirchliches Leben entwickelt hat. Ist bis dahin ein Pfarrer am Orte gewesen, der alles in seinem iA-mtszimmer an

III. Die Püimcnik.

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sich herankommen ließ, so ist das Mißtrauen, dem der einen anderen Weg einschlagende Nachfolger begegnet, schwer zu überwinden. Die Leute können sich vorläufig gar nicht denken, daß man um ihretwillen kommt, und geraten auf die seltsamsten Vermutungen; hernach aber sind sie um so aufgeschlossener. Sehr wichtig ist es, daß man bei den ersten Be- suchen in einer Gemeinde keine Familie ausläßt, auch solche nicht, die im Rufe der Gottlosigkeit oder Sittenlosigkeit stehen. Das beste pädago- gische Mittel ist, jemandem Gutes zuzutrauen. Günstig pflegt es zu sein, wenn man beim ersten Besuche mit Grobheit empfangen wird. Gewöhn- lich schämen sich die Leute dann nachher und suchen es gutzumachen. Einer, der bei solcher Gelegenheit das Gewehr auf mich anlegte, ist einer meiner dankbarsten Pfleglinge geworden. Freilich eine Grenze gibt es, wo man dann das Wort vom Heiligtum und den Hunden anzuwenden hat: die liegt bei dem frechen Spötter und dem frechen Heuchler. .Sonst soll man nicht Halt machen vor dem Hause des offenkundigen Sünders noch des kirchlich Gleichgültigen, weder vor dem des Sozialdemokraten noch des religiösen Pharisäers, der verachtend auf das Amt und den Amtsträger herabsieht, weil er ersteres verwirft und letzteren für un- bekehrt hält, eine besonders schwer zu behandelnde Art. Nur nie das Wort aufdrängen! Das sollte schon die kirchliche Selbstachtung verbieten.

.Solche spontanen Hausbesuche sind auch darum notwendig, weil sie als beste Vorbereitung dienen für die Zeit, wo man eiimial des Pastors für einen besondern Notfall bedarf. Denn dann kennt man sich gegen- seitig und weiß, richtig zu geben und zu nehmen. Auch findet sich hier- bei die Gelegenheit, auf die häusliche Erbauung hinzuweisen, gute Bücher zu empfehlen, namentlich auch kurze, für den Nichttheologen unentbehr- liche Schrifterklärungen (wie z. B. die kürzlich erschienene, mit kurzen Erklärungen versehene Übersetzung des Neuen Testaments von Bernhard Weiß, dem Altmeister neutestamentlicher Exegese); sich von den kleinen Kindern etwas aufsagen zu lassen, mit den größern von Arbeit und Gebet zu reden und vieles andere.

Ferner werden sie zu einer Fundgrube für die Predigt. Man lernt die geistliche und geistige Durchschnittshöhe der Gemeinde kennen, ihre besondere Art im Guten wie im Bösen; ihre Vorzüge und Schäden, ihre Vorurteile und ihren Aberglauben. Und auch die Kenntnis der Einzel- persönlichkeit bringt für die Predigt Gewinn. Alle strenge Kunsttheorie in Ehren! Aber wenn ich unter der Kanzel jemanden sehe, der gerade ein gutes Wort für sich allein braucht, so gebe ich es ihm, falls es der Text gestattet. Auch ist eins nicht zu vergessen. Wer nimmt denn den Pastor selbst in die cum specialis? Ein Amtsbruder, der sein Konfessio- narius ist, oder sein Superintendent? Gewiß! Aber vor allen Dingen seine Gemeinde. Ich muß bekennen, daß ich viel, viel mehr in ihr genommen als ausgeteilt habe, daß mir von weit gereifteren Christen, oft ganz ein-

y02 WiLHF.LM Faber: Christlich-protestantische praktische Theologie.

fachen Leuten, neue tiefe Anregungen geworden sind, und daß ich nament- Uch an Sterbebetten Eindrücke gewonnen habe, für die ich bis in Ewig- keit dankbar bin.

Wie oft solche Besuche zu wiederholen sind, hängt von der Größe der Gemeinde und von der Individualität des Besuchers und des Besuchten ab. Es ist nicht gut, wenn das Gemeindeglied lange vergebens nach seinem Seelsorger ausschaut; es ist aber viel schlimmer, wenn es aus der Hintertür entweicht, sobald er an die Vordertür klopft. Die Länge und die Zahl der Besuche richtet sich sehr danach, ob man mit Leuten zu tun hat, die viel Arbeit, oder mit solchen, die viel Muße haben. Hierzu sei nebenher bemerkt, daß man, wenn niedriger gestellte oder arme Leute eine leibliche Erquickung anbieten, diese, wenn irgend möglich, nicht ab- lehnen soll. Ihre Hilfsmittel. Solchc eingehende Seelsorge ist freilich nur möglich in leicht über-

sehbaren Gemeinden oder Seelsorgebezirken und mit Hilfe der Diakonie und freiwilliger Helferkreise.

Es ist erwünscht, daß in jeder noch so kleinen Gemeinde eine Diako- nisse (in größern mindestens eine in jedem Seelsorgebezirke) sei, die mög- lichst aus den Töchtern der Gemeindemitglieder gewonnen und in einem Mutterhause vorgebildet werden sollte. Nur auf diese Weise kann dem derzeitigen Mangel an Diakonissen abgeholfen werden. Überall sind sie zugleich die rechte Hand des Geistlichen in der kirchlichen Armenpflege, die in größern Orten unter Verständigung mit der städtischen und der Vereinsarmenpflege zu üben ist. Mit der Pfarrfrau zusammen bildet und pflegt die Diakonisse die Krippe und den Kinderhort, den Jungfrauen- verein, die Versammlungen der alten Frauen, die Nähvereine, und vor allem wartet sie der Kranken, vorausgesetzt, daß diese keine Töchter haben vnid eigene Pflegerinnen sich nicht halten können. Es ist nämlich nicht gut, wenn sie den Töchtern abnimmt, was ihre heilige Pflicht und ihr schönster Dienst sein sollte. Neben der Diakonisse sind Gemeinde- helfer (Diakonen) als Krankenpfleger bei Männern und als Helfer des Gemeindekirchenrats in Ermittlung nicht vollzogener Taufen und Trau- ungen, in Abhaltungen von Jünglingsvereinen und dergleichen anzustellen. Womöglich sollen sie auch Evangelisation treiben unter den tiefer stehen- den Volksschichten, die sich manchmal lieber von ihresgleichen die frohe Botschaft bringen lassen als \ on ihrem Pastor. Für die kirchliche Evan- gelisation im großen Stil sind dagegen Männer von theologischer Bildung zu berufen, denen die Gabe markiger, mit Salz gewürzter Rede in be- sonderer Weise geschenkt ist, damit der wilden Evangelisation wirksam begegnet wird. Die Diakonen müssen die Vorbildung eines Stadtmissionars in einem Brüderhause erhalten; auch wird sich, wo es angängig ist, eine enge Verbindung mit der Stadtmission empfehlen, damit ihr gesegnetes Wirken noch reifere Früchte trage. Auch eröffnet sich hier ein Arbeits- feld für solche junge Theologen, die an sich treu und brauchbar sind,

III. Die Poimenik.

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aber die für einen Pastor nötige wissenschaftliche yuaHHkation nicht er- reichen konnten und dann nicht wissen, was sie nun anfangen sollen.

Mit Hilfe der Diakonie ist es auch möglich, einem der schwersten Übel, das in ausgedehnten Gemeinden sein zerstörendes Wesen hat, bei- zukommen. Das ist der Mangel an Gemeinschaft der einzelnen Glieder. Der Hauptgrund, weshalb den wSekten so vielfach die gläubigen Gemeinde- glieder zufallen, liegt darin, daß sie die Einzelnen in enge Beziehung zu- einander bringen, daß sie sich persönlich kennen, ihre geistlichen Er- fahrungen austauschen und regelmäßig mit- und füreinander beten. Diesen Mangel ersetzt man nicht durch die Wochengottesdienste in der Kirche wenngleich es höchst erfreulich ist, wenn die großen Kirchen mög- lichst wenig unbenutzt dastehen ; auch durch Bibelstunden und Vereins- bestrebungen im Gemeindehause nicht, so unerläßlich und hochwillkommen sie sind. Man kann nicht anders helfen, als daß man kirchliche Gemein- schaften bildet, die in biblischer Besprechung und Gebet beieinander sind. Die erstere ist überhaupt die Blüte aller homiletischen Bestrebungen, es ist wirklich eine Homilia, in der jeder Teilnehmer aktiv ist und durch den Austausch der Meinungen eine ungemeine Bereicherung aller ge- wonnen werden kann. Und nichts verbindet, erbaut und hilft mehr am Bau des Reiches Gottes als gemeinsames Gebet. Nun können aber an einer biblischen Besprechung aus naheliegenden Gründen immer nur wenige teilnehmen; es muß daher eine große Anzahl solcher Gemein- schaften geschaffen werden, in den Häusern hin und her. Der Pastor wird nur eine davon leiten können. Besser ist's deshalb, er leitet keine, damit die andern sich nicht zurückgesetzt fühlen; sondern er besucht jede einmal; oder aber, er leitet die erstgesammelte und entläßt nach einiger Zeit aus dieser diejenigen Teilnehmer, die die Gabe der Leitung bewiesen haben, um neue Kreise zu bilden, und zieht dann wieder in die Mutter- gemeinschaft neue Kräfte, die dann wiederum zu Leitern gefördert werden. Diese Gemeinschaften finden sich dann von Zeit zu Zeit im Gemeinde- hause zusammen, um die Fühlung nicht zu verlieren. Zu der Gewinnung der geeigneten Personen ist die Hilfe der Diakonie unentbehrlich.

Alle diese Einrichtungen, namentlich auch die Familienabende im Vereinshause, die Missionskränzchen, die gemeinsame Arbeit für den Gustav Adolf-Verein, für die Frauenhilfe und was es sonst Segensreiches von Gemeinde wegen zu tun gibt, dienen aber auch dazu, die gefahrvolle Kluft zu überbrücken, die wir unter dem Namen der „sozialen Frage" kennen. Dies gelingt um so mehr, je mehr es möglich ist, alle Stände zu einer gemeinsamen Liebesarbeit zusammenzubringen.

Auch sonst hat der Hirt zu dieser brennenden Frage Stellung zu nehmen. Er hat sich der Arbeitnehmer anzunehmen, wenn sie von ihren Arbeitgebern ausgebeutet werden; aber auch umgekehrt. Er muß dem Armen wie dem Reichen, soweit er kann, zu ihrem Rechte verhelfen. Er ist nicht dazu berufen, in technische Einzelfragen einzugreifen, falls

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ihm nicht eine große Begabung dafür und Erfahrung darin zur Seite steht; er wird manchesmal im konkreten Falle zweifelhaft sein, wofür er sich selbst entscheiden soll. Ob z. B. der Ladenschluß am Abend auf eine frühere Stunde gelegt werden soll, ist im Interesse der Angestellten und Inhaber größerer Geschäfte zu bejahen, im Interesse der kleinen selbständigen Handwerker und Geschäftsleute zu verneinen. So mag es mit vielen Dingen sein. Aber eins ist unerläßlich: der Geistliche muß die Gesinnung- vorleben, auf Grund deren eine Versöhnung der Stände mög- lich ist. Ich kann nichts Besseres tun, als dazu Paul Kleinert aus seiner soeben erschienenen höchst bedeutsamen Schrift: „Die Propheten Israels in sozialer Beziehung" zu zitieren: „Der letzte Angelpunkt der sozialen Fragen liegt nicht in den Verhältnissen, sondern im Charakter. Sie wurden zur finstern Gefahr für die Zeit der Propheten wie für jede andre nicht durch die UnvoUkommenheiten des wirtschaftlichen Systems, sondern durch die Sünde der Menschen; und wieviel zu ihrer Lösung verständige Organisationen und sichere nationalökonomische Methoden, technische Entdeckungen und gute Maschinen helfen können: ihre erste und letzte Lösung, von deren Gelingen der Erfolg oder das Versagen aller andern abhängt, ist der gute Mensch, der sich selbst ordnende, feste und klare, tüchtige und zuverlässige Charakter, die sittliche Persön- lichkeit." Ihre Feinde. Eine der schwereren Schädigungen für die Gemeinde können die

kirchlichen Richtungen mit sich bringen. Nicht der Umstand, daß sie da sind; das ist sehr erklärlich aus der evangelischen Freiheit; nicht der, daß sie sich bekämpfen. Das ist unter Umständen erwünscht; denn wo Kampf ist, ist Leben, und auch dies Kampfesleben ist \ie\ besser als die Kirch- hofsruhe, die oft mit Frieden verwechselt wird. Aber das verwüstet, wenn sie zur gehässigen Parteitreiberei werden, in der der eine dem andern die doj/a ßdes und die Ehrlichkeit seiner Überzeugung abspricht, und die so unter dem Zeichen des äußerlichen Schlagwortes steht, daß man oft mit Aufwendung aller diagnostischen Anstrengung nicht erkennen kann, warum dieser sich liberal, jener sich positiv nennt. Hier ist für den Geistlichen entscheidend des Herrn Doppelweisung: Matth. 12, 30 und Mark, g, 3g. 40. Wenn sich jemand bewußt ablehnend gegen den Gei.st des Christentums verhält und Jesu Nachfolge verschmäht, so ist er Christi Feind oder muß es zuletzt werden; man kann eben in dieser Sache nicht neutral bleiben. Dann gilt: „Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich, und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut." Solange aber jemand in Christi Namen Gutes tut und Gutes will, wenn auch auf andre Weise und in andrer Richtung, als ich es tue, so gilt: „Es ist niemand, der eine Tat tue in meinem Namen und möge bald übel von mir reden. Wer nichtj wider uns ist, der ist mit uns." Nichts aber schleift die Schärfen bessei ab und stimmt zu friedlicherer Annäherung als gemeinsame Liebesarbeit. Vielleicht wird ein Wandel zum Bessern eintreten, wenn erst die Frau,

III. Die Poimenik.

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die so rege an den Samariterwerken teilnimmt, das kirchliche Stimm- recht erhält.

Einem seltsamen Irrtum, an dem vielleicht die Gehässigkeit der Partei- treiberei mit schuld ist, geben sich die hin, welche die Ethik ganz vom Boden der Religion lostrennen möchten. Sie vergessen, daß das Gute, das sie wollen und tun, ganz allein auf diesem verschmähten Boden ge- wachsen ist und ihnen unbewußt noch immer wächst, und daß dieser Hiatus zwischen Glauben und Leben auf die Dauer nicht zu halten ist. Gott - Losigkeit führt zuletzt zur Gottlosigkeit. Ebenso oft hat man mit solchen zu tun, die christlich, aber nicht kirchlich sein wollen. Denen ist klar zu machen, daß sie ihr Christentum nur mittels der kirchlichen Gemeinschaft gewonnen haben, daß die Kirche den Herd bildet, auf dem das heilige Feuer genährt wird, und daß, selbst wenn sie für ihre Person der Gemeinde entraten könnten, diese ihre lebendige Teilnahme am Wort und Sakrament als eine Pflicht verlangen kann.

Beiden Erscheinungen stehen die gegenüber, die da meinen, man habe genug an seinem religiösen Verhältnis zu Gott und brauche es nicht sittlich zu bewähren. Sie verwechseln die Freiheit vom Gesetz mit der Freiheit vom Gehorsam gegen Gott. Ja, sie überspannen den Begriff des Gnadenstandes derart, daß sie sich für sündlos halten und auch das Leben des Fleisches, in das diese Auffassung leicht hineinführt. Denen ist mit heiligem Ernste klar zu machen, daß persönliche Vervollkommnung not- wendig ist zur Seligkeit, daß die bewußte Verletzung des guten Willens auch einen Verlust in dem mit sich bringt, was sein gnädiger Willen uns geschenkt hat, daß jede sittliche oder unsittliche Tat ein unverlier- barer Teil unsres Wesens wird, und durch ein habituelles Sündigen das ewige Leben in uns zuletzt ertötet wird.

Ein anderes ist mir immer wieder entgegengetreten, die Frage, was brauche ich noch ein geschichtliches Glaubensbekenntnis, wenn ich den persönlichen Heilsglauben an Jesus habe. Der allein vermittelt die Recht- fertigung aus Gnaden, während der geschichtliche Glaube zu nichts hilft, sonst müßte, was durchaus nicht der Fall ist, der gelehrteste Theologe immer der beste Mensch sein. Dem wird der Seelsorger unbedingt zu- stimmen, aber hinzufügen: Es ist doch nicht gleichgültig, auf wen ich mein Vertrauen setze, ob auf einen Knecht oder auf einen König, auf einen bloßen Menschen oder auf den Sohn Gottes. Darum ist der histo- rische Glaube die notwendige Ergänzung des persönlichen Heilsglaubens.

Dies sind einige Beispiele davon, wieviel der Hirt zu tun hat im Weiden und Wehren. Und letzteres wird um so schwieriger, je hinnehmen- der die Gemeinschaften sind, die sich auf Grund solcher kräftigen Irr- tümer bilden.

Ganz abgesehen von solchen, die den Boden des Christentums grund- sätzlich verlassen haben, gibt es eine so große Menge von Denominationen, namentlich aus England und Amerika herübergekommen, daß sie hier

DiK IvULTUR DtR GbOBNWART. I. 4. ^.^

yo6 Wilhelm Faber: Christlich-protestantische praktische Theologie.

nicht aufgezählt und noch weniger charakterisiert werden können. Man wird eine dreifache Stellung zu ihnen einnehmen können. Solche, die eigentlich nur Kreise innerhalb der Kirche sind, wie die Herrnhuter und gewisse Gebetsvereine, sind zu stärken und zu stützen. Solche, die selb- ständig sind, aber sich freundlich zur organisierten Kirche stellen, können und sollen mit uns in einem gesegneten Wechselverkehr stehen; solche endlich, die prinzipiell die Landeskirche, die auf deutschem Gebiete mit der Volkskirche g'leichbedeutend ist, verachten und bekämpfen, wie die schrankenlose Gemeinschaftsbewegung, sind mit Entschlossenheit und Rücksichtslosigkeit abzuweisen. Ihre Bundes- Hat der Hirt gar viele Wölfe abzuwehren, die in seine Herde brechen

genossen.

wollen, so kann er sich auch vieler Helfer erfreuen, die ihm kräftig zur Seite stehn. Ich nenne nur zwei. Wie Boten des Himmels sind sie unter uns getreten und wandeln ihren Samariterweg: die innere und die äußere Mission.

Die innere Mission ist ein großes Heer geworden. Es gibt keine Sünde und keine Not, an denen sie nicht Engeldienste täte. Und wenn es gewiß richtig ist, daß man gar vieles, das sie ersinnt und ausführt, in den Organismus der Einzelgemeinde eingliedern soll, so wird sie schon darum sich nie selbst überflüssig machen können, weil sehr vielem Elend nur durch breitere und umfassendere Organisationen beizukommen ist, als es die Lokalgemeinde leisten kann. Sie wird aber überhaupt viel frucht- barer bleiben, wenn sie eine liebevolle, selbständige Freundin der Kirche bleibt, als wenn sie ihr ein- und untergeordnet würde.

Nicht weniger erstaunlich ist der Entwicklungsgang, den im letzten Jahrhundert die äußere Mission genommen hat. Es scheint zwar, als dienten wir nur ihr Gott gebe, daß dies aller Orten geschehe und sie nicht auch uns. Und doch tut sie es. Denn es flutet von ihr solch eine innere Bereicherung auf die missionsfreundliche Gemeinde zurück, daß sie sich schon allein dadurch als ein Werk des Himmelskönigs legitimiert.

Nun wäre es ein törichtes Verlangen, wenn der Seelsorger sich an allen Gebieten jener beiden Großmächte beteiligen oder seine Gemeinde- glieder dazu anhalten wollte; das gäbe eine Vielgeschäftigkeit, bei der nichts herauskommt. Es ist fruchtbarer, wenn die Missionsstunde über den Gang der äußeren Mission orientiert und die Gemeinde für eine einzelne Station tätig ist, die dann ihr ganzes Interesse in Anspruch nimmt, und wenn die Bibelstunde über die Fortschritte der innern Mission im Strome erhält, und die Tätigkeit der Gemeinde sich zurzeit einigen Sonderbestrebungen zuwendet, die ihren eigenen Gedankenkreisen am nächsten liegen oder es gerade am nötigsten haben.

Zusammen- Ist die äußere Mission vom Herrn der Kirche dazu gesetzt, die höchste

lassendes. , . .p, , ^

Kultur über die Erde zu tragen, so muß man auch von der Gesamt-

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betätigung', über welche die praktische Theologie zu lehren hat, sagen: sie ist die Kulturträgerin im vollen Sinne des Worts. So gewiß der ewige Logos, dieser Urquell alles Lebens und alles Lichts es gewesen ist, der in Christo Mensch wurde, so gewiß stammt auch das Wahre, Gute und Schöne in den alten Kulturen bis zu den Sumeriern zurück aus dieser Gottesfülle. So gewiß dieser Logos in Christo seine voll- kommenste Offenbarung gewonnen hat, so gewiß muß alles, was in jenen Kulturen von bleibendem Wert ist, in die christliche Kultur aufgenommen werden. Und so gewiß Christus zur Rechten des Vaters erhöht ist, so gewiß ist die christliche Kultur die bleibende, alle andern verklärende und den Erdkreis überwindende. Sie hat die volle Ewigkeitskraft.

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Literatur.

A. Allgemeines. A. Hauck, Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, begründet von ]. ]. HERZOG, 3. Aufl. (Leipzig, 1896 ff.). Einzelne Artikel und Quellen- material.— Einzelbeiträge aus C. Werckshagen, Der Protestantismus am Ende des 19. Jahr- hunderts (Berlin, 1904 f.). P. Kleinert, Zur christlichen Kultus- und Kulturgeschichte. Abhandig. u. Vorträge (Berlin, 1889); derselbe, Die Propheten Israels in sozialer Beziehung (Leipzig, 1905). G. VOIGT, Aus der Urkunde der Offenbarung (Leipzig, 1902); derselbe, Christentum und Bildung. Ein Vortrag. 2. Aufl. (Leipzig, 1903). J. KURTH, Die Mosaikeu der christlichen Ära. I. Die Wandmosaiken von Ravenna (Berlin, 1901), Einleitung; der- selbe, Aufsätze in ,,Die Reformation", ,, Glaube und Wissen", ,,Die Wacht". R. Seeberg, An der Schwelle des 20. Jahrhunderts (Leipzig, 1901). A. J. Balfour, The fondations of belief, 8. Aufl. (London, New-York und Bombay, 1901). Th. Kaftan, Der christliche Glaube im geistigen Leben der Gegenwart (Schleswig, 1898).

B. Zusammenfassende Werke zur praktischen Theologie. F. D. SCHLElER- macher. Praktische Theologie, herausgeg. v. Frerichs (Berlin, 1850). Ludwig Hüffell, Wesen und Beruf des evang.-christlichen Geistlichen, 4. Aufl. (1843). C. J. Nitzsch, Prak- tische Theologie, 2. Aufl. (Bonn, 1860). E. Chr. Achelis, Lehrbuch der praktischen Theologie, 2 Bde., 2. Aufl. (Leipzig, 1898). J. Hase, Der praktische Geistliche in seinem Werden und Wirken. Zwanglose Briefe (Hamburg, 1905). P. Kleinert, Zur praktischen Theologie. Theolog. Studien u. Kritiken. 1882. i. Heft (Gotha, 1882). W. BORNEMANN, Historische und praktische Theologie. Antrittsvorlesung (Basel, 1898).

C. Zur Homiletik. A. Krauss, Lehrbuch der Homiletik (Gotha, 1883). H. Bassermann, Handbuch der geistlichen Beredsamkeit (Stuttgart, 1885). F. L. Stein- meyer, Homiletik, herausgeg. v. M. Reyländer (Leipzig, 1901); derselbe, Die Topik im Dienste der Predigt (Berlin, 1874); derselbe. Die altkirchlichen evangelischen Perikopen, Akadem. Vorträge, herausgeg. von A. Löwentraut (^Friedenau- Berlin, 1903); derselbe. Der homiletische Gebrauch der evangelischen altkirchlichen Perikopen, herausgeg. v. M. Reyländer (Leipzig, 1902). M. Scheele, Etwas vom modernen Predigen (Studierstube II. Jahrg., Heft II). H. Hering, Lehrbuch der Homiletik (Berlin, 1904); derselbe. Die Lehre von der Predigt (BerHn, 1905).

D. Zur Katechetik. F. L. Steinmeyer, Der Dekalog als katechetischer Lehrstoff (Berlin, 1875). A. RiTSCHL, Unterricht in der christlichen Religion (Bonn, 1875). W. Bornemann, Unterricht im Christentum (^Göttingen, 1891); derselbe, Der zweite Artikel im lutherischen kleinen Katechismus. Fragen und Vorschläge (Leipzig, 1893). H. Malo, Soll der Konfirmationstermin hinausgeschoben werden? (Berlin, 1901); derselbe, Zur Kate- chismusfrage (Gotha, 1892); derselbe, Vierzig Konfirmandenstunden (Dessau, 1892); außerdem katechetische Aufsätze in verschiedenen Zeitschriften R. Heiurich, Quellenbuch für den Religionsunterricht (^Dresden, 1902;. G. VOIGT, Die Bedeutung der Herbartschen Päda- gogik für die Volksschule (Leipzig, 1903). A. SCHL.\1TER, Einleitung in die Bibel ^Calw und Stuttgart, 1894).

E. Zur Poimenik. F. L. Steinmeyer, Die spezielle Seelsorge in ihrem Verhältnis zur generellen (Berlin, 1878). P. Kleinert, Selbstgespräche am Kranken- und Sterbelager. (Christi. Zeitschriftenverein [Berlin, 1896]). W. Bornemann, Römischer Priester und evan- gelischer Pfarrer. Eine Skizze. K. ^Fulda, 1904); derselbe, Einführung in evangelische Missionskunde (^Tübingen und Leipzig, 1902). K. H.\NDTM.\NN, Die Neu-Irvingianer oder die ,, Apostolische Gemeinde" (Gütersloh, 1903). F. W. PE.ABODY, A complete expose of Eddysm or Christian Science and the piain truth in piain terms rcgarding Mary Baker G. Eddy (Boston, 1901). E. Klein, Wider das Gesunddenken (Christian Science), mit Vorwort von W. Faber (Kassel, 1902). G. RUNZE, Für oder wider das Gesundbeten? (Berlin, 1902). A. Niemann, Die Bedeutung der kirchlichen Ürtsgeschichte (Berlin, 1902). B. Weiss, Wie lerne ich ilic Hibel lesen und gebrauchen? (Leipzig, 1905).

DIE ZUKUNFTSAUFGABEN DER RELIGION UND DER RELIGIONSWISSENSCHAFT.

Von Heinrich Julius Holtzmann.

Einleitung. Der Titel des Werkes, dem die folgenden Betrachtungen sich einzugliedern haben, bringt es mit sich, daß die Religion hier unter dem Gresichtspunkt der Kultur in Frage kommt. Kultur ist mehr als Zivilisation. Das Wort ist für unsere gebildete Welt zu einem Sammelnamen geworden für die obersten und letzten Ziele alles sittlichen Tuns und Werdens. Wo Kultur ist, da sucht man auch Bewußtsein vom Zweck des Daseins, Gedankenmacht und Weltanschauung. Also wohl auch Religion? Das eben ist die Frage. Es gehört zu den Aufgaben der Religionswissen- schaft, uns darüber Bescheid zu geben. Und zwar zu den Zukunfts- aufgaben. Denn die unmittelbare Gegenwart bietet, wo es sich um die Frage handelt, ob die Religion überhaupt noch Kulturarbeit leiste und als Kulturmacht einzuschätzen sei, ein überaus widerspruchvolles Schau- spiel dar, sofern nämlich die Beantwortung tatsächlich in direkt entgegen- gesetzten Richtungen erfolgt. Und zwar gilt das gerade von derjenigen Religion, die sich zuvor als mächtigste und zuverlässigste, lange Zeit hin- durch sogar als ausschließliche Trägerin der Kultur fühlen durfte, vom Christentum in seiner kirchlich verfestigten Gestalt. Wollte man doch gerade diese Kirche gelegentlich mit einer Brücke vergleichen, die heut- zutage nur noch über ein längst trockengelegtes Land, gleichsam über Kulturland, führt, dennoch aber stehen geblieben ist und in Stand erhalten wird, weil viele Leute aus alter Gewohnheit noch immer ihren Weg darüber hin nehmen.

L Umblick in der Gegenwart. In der Tat bieten sich einem insiiherhcit eligionsgeschichtlich orientierten Urteil genug Zeichen der Zeit dar, die uf Niedergang und Verfall der offiziellen, kirchlich ausgestalteten Religion A-eisen. Aber andererseits fehlt es auch nicht an Beobachtungen, die den Eindruck einer entschieden aufsteigenden Linie hinterlassen. Lebens- und kampfkräftiger als je seit zwei Jahrhunderten stehen sich die christ-

y lO Heinrich Julius Holtzmann: Die Zukunftsaufgaben d. Religion u. d. Religionswissenschaft.

liehen Hauptkonfessionen gegenüber, und ebenso unabweisbar wie unwill- kommen wird oft genug die Realität des kirchlichen Faktors in Mini- sterien und Parlamenten empfunden. Deutschland und Frankreich wissen in erster Linie davon zu sprechen; Österreich-Ungarn, Italien und Spanien folgen. Und zwar ist es nicht bloß die katholische Kirche, die in ihrer stetig fortschreitenden Machtentfaltung fast schon wie einst im Mittelalter als Sonne am Himmel strahlt, wobei der Staat zuweilen nur noch den sanften Anblick des still einherwandelnden Mondes zu bieten scheint. Auch die mit dem Staat in Frieden lebenden protestantischen Kirchen stellen fraglos noch immer eine beachtenswerte Macht dar. Haben sie es doch im Verlauf der letzten hundert Jahre fast allenthalben von chaoti- schen Zuständen zu rechtlich verfaßten, festgegliederten Körperschaften gebracht; und daß unser Volk nichts mehr von ihnen wissen wolle, kann man angesichts eines fortdauernd sich mehrenden Kirchenbaus, dazu der recht erheblichen Geldopfer, die jahraus jahrein für kirchliche und religiöse Zwecke, für innere und äußere Mission, für eine Unzahl von Vereinen und andere derartige Zwecke gebracht werden, ferner der fast widerstands- los aufgenommenen Kirchensteuer, der reichlich sich findenden Laienkräfte für Besetzung des Kirchenvorstandes und überhaupt eines ungehemmten Fortganges des gottesdienstlichen Lebens wahrlich nicht sagen. Das alles zwingt zu dem Schlüsse, daß die überlieferten kirchlichen Formen minde- stens einem Massenbedürfnis entsprechen. Erscheinungen Andererseits aber fehlt doch recht viel, daß dieser Kirche die Wucht

des Nieder-

gangs. einer das Gesamtleben durch Sitte, Zucht und Gewöhnung beherrschenden Autorität oder die Kraft einer das Individuum sicher für ihre Zwecke er- ziehenden Gemeinschaft zukäme. Sieht man von den nicht eben die Regel bildenden Orten und Landstrichen ab, die noch im Rufe spezifischer Kirch- lichkeit stehen, so ist wenigstens in Deutschland ein langsam, aber stetig sich vollziehender Rückgang des kirchlichen Lebens festzustellen. Es gibt süddeutsche Städte, da höchstens 30 °/q , norddeutsche, da nur 3 ^^ der Be- völkerung zur Kirche gehen. Neuerdings will man in diesen Schichten hin und wieder Hebungen des kirchlichen Interesses bemerken, wogegen in der bäuerlichen und mehr noch in der Arbeiterbevölkerung die Unkirchlich- keit immer weitere Kreise zu ziehen droht. Gleichzeitig geht, während die Stadtbevölkerung rapid zunimmt und die Pfarrstellen sich mehren, die Zahl der Theologiestudierenden merklich zurück. Die Autorität des Pfarrers aber hängt, wo sie überhaupt noch vorhält, jedenfalls ungleich mehr an der Person als am Amt. Zu niedrig ist es schwerlich gegrifi^en, wenn man die Zahl derer, für deren geistiges Dasein er und mit ihm die Kirche überhaupt in Betracht kommen, etwa durchschnittlich auf den dritten oder vierten Teil der Gesamtbevölkerung schätzt. Was an nicht wenigen Orten darüber hinausgeht, könnte leicht auf Rechnung der lieben Ge- wohnheit kommen. Nimmt auch die Zahl der Kommunikanten ab, so will man doch immerhin getauft, getraut und vor allem „mit kirchlichen Ehren

I. L'nihlick in der Gcfjonwarl. - I (

boordig-t" \vord(>n. Und zum stets von solbst wirksamen Gesetz der Träg- heit kommt bewußt und absichtlich noch die Türsorge des Staates da, wo er bei seinen Beamten auf Kirchlichkeit hält oder sich sonst in fühlbar werdender Weise die Aufgabe zuschreibt, dem Volke die Reli- gion zu erhalten. Gar zu leicht erzeugt sich dann freilich der unwill- kommene Eindruck, als handle es sich im Grunde nur darum, zugunsten von daran interessierten Kreisen gewissen Vorstellungen einen Zwangs- kurs zu sichern. Auch läßt sich die Tatsache nicht in Abrede stellen, daß es vielfach in gesitteten und g^ebildeten Kreisen als eine Sache des Anstandes gilt, dem Alltagsleben einen „religiösen Hintergrund" zu geben, wie ihn der Geistliche in gehobenen und ernsten Momenten des Lebens zu besorgen hat, und daß man hinter dem Beispiel, das auf den höheren Stufen vorbildlich geboten wird, nicht gern zurückbleiben will. Um zunächst die Aufzählung der Nachteile im Bilde des religiösen Durch- schnittstandes zu vollenden, steht auch sehr zu vermuten, daß nicht allzu- selten noch ein Bodensatz von Aberglauben zu dem beschriebenen Gesamt- effekt beiträgt. Hält man die Wirksamkeit aller dieser Momente dem gegenüber, was andererseits unzweifelhaft auf Rechnung noch vorhaltender Glaubensstärke und redlicher Überzeugungskraft zu setzen ist, so begreift man die hier und da laut werdenden Zweifel hinsichtlich dessen, was unter Voraussetzung des Wegfalls jener nebensächlichen Motive und ge- wohnheitsmäßig wirksamen Stützen noch übrig bleiben möchte, um die Fortexistenz des labilen Gleichgewichts einer solchen Kirche äußerlich zu sichern und innerlich zu rechtfertigen. Wenn in den Vereinigten Staaten Amerikas die konfessionellen Interessen sich gegenüber den all- gemeinen kulturellen, nationalen und ethischen Tendenzen in einer Weise abgegrenzt haben, daß selbst bei günstigster Ausdeutung- der statistisch kaum festzustellenden Sachlage nur 50 unter 76 Millionen Menschen zu einer der dortigen ungefähr 50 religiösen Denominationen sich halten, während mindestens 5 Millionen sich offen als religionslos bekennen, so zeigt das, wie die Dinge sich unter entsprechend veränderten Umständen auch in der europäischen Kulturwelt gestalten könnten und wie wenig darauf zu geben ist, wenn beispielsweise im Deutschen Reich unter bald 60 Millionen nur etwa 7000 konfessionell Anonyme sich befinden, alle übrigen aber gut protestantisch, katholisch, jüdisch oder sonst etwas zu sein scheinen. Be- greiflich genug, solange der Staat sich im Gegensatz zu Amerika nach der Konfessionsangehörigkeit seiner Bürger bei gar mancher Gelegenheit um- sieht und ausgesprochen Konfessionslose nur ausnahmsweise zu öffentlichen Ämtern gelangen. Frankreich steht in dieser Beziehung zurzeit vor einer Krisis, deren Ende kaum abzusehen ist. Einstweilen darf man annehmen, daß von den nicht ganz 40 Millionen Katholiken dort nur etwa 1 1 Millionen diesen Namen tatsächlich bewähren. In der Provinz g'eht das kirchliche Leben vielfach noch stark im Schwange; aber auch da fehlt es schon keines- wegs an Ortschaften, wo die Sonntagsmesse außer von einigen Weibern

Religion.

■7 12 Heinrich Julius Holtzmann: Die Zukunftsaufgaben d. Religion u. d. Religions-wissenschaft.

nur vom Pfarrer und Meßner besucht wird oder wo sogar weder Meßner noch Chorknaben mehr aufzutreiben sind.

Bilanz der Kaufmännisch ausgedrückt würde ein statistisches Resultat von der

g-eschilderten Art wohl Unterbilanz und Bankrott bedeuten. Aber für uns liegt die Sache doch wesentlich anders, und zwar schon bei gleich- mäßigerer Beobachtung der Erscheinungen, die sich auf der Oberfläche des religiösen Lebens der christlichen Völker einstellen. Denn während in den zivilisierteren Teilen Europas die Mehrheit religiös sich vielfach indifferent, ja indolent erweist, sind dafür die der Kirche noch ergebenen Schichten meist von rühriger oder wenigstens erregbarer Xatur; sie sind zur Wahlurne zu treiben und auch sonst für Kampfzwecke mobil zu machen, so daß eine verhältnismäßige Minderheit tatsächlich als der über- wiegend aktive Teil des Ganzen erscheinen kann. Es bezeichnet die Situation, wenn kürzlich ein süddeutscher Bischof die Gläubigen geradezu auffordern konnte, „sich zu Sturmkolonnen und Schlachthaufen zu for- mieren". Auch im protestantischen Lager gibt es noch ländliche Kern- truppen und sonstige Ansätze zu einem lutherischen Feldlager, innerhalb dessen man sich im Besitze einer handfesten Glaubenssubstanz weiß und in unverdrossener, ehrlicher Übung eines ihr entsprechenden Systems religiöser Praxis begriffen ist. Die Tatsache aber, daß ein großer Teil der Mitlebenden, zumal in bürgerlichen Kreisen, dabei nicht mittun will, fühlt man katholischer- wie evangelischerseits leicht als Beleidigung, als Herausforderung, als Angriff. Damit ist die chronische Kriegsstimmung gegeben, von der aus akute Fälle, wie wir sie nicht bloß auf kirchen- politischem, sondern auch auf wissenschaftlichem und künstlerischem Gebiete fortwährend erleben, begreiflich genug werden. Gleichzeitig ist damit frei- lich eine Sachlage geschaffen, welche die Religion fast mehr als Gefahr, denn als Schutz und Förderung für die Kultur erscheinen lassen könnte.

Reiigions- „Wohltätig ist des Feuers Macht." Das Wort gilt auch von der

Wärme ausstrahlenden Flamme auf den Altären der Religion. Aber von derselben Macht heißt es im Liede weiter: „Wehe, wenn sie losgelassen!" Eine Religionswissenschaft, die sich auf historischem Grunde auferbaut, hat mit dem lukrezischen: ^^tantinii religio pofiiH suadcrc i/ialornifi'^ zu rechnen. Nur unmittelbarer wird diese dem Kulturleben auf allen Gebieten unserer staatlichen und privaten Existenz drohende Gefahr empfunden, wo Romanis- mus und Jesuitismus den deutschen Genius bedrängen; nachweisbar besteht sie unzweifelhaft auch im protestantischen Staats- und Volkskirchentum. Andererseits sind es nicht etwa bloß Protestanten, sondern auch gutkatho- lische deutsche Männer und Frauen, die in dem Romanismus ein schweres Hemmnis wie für die freie Selbstbestimmung des Einzelnen, so für die fröhliche Selbstentfaltung der Gemeinschaft, eine alle Grundlagen unseres Kulturlebens, die Selbständigkeit des Unterrichtswesens, der wissenschaft- lichen Forschung und der Kunstausübung mit Zersetzung und Untergang bedrohende, die rechte Freude an Vaterland, Staat und Gesellschaft gründ-

gefahren.

I. Umblick in der (ufjcnwart. yi^

lieh verderbende Macht erkennen. Damit ist die Möglichkeit gegeben für Erfüllung einer der dringlichsten Aufgaben unserer abendländischen, zumal der deutschen Konfessionen. Eine auf Einschläferung dieser Gegen- sätzlichkeit gerichtete Tendenz hätte wenig Aussicht auf Erfolg. Wohl aber wäre gegenseitige Annäherung und Verständigung aus patriotischen wie aus religiösen Gründen zu pflegen. Noch fehlt es glücklicherweise weder an Katholiken noch an Protestanten bei uns, die das Heil der Zu- kunft in diesem Zeichen erblicken und Wege suchen, um sich gerade vermittels gemeinsamer Kulturarbeit zuerst menschlich, dann auch religiös verständlich zu werden.

Aber wie sollten solche Wege aufzufinden und gangbar zu machen sein, wenn nicht unter Anleitung einer Religionswissenschaft, die uns trotz

aller zentrifugalen Kräfte der historischen Religionen stets die zusammen- Eingreifen

_ _ der wissen- führende Alacht der Religion selbst als einer konstant und gesetzmäßig wirk- sciiaftiiciua

_ Religionskundf

samen Funktion des menschlichen Geisteslebens zu vergegenwärtigen ver- möchte? Es war ein verheißungsvolles Zeichen der Zeit, als 1874 auf dem internationalen Orientalistenkongreß zu London Max Müller die Heraus- gabe der „heiligen Bücher des Ostens" anregte. Seither sahen wir aus der vergleichenden Sprachwissenschaft und Völkerkunde eine vergleichende Religionswissenschaft erwachsen, die immer tiefere Einblicke in die wesentlich identischen Gesetze der Bildung eines religiösen Vorstellungs- gehaltes, zugleich aber auch immer neue Fernsichten in die unendliche Mannigfaltigkeit und Kompliziertheit des religiösen Lebens der Mensch- heit eröffnet und selbst in den verschiedensten und entlegensten Reli- gionen gewisse allgemeine Richtlinien und Grundzüge erkennen läßt, die in t}'pischer Eigenart auf bestimmten Stufen der Entwicklung wieder- kehren. Auch das Christentum ist auf diesem Wege in den allgemein- religionsgeschichtlichen Prozeß hineingezogen, die außerchristlichen Ein- wirkungen auf die Gestaltung des Dogmas und des Kultus sind nach- gewiesen, die schmale Linie, auf der sich sein biblisch begrenzter Offenbarungsbegriif bewegt hatte, zur breiten Bahn der Völkergeschichte ausgeweitet worden. In England, Frankreich und Deutschland sind Zeit- schriften und Vereine den Interessen der allgemeinen und vergleichenden Religionswissenschaft gewidmet, da und dort, besonders in Holland, auch Lehrstühle dafür errichtet worden, so daß eine ausschließlich theologische Behandlung und Erledigung selbst der Probleme unserer biblischen Wissen- schaften von Tag zu Tag untunlicher wird. Aber auch wo wie bei uns das Verhältnis zu den Kirchen die Erhaltung von eigentlich theologischen Fakultäten notwendig erscheinen läßt, wird das keineswegs bloß zu dem Zwecke zu geschehen haben, den Kirchen Dienste zu leisten und Prediger nach dem Herzen von jeweils dort herrschenden Richtungen, Koterieen und Majoritäten zu bilden, sondern um auch von dieser vSeite her Wissenschaft zu fördern^ den idealen Mächten gerecht zu werden und der allgemeinen Kulturaufgabe des Staates zu g'enügen. Denn auf sorgsame Pflege reli-

yiA Heinrich Julius Holtzmann: Die Zukunftsaufgaben d. Religion u. d. Religionsw-issenschaft.

giöser Verbildung und daraus entspringender Rückständigkeit in bezug auf sonstige Urteilsfähigkeit kann es dem säkularisierten modernen Kultur- staate doch im Ernste nicht ankommen. SeibständiKkcit Fast noch weniger aber als der Staat kann eine ihrer Zukunfts-

aufgaben bewußte Kirche gleichgültig dagegen bleiben, wenn sich in weiten Kreisen unseres Kulturlebens immer tiefer und hartnäckiger das Vorurteil einnistet, als sei sie, wie sie in der Vergangenheit kaum jemals alten Irrtümern der Welterkenntnis freiwillig entsagt hat, so auch für jede Zukunft dazu verurteilt, sich im Hintertreifen alles auf Erkenntnis und Bewältigung der Wirklichkeit gerichteten Kampfes zu halten. Würde sich die Kirche nur immer auf ihrem eigensten Lebens- gebiete, dem der Religion, recht auskennen, so könnte sie sich überhaupt aller ängstlichen Sorge um das Geschick einer durchweg zeitlich bedingten und daher mannigfachen Schwankungen ausgesetzten Theologie begeben. Denn eine tiefgründige Religionswissenschaft kann darüber keinen Zweifel belassen, daß in keiner Folgezeit irgendwelche religionslose Kultur im- stande sein wird, das eigentliche und einzige Wunder, nach dem uns ver- langt, zu leisten, nämlich die herbe Spannung zwischen dem Lebensdrang der Persönlichkeit und dem mechanischen Widerstand des Stoffes zu lösen, den kräftig fühlenden Menschen des Geistes mit seinem Dasein und Ge- schick als Naturwesen zu versöhnen, sein inneres Erleben mit dem äußeren auszugleichen. Auch das Ideal einer alle menschenwürdig^en Zwecke um- fassenden und darum für die Religion Ersatz bietenden Sittlichkeit sichert nicht vor den schwersten Enttäuschungen, die immer wieder den Verdacht hervorrufen, als laufe aller Enthusiasmus für Gutes und Edles zuletzt nur auf einen verfeinerten Egoismus, auf praktischen Materialismus, auf utilita- ristische Geltendmachung sehr relativer Werte hinaus. Wer solche Er- fahrungen zur Genüge an andern und an sich selbst macht, sehnt sich wohl nach einer fester versicherten Gewähr der Selbstbehauptung gegen skeptische und pessimistische Anwandlungen für das Individuum und nach einer religiös bindenden, kein sophistisches Entrinnen gestattenden Sanktion für die Sozialethik. Moderne Zwcifelsohnc ist heute die Zahl derer, die auf solche Wege einbiegen,

die RiüKion. im Wachscn, die religiöse Welle insofern im Anschwellen begTiffcn. Die Wende des letzten Jahrhunderts kennt eine in dieser Richtung- gehende, meist durchaus laienhafte Bewegnng: man spricht von „Gottsuchern" und dergleichen. Jedenfalls stünde es schlimm, wenn eben diesen die Kirche als Universalrezept und Generalkur für alle sittlichen Bedürfnisse und seelischen Schäden der Zeit nichts zu bieten hätte, als Begriffe und Vor- stellungen, die auf der Grundlage einer teils noch antiken, teils erst mittel- alterlichen Metaphysik erbaut und von Haus aus auf den ptolemäischen Makrokosmos und auf den Mikrokosmos einer dualistischen Anthropologie zugeschnitten, eben darum aber heute unvollziehbar geworden sind. Mehr oder minder gilt dies aber überhaupt von aller traditionellen Scholastik,

I. l'ml>lick in drr ricf^'rnwiut. TIS

katholischer wie protestantischer. Der im berechtigten Sinne des Wortes „moderne" Mensch charakterisiert sich in irgendwelchem Maße durch Dogmenentfremdung. Er hat wenig Geschmack an den schemenhaften Revenants der Vergangenheit; er entledigt sich mit Fleiß und Bedacht romantischer Schrullen, wo er solche an sich entdeckt; er verlangt auch vom Nebenmenschen als Vorbedingung für ernsthaften Gedankenaustausch Bändigung luxuriercnder Gefühlsmotive, Entwöhnung von der Hingabe an sentimentale Stimmungen und weiche Phantasieen. Sein Wirklichkeitssinn fordert entschlossen Ergebung in das Gesetz des Weltverlaufs, bedingungs- und rückhaltslose Anerkennung sowohl für die mathematisch konstruierte und mechanisch wirksame Natur, als auch für den auf solchem Unterbau mit der lückenlosen Konsequenz alles kausalen Geschehens sich voll- ziehenden und dabei doch letztlich immer vorwärts weisenden, aufwärts zielenden Geschichtsverlauf, vor allem aber Unabhängigkeit von jeder in den Ausbau der inneren Welt des Gedankens und des Gemütes sich von außen eindrängenden Bevormundung, also Eigenart, Selbständigkeit und Selbstverantwortlichkeit der in pflichtgemäßer Erfüllung eines ehrlichen, Anlage und Kräfte ausnützenden Tagewerkes heranreifenden und zu wahr- haft geistigem Dasein erstarkenden Persönlichkeit. Daß dies alles nichts anderes bedeutet als Berührung mit dem Göttlichen und daß es nur in der daraus fließenden stetig'en Erneuerung eines Innern Eebensfonds erst seinen sichern Zusammenhalt und Abschluß finden kann und muß: dies zu zeigen ist die wahre Zukunftsaufgabe alles Wissens um das Woher und Wohin der Religion. Einen Vorbau dazu liefert die vergleichende Reli- gionsgeschichte. Aber hinter dieser reproduktiven Arbeit der Religions- wissenschaft steht eine produktive Tätigkeit, für deren Walten die Vor- stellungswelt aller historischen Religionen nur phantasiemäßige, ja größten- teils geradezu phantastische Deutungsmittel darstellt. wSo fließend hier der Natur der Sache nach die Grenzen zwischen Glauben und Aberglauben auch erscheinen: die Lehre von der Phantasie als dem unumgänglichen Ausdrucksmittel religiösen Erlebens darf zum eisernen Besitz der Religions- wissenschaft geschlagen werden. Ebenso gewiß aber ist es, daß nur eine fest und sicher geschlossene Fühlung mit dem gesunden Kulturleben diese Bildersprache der Religion vor Exzessen und Absurditäten, vor Abenteuern und Irrlichterei bewahren, sie zum Organ des edelsten Idealismus aus- bilden und ihr Macht verleihen kann zur stetig fortschreitenden Säuberung der Gedankenwelt von lilementen, die, weil sie einer versunkenen Schicht des Gesamtlebens angehören, heute nur noch verwirrend für das Indivi- duum, zersetzend für die Gemeinschaft, kompromittierend für die Religion selbst wirken können. Ausgleich und Verständigung mit den ethischen, weiterhin mit den logischen, endlich auch mit den ästhetischen Bedürf- nissen und F'orderungen des modernen Menschen muß und kann angestrebt werden, ohne daß dabei die Quellen, daraus die Religion ihre Frische schöpft, verschüttet würden.

yiö Heinrich Julius Holtzmann: Die Zukunftsaufgaben d. Religion u. d. Religionswissenschaft.

Dogmauiui Rcii- Dem, was man g-emeinhin „Glauben" „Gläubisfsein" oder sfar „Recht-

•■ionsgeschichte. ^ , , o ^7

gläubigkeit" nennt, ist eine solche Stimmung der Geister natürlich wenig günstig. Denn es ist eine Folge der Klarheit, womit wir heute den ge- samten dogmenbildenden Prozeß zu überschauen und die Hergänge bei der Geburt eines Dogmas (haben wir eine solche doch 1870 noch erlebt) zu verzeichnen und abzuschätzen wissen, wenn frühere dogmatische Kämpfe uns nach ihren historischen Bedingtheiten ebenso immer verständlicher, wie bezüglich des Aufwandes von Denkkraft und mehr noch von Gemüts- und Willensenergie, womit sie geführt wurden, immer unverständlicher werden. Bis zu einem gewissen Grade vermag der geschulte Theologe solches noch zu empfinden. Der theologisch dilettierende Laie und dieser stellt ein Hauptkontingent zum Lager der heutigen Kultunvelt kann das kaum. Denn er ist mit seinem ganzen sonstigen Denken über die Linie hinausgerückt, auf der jene Streitobjekte lagen. Was einst Athanasius und Arius, was Augustinus und Pelagius, was Thomisten und Skotisten miteinander zu verhandeln hatten, ist heutzutage für Kreise, die gewohnt sind, sich nicht mit Worten abspeisen zu lassen, nach den religiösen Mo- tiven, die sich dabei doch wirksam erwiesen, nur sehr schwer deutlich zu machen. Aber auch der Marburger x\uftritt zwischen Luther und Zwingli erregt als Kundgebung mißverstandener religiöser Bedürfnisse gewöhnlich nur Unmut und Bedauern; und selbst das ist nicht eben ganz leicht ver- ständlich zu machen, wie in der Rechtfertigungsfrage zwei grundver- schiedene Auffassungen des Verhältnisses von Religion und Sittlichkeit, von Gott und Welt sich wechselseitig auseinanderzusetzen hatten. Ohne Zweifel aber wird eine Zeit kommen, da selbst leitende und führende Kreise des Kulturlebens für die Kämpfe unserer unmittelbaren Vergangenheit um „Heilstatsachen", Offenbarung, Wunder, Inspiration, Apostolikum u. a. kaum ein größeres Maß von Verständnis aufzubringen haben, wie heute etwa für die Sakramentsstreitigkeiten des Reformationszeitalters, die doch einst so verheerend gewirkt und den sieghaftesten Lebenstrieben des Protestantismus ein frühes Grab bereitet haben. Für die damalige Theo- logie handelte es sich um Heilsgewißheit, für die heutige handelt es sich um Wahrheitsgewißheit als Voraussetzung für jene. Seit den Tagen Kants und Schleiermachers datiert eine nie ganz unterbrochen gewesene Folge von Entdeckungsreisen in die dunklen Fernen der religiösen Psycho- logie und Erkenntnistheorie und sind dadurch dem uferlos scheinenden Ozean immerhin einige Streifen Festland abgewonnen worden, darauf ein Neubau der Lehre von Gott versucht werden mochte. Denn das gehört wesentlich zur unterscheidenden Signatur der Gegenwart, daß sich infolge fortgesetzter Untersuchung der Religion als Bewußtseinsphänomen die Geister immer mehr um diese eine Frage, um das „kurze Wort mit dem langen Sinn" sammeln, im auffälligsten Gegensatz zur Zeit der Aufklärung und des Rationalismus, die noch wenigstens über Gott im reinen war oder zu sein glaubte. Als Übergangsperiode, gekennzeichnet durch

I

I. Umblick in der ficgenwait. n i n

sch\vaiik(Mide und laue Überzeuguiigeu, erscheint von der Höhe geschichts- philosophischer Betrachtung" aus jedes Zeitalter, das über keine einheit- liche Gottes- und Weltanschauung mehr verfügt. W^ir Heutigen sind zum guten Teil in solchem Fall, seitdem die religionsgeschichtliche Forschung die zwischen einer heiligen und einer profanen Welt gezogenen Schranken gesprengt und das dogmatisch abgesperrte Gebiet einer exklusiven Heils- geschichte beseitigt hat.

Allerdings stehen dem Vollzug' eines aus unverjährbaren Ansprüchen go« a<-r der Menschenseele ableitbaren Gottesbegriftes gerade jetzt auch für fest und ehrlich an der Kulturarbeit beteiligte Geister Schwierigkeiten ernsthaftester und zuvor nicht in gleichem Umfange empfundener Art entgegen. Zu seiner Zeit konnte Kepler es als „höchsten Wunsch" kundgeben, „den Gott, den ich im Äußern überall linde, auch innerlich, innerhalb meiner gleichermaßen gewahr zu werden". Er ahnte das auf seine Entdeckung der Planeten- bahnen folgende Gravitationsgesetz und verlangte nach Gott als einem Schwerpunkt des Innenlebens. An der Aufgabe, diesen zu finden und den gefundenen festzuhalten, verzweifeln die Heutigen zumeist angesichts widersprechender äußerer Erfahrung. Um vor allen diesen Dämon zu be- zwingen, bemüht sich unsere Religionswissenschaft um einen Gottesbegriff, mitbedingt zwar durch Rückschlüsse aus der Verarbeitung äußerer Er- fahrung, aber doch wesentlich ruhend auf rein innerem Erleben und keiner Erwürgung durch die beklemmende Übermacht äußerer Wider- fahrnisse ausgesetzt. Hier stellt sich die oberste aller Schicksalsfragen an die Theologie der Gegenwart und Zukunft. Seitdem infolge der von dem „Allzermalmer" Kant im geistigen Kosmos eingeleiteten Revolution sowohl Naturmechanismus als Geschichtspragmatismus eine deutliche Ant- wort versagen, sehen sich unsere „Gottsucher" ganz auf den innersten Zufluchtsort des Gemütes, des sittlichen Willens und des Gewissens, wenn nicht geradezu auf den dunkeln, unbewußten Untergrund des Seelen- lebens verwiesen. Dabei erscheint das religiöse Durchschnittsurteil der heutigen Kulturwelt in der Regel bedingt und begrenzt durch die beiden Goetheschen Sprüche von dem Gott, der „tief mein Innerstes erregen kann", aber „nach außen nichts bewegen" und ebensowenig „von außen stoßen". Sie enthalten das Bekenntnis derjenigen, welche anders ihr eigentliches Selbst, den geistigen Kern ihres Daseins nicht vor Auflösung und Zersplitterung im Atomen Wirbel zu retten, ihre Unabhängigkeit und Selbstbehauptung als Personwesen dem gegen das sittliche Bedürfen und Streben gleich- g-ültigen Xaturverlauf und den Wetterlaunen des Geschicks nicht abzu- ringen, ihren Frieden nicht zu finden wußten. „NU Lutcrius Deo'' heißt das Losungswort für ein aus der Verschlingung mit kosmologischen und physikalischen Fragen ausgelöstes Gottesbewußtsein. Gott wnll erfahren sein als zusammenhaltende Kraft unseres Innenlebens, als Einheits- und Ruhepunkt aller seelischen Bewegungen. Eine zu ihm hinleitende Spur bedeutet es, wenn einem unverbrüchlich, aber stumm und blind walten-

y l8 Heinrich Julius Holtzmann: Die Zukunfihaufgaben d. Religion u. d. Religionswissenschaft.

den Naturgesetz die aus ihm selbst doch nicht ableitbare Macht ge- geben ist, Bewußtsein hervorzubringen, Willenskräfte zu entfesseln, schließlich also allem Licht und Leben, aller Freude und Herrlichkeit, die im Reich der Geister erblüht, zum Dasein zu verhelfen. Auf diesem Ereignis aller Ereignisse beruht das Recht zur Rede von „Gott in der Natur". Gott in der In erstcr Linie handelt es sich heute immer um die Religion selbst; die

Christlichkeit bildet erst das nächste Problem für eine Periode der Kritik, da die geschichtlichen Unterbauten der positiven Religionen mächtig er- schüttert und speziell infolge tiefer greifenden Wissens um den in der Mythen- und Legendenbildung wirksamen psychologischen Drang und Zwang der „Jesus der Geschichte" mit den Erdfarben seiner stark eschato- logischen Stimmung und der „Christus des Glaubens" mit dem Wunder- glanz der Theophanie weit auseinandergetreten sind. Damit ist aber keines- wegs die Möglichkeit eines inneren Anschlusses unserer religiösen Über- zeugung an eine Persönlichkeit hinfällig geworden, die sich auf alle Fälle vollkräftig genug erwiesen hat, um als unvergängliches Zeugnis ihrer religiösen Überlegenheit ein dauerhaftes Bewußtsein vom Adel der Gottes- kindschaft und ein aller Verunstaltung doch schließlich immer wieder trotzendes, unbesiegliches Motiv der Menschenliebe und opferwilligen Hin- gabe zu hinterlassen. Die weltfreie, ihrer selbst gewisse, dabei doch liebe- glühende, Licht und Wärme in das tote Naturleben der Menschheit strah- lende Persönlichkeit allein bildet gleichsam Reflex und Signal eines zeit- und raumlosen Gottwesens innerhalb der Erscheinungswelt. In dieser Richtung ist nichts Unvergeßlicheres in das Stammbuch der Menschheit gezeichnet, als was ihr Jesus von religiösen und sittlichen Bildungs- kräften zugeführt hat, ein großes Kapital von Friede und Hoffnung, von dem zehrend sie dem Druck und Geschick eines ganz minderwertigen, durchaus gleichgültigen Naturdaseins entwächst. Wem dafür der Sinn geöffnet ist, der versteht auch das Recht der Rede vom „Gott in der Geschichte". Verjüngung der In diesem Sinnc ist es zu verstehen, wenn in unmittelbarer Gegen-

wart eine Annäherung an die Kirche auch in hochgebildeten, ästhetisch empfindenden und philosophisch geschulten Kreisen besonders da zu be- merken ist, wo zugleich die berufsmäßigen Verkündiger der Religion sich nicht als geschworene Vertreter eines offiziell stilisierten Glaubens fühlen, vielmehr das Recht der Gegenwart unseres inneren Lebens gegenüber jeder Vergangenheit des Denkens und Fragens wahren, indem sie zu- gleich die auf ein volles und selbständiges Personleben gerichtete Ten- denz des Evangeliums sowohl selbst begriffen haben, als auch begreiflich und erfahrbar zu machen verstehen. Immer vernehmlicher umtönen uns heute Stimmen der Sehnsucht, danach verlangend, den Menschen sub specie aeternitatis zu verstehen, einen in den schwer zugänglichen Tiefen des Seelenlebens doch nur zeitweise schlummernden Keim des Menschen-

If. Ausblick in die Zukunfl.

719

Wesens zu wecken, ans Tag^eslicht lie raufzuarbeiten und ihm einen uner- schütterlichen Halt dadurch zu bereiten, daß ihm seine, gefühlsmäßig immer vorhandene, Verbindung mit dem Weltgrund rückwärts, mit dem Weltziel vorwärts zum Bewußtsein gebracht und dadurch die Möglichkeit gegeben wird, innerlich Stellung dazu zu nehmen, um so über die herbsten Span- nungen des Lebens hinauszukommen und sie im Frieden des Ewigen auszugleichen. Oft genug glaubt man mit Gott auseinander zu sein, weil gewisse Fassungen des Gottesbegriifes bald dem unbestechlichen Denken, bald dem unverfälschten Gefühl widerstreben. Und doch ist es einfach nicht wahr, daß zwischen Gott und der enttäuschten, nüchtern gewordenen Menschheit des 20. Jahrhunderts der Draht abgerissen sei. Die alten, ewigen Fragen sind gerade dem gegenwärtigen Geschlecht wieder näher gerückt, so daß man gar nicht umhin kann, ihrer immer wieder ansichtig zu werden. Literatur und Kunst lassen mehr als noch vor einem Menschenalter eine Tendenz auf Fühlung mit der intimsten Angelegenheit des Menschenherzens erkennen. Wer etwas zu sagen hat, was als eigenst Empfundenes, Gedachtes, Erlebtes und womöglich auch im eigensten Aus- druck Geprägtes jenem Totalitätsgefühl und Ewigkeitsdrang entgegen- kommt und dabei zugleich gesichert erscheint gegen jeden Verdacht begehrlicher Hintergedanken oder schwachherzigen Paktierens mit der sancfa sünplici/as und ihrem in geringen wie in vornehmen Kreisen immer blühenden Kultus, der wird sicher auch ein Echo finden, wie es am Morgen eines neuen Religionstages einst Schleiermacher in vorbildlicher Weise gefunden hat.

IL Ausblick in die Zukunft. Aber haben derartige ernsthaft srhwirrigkcitcn gemeinte Versuche zur Weiterbildung der Religion irgendwelche Aus- " °^^ ' ' """' sieht, volkstümlich zu werden und durchschlagend zu wirken? Ein vor- urteilsloses Wissen um das Wesen der Religion einerseits, um ihre Er- scheinungsweisen andererseits trägt uns allerdings die zunächst nieder- schlagende Erkenntnis ein, daß religiöse Motive und Vorstellungen als wirksame Macht, mit der man zu rechnen, auf die man sich einzu- richten hat, nur da sich zu bewähren scheinen, wo diese Vorstellungen möglichst massiv und deshalb auch verständlich für den sinnlichen Menschen, jene Motive möglichst zugkräftig durch Inanspruchnahme seines natürlichen, wenngleich in fromme Formen verkleideten, Egoismus auftreten; handgreiflich jene, handhablich diese. Das eben gehört wesent- lich zum Kapitel von der Religion als Gefahr für die Kultur. Stets drohenden gemeingefährlichen Explosionen dieses unter dem Kulturboden des modernen Lebens glimmenden Feuers durch zeitgemäßes Öffnen und Schließen von allerhand großen und kleinen Ventilen zu steuern, dagegen, was sonst noch von religiösen Spannkräften vorhanden ist, teils möglichst unschädlich in kirchlichen Demonstrationen, Schau- und Prunkstücken sich entladen zu lassen, teils aber auch praktisch nutzbar zu machen gegen

*f20 Heinrich Julius Holtzmann: Die Zukunftsaufgaben d. Religion u. d. Religionswissenschaft.

Staats- und gesellschaftsfeindliche Bestrebungen: das gilt wohl mehr oder weniger als Triumph der Kirchen- und Staatskunst, und von einer so beschaffenen Wirklichkeit abstrahiert der politisch gebildete Verstand von heute immer noch meist seine Begriffe vom Wesen und Zweck der Religion. „Man muß sie nehmen, wie sie ist." „Man muß die Feste feiern, wie sie fallen." In der Tat ist es ja unzweifelhafte Wahrheit, daß die Religiosität der Massen einfach von der Überlieferung lebt und ihre Erhaltung dem Gesetz der Trägheit und der Macht der Suggestion verdankt. Jede Volks- kirche insonderheit laboriert an der schweren Belastung, die ihre eigene Vergangenheit ihr auferlegt. Je länger, je verdrießlicher wird es dann freilich, sich an solchem Ballast müde schleppen zu sollen; man wird der ewigen Akkommodation an vergangene Denkformen satt. So ist es zu dem heute allerwärts klaffenden Riß gekommen. Ganz unvermeidlich wird und muß in Zeiten der gewaltig aufstrebenden Betriebsamkeit auf politischem, sozialem, technischem, künstlerischem, wissenschaftlichem Gebiet eine als Dogma, Kultus und Kirchentum stabil gewordene Frömmigkeit den Eindruck des hinter der Gesamtentwicklung Zurückgebliebenen, Rückständigen, Über- holten machen. Das Gold der Religion kommt eben immer nur legiert, mit minderwertigen Metallen stark versetzt und dadurch gleichsam hart- knochig gemacht in Kurs. Die in die Phantasie ausströmende und Energie im guten, wie im schlimmen Sinne erzeugende Wärme der Religion ruft zugleich eine bunte Mischung sowohl von gesunden Vorstellungen wie von Wahngebilden ins Leben. Erfahrimgsmäßig scheint dem religiösen Enthusiasmus Mut und Kraft zur Entfaltung selbst wohltätig wirkender Energie nicht selten nur unter der Bedingung geistiger Enge und be- schränkten Blickes vergönnt zu sein. Ohne einen mehr oder weniger aus- gedehnten Besitz von Mythologie, Superstition, Ritualismus und Sakra- mentarismus hat es wenigstens bis auf den heutigen Tag keine kirchlich ausgebaute, in die historische und politische Rechnung einstellbare Reli- gion gegeben. Je unabweisbarer diese Beobachtung sich aufdrängt, desto begreiflicher wird der Eindruck, den das Christentum, den über- haupt die Religion auf ungezählte Zeitgenossen macht, als habe man es nach der Lehre des positivistischen Illusionismus lediglich mit einer phan- tastischen Strahlenbrechung am Alorgenhimmel zu tun, die mit tödlicher Sicherheit der natürlichen Tageshelle weichen müsse. Daher rührt es, wenn nach dem Urteile vieler die Religion heute die öffentliche Meinung gegen sich hat, und zwar nicht bloß aus bekannter Abneigung gegen dogmatisches Denken, sondern ebenso sehr auch deshalb, weil in der christlichen Sittenlehre von Haus aus wesentliche Bedingungen für den sozialen und ökonomischen Fortschritt außer acht gelassen sind, und sie daher jeder fruchtbaren Beziehung und Anwendbarkeit auf unser gegen- wärtiges gesellschaftliches Leben zu entbehren scheint. Zeigen doch die der Neuzeit angehörigen Bemühungen um das Leben Jesu eine stetig wachsende Übereinstimmung der zuständigen Forschung in der Erkenntnis,

II. Ausblick in die Zukunft.

721

daß für ihn Familie und Vaterland einen andern Klang hatten, als für uns; daß seine Ethik wenig Sinn und Interesse verrate für den Ausbau der menschlichen Gesellschaft in der Richtung auf Arbeit und Erwerb, Rechts- schutz und Staatsbildung, Wissenschaft und Kunst. Forderungen des Rechts und Interessen der Macht sind ja zweifellos nicht von der Berg- predigt aus zu regeln.

Es gehörte die unvergleichliche Entwicklungs- und Anpassungsfähig- Verhältnis zur

Kultur.

keit des christlichen Ideals dazu, um, was zunächst ohne alle Beteiligung der Kultur direkt nur den Tiefen einer ihres Ursprunges und Ruhepunktes sicheren und darum schöpferischen Persönlichkeit entquollen war, als belebende und befruchtende Gewässer auf die weiten Felder gemeinnütziger menschlicher Arbeit überzuleiten. Wie aber dieser allgemeine Kulturboden längst zuvor schon in erfolgreichster Weise bearbeitet gewesen war, so wird er zweifelsohne auch bis auf den heutigen Tag weiter angebaut, ohne daß eine von der Religion herkommende Beihilfe erforderlich schiene. An der Eigenart von Kunst und Wissenschaft, die beide in gleicher Weise in der Freiheit von der Kirche ihre Existenzbedingung haben, besteht ja heutzutage kein Zweifel mehr, und so auch nicht an der Unabhängigkeit der auf Kulturzwecke gerichteten sittlichen Arbeit von der Religion. Der mittelalterliche und altprotestantische Anspruch auf Alleinherrschaft der Religion ist erloschen; sie verschlingt lange nicht mehr alle Interessen; die selbständige Geltung weiter Gebiete, auf welchen die heutige Mensch- heit kulturell tätig ist, wird allgemein anerkannt.

Kultur im höchsten Sinne des Wortes ist Bew^ältigung der Natur, Die Pcrxöniich- Umschaffung derselben einerseits zu einem Organ, andererseits zu einem Symbol des Geistes, fortschreitende Bewährung der Überlegenheit des persönlich tätigen über das bloß mechanisch wirk.same Dasein, Ausnieiße- lung der Persönlichkeit aus dem Rohstoff der animalischen Menschheit. Es handelt sich um die Erziehung der Massen zu Persönlichkeiten: eine Aufgabe von ebenso demokratischer wie aristokratischer Art. „Viele sind berufen, wenige auserwählt." Das Letzte, was uns die Kulturarbeit eintragen kann, ist doch immer die steigende Kraftfülle am vergänglichen Stoif sich heran- und herausbildenden persönlichen Geistes als des höchsten erfahr- baren und denkbaren Wertes. Das bedeutet für eine zukunft.skräftige Richtung der modernen Theologie Umwandlung dieser Welt in eine Gottes- welt; hier, in der Verwirklichung an sich geltender, zeitloser Werte, sucht sie die Krone des Lebens und den Zweck des Daseins; daher auch eine konfessionell nicht voreingenommene Religionswissenschaft in der gesteigerten Klarheit der innersten Wertempfindung für das Per- sönliche die eigentliche, über alle Errungenschaften des antiken Denkens hinausgTeifende, Leistung des Christentums erblicken wird. Zu allen die Aufgabe der Kultur aussprechenden Prädikaten findet sich dann im reli- giös durchgebildeten Bewußtsein ein durchaus geeignetes, hierfür gleich- sam eigens vorgesehenes Subjekt hinzu, zumal wo dieses seiner sittlichen

Dlh Kl'Lll'K UKR GKüENWARr. I. ^. 46

^21 Heinrich Julius Holtzmann: Die Zukunftsaufgaben d. Religion u. d. Religionswissenschaft.

Selbständigkeit und Selbstverantwortlichkeit bewußte Subjekt zugleich auch über jene der Religion verwandte Stimmung und Fähigkeit ver- fügt, selbstlos in seinem Gegenstand aufzugehen und auch aus wissen- schaftlicher wie künstlerischer Betätigung ein heiliges Tun, einen Opfer- dienst zu machen. Mögen sich fernerhin die fromme Scheu vor der Kultur einerseits, die Feindschaft gegen Kirche und Christentum andererseits in gleicher Weise darauf versteifen, daß fortschreitende Dienstbarmachung' der Natur unter den menschlichen Willen, Weiterbildung der gesellschaft- lichen und bürgerlichen Ordnung zu immer deutlicher und wirksamer sprechenden Zeichen der Menschenhoheit dem Christentum in seiner ersten Erscheinungsform fremde Gedanken waren: wie allen wirksamen Größen der Menschheit, so trauen wir es erst recht dem Schöpfer der christlichen Ära zu, daß der Gehalt seines Personlebens mehr noch, als aus dem Querdiirchschnitt der urchristlichen Epoche, aus dem Längendurchschnitt der ganzen Geschichte erkennbar werde, zu der sein Auftreten den Anstoß gegeben hat, also aus dem, was er aus andern, was er aus solchen zu machen wußte, in denen er infolge Berührung mit immer neuen Kultur- faktoren auch selbst neue Gestalt zu gewinnen vermochte. Wir stehen auch in dieser Beziehung erst am Anfang einer Menschheitsgeschichte, und nur als Gesamterscheinung, nur nach der Rolle, die es in der Welt- geschichte gespielt und schwerlich etwa schon ausgespielt hat, läßt sich das Christentum in seinem Kulturwert beurteilen. Noch immer liegt die Führung der Geschicke der Menschheit bei den christlichen Völkern. Fraglos sind sie die vorzugsweise aktionsfähigen, namentlich die allein kolonisierenden Mächte der Erde. Das aber berechtigt mindestens zu keinem pessimistischen Gedanken bezüglich einer absehbaren Zukunft. Irgendwie wird diese schon aus der Vergangenheit des Christentums zu erraten sein, sofern dieses zu keiner Zeit der ergänzenden Beiziehung anderweitiger Elemente entraten mochte. Nachdem im Laufe der bis- herigen Geschichte nacheinander jüdische Theologie, hellenische Speku- lation, römische RechtsbegriiTe und Machtinstinkte, auch germanisches Gemütsleben ihm verschiedene Färbung angehaucht hatten, hat es seit dem Reformationszeitalter eine entschiedene Wendung nach der positiven Wertung natürlicher Lebensgüter und irdischer Berufsaufgaben genommen, während es gleichzeitig unter den Einfluß der humanistischen Kulturideale geraten ist, um schließlich bisher mehr phantasiemäßig geahnte Ideale von Gottesreich, Heil und Ewigkeit in den, unter seinem mitbestimmenden Ein- flüsse herangereiften, modernen Begriffen von den höchsten Gütern des Personlebens wiederzuerkennen. Hat sich sonach das Christentum bisher fähig erwiesen, sich in den verschiedensten Atmosphären zu akklimatisieren, immer neue Kulturwerte zu verarbeiten, so ist nicht abzusehen, warum bei fortgesetzter Verfolgung dieses Weges das nicht so weitergehen sollte. Das Christentum ist überdies die einzige von allen Weltreligionen, die ihre Grenzen heute noch stets weiter hinausrückt; und was kulturlose

II. Ausblick in ilie Zukunft.

lii

Völker im Laufe der beiden letzten Jahrhunderte an zivilisiertem Wesen und humaner Gesittung" empfani>en haben, verdanken sie fast ausnahmslos der christlichen Propaganda; einer religionslosen Kultur dagegen, wie sie im Gefolge von Handel und Geschäft dahin gedrungen ist, leider meist ganz andere Dinge, hier Einfuhr von Braimtwein und Opium, dazu neue Krankheiten, dort Behandlung der Eingeborenen, als wären sie böswillige Sträflinge von Haus aus.

Die Bezugnahme auf die Mission gibt noch Anlaß zu einer Beobachtung, Voikskuitur,

. . Kunst und

die geeignet ist, für die oben verzeichnete Tatsache zunehmender Kirchen- scimi,-. flucht ein Gegengewicht zu geben und das Gesamturteil auf richtigem Mittelwege zu erhalten. Denn der dem modernen Protestantismus gewöhn- lich fehlende gottesdienstliche Trieb gibt nicht einmal einen sicheren Maß- stab für die Machtstellung" der Kirche, geschweige denn der Religion selbst ab. Die großartige Bedeutung, die im Gegensatz zu fast der ge- samten Vergangenheit gerade während des letztvergangenen Jahrhunderts die Werke der äußeren wie der inneren Mission gewonnen haben, die zu außerordentlichen Leistungen befähigende Popularität des Gustav Adolf- Vereins auf protestantischem, der Pius-, Vincentius- und anderer Genossen- schaften auf katholischem Boden, die allseitig anerkannten Erfolge der christlichen Diakonie auf den Gebieten der Armen- und Kranken- versorgung, die mannigfachste Beihilfe zur ökonomischen, sittlichen und intellektuellen Volks Wohlfahrt, überhaupt die beispiellose Ausdehnung und Betriebsamkeit des kirchlichen Vercinsw'esens der Gegenwart: das alles wäre nicht wohl zu verstehen von der Voraussetzung aus, daß nur die regelmäßigen Kirchgänger oder gar Sakramentsgenossen dabei aktiv beteiligt sind. Aber auch einen geschmackvolleren Ausbau der gottes- dienstlichen Feier und eine ausgiebige und kostenlose Darbietung der MeisterAverke kirchlicher Kunst hört man heute als wichtige, ja vielfach als die eigentliche Zukunftsaufgabe der Kirche bezeichnen, und jedenfalls besteht die Tatsache, daß namentlich die Aufführung jener großen Ton- dichtungen des i8. Jahrhunderts, in denen der christliche Gedanke wohl seinen sieghaftesten Ausdruck auf dem Gebiete der Kunst gefunden hat, allenthalben viele Tausende von Menschen innerlichst berührt und gehoben, zugleich aber uns auch zu der tröstlichen Überzeugung verholfen hat, daß die höchsten Leistungen der Kunst keineswegs nur für einen, vornehm vom Kirchenvolk aus- und abgesonderten, Zirkel höher Gebildeter zugäng- lich und genießbar zu sein brauchen. Auch damit leistet also die Kirche zugleich Kulturarbeit, daß sie sich an der erst neuerdings recht deutlich empfundenen Aufgabe einer kün.stlerischen Erziehung unseres Volkes be- teiligt. Aber nur in freier Weise wird sie dies alles versuchen, in bezug auf schulmäßig geordnete Volkserziehung dagegen sich auf den ihr zu- gewiesenen Religionsunterricht beschränken, für dessen zeitgemäße Neu- gestaltung' ein verheißungsvoller Wetteifer theologischer und pädago- gischer Kräfte in Gang kommen will. Auch hier muß es Taktik der

4C*

n ZA. Heinrich Julius Holtzmann: Die Zukunftsaufgaben d. Religion u. d. Religionswissenschaft.

Kirche werden, ihr Herrschaftsgebiet nach außen zu beschränken, um es nach innen zu festigen. Sie sollte es verlernen, sauer dazuzusehen, wenn die Schulaufsicht in die Hände von Fachmännern gelegt und die Gleich- berechtigung der Simultanschulen gesetzlich festgelegt wird. Landeskirche Hier ist nun freilich ein Punkt berührt, auf dem wohlverstandene

undKonventikel. ...

Interessen des Protestantismus sich mit den katholischerseits erhobenen Ansprüchen nicht decken. Der tiefste Grund liegt darin, daß auf der protestantischen Seite die Unsterblichkeit der Religion nicht so einfach zusammenfällt mit der Unsterblichkeit der Kirche. An dieser haben sogar schon fromme protestantische Theologen ernstliche Zweifel gehegt. Die Kirche ist hier nicht Selbstzweck. Nur soweit der Protestantismus sich zum Verständnis dieser seiner Lage entschließen und sich in sie schicken kann, steht er als eine neue, als eine entmythologisierte, womöglich auch entdogmatisierte, als eine der Säkularisation in gutem Sinne fähige Form des Christentums dem dogmatisch und kirchlich verfestigten und abge- schlossenen Katholizismus in berechtigter Eigenart zur Seite, beziehungs- weise gegenüber und wird mit der Annahme eines polaren Verhält- nisses zugleich eine prinzipielle Unterscheidung' beider Konfessionen mög- lich, die keinerlei Unklarheiten mehr in sich birgt. Darum sollte man unter anderem auch in der jedweden sichtbaren Mittelpunktes und Zusam- menhanges entbehrenden, in größeren und kleineren Denominationen hundertfach auseinandergehenden Vielheit, welche die protestantische Kir- chenbildung' charakterisiert, nicht immer nur ein Anzeichen der Schwäche und des Verfalles erblicken; denn sie kann auch als Symptom eines Reich- tums an Kraftfülle, darüber die Volksseele verfügt, recht hoch eingeschätzt werden. Nur soll mit dem geforderten Verständnis für die vielg'estaltige Auswirkung der schöpferischen Kraft protestantischer Religiosität dem Fandeskirchentum keineswegs zu nahe getreten sein. Ohne Zweifel hält gerade das Landeskirchentum die Durchschnittsreligiosität in einem fast notgedrungen zu nennenden Zusammenhang mit dem gesamten Volks-, Staats- und Kulturleben, während jenes Freikirchentum, wie es sich namentlich außerhalb Deutschlands gern neben die Landeskirchen hin- pflanzt, unter unseren Verhältnissen immer einen auf kleinere \'olkskreise beschränkten, sektiererischen Charakter aufweisen und der Gefahr innerer Verarmung und fortg'ehender Zersplitterung erliegen würde; und am wenig- sten wäre in so eng geschlossener, meist durch stramme Laienorthodoxie zusammengehaltener Gesellschaft jene grundsatzmäßige Freilassung des Gewissens gewährleistet, welcher, weil sie die Möglichkeit der Aus- lösung von immer neuen geistigen Kräften verbürgt, der Protestantis- mus seine Fühlung mit den gebildeten und führenden Elementen der Bevölkerung verdankt. Diese brauchte man freilich nur möglichst vor den Kopf zu stoßen durch methodisch betriebene Einengung" des Rechts persönlicher Überzeugung in Predigt und Schulunterricht, durch Schaffung immer neuer Fälle von Lehrprozessen und Nichtbestätigungen, um

II. Ausblick in die Zukunft.

725

eine Auffa.s.sung vom Wesen des Protestantismus zu befördern, derzufolge sein Normalstand gerade in der Zersplitterung bestehen und die an sich so erfreulichen und gerechtfertigten Bestrebungen nach einem Zusammen- schluß deutscher Landeskirchen zu Schutz und Trutz für schärfer protestan- tisch empfindende Kreise als ein Gegenstand des Verdachtes und Arg- wohns erscheinen würden. Denn eine deutsche Kirche, für deren Zustande- kommen zu arbeiten und zu kämpfen sich lohnen sollte, könnte nur einer Religion der Wahrheit und PVeiheit gewidmet sein.

Darf man aber auch mit einiger Sicherheit darauf rechnen, daß sich t)ie Laieaweit. der Kern der deutschen Bürgerschaft noch weiterhin schlechterdings ablehnend zu gewalttätigen Machenschaften, Bevormundungen und Ver- letzungen der Gewissensrechte verhalten werde, so tun doch eben diese Kreise daran sicherlich nicht Recht, wenn sie den Widerwillen gegen das System eines aufdringlichen Dogmatismus zu einem Absagegrund werden lassen, der sie dem kirchlichen Gemeinschaftsleben überhaupt entfremdet. Abgesehen davon, daß sie sich damit selbst an so manchem Lebensgut schädigen, treiben sie jenes ihnen unsympathische Kirchentum auf der Bahn zur Kulturfeindlichkeit nur w^eiter, steigern also die bestehende Gefahr auch ihrerseits, statt sie beschwören zu helfen. Aus den dargelegten natür- lichen Ursachen einer gewissen Rückständigkeit des offiziellen Kirchentums mit seinen vielen brüchigen Lehrformeln und veralteten Bräuchen sollten vielmehr alle, denen an der Gesundung und am inneren Zusammenhalt unseres Volkslebens etwas gelegen ist, eher den Schluß ziehen, daß man, wie mit so manchen Notständen unseres bürgerlichen und gesellschaft- lichen Lebens, so billigerweise auch mit der Kirche Geduld haben muß. Denn die Religion bedarf, wenn sie sich nicht bis zur Unerkennbarkeit verflüchtigen soll, des Haltes der Gemeinschaft, einer Fürsorgeanstalt für Überlieferung, Mitteilung und Anregung, eines geschichtlichen Zusammen- haltes. Positiv erwächst daher aus der heutigen Sachlage für alle, die den Wert der Religion für die eigene Person wie für ihr Volk zu schätzen wissen, die Aufgabe, sich irgendwie bei der Schaffung lebendiger und der Organisation fähiger Gemeinden zu beteiligen, darin einerseits ein freier und förderlicher Gedankenaustausch ermöglicht und andererseits durch Mobilmachung aller noch latenten, aber zum Dienst bereiten und willigen Kräfte dem sozialen Übel wirksamst begegnet werde. Wie die Medizin Zeiten hatte, da sie sich wieder daran erinnern mußte, daß ihr Problem nicht sowohl in der Krankheit als in dem kranken Menschen liegt, und wie dann neben dem absoluten Werte der Wissenschaft die praktischen Aufgaben des Hygienikers, des Streiters für Volks Wohlfahrt und des Bekämpfers der Volksseuchen wieder zu Ehren gekommen sind, so ziehen auch Seelsorge und Gemeindepflege als unabkömmliche Zweige der Theologie, als praktisch gewordene Religionswissenschaft ihre Kraft und Bedeutung aus dem Gedanken an den Wert ihres Objekts. Und hier ist nun der Ort, da eine der Sache a'-^ ^^ '^

^20 Heinrich Julius Holtzmann: Die Zukunftsaufgaben d. Religion u. d. Religionswissenschaft.

Wissenschaft gegenüber alledem, was neuerdings über die abgünstige Stellung des Urchristentums zur Kulturarbeit gesagt worden ist und gesagt werden kann, eines Kulturmotives ansichtig wird, das dem ganzen Alter- tum zuvor fast so g'ut wie unbekannt geblieben war. Soziales. Anerkanntermaßen kennzeichnet sich das Christentum in seinen An-

fängen als ein nicht etwa den geistig" bevorzugten und sittlich erhaben sich fühlenden, sondern den intellektuell und moralisch minderwertigen, den übersehenen und verkümmerten Schichten des Volkes geltendes Rettungsunternehmen. Von Haus aus richtet es sich „nicht an die Ge- rechten, sondern an die Sünder", an alles, was „verloren ist", an „das Schwache, das Unedle, das Null in der Welt". Je und je hat es Zeiten gegeben, da dies von Jesus den Seinigen ins Herz gelegte Verständnis für das Wohl und Wehe der Minderwertigen und Geringen in frischer Glut auflebte; und dessen von neuem eingedenk zu werden, mahnt uns Heutige sogar der Staat, wenn er sich seiner sittlich gebotenen Aufgabe gegenüber den verkümmerten und notleidenden Klassen der Gesellschaft bewußt wird und sich auf ein Bündnis mit der zu Q-leichen Zwecken mobil gemachten religiösen Überzeugung und Liebesgesinnung gewiesen sieht. Die vom Christentum mächtig geweckten Gemeinschaftsempfin- dungen, das Gefühl der Solidarität und daraus entspringenden Verant- wortlichkeit, das verpflichtende Bewußtsein giiedlicher Zusammengehörig- keit dürfen uns nicht gleichgültig" bleiben lassen, wenn wir jetzt einen neuen Stand aus den Niederungen sich emporarbeiten sehen voll leiden- schaftlichen Verlangens nach erweiterter Bildung, nach vertieften Erkennt- nissen, nach Teilnahme an den geistigen Gütern und edleren Genüssen derjenigen, die ihnen bisher als privilegierte Depositare der höchsten Errungenschaften erschienen. Hier stehen wir offenbar vor der deutlichst unterscheidbaren Signatur der Gegenwart, vor dem entscheidenden Pro- blem der Zukunft. In diese Richtung weisen uns schon die Klagen über mannigfach verkümmerten Anteil am geistigen Leben, wie sie immer lauter aus denjenigen Kreisen der Frauenwelt zu uns dringen, wo man solche Verkürzung als unfreiwillig angetretenes Erbe teils des klassischen, teils des kirchlichen Altertums empfindet. In der Tat dürfen keinerlei Extra- vaganzen und Torheiten, wie sie von Frauenrechtlerinnen da und dort begangen werden, blind machen gegen die schon statistisch sich auf- drängende Unabweisbarkeit der wirtschaftlichen und kulturellen Motive einer auf solidere und strengere Bildung, vor allem auch erweiterte Er- werbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts gehenden Bewegung. Und ebensowenig darf der ausgesprochen irreligiöse, weil materialistisch ge- richtete Grundzug der sozialdemokratischen Weltanschauung, überhaupt die von da fragios drohende gesellschaftliche, sittliche und nationale Gefahr, der man kirchlicherseits am wenigsten mit geschlossenen Augen und verschränkten Armen gegenübersteht, jemals einen Anlaß und Vorwand .. j^^ „,.r ,„;^coi-inffii(>i^P und geistige Hebung der arbeiten-

II. Ausblick in die Zukunft.

727

den Klassen, speziell auf Schutz der Existenzbedingungen und Rechte des ganzen Standes der Industriearbeiter bedachten sozialen Bestrebungen die ihnen von Gottes und Rechts wegen zufallende Sympathie einer Reli- gion zu entziehen, welche es, recht verstanden, doch vor allem auf selb- ständige Persönlichkeiten abgesehen hat, so wenig sie sonst auch ge- sonnen ist, den Traum naturrechtlicher Gleichmacherei mitzuträumen. Man hat es oft als einen Vorzug des Christentums gepriesen, daß es individua- listisch und sozial zugleich sei. Damit ist als einfache Christenpflicht ge- geben nicht etwa bloß Einzelhilfe bei augenblicklich eintretendem Not- stand, sondern Verständnis und Interesse für alle Unternehmungen, die positiv reichlichere Zufuhr von Bildungsmitteln, negativ Beseitigung oder Milderung der mit der heutigen Wirtschaftsordnung verbundenen, grau- samen Härte des Existenzkampfes erzwecken. Erfreulichst begegnet sich beispielsweise im „Evangelisch -sozialen Kongreß" die nach Mitwirkung idealer Kräfte ausschauende Nationalökonomie mit den Ideen des huma- nitären Idealismus auf der einen, mit den Motiven der christlichen Liebes- tätigkeit auf der andern Seite. Sollte doch die aus der „Freude am Er- wachen der Unmündigen" geborene Mitarbeit an einer immer allseitigeren Organisation der Liebe für den „modernen Christen" zugleich eine Quelle des Trostes sein gegenüber so vielen anders gearteten, Unkraft des religiösen Gedankens und Verfall des kirchlichen Lebens ansagenden, Zeichen der Zeit.

Sicherlich weiß das Christentum als solches von keinem bestimmt Christentum und formulierbaren wirtschaftlichen Programm. Wie das Alte, so kennt auch das Neue Testament Anweisungen über den Gebrauch des Reich- tums fast nur in der Eorm von Mahnungen zur Wohltätigkeit, ganz in- sonderheit zum Almosengeben: bei unsern gegenwärtigen wirtschaft- lichen Verhältnissen eine lange nicht ausreichende, heutzutage sogar recht frag-\vürdig gewordene Abhilfeleistung. Nicht mehr Barmherzig- keit wird gefordert, sondern Gerechtigkeit. Mußten demgemäß aber auch die Anweisungen zur Ausführung des Liebesgebotes nach ganz veränderten Voraussetzungen bemessen werden, so ist doch das innerste Motiv, womit Christus seine Jüngerschar ausgerüstet hat, das gleiche ge- blieben. Noch heute nicht verloschen, ja gerade angesichts der sozialen Probleme wieder neu ins Bewußtsein der Christenheit getreten ist die soziale Triebkraft, die jedem Räderwerk einer so oder anders beschaffenen Wirtschaftsordnung erst Bewegung bringendes Wasser zuführt. Es handelt sich einfach um methodischere Verwertung solcher Wasserkraft. Auch innerhalb der Sozialdemokratie, für deren Aufkommen allerdings zunächst die materialistische Weltanschauung den geschichtlich gegebenen Nähr- boden bildete, drängt sich jeweils immer wieder von neuem die Ahnung auf, daß ohne einen die Selbstsucht der auseinanderstrebenden Individuen bezwingenden Idealismus keine soziale Organisation ungefährdet auf die Dauer bestehen kann. Käme diese Bewegung je wirklich obenauf, so würde die jetzt zuweilen schon bedrohlich hcreinspielende religiöse Frage

728 Heinrich Julius Holtzmann: Die Zukunftsaufgaben d. Religion u. d. Religionswissenschaft.

erst recht brennend werden. Man müßte, anstatt sich mit der „Privat- sache" zu trösten, sich in ein inneres Verhältnis zur Rehgion setzen. Die organisierte Gesellschaft würde sich der Pflege auch der Religion so gut wie aller geistigen Mächte anzunehmen Ursache finden. Mit instinktiver Erkenntnis der Sachlage wirbt daher schon seit geraumer Zeit hier die katholische, dort die protestantische Kirche um die Sympathieen der Arbeiterwelt und rückt dem Zeitalter des Kapitalismus die Forderungen einer von Haus aus antikapitalistischen Religion vor x'Vugen, und diese Beteiligung des religiösen Faktors hat schon zu mannigfachen Absplitte- rungen und Neuformierungen innerhalb des Sozialismus geführt. Allein in Deutschland wirkt die Verbindung" sozialer Gesichtspunkte mit libe- raler, konservativer oder ultramontaner Politik meist ungünstig und ver- mehrt noch die leidige Zerfahrenheit, während in England, wo solche Vermischungen seltener sind, der christliche Sozialismus eine große Mission im Volksleben zu erfüllen und ein ausgiebiges Kapital von Liebesgesinnung für die arbeitenden Klassen in den andern Ständen zu schaffen und flüssig zu machen vermochte. Hier wie dort aber ist die freiwillig aufgenommene Hilfsarbeit der Kirche auf dem Gebiete sozial-humanitärer Bestrebungen zumeist durch die heutigen Kulturbestrebungen bedingt und hängt mit der echt modernen, dem Urchristentum allerdings noch nicht aussprechbar gewordenen, Erkenntnis zusammen, daß den Menschen, wenn sie aus animalischem zu sittlichem Dasein erhoben werden sollen, vorher ein menschenwürdiges Dasein gesichert und daß, um sie auch relig-iös empfäng- licher zu machen, erst ihre soziale Lage gebessert, ihren Wohnungsverhält- nissen und sonstigen Existenzbedingungen Rechnung getragen sein will. Auch das Bewußtsein um derartige Aufgaben sozialer Natur darf sich als edelste Frucht des fortschreitenden Wissens um Geschichte und Ge- schicke, um Wesen und Kern der Religion ausgeben. Dem buddhistischen Pessimismus gegenüber lebt der christliche Optimismus vom Glauben an die Möglichkeit einer fortschreitenden sozialen Gesundung der Menschheit. Darum allein konnte die eschatologische, auf das, was demnächst werden sollte, in ekstatischer Erregung gespannte Weltuntergangsstimmung des Urchristentums jene große Metamorphose erleben, daraus im Verlaufe von bald zwei Jahrtausenden die zukunftsfrohe Richtung einer modern denken- den und handelnden, aber auch an Daseinswert und Lebenszweck gläubigen und insofern echt religiös empfindenden Menschheit erwachsen ist und sicherlich noch weiterhin ausreifen will.

Literatur.

Literatur, deren Vcrgleichung für einen so weitschichtigen, alle Gebiete der Religions- wissenschaft und Theologie, der Kirchenpolitik und Zeitgeschichte streifenden Artikel in Betracht käme, gibt es natürlich in unbegrenzter Massenhaftigkeit. Wir beschränken uns deshalb auf Angabe weniger, dem Thema besonders naheliegender und der unmittelbaren (Gegenwart angehöriger Veröffentlichungen.

K. Sell, Zukunftsaufgaben des deutschen Protestantismus im neuen Jahrhundert (Tübingen, 1900).

E. Troeltsch, Die wissenschaftliche Lage und ihre Anforderungen an die Theologie (Tübingen, 1900).

A. Ehrhard, Der Katholizismus und das 20. Jahrhundert im Lichte der kirchlichen Entwicklung der Neuzeit (Stuttgart, 1902^; Derselbe, Liberaler Katholizismus? (Daselbst, 1902).

R. Sr.EBERG, Die Kirche Deutschlands im 19. Jahrhundert (Leipzig, 1903).

A. Harnack, Reden und Aufsätze. Band II (Gießen, 1904).

REGISTER.

Von Dr. Richard Böhme.

Bei mehrfach angeführten Namen und Stichworten sind die Hauptstellen durch ein Sternchen bezeichnet.

A.

Abälard. 210. 542.

Abendmahl. 144. 152. 167. 279. 321. 347. 687. 690.

bei Paukis. 88.

, Luthers Lehre vom. 285.

bei den holländischen Pietisten. 410. Abgeschlossenheit, Minderung der strengen,

der Juden nach der Rückkehr aus Babylon. 29. 36.

der Christenheit. 150.

,, Abhängigkeit, Schlechthinige" Schleier- machers. 596. 598. 605.

Ablaß. 211. *278.

Ablaßprediger, Aufhebung der. 224.

abodah. 570.

Abraham. 2.

Absolutismus, erwachsen in den Religions- kämpfen des 16. und 17. Jahrh. 319. 375.

, Aufgeklärter, erwachsen aus dem Luther- tum. 399.

Achamoth. 104.

.•\chelis, E. Chr. 679. 699.

Acta Pauli. 142.

Adams-Sünde. 307.

Adel, sein Scheiden aus dem Kirchendienst. 245.

deutscher Nation", Luthers ,,An den christlichen. 279.

Adiaphora. 661. Adoptianismus. 184. 513. Ämter der evangelischen Kirche. 665 f. Äonen im Gnostizismus. 103. Ästhetik, Antikisierende, im „deutschen Idea- lismus". 430. Africanus, Julius. 109. 142. Agobard von Lyon. 574. Ahab. 20. 21. Akacius von Amida. 166. Akademie, Platonische. 169. , Refomicrte. 348. Akoimetenmönche. 169. Albert der Große. 210.

Albrecht V. von Bayern. 224.

Alexander von Alexandria. 121.

Alexander Severus. 142. 154.

Alexander III., Papst. 200.

Alexander VII., Papst. 529.

Alexander, Großfürst, Besieger der Schweden. 176.

Alexandriner, Standpunkt der, in den christo- logischen Kämpfen der griechisch-ortho- doxen Kirche. 165.

Alfons II. von Spanien. 241.

Alkuin. 574.

Allegorismus, Stoischer. 386.

Altar in Israel. 12. 16. 19.

im Tal Geenna. 25.

Altäre Salomos auf dem Ölberg. 24.

,, Altgläubige" in der russischen Kirche. 178.

Althusius. 360.

Altkatholiken. 245.

Amalarius von Metz. 574.

Ambrosius, Gnostiker. in.

von Mailand. 202. 205. 526. 579. Amerika, Calvinismus in. 337.

, Wirkung des Methodismus in. 417. Amos. 19. 23.

Amsterdam, seine Bedeutung als Zentrale reli- giöser Duldung. 344. Amt, Das geisdiche. 115.

. Seine Heilsamkcit. 117. Analyse, Neuplatonische. 386. Anastasis. 174.

Anbetungsstätten , Zerstörung der , außerhalb

Jerusalems unter Josias. 26. Andreas, Jünger. 48. Angelsachsen , Annahme des Christentums

durch die. 1S6. Angelologic. 513.

Anglikanismus. 315. 337. *36i. 498. Anliomöer. 122. Anna Komnena. 175. Anonymus, Der große. 28. Anselm von Canterbury. 209. 500. Anthropologie. 512.

Register.

731

Antichrist. 279. 283. 403.

Antinomismus des Paulus. 84.

Antiochcncr, Standpunkt der, in den christo- logischen Kämpfen der griechisch-ortho- doxen Kirche. 165.

Antiochus Epiphanes von Syrien. 36.

Antitrinitarisinus. 301. 512.

Antoninus von Florenz. 527. 580.

Antonius, Der heilige. 162.

Apokalypse, Jüdische, als Abschiedsrede Jesu zugestutzt. 44.

des Johannes. 93. ApoUinaris von Laodicea. 164. ApoUonius. 521. Apologeten. 99. 100. 141. 142. Apologeticum des TertuUian. 143. Apologetik. 494 ff.

Apologie, Unterschied der, von der Apo- logetik. 494.

Apologieen. 525.

Apostel. 113. 117. 151.

Aposteldekret. 76.

Apostelgeschichte. 561.

Apostelkonvent. 75.

Apostellehre. 94. *99.

Apostolikum. 114. 115. 138.

Apperzeption. 564.

Apriori, Religiöses. 486.

Aramäerkriege. 20.

Arbeiterfrage. 544. 578. 728.

Arbeitervereine. Christliche. 444.

Arbeitsberuf, Erziehung zu seiner Herrschaft durch den Calvinismus. 357.

Archidiakon. 163.

Arianismus, Verschwinden des, in West- europa. 185.

.Aristides. 99. 101.

.Aristoteles. 325. 522. 527.

, Luthers Haß gegen. 277.

.-\.ristotelismus im 12. und 13. Jahrh. 210.

im 16. und 17. Jahrh. 324.

im 19. Jahrh. 493.

der Scholastik. 510. Arius. 121. 164. Amienpflege. 150. 217. 544. .\rminianismus. 275. 301. 390. Arminius, Jakob. 275.

Armut, Geistige, des Christentums der Epi- gonen. 98. Arnold, Gottfried. 413. Artaxerxes Longimanus. 29. Artikel, Die vier gallikanischen. 228. , Die organischen. 235.

-, 39, im Anglikanismus. 362. Aschera. 12. 24. Aschermittwoch. 246.

Aseität Gottes. 512.

Askese, Stellung des Protestantismus zur. 262. 384. 662.

Askese, Auflösung der protestantischen. 398. , Calvinistische. 356.

im Pietismus. 408.

nach der katholischen Ethik. 542. Asketen. 150. 173. 205. 557. 579. Assyrer. 22. 23.

Astrologie. 324. 470.

Astruc, Jean, Beginn der literarischen Analyse

des Alten Testaments durch. 4. 39. Athanasius. 122. 164. 172. Atheismus. 374. 425. 495. 501. Atheisten. 136. Athenagoras. 99. 10 1. Athenais. 163.

Athos, Klöster auf dem. 172. 175. attritio. 542. Auferstehung, Allgemeine, der Toten. 38. 53.

Jesu. 79. 469.

des Fleisches. 81. 150.

Aufklärung, Stellung von Erasmus' Theologie zur wissenschaftlichen. 272.

des 18. Jahrhunderts. 372. 638.

, Verhältnis des Pietismus zur. 410. 415.

Auf klärungsprotestantismus. 423 ff.

Augsburg als Sitz des Täufertums. 299.

Augusta Pulcheria. 165.

Augustiner. 207.

Augustinianismus. 515.

Augustinus. *i9i. *202. 205. 208. 273. 290.

501. 521. 523. 524. 526. 539. 556. 561.

564. 568. 579. 595. 634. 651. Augustus. 133. Aurelian. 152. 155.

Autoritätslehre, Protestantische. 264. 268. Autusie Gottes. 512.

B.

Baal. 16. 22.

Bach, Johann Sebastian. 321. 404.

Baer, Karl Ernst von. 501.

Bajanismus. 513.

Balmes, Jakob. 493.

Bamoth. 16.

Baptisten. 301. 346. 363. 366. 418.

Bardesanes. 106.

Barlaam. 172.

Bamabasbrief. 93.

Baronius, Cäsar. 218.

Basel, Konzil zu. 212.

Basilides. 103. 105.

Basilius von Cäsarea. 164. 168. 524. 556.

Basken , Erhaltung der alten Sprache und Nationalität bei den. 186.

Bauernkrieg. 299. 636.

Baumgarten, M. 680.

Baur, F. Chr. 612.

Beamtenstand, seine Stellung nach dem Luther- tum. 330.

73-

Register.

Beicht- oder Bußbücher. 558. 579, 580. Beichte. 279. , Österliche. 204.

, Protestantische, im Konfirmandenunter- richt. 694. , Privat-. 321. 327. Beichtstuhl. 678. 699. Bekehrung. 653. , Kants Begriff der. 429. Bekehrungswunder. 290. 338. 339. 390. Bekenntnis. 114. Bekenntniszwang des lutherischen Staats-

kirchentums. 321. Bekker, Balthasar. 344. Bellarmin. 498. 528. Benedikt XIII., Papst. 231. Benedikt von Nursia. 205. Benediktinerregel. 205. Bengel, Joh. Albr. 414. Bentham, Jer. 639. Berengar von Tours. 209. Bergpredigt. 46. 258. 261. 271. 276. 297. 524.

721. Bernhard von Clairvaux. 204. 510. 526. 540.

580. Berno von Reichenau. 574. Bernold von St. Blasien. 574. Berthold von Regensburg. 529. Beruf, Bürgerlicher. 670. Beschneidung. 11. Beschneidungsevangehum. 76. Bessarion. 171. 172. Bethel. 19. Bettelorden. 204.

, Missionen der, im Osten. 188. 206. Beverwyck. 348. Bewußtsein, Religiöses. 386. Bibel, Stellung der, in Luthers und Zwingiis

Reformation. 286. 289. 294. , Stellung Calvins zur. 310. 340. , Göttlichkeit der, im Katholizismus. 496 f. , Stellung des Neu-Protestantismus zur. 436. , Inspiration der. 503. Bibel-Babelfrage. 502. 715. Bibelwissenschaft, Begründung der, in Ale.xan-

dria. 143. Biedermann, A. E. 445. 595. 600. 606. Bilderfeindschaft Zwingiis. 292. Bilderstreitigkeiten. 170. Bilderverbot in Israel. 25. Bischof. 115. 137. 163. , Der römische, vom Ende des 4. Jahrh.

an. 190. Bischofskirchc. 148. Bischofswürde, Lehre von der Rechtsnachfolge

des Landesherrn in der. 320. Bischoftum, sein X'crhältnis zum Königtum.

193- Bismarck. "435.

Blutopfer. 12. Bockelson, Jan. 300. Bodin, Jean. 378. 392. Böhme, Jakob. 302. 415. Bogoljubsky, Andrej. 175. Bogomilen. 172. 180. BoUandisten. 218. Bolotow, W. 179. Bonaventura. 510. 540. 580. Bonifatius siehe W)Tifrith-B. 186. * 192. 561. ßonifaz VIII. , Papst. 211. Borromeo, Karl. 559. Bossuet. 227. 228. Bourdaloue. 227. Bourignon. 410. Brahmanentum. 471.

Briefe des Korintlierbischofs Dionysius. 99. , Deuteropaulinische. 93. Briefliteratur, Kanonische. 580. Brown, Brownisten. 301. Bruderschaften. 204. Brüder, Böhmische. 214. , Barmherzige. 226. ,, , ,, Gemeinschaft der. 419. vom gemeinsamen Leben. 580. Bruno, Giordano. 266. Bryennius, Philotheos. 174. Buddhismus. 388. 389.

Bürgertum, seine Rolle in den kirchlichen Kämpfen am Ausgange des Mittelalters. 214. Bullinger, Heinrich. 334. Bundesbuch. 6. Bundeslade. 8. Bunyan, John. 363. 400. 404. Bußbücher. 558. 579. 580. Bußdisziphn. 579. Buße. *203. 278. 542. 579. 661. Bußinstitution. 195. Bußsakrament. 204. 575. Butzer, Martin. 306. 309. 368.

Caecilianus von Karthago. 119.

Cäcilienvereine. 247.

Cäsaropapismus. 157.

Caird, E. 443.

Calixt, G. 636.

Callistus von Rom. 118.

Calvin. 265. 287. 291. 295. '^05. 404. 584.

636. - , Praktisch-organisatorische Tendenz seiner

Lehre. 309. , Aufrichtung seiner Kirche in Genf. 310. Calvinismus, Spezifisch moderne Züge und

welthistorische Mission des. 314. 316. , Verwandtschaft und Unterschied des, vom

Luthertum. 233- , Ausbreitung des. 334 f. , Stellung des, zum Rationalismus. 349.

Register.

733

Calvinismus, Persönlichkeits und (iemein-

Schaftsidee im. 352. - , SoziaUsmus des. 353.

, Wirtschaftsleben des. 356. , Politik des. 358. , Stellung des, zum neuen KirchenbegriflT.

394. 398. 427- Captivitate ccclesiae, Luthers De babylonica.

279. Carlyle. 431. 443. 638. Cassiodor. 206. Castellio, Sebastian. 274. 302. Catechismus V'aurensis. 565. Celsus. 42. Cerinth. 103.

Chalcedon, Konzil zu. 165. Charitas. 578. Chartisten-Unruhen. 443. Chiliasmus, Chiliasten. 100. 300. 301. 516. Chlodowech. 185. Choralgesang. 247. Christ im staatlichen Leben. 673. Christen. 76.

Reichsfeinde. 129.

, Leben der. 139. 149.

. Ihre Beurteilung des Staates und der

Rechtsordnungen. 145. 152. ,,— , „Geistige, in Rußland. 180. , Definition des Wesens evangelischer. 589^ Christenmenschen , Lulliers \'on der Freiheit

eines. 280. ,, Christenstaat" \'eit Ludwig von Secken-

dorfs. 318. Christentum, Wesen des. 524.

als Weltreligion. 85.

als Offenbarungsreligion. 473. . Seine Zentren. 136.

. Sein Kulturwert. 723.

als Vollendung aller sittlichen Tendenzen. 644.

. Sein Verhältnis zu den Kulturfunktionen

des Volkes. 671. . Seine Würdigung bei den Apologeten.

100.

seit 200 ein Kulturf.iktor. iii.

. Seine Staatsgefährlichkeit. 136. , Griechisch orthodoxes. 161.

in Rußland. 175 ff.

, Byzantinisches, sein Verhältnis zum klassi- schen Altertum. 171.

, . Seine besonderen Merkzeichen. 171.

. Seine Annahme durch die Goten, Franken, Heruler, Vandalen, Sueven, Burgunder, in Britannien, Irland und Schottland, durch die Angelsachsen und die deutschen Stämme. 185 f.

Westeuropas im Mittelalter. 183.

. Seine Unterdrückung durch die französi sehe Revolution. 234.

Christentum, Renaissance-, seine Entwii k

lung. 274 ff. , Protestantisches, in der Neuzeit. 253 ff.

der Bibelkritik und Religionsvcrgleichung. 388.

. Sein Verhältnis zur Sozialpolitik. 727 ff. , Seine Bekämpfung durch den modernen Zeitgeist. 721.

Christi, Unterschied des, vom Christentum der Kirche. 389.

und Kirche. 495.

Christi Person, Lehre von, in der orthodoxen

evangelischen Dogmatik. 589.

, Ritschis Auffassung der geschichtlichen.

614. -- , Im Namen. 657.

Tod, Erlösungsvvert von. 81. Christianisierung der östlichen Hälfte des

römischen Reiches. 162.

im Osten und Norden des Frankenreiches. 186.

Christkatholiken. 245.

,, Christliche Institution" Calvins. 311.

Christologie des Paulus. 86.

des Johannes. 95.

, Einfluß der griechischen, im Westen. 208.

, Katholische. 513.

Christologische Kämpfe in der griechisch-

orthoxen Kirche. 163 ff. Christus s. Jesus.

Christusbild, Johanneisches u. paulinisches 96. Christusfrage. 502. Christusmystik. 83. 88. 94. 208. Chrysostomus, Johannes. 162. 165. 166. 523.

526. 556. 557. 568. 579. Church of England. 362. Cicero. 522. Cisterzienser. 206. 580. Clemens Alexandrinus. 106. '^09. 141. 521.

525- 579- Clemensbrief, Erster. 91. 93. , Zweiter. 99 ff. Cluny, Kloster von. 197. Coccejus, Johannes. 410. Colet, John. 270. Coligny. 335.

College, Reformiertes. 348. Collegium Romanum. 225.

Germanicum. 225. Comenius, Amos. 415.

Compagnie \'enerable. Genfer. 348. 357. Complexio oppositorum. 134. 135. Comte, Auguste. 376. 478. Confessio Helvetica posterior. 334. Consalvi, Kardinal. 241. consensus gentium. 382. 383. Consensus Tigurinus. 334. Consistoire Calvins. 312. 355. Constitution civile du clerge. 233.

1

734

Register.

Coomheert, Dirck \'oIckertsen. 275. Corpus Christianum. 340. 391. Covenant in Schottland. 336. 337. Cromwell. 364. 365. 370. 371. 404. 438. cura animarum. 552. 575. 576. 698. Cyprian. 112. 113. 117. 119. 148. 556. 579. Cyrillus von Alexandria. 162. 165. Cyrillus von Jerusalem. 167. Cyrillus Lukaris. 173. Cyrus. 29.

D.

Dämonen in Israel. 13.

Dämonenfurcht bei Paulus. 88.

Dan. 19.

Danaeus. 636.

Daniel, Buch. 37. 109.

Daniel von Hahcz. 176.

von Winchester. 561.

Dante. 256.

Darius Hystaspis. 29.

Darwin, Darwinismus. 379. 501.

David. 18.

Decius. 149.

Defoe, Daniel. 400.

Deismus. 387. 409. 414. 432. 475. 492.

Dekalog. 6. 262. 281. 324. 325.

, \"erwertung des, im Calvinismus. 354.

Dekretalen, Pseudisidorische. 197.

Demiurg. 104.

demonstratio christiana et catholica und re- ligiosa. 495.

Denk, Hans. 299. 302.

depositum fidei. 510.

Descartes. 344. 358. 378. 474. 500.

Determinismus. 641.

Deuterojesaia. 28.

Deuteronomium. 6.

, Entdeckung des, unter Josias. 26.

Deutschland, Kirchenpolitik in, im 14. und 15. Jahrh. 213.

, Katholische Kirche in, seit der franzö- sischen Revolution. 236 ff.

, Katholische Theologie in, im 19. Jahrh.

493 f- Diakone, Sieben, der Urgemeinde. 73. Diakonen. 115. 137. 163. f>iaKovia. 550. 552. Diakonic, Protestantische. 702. Diaspora, Jüdische. 36. Diatessaron Tatians. 106. Didache. 556.

Didaktik, Katholische pastorale. 560. Diodor von Tarsus. 164. Diözcsanverfassung der lateinischen Kirche.

189. Diözesen. 163. Diokletian. 129. 130. 154. Dionysius Areopagita. 1O9. 270. 526.

Dionysius von Alexandria. in. 152.

, Briefe des Korintherbischofs. 99.

Dioscur von Alexandria. 165.

Dippel, Johann Konrad. 414.

Disziplin als Zweig der Pastoraltheologie. 575 f.

Dogma, Begriff vom. 583.

. Seine Bedeutung in der Religionsgeschichte. 716.

, Trinitarisch-christologisches. 207.

Dogmatik, Christlich-kathohsche. 492 flf.

, Christlich-protestantische. 583 ff.

, Schädigung des evangelischen Christen- tums durch die bisherige evangehsche. 6i6ff.

, Schleiennachers Anschauung von der.

449- Dogmenbildung. 5 1 o f . Dogmengeschichte. 389. 508. 509. Dominikaner. 207. 580. Domkapitel. 245. Domostroj, Haus- und Kirchenbuch des Popen

Silvester. 177. Donatismus. 119. Dordrechter Sjiiode. 344. Domer, Isaak August. 607. Dreifaltigkeitskloster des hl. Serg^us. 176. Droste-A'ischering, Erzbischof Klemens August

von, von Köln. 238. Duchoborzen. 180. Dürr. 636. Dunin, Erzbischof Martin von, von Posen.

238. Duns Scotus. 211. 499. 500. Dupuy, \'erfasser der Traites et droits de

l'eglise gallicanc. 228. Durandi, Wilhelm. 507. 574.

E.

,,Ecclesiastical polity", ,,Laws of ", von Hooker.

359-

Eckhart, Mystiker. 529.

Edelmann, Johann Christian. 414.

Ehe. 667 f.

, Paulus' Urteil über die. 88.

, Aufhebung der klandestinen. 224.

, Katholische Auffassung der. 543.

, Streit über die gemischte, in Deutsch- land. 238.

Eheordnung, Christliche. 135.

Eidgenossenschaft, A'ersuch der Ausbreitung von Zwingiis Reformation in der. 295.

Eigenkirchen. 195.

Elagabal. 154.

Elemente. 144.

Elias. 21.

Elisa. 22.

Elisabeth von England. 362.

--, Absetzung der Königin, durch Pius \'.

243- Emden, Nationalsynode von. 336.

Kcgister.

735

Emerson, Ralph Waldo. 431.

Empfängnis Mariae, Unbefleckte. 230. 244.

5«4- Enchiridion militis Chiistiani des Erasmus.

271. Engel der katholischen K\rche. 201. Engellehre. 124. Engelsturz. 513. England, Kirchenpolitik in, im 14. und 15.

Jahrh. 212. 213.

, Katholische Kirche in, seit der französi- schen Revolution. 240.

Enthusiasten. 301. 412.

Entropiegesetz. 500.

Epheserbrief. 74.

Epikur. 472.

Epiphancs. 103.

Epiphanius von Salamis. 165.

Episkopalismus. 212. 244. 362.

Episkopat Hiiter der reinen Lehre. 115.

, seine Stellung in der griechischen Kirche.

172. ^iriCKOTTTi. 552. Erasmus von Rotterdam. 215. 257. 270. 271.

276. 277. 289. 293. 387. 569. Erbsünde. 263. 268. 281. 282. 284. 286. 290.

297; 356. 374- 384- 449- 474- 5i3- 526. 540. Eremitenkolonieen Palästinas. 168. Erkenntnistheorie der Religion. 485. Erlösung der Welt nach Paulus. 80. --, Bedeutung der, in der modernen Kultur.

403. 447. 449. ' von der Sünde. 650. Erlösungsbegriff. 447. 480. Erlösungslehre, Reformatorische. 409.

, Katholische. 513. Ernst der Fromme von Gotha. 318. Erstgeburt. 13. ,, Erweckung". 421. Erziehung, Christliche. 664. Eschatologie, Jüdische. 32. 37.

des Paulus. 82. , Katholische. 515. Essener. 553. Ethik Jesu. 64.

-- , Christlich-katholische. 521 ff. , Christlich-protestantische. 633 ff. , Reformatorische. 261.

des Luthertums. 283 f. '324.

Zwingiis. 291 f.

, Reformierte. 351.

, Verhältnis der natürlichen zur christlichen. 521.

, Scholastische. 527.

, Moderne. 380 ff.

, Aufnahme der natürlichen, in das prote- stantische System. 384.

des modernen kirchlichen Protestantismus. 441.

Ethik als Wissenschaft. 645.

tüaYTf^iZ^eiv. 561.

Eucharistie. 174. 202.

Eudämonismus. 533. 643.

Eugcnius Bulgaris. 174.

Euhcmerismus. 386. 472.

Eusebius. 98. 99. in. 146. 272.

Eustathius. 171.

Evangelien, Die vier. 42.

Evangehkalismus. 417. 423. 425.

Evungelisation. 702.

Evangelischer Bund. 239.

Evangelisch sozialer Kongreß. 444. 728.

Evangelium. Seine eschatologischen Bestand

teile. 60. , sittliche Neubclebung bewirkend. 651. . Sein Verhältnis zum Gesetz nach Paulus,

Augustin und Luther. 651. , Das vierte. 94. Evolutionismus. 639. 643. Evolutionstheorie Hegels. 476. exercitia spiritualia Loyolas. 636. Exklusive, Recht der, bei der Papstwahl.

232. Exil, Babylonisches. 5. 7. 28. Exkommunikation. 1:9. 344. Exodus. 6. Exorzismus. 321. 347. Ezechiel. 6. 28. 551. Ezra. 29.

Fabier. 443.

Fakultät, Artistische. 324.

Fakultäten, Stellung der theologischen. 445.

Familie als Lebensgemeinschaft. 667 f.

Familienordnung, Christliche. 135.

Familisten. 301. 363.

Farel, Guillaume. 311. 334.

Fastenordnung, Katholische. 246.

Febronius, Justinus. 228.

Fegefeuer. 287. 362.

Feiertage, \'erminderung der katholischen.

229. 246. F^nelon. 227. 410. 529. 569. 686. Ferdinand I., Kaiser. 224. Ferdinand IL, Kaiser. 226. Feste in Israel. 12. 16. Festkalender, Protestantischer. 321. , Reformierter. 347.

Festordnung der katholischen Kirche. 246. Feueropfer in Israel. 16. Fichte, J. G. 427. 430. Ficino, Marsilio. 270. fides implicita. 326. Filmer. 362.

FIdchier, Bischof von N'imes. 227. Fludd, Robert. 415. Formalstufen, Zillersche. 564.

736

Register.

Fortschrittsidee als Zerstörer der Askese. 402.

Fox, George. 419.

Fräulein, Englische. 226.

Franck, Sebastian. 263. 302.

Francke, August Hermann. 412.

Frank, F. H. R. 445. 609. 610. 626.

Franken, Annahme des Christentums durch

die. 185. Franklin, Benjamin. 400. Frankreich, Kirchenpolitik in, im 14. und 15.

Jahrh. 213. , Kirche in, seit der Revolution. 232. , Aufschwung des religiösen Lebens in, im

17. Jahrh. 226. , Calvinismus in. 342. , Katholische Theologie in, im 19. Jahrh. 493. , Anthropologisch psychologische Methode

der Apologetik in. 499. Franz Joseph von Österreich. 242. Franz von Assisi. 204. Franziskanerbewegung. 256. Frau, Stellung der, im Täufertum. 305. , Unterordnung der, im Calvinismus. 358. Frauenfrage. 544. 727. Frauenkongregationen. 235. 248. Freiheit, Sittliche. 641. Freikirchen. 421. 427. 725. Friede, Westfälischer. 318. 336. Friedrich I., Kaiser. 200. Friedrich II. von Preußen, Verbot der Pro- mulgation des Jesuitenordens durch. 231. Friedrich Wilhelm IV., König, seine Stellung

zur katholischen Kirche. 238. Frömmigkeit, Die jüdische. 32. , Äußerungen der, in den urchristlichen

Gemeinden. 90. , Typen der, im 2. Jahrh. 99. , Christliche. 143. 151.

des griechisch-orthodoxen Christentums.

174-

des katholischen Christentums. 202.

, Ansätze kirchenfreier, unter dem \'olke am Ausgange des Mittelalters. 216,

des Rationalismus. 591.

,, Fürstenstaat, Deutscher", Veit Ludwig von

-Seckendorfs. 318. Fundamentaltheologie. 494.

G.

Galerius. 130.

Galilei. 378.

(iallienus. 152. 155.

(iailikanische Kirchenfreiheiten. 213. 227.

Artikel. 228. 243. 244. Gaunilo. 500.

Gaza, Zerstörung des Tempels von. 162. Gebet, Jüdisches. 36.

in der christlich-protestantischen Ethik. 657 ff.

Gebet. Seine Wertung im Luthertum. 327. Gebets-Erhörung und -Erfüllung. 658. Gebundenheit , Grenzen der dogmatischen.

508. Geenna, Altar im Tal. 25. Gegenreformation. 226. Geiler von Kaisersberg. 529. Geisa, Herzog von Ungarn. 187. Geißel, Koadjutor Johannes. 238. Geistesfreiheit. 508. Geistlichkeit, Einfluß der, des Luthertums auf

das persönliche Leben. 331. Gelübde, Asketische, im Luthertum. 327. ,, Gemeinde Christi" in Schottland. 336. Gemeinden, Christliche, außerhalb Jerusalems.

73- , Verfassung der. 136.

- , Bedeutung der, im Calvinismus. 340. Gemeindeversammlungen der Christen. 91. Gemeinleben, Ethisches, im Calvinismus, seine

Organisation. 354. Gemeinschaften , Protestantische kirchliche.

703-

Gemeinschaftsseelsorge, Katholische. 578.

Generatio aequivoca. 501.

Genf als Sitz der Kirche Calvins. 310. 342. als ethisches Muster und Prinzip. 313.

Gentile. 274.

Genugtuungslehre des Luthertums. 324.

Gerichtsstand, Befreiter, der Geistlichkeit. 241. 246.

Germanen, Annahme des Christentums durch die. 185.

, \'erhältnis der Aufnahme der, in die ka- tholische Kirche. 192. 203.

(iermanos, Bischof von Konstantinopel. 573.

Gerson, Jean Chartier de. 529.

(ieschichtsphilosophie der Rehgion. 486.

(leschichtsuntcrricht an den lutherischen Uni- versitäten des 16. und 17. Jahrh. 324.

Geschichtswissenschaft, Rolle der, in der mo- dernen Kultur. 376.

Gesellschaft , Ordnung der christlichen , nach dem Luthertum. 330.

Gesetz, Christliches. Sein Wesen. 523.

sittliche Neubelebung bewirkend. 651.

- . Sein \'erhältnis zum Evangelium nach Paulus, .Augustin und Luther. 651.

, Mosaisches. 3. 5. Gesetzesgerechtigkeit, Paulus' Stellung gegen

die. 84. Gethsemanc. 50. Gewissen. 647.

als Maßstab des Handelns in der christ- lichen Religion. 85.

Gewissensfreiheit. 234. 369. 379. 394. 400. 420. Gichtelianer. 415. Gisbert, Blasius. 569. (Uadstone. 435.

Register.

737

Glaube, Christlicher. 150. *584f.

nach der katholisclien Ethik. 540. , Evangelischer. 586. 587. 592. 'to^. 610.

613. 616. 620. •653. (ilaubensbegrilT, Reformatorischcr. 259.

des Luthertums. 327. 331.

des modernen Protestantismus. 384. (ilaubensgedanken , Kntwirklung der pro- testantischen. 624.

(ilaubcnslehre Schleiermachers. 601. (ilaubensregel, Urchristliche. 114. (ileichnissc Jesu. 54. 62. (ileichstellung, bürgerliche , der christlichen

Konfessionen in Deutschland. 237. Clossolalie. 70. 98. (ilückseligkeitstheorie, Soziale. 639. (inade, Einflößung der. 203.

im abendländischen Dogma. 208.

, Bedeutung der, gegenüber dem Sittenge- setz. 523.

CinadenbegrifT Augustins. 540.

, Reformatorischer und katholischer. 258 f.

Zwingiis. 290.

Calvins. 308. Cinadenlehre Augustins. 208.

, Jansenius' Monographie über die. 227.

515-

, Katholische. 514. 539.

, Luthers Verwerfung der kirchlichen. 279.

Gnadensysteme des Thomismus und Molinis- mus. 512.

Gnadenwahltheorie des Paulus. 83.

(inosis, Gnostizismus. *io2. 105. 112. 138. 413. 415. 471.

, Spezifische jüdische. 38. Goethe. 406. 423. 429. 435. 638. (iötter, Kanaanitische Landes-. 13. (iolgatha. 71. 80.

(lOnzalez, Th. J. 493.

Cioten, Annahme des Christentums durch die.

185. Gott. Seine Aseität. 512.

. Sein Wissen und Wille. 512.

in der Meinung der Frommen und der Gottlosen. 34.

in der Geschichte und in der Natur. 7i7f.

und Christus, \'erhältnis von, in Paulus' Christologie. 87.

, Kämpfe über das, im 4. Jahrh. 164. Gotteinigkeit. 256. 290.

Gottesbegriff Jesu. 61. 67.

der Kirche um 325. 121. , Christlicher. 133.

Zwingiis. 291.

, Calvinistischer. 309. 351. 427.

der modernen Kultur. 377. 386. 390. 474. , Bemühungen der gegenwärtigen Religions- wissenschaft um den. 717.

Gottesbeweise. 500.

Dih Kri. iL'R UKR Gec.knwart. I. 4.

(iottesbilder in Jerusalem. 19.

(lOttesdicnst, Jüdischer. 36.

- , Christlicher. 143.

, Katholischer. 570. 572. 574.

, , reformiert durch das Trienter Konzil.

224. , , reformiert im 19. Jahrh. 247. Gottesgemeinschaft. 202. Goltesgnadentum der Obrigkeit nach dem

Luthertum. 330. Gottesidee, Philosophische Behandlung der.

487 f-

Gotteslehre, Katholische. 511.

Gottesliebe, Bedeutung der, nach der katho- lischen Ethik. 541.

, , nach der protestantischen Ethik. 654.

,, Gottesmenschen" in Rußland. 180.

Gottesmutter, Kasansche. 179.

Gottesmutterschaft. 5 1 4.

Ciottesreich. 53. 57. 133. 560. 642. 654. 663,

, Ciedanke vom. 410. 534.

Gottessohnschaft Jesu. 56. 513.

Gott-Logos, Einswerden des, mit der Mensch- heit. 165.

Gottmenschheits-Lehre. 478.

Gott-Natur. 401.

„Gottsucher" 714. 717.

Graf, K. H. 39.

Granada, Ludwig von. 529.

Gratia actualis und sanctificans. 515.

universalis. 349. 356. 406.

Gratian. 157.

(irebel, Separatist. 298.

(keen. 443.

Gregor von Nazianz. 164. *555. 579.

Gregor von Nyssa. 164. 556. 564.

Gregor der Große, Papst. 186. 556. 561. 568. 579. 580. 581.

Gregor VII., Papst. 187. *I98.

Gregor XIII. , Papst. 173.

Gregor XVI., Papst. 241.

Gregorios Thaumaturgos. iii. 152.

Grotius, Hugo. 275. 344. 360. 375. 424.

(iueranger von Solesmes' Institutions liturgi ques. 247.

Gut, Höchstes. 641.

Guyon, Jeanne Marie Bouvier de la Motte . 410.

Gymnasium. 323.

H.

Hadrian VI., Papst. 222.

Hätzer, Ludwig. 299. 302. I Haggai. 29.

j Haies, \'orkämpfer des Anglikanismus. 362. ' Handeln, Das sittliche. 641. I Harald Blauzahn von Dänemark. 187. I Harms, Claus. 680. 695.

Hasmonäer, Reich der. 37.

Hauptstücke des Katechismus. 689.

47

738

Register.

Hausbesuche des protestantischen ricisthchen.

699 ff. Hebräerbrief. 93. Hegel. 376. 383. I423. 427. 430. 435. 448.

471. '476. 486. 487. Hegesippus 99. Heidenevangehum. 76. Heidenmission bei PauUis. 89.

als Loyolas Aufgabe. 225. Heidentum, seine Abwehr gegen das Christen- tum. 185.

Heilige, Der, im griechisch - orthodoxen Christentum. 167.

der katholischen Kirche. 201. Heiligen, Das Reich der. 367.

Heilige Schrift, ihre Stellung im Protestan- tismus. 588. 590. 608. 613. 614. 628.

Heiligenverehrung. 124. 362.

Heilsarmee. 417.

Heilslehre Luthers. 307.

Heilsnotwendigkeit des Glaubens nach Paulus. 82.

Heilsprozeß in der katholischen Kirche. 120.

Heilsstand der Seele. 575.

Heinrich III., Kaiser. 195. *I98.

Heinrich \'l., Kaiser. 200.

Hellenisierung, Gefahr der, des Judentums. 36.

Hellenismus als Beispiel des Synkretismus. 47 1 .

Helmont, J. B. und F. M. van. 415.

Hengstenbergische Schule. 448.

Henoch. 99.

Heraklius. 170.

HerbartZillersche P.adagogik. 564.

Herder. 406. 423. 429. 592.

Hermas, ,,Hirte" des. 99. 101. 579.

Herodes. 44.

Herr als Jesu Licblingsnamc Ijci Paulus. 83.

Herrmann, \V. 531.

Herrnhutergemeinde. 414.

Hesychasten. 173.

Hexaemcron. 502.

Hexapla. iio.

Hierarchie der lateinischen Kirche. *I90.' 200.

, Luthers Erkenntnis des menschlichen Ursprungs der. 279.

Hierarchicen, Die drei großen. 329. Hieronymus, der Heilige. 579. Hilarion, MetropoHt. 175. Himmelfahrt Jesu. 70.

Mariae. 514. Hieb, Buch. ^t,. 34. Hiob, Metropolit. 177. Hippolytus. 109. 142. 145. Hirscher, Joh. Baptist von. 530. 565. Hirtenamt. 551.

Hizkia. 24.

Hobbes. 365. 381. 394.

Hochkirchc, iMitstaatliclumg der anglikani sehen. 498.

Hochrenaissance laliens. 257.

Höhlenkloster zu Kiew. 176.

Hölle. 539.

Hoensbroech, P. von. 531.

Hoffmann, Melchior. 300.

Hoffnung, Eschatologische, der Juden. 32. 37

des Christen. 653.

Hofmann, J. Chr. K. 604. *6o7. 612. 615

617. 625. Hohepriester. 30. Homiletik, Katholische. 555. '-'565.

Protestantische. 679 ff. Homöer. 122. Homöusianer. 122. Homousie. 95. 122. Hontheim, Nicolaus von. 228.

Hooker, \'orkämpfer des Anglikanismus. 359

360. 362. 363. Horeb. 8. Hosea. 24. Hospitäler. 166. Hraban. 568.

Huber, \'ictor Amadeus. 443. Hubmeier, Balth. 299. Hugenotten. 222. Hugenottenkirche. 335. 341. Hugo von vSt. X'ictor. 204. 210. Humanismus, N'erhäitnis des, zur Religiosität

und Theologie. 215. , Wirkung des, auf die praktische Theo

logie. 558. Humanität, Herders Anschauung vom Christen

tum als Religion der. 429. Humanitätsreligion Jesu. 67. Humbert, König, von Italien. 242. Hume, David. 388. 397. 425. 475. Hundertkapitelsynode. 177. Huß, Johann. 214. Huter. 299. Hyliker. 104. Hymnodik. 572. Hypatia. 162. Hypcrius, Andreas Gerhard. 678.

Ideal, Oberstes, der christlich protestantischen

Ethik. 641. 647. Idealismus. 376. 378. , Stellung des, zur Religionswissenschaft.

389- 475-

,, , Deutscher". 426 ff.

, seine Wirkung auf den Protestantis- mus. 43 1 .

Ideen, Platonische. 472.

Idiorrhythmie. 173.

Ignatius, Rönierbrief des. 92. 556.

Igor, König. 175.

Illusionismus , Epikureisch euhemoristischer. 386. 472.

Register,

739

Imperativ, l\atcj;orischcr. 638.

Imputahilitiit der HandlungcMi. 537.

Independcntisnuis. 301. 305. 337. 342. 345. 363. ♦3O4. 394. 408. 419.

, Doynicngeschichtliclic Stellung; des. 368.

Indeterminismus. 641.

Index librorum prohibitoriim. 020.

Individualismus positiver Charakter der mo- dernen Kultur. 379.

Individualseelsorgc, Katliolisclie. 577.

Innocenz III., Papst. 200.

Innocenz XI., Papst. 529.

Innocenz XII, Papst. 232.

Inquisition. 204.

Inspiration der Bibel. 503 f.

Inspirationslehre. 389.

institutio religionis christianae Calvins. 584.

Interekklesiastische Ordnungen. 135.

Invariata. 317.

Investiturstreit. 199.

Irenäus. 109. 114. 142.

Irene die Heilige. 170.

Irenik in der Apologetik. 497.

Irrlehrer. 113.

Irvingianismus. 417.

Isaak. 3.

Isaaks Opferung. 13.

Isidor, Metropolit zu Moskau. 177.

von Sevilla. 573. Islam. 89. 130. 158.

, Kämpfe des, mit der lateinischen Kirche. 187.

als Gegensatz des Katholizismus. 495. Israel, Religion des \'oIkes. *F. 473.

, Hicrokratische \'erfassung des \'^olkes. 3.

als Kultusgemeinde, (ierichtsversamm- lung, Heer. 9.

, Ansiedlung in Palästina. 15.

, Königtum in. 17.

, Reich, Beziehung zu anderen Reichen. 18.

Italien, Katholische Kirche in, seit der fran- zösischen Revolution. 240. 241.

, Katholische Theologie in, im 19. Jahr- hundert. 493.

Iwan III. und I\'. 177.

J-

Jacobi, Friedr. Heinr. 423. 427. Jagiello von Polen. 187. Jahve. 3. 8. 13. 16. 18. 19. 67. , sein Bund mit Israel. 12. , Elias' Auffassung von. 21. , Amos" Auffassung von. 23. , Kampf des prophetischen, mit dem popu- lären. 24. , Zurücktreten des, im Judentum. 35. Jakob. 3.

Jakob \'I. von Schottland. 337. Jakobus. 48. 73.

176.

Jakobusbriefe. 93.

Jansenismus. 227. 410.

Jaroslaw von Rußland.

Jehu. 22.

Jeremias. 26. 27.

, Patriarch. 173.

Jerusalem. 18.

, Eroberung von, durch die Chaldäer. 27.

--, Jesu Wallfahrt zum Passafest nach. 49.

, Synode zu. 173.

Jesaias. 24. 551.

Jesuitenorden. 225. 244.

, seine Aufhebung. 230.

, seine Schulen in Frankreich geschlossen,

seine Niederlassungen aufgelöst 236. Jesus. *42. •45. 71. 77. 82. 86. 87. 93. 95.

96. 97. 103. 107. 120. 131. 170. 208. 551.

554. 561. 567. 571. 592. 623. 624. , öffentliches Auftreten. 47 f. , Ende. 50.

, Einheit seiner Ethik und Religion. , Ethik. 64.

, Gefühl seiner Einzigartigkeit. 56 f. , Gottesbegriff. 61. , Gottessohnschaft. 56. nicht Herold einer neuen Religion. , Höllenfahrt. 93. , Jüdisches und Überjüdisches in seinem

Wesen 52 f. , Lebensgang. 46. , messianisches Selbstbewußtsein. 54. , Rechtsgrund für seine \'erurteilung. 51. , Reichsgottesideal. 53 f. 57.

66.

48.

Religion.

62.

. Seine Auffassung in der antiochenischen Schule. 1 50.

Jesus, Theresia von. 529.

Johann Sigismund, Kurfürst von Branden- burg. 318. 335.

Johannes der Evangelist. *94. 97. 120. 133.

der Jünger. 48.

der Täufer. 47. 53. 55.

Bekkus. 172. Johannesapokalypse. 93. Johannesbrief, Erster. 94. Johannesevangelium. 43. 94. Jojakim. 26 f.

Joris, David. 300. 301.

Joseph. 19.

, Jesu Vater. 46.

Joseph II., Kirchliche Reformen unter. 232.

Josephsfest. 230.

Josephus, Flavius. 42.

Josias. 24. 25.

Jovian. 157.

Juda. 19. 24.

, abhängig von den Ägyptern und Chal

däern. 26. , Untergang des Reiches. 27.

47*

740

Register.

Judaismus, Paulus' Sieg über den. 76.

Juden, Zwiespalt zwischen den eifrigen und den bloß nominellen. 34.

,, Judensekte" unter Iwan III. 177.

Judentum, Entstehung. 7.

, Wirkliche Begründung durch Ezra und Nehemia. 30.

, Definitive Ausgestaltung durch die Phari- säer. 37.

, verengt und versteift im Kampfe gegen den Hellenismus. 36.

als Vorbereiterin des Bodens, auf dem das Christentum fußt. 38.

, Verhältnis der Jesusgläubigen zum. 72. , Äußerliche Züge seiner Trennung vom Christentum. loi.

als (Gegensatz des Katholizismus. 495. Jünger Jesu. 48. 50. 57.

Julian. 157.

Julius III., Papst. 223.

Jungfräulichkeit. 531. 543.

Jungfrauschaft Mariae. 514.

Justifikationsbegriff. 259. 260. .S. auch

Rechtfertigung. Justinian. 166. 169. Justinus, der Märtyrer. 99. 142. 145.

K.

Kaftan, J. 595. 612.

Kahal. 10.

Kaiserkultus, Kleinasiatischer. 146. 154.

Kaisertum, sein Kampf mit dem Papsttum. 198.

Kajetaner. 225.

Kalender, Gregorianischer. 173.

Kalixtinische Lehre. 322.

Kailist, Bischof. 147.

Kanaaniten. 15. 19.

Kanon, Neutestamentlicher. 114.

Kant, Immanuel. 382. 402. 423. 427. 429.

475. 476. 484. 500. 530. 592. 593. 599. 638.

643. 644. 717. Kantoren, Lutherische. 321. Kapernaum. 47.

Kapitalismus, Luthers Haß gegen den. 284. , Stellung des Luthertums zum. ;i23- , des Calvinismus zum. 356. 357.

im 18. Jahrhundert. 375. 400.

der (iegenwart. 669. „Kapitel, Drei". 166. Kappadoker, Die drei. 164. 556. 564. Kapuziner. 225.

Karl der (iroße. 186. 193. 194. 203. 206.

Karl I. von England. 364.

Karl V., Kaiser. 223.

Karlmann. 193.

Karlstadt, Andreas Rudolf Bodenstein von.

285. 297. Karmeliter. 207. Karpokrates. 103.

Karwoche. 246. Kassian. 580.

Kasuistik der katholischen Moral. 528 f. Katechet, Anforderungen an den protestan- tischen. 688. Katechetenschule von Ale.Kandria. 141. Katechetenschulen. 568. Katechetik, Katholische. 555. *562. , Protestantische. 686 695. Katechismus, Katechismen. 321. 325. 347.

564. 565. 689. Katechumenat. 167. 203. 579. Katechumenen. 562. Katharer. 213. Katharina II. von Rußland, \'erbot der Pro

mulgation des Jesuitenordens durch. 231. Kathedralkirche des hl. Elias in Kiew. 175. Katholische Kirche s. Kirche. Katholisierung Westeuropas. 185. Katholizismus. 134. 280. , Verhältnis des, zur Kunst. 404. Kattenbusch, F. 596. 612. 614. Kausalitätsbegriff. 376. 429. 500. Kelchbewegung unter Albrecht \'. von Bayern.

224. Kelten in Amerika und auf den britischen

Inseln, Erhaltung der alten Sprache und

Nationalität bei den. 186. Kepler, Johannes. 324. KripuYiua. 561. 564.

Ketteier, Bischof Freiherr E. v. 239. 543. Ketzerbestrafungen durch Luther. 313. Ketzerkataloge. 102. Ketzertaufstreit. 119. Kierkegaard, S. A. 406. 445. Kiew, Höhlenkloster zu. 176. , Kathedralkirche des hl. Elias in. 175. Kindergottesdienst. 687. Kindertaufe. 203. Kindesverhältnis, Jesu Auffassung vom, des

Menschen zu Gott. 68. Kingsley, Charles. 443. Kirche, Funktionen der, nach ihrem ethischen

Wesen. 663. , Bund zwischen christlicher, und Staat. 132. , Verhältnis der, zur Philosophie. 134. , Entstehung einer. 139. im I. und 2. Jahrhundert in ihrem \'er

hältnis zu Staat und Kultur. 133 ff. - im 3. Jahrhundert. 148 ff. , Abfall der katholischen, vom Evangelium.

119- , Sittlichkeit in der, um 325. 120. , Christliche, um 220. 138. , Lösung der westlichen, von der östlichen.

183. , Ausbreitung der lateinischen. 184. , Kämpfe der latoinisciien, mit dem Llam.

187.

Kopistcr.

741

I

Kirche, \'crhältnis der lateinischen, zur öst liehen. 187.

, Stärke der Stellung der, am Ende des Mittelalters. 216.

-, Beschrankung des Besitzstandes der ka- tholischen. 222.

, Deutsche, seit Otto d. (ir. 196.

, Einheit der lateinischen. 188. 194.

, Provinzialverfassung und Diözesanver- fassung der lateinischen. 188.

, Erschütterung und Erneuerung der Ein- heit der lateinischen , vom 6. Jahrhundert an. 191.

, Die katholische, als Heilsanstalt. 201.

ein Teil des Staates. 190.

, ihr Verhältnis zur Gesellschaft des Reiches. 190.

, Organisation der griechisch orthodoxen. 163. , Soziale Wirksamkeit der griechisch-ortho-

do.xen . 1 66. , Griechisch-orthodoxe, in Rußland. 175.

, unter Patriarchen. 177.

, ihr Verhältnis zu Rom. 176.

, ihr Verhältnis zum Protestantismus. 179.

, Selbständigkeit der griechischen, unter

der Türkenherrschaft. 173. , Alleinseligmachende. 504.

Calvins in Genf. 311.

, Idee der Gottesstiftung der, beseitigt durch den Sieg des Täufertums. 369.

und Christentum. 495.

, Reorganisation der katholischen, in Deutsch- land im 19. Jahrhundert. 237.

Westeuropas im Mittelalter. 183.

am Ende des Mittelalters, ihre Grenzen. 188.

, Ausbildung der Idee der katholischen. 1 1 7.

, Organisation der. 12g.

, Orientalische. 130.

, Rechtsbildung in der. 131. 147.

, Protestantische, in der Neuzeit. 253.

, Stellung der modernen Weltanschauung

zur. 721. Kirchenbegriflf, Neuer, um 200, und seine

Folgen. 118. , Protestantischer. 265. 320. , Luthers. 279. , Zwingiis. 294. , Reformierter, der Thcokratie. 338.

Calvins. 310. 341.

der Neuzeit. *394. 422. Kirchendienst, Katholischer. 551. Kirchenfreiheiten, Gallikanische. 213. 227. Kirchengut. 234. 237. 241. 293. Kirchenlied, Deutsches. 321. 404. Kirchenmusik. 247.

Kirchenpolitik, Englische, im 14. und 15. Jahr- hundert. 212.

Kirchenrecht. Seine Wurzeln. 132.

, Ordnungen des. 1 53.

, Katholisches. 551.

, Evangelisches. 666.

Kirchenreform, Streben nach einer, im

15. Jahrhundert. 213. im 16. Jahrhun- dert. 232 ff. Kirchenregiment, Katholisches. 551. Kirchenspaltung, Große. 212. Kirchenspaltungen, Staatliche Unterdrückung

der. 189. Kirchenstaat. 241.

Kirchenverfassung Calvins. 311. 314. -, Moderne protestantische. 437. Kirchenverfolgung. 130. Kirchenwesen des Keltentums und der .\ngcl-

sachsen. 186. Kirchenzehnte. 233. 241. Kirchenzucht des Calvinismus. 355 f. Kirchlichkeit, Wesen der. 666. , Abnahme der, in der Gegenwart. 711. Kleinert, Paul. 704. Klemens von Rom. 556. 571. Klemens VII., Papst. 223. Klemens IX., Papst. 227. Klemens XIII., Papst. 231. Klemens XIV., Papst. 231. Klerikerorden. 206. Klerus, Jüdischer. 30. , Christlicher. 115. 137. , Russischer. 176. , Erziehung des katholischen. 224. Klöster. 172. 175. 176. 196. 205. 248. , Aufhebung der, in Frankreich. 233. , , in Deutschland. 237. , Männer- in Spanien. 240. Klostergut, Kampf um das. 197. Kluniazenser. 197. Knox, John. 336. 342. Kögel, Rudolf. 685. KöUiker. Albert. 501. Königtum in Israel. 17. Westeuropas, sein \'erhältnis zu den Bi

schöfen. 193. , sein Verhältnis zum Papsttum. 194. 198. Köstlin, J. 607. Kollekten. 135. Kolonisation, Verdienste der Mönchsorden um

die slawische. 207. Kolosserbrief. 78.

Kolywastreit der .\thosmönche. 174. Kommunion unter beiden Gestalten, Fcrdi

nands I. Antrag auf Gestattung der. 224. Konfession, Augsburger. 317. 318. Konfessioncn,Verhältnisse der, zueinander. 439. , Bedeutung der Mischung der, für das

religiöse Leben. 249. Konfessionsfrage in der orientalischen Kirche.

130.

742

Register

Konfirmandenunterricht, Protestantischer. öSyf. Konfirmation. 422. 687. Konföderation, Antignostische. 138. Kongregationalismus. 305. 346. 361. 363. Kongregationen in Frankreich. 236.

in Italien. 241. Kongruismus. 515. Konkordat, Wormser, 199. , Wiener. 228.

im Jahre 1801. 234.

^, Österreichisches vom Jahre 1855. 245. Konkordienformel. 322. 60g. Konservatismus, Ethik des preußischen. 442. Konsistorien, Stellung der, in der lutherischen

Kirche. 319. Konstantin der Große. 121. 130. 133. 153.

*i56. 188. Konstantin V. 170. Konstantinopel, Synode zu. 164. 169. - Metropole der griechischen Reichskirche.

184. Konstantins. 157. Konstanz, Konzil zu. 212. Konventikelbildung in Holland. 345. 410.

im deutschen Pietismus. 412. Konversionen. 439.

Konzert, Geistliches protestantisches. 321. Konzil zu Basel. 212. 213.

zu Chalcedon. 165.

zu Konstanz. 212. 213.

zu Trient. 223. 558.

, \'atikanisches. 212. 244.

Konziliarismus. 212.

Konzilien. 148.

, Die vier ersten. 169.

Korais, Adamantios. 174.

Kosmogonie. 124. 470.

Kosmologie. 470. 512.

Kosmopolitismus, Moralischer, in der Rechts- entwicklung des römischen Staates. 1 56.

Kreationsdogma. 5 1 2.

Kreatur, Neue. 652.

Krcaturvergöttcrung, liekämpfung der, tlurch den Calvinismus. 35(1. 357.

Kreuz, Johannes vom. 529.

Kreuz als Symbol. 144.

Kreuz des Messias Grundlage von Pauli Reli- gion. 79.

Kreuzzüge, Ziel der. 187.

Krieg, sein Wesen und seine Berechtigung.

673- . . , Dreißigjähriger. 226. Kritizismus. 492. Kuenen, Abr. 39. Kult, Israelitischer. 3. 10. , , Zentralisation. 6. 26. , , Seine Reinigung durch Jesaias. 24. , , Seine Benutzung zur Organisation des

Judentums, /.ur Abschließung von den

Heiden und zur Verschalung des Mono- theismus. 31.

Kult, Interesse am, in der byzantinischen Kirche. 171.

Kultfreiheit. 234.

Kultur, Eindringen der ausländischen, in Israel. 18.

, Stellung der, zur Askese in der katho- lischen Ethik. 542.

, Wesen der. 372. 668.

, gefährdet durch die Religion. 712. 720.

Kulturidee, Wurzeln der mittelalterlichen. 255.

Kulturkampf. 239. 245.

Kultus, Bedeutung des, für die primitiven

Religionen. 466. , Gemeinsamer, der Kirche. 664. , \'eränderungen des öffentlichen. 36. , Christlicher. 143. 151.

der katholischen Kirche. 201. , Zwingiis Stellung zum. 292. , Lutherischer. 320.

, Reformierter, 347.

des modernen kirchlichen Protestantismus,

441- Kultusfrage im fränkischen Reich. 573. Kultuslehre, Philosophische. 571. Kultusrede. 565. Kultusregel, Christliche. 135. Kunst als Lebensprinzip. 383.

als Lebensfunktion des Volkes. 670.

, \'erhältnis von Religion und Kirche zur.

724. , Moderne , als Zerstörerin der Askese.

403.

Kurialismus. 212.

Kursachsen, Stellung von, zum Protestantis- mus. 318.

Labadie, Jean de. 411.

Lactantius. 112.

Lade, Heilige. 24.

Laien. 115.

Laienkultur im Mittelalter. 214.

Landeskirchentum im Protestantismus. 264.

319- 725- Landessprache, \"erdrängung der, durch den

römischen Ritus. 247. Lanfrank von Cantcrbury. 209. Lateran. 242. Latitudinarismus. 362. Laubhüttenfest. 16. Laxismus. 661. Laymann. 528. Lazaristen. 226. Leade, Jane. 41 5.

Leben Jesu -Forschung, Moderne. 721. Lebensgüter, Christliche. 554. Leclcrc, Fran^ois, du Tremblay. 275.

Rejjistcr.

74.5

Le F'cvrc d' Kt;iplcs. 270.

Legenden. 42.

Lehre, Christliche. 140 f.

, ?'eststelhmg der kathohschcn , duich das Trienter Konzil. 324.

, Normative, notwendig für den Protestan- tismus. 6 ig.

Lehrrecht der Kongregationen in Frankreich. 236.

Leibniz. 276. 376. 386. 401. 424. 428. 438. 448. 474. 500.

Leo der Isaurier. 187.

Leo L, der (iroße, Papst. 165. 190.

Leo IX., Papst. 171. 184. 198.

Leo XIL, Papst. 241.

Leo XIIL, Papst. 242. 492. 493. 504. 510.

543- 545-

Lessing. 405. 423. 429. 592.

Leveller. 366.

Leviten in Israel. 7. 30.

Lex naturae. 261. 284. 291. 296. 304. 320. 324. 325- 352. 354- 366. 371. 374- 378. 386. 387. 392. 393-

Christi. 262. 371. 374.

Liberale protestantische Dogniatik. 629.

Liberalismus. 366.

Liebe, Die, in Jesu Religion. 64.

, Verhältnis der Tugend der, im Christen- leben zu den natürlichen Tugenden. 541.

Liebespflichten des Nährstandes nach dem Luthertum. 331.

Liebestätigkeit, Kirchliche. 440.

Liguori, Alfons von. 226. 52g.

Linsenmann, F. X. 530.

Lipsius, R. A. 600.

Literatur, Christliche. *i42. 151.

, Deuteropaulinische. 93.

Liturgie der katholischen Kirche. 247. 531. 555- '570.

Liturgik, Katholische. 555. 'sög.

Liturgiker, Karolingische. 573.

loci communes Melanchthons. 584.

Locke, John. 276. 365. 366. 368. 375. 382. 3S6. 387. 388. 395. 424. 448. 475-

Lodensteyn, Jodocus von. 411.

Logia. 43.

Logos in der Religion. 150.

, Menschwerdung des. 150.

, Bedeutung des, in Luthers Abendmahls- lehre. 285.

Logosbegriff. 95. 141. 164. 413. 512.

Lohngedanke in Jesu Religion. 62.

Loisy, Alfred. 493. 511.

Loyola, Ignatius von. 225.

Lucifer von Cagliari. 157.

Lüge. 647. 649.

Lugo. 528.

Lukas, der Kvangelist. 43. 44. 46. 72. 142.

Lust, Siiinli( hc und geistige. C)47. 649.

Luthardt. Chr. E. 597.

Luther. 258. 260. 263. 265. 267. 273. '276.

2S9. 290. 292. 294. 297. 303. 307. 309.

3I3- 319. 327- 352. 404. 406. 409. 584. 585.

586. 588. 589. 590. 594. 636. 637. 651. 696. Lutheraner, Die F>Ianger. 607 ff. Luthertum nach Luthers Tode. 285. 3 16 ff. , sein Territorialbestand vor und nach dem

30jährigen Kriege. 317. , sein Slaatskirchcntum. 319. , seine Stellung zum neuen Kirchenbegriff.

395- 427.

M.

Mabillon, Jean. 227.

Macchiavelli. 378. 392.

Märtyrer. 100. 151.

,, Märtyrer, Vierzig". 168.

Magna Mater-Mysterien. 102.

Makarius. 580.

Makkabäer, Aufstand der. 37.

Malebranche. 474.

Malo, IL 689.

Manassc. 24.

Mandäismus. 102.

Mani, Manichäismus. 104. 105.

Manning, Kardinal. 498.

Mantik. 470.

Manz, Separatist. 298.

Marcell IL, Papst. 223.

Marcian. 165.

Marcion. 106. 107.

Maria, Jesu Mutter. 46. 514.

, . Ihre unbefleckte Empfängnis, vSunden-

losigkeit, ewige Jungfrauschaft, leibliche

Himmelfahrt. 514. Gottesgebärerin. 165. Maria Stuart. 337.

MariaThercsia, Kirchliche Reformen unter. 232. Mariendienst. 204. Mariologic. 514. Markus der Evangelist. Martin von Tours. 205. Masseba. 12. Massillon. 227. Materialismus. 376. 425. Matthäus der lilvangelist. Maurice, Fr. D. 443. Mauriner. 218. 227. Maximilla. i 16. Maximinian. 130. Maximinus Daza. 130. 154. Maximinus Thrax. 149.

170. 572. 242.

43-

472 43-

478. 495- 44. 46.

Maximus Confessor Mazzini, (Üuseppe. Medina. 528. Melanchthon. 259. 325. 347. 584. 58

262. 278. 309. 320. }22.

:. ;86. 6;6.'

744

Register.

Melito von Sardes. 142. 145. 146. 147. Menander. 103. Mennoniten. 301. 344. 420. Menschenrechte. 156. 346. 400. 420. Menschensohn. 55.

Merkantilismus, Folge der lutherischen Wirt- schaftspolitik. 357. 375. Messias. 53. 55. 106. , Rechtfertigungsversuche für den Tod des.

71- Metaphysik, Moderne. 386.

der Religion. 487. MethocHsmus. 416. Methodius. 1 1 1 .

Metropolit in der katholischen Kirche. 116. 138. 163.

in der russischen Kirche. 175. Micha ben Jimla. 21.

Michael Akominatus. 171.

Michael Caerularius. 171.

Mieceslaw, Herzog von Polen. 187.

Milton. 275. 364. 370. 404.

Minoriten. 206.

Missale, Neuausgabe des römischen. 224.

Mission. 438.

, Aufgabe der katholischen. 562.

, Äußere und innere protestantische. 664. 665. 702. 706. 723.

Missionare. 136.

Missionen der Bettelorden im Osten. 188.

]\Iissionsinstruktionen. 561.

Missionspolitik, Kirchliche, Karls des (jroßcn. 186.

Missionspredigt. 555. *56o.

Mithras-Mysterien. 102.

Mittelalter, Charakteristik seiner Bedeutung. 255.

Mönchsorden. 206.

, Ihr Verhältnis zur Wissenschaft. 207.

Mönchtum. 168. 172. 204. 205. 260. 262. 579f.

, seine Reform in Frankreich im 10. Jahrh. 197.

, Wirtschaftliche (Irundlagen seiner beiden Formen. 207.

, Russisches. 179.

Molina, Molinismus. 512. 515. 528.

Molokanen. 180.

Monaden, Leibnizische. 376.

Monismus, Moderner, als Zerstörer der As- kese. 401.

Monogamie. 667.

Monophysiten, Monophysitismus. 166. 170.

184. 5>3- Monotheismus. 2. 26. 35. 115. 470. 473.

499- , Gefährdung des, dur( h den (".nostizismus.

106 f. Monolhelclisnui>. 166. 170. 184. 513. Monlanus, Monlanismus. 116. 140.

Montfaucon, Bernard de. 227.

Moral der nachexilischen jüdischen Religion.

33-

Verhältnis der öffentlichen und der priva- ten, nach dem Luthertum. 326. 329.

, Öffentliche und private, im Calvinismus.

353- , Asketische. 529. Moralisten, Englische. 382. Moraltheologie, Unterschied der, von der

speziellen Dogmatik. 507. Moralvvissenschaft. 521. *525. Moritz von Oranien. 336. Moritz von Sachsen. 223. Mormonentum. 417. ]Mosaismus. 5. Mosegesetz. Seine geschichtliche TJestimmung

nach Paulus. 85.

nach Marcion. 107. Moses. 3. 7.

motiva credibilitatis. 496. 508.

Müller, J. 597. 607.

Münster als Sitz des Täufcrtums. 300.

Münzer, Thomas. 297.

Musik, Leistungen des Protestantismus in der.

404- Mysterien. 167. 169.

des Mithras, der Isis, der Magna Mater. 102. Mystik. 303. 323. 327. 409. 413. 471. 475.

485. 510. 558. 580. 637.

als besondere Frömmigkeit des Mönch- tums. 204. 260.

, Deutsche. 277.

laucTiKi'i Beujpia. 573.

Mythenforschung. 479.

Mythos in der Religion. 150. 485.

N.

Nabiim in Israel. 20.

Nächstenliebe. 654.

Nantes, Edikt von. 226. 335.

Napoleon I. 234. 241.

Nationalkirchcntum des 6. 8. Jahrh. 193.

Nationalsynode, Emdener. 336.

Natorp, Paul. 599.

Natur, Verhältnis der, zur Gnade nach der

katholischen Ethik. 540. Naturgesetz. 534. Naturphilosophie des deutschen Idealismus.

432. Naturrecht der .\nlikc und des Mittelalters.

393- , Luthers Auffassung vom. 284. des Calvinismus. 343. 359.

auf katholischem Boden. 530. 534 f. Naturwissenschaft, Rolle der, in der modenien

Kultur. 376. Naturwissenschaften auf den lutherischen Uni- versitäten des i6. und 17. Jahrh. 324.

•Register.

745

Nazaret. 46. 47.

Naziräer. 22.

Negcrcrzichung. 420.

Nchcinia. 30.

Nepotismus. 232.

Nestorianer, Xestorianisnuis. 184. 513.

Nestorius von .\ntiochia. 165.

Neuengland, Cnlvinismus in. 345.

Neumeister, Krdmann. 438.

Neuplatoniker als (iegner des Christentums.

150. 185. Neuplatonismus. loS. 204. 472.

in der Schule von St. Victor. 210.

der Renaissance. 260. , Florentiner. 269.

bei PseudoDionysius. 510. Newman, Kardinal. 541.

Nicäa, Synode von. 41. 121. 164. 188.

Nicaenum. 114.

Nicolaus, Heinrich. 301.

Nicolaus I., Papst. 171.

Niederlanden, Calvinismus in den. 343.

, Katholische Kirche in den, seit der fran- zösischen Revolution. 240.

Nietzsche, Friedrich. 639.

Nikon, Patriarch. 178.

Nilus. 580.

Nimes, Gnadenedikt von. 336.

Nitschmann. 414.

Nitzsch, C. J. 607. 678. 697. 698.

Nomadenleben, Eintreten der Rechabiten für das. 22.

Nominalismus. 260.

Nomokanon. 171.

Xordreich Israel. 19.

Notlüge. 656.

Novalis, Friedrich v. 430.

Novatianus, Novatianer. 112.

Oberhoheit, Päpstliche, über die Staaten. 243.

, , Stellung des Protestantismus zu der. 262.

Obrigkeit, Stellung der. in Luthers Theologie und Ethik. 281. 284.

, , zum Luthertum des 16. und 17. Jahrh. 3 '9- 330.

Occam, Wilhelm von. 211. 212.

(^chino, Bemardino. 274.

Ökumenisch. 117.

Otinger, Christoph Friedrich. 414.

Offenbarung im Judentum. 5.

, Christliche. 584. 587. 594. 613.

- , Stellung der, in der mittelalterlichen Scho- lastik. 211.

. , im modernen Protestantismus. 423 f.

Offenbarungsbegriff. 397. 446. 472. 479.

oiKovo.uia. 552.

Okkultismus. 415.

Olaf Schoßkünig von Schweden. 187.

Olaf Tryggvesson von Norwegen. 187.

Oldrnbarneveldt, Johan van. 344.

Ontologismus. 511.

Opferritus. 12.

Ophiten. 102.

Oratorianer. 225.

Ordcnsvvescn. 205. '225. 248.

Ordination. 321.

Ordnungen, F'este kirchliche. 135.

Organisation der (^icmeinden. 91. 05. 149.

der katholischen Kirche in den kleineren deutschen Staaten im 19. Jahrh. 239.

Origcnes. •109. iio. 141. 142. 150. 556. 566.

. Sein Verhältnis zum dnostizismus. i lof. 114.

, Kampf gegen, als Vertreter der Durch- setzung christlicher mit hellenischen Ge- danken. 164.

Orlandus di Lassus. 247.

Orthodoxie, .-\usgestaltung der, in den trini- tarischen und christologischen Kämpfen. 163 ff".

Orti y Lara. 493.

Pachomius. 162.

Palästina. 3.

Palestrina. 247.

Palmer, Christian von. 696.

Panagia. 172.

Panentheismus Zwingiis. 291. 293.

Pantheismus. 376. 430. 432. 472. 478. 495.

Papalismus. 212.

Papias. 43.

Papstkirche. 195. 201.

Papsttum, sein Verhältnis zum fränkischen

Königtum. 194. 198. , Höhepunkt seiner Macht. 200. . Sinken seiner politischen Macht und freiere

Stellung auf kirchlichem Gebiet. 211. , Das, der neueren Zeit. 243 f. , Luthers .Anschauung vom. 279. Papstwahl, Recht der Exklusive bei der. 232. Parabeln. 46. 54. 61. 68. Paracelsus. 302. Paraklet. 95. 96. 1 16. Partei, Prophetische, des Jesaias. 24. Parusie. 73. 97. Pascal, Blaise. 37S. 410. 529. Pascha. 12. 16. Passamahl Jesu. 51. Pastoralbriefe. 74. Pastoralmedizin. 578. Pastoraltheologie. 549 ff. Pastoraltrilogie. 556. Patriarch von Konstantinopel, seine Stellung

unter der Türkenherrschaft. 173.

'40

Register.

Patriarchalismus in Luthers Ethik. 284 f. Patriarchat. 116. Patriarchen in Israel. 11. 12.

der griechisch-orthodoxen Kirche. 163. Paul III., Papst. 223.

Paul IV., Papst. 223. 243.

Paul, Vincenz von. 226.

Paulinismus kein fertiges theologisches System. 87.

, Verhältnis des, zur Religion Jesu. 88.

, Erweiterungen des. 93.

, Luthers Stellung zum. 260.

, Des Florentiner Neuplatonismus Stellung zum. 270.

, Identifizierung des, mit dem Neuen Testa- ment in der Reformation. 258.

Paulus. 59. 65. 69. 70. "jT). *74. 91. 97. 101. 107. 120. 135. 255. 260. 290. 521. 524. 651.

Bekehrung. 75.

Weltmissionsfahrten. 77.

Ende. 78.

Ertrag seiner Arbeit. 78 f.

Religion und Theologie. 79.

Einfluß auf die Theologie der ältesten Kirche. 92.

Pelagianismus. 513. 515.

l'enn, William. 367. 420.

Pentateuch. 4.

Perikopen. 680.

Persönlichkeitsidee im Calvinismus. 352.

der modernen Kultur. 378. Persönlichkeitsreligion. 722. Pessimismus, Ethik des. 639. 648. Peter der Große. 178.

Petrus. 43. 48. 70. 76. 78. 131. 135.

Petrus Lombardus. 210.

Pfarrschulen, Karolingische. 565.

Pfingsten in Israel. 16.

Pfingstwunder. 70.

Pfleiderer, O. 595.

I 'flichtbegriff, Christlicher. 656.

PrtichtenkoUision. 656.

Pfründen der Kirche. 212.

Phantasie Ausdrucksmittel religiösen P'rlebens.

715- Pharisäer. 37. 52. 59. 62. 63. 66. 651. I'harisaismus. 36. 48. 69. 86. Philadelphische Gesellschaft. 415. l'hilaret. 178. Philemonbrief. 78. Thilipp II. von Spanien. 336. Philipperbrief. 78. 86. Philippismus. 322. 335. Philister. 17. l'hilosophia Christi. 272. Philosophie, Verhältnis der, zur thristlichcn

Kirche. 134.

Calvinistische. 427.

Philosophie, Rolle der, in der modernen Kultur. 376.

Photius. 171. 511.

Physiokraten. 375.

Piaristen. 226.

Pico, Giovanni, della Mirandola. 270. 387.

Pietismus. 303. 323. 345. *4o8. 420 ff. 438. 441. 475. 615. 616. 6ig. 637. 661.

Pilatus, Pontius. 50. 51.

Pilgerfahrten zu den heiligen Stätten Ruß- lands. 179.

Pilgerväter. 337.

Pipin der Kleine. 193.

Pithou, Verfasser der Schrift: Les libertes de l'eglise gallicane. 228.

Pius IV., Papst. 223.

Pius V., Papst. 243.

Pius VI., VII. und VIII., Päpste. 241.

Pius VII., Wiederherstellung des Jesuiten- ordens durch. 231.

Pius IX. 240. 242. 243. 244.

Pius X. 242.

,,PIateform of discipline". 345.

Plato, Piatonismus. 100. 325. 472. 510.

Platoniker von Cambridge. 428.

Pleroma. 104.

Pletho, Gemistus. 171.

Plotin. 108. 150.

Pluralismus. 488.

Pneumatiker. 104.

Trveu|uaTiKÖc ßioc. 580.

Pocnitentiales libri. 558. 579.

Poimenik, Protestantische. 695 707.

Polemik in der Apologetik. 497.

Polizeistaat, erwachsen aus dem Luthertum.

399- Polykarp. 556. Polytheismus. 470. ,, Popenlose" in Rußland. 180. Porphyrius. loS. iii. 141- 150. Positive protestantische Dogmatik. 628. Positivismus. 376. 388. 425- 47^- *47S.

484. 532. praeambula fidci. 496. Prädestinationsgedanken des Paulus. 83.

des .Augustin. 209.

Luthers. 281. Prädestinationslehre, Calvinistischc. 275. 2S9.

290. 306. 339. 416. , Wirkung der, auf die reformierte Ethik.

351- , Stellung der katholischen Kirche in der.

515;

Präexistenz Jesu. 86.

Prämonstratenser. 206.

praemotio physica. 512.

Präzisismus in Holland. 410. 638.

Prayer Hook, Common. dcs.\nglikanismus. 362.

Predigt im Mittelalter. 204.

Register.

747

rrcdijjt im lutherischen Kultus. 320.

- , Kathohsche. 565 f.

- , Protestantische. 663. *6So— 686. I'rcsbyterianer. 338. 346. I'resbyterianisnuis in Schottland. 337. 342. l'rcsbyterkolle^. 115. 136. 163.

Trculien als \'ormacht des Protestantismus. 31 8.

I'ricster in Israel. 7. 10.

IViesterehc, Kampf gegen die. 197.

, Antrag Ferdinands I. auf (ieslattung der. 224.

Priesterkode.\. 6. 30.

,, Priesterliche" in Ruf^land. 180.

Priesterspekulation, Monotheistische. 470.

Priesterstand. 144.

Priestertum, Ausbildung der Idee vom. 117.

Priscilla. 1 16.

Privatmoral, Wesen der, nach dem Luther- tum. 326.

Privatrecht, seine Unzulänglichkeit zur Wah- rung der "Freiheit des FLinzclnen. 544.

Probabilismus. 5 28 f. 592.

Profeßablegimg, Alter für die. 224.

Prokopowitsch, Thcophan. 178.

Propaganda de fide. 562.

Propheten Israels. 4. 20.

Prophetic als Quelle individueller Reli- giosität. 28.

, Exilische und nache.xilische, mit Ezechiel beginnend. 28.

Protestantismus, Mittelalterliche CJrundlagen des. 254. 257.

, Die vier Uirundideen des. 258.

, Moderne Elemente des. 266 tT.

, IJedeutung des vSchriftprinzips für den. 587.

, Bedrohung des deutschen, durch den 30- jähr. Krieg. 317.

, Hinneigung zum, bei Cyrillus Lukaris. 173.

, Täufertum, radikaler Seitenzweig des. 303.

- , .Stellung des, in der modernen Welt. 380. .Umbildung der theologischen (Grundideen

des, durch die Religionswissenschaft. 389. , \'erhältnis des, zur Kunst. 404.

, , zum deutschen Idealismus. 42S. 431. - als Weltanschauung. 434.

- als tiegensatz des Katholizismus. 495. 496. 513.

, Apologetische .\ufgabe des, in der Ge- genwart. 623.

- Herrschende kirchliche Frömmigkeit im.

584- Provinzialkirchen. 138. Provinzialsynoden. 116. 138. Provisionen der Kirche. 211. 224. Prozeßordnung, Christliche. 135. Psalmen. 33.

Pseudoareopagite, Der. 572. Pseudoclementinen. 92. Pacudoisidor. 229.

Pseudoisidorisrhe Dekrrtalen. 197. Psychiatrie Hilfswissenschaft der Pastoralthco

logie. 578. Psychologie der Religion. 387. *4S4- Psychologismus des 18. Jahrhunderts. 382. Pufcndorf, Samuel von. 375. 395. Punktation, Emser. 229. Puritaner, Puritanismus. 301. 337. 345- 35^^'-

363. 410. 637. Pythagoras. 100.

Quadrages. 221. 246. Quäker. 301. 345. 346. 3^6. 419- Quesncl, Paschasius, Verfasser des Nouveau Testament avcc des rcflexions morales. 227.

R.

475-

414. 514. 540.

uf.

Rabbinismus. 36.

Radikalismus, Französischer.

Rajah. 173.

Ranters. 363.

Raskol. 180.

Rationalismus, Abkehr vom. 390.

, Religiöser, im modernen T'rotestantismus.

424. , Tendenz des, gegenüber den religiösen

Ideen. 464. Raynaldus. 218. Rechabiten. 22. Recht, Römisches. 262. Rechtfertigung. 325- 35'- 384-

S. auch JustifikationsbegritT. Rechtgläubigkeit. 166. Rechtsbildung in der Kirche. 131. Redcmptoristen. 226. Reform, Prophetische, in Jerusalem. - der russischen Kirche. 178. Reformation, Entgegensetzung der, gegen das

.Mittelrdtcr. 254.

keine einfache F>neuerung des Urchrislcn tums. 257.

, Sonderart der Schweizer. 287.

als Steigerung des Territorialfurstentums.

3>9-

, Wohltätige Wirkungen der, auf die katho- lische Kirche und Wissenschaft. 506.

Rcformationszeitalter. 222.

bewirkt Nachblute des Mittelalters. 265. Reformatoren, Christentum der, in seinem

Verhältnis zur bisherigen Kirche. 586.

Reformbewegung, Kirchliche, im 10. und 11. Jahrh. 197.

, Humanistische. 269.

Reformen, Landesfürstliche, in der katho- lischen Kirche. 230.

, Kirchliche, Maria Theresias und Josephs II. 232.

Reformidee, Fortbildung der, Luthers. 282 f.

748

Register.

Reformkatholizismus. 516.

Reformsynode zu Trient. 559.

Regalien. 196.

Regalienstreit in Frankreich. 228.

Reich Ciottes. 53. 57. 133. 560. 642. 654. 663.

Gedanke. 410. 534.

Reichsdeputationshauptschluß von 1803. 237.

Reichspatriarch zu Konstantinopel. 169.

Religion, Wesen und Entstehung der. 481 ff.

, Naive und wissenschaftlich reflektierte.

466. 468. , bestehend aus Mythos und Logos. 150.

als Lebensfunktion des Volkes. 669.

Selbständigkeit der. 714.

, Verhältnis der, zur Kultur. 712. 720. 721. , Natürliche. 495. , , Beweis der. 499. , Israelitisch-jüdische. *i. 7. 473. -, , Ethnischer .-Xusgangspunkt und nach- folgende Differenzierung. 14. , , Patriotischer Charakter der. 20. , , Individualisierung. 33. , , Probleme der. 34. , , als theoretische Lehre. 35.

Jesu. 41. *52.

, Verweltlichung der. 122 f.

, Hellenisierung der. 123.

in der Kirche um 325. 121.

des römischen Staates in den ersten drei christlichen Jahrhunderten. 154.

, Vereinheitlichung von, und Rasse in West- europa. 186.

, Katholische, zur Staatsreligion in Spanien erklärt. 24 1 .

Luthers. 277 ff.

, Gegensätze der katholischen. 495.

Religionsbegriff Schleiermachers. 593 ff.

Religionsfriede, Augsburger. 316.

Religionsgeschichte als neue .Aufgabe der Theologie. 446.

Religionsgespräche Zwingiis. 293.

Religionsphilosophie des kritischen Idealis- mus. 475.

Religionspolitik des römischen Staats. 154 ff.

Zwingiis, Eidgenössische und internatio- nale. 294.

Religionspsychologie. 387. '484.

Religionstheorie, Illusionistische. 386. 472.

Religionswissenschaft, Allgemeine. 386. '463.

, Typen der modernen. 475 ff.

, Die vier Einzelprobleme der. 484 ff.

, Vergleichende. 713.

Rembrandt. 301. 404.

Remonstranten. 344.

Renaissance, Verhältnis der, zum Mittelalter.

254. 256. , Moderne. 373. , Gegensatz der, zur geistlichen Kultur.

215.

Renaissancepoesie, Wirkung der, auf die pro- testantischen Länder. 405.

Renan, Ernest. 379.

Reuchlin. 569.

Reue. 661 f.

Revolution, Französische. 403. 425.

Rhode-Island. 367. 419.

Richter in Israel. 5.

Richterperiode. 1 7.

Rigorismus. 661.

Riten, Christliche. 144. 151.

Ritenkongregation. 224.

Ritschi, Albrecht. 445. 449. *6ii 615. 617.

Ritus, Allgemeine Annahme |des römischen, in der katholischen Kirche. 247.

Römerbrief des Ignatius. 92.

Rom, Moralischer und politischer Primat von.

139-

als einzig maßgebende Hauptkirche West- europas. 184. 190.

Romanos. 169.

Romantik. 406. 420. 423. 429. 435.

Rosenkreuzer. 415.

Rothe, Richard. 445. 640.

Rothmann, Bernd. 300.

Rous, Francis. 411.

Rousseau. 406. 475.

Rupert von Deutz. 574.

Ruskin, John. 435. 443.

Ryckel, Dionysius von. 529.

Sabaoth. 23.

Sabbat. 1 1 .

Sadduzäer. 27-

Säkularisation in Deutschland. 237. 245.

des Staates. 391. Sailer, Michael. 530. 569. Sakralwesen, Stellung von Erasmus' Theo- logie zum hierarchischen. 272.

, Stellung Zwingiis zum hierarchischen. 293. I Sakramente, Katholische. 88. 120. 144. 202. j 255. 267. 279. 347. 496. 542. I , Protestantische. 321. i Sakramentcnlehre, Katholische. 515. ; Sakramentsbegriff, seine Auflösung durch den

Protestantismus. 266. I Sakramcntsidec Zwingiis. 292. ! Sales, Franz von. 226. 529. i Salcsiancrinnen. 226.

Salomo. 18. 19. 1 Samaria. ig.

j Satan. 134. S. auch Teufel. I Satisfaktionslehre. 302. 514. S. auch Recht- fertigung und Justifikationsbegriff.

des Paulus. 82. Satornil. 103. Saul. 17.

Schell, Herman. 538.

I

Register.

749

Schelling. 377. 427. 430. 449. 471. 480.

Scheol. 14.

Schiller. 406. 429. 468.

Schlange, Eherne, Moses'. 24.

Schleierniachcr. 305. 382. 383. 423. 427.

430. 431. 445. 449. 476. 484. 530. ♦593 -599.

*6oi- 606. 607. 608. 611. 615. 617. 63g f.

667. 678. 695. 698. Schnialkaldischer Bund. 295. r Schmid, L. 574. Schmidt, F. X. 571. Schöpfungsbericht, Stellung der Apologetik

zum mosaischen. 502. Schöpfungslehre. 5 1 2 f. .Schöttgen. 275. Scholastik. 558. 566. 715. -, Mittelalterliche. 203. 210. 510.

-', Moral der. 527.

Scholastische Methode der Dogmatik. 510.

Schopenhauer. 406.

Schottland, Calvinismus in. 342.

Schrift, Autorität der heiligen, bei Luther. 283.

s. auch Heilige Schrift. Schriftauslegung, Reformatorische. 296. Schrifterklärung. 114. Schriftgelehrte. 49.

Schriftprinzip der protestantischen Theologie.

587. 625. Schümiann, Anna. 358. Schütz, Johann Jakob. 413. Schulbrüder. 226. 235. Schuld der Sünde. 648. Schule, Einfluß Franckes auf die. 412. , Freiheit der, von der Kirche. 437. , Theologische, von Alexandria. 108. 109. .Schulwesen des Luthertums. 323. Schweden und Norwegen, Entwicklung der

lateinischen Kirche in. 193.

als Schützer des Protestantismus. 317. vSchweizer, Alexander. 600.* Schwenkfeld, Caspar. 302. Schwestern, Barmherzige. 226.

scientia media. 512.

Scythen, Vordringen der, bis Ägypten. 25.

vSeckendorf, Veit Ludwig von. 318. 329. 331.

332. Sedekia. 27. Seelsorge, Katholische. 552 f. 554. 556. 574.

•575- , Protestantische. 664. 695. Sein, Das sittliche. 642. Sektenwesen, Russisches. 180. Selbstbewußtsein, Messianisches, Jesu. 54.

der Seele. 537.

,,Selbstursächlichkeit" der Seele. 536. Semipelagianismus. 515. Separation. 298. 347. 411.

sermo, Der freie. 566. Servede. 274.

Seßhaftigkeit, Einspruch der Rechabiten gegen

die. 22. Seusc, Heinrich. 510. 529. Sewall. 346. Shaftcsbury. 428. Sibyllincnbücher. 99. Silvester, Pope. 177. Simon der Magier. 93. 103. .Simonie, Kampf gegen die. 197. .Simons, Menno. 300. Sinai. 8.

Sittengesetz. 261. 523. .Siiicnlchre, Christliche. 522. 524, .Sittlichen, (iüte und Vollkommenheit Gottes

als letzter Erklärungsgrund des, nach der

katholischen Moralphilosophie. 533. .Sittlichkeit, Christliche. 523. 642. 643.

, \'erhältnis der, zur Religion. 643. 705.

als Lebensfunktion des Volkes. 669. Skiten. 175.

Sklavenbefreiung. 420. 439.

Smith, Adam. 366.

Somasker. 226.

Sonntag, Christlicher. 664.

Sonntagsgottesdienst. 694.

.Sonntagsschulen. 687.

.Soteriologie. 513.

.Souveränetätsidee. 392.

Sozialdemokratie. 443.

.Soziale Frage. 578. 664. 703. 727 f.

, Arbeit der katholischen Kirche an ihrer Lösung. 543.

Sozialethik. 644.

.Sozialismus, Christlicher. 385. 442.

, Moderner. 379. 669.

. Bekämpfung des, durch den Katholizis- mus. 544.

des Calvinismus. 353. Sozialpolitik, Moderne. 544. Sozini, Sozinianer. 274. 301. 391. Spanien, Kirchenpolitik in, im 14. und 15.

Jahrh. 213.

, Katholische Kirche in, seit der franzö- sischen Revolution. 240.

, Katholische Theologie in, im 19. Jaluh.

493-

.Spener, Philipp Jacob. 411.

Spinoza. 301. 344. 345. 387. 474. 638.

Spiritismus. 415.

SpirituaUsten. 303. 323. 414.

Sprache, Annahme der aramäischen, durch die Juden. 36.

Staat als Kulturgemeinschaft. 672.

, Römischer, seine Umbildung im 3. nach- christlichen Jahrhundert. 129.

, . Seine Verkuppelung mit der Kirche durch Konstantin. 130.

, . Seine Entwicklung in der Richtung auf die Kirche. 153 ff.

750

Register.

12.

153-

697. 698. 699. geistliclien Anstalten

.Staat, Römischer. Seine Religion in den ersten drei Jahrhunderten. 154.

, sein Zweck nach dem Luthertum. 284. 330.

, nach moderner Auflassung. 435.

, Die Erfüllung von Kultur- und Humani- tätsaufgaben durch den modernen. 544.

und Kirche, Trennung von. 236. 666.

, \'erhältnis von , nach Augustins Ethik. 635.

Staatsbegrifl", Mittelalterlicher und moderner.

391- .Staatskirche, Christliche. 157. Staatskirchentum, Protestantisches. 264.

des Luthertums. 319.

, Gegensatz des Pietismus gegen das. 407. Stätten, Heilige, in Israel. Standesrecht, Kirchliches. Statthalter Gottes. 201. Staudenmaier, F. A. 574. -Staupitz, Johann von. 278. Stefan IL, Papst. 194. Steinmeyer, F. L. .Stephanus. 73.

Steuerfreiheit der geistlichen Anstalten und Personen. 200.

der Geistlichkeit, Aufhören der, 246. Stiftshüttc. 3.

Stoa. 471.

Stöcker, Adolf. 443.

.Strafe, .Sittliches Wesen und Zweck der. 539.

.StralJburg als Sitz des Täufertums. 299. 300.

Strauß, David Friedrich. 446.

Studienplan, Österreichischer thcologisclicr.

559;

Stundismus. 180.

Suarez, Franz. 528.

Sünde. 637. *647 650. *66o ff.

und Tod fortgeschafft durch Christi Tod.

79-

im abendländischen Dogma. 208. 512. , Stellung der modernen Kultur zur. 403.

im System der christlich - katholischen Ethik. 537 ft'.

Sündenfall. 480. Süntlenlosigkcit Mariae. 514. .Sündenvergebung in Luthers Religion. 278. 280. 285. 324.

in Calvins Religion. 308.

nach der protestantischen Orthodoxie des 17. Jahrh. 637.

Supranaturalismus, Urchristlichor. 304.

, Mittelalterlicher. 273. 277. 286. 289. 290.

im Calvinismus. 340.

in der Hcngstcnbergschen Theologie. 449.

, Bekämpfung des, durch die moderne Kultur. 373 f. 381.

Susannageschichte im Daniclburh. lon. Suso, s. Seuse.

.Swedenborgianer. 415. Symbol, Apostolisches. 195. Symbole der christlichen Kirche. 144. 151. Symbolik, Zerfall der. 498. -Symeon von Thessalonich. 171. Synedrium. 50. 51. Synkretismus. 470 f. , Stoischer. 386. .Synod, Heiliger dirigierender. 178. .Synodalkirchen, Xiederrheinische und ost- friesische. 335. Synodalwesen, Protestantisches. 439. .Synode zu Chalcedon. 207.

zu Dordrecht. 344.

, Englische, von 1643 47. 364.

zu Ephesus. 165. 207.

zu Jerusalem. 173.

zu Konstantinopel. 164. 169. 207.

zu Nicäa. 121. 167. 207.

, Provinzial-, zu Tarragona. 230. Synoden der Bischöfe und Metropoliten. 116.

188. .Synoptiker, Geschichtswert der. 43. , Paulinischer Einschlag in den Evangelien

der. 93. .System, Dogmatisches, im Luthertum und im

Calvinismus. 585.

Täufertum. *297. 345. 418.

. Seine dogmen- und religionsgeschicht- liche .Stellung. 303.

. Seine aggressiv- apokalyptische Gestal- tung. 303.

, Seine Fortwirkung im Independentismus. 368.

, Bedeutung seines Sieges. 369.

Tatian. 99. *io6.

Taufe. 144. 167. 279. 321. 412.

in der jerusalemischen Urgemeinde. 72. - bei Paulus. 88.

, trinitarische. 96.

Taufgesinnte. 301.

Taufgnade. 209. 412.

Tauler, Johannes. 529.

Taylor, X'orkämpfer des .\nglikanismus. 362.

Teellinck, W. 411.

Tempel zu Jerusalem. 18.

Tempelbau unter Darius Hystaspis. 29.

Temporale. 243.

Teraphim. 13.

Territorialfürstentum, Entstehen seiner .Sou- \eränität in den konfessionellen Kämpfen des 16. und 17. Jalirhunderts. 319.

Tertullian. io8. 112. 116. 117. 121. 140. 143. 145. 149. 152. 525. 556. 579.

Testament, Altes. 2.O7.91. 107. 114. 142. 504.

, - -' seine Bedeutung für Calvins Religion. 31Ü.

Rej»islor.

751

Testament, Neues. 59. 60. 107. iii. 619. , Ciriechisrlies Neues, des Erasmus. 271. Testamente der 12 Tatriarchen. 99. 'i'eufel. 133. 281. 286. S. auch Satan. Textvertalscluingcn der religiösen Literatur

im 2. Jahrhundert. 99. Thalhofer, F. X. 574. Thcatiner. 225. Theodizee. 308. 377. Theodor von Studion. 170. Theodoret. 166.

Theodosius der (Jroße. 157. 190. Theogonic. 470. Theokratie in Israel. 9.

in der christlichen Kirche. 130.

, Entstehung der mittelallerlichcn. 195. Theologie als Funktion der Kirche. 665. , System der, im Mittelalter. 210. ,, , Deutsche". 260.

Luthers. 285.

Zwingiis. 289.

des Luthertums. 323. , Reformierte. 350.

des modernen Protestantismus. 444 tY. , Katholische, im 19. Jahrh. 492.

, Christlich-katholisrhc praktische. 549 ff. , Christlich protestantische praktische. 678 ft. , Ciegensatz zwischen der protestantischen, der C.egenwart und der kirchlichenPraxis.6 1 o.

Theophilus von Alexandria. 165.

Theophilus von Antiochia. 99. 503.

Therapeuten. 553. Thesen Luthers. 278. Thessalonicherbrief, IL 74. Thomas von Aquin. 210. 493. 500. 521. 523. 527. 534. 535- 539- 542.

Thomas von Kempen. 510. 529. Thomismus. 512. 515. Thora. 10.

Titus. 76.

Todsünde nach der katholischen Moral. 537.

538. 539- Todt, Rudolf. 443.

'Toleranz, Problem der. 504 ff.

Tolcranzlehre des Staates in Holland. 345.

Tolstoi, (iraf Leo. 406.

'Toynbee. 443.

Tradition, Apostolische. ii2f.

Traditionalismus. 511.

Transsubstantiation. 209.

Tridentinum. 506. 527.

Trient, Konzil zu. 558.

Trinitätsdogma, Trinitätsidee. 96. 272. 286. 5 1 2.

Tübinger Schule, Protestantische. 448.

, Katholische. 493.

Tugend als(ie\vohnheitderPflicluerfüllung.059.

'Tugenden, Christliche. 635.

Tunkers. 419.

Turgot, A. R. J. 402.

Turrctin, .Alphons. 275.

'Twcslen, .\. 607.

'Tyrannenmord, .Stellung des Calvinismus zum.

343-

u.

UbiquitiitsChrislologie. 322. Ultramontanismus als Cefahr für die Kultur.

712. Unfehlbarkeit des Papstes. 244. des Lehramtes der Kirche. 525. Unglaube. 647. 649. Unigenitus, Bulle, Clemens' \I. 278. Unigenitus, Konstitution. 227. unio mystica. 327. Union, Brester. 177. , Utrechter. 336. Unionsbestrebungen der Kirche. 166. 172.

184. 188. Unitarier. 431. Universalismus. 387. Universalstaat. 264. Universitäten. 206. 207. , Katholische, in Frankreich. 235. , Lutherische. 323. Universitätswesen, Reformiertes. 347. Unkirchlichkcit , (iründc der, des Kultur-

protcstantismus der (Gegenwart. 436. Unsterblichkeit. 383. 403. Unterrichtsgesetz, Französisches, vom 15. .Miüz

1850. 235. Urgemeinde, Jerusalemische. 70. Urraburru. 493. Ursulinerinnen. 226. Utilitarismus. 383. Utrecht, Union von. 336.

Lehre.

226.

226.

174-

Väter der christlichen

des guten Todes. V'alentinian 1. 157. \'alentinus. 103. 105. Variata. 317. Vasquez. 507.^528. Vaticanum. 492. 511. \'atikan. 242. \'atke, Wilhelm. 39. Vatopädi, .Schule im Athoskloster. V'enatorius, Thomas. 636.

Verfassung, hierokratische, des N'olkes Israel.

3-

des Staates. 672 f. , Kirchliche. 148. Vermittlungstheologie, Protestantische, des

19. Jahrh. 607. \'ernunft, Stellung der, in der mittelalterlichen

Scholastik. 210. , Kultus der, in Frankreicii. 234. , Luthers Stellung zur. 277. , Praktische. 640. 647.

752

Register.

„Vernunft überhaupt". 476. 477. 487.

Vernunftreligion. 488. 499.

Versöhnungsgedanke. 480.

Vico, Giovanni Battista. 529.

Victor von Rom. 117.

Victor Emanuel I. von ItaHen. 241.

Victor Emanuel II. von Italien. 242.

Viktoria, Fr. 528.

Vincenz von Lerin. 511.

Viret, Pierre. 334.

Visionstheorie des mosaischen Schöpfungs- berichts. 502.

Vives, Ludwig. 529.

Völkerrecht. 535.

Voet, Gisbert. 345. 358. 410. 678.

Voigt, G. 692.

Volk als geschichtliche Kulturgemeinschaft. 668 f.

\'olksreligion, Russische. 179.

Volksschulunterricht, Lutherischer, im 16. und 17. Jahrh. 324.

Volkssouveränetät im Calvinismus. 343.

Volksunterricht, Religiöser. 204.

Voluntarismus. 291. 633.

w.

Wagner, Richard. 406.

Wahrheitsbegrifif. 397.

Waisenhaus, P'ranckes Hallisches. 412.

Walafrid Strabo. 574.

Waldenser. 213.

Wallace, A. R. 501.

Wasmann, Erich. 501.

Weib. Seine Unterordnung unter den Mann bei Paulus. 88. S. auch Frau.

Weigel, Valentin. 302.

Weinbau, Einspruch der Rechabitcn gegen den. 22.

Weinel, H. 626.

Weiß, A. 532.

, Bernhard. 701.

Welt, Kausaler und teleologischer Zusainnicn- hang der. 522.

Weltflucht s. Askese.

Weltgericht. 53.

Weltgrund, Absoluter. 476.

Wcltidee der modernen Kultur. 377. 386.

Wcltschöpfer. 500.

W'eltvcrnunft, Göttliche. 429. 430.

Werke, Gute. 202. 381. 655.

Werner, Karl. 530.

Westminster-Konfession. 364. 395.

Wesley, Charles und John. 416.

Wette, W. M. L. De, Begründer der histo- rischen Kritik des A. T.s. 4. 3g.

VVettstein. 275.

Whitefield, George. 416.

Wichern, Johann Hinricli. 443.

Wiclif, Johann von. 214.

Wiederbringung aller Dinge. 302.

Wiedergeburt. 575. 577. 653.

Wiedertäufer. 298.

Wigand. 501.

Wilhelm der Eroberer. 196.

Wilhelm der Schweiger. 336.

Wilhelm III. von England. 345. 365.

Wilibrord. 562.

Wille. 640.

Willensfreiheit. 536. 597.

Willens-Souveränetät Gottes, Calvinischer Be griff der. 350.

Williams, Roger. 367. 419.

Winckelmann, Johann Joachim. 405.

Winthrop. 346.

Wirtschaftsleben des Calvinismus. 3 56 f.

Wirtschaftspolitik des Luthertums. 332.

Wishart. 336.

Wissenschaft, Wesen und Zweck der. 469.

, Voraussetzungslose. 507.

, Führende Rolle der, in der modernen Kultur. 376.

Wittenberg, Biblizistisch-augustinischc Theo- logie und Ordensschule in. 278.

als Musterbild der lutherischen Uni\ersi- täten. 323.

Wladimir Monomach. 176.

Wladimir von Rußland. 175.

Wolff, Christian. 368. 386. 448.

Wollen, Sittliches. 592. 599.

„Wort", Das, seine zentrale Bedeutung im Protestantismus. 265.

Wunder der christlichen Kirche. 151. 474.

, Stellung der französischen Apologetik zum.

499- , der modernen Kultur zum. 377. Wundt, Wilhelm. 639. Wyttenbach, Daniel. 289.

Zacharias. 29.

Zacharias, Papst. 194.

Zebaoth s. Sabaoth.

Zedekia s. Scdekia.

Zehnstämme, Losreißung der, von Juila. J9.

Zentren des Christentums. 136.

Zentrumspartei. 239.

Zenturien, Magdeburger. 218.

Zins, Stellung des Luthertums gegen den. 332.

, Stellung des Calvinismus zum. 357.

Zinzendorf, Graf Ludwig von. 414.

Zion. 71.

Zisterzienser s. Cisterzienser.

Zölibatsgesetz. 224.

Zürich, Reform Zwingiis in. 293.

Zwingli. 277. 285. *287. 298. 299. 306. 309.

387. 404. Zwinglianismus, Stellung des, zum neuen

Kirchenbegriff. 395.

VERLAG VON B. G. TEUBNER IN BERLIN UND LEIPZIG.

DIE KULTUR DER GEGENWART

IHRE ENTWICKLUNG UND IHRE ZIELE. HERAUSGEGEBEN VON

PAUL HINNEBERG.

DIE WIDMUNG DES WERKES HAT

SR MAJESTÄT DER KAISER

ALLERGNÄDIGST ANZUNEHMEN GERUHT

J_Jie „Kultur der Gegenwart", für den weiten Umkreis aller Gebildeten bestimmt, soll in allgemeinverständlicher Sprache aus der Feder der geistigen Führer unserer Zeit eine systematisch aufgebaute, geschichtlich begründete Gesamtdarstellung unserer heutigen Kultur darbieten, indem sie die Fundamentalergebnisse der einzelnen Kulturgebiete nach ihrer Bedeutung für die gesamte Kultur der Gegenwart und für deren Weiter- entwicklung in großen Zügen zur Darstellung bringt. Die für die Schaffung einer solchen den Namen wirklich verdienenden modernen Enzyklopädie unerläßlichen Bedingungen werden wohl zum erstenmal in der „Kultur der Gegenwart" erfüllt. Nach langjährigen Vorbereitungen auf Grund zahlloser Konferenzen und Korrespondenzen mit den ersten Gelehrten und Praktikern unserer Zeit in Angriff genommen, vereinigt das Werk eine Zahl erster Namen aus allen Gebieten der Wissenschaft und Praxis, wie sie kaum ein zweites Mal in einem anderen literarischen Unternehmen irgendeines Landes oder Zeitalters zu finden sein wird. Dadurch aber wieder wurde es möglich, jeweils den Berufensten für die Bearbeitung seines eigensten Fachgebietes zu gewinnen, um dieses in gemeinverständ- licher, künstlerisch gewählter Sprache auf knappstem Räume zur Dar- stellung zu bringen. Durch die Vereinigung dieser Momente glaubt das Werk einer bedeutsamen Aufgabe im geistigen Leben der Gegenwart zu dienen und einen bleibenden Platz in der Kulturentwicklung sich selbst zu sichern. Die Bedeutung des Werkes wird hinreichend dadurch gekenn- zeichnet, daß Se. Majestät der Kaiser die Widmung desselben anzunehmen allergnädigst geruht hat.

INHALTSÜBERSICHT DES GESAMTWERKES.

TEIL I. DIE GEISTESWISSENSCHAFTLICHEN KULTURGEBIETE.

RELIGION UND PHILOSOPHIE, LITERATUR, AIUSIK UND KUNST (MIT VORANGEHENDER EINLEITUNG ZU DEM GESAMTWERK).

TEIL IL DIE GEISTESWISSENSCHAFTLICHEN KULTURGEBIETE.

STAAT UND GESELLSCHAFT, RECHT LTND WIRTSCHAFT.

TEIL m. DIE NATURWISSENSCHAFTLICHEN KULTURGEBIETE. TEIL IV. DIE TECHNISCHEN KULTURGEBIETE.

INHALTSÜBERSICHT DER EINZELNEN ABTEILUNGEN.

EINLEITUNG

ZUM GESAMT-

Teil I Abt. i.

Teil I Abt. 2.

EINLEITLTIG

IN DIE GEI-

Die allgemeinen Grundlagen der Kultur der Gegenwart

I. Das Wesen der Kultur. IL Das moderne Bildungswesen.

III. Die wichtigsten Bildungsmittel.

1. Schulen und Hochschulen.

a) Volksschulen.

b) Höhere Schulen.

a) Knabenschulwesen. ß) Mädchenschulwesen.

c) Hochschulen.

a) Geisteswissenschaftliche Aus- bildung.

ß) Mathematische, naturwissen- schaftliche, technische Aus- bildung.

d) Fortbildungs- und Fachschulen.

2. Museen.

a) Kunst- und kunstgewerbliche Museen.

b) Wissenschaftlich-technische Mu- seen.

3. Ausstellungen.

a) Kunst- und kunstgewerbliche Ausstellungen.

b) Wissenschaftlich-technische Aus- stellungen.

Theater. Musik.

Zeitungsweseu. Bibliotheken.

IV. Die Organisation der v/issen- schaftlichcu Arbeit.

Die Aufgaben und Methoden der stesa\tssei|. Geisteswissenschaften.

SCHÄFTEN.

I.Geisteswissenschaften und geisteswissenschaftliche IMetho- den im allgemeinen. II. Die wichtigsten Erkenntnis- mittel und Hilfsdisziplinen der Geisteswissenschaften.

1. Die sprachlichen Disziplinen.

a) Sprache und Sprachwissenschaft.

b) Philologie.

c) Vergleichende Sprachwissen- schaft.

2. Die Geschichtswissenschaft mit ihren Teilwissenschaften.

a) Wesen der Geschichte und der Geschichtswissenschaft.

b) Historische Hilfswissenschaften im engeren Sinne.

c) Prähistorie.

d) Volkskunde (Folklore).

3. Die Statistik.

i

i

Teil I Abt.

RELIGION.

Die außerchristlichen Religionen.

1. Die Anfänge der Religion und

die Religion der primitiven

Völker. II. Die orientalische Religion des

Altertums, JMittelalters und der

Neuzeit.

1. Ägyptische Religion.

Teil I. Die geisteswissenschaftlichen Kiilturgcbiete. Abt. i 6.

2. Westasiatische Religion.

a) Semitische Religionen (mit Aus- schluß der israelitisch-jüdischen Religion).

b) Indo-iranische Religionen. et) Indische Religion.

ß) Iranische Religion.

3. Religion des Islams.

4. Ostasiatische Religion.

a) Lamaismus.

b) Religion der Chinesen.

c) Religion der indischen Archipel- bcwohner.

d) Religion Japans. a) Shinto.

ß) Buddhismus. III. Die europäische Religion des Altertums.

1. Griechische Religion.

2. Römische Religion.

3. Germanische Religion.

Teil I Abt. 4.

Die christliche Religion

mit Einschluß der israeütisch -jüdischen

Religion.

I. Geschichte der christlichen (und der israelitisch- jüdischen) Re- ligion.

1. Israeli tisch -jüdische Religion.

2. Christliche Religion.

a) Altertum.

tt) Religion Jesu und Anfänge des Christentums biszuraNicaenum.

ß) Kirche und Staat bis zur Grün- dung der Staatskirche.

b) Mittelalter und Neuzeit.

a) Osteuropa (Griechisch - ortho- doxes Christentum und Kirche), i) Mittelalter. 2) Neuzeit.

ß) Westeuropa (Romanisch - ger- manisches Christentum und Kirche), i) Mittelalter. 2) Neuzeit.

a. Katholizismus.

b. Protestantismus.

II. System der Religionswissen- schaft (spez. Systematische christ- liche Theologie).

1. Allgemeines.

Wesen der Religion und der Reli- gionswissenschaft.

2. Die einzelnen Teilgebiete.

a) Katholische Theologie.

a) Theoretische Theologie.

i) Dogmatik.

2) Christliche Ethik. ß) Praktische Theologie.

b) Protestantische Tiieologie. a) Theoretische Theologie.

i) Dogmatik. 2) Christliche Ethik. ß) Praktische Theologie.

3. Die Zukunftsaufgaben der Religion und der Religions- wissenschaft.

Teil I Abt. 5.

PHILOSOPHIE.

Allgemeine Geschichte der Philo- sophie.

I. Die Anfänge der Philosophie und die Philosophie der primi- tiven Völker. IL Die orientalische Philosophie des Altertums, Mittelalters und der Neuzeit.

1. Westasiatische Philosophie.

a) Indische Philosophie.

b) Semitische (arabisch- jüdische) Philosophie.

2. Ostasiatische Philosophie.

a) Chinesische Philosophie.

b) Japanische Philosophie.

III. Die europäische Philosophie.

1. Altertum.

2. Mittelalter und Neuzei«-.

a) Mittelalter.

b) Neuzeit.

Teil I Abt. 6.

II

System der Philosophie.

I. Allgemeines.

Wesen der Philosophie.

Die einzelnen Teilgebiete.

1. Logik und Erkenntnistheorie.

2. Metaphysik.

3. Naturphilosophie.

4. Psychologie.

IV. Inhaltsübersicht der einzelnen Abteilungen.

LITERATUR.

5. Geschichtsphilosophie.

6. Ethik.

7. Pädagogik.

8. Ästhetik.

III. DieZukunftsaufgaben derPhilo- sophie.

Teil I Abt. 7.

Die orientalischen Literaturen.

I. Die Anfänge der Literatur und die Literatur der primitiven Völker. IL Die ägyptische Literatur.

III. Die westasiatische Literatur.

1. Semitische Literaturen.

a) Babylonisch-assyrische Literatur.

b) Israelitisch-jüdische Literatur.

c) Syrische Literatur.

d) Äthiopische Literatur.

e) Arabische Literatur.

2. Indo-iranische Literaturen.

a) Indische Literatur.

b) Iranische Literatur. a) Avesta-Literatur.

ß) Persische Literatur, i) Altertum. 2) Mittelalter und Neuzeit.

3. Armenische Literatur.

4. Türkische Literatur.

IV. Die ostasiatische Literatur.

a) Chinesische Literatur.

b) Japanische Literatur.

Teil I Abt. q.

Teil I Abt. 8.

Die griechische und lateinische Literatur und Sprache.

I. Die griechische Literatur und Sprache.

1 . Die griechische Literatur des Alter- tums.

2. Die griechische Literatur des Mittel- alters.

3. Die griechische Sprache.

II. Die lateinische Literatur und Sprache.

1. Die römische Literatur des Alter- tums.

2. Die lateinische Literatur im Über- gang zum Mittelalter.

3. Die lateinische Sprache.

Die osteuropäischen Literaturen und die slawischen Sprachen.

I. Die slawischen Literaturen.

1. Russische Literatur.

a) bis zum 19. Jahrhundert.

b) 19. Jahrhundert.

2. Polnische Literatur.

3. Tschechische Literatur,

4. Südslawische Literatur.

II. Die slawischen Sprachen.

III. Die neugriechische Literatur.

IV. Die albanesische Literatur. V. Die ungarische Literatur.

VI. Die finnische Literatur.

Teil I Abt. 10.

Die romanische und englische Lite- ratur und Sprache und die skandinavische Literatur.

I. Die keltische Literatur. II. Die romanischen Literaturen.

III. Die romanischen Sprachen.

IV. Die englische Literatur (mit Ein- schluß der nordamerikanischen).

1. Englische Literatur.

2. Nordamerikanische Literatur. V. Die englische Sprache.

VI. Die skandinavische Literatur.

1. Mittelalter.

2. Neuzeit.

Teil I Abt. ii.|

Die deutsche Literatur und Sprache. Allgemeine Literaturwissenschaft.

I. Die deutsche Literatur und Sprache.

1. Deutsche Literatur.

2. Deutsche Sprache.

U. Allgemeine Literaturwissen-

schaft.

1. Allgemeines.

Wesen der Literatur und der Lite- raturwissenschaft.

2. Die einzelnen Teilgebiete.

a) Stilistik.

b) Rhetorik.

c) Poetik.

d) Metrik.

Teil I. Abt. 7 14. Teil II. Die gcisteswissenschaftliclien Kulturgebictc. Abt. I.

J

3. Die Zukunftsaufgaben der Li- teratur und der Literatur- wissenschaft.

MUSIK.

Teil I Abt. 12.

und

bis

Die Musik.

I. Geschichte der ISIusik und der Musikwissenschaft.

1. Die Anfänge der Musik und die Musik der primitiven Völker.

2. Die orientalische Musik des Altertums, Mittelalters der Neuzeit.

3. Die europäische Musik.

a) Altertum.

b) Mittelalter und Neuzeit zum Ende des 16. Jahrhun- derts.

c) 17. bis 19. Jahrhundert.

IL Allgemeine Musikwissenschaft.

1. Allgemeines.

Wesen der Musik und der Musik- wissenschaft.

2. Die einzelnen Teilgebiete.

a) Rhythmik.

b) Melodik.

c) Harmonik.

3. Die Zukunftsaufgaben der Musik und der Musikwissen- schaft.

KUNST.

Teil I Abt. 13.

Die orientalische Kunst. Die euro- päische Kunst des Altertums.

L Die Anfänge der Kunst und die

Kunst der primitiven Völker. IL Die orientalische Kunst.

1. Ägyptische außerchristliche Kunst des Altertums.

2. Westasiatische außerchristliche Kunst des Altertums.

3. Christliche Kunst des Altertums.

4. Islamische Kunst.

5. Indische Kunst.

6. Ostasiatische Kunst.

a) Chinesische Kunst.

b) Japanische Kunst.

III. DieeuropäischeKunst des Alter- tums.

1. Griechisch-römische Kunst.

2. Barbarische und christliche Kunst.

Teil I Abt. 14.

Die europäische Kunst des Mittelalters und der Neuzeit. Allgemeine Kunst- wissenschaft.

1. Die europäische Kunst des Mittelalters und der Neuzeit.

1. Osteuropäische (byzantinisch- slawische) Kunst.

2. Westeuropäische (romanisch- germanische) Kunst.

a) Mittelalter.

b) Neuzeit.

a) 14. bis 16. Jahrhundert. ß) 17. bis 18. Jahrhundert. y) 19. Jahrhundert, i) Architektur.

2) Kunstgewerbe.

3) Plastik und Malerei.

IL Allgemeine Kunstwissenschaft.

1. Allgemeines.

Wesen der Kunst und der Kunst- wissenschaft.

2. Die einzelnen Teilgebiete.

a) Architektur.

b) Plastik.

c) Malerei.

3. Die Zukunfts aufgaben der Kunst und der Kunstwissen- schaft.

Teil II Abt. i.

ANTHROPO- GEOGRAPHIE.

Völker-, Länder- und Staatenkunde.

(Die anthropogeog^aphischen Grundlagen

von Staat und Gesellschaft, Recht und

Wirtschaft.)

I.Allgemeine Völkerkunde. U. Allgemeine Staaten- und

Länderkunde. III. Spezielle Völker-, Länder- und Staatenkunde.

1. Asien.

a) Westasien.

b) Ostasien.

2. Afrika.

Inhaltsübersicht der einzelneu Abteilungen.

Europa.

a) Mittelmeerländer.

b) Großbritannien , Frankreich, Niederlande, Skandinavien.

c) Rußland.

d) Südosteuropa.

e) Zentraleuropa. Amerika.

a) Nordamerika.

b) Mexiko und Mittelamerika.

c) Südamerika. Australien und Ozeanien.

STAAT UND GESELL-

Teil II Abt. 2.

SCHAFT. Allgemeine Verfassungs- und Ver- waltungsgeschichte.

I. Die Anfänge der Verfassung und Verwaltung und die Verfassung und Verwaltung der primitiven Völker. IL Die orientalische Verfassung und Verwaltung des Altertums, Mittelalters und der Neuzeit.

1. Altertum.

2. Mittelalter und Neuzeit.

a) Nordafrikanische und westasia- tische (islamische) Verfassung und Verwaltung.

b) Ostasiatische Verfassung und Verwaltung.

UI. Die europäische Verfassung und Verwaltung.

1. Altertum.

2. Mittelalter.

3. Neuzeit.

Teil II Abt. 3.

Staat und Gesellschaft des Orients von den Anfängen bis zur Gegenwart.

I. Die Anfänge des Staates und der Gesellschaft und Staat und Ge- sellschaft der primitiven Völker, n. Staat und Gesellschaft des Orients im Altertum, Mittel- alter und der Neuzeit.

1. Altertum.

2. Mittelalter und Neuzeit.

a) Staat und Gesellschaft Nord- afrikas und Westasiens (Die islamischen Völker).

b) Staat und Gesellschaft Ostasiens, c) China. i) Japan.

Teil n Abt. 4.

Staat und Gesellschaft Europas im Altertum und Mittelalter.

I. Staat und Gesellschaft des Alter- tums.

1. Hellas.

2. Rom.

IL Staat und Gesellschaft des Mittelalters.

1. Osteuropa (Byzanz).

2. Westeuropa (Die romanisch - ger- manischen Völker).

a) Erste Hälfte des Mittelalters.

b) Zweite Hälfte des Mittelalters.

Teil II Abt. 5.

Staat und Gesellschaft Europas und Amerikas in der Neuzeit

I. Staat und Gesellschaft West- europas.

1. 16. Jahrhundert (Reformations- zeitalter).

2. 17. Jahrhundert (Gegenreformation und 30 jähriger Krieg).

3. 18. Jahrhundert (Höhezeit des Ab- solutismus).

4. Revolutionszeitalter und Erstes Kaiserreich.

5. 19. Jahrhundert.

II. Staat und Gesellschaft Ost- europas.

III. Staat und Gesellschaft Nord- amerikas.

IV. Staat und Gesellschaft der romanisch-germanischen Kolo- nialländer außer Nordamerika.

Teil II Abt. 6.

System der Staats- und Gesellschafts- wissenschaft

L Allgemeines.

Wesen des Staates und dei Gesell- schaft und der Staats- und der Gesellschaftswissenschaft.

Teil LI. Die gcisteswissenschaltücheu Kullurgcbicte. ALI. 2 9.

II. Die einzelnen Teilgebiete.

1. Der Staat.

a) Allgemeine Staatslehre. a) Die Staatsfomien.

ß) Die Staatsfunktionen.

1) Staatsverfassung.

2) Staatsverwaltung.

b) Die wichtigsten Einzelgebiete des Staatswesens.

a) Innere Verwaltung.

i) Staat,

2) Kommune. ß) Äußere Verwaltung (Diplo- matie, Konsulatswesen etc.). y) Kolonial Verwaltung. ö) Heer- und Kriegswesen (mit

Geschichte des Heer- und

Kriegswesens).

i) Das Landheer und Landkrieg.

2) Die Flotte und der krieg.

2. Die Gesellschaft.

a) Der Organismus der Gesellschaft. a) Das Individuum und die Ge- sellschaft.

ß) Die Bevölkerung und Aufbau, i) Verteilung.

2) Gliederung.

3) Bewegung.

b) Die Bevölkerungspolitik.

III. Die Zukunftsaufgaben Staats und der Gesellschaft und der Staats- und der Ge- sellschaftswissenschaft.

der

bee-

ihr

des

RECHT.

Teil II Abt. 7.

Allgemeine Rechtsgeschichte mit Geschichte der Rechtswissenschaft.

I. Die Anfänge des Rechts und das Recht der primitiven Völ- ker.

IL Das orientalische Recht des Altertums, Mittelalters und der Neuzeit.

III. Das europäische Recht.

1. Altertum.

2. Mittelalter.

a) Kanonisches Recht.

b) Romanisch-germanische Rechte. a) Romanisches Recht. ß) Germanisches Recht. 3. Neuzeit.

Teil II Abt. 8.

System der Rechtswissenschaft

i. Allgemeines.

Wesen des Rechts und der Rechts- wissenschaft. U. Die einzelnen Teilgebiete.

1. Privatrecht.

a) Bürgerliches Recht.

b) Handels- und Wechselrecht.

c) Versicherungsrecht.

d) Internationales Privatrecht.

2. Zivilprozeßrecht.

3. Strafrecht und Strafprozeßrecht (mit Einschluß des internationalen Straf- rechts).

4. Kirchenrecht.

5. Staats- und Verwaltungsrecht.

a) Staatsrecht.

b) Verwaltungsrecht.

«) Justiz und Verwaltung (mit Einschluß der Verwaltungs- rechtspflege).

ß) Recht der inneren Verwal- tung (Polizei und Kultur- pflege).

6. Völkerrecht (mit Einschluß von Land- und Seekriegsrecht).

HL Die Zukunftsaufgaben des Rechts und der Rechtswissen- schaft.

Teil II Abt. q.

WIRTSCHAFT.

Allgemeine Wirtschaftsgeschichte mit Geschichte der Volkswirtschaftslehre.

I. Die Anfänge der Wirtschaft und die Wirtschaft der primitiven Völker. II. Die orientalische Wirtschaft des Altertums, Mittelalters und der Neuzeit.

1. Altertum.

2. Mittelalter und Neuzeit.

a) Nordafrikanische und westasia- tische (Islamische) Wirtschaft.

b) Ostasiatische Wirtschaft.

8

Namen der gewonnenen Herren Mitarbeiter.

111. Die europäische Wirtschaft.

1. Altertum.

2. Mittelalter.

3. Neuzeit.

Teil II Abt. 10.

System der Volkswirtschaftslehre.

I. Allgemeines.

Wesen der Wirtschaft und der Wirt- schaftswissenschaft. II. Die einzelnen Teilgebiete. I. System der Volkswirtschaftslehre.

a) Allgemeine Volkswirtschaftslehre.

b) Spezielle Volkswirtschaftslehre. ß) Agrarpolitik.

P) Gewerbepolitik.

y) Handelspolitik. S) Kolonialpolitik, g) Verkehrspolitik. l) Versicherungspolitik, ri) Sozialpolitik.

1) Landarbeiterfrage.

2) Gewerbearbeiterfrage.

3) Geistesarbeiterfrage.

4) Frauenfrage.

2. System der Staats- und Gemeinde- wirtschaftslehre (Finanzwissen- schaft).

a) Staatswirtschaft.

b) Gemeindewirtschaft.

III. Die Zukunftsaufgaben der Wirt- schaft und der Wirtschaftswis- senschaft.

NAMEN DER FÜR TEIL I UND II GEWONNENEN HERREN

MITARBEITER: Adickes -Frankfurt a/M., G. Anschütz, H. v. Arnim, Cl. Baeumker, L. v. Bak, Z. Beöthy, Freiherr v. Berlkpsch, E. Bernatzik, C. Bezold, F. v. Bezold, Fr. W. v^. Bissing, N. Boxwetsch, L. v. Bortkiewicz, A. Brande, A. Brückner, f A. Buchenberger , K. Bücher, K. Burdach, Gust. Cohn, G. G. Dehio, H. Diels, A. Dieterich, W. Dilthey, W. v. Dyck, H. Ebbinghaus, V. Ehren- berg, L. Elster, Ad. Erman, R. Eucken, W. Faber, Theob. Fischer, K. Florenz, O. Franke, F. X. v. Funk, C. Gareis, H. Gaudig, K. Geldner, II. Gelzer, G. Gerland, G. Göhler, M. J. de Goeje, 1. Goldziher, Th. v. d. Goltz,

E. Gothein, R. Graul, J. J. M. de Groot, E. Grosse, W. Grube, A. Grünwedel, H. Gunkel, H. Haas, Ad. Harnack, M. Hartmann, W. Herrmann, A. Heusler, O. HiNTZE, Fr. Hirth, M. Hoernes, H. J. Holtzmann, P. Hörn, H. Hübsciim.a>jn, V. V. Jagic, K. Th. V. Inama-Sternegg, A. Jülicher, W. Kahl, P. Kehr, G. Ker- schensteiner, A. Kirchhoff, J. Kohler, R. Koser, P. Kretschmer, H. KRETZSCH^LVR, C. Krieg, K. Krumbacher, P. Laband, H. Lange, Edv. Lehmann -Kopenhagen,

F. Leo, J. Lessing, W. Lexis, Alfr. v. d. Leyen, Th. Lipps, F, v. Liszt, Edg. Loening, K. LüiCK, A. Luschin v. Ebengreuth, Er. Marcks, F. v. Martitz,

G. Maspero, A. Maithias, J. Mausbach, R. M. Meyer, W. ]\Ieyer-Lübke,

F. MiLKAU, H. MoRF, Karl Müller, W. Münch, M. Murko, B. Niese, Th. Nöldeke, E. Norden, H. Oldenberg, W. Ostwald, L. Pallat, J. Partsch, H. Paul, Fr. Paulsen, R. Pischel, J. Pohle, O. Puchstein, K. Rathgen, Alois Riehl,

G. Roethe, D. Schäfer, Th. Schlemann, P. Schlenther, Erich Schmidt, Gust. Schmoller, G. Schöppa, H. Schuck, Fritz Schumacher, R. Seebekg, E. N. Setälä, L. V. Seuffert, Ed. Sievers, G. Simmel, F. Skutsch, R. Sohm, R. Stammler, J. Strzygowski, U. Stutz, M. Tangl, A. Thumb, E. Troeltsch, H. v. Tschudi, J. V. Verdy du Vernois, J. Vlcek, \ C. Wachsmuth, J. Wackernagel, f St. VVaetzoldt, Ad. Wagner, J. Wellhausen, L. Wenger, W. Wetz, Fr. Wickhoff,

U. V. WlLAMOWlTZ-MOELLENDORFF, W. WiNDELBAND , F. WlNTER, G. WlSSOWA,

O. N. Witt, H. Wölfflin, VV. Wundt, H. Zimmer u. a. u. a.

KNOX COLLEGE LIBRARY

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