FARB UNE San ARM Kl EN x \ 1 1 DIE DESCENDENZLEHRE UND DER NEUE GLAUBE JOSEPH KUHL MÜNCHEN THEODOR ACKERMANN 1879 Vorwort. Die Arbeit, welche ich hiermit der Oeffentlichkeit über- gebe, zerfällt, wie ihr Titel zeigt, in zwei Theile: der eine versucht in der vielumstrittenen Descendenzlehre zu einem festen Urtheil zu gelangen, der andere prüft im Anschluss an das bekannte Buch von Strauss die Consequenzen, die sich aus derselben für unser ganzes geistiges Leben, nament- lich aber für die traditionellen religiösen Ueberzeugungen ergeben. Die Descendenzlehre an sich, wenn man darunter nichts weiter versteht, als den Satz, dass alle heutigen Formen der organischen Wesen von einer Urform organischen Le- bens abgestammt sind, muss heute als unanfechtbare Wahr- heit gelten, Dagegen vermag uns die Darwin’sche Theorie die Art und Weise der Entwickelung und Umbildung der Formen nicht genügend zu erklären. Die Darwin'sche Evo- lution der Arten ergänze ich durch meine Culminations- theorie, wonach der Mensch das Ziel der Schöpfung ist, der Endpunct der aufsteigenden Entwickelung, auf welche die absteigende, bis zum Zerfall der Arten und Absterben alles Lebenden, folgt. Damit gelange ich zu der Ueber- zeugung, dass es ein Ziel gibt in der Schöpfung, also auch einen Zweckbegriff, und dass die mechanische Auffassung, wie sie vom Darwinismus mit neuer Macht gegen die her- gebrachten Ueberzeugungen in's Feld geführt wird, nicht IV ausreicht zur Erklärung der Welt. So ist das Faeit meiner Untersuchungen wie eine Anerkennung des Descendenz- gesetzes an sich, so eine gründliche Abweisung des Dar- winismus, d. h. derjenigen Form, in welcher dasselbe von Darwin und Häckel vorgetragen wird. Damit ist sodann der Ausgangspunct gegeben für die Beurtheilung des neuen Glaubens von Strauss, der auf den Darwinismus gebaut, also in seinen Grundlagen verfehlt ist; es wird nachgewiesen, dass, wenn auch die Descendenz- lehre wie überhaupt der Fortschritt der Wissenschaft an der hergebrachten dogmatischen Fixirung unseres Religions- gebäudes arg gerüttelt hat, doch noch immer eine Religion und ein Christenthum in freierer Form nicht allein mög- lich, sondern nothwendig ist. Es bleibt bei allem Fortschritt. der Wissenschaft ein Rest, den die Naturwissenschaft mit ihren Mitteln nicht zu erreichen vermag. Dieser Rest ist immer kleiner geworden mit der steigenden Erkenntniss, und er wird — dies braucht man nicht in Abrede zu stellen — noch immer kleiner werden; aber er wird, wie bei einem irrationalen Quotienten, niemals ganz verschwinden. Dieses gestehe man ein, so haben wir die mit dem jeweiligen Stande unserer Erkenntniss zwar verschiebbare, aber nie- mals verschwindende Grenze, wo die Naturwissenschaft auf- hört zusprechen und die freie Meinung, das Glauben beginnt : das ist die einzig mögliche Anbahnung einer Versöhnung zwischen Glauben und Wissen. Und darum können wir uns mit dem „neuen Glauben“ von Strauss nicht befreunden, der _ diese Grenzlinie freventlich überspringt. Hier, in seiner naturwissenschaftlichen Basis, muss man den neuen Glauben bekämpfen, wenn man Erfolg haben will; vom theologischen Standpunet aus Strauss bekämpfen, führt leicht zu leerem Gerede, das für den Laien einer Niederlage des alten Glaubens gleichkonmt. Meine Absicht in diesem "Theile meiner Schrift ist, darzuthun, dass die Grundlagen unserer Religion, vor allem V der Gottesbegriff selbst, durch die Descendenzlehre, wenn sie richtig gefasst wird; nicht wesentlich angetastet werden. Meine Absicht ist aber nicht — was ich hier gleich zu erklären mich gedrungen fühle — mit der dogmatischen Ausgestaltung dieser Grundlagen der Theologie vorzugreifen. Wenn diese Grundlagen gleichwohl erörtert und namentlich die Concessionen des Näheren bezeichnet sind, zu denen wir uns entschliessen müssen, wenn wir unseren Glauben mit unserem Wissen versöhnen wollen, so nehme man diese Auseinandersetzungen für das, was sie sein sollen: Vorschläge zur Güte, deren praktische Durchführbarkeit zu prüfen weder meines Amtes ist, noch in meinem Plane lag. Die Zer- fahrenheit in unseren socialen Verhältnissen ist nichts an- deres, als der Widerschein der Zerfahrenheit in den reli- giösen Anschauungen; wem es gelänge, hier die Basis zu einer allgemeinen Versöhnung der- streitenden Gegensätze zu gewinnen, der wäre der wahre Prophet, nach welchem unsere bedrängte Zeit verlangt. Aber wie die Dinge lie- gen, werden wir auf diesen Messias wohl vergebens harren, und ein möglichst breitgegriffenes laisser faire scheint der einzige Ausweg aus diesem Labyrinth. Ich kann dem Leser mit gutem Gewissen die Ver- sicherung geben, dass es unparteiische, in keiner Weise vor- eingenommene Urtheile sind, die er zu lesen bekommt; denn ich habe nicht einen a priori eingenommenen Stand- punct in die Beurtheilung hineingetragen, vielmehr meine Ueberzeugung aus dem Gang der Untersuchungen heraus- getragen. Man wird mir, wenn man genau abwägt, eher die weitesten Concessionen an die neue Richtung, als das Gegentheil bestätigen: man wird finden, dass ich bis an die äusserste Grenze der Nachgibigkeit vorschreite, um dann aber auch das, was festgehalten werden muss, mit desto grösserer Entschiedenheit festzuhalten. Ich darf deshalb auch nicht hoffen, dass ich Allen Alles recht mache; für jeden wird sich manches finden, was ihm recht zusagt, vI manches aber auch, dem er gründlich widerspricht. Der eine hält für Stärke nichts zu glauben, der andere alles; beides ist ein beneidenswerther Standpunct, der eine, indem er sich jedes Beweises enthebt, der andere, indem man von ihm aus alles mit leichter Mühe beweisen kann, dabei aber auch Gefahr läuft, sowie man einen Schritt von dem Wege thut, sofort nichts mehr beweisen zu können. Da wird die Mittelstrasse, die man die goldene nennt, recht sauer, d. h. die Wahrheit zu finden wird recht sauer; denn diese liegt einmal, wo sich. so extreme Ansichten gegenüberstehen, stets in der Mitte. Wenn sich nur beide Seiten ent- schliessen könnten, von ihren extremen Ansichten ein weniges in den Kauf zu geben, so könnte auch in der Descendenzlehre das Anliegen der Friedfertigen, eine all- seitige Versöhnung, die den anderen über die gemeinsame, nothwendige Grundlage hinaus gewähren lässt, erreicht werden. Meine Abgeschlossenheit von dem literarischen Verkehr muss ich auch diesmal beklagen: manches Buch, welches mir vielleicht noch erwünschte Aufschlüsse gebracht hätte, habe ich nicht einsehen können. Aber dies wird hoffentlich nicht soviel bedeuten, dass man mir Unkenntniss in irgend einem wichtigen Puncte vorhalten könnte. Von allem specifisch naturwissenschaftlichen Detail habe ich mich als Dilettant, der noch keinen Bathybius gesehen und keine Kalkschwämme untersucht hat, wohlweislich möglichst fern- gehalten, dagegen die mir in meinem Fache zu Gebote stehenden Mittel, die aus der Betrachtung der Sprachent- wickelung und aus der Geschichte gewonnenen Resultate nach Kräften auszubeuten gesucht. Das ist die Seite, nach welcher hin mein Buch wirken soll; und ‚von dieser Seite aus glaube ich meine völlig neuen Aufstellungen mit guten Beweisen gestützt zu haben. Dass ich mich in den wesentlichsten Puneten im Wider- spruch mit den gangbarsten Auetoritäten befinde, weiss ich; aber dies hat trotz aufrichtigster Prüfung mich nicht von vi meinen Ueberzeugungen abzubringen vermocht. Das aber hoffe ich, dass die fatale Vermittler-Rolle, die mir nicht durch freie Wahl, sondern durch den Zwang der Ueber- zeugung aufgedrängt worden ist, mich mit niemanden in persönlichen Conflict bringen wird, da ieh mir bewusst bin, ‘jede Meinung geachtet und von jeder Persönlichkeit mich streng ferngehalten zu haben. Und nun streite man um die Sache, soviel man will, es wird der Sache zu gute kommen. Meine Absicht ist erreicht, wenn ich möglichst viele zum Nachdenken bewege über diese Fragen, und damit dem wohlfeilsten, aber auch werthlosesten aller Stand- punete, dem. Indifferentismus, entreisse, Mein Buch ist, wie meine früheren Arbeiten*), deren Abschluss es in gewisser Hinsicht ist, nicht lediglich für den Fachgelehrten, sondern für alle, die zu denken geneigt sind, bestimmt; damit möge man es entschuldigen, wenn manches, was als bekannt vorauszusetzen war, in die Dar- stellung aufgenommen, dagegen auf den prunkenden Ballast gelehrter Citate und. Annotationen nach Möglichkeit ver- zichtet ist. Citirte Stellen sind, soweit nöthig, ausgezogen, um die Leetüre zu erleichtern und dem Leser das Nach- schlagen zu ersparen. *) Die Anfänge des Menschengeschlechts und sein einheitlicher Ur- sprung. I. Theil: Arier, Aramäer und Kuschiten. Leipzig und Mainz (Lesimple) 1876. II. Theil: Die Farbigen, Mainz und Leipzig (Lesimple) 1876. Darwin und die Sprachwissenschaft. Mainz und Leipzig (Lesimple) 1877. Jülich, den 10. August 1878. Kuhl. VI. VI. XD. Inhalts-Verzeichniss. Einleitung lat ET SRNSE: Die Deseendenzlehre und ihre Begründung. Schöpfung oder Entwickelung?. re SER NE Darwin’s Vorgänger. Die Darwin’sche Theorie Die allmähliehe Transmutation nach mechanischen Ge- setzen. Unvereinbarkeit dieser Anschauung mit der Vorstellung von einem Schöpfer Die Constanz der Arten. Die Urzeugung (in dem erweiterten Sinne). Das, umsetzende Verhältniss zwischen der Veränderungs- und deı Beharrungs- tendenz . N a RI TI = Die fehlenden Zwischenformen. Die Sprache der geolo- gischen Urkunden. Der Schöpfungsmittelpunet . Der Ursprung und die Urform des organischen Lebens. Der indifferente Stoff und die Urzeugung. Die Häckel- schen Moneren PERS Die Schöpfungsmittelpunete Darwin’s und unser Schöpfungsmittelpunct . i Die Urheimat des Menschen ei Hindu-Kusch) ist zugleich der Ursprungsort der gesammten organischen Welt, also der Schöpfungsmittelpunct Wie vollzog sich die Entwickelung? Die heterogene Zeugung . BIER 1ER AR RL Der Stammbaum. Die Menschwerdung. Der Mensch stammt nicht vom Affen ab . han: 5 Der sprachlose Urmensch Häckel’s hat nicht 'existirt. Die Sprachentwickelung ist im Kleinen eine Wiederholung der Entwiekelung der Organismen . Seite 1 6 12 XXI. XXI. XXI. XXIV. XXV. XXVl. XXVı. XXVII. XXIX. XXX, Die psyehischen Unterschiede in der organischen Welt. Die Instinete des Thieres und der Geist des Menschen Unser Stammbaum. Lebensdauer und Untergang der Arten. ER 0 ek >. Jugend, Mannesalter und Greisenalter unseres Planeten. Anfang, Fortgang und Ende unseres Geschlechts Der Mensch ist das Ziel der Schöpfung. Der „anthropo- centrische Irrthum“ . FE en: Mechanische und teleologische Weltanschauung. Reichen die Darwin’schen Erklärungsmittel aus die Welt zu erklären ? i a. 4er... h Mechanisch und teleologisch keine Gegensätze. Der Zweckbegriff Be Die letzten Gründe. Die Atome et Er Ra Monismus und Dualismus. Darwin und der Materialismus. Das Wunder A N Die Descendenzlehre und die Religion. Wesen und Ursprung der Religion .. a: j Das sittliche Bewusstsein ist mit dem religiösen ent- wickelt. Dogma und Moral . Sl ee Die Entwickelung der Religion. Ihr Ziel ist nicht die „Vernunftreligion“. Das Christenthum . Der Gottesbegriff Be EN ER = Das Böse in der Welt. Der Trost der Religion Die Unsterblichkeit der Seele. Der Weltzweck Kann es im Zeitalter Darwin’s noch eine Religion geben? Der Riss zwischen Gebildeten und Volk . Die Ersatzmittel des neuen Glaubens . Unser neuer Glaube. Die angebliche Selbstzersetzung des Christenthums Schluss Seite 79 89 97 . 106 1. Einleitune. Wenn derjenige, der über Darwin und die Abstamm- ungslehre zu schreiben sich anschickt, einen Nachweis seiner naturwissenschaftlichen Qualification zu liefern angehalten würde, dann würde die Zahl der Bücher und Büchlein, die in den letzten Jahren entstanden sind und noch immer, wie vorliegen- des zeigt, entstehen, um ein Bedeutendes verringert. Nicht zum Schaden der Sache, wird hier der zünftige Naturforscher sofort einwerfen. Aber er vergisst dabei, dass er selbst verschuldet, was er tadelt: in tausenden von Exemplaren sind die grossen und kleinen Bücher über Entstehung der Arten, Abstammungs- (Descendenz-)lehre, Darwinismus, Schöpfungsgeschichte &e. unter das Volk geworfen, bestimmt die träge Masse aufzurütteln und für die neuen Entdeckungen der Wissenschaft zu gewinnen, die ganz mit der Vergangenheit brechen und alles, was man bisher geglaubt, als Ammenmärchen in die Rumpelkammer werfen sollen. Die Naturwissenschaft, indem sie selbst die grosse Zahl der Gebildeten unseres Volkes mündig gemacht, durfte nicht erwarten, dass diese ihre Aussprüche, Orakeln gleich, die auf Unfehlbarkeit Anspruch machen, ohne eigene Prüfung hinnehmen, zumal da es sich hier um die heiligsten Interessen des Menschen, seine Herkunft und sein Ziel handelt, Fragen, die mit einer einseitigen Kathederweisheit sich nicht so leicht abthun lassen, wie es manchen scheinen mochte. Denn solange die Naturwissenschaft sich darauf beschränkt die Stoffe und ihre Verbindungen zu sondern, zu wägen, Bau, Leben und Wachsthum der organischen Wesen mit der Loupe und dem Seeirmesser in der Hand zu ergründen, muss der Laie das, was ihm als durch gute Beobachtung gestützt dargeboten wird, auf Treue und Glauben hinnehmen. Und da der Mensch der Welt dieser Organismen angehört, so steht es zunächst der’ Kuhl, Descendenzlehre. 1 Naturwissenschaft zu, seine Stellung in dieser Welt zu bestimmen. Wenn sie aber über die Grenzen der exacten Forschung hinaus sich in Gebiete wagt, die absolut transcendent und metaphysisch d. h. über die Welt der objectiven, unserer Erkenntniss zugäng- lichen Erscheinungen hinausgehend sind, so tritt sie als Con- currentin einer Wissenschaft auf, die über diese Fragen, so lange es Menschen gibt, gedacht, geforscht, gelehrt und geschrieben hat: der Philosophie, die man die Königin der Wissenschaften nennt, weil sie, ihre Nahrung ziehend aus sämmtlichen Wissen- schaften, die Resultate eben dieser Wissenschaften sichtet, sondert, und für ihre allgemeinen Schlüsse nutzbar macht. Ja die Natur- wissenschaft selbst ist, wie man mit Recht bemerkt hat, dann nicht mehr Natur wissenschaft, sondern Naturphilosophie; sie muss es sich also gefallen lassen, wenn auch die Philosophie sich berechtigt glaubt, ihr Wort mitzureden und die neuesten Abmachungen der Naturwissenschaft einer Prüfung zu unter- ziehen, zu vergleichen mit dem, was die grössten Geister aller Zeiten über dieselben Fragen gedacht und geschrieben haben. Und diese Concurrenz kann ihr im Grunde genommen ja nur erwünscht sein, wenn es ihr um die Erforschung der Wahr- heit ernstlich zu thun ist — wie ja auch die Naturwissenschaft selbst sich auf Kant, Goethe und andere zu berufen für gut befunden hat, die von Hause aus doch keine Naturforscher gewesen sind, vielmehr in der Naturwissenschaft nur als Dilet- tanten gearbeitet haben. Immer weiter dehnt sich die Linie der „Vorläufer Darwin’s‘‘ rückwärts aus, und sie ist bereits bei den alten Griechischen Weltweisen, und zwar nicht etwa bei dem dunklen Heraklit, der mit seinem Spruche sravra dei, „alles ist im Flusse‘‘, das Sein leugnete und nur das Werden anerkannte, sondern bei den Jonischen Philosophen, die den Anfang aller Philosophie — für uns wenigstens — bezeichnen, angelanst. Schon Anaximander, der Nachfolger des Thales, lehrte, ganz merkwürdig anklingend an die Lehre Darwin’s, dass der Mensch, überhaupt alle Landthiere sich aus dem Fische, den Wasserthieren entwickelt haben. Und wenn Thales behauptete, das Wasser sei der Anfang aller Dinge, wer will leugnen, dass ihm schon die Idee dabei vorschwebte, dass aus dem Wasser alles Lebendige hervorgegangen ? Er war vielleicht schon, 24 Jahrhunderte vor unserer Zeit, der erste Darwinist — unseres Culturkreises, müssen wir hinzufügen: denn was jenseits der ältesten Griechischen Philosophie von solchen Ver- os suchen liegt, wissen wir nicht, wissen auch nicht, wie Thales seinen Satz verstand und begründete. Es sind in der That Fragen, die den ersten denkenden Menschen , ob wir diesen einen Philosophen nennen wollen oder nicht, beschäftigen mussten. Die erste Wissenschaft, nenne man sie nun Philo- sophie oder Naturwissenschaft, hat ihren Ausgang genommen von der Betrachtung der Dinge, deren Wesen und Ursprung sie zu ergründen suchte. Sie war also Naturphilosophie. Und heute wird sie dieses wieder. Wir sind zu dem ungetrennten Anfang zurückgekommen, und auch dies ist eine wichtige Folge der durch Darwin hervorgerufenen Umwälzung, die uns überall lehrt in der Vielheit nach der Einheit zu forschen: die Einheit unserer Wissenschaft. Das Erklärungsprineip, das Darwin im Einzelgebiete anwendet, erweitert seinen Bereich immer mehr; es ist zu einer Macht geworden, der sich keine Wissenschaft mehr wird entziehen können. Hierin liegt die Legitimation für denjenigen, der über Darwin schreiben will, ohne Naturforscher zu sein: das Prineip gehört nicht mehr der Naturwissenschaft allein, es gehört der gesammten Wissenschaft, die es auszubeuten gleiches Recht und gleiche Pflicht hat. Es ist der Geist, der wissenschaftliche Gehalt unserer Zeiten, von dem der Einzelne, die einzelne Wissen- schaft mit fortgerissen wird, mag sie es wollen oder nicht. Darum mussten die Worte Darwin’s zünden, weil die Zeit reif geworden war, nach dem zu verlangen, der die längst geahnte Einheit der organischen Welt mit Beweisen zu stützen unter- nähme. War es einem Laplace und vor ihm bereits unserm grossen Kant gelungen, aus der Gleichheit und Gesetzmässig- keit in den Bewegungen der Planeten die einheitliche Entstehung unseres Sonnensystems mit einer an Gewissheit gränzenden Wahr- scheinlichkeit zu erschliessen und nachzuweisen, wie aus dem gewaltigen Nebelballe, dessen Rest heute die Sonne ist, durch Ablösung rotirender Theile die Planeten entstanden sind, so lag darin die wissenschaftliche Forderung eingeschlossen, auch für den kleinen Kosmos, den wir Erde nennen, die einheitliche Entwickelung nachzuweisen, die sich nicht blos auf die starre Rinde beschränken, sondern auch das auf derselben erwachsene Leben in die Forschung ziehen musste. Darum steht neben Laplace gleich Lamarck mit seinem ersten Versuche einer wissenschaftlich begründeten Abstammungslehre; ja Kant selbst hat die Frage bereits angegriffen und die Grundlinien gezogen, ] 4 die, wie wir hören werden, noch heute ihre Geltung behaupten. Freilich blieb bei Kant immer noch ein unerklärtes Etwas, eine letzte Ursache der Entwickelung, und damit konnte die Frage, insofern sie bis zu einer natürlichen Erklärung auch dieser letzten Ursache führen sollte, noch nicht als gelöst be- trachtet werden. Auch Lamarck’s Versuch dieser natürlichen Erklärung erwies sich als nicht ausreichend und hielt vor den "triftigen Einwendungen. der Gegner nicht Stand. Die Frage blieb offen und der Wissenschaft blieb nichts übrig, als auf den Messias zu harren, der zwar nicht die Erlösung, aber die Auflösung bringen sollte. Dieser Messias musste kommen und war es Darwin nicht, so war es ein Anderer, so gewiss wie America entdeckt worden wäre, auch wenn Columbus nie geboren wurde. Und nun steht die Wissenschaft vor der Frage, ob sie die Darwin’schen Beweismittel als genügend anerkennen soll oder nicht. Aber es ist nicht allein ein Kampf der Wissenschaft, der sich erhoben hat; die gesammte gebildete Welt ist in Mitleiden- schaft gezogen. Denn das war ja eben die leidige Consequenz der Entwickelungslehre, die Darwin selbst bei seinem Auftreten nieht zu ziehen wagte: auch der Mensch verfällt dem Gesetze, er muss an die Reihe der niederen Lebewesen angeknüpft werden. Und da das nächstniedere Wesen der Affe ist, so schien der Schluss unumstösslich, dass der Mensch sich aus der Affenart entwickelt habe. So wurden wir mit unseren Vettern im Thier- reich in unliebsame Berührung gebracht, und das war uns gerade darum so widerwärtig, weil diese uns so sehr gleichen, dass sie uns als Zerrbilder unserer besseren Natur erscheinen können. Wer vor Darwin bange machen wollte, brauchte und braucht nur das Wort unter die Menge zu schleudern: die neue Lehre macht aus dem Menschen nichts weiter als einen civilisirten Affen. Unsere ganze Ueberlegenheit über die übrige Schöpfung, die Herrschaft, zu der wir geboren sind, schien zusammenzu- brechen bei dieser Unterstellung, unser Geist, der dem Menschen diese Herrschaft verleiht, unser innerstes Fühlen, unsere Religion, kurz unser ganzes Sein oder Nichtsein schien in Frage gestellt. Rücksichtslos werden die letzten Consequenzen gezogen; was in der Descendenzlehre liegt oder auch nur zu liegen scheint, presste man heraus, um mit dem ätzenden Safte das morsch gewordene Gebäude uralter Urtheile und Vorurtheile zu zersetzen. Unser Wissen von der Natur soll ein anderes werden: klar aufgedeckt ul u a Ar anne liegt das Getriebe ineinandergreifender Kräfte, die ohne jedes Zuthun einer höheren Intelligenz die ganze vielbewunderte Har- monie des Kosmos mechanisch zu Wege gebracht haben — wir haben also keinen Gott und keine Religion mehr nöthig. Bereits hat man sich beeilt auf dieser Grundlage den „neuen Glauben“ der Zukunft aufzurichten. (Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniss von David Friedrich Strauss). Kein Wunder, wenn da ein Kampf auf Leben und Tod entbrannt ist, wenn an die Stelle ruhiger, objectiver Auseinandersetzung, wie sie der Wissenschaft ziemt, die Parteileidenschaft getreten ist, die um die Mittel des Kampfes nicht verlegen ist, und wenn durch Masslosigkeit von beiden Seiten die Wahrheit eher verdunkelt als geklärt wird. Die massvolle Ruhe und Objectivität des Britischen Meisters ist mit seiner Lehre nicht auf den Deutschen Boden übergegangen ; der Kampf um die Sache ist hier und da zu einem unwürdigen Kampf um die Personen geworden, und gerade bei der Behandlung der Darwin’schen Frage scheint der Deutschen Kritik das Vermögen, fremde Meinungen zu achten, völlig abhanden gekommen zu sein. In diesem Widerstreit der Meinungen ohne Vorurtheil Stellung zu nehmen, das, was die Wissenschaft erwiesen hat, ohne falsche Rücksichten, die sich mit dem ehrlichen Forschen nach der Wahrheit nicht vertragen, zu bekennen, aber auch das, was sie ungelöst gelassen hat, nicht zu verschweigen, ist der Zweck der folgenden Blätter. Wer begreift, warum hier gekämpft wird, dem wird es klar, dass hier das Gesetz des Solon gilt, dass niemand neutral bleiben darf, ohne sich des Verrathes schuldig zu machen; er muss es sehr natürlich finden, wenn jeder denkende Mensch über die Grundfragen, von denen unser Jahrhundert einst den Namen haben wird, zunächst mit sich selbst in’s Klare zu kommen sucht, und dann, wenn ihm die Gabe die Feder zu führen verliehen ist, vor allem Volk eintritt in die Arena, um sich zu messen mit den Kämpfern, die bei aller Verschiedenheit der Meinungen ja nur das eine Ziel haben können, die Wahrheit zu finden. Der Muth und der Wille die Wahr- heit und nur die Wahrheit zu suchen, ist eine gute Eigen- schaft jedes ehrlichen Mannes; sie ist die beste und oberste Eigenschaft bei dem, der sich anschickt zu schreiben. „Die Göttin der Wahrheit aber, sagt Semper (der Häckelismus in der Zoologie) schminkt ihr Angesicht nicht, noch trägt sie es verhüllt; wer ihren Blick nicht zu ertragen vermag, wende, wie der Vogel Strauss, den seinigen ab‘ — nur dass mit diesem Abwenden nichs gethan ist: es macht dem Jäger, der den Vogel Strauss zu fangen auszieht, seine Arbeit nur leichter. Wir werden eine vermittelnde Stellung einnehmen. Nicht aus angeborener Gutmüthigkeit, um niemanden zu verletzen; denn diese wird dem Vermittler in der Regel schlecht belohnt: während er dem einen nimmt, um es dem anderen zu geben, nimmt er hier zu viel und gibt doch dort nicht genug, und geräth so mit beiden in Confliet. Auch nicht aus zweideutiger Halbheit des Charakters, die man so gerne demjenigen unter- zuschieben pflegt, der sich nicht rückhaltslos zu einem der Ex- treme bekennt, sondern lediglich in der Ueberzeugung, dass auch hier, wie gewöhnlich, die Wahrheit in der Mitte liegt, und dass darum eine Versöhnung der streitenden Gegensätze, so schwierig sie ist, nicht unmöglich ist. Die Wahrheit müssen wir ertragen, aber nur soweit sie wirklich Wahrheit ist, nicht bloss dafür ausgegeben wird. Die Descendenzlehre, wie sie von Darwin und Häckel gelehrt wird, ist aber nicht die Wahrheit, sie ist einer Verbesserung fähig; es wäre ja, wie man richtig gesagt hat, die erste Wahrheit, die fertig vom Himmel ge- fallen wäre. Ziehen wir ab von der Descendenzlehre, was ihr über die Wahrheit hinaus angehängt worden ist, so werden wir die Grundlage zur Verständigung sowohl über die Descendenz- lehre selbst, als über den darauf aufzubauenden neuen Glauben gewinnen. Dies unser Programm, Und nun an’s Werk! II. Die Descendenzlehre und ihre Begründung. Schöpfung oder Entwickelung? Wir haben unsere Stellung zur Descendenzlehre in dem Gesagten bereits deutlich genug bezeichnet und bekennen hier gleich, damit man uns nicht missverstehe, unsere Ueberzeugung: die ganze Vielheit des organischen Lebens hat sich aus der ursprünglichen Einheit entwickelt, es hat einen Anfang des Lebens auf der Erde in- einfachster Form ge- gegeben, woraus die heutige Vielgestaltigkeit der Formen er- wachsen ist. Für den, der sein Auge nicht geradezu den That- 7 sachen verschliessen will, liegen die Beweise dafür klar genug vor Augen. Wir recapituliren dieselben (für solche Leser, denen sie nicht gegenwärtig sein sollten), indem wir uns möglichst an Darwin’s Darstellung selbst anschliessen. 1. Die Verwandtschaft im Bau der lebenden Wesen — wir sprechen zunächst vom thierischen Organismus — liegt augenfällig zu Tage und die Kette der aufsteigenden Vervollkommnung der Organe, die bis zum höchst organisirten Geschöpf, dem Menschen, hinaufleitet, lässt sich in allgemeinen Umrissen ohne Zwang herstellen. Das Affenskelett neben dem Menschenskelett ist für den ersten Blick zum Verwechseln ähn- lich, die beiden Arme des Menschen bleiben in den zwei Vorder- füssen der Säugethiere, den Flügeln der Vögel und den Flossen der Fische als entsprechende Verwandte kenntlich. „Was kann es auffälligeres geben, sagt Darwin, (Entstehung der Arten) als dass die Greifhand des Menschen, der Grabfuss des Maulwurfs, das Rennbein des Pferdes, die Ruderflosse der Seeschildkröte und der Flügel der Fledermaus sämmtlich nach demselben Modell gebaut sind und gleiche Knochen in der nämlichen gegenseitigen Lage haben?!“ 2. Die embryonale Entwickelung, die überall in einer auffallenden Gleichheit verläuft, leitet uns zu demselben Gedanken ursprünglicher Verwandtschaft und Abstammung von einer Urform. Nicht nur dass das Ei, der Keim und Ausgangspunct der or- ganischen Wesen, überall ähnlich ist wie sehr auch die ent- wickelten Formen auseinandergehen, auch der Embryo bei näher und weiter verwandten Arten gleicht sich in den ersten Stadien der Entwickelung auffallend und nimmt erst sehr allmählich die besondere Form an. Darwin eitirt eine Stelle von Baer: ‚,‚die Embryonen von Säugethieren, Vögeln, Eidechsen, Schlangen und wahrscheinlich auch Schildkröten sind in der ersten Zeit im Ganzen sowohl als in der Bildungsweise ihrer einzelnen Theile so ausserordentlich ähnlich, dass man sie in der That nur an ihrer Grösse unterscheiden kann. Ich besitze zwei Embryonen in Weingeist aufbewahrt, deren Namen ich beizuschreiben vergessen habe, und nun bin ich ganz ausser Stande zu sagen, zu welcher Klasse sie gehören. Es können Eidechsen oder kleine Vögel oder sehr junge Säugethiere sein, so vollständig ist die Aehn- lichkeit in der Bildungsweise von Kopf und Rumpf dieser Thiere. Die Extremitäten fehlen indessen noch. Aber auch wenn sie vorhanden wären, so würden sie auf ihrer ersten Entwickelungs- stufe nichts beweisen; denn die Beine der Eidechsen und Säuge- thiere, die Flügel und Beine der Vögel nicht weniger als die Hände und Füsse des Menschen, alle entspringen aus der näm- lichen Grundform.‘ Man hat den Schluss daraus gezogen, dass die Entwickelung des Embryo beim einzelnen Organismus die Entwickelung des ganzen Stammes gewissermassen recapitulire. „Die Keimesentwickelung (Ontogenesis) ist eine abgekürzte Wieder- holung der Stammesentwickelung (Phylogenesis)‘, so lautet Häckels „biogenetisches Grundgesetz,‘ 3. Bei allen höher organisirten Thieren finden sich Organe, die nicht gebraucht werden, in rudimentärem Zustande. „Was kann wohl merkwürdiger sein, sagt Darwin, als die An- wesenheit von Zähnen bei den Wal-Embryonen, die im erwachsenen Zustande nicht einen einzigen Zahn im Kopfe haben, und das Dasein von Schneidezähnen im Oberkiefer unserer Kälber vor der Geburt, welche aber niemals das Zahnfleisch durchbrechen ? Die rudimentären Organe weisen auf den früheren Zustand ihres Be- sitzers hin“, und bezeugen die Entwickelung aus einer Stamm- form, bei welcher diese Organe noch thätig und gebraucht ge- wesen sein müssen. 4. Man kann sodann noch geltend machen, dass die geo- logischen Urkunden diesen Gang der Entwickelung von der niedersten bis zur höchsten Stufe, wenigstens in allgemeinen Umrissen, bezeugen. In den Schichten der Erdrinde sind die Reste früherer Lebeformen in versteinertem Zustande aufbewahrt. Diese Schichten, die sich bei der fortschreitenden Gestaltung der Erdrinde nach und nach über einander gebildet haben, zeigen auch, wenn auch nicht ohne Lücken und Unregelmässigkeiten, den fortschreitenden Entwickelungsgang der Lebeformen : die untersten bewahren die Reste der einfachsten Formen aus den untersten Classen des Thierreichs, weiter nach oben treten der Reihe nach die Fische, die Reptilien, die Vögel, die Säugethiere, zuletzt der Mensch dazu. Wir bemerken indessen gleich, dass die geologischen Urkunden uns nicht die allmählichen Ueber- gänge aus einer Classe zur anderen offenbaren, vielmehr ge- wöhnlich ruckweise die neue Tracht erscheint. Aber indem sie uns in allgemeinen Umrissen diese Stufenleiter von den niederen Organismen zu den vollkommensten offenbaren, und zugleich uns offenbaren, wie die Zahl und Vielgestaltigkeit der Organismen mit der fortschreitenden Zeit immer grösser wird, sind sie ge- eignet, sofort den Gedanken hervorzurufen, dass die Vielgestaltig- 9 keit aus der früheren Einfachheit und ursprünglichen Einheit sich fortschreitend entwickelt habe. Wir bekennen uns also gern zu der Wahrheit, dass alle Organismen won der niedersten Art bis hinauf zum Menschen eine fortlaufende Kette der Entwickelung darbieten; und dies müssen wir glauben, selbst wenn es niemals gelingt, die Glieder dieser Kette in lückenlosem Zusammenhange aneinander zu reihen. Alle Erscheinungen, wenn man sie nicht willkürlich umdeuten will, predigen uns diese Entwickelung, sie zu leugnen, ‚ heisst entweder blind sein gegen das Licht, oder die Wahrheit geflissentlich und wider bessere Ueberzeugung verleugnen. Freilich ist damit die althergebrachte Vorstellung einer getrennten Schöpfung der Arten, wie man sie aus dem Wortlaute des biblischen Schöpfungsberichtes herauslesen zu müssen glaubt, unvereinbar: wir können nicht mehr annehmen, dass Gott die Welt in sechs Tagen geschaffen habe, jegliches gleich fertig nach seiner Art. Vielmehr ist uns Schöpfung gleichbedeutend mit Entwickelung; denn eine Schöpfung in dem Sinne, wie wir das Wort gewöhnlich verstehen, setzt ein freies Eingreifen des Schöpfers und getrennte Schöpfungsacte für die einzelnen Classen der Lebewesen voraus, und erklärt nicht die Ueber- einstimmung in dem Bauplane dieser Lebewesen; sie erklärt namentlich nicht, warum für den Menschen, der doch ausge- zeichnet werden sollte vor der übrigen Schöpfung, und wirklich ausgezeichnet worden ist, nicht eine andere Gestalt, andere Knochen, anderes Blut und anderes Fleisch gewählt ist, als etwa für den Affen, seinen nächsten Vetter im Thierreich. Wo eine natürliche Erklärung sich darbietet, da müssen wir, ob wir wollen oder nicht, auf die übernatürliche verzichten. Das Denken und Erkennen liegt im Wesen des Menschen wie das Sprechen, das gewissermassen die äussere Kehrseite des Denkens ist, und der Schöpfer, der den Menschen mit der Kraft des Denkens ausstattete, musste wissen, bis zu welchem Ziele diese Kraft ausgebeutet werden konnte und musste. Seit den Tagen des Copernicus, der die Erde um das bis dahin unbestritten genossene Vorrecht brachte, der ruhende Mittelpunct des Weltalls zu sein, der zu Liebe Sonne, Mond und Sterne geschaffen seien, ist die Naturwissenschaft in einen unliebsamen Streit mit der Theologie gerathen, die an der wörtlichen Auffassung des Bibeltextes festhalten zu müssen glaubte und deshalb die neue Anschauung, wonach die Sonne 10 steht, die Erde geht, als dem Bibelwort widersprechend ver- warf: „der Narr will die ganze Kunst Astronomiae umkehren“, sagte Luther von Copernicus, und Galilei musste vor der Römischen Curie seinen Irrthum abschwören. Aber der Irrthum erwies sich als die Wahrheit, die stets siegen muss, und heute zweifelt niemand mehr daran, dass die Erde sich bewegt, und dem Kinde wird bereits die doppelte Art der Bewegung und der dadurch bedingte Wechsel von Tag und Nacht, von Frühling, Sommer, Herbst und Winter klar gemacht. Damit war in das festge- schlossene System, das sich weigerte, um den Geist zu retten den Buchstaben aufzugeben, Bresche geschossen, — ob es die erste war, wollen wir hier nicht untersuchen, die erste empfind- liche und folgenschwere war es jedenfalls: denn hier war zum ersten Male die Exegese genöthigt einzuräumen, dass das Wort der Bibel nicht wörtlich zu nehmen sei, dass vielmehr der Ver- fasser im Geiste seiner Zeit sich ausdrücke, indem er die Sonne laufen und die Erde stillstehen lasse. Der Menschheit war der Wahn benommen, als ob die winzige Erde, einer der letzten unter den unzähligen Himmelskörpern, der Zweck des Universums sei — und damit war dem herrschenden Glauben eine bedeutende Stütze entzogen. Es folgte die zweite Bresche, der Aufschluss den die Geo- logie brachte, dass die Erde, mit allem was darauf ist und war, nicht in sechs Tagen im Sinne unserer sechs Arbeitstage, denen der siebente als Ruhetag folgt, geschaffen sei, sondern dass sie in langen Perioden, die sich in bestimmte Zahlen nicht fassen lassen, sich allmählich entwickelt habe. Der Nebel- ring, der sich, wie die übrigen Brüder, die Planeten, von seiner Mutter, der Sonne abgelöst hatte, verdichtete sich zur Erdinasse, die Wasserdämpfe in der Atmosphäre schlugen sich nieder, die Rinde erstarrte, Meer und Festland schieden sich, der biologische Process begann — das alles konnte nicht in sechs Tagen geschehen, und die sechstausend Jahre, die man von Anfang der Welt bis heute im Kalender zählt, bieten keinen Raum für eine solche Entwickelung. Aber man wusste sich auch hierein zu finden und im Hinweis auf das Wort der Bibel selbst, dass vor Gott Jahrtausende wie ein Tag seien oder wie eine Nachtwache, die gestern vergangen, die biblische Mittheilung, die doch offenbar ein Sechstagewerk, eine Schöpfung in sechs gewöhnlichen, zeitlich begrenzten Tagen meint, mit der Auffassung, dass unter den sechs Tagen sechs Perioden verstanden werden könnten, so gut es gehen wollte, zu versöhnen. 11 Nun trat Darwin auf, um die von grossen Geistern längst unbewiesen geglaubte Descendenzlehre auf’s neue in Gang zu bringen; und abermals erhebt sich der Feuerruf, die Bibel sei bedroht und mit ihr das ganze Christenthum, die ganze sitt- liche Weltordnung drohe den Einsturz, die Gesellschaft gehe aus den Fugen. Aber die Descendenzlehre an und für sich enthält nicht mehr und nicht minder Gefahr für unsere religiöse Ueberzeugung, als die geologische Ermittelung, dass die Welt nicht in sechs Tagen erschaffen ist; ja sie ist an sich eigent- lich weiter nichts, als der auf das organische Leben über- tragene Schlussgedanke dieser geologischen Ermittelung, nämlich dass die Schöpfung Entwickelung ist. Haben wir uns an den einen Gedanken gewöhnt, warum sollen wir uns nicht auch an den zweiten gewöhnen, der die Consequenz des ersten ist? Oder ist etwa die Vorstellung von dem Schöpfer würdiger, der nach menschlicher Weise sechs Tage arbeitet, um am siebenten zu ruhen, der überhaupt Arbeit nöthig hat, _um diese ganze Welt mit allen ihren Formen in’s Dasein zu bringen? Wir können heute nicht mehr glauben, dass der Schöpfer den Menschen aus Lehm gebildet und ihm den Odem des Lebens in die Nase geblasen habe; denn sofort ergäbe sich die Frage, warum denn der körperlich so ähnlich gebildete Affe anders zu Stande ge- kommen sei. Der Mensch sollte ausgezeichnet werden als Herr der Schöpfung, aber in Bezug auf seinen Körper gebührt ihm kein Vorrecht: es ist derselbe Lehm, aus dem der eine wie der andere, der Mensch wie der Affe gebildet ist, Sagen wir doch ‘auch hier lieber: der Verfasser spricht als Kind der naiven Zeit, der sich die Sache nicht anders denken konnte. “ Die Descendenzlehre ansich widerspricht nicht unsern religiösen Gefühlen, im Gegentheil der Begriff des Schöpfers wird geläutert und die Schöpfung gestaltet sich viel grossartiger und erhabener, wenn wir eben in dieser fort- zeugenden Entwickelung, die in gesetzmässiger Folge bis zum Menschen hinaufleitete, die Hand des Allmächtigen zu erkennen uns gewöhnen. Eine andere Frage ist, ob der Darwinismus d. h. die Art, wie Darwin die Descendenzlehre auffasst und zu beweisen sucht, und wie sie sein Jünger Häckel bis zu den schärfsten Consequenzen erweitert und Strauss sie zur Grundlage seines ‚‚neuen Glaubens‘ gemacht hat, überhaupt noch den Begriff einer Gottheit zulässt. Davon soll nun die Rede sein. III, Darwin’s Vorgänger. Die Darwin’sche Theorie. Sind wir also überzeugt, dass die reiche Welt der Or- ganismen , welche heute die Erde bevölkern, in langem Ent- wickelungsprocess, die vollkommnere Art stets an die mindervoll- kommene angereiht, allmählich erwachsen ist, so entsteht nun die Frage, wie man sich diesen Process vorzustellen habe, und welches die Factoren sind, die dabei mitgewirkt haben. Hatte bis zu Anfang unseres Jahrhunderts die Meinung gegolten, dass die belebten Geschöpfe, wie es der Augenschein zu lehren schien, in feststehenden Arten vom Schöpfer erschaffen seien, hatte noch der gxosse Linn& behauptet, dass es so viele Arten gebe, als überhaupt verschiedene Lebensformen von An- fang an erschaffen seien,‘ so trat der Franzose Lamarck 1809 mit seiner „‚Philosophie zoologique“ auf, um den grossen Ge- danken der Descendenzlehre, der in der Ueberzeugung erleuchteter Köpfe längst gewuchert hatte, unumwunden auszusprechen und eine methodische Begründung zu versuchen, Er gelangte bereits zu der unerbittlichen Consequenz der Descendenzlehre , nämlich zu dem einheitlichen Anfang alles organischen Lebens und liess die ersten und niedersten organischen Formen ‘durch die so- genannte generatio aequivoca, die Urzeugung, aus der an- organischen Materie entstanden sein. Als den Hauptfactor bei der allmählichen Umbildung dieser niedersten zu den höheren Formen bezeichnet er den aus der Gewohnheit der Tuebensweise entspringenden Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe und lässt die Formen sich durch Selbstthätigkeit des Individuums, das sich an die Bedingungen seiner Lebensweise anzupassen suche, allmählich verändern, so zwar, dass die neue Form, je fester sie geworden, desto leichter sich durch Vererbung erhält. Die Schwimmhaut der Schwimmvögel z. B. ist nach Lamarck ent- standen dadurch, dass das Thier, um das Wasser zu bestehen, die Zehen zum Schwimmen spreizte, wodurch die zwischen den Zehen befindliche Haut lang gezogen wurde. Die Giraffe hat ihren langen Hals erhalten, weil sie ihn ausreckte, um das Laub hoher Bäume abweiden zu können. Dass ein freier Willensact des Individuums ausreichen sollte, solche Veränderungen in der Form hervorzubringen , das wollte und konnte niemanden ein- leuchten, weil dafür absolut kein Anhaltspunct in der Natur 13 sichtbar war. Man konnte sich nicht überzeugen, dass einem Vogel, der sich, wie der Reiher, daran gewöhnen wollte, seine Nahrung im Wasser zu suchen, darum Beine und Hals und Schnabel sich strecken sollten, und konnte sich von vorneherein nicht denken, dass ein Thier, das doch auf eine bestimmte Nahrungs- und Wohnungsart organisirt war, ein plötzliches Ge- lüste verspüren sollte, Nahrung und Wohnung in einem anderen Elemente und auf andere Weise zu suchen. Das einzig Wahre an der Lamarck’schen Theorie (was, wie wir hören werden, auch Darwin in sein System aufnahm) war die Wirkung des Gebrauchs und Nichtgebrauchs: wie die Pflugschaar nur durch beständigen Gebrauch der Zersetzung durch den Rost entzogen wird, so bedürfen die Organe des Gebrauchs, und ein beständiger Nichtgebrauch lässt sie verkümmern. Wenn Lamarck behauptet, dass die Augen des Maulwurfes verkümmert seien, weil sie durch das unterirdische Leben des Thieres ihrem Gebrauch entzogen wurden, so wird er darin im Recht bleiben. Die ‚‚rudimentären Organe“, von denen die Rede war, lassen-sich nur so erklären. Lamarck musste also mit seiner Theorie vollständig unter- liegen. Es besserte die Sache etwas, aber nicht viel, dass sich sein Landsmann Geoffroy St. Hilaire in seinem Werke „Sur le prineipe de l’unite de composition organique‘“ (1828) der Descendenzlehre annahm und die Lamarck’schen Ansichteu dahin modifieirte, dass er als den Hauptfactor der Umwandlung äussere Umstände, besonders Veränderungen in der Atmosphäre, wie sie im Laufe der geologischen Perioden eingetreten seien, annahm. Veränderung in der Luft, Verminderung der Kohlen- säure und Vermehrung des Sauerstoffs habe veränderte Athmung herbeigeführt, durch Steigerung der Athmung und Blutwärme könne aus dem Reptil sich der erste Vogeltypus entwickelt haben. Aber der Einfluss der äusseren Verhältnisse, wie stark er auch ist, wird für unsere Frage dadurch illusorisch, dass unter gleichen äusseren Bedingungen doch ganz verschiedene Varietäten, und unter verschiedenen äusseren Bedingungen die gleichen Varietäten hervorspringen — womit bezeugt ist, dass die äusseren Umstände es nicht allein sind, welche die Um- wandlung der Arten herbeiführen. In dem Kampfe, der sich zwischen Geoffroy und seinem berühmten Landsmanne Cuvier entspann, blieb letzterem, der die Haupttypen der organischen Welt für geschaffen erklärte, der Sieg. Und dieser Sieg war so vollständig, dass jetzt die Descendenzlehre in einen langen 14 Schlaf verfiel, aus dem sie erst wieder mit dem Auftreten Darwin’s erwachte, Die Franzosen haben vergebens nach der Erkenntniss ge- rungen; wie ihr Stern überhaupt im Sinken ist, so mussten sie die Fortsetzung dieser geistigen Arbeit der kräftigeren Germani- schen Art überlassen: ein Engländer war es, der die ‘Descen- denzlehre auf's neue und mit neuen Mitteln in Gang brachte: Charles Darwin, der 1859 mit seinem Buche „über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl“ auftrat; und Deutsche sind es, die mächtiger als die Landsleute Darwin’s von der Idee ergriffen, mächtiger dafür eintraten — aber auch mächtiger dagegen in die Schranken traten. Gleich- wohl war der Vorstoss, den die Franzosen gemacht, nicht ver- gebens gewesen: der Artbegriff, die Constanz der Arten, war zum ersten Male erschüttert und das konnte nicht ohne Folge bleiben. Es gibt keine Arten, sondern nur Individuen, die sich allmählich abändern, hatte Lamarck gesagt, und dieser Satz, der nur der Ausfluss der Ueberzeugung ist, die Geoffroy St. Hilaire in seiner „‚unite de composition organique‘‘ ausgesprochen hat, konnte nicht mehr spurlos aus der Wissenschaft verschwinden. Er wurde für Darwin der Ausgangspunct seiner Lehre. Darwin greift in die jedem vor Augen liegende Erfahrung des täglichen Lebens zurück, um die Verschiebbarkeit des Art- begriffs zu zeigen. Jeder Gärtner weiss, dass man neue Blumen oder Obstsorten kunstmässig züchten kann. Allen Organismen wohnt das Bestreben inne, zu variiren, d. h. in einem grös- seren oder geringeren Masse von der Stammform abzuweichen. Tritt nun in Folge dieses Bestrebens bei einzelnen Individuen eine Eigenschaft auf, wie etwa besondere Grösse, eine eigen- thümliche Färbung, die dem Gärtner gefällt und darum der Erhaltung werth erscheint, so wählt er die Individuen, bei welchen sich diese Eigenschaft in besonderem Grade zeigt, zur Nachzucht aus. Diese Eigenschaft wird nach einem andern in der Natur wirkenden Gesetze, dem der Vererbung, immer fester, und so entsteht allmählich eine Form, die von der Stamm- form wesentlich verschieden ist. Ganz ebenso verfährt der Vieh- züchter mit den Hausthieren; er züchtet den Hunden, Pferden, Tauben ete. gewisse ihm wünschenswerth erscheinende Eigen- schaften, die vermöge des Gesetzes der Variation hervortreten, in ausgeprägtem Masse an, die Hausthiere müssen sich ‚den Bedürfnissen und Launen des Menschen anpassen‘, wie Darwin 15 sagt. So erklärt es sich, dass gerade die Culturpflanzen und Hausthiere den stärksten Abänderungen unterworfen sind; denn dieses Verfahren ist schon seit den ältesten Zeiten geübt worden, Nun weist Darwin nach, wie die Natur ganz ebenso wie der künstliche Züchter, aber aus andern Gründen, eine Auslese trifft unter dem Nachwuchs, den sie grosszieht. Bei dem den Organismen innewohnenden Triebe der Vermehrung ist nämlich dieser Nachwuchs stets grösser, als dass er unverkürzt Nahrung finden könnte. Die Fische würden bald sämmtliche Meere, manche besonders fruchtbare Landthiere die Erde füllen, wenn unter der Nachkommenschaft nicht aufgeräumt würde; und selbst die Menschheit, die sich verhältnissmässig nur langsam vermehrt, würde längst so angewachsen sein, dass sie unmöglich mehr Raum auf der Erde hätte. Der Britische Nationalökonom Malthus hatte den Satz ausgesprochen, dessen Richtigkeit durch die Erfahrung bestätigt wird: die Vermehrung der Indi- viduen steigt in geometrischer Progression (1, 2, 4, 8, 16 u. s. w.), die Vermehrung der Nahrungsmittel nur in arithmetischer Pro- gression (1, 2, 3, 4, 5 u. s. w.). Es muss daher stets Leben vertilgt werden, um für das Leben Raum zu schaffen, und so entsteht unter dem Nachwuchs der „Kampf um das Dasein“, in welchem jeder vor seinen Mitbewerbern, die ihm Licht und Luft, Raum und Nahrung streitig machen, einen Vorsprung zu gewinnen sucht, und in welchem nur dem der Sieg bleibt, der in seinen besser ausgestatteten Organen einen Vortheil vor den anderen hat. Der gerühmte „Friede in der Natur‘ existirt also nur im Munde des Dichters und dessen, der die Natur mit dem Gemüthe des Dichters anschauen will. ‚Wir sehen, sagt Darwin, das Antlitz der Natur in Heiterkeit strahlen, wir sehen oft Ueberfluss an Nahrung; aber wir sehen nicht oder vergessen, dass die Vögel, welche um uns her sorglos ihren Gesang erschallen lassen, meistens von Insecten oder Samen leben und mithin beständig Leben zerstören; oder wir vergessen, wie viele dieser Sänger oder ihrer Eier oder ihrer Nestlinge unaufhörlich von Raubvögeln oder Raubthieren vernichtet werden; wir behalten nicht immer im Sinne, dass, wenn auch das Futter jetzt im Ueberfluss vor- handen sein mag, dies doch nicht zu allen Zeiten eines jeden umlaufenden Jahres der Fall ist.“ Und ist es im Leben des Menschen denn anders? Gestehen wir uns nur: warum ist der Neid ein so verbreitetes Laster, dass man mit ihm fast wie mit 16 einer chronischen Krankheit rechnen muss? Uud vollends wenn die Noth an den Menschen herantritt, dann sind keine Bande der Religion und der Sittlichkeit stark genug, diesem Kampfe um das Dasein Einhalt zu thun; je allgemeiner die Noth ist, desto mehr schmilzt die Zahl derjenigen zusammen, die sich über den Zwang des Naturgesetzes hinaus auf der Höhe der Menschlichkeit zu erhalten vermögen. Mit der „christlichen Nächstenliebe‘ steht es besser, aber nicht viel besser, als mit dem ‚Frieden in der Natur.‘ Selbst der Dichter, der die Natur so gern mit poetischem Auge anschaut, kennt den Kampf um das Dasein: ‚‚der Mann muss hinaus in’s feindliche Leben“, sagt Schiller. Die Vortheile, die dem Individuum in dieser allgemeinen Concurrenz zum Siege verhelfen, sind verschiedener Art: Grösse, Kraft, bessere Bekleidung und Bewaffnung, besondere Färbung, Schnelligkeit, List u. s. w. Es sind ursprünglich zufällige Variirungen, aber so wie sie sich als nützlich erweisen in dem grossen Wettstreite, dienen sie zur Erhaltung der mit ihnen versehenen Individuen, die Natur wählt aus der Masse der Be- werber diese «Individuen aus — das ist die „natürliche Zuchtwahl“. Die nützlichen Eigenschaften werden auf die Nachkommen vererbt und gewinnen immer festere und ausge- prägtere Gestalt; ein Vorzug kommt zu dem anderen, und indem sich so die besonderen Kennzeichen häufen, bildet sich langsam die neue Art, die von der Stammform wesentlich abweicht. Tritt Wanderung ein, Verschiebung des Wohnplatzes, oder Veränderung in den physischen Verhältnissen des Wohnplatzes, so sucht das Individuum sich den veränderten Lebensbedingungen anzupassen, d. h. nützliche, den neuen Verhältnissen entsprechende Ab- änderungen sichern den mit ihnen versehenen Individuen den Bestand, während die nicht damit versehenen dem Untergang geweiht sind. „Das Passendste überlebt‘, das ist der allge- meine Grundsatz, So sind also nach Darwin die Arten entstanden durch die natürliche Zuchtwahl, durch allmählich wirkende und in langen Zeitläuften sich summirende Veränderungen, im Kampf um das Dasein, nicht durch freie Willensthätigkeit, wie Lamarck gemeint hatte. Der lange Hals der Giraffe erwuchs also nicht aus dem Bestreben des Thieres den Hals zu recken, um die Blätter der hohen Bäume abweiden zu können, sondern der Vorgang war nach Darwin folgender: in der Zeit des Mangels, als etwa in 17 Folge von grosser Trockenheit die Nahrung spärlich wurde, er- hielten sich nur diejenigen Individuen der Giraffenherde, welche durch den längeren Hals den Vorzug genossen, die Blätter der höchsten Bäume zu erreichen. Der Vorzug wurde vererbt und durch die fortwirkenden Ursachen allmählich verstärkt, bis die Form unserer heutigen Giraffe in einer langen Folge von Gene- rationen hergestellt und befestigt war. Die natürliche Zuchtwahl bildet den Mittelpunct der Dar- win’schen Lehre, das, was man eigentlich Darwinismus nennt. In engster Verbindung damit führt er als weiteren treibenden Factor in der Umwandlung der Arten die „geschlecht- liche Zuchtwahl‘“ ein, d. h. diejenige Auswahl, welche das geschlechtliche Leben herbeiführt, indem das eine Geschlecht stets diejenigen Individuen des anderen Geschlechts, welche mit besonderen Vorzügen ausgestattet sind, bei der Bewerbung be- vorzugt. So soll die Mähne des Löwen, das Geweih des Hirsches, das schöne Gefieder so vieler Vögel, und so viele anderen Zierden, durch welche sich das Männchen vor dem-Weibchen auszeichnet, namentlich aber bei den Singvögeln der schöne Gesang der Männchen, die um die Wette um ihre Weibchen singen, durch geschlechtliche Zuchtwahl allmählich entstanden sein. Daneben behält Darwin das Richtige, was er in den Theorien seiner Vorgänger fand, bei; so namentlich die Wirkung des vermehrten Gebrauchs oder Nichtgebrauchs‘ der Organe, welche Lamarck so sehr betont hatte: bei der Hausente sind die Flügelknochen leichter und die Beinknochen schwerer im Vergleich zum ganzen Skelett, als bei der wilden Ente — was seine Ursache darin hat, dass die zahme Ente weniger fliegt und mehr geht. Wo die Kühe regelmässig gemolken werden, wird das Euter grösser. Bei den Vögeln, die nicht fliegen, wie die Strausse und die Pinguine, sind die Flügel verkümmert. Die Pinguine brauchen ihre Flügel nur als Ruder im Wasser und als Vorderbeine auf dem Lande; der Strauss als Segel beim Laufen. Ebenso sind beim Maulwurf die Augen ver- kümmert, weil er sie nicht braucht. Auch bei anderen Thieren, die beständig in Höhlen leben, hat man gefunden, dass sie blind sind, obwohl sie mit dem vollständigen Apparat der Augen versehen sind. Es ist dies, wie gesagt, die einzig ver- nünftige Erklärung der rudimentären Organe, die demjenigen eine unübersteigliche Schwierigkeit bereiten, der „getrennte Schöpfungsacte“ für die Arten annimmt. „Wie ganz unerklär- Kuhl, Descendenzlehre, 2 18 bar ist es, sagt Darwin, nach der Annahme, dass jedes orga- nische Wesen mit allen seinen einzelnen Theilen besonders erschaffen worden sei, dass Organe, welche so deutlich das Gepräge der Nutzlosigkeit an sich tragen, wie die nie zum Durchbruch gelangenden Schneidezähne des Kalbes oder die verschrumpften Flügel unter den verwachsenen Flügeldecken so mancher Käfer so häufig vorkommen. Man könnte sagen, die Natur habe Sorge getragen, durch rudimentäre Organe, durch embryonale und homologe Gebilde uns ihren Abänderungsplan zu verrathen, welchen zu erkennen wir aber zu blind sind,“ Auch die Einwirkung der physischen Verhältnisse des Wohnplatzes, wie sie Geoffroy St. Hilaire gelehrt hatte, zieht Darwin heran, jedoch nicht als alleinige Ursache der Umwand- lung, sondern immer im Zusammenwirken mit der natürlichen Zuchtwahl. Darwin hat diesem Factor der Entwickelung, wie man ihm mit Recht entgegen gehalten hat, zu wenig zuge- schrieben; in der That sind Veränderungen in den äusseren Verhältnissen, sei es nun, dass der Wohnort derselbe bleibt oder dass er durch Wanderung verschoben wird, stets von den weitreichendsten Veränderungen in der Constitution der Lebe- wesen begleitet, und diese Veränderungen ebnen gerade der natürlichen Zuchtwahl das Feld für ihre Wirksamkeit. Mit der wachsenden Kälte nach den Polen hin pflegt stärkere Behaarung der Thiere einzutreten; nun kann man freilich mit Darwin sagen: die am wärmsten gekleideten Thiere haben sich im Kampfe um das Dasein erhalten und diese ihre günstige Eigen- schaft fortgepflanzt. Aber man kann auch sagen: es ist die Folge dieser Einwirkung des Klimas, dass die der stärkeren Kälte ausgesetzten Thiere auch stärker behaart sind. Die weisse Farbe des Pelzes, wie wir sie in der kalten Zone z. B. beim Eisbären treffen, lässt sich als ein Ergebniss der natürlichen Zuchtwahl erklären, die diese Farbe als der Umgebung, dem weissen Schnee, besonders entsprechend und darum zum Schutze des Thieres besonders geeignet, ausgelesen habe. Man wird aber wohl richtiger an den directen Einfluss des Klimas denken, wie ja auch beim Menschen die Haut- und Haarfarbe, je weiter vom Aequator nach Norden, desto mehr sich abbleicht im All- gemeinen — mit Ausnahmen, die besonders zu erklären sind (Anfänge des Menschengeschlechts "II, 8. 230). Die Sonne lockt die Farben hervor; die Natur zeigt ihre grösste Farben- pracht in der heissen Zone, unsere Thiere und Pflanzen sind ee u BP ur el 3 durchgehends matter gefärbt, als die der heissen Zone. Die wesentlichsten Veränderungen der Organismen sind durch den Versuch der Anpassung an die physischen Bedingungen des Wohnplatzes hervorgebracht, wie wenig bestimmt wir auch in den einzelnen Fällen sagen können, warum die Variirung gerade diese und nicht eine andere Richtung genommen habe. Die Entstehung der Rassen des Menschen ist im Wesentlichen nur das Resultat eines nach Jahrtausenden zählenden Anpassungs- processes an die physischen Bedingungen der Umgebung. Das ist, was man Avclimatisirung nennt, die ja auch Darwin in vollem Maasse anerkennt: ‚Dieser Ansicht zufolge hat man die Fähigkeit des Menschen selbst und seiner meisten Haus- thiere, die verschiedenen Klimate zu ertragen, und die That- sache, dass die ausgestorbenen Elephanten- und Rhinoceros- arten [das Mammut, das man in den Eisfeldern Sibiriens wohlerhalten ausgegraben hat, wovon unten mehr] ein Eisklima ertragen haben, während deren jetzt lebende Arten alle eine tropische oder subtropische Heimat haben, nicht als Anomalie zu betrachten, sondern lediglich als Beispiel einer sehr gewöhn- lichen Biegsamkeit der Constitution anzusehen, welche nur unter besonderen Umständen zur Geltung gelangt ist.‘ Die Organismen sind auf das Wandern angewiesen von Anbeginn, wie dies der Mensch selbst am deutlichsten zeigt, der über die ganze Erde gebreitet ist. Sie versuchen soweit vorzudringen , als möglich ist, d. h. soweit es einem jeden möglich ist, sich an die veränderten oder allmählich sich ver- ändernden Verhältnisse zu gewöhnen. Sie büssen ein von ihrer Kraft und Stärke, sowie sie in ungünstigere Verhältnisse ge- rathen — unsere Birke z. B. schrumpft im Norden zu einem elenden Gesträuch zusammen ; sie geben nach, so viel sie können ; können sie nicht mehr, so sterben sie ab. Darum hat jeder Organismus.seinen Verbreitungsbezirk, über den er nicht hinaus- geht; darum wird nach den Polen hin, wo die nothwendige Bedingung alles Lebens, die Sonnenwärme, immer mehr ausgeht, die Natur immer öder und monotoner. Freilich je länger ein Organismus bereits an bestimmte Lebensverhältnisse angepasst ist, je fester damit die Art geworden ist, desto weniger ist an die Möglichkeit einer Umbildung durch veränderte Verhältnisse zu denken, desto geringer also auch die Wanderungsfähigkeit. Aber für die ersten Zeiten des Bestehens, wo der Organismus noch biegsam war, bildeten die Wanderungen und die dadurch Ir 20 herbeigeführte Verschiebung der äusseren Lebensbedingungen ohne Zweifel einen überaus mächtigen Factor der Entwickelung. IV. Die allmähliche Transmutation nach mechanischen Ge- setzen. Unvereinbarkeit dieser Anschauung mit der Vor- stellung von einem Schöpfer. Dies ist mit kurzen Worten Darwin’s Theorie von der Ent- stehung der Arten. Sie ist bestechend, weil sie eine durchaus objective Grundlage hat: sie gelt von Vorgängen aus, von deren Richtigkeit sich jeder mit seinen Sinnen überzeugen kann, um darauf ihre Schlüsse zu bauen und das, was wir mit unserer täglichen Erfahrung gerade nicht mehr erreichen, als einen eben solchen Vorgang, nur von längerer Dauer, darzustellen. Denn tausende und aber tausende von Generationen schwanden hin, ehe von der unausgesetzt wirkenden natürlichen Zuchtwahl die nütz- lichen Eigenschaften ausgelesen, summirt und durch Vererbung befestigt waren. ,‚Der Geist, sagt Darwin, kann die volle Be- deutung des Ausdruckes von einer Million Jahre unmöglich fassen, er kann nicht die ganze Grösse der Wirkungen zusammenrechnen und begreifen, welche durch Häufung einer Menge kleiner Ab- änderungen während einer fast unendlichen Anzahl von Gene- rationen entstanden ist.“ Hier hatte die Geologie vorgearbeitet: sie hat die Vor- stellung von plötzlichen Katastrophen, durch welche man einst die Erdrinde sich stossweise bilden liess, aufgegeben, und an deren Stelle die langsam und dem Auge des menschlichen Indi- viduums . kaum erkennbar wirkenden Naturkräfte gesetzt. Eine unabsehbar lange Zeit hat, die kleinen, unscheinbaren Wirkungen summirend, die grossen Veränderungen allmählich herbeigeführt, deren Product die heutige Gestalt unseres Erdkörpers ist. Diesen Gedanken hat Darwin der Geologie entlehnt: auch die Welt der Organismen hat einen unabsehbar langen Entwicklungsgang durchgemacht, dessen Resultat die heutigen Formen sind. Wenn man also die Uebergänge vom Schleimthier z. B. zum Glieder- thier, vom Gliederthier zum Wirbelthier, oder um gleich an das Ende der Kette zu springen, vom Affen zum Menschen zu sehen 21 - wünscht, so antwortet Darwin: diese Uebergänge haben sich vor und in langen Zeitläuften vollzogen und sind deshalb heute unserer Beobachtung nicht mehr erreichbar. Aber was wir sehen, macht es uns wahrscheinlich, dass auf diese Weise aus den kleinen Veränderungen in langer Zeit die grossen Unter- schiede sich summirt haben. Für die Dränger, die darauf hin- weisen, dass wir in den Jahrtausenden, in welchen die Geschichte der Lebewesen unserer Beobachtung zugänglich ist, keine nennens- werthen Veränderungen sehen, dass z. B. der Ibis der alt- ägyptischen Gräber derselbe ist, welcher „gegenwärtig an den sumpfigen Ufern des Nil fischt‘“ (Humboldt), steht Darwin also eine doppelte Antwort zu Gebot: einmal ist die Zeit zu kurz. gegenüber den vorausgesetzten Jahrmillionen, sodann aber konnte es in einem solchen abgeschlossenen, in Bezug auf seine kli- matischen Zustände sich stets gleichbleibenden Lande nicht zu einem lebhaften Variiren, vielmehr nur zu einer stereotypen Fixirung der Arten kommen. Die weitere Consequenz ist aber, dass mit den heutigen Formen nicht ein Abschluss erreicht ist, dass vielmehr der Process dieses Werdens und Vergehens in der alten Weise und nach den alten Gesetzen ewig fortdauert, dass also nach Tausenden oder Millionen von Jahren ganz neue Organismen die Erde bewohnen werden. „Es ist anziehend, sagt Darwin am Schlusse seines Werkes über die Entstehung der Arten, beim Anblick einer dichtbewachsenen Uferstrecke, bedeckt mit blühenden Pflanzen vielerlei Art, mit singenden Vögeln in den Büschen, mit schwärmenden Insecten in der Luft, mit kriechenden Würmern im feuchten Boden sich zu denken, dass alle diese künstlich gebauten Lebensformen, so abweichend unter sich und in einer so complicirten Weise von einander abhängig, durch Gesetze hervorgebracht sind, welche noch fort und fort unter uns wirken. Diese Gesetze, im weitesten Sinne genommen, heissen: Wachsthum mit Fortpflanzung, Vererbung, fast in der Fort- pflanzung mit einbegriffen; Veränderlichkeit in Folge der direeten und indireeten Wirkungen äusserer Lebensbedingungen und des Gebrauchs oder Nichtgebrauchs; rasche Vermehrung in einem zum Kampfe um das Dasein und als Folge desselben zur natür- lichen Zuchtwahl führenden Grade, welche letztere wiederum Divergenz des Charakters und Erlöschen minder vervollkommneter Formen bedingt. So geht aus dem Kampfe der Natur, aus Hunger und Tod unmittelbar die Lösung des höchsten Problems hervor, das wir zu fassen vermögen, die Erzeugung immer höherer und vollkommenerer Thiere. Es ist wahrlich eine gross- artige Ansicht, dass der Schöpfer den Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder nur einer einzigen Form einge- haucht hat, und dass, während unser Planet den strengen Ge- setzen der Schwerkraft folgend sich im Kreise schwingt, aus so einfachem Anfange eine endlose Reihe der schönsten und wunder- vollsten Formen sich entwickelt hat und noch immer entwickelt.‘ Auf den Menschen angewendet müsste also angenommen werden, dass derselbe nicht das Ziel der Schöpfung ist, sondern dass sich nach und aus dem Menschen irgend welche anderen Erdbewohner entwickeln müssten, und zwar solche, die vollkommener als der Mensch wären, da ja die ganze Reihe der Entwicklungsformen im Allgemeinen in aufsteigender Linie von der minder vollkommneren Art zur vollkommneren gelangt. Somit dehnt sich nach Darwin’s Auffassung der Begriff, den wir mit dem Namen Schöpfung zu bezeichnen pflegen, nicht etwa nur zu der Entwickelung der Organismen von der ein- fachsten Form bis zu der vollkommensten, dem Menschen, hinauf, sondern er wird geradezu unbegrenzt: es wird noch tagtäglich, wie von Anbeginn an, „geschaffen“, und der Process des Wer- dens und Veränderns spielt sich ewig fort, bis zu einem Ziele, das wir vorläufig nicht ahnen können. Was aber der Vorstellung von einem Schöpfer vollends den Garaus macht, ist, dass alle diese durch die natürliche Zuchtwahl herbeigeführten Veränderungen, diese ganze allmähliche Trans- mutation sich nach Gesetzen vollzieht, die in dm Mechanis- mus der Natur begründet sind, also ein thätiges Ein- greifen einer höheren Macht zu keiner Zeit zulassen. Ein Schöpfer ist nach‘ Darwin’s Auffassung überflüssig, ja un- möglich; die natürliche Zuchtwahl und das damit in Verbindung stehende Conglomerat anderweitiger Naturgesetze besorgt diese Transmutation und hat sie zu allen Zeiten besorgt. „Man kann, sagt Darwin, figürlich sagen, die natürliche Zuchtwahl sei täglich und stündlich durch die ganze Welt beschäftigt, eine jede, auch die geringste Abänderung zu prüfen, sie zu verwerfen, wenn sie schlecht, sie zu erhalten und zu vermehren, wenn sie gut ist. ‚Still und unmerkbar ist sie überall und allezeit, wo sich die Gelegenheit darbietet, mit der Vervollkommnung eines jeden organischen Wesens beschäftigt.“ Und so sagt Darwin wieder- holt von der natürlichen Zuchtwahl, dass sie nur durch und ..n 23 für das Gute eines jeden Wesens wirkt und seine Vervoll- kommnung zu fördern strebt. Die natürliche Zuchtwahl über- nimmt also die Rolle eines bewussten Lenkers und Ordners des Weltalls, es sind unbewusst und mechanisch wirkende Gesetze, aus denen sich die vielbewunderte Symmetrie des Kosmos auf- gebaut hat, und denen jedes einzelne Wesen die Art und den Grad seiner Vollkommenheit verdankt, Und zwar auch die Höhe seiner geistigen Fähigkeiten: was wir Instinct beim Thiere nennen, ist eine Vervollkommnung der seelischen Fähigkeiten, die ein Urerzeuger der betreffenden Art an einem Puncte der Erde in dem Kampfe um das Dasein durch natürliche Zuchtwahl erlangt und dann an seine Nach- kommen vererbt hat. „Die Instincte, sagt Darwin, bieten, so wunderbar sie sind, der Theorie der natürlichen Zuchtwahl keine grösseren Schwierigkeiten dar, als die körperlichen Bild- ungen .... Nach der Ansicht, dass alle Arten und Gattungen von einer gemeinsamen Stammform herrühren und von dieser vieles gemeinsam geerbt haben, vermögen wir die Ursache zu erkennen, weshalb verwandte Arten, wenn sie wesentlich ver- schiedenen Lebensbedingungen ausgesetzt sind, doch beinahe denselben Instineten folgen.“ Der Zellenbau der Biene, das Gewebe der Spinne, die Wasserbauten des Bibers, sind von einem gemeinsamen Urerzeuger vererbte Fähigkeiten, welche die natürliche Zuchtwahl bei diesem und seiner Ahnenkette allmählich gehäuft hatte. Von hier ist alsdann der Schritt zu den geistigen Fähigkeiten des Menschen leicht gemacht: auch diese sind in derselben Weise, durch die natürliche Züchtwahl entwickelt, es besteht zwischen ihnen und den Fähigkeiten der Thiere nur ein „quantitativer,‘ kein ‚qualitativer‘ Unterschied, Der Mensch, ‚das Wunder und der Ruhm des Weltalls,‘“ wie Darwin sagt, ist zwar das höchste und vollkommenste , aber immerhin. nur ein Product mechanisch wirkender Naturgesetze, die unbewusst bis zu dieser höchsten Stufe der Entwickelung geleitet haben, und — so müssen wir nach Darwin conse- quenter Weise annehmen — dereinst noch zu höheren Stufen leiten werden. Hier legt sich nun der Widerstreit der Darwin’schen Lehre gegen jede positive Religion, gegen jedes Gottesbewusstsein, das die Grundlage jeder Religion ist, klar vor Augen. Seit Laplace zu Napoleon I., der ihn fragte, warum er eines Schöpfers keine Erwähnung gethan habe, das stolze Wort gesprochen, er be- 24 dürfe eines solchen nicht zur Erklärung seines Planetensystems, wurde es üblich in der Naturwissenschaft, die Erscheinungen der Natur als die Resultate mechanisch, also unbewusst wirkender Kräfte zu erklären; von einer Teleologie, d.h. der Erkenntniss einer bewusst wirkenden, auf ein bestimmtes Ziel gerichteten Macht, die geheimnissvoll in der Natur walte, also von einem Schöpfer und Erhalter der Welt kann keine Rede mehr sein. Längst hatte der Materialismus, für den es nur einen Stoff, dessen Inhärenz die Kraftist, gibt, aber keine Kraft, keinen Geist ausser dem Stoffe, die Gottesidee geieugnet, indem er überhaupt jede Zweckmässigkeit in der Natur leugnete. Aber der Kosmos im Ganzen und die Erde im Besondern predigten laut das Gegentheil. Nun ist der Sturm, den Darwin herauf- beschworen, viel gefährlicher: der Darwinismus leugnet nicht die Zweckmässigkeit in der Natur, aber er erkennt in ihr nur das Resultat eines unbewusst zum Guten wirkenden Processes, der natürlichen Zuchtwahl. Wir wollen sehen, ob die neue Lehre damit im Stande ist Alles zu erklären; kann sie ”dies, so müssen wir ihr glauben; kann sie es nicht, so steht es uns frei zu wählen und einen andern Weg zu suchen. V. Die Constanz der Arten. Die Urzeugung (in dem er- weiterten Sinne). Das umsetzende Verhältniss zwischen der Veränderungs- und der Beharrungstendenz. Die Constanz der Arten ist durch Darwin mächtig er- schüttert. Ein Blick in das tägliche Leben zeigt uns die Ver- schiebbarkeit des Artbegriffs: die verschiedenen Kohlarten, um ein recht hausbackenes Beispiel zu wählen, Weisskohl, Roth- kohl, Savoyerkohl etc. sind alle offenbar aus einer Urform her- vorgegangen. Besondere Eigenschaften, die bald die Blätter werthvoller machten, bald den Stengel, wurden besonders ge- züchtet, und die anfänglich geringen Veränderungen sind durch Vererbung zu trennenden Kennzeichen geworden, so dass wir nun die neuen Formen als gute Arten betrachten können. Die wohlgeschiedenen Arten finden sich, wie man bemerkt hat, nur 25 in den Büchern und in den Schränken unserer Museen; das lebende Museum, welches wir Natur nennen, zeigt ein be- ständiges Fluctuiren. Es treten neue Eigenschaften auf, sie befestigen sich durch Vererbung, und damit ist zunächst die Spielart (Varietät) fertig. Häufen sich diese besonderen ‘ Eigenschaften und erlangen sie grössere Festigkeit, so geht all- mählich und unvermerkt die Spielart in die Art über. Eine wohlbefestigte Spielart nennt deshalb Darwin mit Recht eine beginnende Art. Es gibt keine festen Grenzen zwischen Art und Spielart, und wie unsicher diese Grenzscheide ist, zeigt am besten das Schwanken der Naturforscher, von denen der eine für eine gute Art hält, was der andere eine Spielart nennt. Bis hierhin ist alles klar, und die Thatsachen entsprechen diesen Aufstellungen vollkommen. Wenn aber Darwin in diesem vor aller Augen liegenden Processe die Erklärung für die Ver- schiedenheit der gesammten Lebeformen findet, so geht er über den Bereich des Erkennbaren hinaus und die Thatsachen lassen ihn inı Stich. Er muss eine unbegrenzte Variation annehmen, unddiese entspricht nicht unseren Erfahrungen. Denn dem Streben zu variiren hält in Wirklichkeit das Gleichgewicht die Rück- schlagstendenz — nach dem Gesetze der Vererbung. Der künstliche Züchter ist in seiner Freiheit nicht unbeschränkt: er vermag neue Formen zu züchten, aber nur innerhalb einer ge- wissen Grenze; je weiter sich die gezüchtete Varietät von der Stammform entfernt, desto schwerer wird es neue Eigenschaften hervorzuzüchten, desto näher ist der Rückschlag der Varietät nach der Stammform zu. Und ebenso steht es mit der natür- lichen Zuchtwahl: soweit wir sehen, erstreckt sich ihre Wirk- samkeit nur auf die Hervorbringung neuer Varietäten, die den Charakter von Arten annehmen können, jenachdem man die neuen Merkmale als wesentlich oder nicht wesentlich anerkennt. Darin liegt gerade das Schwanken in der Bestimmung der Frage, ob man es mit einer neuen Art, oder bloss mit einer Spielart zu thun habe. Darwin überzeugt uns, dass alle Taubenarten von einer Art, der wildlebenden Felstaube sich hergeleitet haben: könnte er uns doch einen Fall mit überzeugender Klarheit vor- führen, wo eine Taube zur Ente, oder umgekehrt wurde! oder wie aus dem ersten vogelartigen Geschöpf die ganze Reihe der Vögel wurde! Und doch verlangt die Descendenzlehre diese Annahme ; nicht etwa nur aus einer vogelartigen Urform müssen sich alle 26 Vogelarten, aus einer Wirbelthier-Urform alle Wirbelthiere ent- wickelt haben, sondern aus den Schleimthieren die Gliederthiere und aus diesen die Wirbelthiere. Wir sind zu dem Geständ- niss gezwungen, dass die heute unserer Beobachtung zugänglichen Veränderungen uns die Erklärung nicht geben. Und wenn sich Darwin hinter die Millionen Jahre flüchtet, denen gegenüber der Zeitraum unserer Erfahrung verschwindend klein sei, so ist doch der Einwand noch nicht entkräftet, dass dann doch die Ansätze sichtbar sein müssten. Denn wie sehr auch der Dar- winismus darauf drängt, dass man in den beobachteten Wandel- ungen der Arten diese Ansätze zu erkennen habe, in der That sind sie es nicht, so lange der Variirungstendenz gewissermassen corrigirend die Beharrungstendenz gegenübersteht. Nur eine ungehemmte Varirung konnte die entscheidenden Uebergänge von Art zu Art, von Classe zu Classe bewirken. Wenn sich aus der Affenart der Mensch entwickelt haben soll, der Mensch selbst aber nicht das Ziel der Schöpfung sein soll, so musste doch in den Jahrtausenden, über welche unsere Erfahrung sich erstreckt, wenigstens die Spur einer sich aus dem Menschen entwickelnden höheren Art sichtbar geworden sein. Aber was sehen wir statt dessen? Der Mensch ist allen Rassenunter- schieden zum Trotz immer Mensch geblieben, und statt dass sich die Zahl der Rassen vermehrt, — was doch sein müsste, wenn die Varürung sich bis zur Darstellung eines neuen Ge- schöpfs potenziren sollte —, vermindert sie sich vielmehr, und die Menschheit strebt zu der Einheit zurück, von der sie aus- gegangen ist. Und wie lebhaft auch die Variation namentlich bei unseren Culturpflanzen und Hausthieren sein mag, eine gewisse Grenze wird niemals überschritten: Halmfrüchte bleiben immer Halmfrüchte, und der Hund in allen seinen Gestalten, selbst nahe verwandten Arten gegenüber, immer genau erkennbar. Eine unbegrenzte Variation, die in ihren Richtungen unbestimmt wäre — wie dieses Darwin voraussetzt — findet heute nicht statt. Ein Zertheilen einer Form in mehrere, oder wenn man will viele andere, ist, was wir beobachten können ; aber diese neuen Formen gehen radienförmig von dem Centrum der Stammform aus, und überschreiten nicht eine gewisse Peripherie d. h. sie entziehen sich nicht soweit der Stammform, dass sie selbst wieder die Centra einer ganz neuen Formengruppe werden könnten. Wenn nun Darwin sich auf die Geologie beruft, die ihm auch hierin vorgearbeitet hat, so ist er, wie es uns scheint, 27 auch dabei übel berathen, wir gerathen dabei in dieselbe Schwierigkeit. Die Geologie sagt uns: der Aufbau der Erdrinde erfolgte in langen Jahrmillionen nach denselben Gesetzen und durch dieselben Naturkräfte, die wir noch heute um uns wirk- sam sehen. Sie weist uns hin auf die unvermerkt sich vor unseren Augen vollziehenden geringen Veränderungen, die das nagende Wasser im Bach, die zehrende Luft, der spülende Regen hervorbringt; man gebe nur eine ungemessene Zeit, und die grossen Veränderungen sind aus der Summation gering- fügiger Wirkungen hinreichend erklärt. Aber diese kleinen Veränderungen bleiben doch immer sichtbar; wir sehen sie nicht, weil wir nicht darauf achten, achten wir darauf, so sehen “ wir sie. ‚sewiss, dieselben Kräfte wirken heute, wie sie seit An- beginn gewirkt, aber sie wirken nicht mit derselben Stärke, wie damals, als es sich darum handelte, den Erdball aus dem kosmischen Nebel aufzubauen. Alles drängt zu der Ueberzeugung hin, dass dem ewigen Kreislaufe, der an das Werden in unbe- stimmbarem Puncte das Vergehen anreiht, auch unsere Erde unterworfen ist. Sie hat dies mit allem Irdischen gemein, dass auf die Zeit jugendlichen Sprossens die höchste Blüthe und Kraft und darauf das langsame Altern und Hinwelken folgt. Unsere Erde ist ein alternder Planet, das sagt uns die astronomische Wissenschaft; ihre Jugend verlebte sie zu jener Zeit, als aus dem feurigen Nebelballe sich der feste Körper zu bilden be- gann, und jeder Fortschritt in der Festigung dieses Körpers ist ein Schritt weiter zur Erstarrung d. h. zum endlichen Zerfalle, zum endlichen Untergange. Der Mond, der seine Atmosphäre bereits aufgezehrt, also für lebende Wesen, wie wir sie uns vorstellen müssen, nicht mehr die Bedingungen der Existenz hat, zeigt uns unsere Zukunft, die Sonne, die sich noch in _ dem Zustande der feurig flüssigen Masse befindet, unsere Ver- sangenheit. Die uralten, ewigen Gesetze wirken fort, aber sie erzeugen nicht mehr in ungehemmter Kraft das neue Gebilde; was erzeugt ist, sucht sich zu erhalten, indem es weiter zeugt, sich umgestaltet nach den Verhältnissen, sich theilt — womit es dann langsam seinem Verfalle entgegengeht. Und ist es nicht beim einzelnen Individuum, beim Menschen ebenso? Das Blut kreist im Alter in derselben Weise, der Ernährungsprocess fährt fort in seinen alten Functionen, aber die Jugend erhält er dem Menschen nicht, dieser muss sterben, wenn seine Zeit 28 gekommen ist, auch ganz ohne Gewalt, nur an der einen langen Krankheit, dem Leben. Hier sind wir in den Mittelpunct unserer Anschauung ge- langt; wir ergänzen die Darwin’sche Evolutionstheorie durch die Culminationstheorie: Die ganze Evolution der Arten vollzog sich in jener fernen Zeit, wo die Erde sich zur festen Kugel gestaltete und ihre Rinde bildete. Das war die sprossende Jugend, die das organische Leben hervortrieb und es entwickelte bis zur höchsten Stufe, dem Menschen. Und während es sonst schwierig, ja unmöglich ist, in der ewigen Veränderung die Grenzlinie zwischen dem Wachsen und Schwinden anzugeben, sind wir hier in der glücklichen Lage, den Punct, wo die Höhe erreicht ist und das Absteigen beginnt, genau zu bezeichnen: es ist das Auf- treten des höchstorganisirten Geschöpfes, des Menschen, wo sich die endende Jugend und das beginnende Alter unseres Erdkörpers genau schei- den. Ein unbegrenztes Variationsvermögen, wie es Darwin auch für heute und für alle Zeiten annehmen muss, waltet nur in dieser Zeit des aufsteigenden Wachsthums; nachdem der Höhepunct erreicht ist, nimmt das Variationsvermögen ab und in demselben Grade die Beharrungstendenz zu. Die Veränderlichkeit macht das Wesen des Werdens aus, die Vererbung ist schon der Anfang der Erstarrung, die für die Erde zu wirken begann, als sie ihre feste Rinde, die geregelte Rotation und die Neigung ihrer Axe hatte; mit den Zeiten, wo der erste Mensch ward und die erste Menschheit anfing sich in ihren Nachkommen über die Erde zu breiten, hatte die unbegrenzte Zeugungskraft der Erde ihr Ziel erreicht, die Erde hatte sich ausgeboren, es blieben nur noch die Nachwehen, die selbst wieder mehr und mehr erlöschen, bis auch sie zuletzt ganz aufhören, mit der schwindenden Kraft der Erde selbst, die jetzt schon ein alternder Planet ist. Unbegrenzte Variirung annehmen hiesse behaupten, dass die Erde — nicht die Welt — ewig sei. Man erwarte also nicht mehr, heute noch einen Uebergang wie den aus einem Gliederthiere zu einem Wirbelthiere zu sehen ; je höher die Lebeform organisirt ist, desto fester ist sie und desto beharrlicher behauptet sie ihren Grundtypus, und alle die kleinen Verschiebungen in den Arten, die wir heute sehen, fallen nicht in’s Gewicht gegen die Zähigkeit, womit sich fest ’ 29 gewordene Arten gegeneinander abgrenzen, von den Gattungen und Classen nicht zu reden, die wie mit festen Mauern gegen- einander abgegrenzt sind. Die Natur selbst hat eine scharfe Grenze gesetzt: die Arten, je mehr sie individuell ausgeprägt sind und je weiter sich ihre Eigenthümlichkeiten von einander entfernen, desto weniger vermischen sie sich — so dass gerade dieser Umstand eine einigermassen genügende Handhabe für die Unterscheidung von Arten gibt. Und wo dies dennoch bei nahe verwandten Arten der Fall ist, da ist die Nachkommen- schaft unfruchtbar; so beim Pferd und Esel, welche die nütz- liche Mischart des Maulesels hervorbringen ; aber diese Zwischen- art pflanzt sich nicht fort, das Geschlecht der Maulesel würde aussterben, wenn nicht der Anfangsprocess stets erneuert würde d. h. Pferde und Esel immer wieder von neuem gepaart würden. Und so weiss der künstliche Vogelzüchter recht gut, dass die Mischarten, die er z. B. zwischen Finken und Canarienvögeln erzieht, nicht fortpflanzungsfähig sind. Diese Beschränktheit der Bastardirung ist jedenfalls wieder ein Beweis, dass es mit der unbegrenzten Variation, wie sie Darwin annehmen muss, seine guten Wege hat. Die aufsteigende Linie, die Periode der Urzeugung, wenn wir das Wort in diesem erweiterten Sinne nehmen wollen, hat mit dem Menschen ihr Ende erreicht, wir be- finden uns in der absteigenden Linie, der Periode der Fort- zeugung, die nicht aufgehört hat, die Formen in der alten Weise zu theilen und zu vervielfältigen; in der alten Weise, aber nicht mehr in der alten Kraft, der Veränderung steht das Gesetz der Beharrung entgegen, und wie jene einst in unge- “ hemmter Macht sich entfaltete, so hat diese jetzt die Oberhand gewonnen und wird es immer mehr, bis zu der Zeit, wo die vollständige Erstarrung der Formen, die dem Tode gleichkommt, eingetreten sein wird. Das wird die Zeit sein, wo der Erdball selbst, mit dessen Wohl und Wehe das Geschick seiner Be- wohner auf’s engste verknüpft ist, seinem Zerfalle entgegen- - gereift sein wird. Als die Erde aufhörte selbst zu leuchten und selbst Wärme auszustrahlen, wie es heute in unserem Planetensystem vielleicht nur noch die Sonne thut, da hörte sie auf zu gebären, und was geboren war, erhält sich nun mit fremdem Lichte und’ fremder Wärme, aber auch nur so lange, als diese fremde Wärme dauern wird. Es wird die Zeit kommen, wo die Sonne, die für uns die Quelle alles Lichts und alles 30 Lebens ist, sich ausgegeben haben wird, wo sie selbst ein erkalteter Körper sein wird mit fester Rinde, gleich unserer Erde. Die dunkeln Flecken, die auf der Sonnenscheibe sicht- bar sind, deutet man als schwimmende Inseln in dem Feuer- meere, die Anfänge zur Bildung von Festland, wie sie unsere Erde einst durchgemacht haben muss. Dann mag auf der Sonne das organische Leben erst beginnen, auf der Erde wird es schwinden, zuerst die vollkommenste Form, der Mensch, sowie er zuletzt aufgetreten war, nach ihm in derselben Folge die übrigen Organismen, bis die Erde, dem Monde gleich, jeder Atmosphäre beraubt, als todter Körper, so lange es dauern mag, seine Schwingungen fortsetzt. Hier wollen wir noch auf eine Consequenz aufmerksam machen. Sind die Himmelskörper — was an sich schon allein wahrscheinlich ist und durch die Untersuchung ihres Lichtes (die Spectralanalyse) bestätigt ist — aus demselben Stoffe wie unsere Erde gebaut, so ergibt sich daraus für alle derselbe Ent- wickelungsgang, wie wir ihn bei unserer Erde beobachten können: sie alle müssen, so wie ihre Erkaltung hinreichend fortgeschritten war, das organische Leben erzeugt haben und entwickelt haben bis zu einer Höhe, die der unserer Erde ungefähr gleichkommt, bis zu dem vernünftigen Wesen, das auf unserer Erde Mensch heisst. Unter den Millionen und aber Millionen von Himmelskörpern ist unsere Erde einer der winzigsten, abhängig von der Sonne, von der er Wärme und Leben erhält: warum soll sie allein den Vorzug haben? Denkbar ist, dass kleinere Planeten, wie etwa der Mond, in raschlebigem Entwickelungsgange zur Erstarrung gelangt sind, ehe das organische Leben zur Reife gekommen, ja ehe überhaupt organisches Leben entstanden war — wie es ja gewiss ist, dass heute der Mond keine lebenden Bewohner haben kann; aber undenkbar wäre es, dass Planeten von der- selben Grösse oder grösser wie unsere Erde, als todte Körper den Himmelsraum durchkreisen sollten. Man könnte es der Ein- bildungskraft des Menschen eher zu Gute halten, wenn man die Sonne bloss zu dem Zwecke am Himmelsgewölbe auf und nieder gehend sich dächte, um uns zu leuchten und zu wärmen; aber unverzeihlich wäre es, die Planeten, die nicht wärmen, und leuchten nur zeitweilig mit erborgtem Licht, zu demselben Zwecke ge- schaffen zu denken, Der Standpunct, der sich die Erde als den ruhenden Mittelpunct des Weltalls dachte, um derentwillen Sonne, Mond und Sterne, die einen zum Leuchten und Wärmen aus- u u et A 31 gestellt, die anderen zur Zierat an das Firmament ‚„gepappt‘ seien, ist seit Copernicus überwunden, und damit der ‚anthropo- eentrische‘‘ Standpunct einer gemüthreichen, aber erkenntnissarmen Zeit, die den Menschen dieser Erde zum Mittelpuncte all der Fürsorge machte, welche für ihn das ganze Weltall gebaut haben sollte. v1. Die fehlenden Zwischenformen. Die Sprache der geologischen Urkunden. Der Schöpfungsmittelpuncet. Zweierlei müssen wir zunächst nach der Darwin’schen Auf- fassung annehmen, einmal: da die Umbildung der Formen ganz allmählich stattfand, so müssen zahlreiche Zwischenformen gewesen sein; sodann: da die Umbildung allerwärts auf der Erde sich vollzog und vollzieht, so müssen solche Zwischen- formen allerwärts und überall da, wo die Art sich gebildet hat, vorhanden gewesen sein und noch vorhanden sein. Diese Zwischen- formen, sagt man, sind als die unvollkommenen, nicht vollständig angepassten Formen von der natürlichen Zuchtwahl zu Gunsten der angepassten Formen vertilgt. Hiergegen kann man einwenden: zunächst gibt es ja für den Darwin’schen Standpunct gar keine angepassten, sondern nur sich anpassende Formen. Es findet ein beständiges Ringen nach einem Gleichgewicht in der Natur statt, welches gleichwohl niemals vollkommen vorhanden ist; die geringste Veränderung in dem Haushalte der Natur zieht un- zählige andere nach sich, es wird nie ruhig in dieser Werkstätte, so wenig wie auf der Meeresfläche, wo stets eine Woge die andere nach .dem Strande drängt. Da nun’ eine jede Art sich fort- während tüchtig zu machen sucht zu dem Kampfe um das Dasein, d. h. da die natürliche Zuchtwahl fortwährend damit beschäftigt ist, die besser organisirte Art zu erhalten, so kann es von diesem Standpuncte aus nur sich anpassende, nicht an- gepasste Formen geben, und auch die erhaltenen Formen können nur als Uebergangsformen betrachtet werden. Sind und waren also alle Formen von jeher nur provisorische Durchgangsformen, .so muss es uns Wunder nehmen, dass wir nirgends in der 32 lebenden Natur solche Zwischenformen von Art zu Art, von Classe zu Classe sehen. Und wenn man sagt: sie sind in Masse ausgestorben, so bleibt die Frage nach den Resten offen. Und da beruft sich Darwin auf die ‚„Unvollständigkeit der geo- logischen Urkunden.“ Was sagen uns denn eigentlich die geologischen Urkunden ? Sie bestätigen, wie wir sagten, im Ganzen und Grossen die Descendenzlehre: je tiefer wir in die Schichten der Erdrinde ein- dringen, desto mehr schrumpft nicht nur die Zahl der organischen Formen zusammen, sondern es zeigt sich auch die gesetzmässige Reihenfolge, dass zuerst der Mensch, dann die Reihe der Wirbel- thiere verschwindet, und zuletzt nur die Thiere der unteren Classen bleiben. Ist somit im Allgemeinen der Entwickelungsgang der organischen Schöpfung von der niederen zur höheren Art durch die geologischen Urkunden bezeugt, so tritt die bedenkliche Wahrnehmung störend dazwischen, dass die neuen Formen .in der neuen Schicht unvermittelt über den alten liegen und nirgends die Uebergänge von Art zu Art, von Classe zu Classe erscheinen, was doch sein müsste, wenn sich die Umbildung in der Weise vollzogen hätte, wie sich die Descendenzlehre in ihrer heutigen Gestalt dieselbe denkt. Gerade das unvermittelte Hervortreten neuer Formen war wesentlich der Eckstein, an dem sich der erste Versuch einer wissenschaftlich begründeten Descendenzlehre brach: Cuvier stellte. Lamarck seine Theorie fester Typen ent- gegen, indem er das ganze Thierreich in vier Abtheilungen, Wirbelthiere, Gliederthiere, Weichthiere und Strahlthiere unter- schied, von denen jede einen eigenthümlichen, von dem der andern verschiedenen Bauplan habe. Und in der That, auch Darwin macht diese Sprache der geologischen Urkunden, das ruckweise Hervortreten der neuen Tracht viel Beschwerden. Er bemüht sich zu zeigen, dass die geologischen Ueberlieferungen unvollständig seien. „Die Erde, sagt er, ist ein ungeheures Museum, dessen naturgeschichtliche Sammlungen aber nur unvollständig und in einzelnen Zeitab- schnitten eingebracht worden sind, die unendlich weit auseinander liegen.‘‘ Damit hat es im Allgemeinen gewiss seine Richtigkeit: es sind im Ganzen nur geringe Theile der Erdoberfläche geologisch untersucht, und auch bei den untersuchten lässt es sich nicht unbedingt verneinen, dass es in späterer Zeit gelingen werde, noch manche Uebergangsformen aufzufinden, die sich bis jetzt unsern Blicken entzogen haben. Die Zwischenformen sind aus- gestorben in Masse, sagt Darwin, und ihre Reste sind uns nicht erhalten. Aber warum denn nicht? Für die Weichthiere ist dies ja vollkommen glaubhaft, wir brauchen uns nicht zu wundern, dass von diesen Urthieren einfachster Form, die so, wenig feste Bestandtheile haben, so wenig oder nichts in den geologischen Schichten erhalten ist. Aber je höher wir in der Reihe der organischen Formen aufsteigen, desto mehr muss uns das Fehlen der Mittelglieder stutzig machen, da wir es hier mit immer festeren, wohl ausgeprägten Formen zu thun haben, die sich eben so gut hätten erhalten können wie diejenigen, deren Reste wirklich erhalten sind. Warum erscheint gleich ein fertiges, vollkommen ausgebildetes Reptil statt einer Anbildung? ebenso gleich der fertige Vogel, nachdem vorher schon die Fussspuren desselben entdeckt waren? Oder, um wieder gleich an das Ende zu springen, warum erscheint gleich der fertige Mensch, während uns doch Darwin überzeugen zu können glaubt, dass sich der Mensch aus dem Affen entwickelt hat, und seiner Sache so gewiss ist, dass er uns das Bild unserer affenartigen Urerzeuger in kraftvoller Schilderung entwirft: (diese waren) „mit Haaren be- kleidet, wobei beide Geschlechter Bärte hatten, ihre Ohren waren zugespitzt und einer Bewegung fähig, und ihre Körper waren mit einem Schwanze versehen, welcher die gehörigen Muskeln besass; nach dem Zustande der grossen Zehe beim Menschen zu urtheilen war damals der Fuss ein Greiffuss, und ohne Zweifel waren unsere Urerzeuger Baumthiere, welche ein warmes, mit Wäldern bedecktes Land bewohnten; die Männchen waren mit grossen Eckzähnen versehen, welche ihnen als furchtbare Waffe dienten.‘ Warum haben uns die geologischen Urkunden nichts überliefert von diesem Wesen, das uns so deutlich vorgemalt wird? Ja freilich, es sind ferne Gegenden, in welchen sich diese Umbildung vollzogen haben soll. Nach Darwin war es „auf dem Africanischen Festlande, und zwar hier eher als irgendwo anders“ ; da lässt sich vorläufig nichts untersuchen. Aber wenn von Anderen Europa als der Erdetheil angegeben wird, wo sich die Umbildung vollzogen haben soll, so dürfte es ein Leichtes sein, hier auf diesen Urerzeuger zu fahnden, und der Erfolg dürfte nicht weniger zweifelhaft sein, wie das Graben nach den Resten Trojas oder Olympias.- Die alten Höhlenmenschen haben uns die graueste Vorzeit der Europäischen Menschheit offenbart: ihre Knochen liegen in den Höhlen, die ihnen zur Wohnung dienten, zusammen mit den Resten von Thieren, die längst aus- Kuhl, Descendenzlehre. 3 34 gestorben sind; es war eine rohe Menschenart ohne jegliche Cultur, aber es waren Menschen, und sie haben uns zu der Ueberzeugung geführt (oder sollten uns endlich dazu führen), dass alles Suchen nach der Spur von Menschen, die noch nicht vollständig Mensch, sondern halb Affe gewesen wären, vergebliche Mühe ist. Das Sicherste hat Häckel getroffen: in Südasien, in Lemuria, dem Lande der Halbaffen (Lemures), welches heute der Indische Ocean bedeckt, hat sich aus dem Affen der Mensch entwickelt. Ja, nun liegen’ die Knochen des verschollenen Affenmenschen unter dem Ocean begraben, und den wird wohl nie jemand abzuleiten unternehmen der Descendenzlehre zu Liebe. Aber hierbei hat Häckel vergessen, dass er sich in Widerspruch mit der Geologie setzt, von welcher die Descendenzlehre das Erklärungs- mittel der minimalen Veränderungen entlehnt hat: da die Geologie keine plötzliche Katastrophe zulässt, sondern nur allmähliche Veränderungen, Hebungen und Senkungen des Bodens, so brauchte kein einziger jener Affenmenschen zu ertrinken; sie hätten sich ja langsam, sowie das Wasser des Indischen Oceans vordrang, zurück- ziehen können — und die Spur des Affenmenschen wäre gerettet. Das Fehlen der Zwischenformen ist ein gewichtiger Ein- wand gegen Darwin’s Auffassung, und er bemüht sich vergebens mit Aufwendung aller möglichen Dialektik die Lücke auszu- füllen. Aber nicht gegen die Descendenzlehre über- haupt. Denn wir können auch nicht mehr auf den Stand- punct Cuvier’s zurückkehren, der sich die Sache so dachte, dass durch eine gewaltige Erdrevolution jedesmal die vorhandene Lebewelt zerstört und in den Schichten der Erdrinde begraben wurde, worauf alsdann jedesmal eine neue Schöpfung mit den neuen Arten und Classen folgte — sodass er um die Ueber- gänge vom Schleimthier zum Gliederthiere, von diesem zum Wirbelthiere, vom Affen zum Menschen nicht verlegen zu sein brauchte. Dieser Ausweg ist uns heute verschlossen. Wir greifen also zu einer anderen Anschauung, die uns die ge- nügende Erklärung jenes Widerspruches geben kann: wir müssen auf den Gedanken verzichten, dass sich die ungehemmte Um- . bildung der Organismen allerwärts auf der Erde und zu allen Zeiten vollzog und vollzieht, und setzen an die Stelle Entstehung und Umbildungan einem Centrum, dem Schöpfungsmittelpunct, zu einer Zeit, die weit hinter uns liegt. Von diesem Schöpfungsmittelpunet breiteten Hr ad Aare sich die dort entstandenen Formen oder besser Urtypen der Formen aus, um zu wandern über die Erde, dabei sich zu theilen, zu vervielfältigen, in der Anpassung an die wechseln- den Verhältnisse sich zu vervollkommnen — bis dann endlich aus diesen Urtypen an den verschiedensten Stellen der Erde die heutigen mehr oder minder festen Formen geworden waren, Die Wanderung, sowie sie — ganz in der von Darwin ge- schilderten Weise — zur Entfaltung der Arten führte, wurde zugleich das Signal zur beginnenden Erstarrung, die dem ur- sprünglich ungehemmten Vermögen der Variirung mit dem zu- nehmenden Alter der Erde immer engere Grenzen zog; die Vererbung — das ist diese Erstarrung — wurde allmählich mächtiger, als die Variirung; der einmal zu einer fernen Zeit aus dem Schöpfungsmittelpunct ausgegebene Grundtypus‘ blieb, bei aller noch möglichen Abänderung, erhalten, die neuen Formen legen sich, wie wir sagten, um das Centrum dieses Grundtypus, ohne eine gewisse Peripherie zu überschreiten, Nur so gelangen wir zu einem Ausgleich der Gegensätze, wie wir sie heute sehen: eine gewisse Constanz der Arten und daneben die Variabilität; nur so lässt es sich erklären, dass die Zwischenformen, die nur an einer Erdstelle, eben in jenem Schöpfungseentrum getroffen werden könnten, in den geologischen Urkunden fehlen, in denen jede Schicht gleich eine Anzahl neuer, eingewanderter Formen über die alten legte; nur sv auch lässt es sich erklären, warum man die Natur bei ihrer Arbeit, d. h. bei der Anbildung einer offenkundig neuen Art, eines ganz neuen Typus nirgends in flagranti ertappt. 4 VviL. Der Ursprung und die Urform des organischen Lebens. Der indifferente Stoff und die Urzeugung. Die Häckel’schen Moneren. Der Untersuchung des Wo und Wie und Wann unseres Schöpfungsmittelpunctes haben wir die Beantwortung einer all- gemeineren Frage vorauszuschicken : wir wollen versuchen, zu dem Anfangspuncte der Entwickelung vorzudringen, und fragen nach 5* 36 der ersten Form organischen Lebens. Und diese Frage erweitert sich zu der andern: Wie ist überhaupt das erste organische Leben zu Stande gekommen? Diese beiden Fragen gehören zum Wesen einer jeden Descendenzlehre: sie muss nothwendig auf eine erste Form, auf eine erste Bethätigung organischen Lebens kommen, sonst ist sie nicht mehr Descendenz- lehre; und sie muss weiterhin für die Entstehung dieser ersten Form eine natürliche Erklärung finden — oder sie geräth mit sich selbst in Widerspruch, indem sie am Anfang der Ent- wiekelung den Schöpfer mit einem wunderbaren Einzelacte be- stehen lässt, während sie im Verlauf der Entwickelung die „Schöpfungsacte‘“ beseitigt. Hierin ist nun eine arge Inconsequenz Darwin’s zu con- statiren: zu einer Urform des organischen Lebens gelangt er nicht, geschweige denn, dass er die Entstehung dieser einen Urform in Angriff genommen hätte. ‚Ich glaube, dass die Thiere von höchstens vier oder fünf, die Pflanzen von ebensovielen, oder noch weniger Stammformen herrühren,‘‘ sagt er am Schlusse seines Werkes über die Entstehung der Arten, Vier Urformen — eine solche Annahme unterschiede sich prin- eipiell in nichts von den vier Typen Cuvier’s, und nur unwesent- lich dadurch, dass Darwin diese vier Urformen an den Anfang der Entwickelung setzt, Cuvier seine vier Typen in zeitlichen Abständen auseinandersetzt. Wir bemerken freilich gleieh, um jedem Missverständniss vorzubeugen: wenn wir von Ur- oder Grundtypen des Schöpfungsmittelpunctes reden, so sind für uns diese Urtypen nicht geschaffen, unabhängig von den voran- gehenden Lebewesen, sondern entwickelt aus denselben — dadurch unterscheiden wir uns von Cuvier, darin kommen wir überein mit Darwin. Wie entwickelt, davon wird noch die Rede sein. Die Inconsequenz Darwins wurde zu rechter Zeit aufgedeckt, ohne dass es gelang sie vollkommen auszugleichen. Denn dazu wäre nichts anderes erforderlich, als dass man diese Urform aus der heutigen Welt der Organismen nachwiese. Das ist aber eine Unmöglichkeit, und wird es für immer bleiben. Je höher man aufsteigt in der Stufenfolge der Organismen, desto fester und ausgeprägter sind die Formen, desto leichter lassen sie sich gegen einander abgrenzen. Umgekehrt, je weiter man abwärts gelangt zu den einfachsten Formen, desto weniger wird nicht etwa eine Unterscheidung nach Arten, sondern überhaupt 37 eine Unterscheidung möglich, Wir kommen an die Grenze eines kaum noch erkennbaren Lebens, zu jenen einfachsten und kleinsten Gestalten thierischen Lebens, wie sie zu Millionen auf dem Grunde des Meeres, überhaupt im Wasser leben, deren einziges Leben, so viel wir es erkennen können, darin besteht, dass sie das Wasser einsaugen und wieder ausstossen, um dar- aus ihre Nahrung zu ziehen. Ja man steht in manchen Fällen vor der Frage, ob man es mit einer Pflanze oder einem "Thiere zu thun hat, und es bedarf der feinsten mikroskopischen Unter- suchung, um überhaupt Unterschiede zu erkennen. Angesichts dieser Schwierigkeiten ist auch Häckel nicht zu einer bestimmten Ansicht gelangt. Er spricht (Natürliche Schöpfungs-Geschichte) die Annahme, die bereits Darwin für möglich gehalten hatte, zweifelnd nach: ,‚‚dass auch die beiden Stammbäume des Thier- und Pflanzenreichs an ihrer tiefsten Wurzel zusammenhängen, dass auch die niedersten und ältesten Thiere und Pflanzen von einem einzigen gemeinsamen Urwesen abstammen,“ und kommt nur zu der Ueberzeugung, dass er „für das Thierreich einerseits, für das Pflanzenreich andererseits eine einstämmige oder monophyletische Descendenz‘‘ annimmt. Daneben fasst er die Urwesen, welche ‚‚weder in den Stamm- baum des Pflanzenreichs, noch in den Stammbaum des Thier- reichs ohne künstlichen Zwang eingereiht werden können,‘ unter dem Namen Protisten zusammen, deren unterste Classe die Moneren sind: Dies sind wasserbewohnende ‚Organismen, welche in der That nicht aus Organen zusammengesetzt sind, sondern ganz und gar aus einer structurlosen, einfachen, gleichartigen Materie bestehen; der ganze Körper dieser Moneren ist zeitlebens weiter nichts, als ein formloses bewegliches Schleimklümpchen, das aus einer eiweissartigen Kohlenstoffverbindung besteht.‘* Und diese Moneren lässt Häckel durch Urzeugung entstehen: „Eine sichere Entscheidung zwischen der monophyletischen und poly- phyletischen Hypothese ist bei dem gegenwärtigen unvollkom- menen Zustande unserer phylogenetischen Erkenntniss noch ganz unmöglich. Die verschiedenen Protistengruppen und die von ihnen kaum trennbaren niedersten Formen einerseits des Thier- reichs, andrerseits des Pflanzenreichs, zeigen unter einander einen so innigen Zusammenhang und eine so bunte Mischung der massgebenden Eigenthümlichkeiten, dass gegenwärtig noch jede systematische Eintheilung und Anordnung der Formen- gruppen mehr oder weniger künstlich und gezwungen erscheint. 38 Je tiefer man jedoch in die genealogischen Geheimnisse dieses dunkeln Forschungsgebietes eindringt, desto mehr Wahrschein- lichkeit gewinnt die Anschauung, dass einerseits das Pflanzen- reich, andrerseits das Thierreich einheitlichen Ursprungs ist, dass aber in der Mitte zwischen diesen beiden grossen Stamm- bäumen noch eine Anzahl von unabhängigen kleinen Organismen- gruppen durch vielfach wiederholte Urzeugungsacte entstanden ist, welche durch ihren indifferenten, neutralen Charakter und durch die Mischung von thierischen und pflanzlichen Eigen- schaften auf die Bezeichnung von selbstständigen Protisten An- spruch machen können.‘ Hier sind wir in das berühmte Kapitel von der Urzeug- ung gelangt. Wie ist das erste organische Leben zu Stande gekommen? auch diese Frage hat sich die Descendenzlehre zu stellen. Darwin war hier so freundlich den Schöpfer einzu- lassen, den er, nachdem er seine Schuldigkeit gethan hat, vor die Thüre weist. Wer die Natur als eine Einheit betrachtet, muss die Verbindung des Organischen mit dem Anorganischen suchen. Kamen die Keime des ersten Lebens aus der Atmo- sphäre, die heute noch voll ist von solchen Keimen? schlugen sie sich mit den Wasserdünsten, die einst unsere Erde um- hüllten, auf diese nieder? Wir können es nicht wissen, aber wer sich auf das heutige Verhältniss beruft, dem kann man antworten, dass ja auch diese organischen Keime durch Aus- dünstung von der Erde in die Atmosphäre gekommen sein können. Zum Stoffe gehört auch die Atmosphäre, Nebel und Regen sind gewissermassen der kosmische Stoffwechsel. Aus dem Stoffe ist das erste Lebendige hervorgegangen, als höhere Stufe der dem Stoffe innewohnenden Kraft, deren höchste die menschliche Psyche ist. Es kann nicht als etwas neues dem Stoffe von aussen zugekommen sein, denn unsere Beobachtung zeigt uns das Leben nur in engster, untrennbarer Verbindung mit dem Stoff. Aber der Stoff muss Eigenschaften gehabt haben, die er heute nicht mehr hat —- sonst wäre auch heute noch Urzeugung möglich, oder wenigstens man brauchte nicht darum zu streiten, ob sie möglich ist oder nicht: denn eben dass man soviel darum streitet, ist schon der Beweis, dass sie, wenigstens in der alten Weise, nicht möglich ist. Welcher Art diese Eigenschaften waren, wer vermag darüber mehr zu sagen, als dass er hin- weist auf die Lebensgeschichte der Organismen, wie wir sie 39 heute sehen, bei denen auf die bauende Kindheit und Knaben- zeit das stehende Mannesalter und das zerfallende Greisenalter folgt? Wenn auch die gewöhnliche Auffassung, dass der an- organische Stoff sich in einem Zustande der Leblosigkeit — Unbeseeltheit, wenn wir so wollen — befinde, nicht richtig ist, so hat er doch nicht mehr das alte Leben, was er beim An- fang der Dinge, d. h. bei der Bildung des Erdkörpers hatte, er ist erstarrt und schreitet auf dem Wege der Erstarrung immer weiter fort, bis endlich der vollständige Zerfall, der Tod eintritt. Am Anfang der Dinge aber muss der Stoff ein in- differenter gewesen sein, d. h. einen absoluten Gegensatz zwischen organischer und anorganischer Materie kann es nicht gegeben haben. Was wir organisch nennen, ist hier eine Ent- wickelungsstufe derselben Materie, die dort zur anorganischen Masse erstarrt ist. Freilich kann uns diese Erscheinungswelt den Process der Urzeugung nicht mehr offenbaren: ihn heute noch sehen wollen, hiesse die Geschichte der Schöpfung wiederholen wollen. Denn gelänge es je, die Urzeugung wieder aufzufrischen, so stände dahinter eine neue Entwickelung der organischen Welt, und wir sähen abermals in unbeschränkter Variirung aus Schleimthieren Gliederthiere, aus diesen Wirbelthiere und zuletzt den Menschen oder ein ähnlich organisirtes Geschöpf hervor- gehen — und dann wäre dem Darwinismus gehdtfen ! Aber die Urform des organischen Lebens? Es müssen wohl die Moneren sein, da sie ja den einfachsten Bau haben und als indifferente Urwesen zwischen Pflanze und Thier stehen? Dahin führt allerdings Häckels Ansicht: er lässt Moneren durch Urzeugung ‚mehrmals oder gleichzeitig an mehreren Stellen der Erde‘‘ entstanden sein. ,.Denn die wenigen einfachen Be- dingungen, durch welche ihre specifische Gestalt im Kampfe um das Dasein gebildet wurde, können sich wohl öfter im Laufe der Zeit oder unabhängig von einander an verschiedenen Stellen der Erde wiederholt haben‘. Hierin liegt ein doppelter Irr- thum. Der erste bezieht sich auf die Zeit: das „Oefter im Laufe der Zeit‘‘ muss umgesetzt werden in „Einmal beim Be- ginn des Entwickelungsprocesses‘‘., Denn sofort erhebt sich die Frage: warum entstehen denn ‘nicht heute noch Moneren? Die Möglichkeit der Theilung und Vervielfältigung ihrer Arten wird gewiss jeder gerne einräumen; aber ihre Urzeugung? Daran wird niemand glauben, bis er sie leibhaftig aus dem ‚‚Urschleime“ hervorkriechen sieht, Was aber „mehrmals“ „öfter im Laufe 40 der Zeit“ geschehen sein soll, warum kann das nicht auch heute noch geschehen? Warum sollten sich die ‚‚wenigen ein- fachen Bedingungen, durch welche ihre specifische Gestalt im Kampfe um das Dasein gebildet wurde‘, nicht auch heute noch wiederholen ? Die Bedingungen wiederholen sich, aber niemals die Urzeugung, deren Zeiten vorüber sind: wenn alle Hypothesen der Wissenschaft so festgegründet wären, wie dieser Satz, dann stäinde es gut um die Wissenschaft. Die Moneren sind an- gepasste, bis zu einem gewissen Grade fest gewordene Formen, sogut wie alle Arten, sie haben mit dem Urschleim in unseren Meeren, der ebenfalls heute nichts anderes sein kann als starr- gewordene anorganische Masse, nichts zu thun; sie entstehen nicht mehr durch Urzeugung, und sie sind auch nicht mehr die Urform, die einst durch Urzeugung entstand — so sehr diese ihr auch äusserlich ähnlich gewesen sein muss, Die Descendenz- lehre vermag ‚aus dem heutigen Bestande der Lebewesen nicht eine bestimmte Form als die Urform herauszuheben ; sie vermag überhaupt nicht, wie wir hören werden, aus dem heutigen Be- stande. einen Stammbaum aufzustellen, dessen Wurzel die ge- suchte Urform wäre. Dies kann aber nicht ein Mangel der Descendenzlehre sein, so lange sie sich bescheidet denselben sofort freimüthig zu bekennen; die Sache wird für denjenigen fatal, der die Agentien der Umbildung an den höheren Lebe- wesen gefunden haben will, und sich ausser Stande erklären muss, sie auf diese Urwesen anzuwenden; er hat das Ende der Linie gefunden, weiss aber nicht zum Anfang zu gelangen. Der zweite Irrthum des Häckel’schen Satzes bezieht sich auf den Ort: die „mehreren Stellen der Erde‘ müssen umge- setzt werden in „eine Stelle“. Denn hier entstände zunächst die Frage: warum entwickelten sich denn nicht an all den Stellen, wo man die Moneren durch Urzeugung entstehen zu lassen beliebt, die Moneren zur höheren und zur höchsten Art, dem Menschen? Es fehlt nicht an solchen, die sich die Sache so vorstellen, dass der Boden der Meere über die ganze Erde hin bedeckt gewesen sei von dem Urschleim, aus dem sich die Moneren, die heute wirklich den Boden der Meere bedecken, gebildet hätten — nun, warum trieb nicht überall die Ent- wickelung weiter? warum müssen wir, wovon sogleich die Rede sein wird, für jede festorganisirte Art einen eigenen Entstehungs- ort annehmen? warum ist die Bildung des Menschen nur an einer Erdstelle gelungen, wo doch unzählige andere Stellen 41 gewiss ebenso geeignet waren, das höchste Product der Ent- wickelung zu zeitigen? Auch die Moneren müssen an einer Erdstelle aus einer Urform sich abgezweigt haben; sowie sie, aus diesem Schöpfungsmittelpuncte entlassen, durch Wanderung über die Erde, in alle Meere gelangt waren, verfielen sie dem allgemeinen Gesetz: sie erstarrten bis zu einem gewissen Grade, d. bh. sie waren einer Weiterzeugung in die Breite wohl, in die Höhe aber nicht mehr fähig, ihre Vervollkommnung über- schritt nicht die Grenzen, in die sie gebannt war. Darum wird die oft gegen die Descendenzlehre vorgebrachte Forderung, aus einem Moner sich heute einen höheren Organismus, oder gar den höchsten, den Menschen, entwickeln zu sehen, hinfällig, und diese Unmöglichkeit kann nicht mehr als Beweis gegen das Descendenzgesetz an sich vorgebracht werden. VILL. Die Schöpfungsmittelpunete Darwin’s und unser Schöpfungsmittelpunct. Die Sprache der geologischen Urkunden hat uns offenbart, dass es einen Schöpfungsmittelpunct für die ganze organische Welt gegeben haben muss, und andere Betrachtungen hatten uns zu derselben Annahme geführt. Wir werden dieselbe durch weitere Schlüsse der Descendenzlehre bestärken und uns dann auf das Wo des Schöpfungsmittelpunctes eine Antwort zu geben suchen. Auch die Darwin’sche Auffassung der Descendenzlehre spricht zwar nicht von einem Schöpfungsmittelpunct, aber von Schöpfungs- mittelpuneten; ‚Alle Individuen einer nämlichen Art und alle Arten einer Gattung oder selbst noch einer höheren Gruppe stammen von gemeinsamen Eltern ab; weshalb sie, wenn auch jetzt in noch so weit zerstreuten und isolirten Theilen der Welt zu finden, im Laufe aufeinanderfolgender Generationen aus einer Gegend in alle anderen gewandert sein müs- sen.“ Diese „eine Gegend‘ ist der Schöpfungsmittelpunct der Art — was also nichts weiter heisst, als der Entstehungsort der Art. Häckel spricht dieselbe Ueberzeugung mit folgenden Worten aus: ‚Der wichtigste Grundsatz, von dem wir in der Chorologie ausgehen müssen, und von dessen Wahrheit uns jede tiefere Betrachtung der Selectionstheorie überzeugt, ist, dass in der Regel jede 'Thier- und Pflanzenart nur einmal im Laufe der 42 Zeit und nur an einem Orte der Erde, an ihrem sogenannten Schöpfungsmittelpuncte, durch natürliche Züchtung entstanden ist... .... Denn es ist ganz unglaublich, oder könnte doch nur durch einen höchst seltenen Zufall geschehen, dass alle die mannigfachen und verwickelten Umstände, alle die verschiedenen Bedingungen des Kampfes um das Dasein, die bei der Ent- stehung einer neuen Art durch natürliche Züchtung wirksam sind, genau in derselben Vereinigung und Verbindung mehr als einmal in der Erdgeschichte oder gleichzeitig an mehreren verschiedenen Puncten der Erdoberfläche zusammen gewirkt haben.‘‘ Sehr viele unserer Culturpflanzen, Weizen, Roggen und Gerste, ebenso unsere Hausthiere sind, wie der Mensch selbst, nahezu über die ganze Erde oder doch über den grösseren Theil der Erde verbreitet; sollten wir also annehmen können, dass sie sich an all den Stellen, wo sie getroffen werden, selbstständig zu der gleichen Form entwickelt haben? Hier ist eine Wanderung von dem Entstehungsorte, dem „Schöpfungsmittelpuncte‘“‘, die einzig ver- nünftige Annahme, und diese Wanderung, so schwierig es auch in vielen Fällen sein mag, ihre Linien zu zeichnen und ihre Art und Weise des Näheren anzugeben, ist in manchen Fällen, wie beim Menschen und den mit ihm gezogenen Culturpflanzen und Hausthieren, fast noch historisch erreichbar. Das Gesetz darf als feststehend angenommen werden: je fester eine Form organisirt ist, je eigensinniger sie ihre Bildungen selbst unter den verschiedensten klimatischen Abweichungen festhält, desto sicherer darf man auf den Ursprung an einem bestimmten Orte schliessen. Und in dieser Beziehung macht die Pflanzen- und Thiergeographie, die bis’ vor kurzem, wie die Geographie über- haupt, eine todte Aufzählung von Namen war, solche Fortschritte, dass man die Möglichkeit des Nachweises dieses Schöpfungsmittel- punctes für eine jede Art schon nicht mehr zu bezweifeln braucht. Aber was haben wir damit gewonnen, wenn wir für jede gut ausgeprägte Art einen besonderen Entstehungsort nachgewiesen haben? Haben wir damit die letzte Frage der Descendenzlehre gelöst? Sind die betreffenden Arten jede an der betreffenden Stelle aus dem durch Urzeugung entstandenen Moner entwickelt? so dass wir die merkwürdige Erscheinung hätten, dass an den verschiedensten Stellen der Erde die Entwickelung aus dem Boden aufsteigt wie eine Rakete, die hier höher, an einer anderen Stelle weniger hoch steigt, und nur an einer Stelle, nämlich wo der Mensch entstand, die volle Höhe erreicht? Das wird man nicht 43 annehmen, sondern man wird sagen: die Arten sind aus niederen Arten entstanden, die an anderen Stellen gezeitigt und in den Schöpfungsmittelpunet der neuen Art eingewandert waren. Und diese niederen Arten, sind sie dann an der Stelle, wo sie ent- standen, aus dem Moner entwickelt? dann hätten wir eine neue Reihe von Schöpfungsmittelpuncten, und wir ständen vor derselben Frage. Es ist nicht zu leugnen, dass die Sache sich so denken lässt, wie denn die Darwin’sche Auffassung sie sich wirklich so denken muss. Für diese entstehen immer noch neue Arten in unbegrenzter Variation, und somit auch, wenn Wanderung dieser neuen Arten hinzutritt, neue Schöpfungsmittelpuncte. Aber da stehen wir wieder vor der alten Schwierigkeit: warum erzeugt heute ein Moner nicht mehr die höhere Art? Und wenn darauf Häckel mit dem Satze antworten wollte, womit er die Möglichkeit der Urzeugung stützt — und dem wir für diesen Zweck voll- ständig beistimmen: ,‚,wie können wir wissen, dass in jener ältesten, unvordenklichen Urzeit nicht ganz andere Bedingungen, als gegenwärtig, existirten ?* so hiesse dies die Zeugungsfähigkeit d. h. die unbegrenzte Variirung für die heutige Zeit auf- heben — womit der Grundpfeiler des Darwinismus umgestürzt wäre. Und dazu käme die zweite Schwierigkeit: an all den vermeintlichen Schöpfungsmittelpuneten, wo sich eine Art aus einer Reihe von Vorfahren-Arten entwickelt haben sollte, müssten wir bei der allmählichen Transmutation, wie sie Darwin annimmt, die Reste der Zwischenformen in der Erde finden, wir müssten irgendwo an den geologisch, durchforschten Stellen die Ueber- gänge vom Schleimthier zum Gliederthier, von diesem zum Wirbel- thiere finden — was bekanntlich die geologischen Urkunden nicht bestätigen. So bleibt nur noch die eine Annahme: die ver- schiedenen Puncte auf der Erdoberfläche, die wir als die Ent- stehungspuncte der Arten entwickeln, müssen strahlenförmig von einem Puncte ausgehen, wo das erste Leben sich entwickelte, wir sind genöthigt einen Schöpfungs- mittelpunct an einer bestimmten Erdstelle anzunehmen. Einheit im Orte muss der annehmen, der die Einheit der Urform an- nimmt, so gewiss wie der, welcher einen Stammbaum zeichnet, auf dem Papier an einer bestimmten Stelle ansetzen muss, Wir wollen die Frage allgemeiner stellen: Ist es walır- scheinlich, dass die Erdrinde an allen Stellen zugleich und gleichmässig sich bildete, so dass überall zugleich die ersten Meere entstanden und aus dem Meere überall oder an ver- 44 schiedenen beliebigen Stellen das Land sich erhob? schlugen sich die Wasserdämpfe der Atmosphäre allerwärts gleichmässig auf den heissen Erdball nieder, so dass sich die feste Rinde allerwärts gleichmässig bildete? Wer das annimmt, hat das Recht zu vermuthen, dass sich allerwärts in den Wassern der Erde das erste organische Leben entwickelte, Aber dahinter läge eine ebenso gleichmässige Weiterbildung der geologischen und atmosphärischen Verhältnisse, und wir wären bei dem Irrthum Geoffroy’s in erweitertem Massstabe angelangt: es könnte sich dann nur ein allerwärts gleichartiges Leben gebildet und in durchaus gleichartiger Weise weitergebildet haben. Der That- bestand zeigt es anders: Differenzirung schon gleich bei den ersten und ältesten Formen, und schon dies lässt auf eine sofortige Differenzirung der geologischen und. atmosphärischen Verhältnisse schliessen. Viel wahrscheinlicher und durch die Thatsachen allein bestätigt ist die Annahme, dass irgendwo der Anfang gemacht wurde, irgendwo die Erdrinde zuerst erkaltete, irgendwo den Bewohnern anderer Himmelskörper der erste Flecken auf der Erdscheibe, wie uns die Flecken der Sonne, erschien, d. h. irgendwo die erste Insel, das erste Festland sich bildete. Und irgendwo müssen auch zuerst die atmosphärischen Nieder- schläge zu festem Bestande gekommen sein, zum ersten Meere sich gesammelt haben, das fähig war die ersten Organismen zu erzeugen und auf das erste Land hinüberzupflanzen, Es entspricht ganz der jugendlichen Zeugungskraft, wie wir sie für jene Periode annehmen müssen, dass die ersten orga- nischen Formen so zahlreich und bei aller Einfachheit der Ge- stalt doch so vielartig ausfielen. Das Wasser, das, wie uns die Geologie versichert, in der Primordialzeit fast allerwärts die Erde bedeckte, trug diese Anfänge des organischen Lebens nach allen Seiten; und in derselben Weise breiteten sich die Orga- nismen. auf dem Lande, wo es sich erhoben hatte, aus. Und sowie sie sich gebreitet hatten, verfielen sie der Macht der Verhältnisse, sie bildeten sich um, theilten sich in mehrere, in viele Formen, und die von Darwin vortrefflich gezeichneten Factoren begannen zu wirken: der Kampf um das Dasein unter den Mitbewerbern um Raum und Nahrung, die Anpassung an die umgebenden Verhältnisse und die Auslese der besser an- gepassten Formen — ohne dass jedoch die mitgebrachte Grund- lage verläugnet wurde, die nur in dem einen Schöpfungsmittel- puncte in ungehemmten Aufwärtsstreben überschritten wurde, BR Aber wo war der Ort, wo die Erdrinde zuerst abgekühlt war, das erste Land sich aus dem ersten Meere erhob? Wir stellen die Frage zunächst der Geologie; wir stellen sie und erwarten die Antwort, und halten es nicht für unmöglich, dass die Wissenschaft dereinst eine bestimmte Antwort darauf zu geben vermag. War es, wie man meint, an den Polen, wo die Neigung der Erdaxe zuerst zur Erkaltung führte und von wo bei der zunehmenden Erstarrung der Rinde und abnehmenden eigenen Wärme der Erde und Sonnenwärme allmählich das Eis vor- dringen wird nach dem Aequator hin, um dereinst das letzte Leben, das sich dorthin geflüchtet, zu tödten? Oder war es am Aequator, zu einer späteren Zeit, wo die mächtige Sonnenwärme die bereits ersterbende eigene Wärme der Erde zu unterstützen oder zu ersetzen begann? so dass von dort die Organismen sich nach den Polen hin breiteten, um dort bei der zunehmen- den Erkaltung mit Ausnahme der wenigen, die jene Gegenden bevölkern, erstickt zu werden? War es an den Polen, so hat das erste Land noch keine Organismen gehabt: denn sonst sähe man nicht ein, warum sich dort nicht von vornherein eine den wärmeren Zonen an Reichthum und Zahl der Formen gleich kommende Flora und Fauna entwickelt hätte, die auf die Kälte angepasst war und sich bis heute erhalten hätte, und warum nicht am Ende auch der Mensch auf Spitzbergen oder Grönland hätte entstehen sollen. In der That aber erweist sich die dürftige Flora und Fauna jener trostlosen Länder, eben wie der Eskimo selbst, als eingewandert, als Anpassungen und Umbildungen von Formen, die in den wärmeren Zonen besser und reichlicher vertreten sind. Das mächtige Farrnkraut in den Kohlenflötzen Spitzbergens, der Riesenelephant in den Eisfeldern Sibiriens beweisen deutlich genug, dass sie nicht eine Zeugung der trostlosen Stellen, wo ihre Reste getroffen werden, sondern ein missglückter Versuch sind, aus dem wärmeren Lande, wo ihre Heimat ist, in die nordische Nacht vorzudringen, wo sie der sich mehrenden Kälte endlich erliegen mussten. Wir werden. also unseren Schöpfungsmittelpunet in die wärmeren Zonen verlegen müssen. Aber wohin? In welchen Erdetheil? und in welchen Theil dieses Erdetheiles? Um dieser Frage näher zu kommen, müssen wir von hinten, von dem bekannteren Ende anfangen, um an den unbekannten Anfang zu kommen. IX. Die Urheimat des Menschen (am Hindu - Kusch) ist zugleich der Ursprungsort der gesammten organischen Welt, also der Schöpfungsmittelpunct. Den Menschen, den Schlussstein der Entwickelung, wollen wir befragen. Er allein ‘hat vermöge seiner Sprache, der die Schrift sich als äusseres Medium zugesellte, die Fähigkeit seine Erlebnisse fortzupflanzen, mit einem Wort eine Geschichte. Reichen nun auch seine schriftlich oder mündlich fortgepflanzten Tra- ditionen nicht gerade mit unzweifelhafter Sicherheit bis zu den Anfängen seines Geschlechts zurück, so leiten uns doch in Ver- bindung mit diesen Traditionen die historischen Spuren — wir haben dieselben in den „‚Anfängen des Menschengeschlechts‘“ untersucht — mit einer an Gewissheit streifenden Wahrschein- lichkeit auf die Gegenden des Hindu-Kusch, des gewaltigen Knotengebirges, welches sich an das Westende des Himalaya anschliesst, zurück, wo die erste Menschheit ins Leben trat, von wo sie sich in ihren Nachkommen über die Erde gebreitet hat — in Wanderungen, deren Linien noch fast allenthalben mit ziemlicher Gewissheit verfolgt werden können. Auf anderem Wege hat sich die Naturwissenschaft in ihrer neuesten Phase dieser längst geahnten „Wiege des Menschen- geschlechtes‘‘ genähert: Ausgehend von der Ueberzeugung, dass der Mensch da entstanden ist, wo wir die höchst entwickelten, schwanzlosen Affen treffen, hat Darwin Africa, die Heimat des Gorilla und Schimpanse, vorgeschlagen (oben 8. 33). Häckel zieht Südasien, wo heute noch der Orang-Utang wohnt, vor, „auf welche Gegend so zahlreiche Anzeichen als auf die gemein- same Urheimat der verschiedenen Menschenarten hinweisen,‘‘ und entscheidet sich speciell für das untergegangene Continent Lemuria, die Heimat des Halbaffen, an deren Stamm der Mensch angeknüpft wird. Wir haben nichts gegen jenes angebliche Halbaffenland Lemuria einzuwenden, wünschten nur, dass die „vielen Thatsachen der Thier- und Pflanzengeographie,‘“ welche die „Existenz eines solchen südindischen Continents sehr wahr- scheinlich“ machen sollen, statt dieser beständigen Wiederholung genauer untersucht und dargelegt werden möchten, dass nament- lich der Beweis geführt werde, dass zu der Zeit, wo die erste 47 Menschheit entstand, jenes Lemuria überhaupt noch existirte, Wir könnten sogar in der allerwärts auf der Erde in frappanter Uebereinstimmung auftretenden Tradition von der grossen Fluth, welche die Anfänge der Menschheit vertilgt haben soll, die Spur dieser durch ein plötzliches Vordringen des Meeres von Siiden her veranlassten Ueberschwemmung wieder erkennen —- plötzlich müsste dieses Eindringen ja, wie wir gesagt haben (S. 34), gewesen sein, also eine Katastrophe, aber eine locale, wogegen die Geologie nichts einwenden kann, da der Durchbruch etwa des Canals oder der Strasse von Gibraltar ja auch nicht anders zu denken ist. Aber gleichwohl müssten wir in der Hauptsache bei unserem Ergebniss, das wir wohlbegründet zu haben glauben, stehen bleiben: dass die Anfänge des Menschen- geschlechtes weiter nördlich, in den Gegenden des Hindu-Kusch zu suchen sind, dass jedenfalls dort die Wanderungen, die den Menschen über die ganze Erde führen sollten, ihren Ausgangs- punct haben. Wieder auf anderem Wege ist man in eben jene Gegend Südasiens, an den Himalaya gelangt: Ausgehend von dem un- anfechtbaren Vordersatz, dass der Mensch nur da ins Leben getreten sei, wo die physischen Bedingungen für diese folge- reichste Weiterbildung am förderlichsten ‘waren, wo die Natur geeignet war, das werdende Leben des harmlosen Urmenschen zu erhalten und die Menschheit in ihrer Kindheit zu nähren und grosszuziehen, gelangt Gerland (Anthropologische Bei- träge) an den „Südwestrand des Himalaya‘ — was mit unserem Ergebniss ja ziemlich genau übereinstimmt. Dort ist noch heute eine herrliche Natur, die dem Menschen freiwillig gibt, was er zum Leben bedarf; dort wächst Obst und Wein ungepflegt, dorthin leiten namentlich die Gräser, die Halm- früchte zurück, die allein geeignet waren das Leben des Ur- menschen zu fördern, die erste Cultur zu entwickeln, indem sie den ersten Ackerbau hervorlockten ; dort ist unzweifelhaft auch die Urheimat der wichtigsten Hausthiere, die der Mensch zu seiner Ernährung und zur Stütze bei seiner Arbeit braucht. In dem Räderwerk der grossen Weltmaschine setzt Eines das Andere voraus, das Folgende in der Entwickelung das Vorher- gehende; ‘die Pflanze setzt voraus die Atmosphäre und den Boden, woraus sie ihre Nahrung saugt; die Thiere eben dieses und die Pflanze, oder eine niedere Art von ihresgleichen, die sie verzehren, der Mensch die gesammte Natur. Mit ihm erreicht 48 die Urzeugung ihren Schluss; er konnte also erst entstehen, als die Natur fertig, und nur da entstehen, wo sie zuerst fertig war. Was liegt näher als der Schluss, dass sie auch dort zuerst angefangen ? Der Mensch ist gewandert in alle Länder der Erde, durch alle Zonen, und die Linien dieser Wanderungen glauben wir (Anfänge des Menschengeschlechts II S. 295 ff.) mit annähern- der Sicherheit angegeben zu haben — auch ohne dass wir die oft gebrauchte oder vielmehr missbrauchte Hypothese von ehe- maligen, jetzt durch den Ocean zerrissenen continentalen Ver- bindungen zwischen den einzelnen Festlanden zu Hilfe zu nehmen genöthigt waren. Nun, was steht der Annahme entgegen, dass vor ihm auf denselben Linien die anderen Organismen, oder besser ihre Urformen gewandert sind? Die Culturpflanzen und Hausthiere hat er mitgenommen, soweit er es vermochte und soweit sie es vermochten mitzugehen, und hierin behauptet der Hund die erste Stelle, der überall auf der Erde in der Begleitung des Menschen erscheint — was er freilich dem Umstande zu verdanken hat, dass dieser ihn mitgenommen. Das Streben zu wandern, seinen Verbreitungsbezirk auszudehnen, muss man bei jedem Organismus voraussetzen, dies lehrt die Erfahrung. Heute sind freilich die Arten auf bestimmte Verhältnisse angepasst ; dies zieht ihrer Verbreitungsmöglichkeit Grenzen, die hier enger, dort weiter sind; aber dies kann nicht immer so gewesen sein: für die Anfänge der Entwickelung darf man einen unbegrenzten Trieb und eine unbegrenzte Fähigkeit zu wandern, und was dasselbe bedeutet, eine unbegrenzte Anpassungsfähigkeit, annehmen, Die Urformen breiteten sich von dem Schöpfungsmittelpunct strahlenförmig nach allen Seiten aus, ihre Descendenz spaltete sich vielfach; aber nicht jedem Ur- und Ururenkel gelang es die entgegengesetzten Enden der Erde zu erreichen; der eine Spross entwickelte sich hier, der andere dort, der eine nach langem, der andere nach kurzem Laufe zur festen, local gestalteten Art. Die Puncte, wo dies geschah, sind die Schöpfungsmittel- puncte der Arten, von denen Darwin und Häckel sprechen — und nun war es mit der unbegrenzten Wanderungsfähigkeit vorbei. Die Mittel der Wanderung werden im Allgemeinen um so einfacher, die Wanderungen um so leichter, je tiefer ein Organis- mus steht. Die Pflanze hat in dieser Beziehung den Vorzug vor den Thieren, sie wandert rascher und hat einfachere Communi- eationsmittel: der Wind und das Wasser tragen den Samen oder 49 auch die ganze Pflanze in entfernte Länder, ja über den Ocean in ein anderes Continent. Von den Thieren sind selbstverständ- lich die bevorzugtesten die fliegenden Thiere, Vögel und Insecten, denen in der That die Welt offen steht; damit steht, wie Häckel sehr richtig hervorhebt, die „ungemeine innere Einförmigkeit, welche diese beiden grossen Thierclassen vor allen anderen aus- zeichnet‘, in engster Verbindung: sie sind zu früh Kosmopoliten geworden, die Unterschiede, die nur ein fester Wohnplatz zu erzeugen vermag, konnten sich bei ihnen nicht in dem Grade entwickeln, wie bei den langsamen Säugethieren. Diesen stehen die mannigfachen Hindernisse des Terrains, hohe Berge, breite Flüsse, Meere etc. entgegen, und damit hängt der Umstand zu- sammen, dass sie in Folge längerer Anpassung fester organisirt und zum Wandern weniger brauchbar geworden sind. Gleichwohl ergeben sich auch bei dieser Thierclasse That- sachen, die unzweideutig auf den gemeinsamen Schöpfungsherd in Südasien hinweisen, Das Geschlecht der Affen ist über drei Erdetheile gebreitet, Asien, Africa (in früheren Perioden auch Europa) und America. Aber die Affen der neuen Welt unter- scheiden sich durch wesentliche Merkmale, besonders durch die seitlich, nicht abwärts gestellten Nasenlöcher, von den Affen der alten Welt. Will man nun annehmen, dass der Affe in drei oder vier Continenten unabhängig von einander aus niederer Form sich entwickelt habe? Freilichwohl entwickelt zu den besonderen Formen, in denen er getroffen wird; aber aus einer äffischen Urform, die eingewandert ist aus einem Continente in die beiden anderen. Und aus welchem in welches? doch offen- bar aus einem der beiden Continente, wo die höher entwickelten, schwanzlosen Affen auftreten; denn das darf man annehmen, dass die Urform je näher dem Entstehungspunet, desto leichter varirt, zu desto höherer Art sich entwickelt. Damit wäre America ausgeschieden, und es bliebe Asien und Afriea. Aber wo kommen Orang-Utang und Gorilla zusammen? Man sieht, die Frage ist im engeren Raume ganz dieselbe, als die nach der Urheimat des Menschengeschlechtes, Darwin hat für den Menschen Africa angenommen ; wir werden für den Uraffen dasselbe zu Recht bestehen lassen müssen, wie für den Ur- menschen — also Südasien annehmen. Der Löwe, der Tiger, das Krokodil der alten Welt haben in America ihre schwächeren und unansehnlicheren Vertreter oder Gegenbilder in dem Puma, dem Jaguar und dem Alligator. Kuhl, Descendenzlehre, 4 50 ° Was hindert uns anzunehmen, dass aus einer Urform sich hier der Löwe, dort der Puma differenzirt hat? Aber der Löwe als die höher entwickelte Art steht dem Schöpfungsmittelpuncte näher, Will man für den Elephanten, der heute in Indien und in Africa lebt, dessen vorweltliche Spuren aber so weit nach Norden, bis in die Sibirischen Eisfelder und das polare America verbreitet sind, drei oder noch mehr Ursprungsorte annehmen? etwa weil das Sibirische Mammut sich durch die behaarte Haut, die grösseren, geschweiften Stosszähne und andere, geringfügigere Besonderheiten vön dem glatthäutigen Indischen Elephanten unterscheidet? Eine Urform muss angenommen werden, die von einem Puncte gewandert ist — wie unmöglich auch gewiss in manchen Fällen der Nachweis dieser Wanderung ist und bleiben wird, wie schwierig namentlich der Nachweis, warum der Zu- sammenhang unterbrochen ist auf so weite Strecken. Aber ge- rade der Sibirische Elephant kann uns auch hier einen Finger- zeig geben: zu einer Zeit, als das Klima es gestattete, war der Urelephant gewandert nach Norden, wo er in Folge der Anpassung die behaarte Haut annahm, aber gleichwohl bei der überhandnehmenden Kälte (in der Eiszeit, wie man annimmt) aussterben musste. Gäbe es nun in America eine lebende Elephantenart, so würde uns der fossile Elephant in Sibirien und Nordamerica ja vortrefllich den Weg zeigen aus Asien, dem Stammlande, nach America. Nur die Menschheit ist durch- ° gedrungen nach allen Seiten, ohne irgendwo den Zusammenhang zu verlieren oder von der gleichartigen Menschennatur einen wesentlichen Theil einzubüssen ; aber zu dieser Leistung konnten den Menschen nur seine geistigen Anlagen, die ihm über die Schwierigkeiten forthalfen, befähigen. Wichtig für unsere Frage ist der Umstand, dass die neue Welt nicht nur ärmer ist an Säugethierarten — die grossen Thiergestalten, Elephant, Giraffe, Kamel fehlen gänzlich — sondern dass die den entsprechenden Formen der alten Welt gegenübergestellten Formen durchgehends, wie bereits bemerkt, schwächer und unansehnlicher sind. Sie zeigen die geringere Entwickelung, eine alte Tracht, die, wie man bemerkt hat, den fossilen Trachten einer früheren geologischen Periode näher steht als unsere altweltlichen Formen. „Die Geologie lehrt uns, sagt Peschel (Völkerkunde), dass die Stockwerke der Erdrinde in chronologischer Reihenfolge geschichtet liegen, und zwar da, wo nicht absonderliche Störungen eintraten, das jüngste zu 51 oberst, das älteste zu unterst. Wenn wir nun vom obersten Stockwerk abwärts steigen, ändern sich die Trachten der Schöpfung, sie werden in unmerklichen Uebergängen den jetzigen fremder und fremder. Das Moderne finden wir oben, das Alter- thümliche unten, denn die Geschichte der Schöpfungen gleicht der Geschichte der Moden. Aber die zoologischen Moden haben sich nicht überall mit gleicher Geschwindigkeit geändert. Sie haben sich am hastigsten in der alten Welt umgestaltet, minder rasch in Nordamerica, sie sind ziemlich weit . zurückgeblieben in Südamerica, am alterthümlichsten in Australien. Je kleiner und je abgesonderter ein Erdraum lag, desto langsamer legte er seine Trachten ab oder behielt sie wohl gänzlich bei.‘ In Australien fehlen alle Affen, alle Raubthiere und alle Hufthiere; das Beutelthier ist dort im Flor, das bei uns nur noch in Ver- steinerungen angetroffen wird. Der (verwilderte) Hund ist die einzige höher entwickelte Art, und diesen hat ohne Zweifel der Mensch mitgebracht. In America fehlten sogar unsere Cultur- pflanzen (wofür dort Mais und Kartoffel hinzukommen) und unsere Hausthiere; und Südamerica, obwohl klimatisch so be- günstigt, wie kaum ein anderer Theil der bewohnten Erde, steht hinter Nordamerica bedeutend zurück. Was entnehmen wir aus diesen merkwürdigen Thatsachen ? doch offenbar, dass der eigentliche Schöpfungsherd , unser Schöpfungsmittelpunet, in der alten, nicht in der neuen Welt zu suchen ist, und dass von dort aus die Urformen nach der neuen Welt sich ausgebreitet haben. Je weiter ent- legen, je schwieriger die Communication, desto mehr ‘schwindet die Zahl der Formen zusammen, welche die äusserste Grenze erreichen, desto weniger aber auch ist ihre Descendenz nach der weiten Wanderung und der Fixirung der Form noch fähig, sich in die Höhe zu entwickeln. So lässt sich einzig das Zurück- bleiben in Bezug auf die Zahl und in Bezug auf die Höhe der Entwickelung erklären, und damit ist denn auch der geheimniss- volle Factor, den Peschel einführt, die „hastige‘“ oder minder hastige Umgestaltung der „zoologischen Moden‘, auf natürliche Weise erklärt. Die Thierwelt ist, wie die Menschheit, in der neuen Welt jünger, d. h. sie ist später dort angelangt und darum zurückgeblieben gegen die alte Welt, und in America wiederholt sich dasselbe Verhältniss zwischen der südlichen und der nördlichen Hälfte, die durch eine schmale Landenge mehr getrennt sind als zusammenhängen. Klima und Bodenverhält- 4* 52 nisse konnten es nicht thun, die sind in Südamerica, wie ge- sagt, so günstig als irgendwo auf der Erde — dies zeigt die reiche Entwickelung der Pflanzenwelt in dem tropischen Süd- america, die in dieser Beziehung einen merkwürdigen Contrast zu der Thierwelt bildet: unter dem Brasilianischen Urwald denken wir uns das Grossartigste, was die Pflanzenwelt hervor- gebracht. Die Pflanzen wandern, wie wir sagten, leichter und rascher; sie sind zudem der Variirung fähiger, als die festere Organisation der Thierwelt, sie mussten sich also in den herrlichen Gegenden zu einer wahrhaft paradiesischen Pracht und Fülle entwickeln. So viel ist also gewiss: läge Südamerica unserem Schöpfungsmittelpuncte dicht zur Seite, oder wäre es gar selbst dieser Schöpfungsmittelpunct, so träfen wir dort die mächtigen Thiere, auch die anthropoiden Affen — und auch den Urmenschen! Die Americaner wären die weissen Cultur- menschen, wir die zurückgebliebenen Farbigen, den alten Höhlen- bewohnern gleich; und Columbus wäre nicht aus Spanien ge- kommen nach America, sondern ein Americanischer Columbus nach Europa. Aus doppeltem Grunde trägt also die alte Welt diesen ihren Namen: sie ist dem Menschen zuerst bekannt gewesen, und — was damit zusammenhängt — sie ist zuerst entwickelt gewesen, von ihr ging der Ursprung alles Lebens auf die neue Welt über. Und in der alten Welt ziehen sich die Linien immer fester um Asien zusammen, immer mehr erscheint Asien als der gebende Erdetheil, der die andern mit dem Besten, was sie haben, versorgt hat. Europa erscheint nur als eine Dependenz von Asien, so wie es ja auch im Grunde genommen nichts weiter ist, als eine Halbinsel von Asien. Und Aehnliches wird man von Africa behaupten dürfen, zu welchem am Rothen Meere eine Landstrasse, die von Suez, und eine Wasserstrasse, die von Bab-el-Mandeb, von Asien hinüberführt und seit unvor- denklicher Zeit hinübergeführt hat — wie denn auch ohne Zweifel die Behringsstrasse und die natürliche Inselbrücke der Kurilen und Alöuten in unvordenklicher Zeit den Weg aus Nordasien nach America gezeigt haben. Von Asien aber sondern wir sofort den nördlichen Theil, das trostlose Sibirische Tief- land aus. Zittel (Aus der Urzeit), der es für die südliche Hemisphäre unbestimmt lässt, ob die dort auftretenden scharf abgegrenzten Verbreitungsbezirke Südamerica, Australien und Neuseeland ‚in früherer Zeit miteinander in Verbindung standen, 93 und ob die ganze antipodale Schöpfung von einem einzigen Centrum ausgegangen‘ sei, spricht dagegen die auf ‚‚wohlbe- gründete Thatsachen‘‘ gebaute Vermuthung aus, dass bei unseren altweltlichen Säugethieren ‚die Aussaat für die ganze nördliche Hemisphäre von einem gemeinsamen Mittelpunet erfolgt ist.“ Seine Vermuthung wird ergänzt durch einen Ausspruch Rüti- meyer’s, den er anführt: ‚Man kann sich dem Eindruck nicht verschliessen,, dass die Thiergesellschaft des Südabhanges von Asien in ihrer Gesammtheit ein Gepräge älteren Datums an sich trägt, als diejenige von Sibirien.‘ Ebenso werden wir das westliche Asien, Vorderasien, aus- sondern müssen, wo alle Spuren auf das Hinterland am Hindu- Kusch zurückweisen. Wie unsere Culturpflanzen und Hausthiere mit der fortschreitenden Cultur aus. Asien sich verbreitet haben über unseren Erdetheil, darüber lese man das inhaltreiche Buch von Hehn (Culturpflanzen und Hausthiere in ihrem Uebergang aus Asien nach Griechenland und Italien), Wir vermögen nach- zuweisen, wie die wichtigsten unserer Feld- und Baumfrüchte und unserer Hausthiere aus Vorderasien (der Wein, der Feigen- und Oelbaum aus dem Semitischen Vorderasien, ebenso der Esel, der Hahn aus Persien, ebendaher die ‚‚Persische‘‘ Frucht (Pfirsich), die Kirsche aus Cerasus am Pontus, der.Fasan vom Flusse Phasis in Kaukasien &e.) zu uns gekommen sind: sind sie also dort entstanden? Insofern freilich, als dort die veredelten, von den Menschen in Cultur genommenen Arten enstanden sein mögen aus wildwachsenden Stammarten. Aber diese Stammarten, sind sie dort entstanden? Hier bricht uns freilich der Faden ab; aber sollen wir darum den Gedanken nicht ausdenken? Auch die Verbreitung der Getreidearten kann uns einen Fingerzeig geben. Es kommen hierbei ausser unseren Halm- früchten (Weizen, Roggen, Gerste &c.) hauptsächlich in Betracht die Mohrenhirse (Negerkorn, Arabisch Durra), die über Africa und Vorderasien verbreitet ist, der Reis, der sich von Indien aus über Tschina verbreitet hat, und der Mais, der haupt- sächlich in America, aber auch in Süd- und Ostasien und im südlichen Europa gebaut wird. Dass unsere Halmfrüchte aus Asien stammen, wird nicht mehr bezweifelt, mögen sie nun über Vorderasien oder über die Steppenländer Nordasiens oder auf beiden Wegen zugleich nach Europa gekommen sein. Ebenso wird für die Mohrenhirse allgemein die Asiatische Herkunft angenommen; der Reis aber (in der alten Indischen Sprache 54 vrihi, Persisch brizi, daraus Griechisch und Lateinisch oryza, woher unser Reis — s. Hehn) ist von jeher in Indien ein- heimisch. Die Verbreitungsgebiete dieser drei Gruppen stossen zusammen „in der Gegend etwa von Kaschmir‘ (so Gerland nach Grisebach, Vegetation der Erde), womit wir wiederum ziemlich genau zu dem von uns angenommenen Hindu - Kusch gelangen — eben wie dort drei Rassen, die weisse in Vorder- asien, die gelbe in Nord- und Ostasien, und eine dunkle, die Dravida in Vorderindien, zusammenstossen. Was ist also wahr- scheinlicher, als dass hier die Urformen erwuchsen, aus denen sich die besonderen Formen nach der Wanderung in dem neuen Standort gebildet haben? Heute wird niemand mehr annehmen wollen, dass jene drei Menschenrassen unabhängig von einander, im Mittelpuncte oder an irgend einem anderen Puncte ihres Gebietes entstanden, d. h. aus drei Sorten von Urmenschen ab- gestammt seien. Wollen wir aber einen gemeinsamen Ausgangs- punct, wo die Urform gestanden, suchen, so werden wir den am natürlichsten in der Mitte suchen, da, wo die Verbreitungs- gebiete aneinanderstossen, d. i. am Hindu-Kusch. Dem Mais, der noch übrig ist, wird — wenn auch nicht ohne Widerspruch — Americanischer Ursprung zugeschrieben. Wir können dem beistimmen [in „Anfänge des Menschenge- schlechts II S. 320 war freilich das Gegentheil angenommen ; der dort angeführte, in dem Namen „Türkischer Weizen‘‘ ent- haltene Fingerzeig für den Asiatischen Ursprung ist allerdings hinfällig, da man auf denselben Grund hin für die Kartoffel, deren Namen tartufola wir aus Italien haben, Africanischen Ursprung annehmen könnte]; aber stört denn der Americanische Ursprung unsere Rechnung? Mais, Weizen und Reis sind als Getreidearten gewiss nicht verschiedener als unter den Hunden der Affenpinscher, die Dogge und der Neufundländer ; wer also die Hunderassen aus einer Hunde-Urform hervorgehen lässt, darf auch zugeben, dass diese verschiedenen Getreidearten aus einer an einem Ursprungsorte gestandenen Urform der Halm- früchte entwickelt sind. Die Species Mais mag America ange- hören, wie die rothe Menschenrasse — und es stimmt ganz zu der herrlichen Natur Südamericas (oben 8. 52), dass sie sich dort zu der unsere Halmfrüchte überragenden Fülle der Frucht entwickelt hat; aber den Zusammenhang mit Vor- fahren-Arten, die nicht in America standen, können wir so wenig in Abrede stellen, wie wir behaupten können, 95 dass der rothe Mensch sich in America aus dem Moner ent- wickelt habe. Um nun auch der geschichtlichen Spuren in Kurzem zu gedenken, so führen uns gerade diese (wie wir in den „Anfängen des Menschengeschlechts‘“ ausführlich nachzuweisen versucht haben) auf die Gegend am Hindu-Kusch zurück. Freilich zeigt uns die Geschichte Aegypten als den ältesten Staat, die Denk- mäler des Nilthals führen uns in das höchste Alterthum hinauf, Aber dieser Anspruch erlischt, wenn wir bedenken, dass es in Aegypten der ältesten Bevölkerung Kuschitischer Art vergönnt war ungehindert ihre Existenz über das vordringende Aramäer- (Semiten-) und Arier-(IJndogermanen)thum zu fristen, während in Asien die älteste (Kuschitische) Cultur- und Staatenbildung eben diesem Aramäer- und Arierthum erlag: so am Euphrat, wo der alte Babylonische Staat nicht den Anfang, sondern die zweite Periode der Cultur, oder den Arfang einer neuen Cultur bezeichnet (Anf. des M. II S. 303), und in Indien, wo die verkümmerten Reste der älteren Bewohnerschaft sich in den Bergen bis heute erhalten haben. Und jenseits des Hindu- Kusch ist erst vor verhältnissmässig kurzer Zeit Tschina, der unzweifelhaft älteste Staat der Erde, aus Jahrtausende langer Vergessenheit aufgetaucht. Die Puncte, an welchen sich das älteste Leben der Menschheit entwickelte, Hoangho, Euphrat, Ganges, gruppiren sich um den Hindu-Kusch als natürlichen Mittelpunet, wie dort die drei Rässengebiete und die drei Vegetationszonen sich berühren (oben $. 54), und wir haben wieder denselben Schluss, den wir bereits gezogen: dass die erste Menschheit von diesem gemeinsamen Mittelpunct ausge- gangen und ihre Descendenz sodann an jeder der genannten Stellen eine eigenartige Entwickelung durchgemacht hat. Ein Ausgehen von einem der drei Puncte zu den beiden übrigen würde nicht genügend erklären, warum die Eigenart der an diesem einen Puncte entwickelten Menschheit nicht auf die beiden anderen übertragen ist, warum also, wenn man den Hoangho nähme, das Indische und Babylonische Wesen so grundverschieden ist von dem Tschinesischen. Die entwickelte Menschheit zeigt überall nur soviel oder sowenig gegenseitige Anknüpfungspuncte, als von dem gemeinsamen Urstamme in der neutralen Mitte, am Hindu- Kusch, bei der Wanderung mitgenommen wurden in die Ferne. Freilich bleibt in diesen Fragen noch vieles dunkel, und es ist fraglich, ob die Wissenschaft es je zu einem exacten Nach- 56 weis bringen wird; aber gleichwohl reichen die feststehenden Resultate der Einzelforschung, worauf wir uns bezogen haben, aus, um uns einen ziemlich sicheren Schluss auf das zu ermög- lichen, was unserer direeten Beobachtung entzogen ist. Diese feststehenden Resultate sind die ersten Stationen auf dem Wege, den wir durchmachen müssen bis zu seinem Ziele, der Ueber- zeugung von dem einheitlichen Ursprung der gesammten orga- nischen Welt, welche Ueberzeugung uns dann selbstverständlich zu der Forschung nach dem gemeinsamen Ursprungsorte leiten wird, dem wir uns hier vorwiegend nur mit sozusagen abstracten Beweismitteln nähern konnten. Dort also, wo der Hindu-Kusch ragt, das Knotengebirge, welches das Vorderasiatische Hochland mit Hinterasien zu- sammenscHingt , der natürliche Schwerpunct in dem Rumpfe des festen Landes, von dem aus sich die Linien ungezwungen herstellen lassen, welche nach den beiden Flügeln Europa und Africa einerseits, America andererseits führen, dort wo das mächtigste Gebirge der Erde, der Himalaya sich erhebt, der unsere Alpen um das Doppelte übersteigt, wo sich südlich daran noch heute der fruchtbarste und glücklichste Erdstrich anschliesst, so dass eine dunkle Ahnung längst auf Kaschmir als die Stätte des Paradieses leiten musste — dort, und nur dort kann der von uns gesuchte Schöpfungsherd gewesen sein. So erweitert sich die vielumstrittene Frage nach dem einheitlichen Ursprung des Menschengeschlechtes in der That zu der Frage nach dem einheitlichen Ursprung der gesammten organischen Welt, und die- jenigen, die nach der Urheimat des Menschengeschlechtes forschen, suchen zugleich den Schöpfungsmittelpunet der gesammten Lebe- welt. Wo der Baum bis zur Krone ausgewachsen ist, da steht auch seine Wurzel — das ist die unumstössliche Consequenz der Descendenzlehre. Jene Erdstelle aber, welche das organische Leben gezeugt und bis zu seinem Höhepuncte, dem Menschen, emporgetrieben hatte, wurde danach allen andern gleich, wie sie es heute ist — bevorzugt freilich auch heute noch in Bezug auf Reichthum und Schönheit der Producte, aber des einzigen Vorzugs beraubt weiter zu zeugen in ungehemmter Variation über die überlieferten Formen und den erreichten Höhepunct hinaus, Das Wasser, welches dem Lebensbrunnen entströmt war, hatte sich weiter und weiter ergossen und die Enden der Erde erreicht; nun ver- 57 siechte die Quelle, neues Leben sprosste nicht mehr aus dem Boden; das Geschaffene zu theilen und dadurch zu mehren war nun allerwärts die Aufgabe der bis zum Ende der Dinge un- ausgesetzt fortarbeitenden Natur. Nur diese Annahme gibt uns eine befriedigende Lösung des Problems der geologischen Ur- kunden: die geologischen Urkunden könnten nur an jener einen Erdstelle vollständig sein, wo sich der Process der Urzeugung in ununterbrochener Folge bis zum Werden des Menschen ab- gespielt hat; dass sie nicht an jeder beliebigen Erdstelle voll- ständig sind, ist kein Beweis gegen die Descendenzlehre. Wer die Uebergangsformen zu sehen wünscht, verlangt die Erde auf’s neue entstehen zu sehen; ist es uns genug, dass wir dies er- kennen, dann sind wir in dieser Beziehung mit der Descendenz- lehre ausgesöhnt. X. Wie vollzog sich die Entwicklung? Die heterogene Zeugung. Auf die Untersuchung des Wo folgt die des Wie: wie hat sich die Umbildung vollzogen an jenem Schöpfungsmittel- punct und zu jenen Zeiten? Auch bei der Beantwortung dieser Frage müssen wir durchaus auf natürlichem Boden stehen bleiben: keine Schöpfung der fertigen Form, sondern Entwickel- ung. Und diese Entwickelung verlief gesetzmässig wie heute; wir können auch zugeben nach denselben Gesetzen wie heute, nur dass diese Gesetze mit anderer Kraft wirkten wie heute, Die Umbildung der Arten ist nach Darwin’s Auffassung in allmählicher Transmutation durch Summirung minimaler Varür- ungen erfolgt. Allmählich war die Umbildung, die in unge- hemmter Folge bis hinauf zum Menschen leitete, dies beweisen uns die geologischen Urkunden, wenn wir ihre Sprache recht verstehen wollen: wir sind genöthigt, gerade so viel Zwischenzeit zwischen der Bildung einer neuen Classe von Geschöpfen anzu- nehmen, als die Geologie Zeit verlangt für die Bildung der neuen Schicht, in welcher die neue Form erscheint — die gleiche Zeit für die Wanderungen der alten, wie der neuen Form vor- ausgesetzt. Vom Gliederthier zum Wirbelthier, d. h. von der 58 Anbildung der ersten Wirbelthierform aus der Gliederthierform und eben so vom Fisch zum Reptil, von diesem zum Vogel, vom Vogel zum Säugethiere und zuletzt von diesem zum Menschen muss so viel Zeit verstrichen sein, bis die jüngere Schicht, welche die versteinerten Reste der neuen Classe enthält, sich über der älteren abgelagert hatte. Ja wer nun gleich sagen könnte, wie viel Zeit das war! Eine lange Zeit war es gewiss, wenn man auch — es soll gleich davon die Rede sein — die grossen Rechnungen, welche uns die Geologen vorlegen, mit Vorsicht aufnehmen muss, Durch Summirung minimaler Variirungen — ja, so ist es heute, so kommt heute die neue Art zu Stande. Die Beharrungs- tendenz überwiegt heute die Variirungstendenz; wir drehen das Verhältniss für die Urzeit nur um und haben sofort die Er- klärung für unsere Streitfrage. Veränderlichkeit und Vererbung laufen, die eine in absteigender, die andere in aufsteigender Linie seit Anbeginn nebeneinander her. Durch’ seine „Sum- mirung minimaler Variirungen“ gibt Darwin dem Vorgang den Anstrich einer gewissen Stetigkeit und Gesetzmässigkeit; wider- spricht unsere Anschauung einer solchen Gesetzmässigkeit ? Gleich- wohl schliesst jede Variirung, so unbedeutend sie auch sein mag, einen Sprung in sich und ein Neues, vorher nicht Da- gewesenes tritt mehr oder minder plötzlich hervor. Diese Sprünge sind im Verlaufe der Zeit kleiner geworden; es sind, wie man sagt, heute unwesentliche Aenderungen, die das Wesen der Organismen nicht berühren; aber einst waren es wesent- liche, die den ganzen Organismus auf die höhere Stufe der Entwickelung zu heben vermochten. Wir wollen hierbei ausser Acht lassen, dass die Begriffe wesentlich und unwesent- lich schon in sich den Keim ‘des Widerspruchs tragen, da die Grenzlinie zwischen diesen Attributen niemals objectiv, d. h. durch Thatsachen, sondern nur subjectiv, durch das Dafürhalten des beobachtenden Naturforschers gezogen werden kann: aber gegenüber der festen Organisation, welche bei aller Veränder- lichkeit die Arten heute zeigen, hat man ein Recht zu sagen, dass sich die der Beobachtung unterliegenden Variirungen nur auf unwesentliche Theile erstrecken. Und dann hat man ferner ein Recht, die Möglichkeit in Abrede zu stellen, dass auf diese Art der heute beobachteten Variation die unbeschränkte Ent- wickelung von Art zu Art, von Classe zu Classe habe zu Stande kommen können. Was wir jetzt sehen von Umwandlungen, 59 daraus wäre nie eine Schöpfung entstanden — sowenig wie aus den geringen Veränderungen, die heute an der Erdober- fläche sichtbar sind, sich jemals die Erde hätte aufbauen können. Die Geologie muss, wie die Descendenzlehre, die hierin ihre Nachbeterin geworden ist, von dieser Meinung abgehen: es gab in der Urzeit zwar nicht andere Gesetze, andere Kräfte, aber die Kräfte wirkten mächtiger. Es ist auch nicht ein anderer Stoff gewesen, aber der Stoff hat sich differenzirt, er ist hier erstarrt, dort zum Leben und Bewusstsein entwickelt, Wie beim Kinde der Pulsschlag rascher, der Stoffwechsel lebhafter ist, da ausser dem Ersatz für den eingebüssten Stoff auch neuer Stoffzusatz behufs des Wachsthums zu beschaffen ist, so muss in der Jugend unseres Planeten die Entwickelung rascher und kräftiger gewesen sein. Und wenn man in der Zeugung des Individuums eine beständige Einzelwiederholung der Urzeugung erblicken mag, so ist der ganze Lebensgang des Individuums ein Abbild, eine Abbreviatur der grossen Entwickelung, die aus dem Nebelball die Erde und auf dieser das Leben hervor- brachte und emportrieb; Jugendzeit, Mannesalter, Greisenalter, Marasmus und Tod, das ist das Gesetz des ganzen Kosmos so gut wie des Individuums. Müssen doch selbst solche, die den Wahlspruch der Geologie: was wir brauchen, ist Zeit, Zeit und wieder Zeit, sich zu eigen gemacht haben, von anderen Bedingungen der Urzeit reden — wenn sie die Zeit, und wäre es auch eine noch so lange, nicht weiter zu bringen vermag: 'so Häckel, wo er die Ueberzeugung postulirt (oben S. 43). Und darum werden auch die Jahrmillionen, hinter die sich Darwin versteckt, wenn er nicht gefunden sein will, hinfällig: die heutige Transmutation ist nicht die der Urzeit. Variirung ist Leben und Fortschritt; Vererbung ist Erstarrung, Verlangsamung der Be- wegung, ihr Ende der Tod, das Aufhören der Bewegung. „Kleinste Schritte und grösste Zeiträume, sagt der‘ Verfasser des „alten und neuen Glaubens‘, sind die beiden Zauberformeln, mittelst deren die jetzige Naturwissenschaft die Räthsel des Universums löst, die beiden Dietriche, durch welche sie die Pforten, die früher nur dem Wunder sich aufzuthun im Rufe standen, auf ganz natürlichem Wege öffnet.“ Diese Dietriche öffnen uns die Pforten nicht, wir stehen mit ihnen nach wie vor draussen. Jede Variirung, sagten wir, sei sie bedeutend oder un- bedeutend, schliesst einen Sprung in sich; ein Uebergang 60 wie der von irgend einer Fischform zum ersten Reptil, ist ein Sprung, der heute nicht mehr gemacht wird, und auch nie in der Weise der Darwin’schen Transmutation gemacht worden ist. Hier kommt uns eine Auffassung entgegen, die schon vor Darwin ausgesprochen ist, der sogenannte Generations- wechsel: die Keime oder Eier niederer Organismen sollen unter günstigen Umständen eine Metamorphose erleiden, woraus bei der Zeugung der höhere Organismus hervorgeht. Diese Theorie ist neuerdings aufgegriffen und unter dem Namen heterogene Zeugung %ur Ergänzung der Darwin’schen Trans- mutation verwerthet worden. Wir eignen uns diese heterogene Zeugung gerne an, vermeiden aber die Schwäche der für die- selbe vorgebrachten Beweisführung, indem wir darauf verzichten, die Beweise in den heute sichtbaren Vorgängen zu suchen. Das Capitel von der Zeugung wird stets eben so dunkel bleiben, wie das Capitel von der Urzeugung. Gleichwohl dürfen wir kühn annehmen, dass die wesentlichen Verschiedenheiten der Organismen im Ei schon vorgezeichnet sind; es ist zu viel be- hauptet, wenn Darwin sagt: ‚‚der Mensch entwickelt sich aus einem kleinen Ei von ungefähr „—t; Zoll Durchmesser, welches in keiner Hinsicht von den Eiern anderer Thiere abweicht‘ im Wesen wohl, wenn auch in der Form und äusseren Er- scheinung nicht. Heute wird aus einem Hunde-Ei und einem Hunde-Embryo, ob er auch dem menschlichen Embryo zum Verwechseln ähnlich sieht, nur ein Hund ; das muss einst anders gewesen sein; wir dürfen annehmen, dass in dem Ei der Eltern- form schon die Metamorphose eintrat, welche dem Sprössling die Richtung in die neue Form anwies.. Wenn die Embryologie uns, wie wir sagten (S. 8), gleichsam summarisch den Ent- wickelungsprocess der Art wiederholt, so gibt sie uns damit einen Fingerzeig, der über die natürliche Zuchtwahl hinaus- deutet; für diese, die natürliche Zuchtwahl, ist ja eine solche Recapitulation, die uns für die gemeinsame Abstammung der Lebewesen ein erwünschter Beweis ist, vollkommen überflüssig und war es von Anfang an, da ja im Mutterleib vom Kampf um das Dasein, natürlicher oder geschlechtlicher Zuchtwahl u. s. w. nicht die Rede sein kann — es müsste ein Hexen- meister sein, der sie auch dorthin verpflanzen wollte. Aber für unsere Auffassung ist die Embryologie auch insofern wichtig, als sie den Vorgang, wie er einst war, heute nicht mehr ist, deutlich zeigt: bei aller Gleichheit in der Form trat die Ver- 61 schiedenheit des Wesens, die zur Erzeugung der höheren Form führte, schon im Ei hinzu, Das ist die ungehemmte Variation, die wir heute nicht mehr sehen; heute ist zu der Gleichheit der Form auch die Gleichheit des Wesens getreten, insofern als die Nachkommen nicht aus der Art der Eltern schlagen; aus dem Hunde-Embryo entwickelt sich nichts besseres, als der Hund. Das ist die Vererbung, die Befestigung der Formen, die mit dem beendigten Werdeprocesse eintrat. Der Satz, zu welchem die Darwin’sche Auffassung gelangt: der erste Mensch war gezeugt von Eltern, von denen er nicht mehr verschieden war, als heute die Kinder von ihren Eltern, bricht also zusammen; auf diese Weise gab es entweder immer Menschen, oder es hätte nie Menschen gegeben. Es war ein Sprung, der von der thierischen Form zum ersten Menschen führte. Fassen wir die Sache so, so konnte von einem Wesen, welches dem heutigen Affen ähnlicher sah als einem Menschen, der erste Mensch geboren werden, und man wird zwar nicht von einer Affenabstammung des Menschen, -aber von einer gemein- samen Abstammung des Menschen und des Affen von einer Urform reden können. Nur dürfen wir nicht vergessen, dass so wie der Mensch ward, ein neues Wesen wurde, welches sofort über die Thierwelt erhoben war. Und ebenfalls dürfen wir nicht ver- gessen, dass dieser Sprung der letzte, von solcher Tragweite war, und dass solche Sprünge, gegen welche die heute beobachteten winzigen Verschiebungen kaum in’s Gewicht fallen, nur in der fernen Zeit und an dem einen Orte möglich waren, wo die Gewinnung des Menschen den Process der. ungehemmten Ent- wiekelung abschloss. Die unbeschränkt gebärende Urzeugung hatte dort mit der Gewinnung des Menschen ihr. Ende erreicht, es folgte die Fortzeugung allerwärts, aber in beschränkten Grenzen. "Wir haben (8. 19) auf die Wichtigkeit der Wanderung ° für die Weiterbildung der Organismen hingewiesen. Indem sie den Organismus zur Anpassung an die neuen Existenzbeding- ungen, also zur partiellen oder totalen Abänderung zwingt, thut sie das wichtigste in dem Umwandlungsprocess ; sie ebnet, wie wir sagten, der natürlichen Zuchtwahl den Boden, auf welchem diese ihre Thätigkeit entfalten kann. Aber sie thut nicht alles, wie man gemeint hat. Sie hat nur um gebildet, nicht ge- bildet, sie hilft die Veränderlichkeit der Art beweisen, erklärt aber nicht, warum diese Veränderlichkeit und somit auch die Wanderungsfähigkeit überall ihre bestimmten Grenzen hat, Sie erklärt namentlich nicht, warum auch ohne Wanderung, d. h. also bei gleichbleibenden äusseren Verhältnissen doch Variirungen hervorspringen — wie ja gerade am Entstehungsorte der Arten die Variirung am lebhaftesten ist. Und wiederum beweist die letztere Thatsache „ganz streng, dass die Entstehung der Arten keineswegs bloss auf jenen Agentien beruht, auf welche sie von Darwin, Häckel und anderen beschränkt wird, dass sie keineswegs bloss auf Anpassung, Vererbung und Kampf um das Dasein beruht“. (Gerland, Anthropologische Beiträge.) Nein, die Variirung kommt von innen heraus, sie springt frei hervor, sie wird weder hervorgelockt noch zurückgehalten von äusseren Verhältnissen. Ihre Beschränkung hat sie heute einzig in der Vererbung, d. h. der zunehmenden Erstarrung; einst wirkte sie unbeschränkt und dies war in dem Entstehungsorte aller Ent- stehungsorte, im Schöpfungsmittelpunete aller Arten oder ihrer Urformen. Was wir also heute sehen, sind nur die Nachwirkungen jener Kraft, die am Anfang der Dinge die neuen Formen in immer vollkommnerer Gestalt bis zur vollkommensten, dem Menschen , erzeugte. Aber diese Nachwirkungen sind noch immer lebendig genug, um uns einen Begriff zu geben, wie sich in jener fernen Zeit die Schöpfung vollzogen haben muss. Und diese Nachwirkungen mit der objeetiven Ruhe und Sicher- heit einer empirischen Wissenschaft gezeichnet zu haben, bleibt das unvergängliche Verdienst Darwin’s; sie müssen uns zur Er- kenntniss dessen führen, was unseren Blicken verschlossen ist. Dazu hat Darwin angeregt, das ist sein Verdienst. Er ist zu weit gegangen, indem er diesen Nachwirkungen zu viel zuge- schrieben und ihnen zugemuthet hat, was sie nicht leisten können ; er ist nicht weit genug gegangen, indem er nicht bis zum An- fang alles organischen Lebens vordrang, was ihn zu der Er- kenntniss hätte führen müssen, dass es eine Grenze gibt, wo seine Mittel machtlos werden. XI. Der Stammbaum. Die Menschwerdung. Der Mensch ‚stammt nicht vom Affen ab. Die Darwin’sche Auffassung von der Entstehung der Arten durch allmähliche Transmutation führt aber noch zu einer andern Consequenz, die für die ganze. Theorie verhängnissvoll wird: sie muss die heutigen Lebeformen zu einer aufsteigenden Reihe, zu einem Staumbaum zusammensetzen, und die höhere Art nach und aus der nächstniedern, sowie sie heute erscheinen, sich entwickeln lassen; sie muss also — wir wollen gleich das ent- scheidende Beispiel wählen — den Menschen sich aus der Affen- art entwickeln lassen, da der Affe, und zwar die anthropoiden Affen, in Bezug auf die allgemeine Höhe der Organisation offen- bar am nächsten hinter dem Menschen rangiren. Aber gerade hier geräth die Darwin’sche Auffassung in unsägliche Schwierig- keiten. Abgesehen von dem in den Verhältnissen liegenden Mangel, dass der aufgestellte Stammbaum nicht bis zur Wurzel, d. h. der einen Urform gelangt — auch der consequentere Häckel hat diesen Mangel nicht überwinden können: er nimmt für seine Protisten (oben S. 37) polyphyletischen, d. h. mehr- stämmigen Ursprung an — abgesehen also von diesem Mangel stellt sich sofort die Unmöglichkeit ein, einen lückenlosen Stamm- baum zu construiren, es müssen Uebergangsformen willkürlich eingeschoben werden, und die angenommene Art der Umbildung ist beständigen, nicht unberechtigten Anfechtungen blossgestellt. „In dem trüben Dunkel der Vergangenheit, sagt Darwin (Abstammung des Menschen), können wir sehen, dass der frühere Urerzeuger aller Wirbelthiere ein Wasserthier gewesen sein muss, welches mit Kiemen versehen war, dessen beide Ge- schlechter in einem Individuum vereinigt waren und dessen wichtigste körperliche Organe (so wie das Herz und das Ge- hirn) unvollständig entwickelt waren. Dieses Thier scheint den Larven unserer jetzt existirenden Ascidien ähnlicher gewesen zu sein, als irgend einer andern bekannten Form.‘ Diese Ascidien oder Seescheiden gehören zu den (im Meere lebenden) Mantel- thieren, bei denen „der ungegliederte Körper die Gestalt eines einfachen, tonnenförmigen Sackes hat, welcher von einem dicken, oft knorpelähnlichen Mantel umschlossen ist‘‘ (Häckel). Diese 64 Seescheiden besitzen „in ihren Jugendzuständen die Anlage des Rückenmarkes und des darunter gelegenen Axenstabes (Chorda dorsalis) und zeigen demnach die nächste Blutsverwandtschaft mit den Wirbelthieren.‘ Als erstes Wirbelthier erscheint sodann das fischähnliche Lanzetthierchen: Kopf und Gehirn sind noch nicht vorhanden, aber Axenstab und Rückenmark. So kommen wir zu den Fischen, von diesen zu den Amphibien, welche aus den Ur- fischen ‚durch Anpassung an das Landleban und Umbildung der Schwimmblase zu einer luftathmenden Lunge“ entstanden, Aber wie kommen wir von den Amphibien zu den höheren Classen? Hier wird die Sache bedenklich, und Darwin ist wie immer offenherzig genug, die Schwierigkeit einzugestehen. „Wir haben gesehen, dass Vögel und Reptilien einst innig mitein- ander verbunden waren, und die Monotremen [Schnabelthiere] bringen jetzt in einem unbedeutenden Grade die Säugethiere mit den Reptilien in Verbindung. Für jetzt kann aber nie- mand sagen, durch welche Descendenzreihe die drei höheren und verwandten Classen, nämlich Säugethiere, Vögel und Reptilien, von einer der beiden niederen Wirbelthierelassen, nämlich Am- phibien und Fischen, abzuleiten sind.“ Sind wir bei den Säugethieren angelangt, so sind die „einzelnen Schritte nicht schwer zu verfolgen, welche von den alten Monotremen zu den alten Marsupialien [Beutelthieren] führen, und von diesen zu den frühen Urerzeugern der placentalen [mit Mutterkuchen ver- sehenen] Säugethiere. Wir können auf diese Weise bis zu den Lemuriden [Halbaffen] aufsteigen, und der Zwischenraum zwischen diesen und den Simiaden [echte Affen] ist nicht gross. Die Simiaden zweigten sich dann in zwei grosse Stämme ab, die neuweltlichen und die altweltlichen Affen, und aus den letzteren ging in einer frühen Zeit der Mensch, das Wunder und der Ruhm des Weltalls, hervor.“ Also der Mensch hat sich aus der Affenart entwickelt, und wenn auch Darwin vor der Annahme warnt, dass „der frühe Urerzeuger des ganzen Stammes der Simiaden, mit Einschluss des Menschen, mit irgend einem jetzt existirenden Affen identisch oder ihm auch nur sehr ähnlich gewesen sei,‘ so sind doch eben diese Simiaden und also auch ihr Urerzeuger echte Affen, und Darwin weiss sogar unter den beiden Gruppen, in welche die Simiaden zerfallen: die Katarhinen oder schmalnasigen Affen der alten Welt und die Platyrhinen oder breitnasigen Affen der 65 neuen Welt, die ersteren als diejenigen anzugeben, von welchen „der Mensch ein Zweig‘ sein soll; ja er muss 'noch weiter gehen und aus dem Affen der alten Welt die ‚anthropomorphe Untergruppe‘ auslesen, wovon „irgend ein altes Glied dem Menschen die Entstehung gegeben‘ habe: wie denn auch gerade dies ihn dazu geführt hat, Africa, wo die beiden Anthropoiden Gorilla und Schimpanse noch jetzt leben, ‚‚da diese beiden Species jetzt die nächsten Verwandten des Menschen sind,‘ als den „Geburtsort‘‘“ des Menschen anzunehmen. Der Begründer des „neuen Glaubens‘ spricht ihm andächtig nach: ‚Die menschen- ähnlichen Affen, der Gorilla, Schimpanse, Orang und Hylobates, werden von den meisten Zoologen als eine besondere Untergruppe von den übrigen Affen der alten Welt getrennt. Wird dies zu- gegeben, so kann man auch schliessen [welcher Schluss!], dass irgend ein altes Glied dieser anthropomorphen Untergruppe dem Menschen die Entstehung gegeben habe.‘ Häckel stimmt Darwin insofern bei, als er die Vorfahren des Menschen zwar nicht unter den heutigen Anthropoiden, wohl aber unter den un- bekannten ausgestorbenen Menschenaffen einer früheren Periode sucht; aber für den Geburtsort des Menschen hält er, wie oben (S. 34) gesagt, Lemurien ; dort sollen sich also aus einer aus- gestorbenen Menschenaffen-Art die Affenmenschen, die „sprach- losen Urmenschen‘ entwickelt haben, aus denen alsdann weiter die „echten Menschen‘ (homines) hervorgingen, bei denen sich „‚die thierische Lautsprache allmählich zur ge- gliederten oder articulirten Wortsprache‘‘ ausbildete. Hier erhebt sich sofort der Widerspruch. Der Mensch ist nicht eine Weiterbildung der Affenart, auch nicht einer längst ausgestorbenen Urform, sagen selbst solche, die sich offen zur Abstammungslehre bekennen (Vgl. Gerland, Anthropo- logische Beiträge). Denn einmal sind die Affen durchaus feste organische Gebilde und müssen dies schon gewesen sein, als ihr „Urerzeuger‘‘ aus der Urheimath des Affengeschlechtes, die keine andere gewesen kann, als die des Menschengeschlechtes, wanderte ; sie waren schon damals einer Umbildung nicht mehr fähig. Denn obwohl sie ihr Haarkleid behalten, der Mensch das seine ver- loren hat, so hat ihre Verbreitungsgrenze niemals die Ausdehnung wie die des Menschen erreicht, und sie haben selbst die einst gewonnenen Grenzen nicht behaupten können: in Griechenland und der Schweiz, wo sie früher waren, sind sie ausgestorben, offenbar als die Temperatur sank, und haben sich nach wärmeren Kuhl, Descendenzlehre, 5 66 Ländern zurückgezogen; war also damals nicht bereits der Mensch aus der Affenart geworden, so konnte er es nicht mehr werden. Sodann sind die anatomischen Verschiedenheiten zwischen Mensch und Affen, trotz aller Aehnlichkeit, so gross und so besonderer Art, dass die Entwickelung des menschlichen Wesens aus dem Affen vermittelst der natürlichen Zuchtwahl, und wenn man sie auf die Folter spannen wollte, nicht mehr erreichbar ist. Am meisten Schwierigkeiten macht hierbei der aufrechte Gang und die „endlosen Veränderungen im Baue‘‘, die derselbe zur Folge hatte: ‚das Becken muss breiter, das Rückgrat eigen- thümlich gebogen und der Kopf in einer veränderten Stellung befestigt worden sein‘; vor allem aber der scharf markirte Unterschied zwischen Hand und Fuss. Der Affe figurirt in dem zoologischen Systeme als Vierhänder, der Mensch als Zweihänder; in der That aber ist die Hand des Affen, wie man mit Recht bemerkt hat, eben sowohl Fuss, als sein Fuss Hand ist. ‚Sobald irgend ein frühes Glied in der grossen Reihe der Primaten [also unser Urerzeuger] dazu gelangte etwas weniger auf den Bäumen und etwas mehr auf dem Boden zu leben‘, musste „seine Art sich fortzubewegen modifieirt werden‘, sagt Darwin. Aber hier wendet man sofort ein: war unser Urerzeuger ein Baumbewohner, was zog ihn von den Bäumen herab auf den Boden? Baumfrüchte waren die erste Nahrung des Menschen, darauf weisen alle Spuren, und darum wohl erscheint der Baum in so enger Verbindung mit den Paradiesessagen (Anfänge des Menschengeschlechtes I. 8. 139). Noch heute leben am Hindu- Kusch die Siaposh von Baumfrüchten. Warum also blieb der Mensch nicht auf den Bäumen, warum erstarrte er nicht‘ in dieser Baumthierform, wie so manche andere Thiere, die sich von Baumfrüchten nähren? Viel wahrscheinlicher ist also der Satz, den Gerland dem Darwin’schen Satze gegenüber gestellt hat: „Die Affen entwickelten sich aus einer früheren, den festen Boden bewohnenden Thierform zu Baumthieren‘ und man darf daher in der Hand und dem Fuss des Affen eher einen zu den Diensten einer Hand entwickelten ursprünglichen Fuss erkennen. Hätte der Mensch denselben Entwicklungsgang durchgemacht, so wäre sein Fuss ebenso gut Hand und seine Hand eben so gut Fuss, wie beim Affen. Er blieb auf dem Boden — warum? und wie kam er nun zu dem aufrechten Gange? ‚Nur der Mensch, sagt Darwin, ist ein Zweifüsser geworden; und wir können, wie ich glaube, zum Theil sehen, wie er dazu gekommen ist, die 67 aufrechte Stellung zu erhalten, welche eine der auffallendsten Differenzen zwischen ihm und seinen nächsten Verwandten bildet. Der Mensch hätte seine jetzige herrschende Stellung in der Welt nicht ohne den Gebrauch seiner Hände erreichen können, welche _ so wunderbar geeignet sind, seinem Willen folgend zu wirken. Die Hände und Arme hätten aber kaum hinreichend vollkommen werden können, Waffen zu fabriciren oder Steine und Speere nach einem bestimmten Ziele zu werfen, so lange sie gewohnheitsge- mäss zur Locomotion benutzt worden wären, wobei sie das ganze Gewicht des Körpers zu tragen hatten, oder solange sie speciell, wie vorher schon bemerkt wurde, zum Erklettern von Bäumen angepasst gewesen wären“ — also damit Hände und Arme frei wurden für ihre wichtigen Dienstleistungnn, musste der aufrechte Gang zu Wege kommen. Aber warum mussten denn Hände und Arme frei werden und ihre wichtigen Dienstleistungen über- nehmen? damit der Mensch werde, das ist unsere einzige Ant- wort, und damit sind wir an der Grenze unseres Witzes angelangt. „Es war gewiss keine Kleinigkeit, sagt der Verfasser des „alten und neuen Glaubens‘, bis in jener affenartigen Horde, die wir als die Wiege des Menschengeschlechtes anzusehen haben, erst nur der wirklich und beharrlich aufrechte Gang statt des watschelnden oder halb vierfüssigen der höhern Affen Mode wurde; aber es ging damit Schrittehen vor Schrittchen, und es fehlte dazu im mindesten nicht an Zeit. Und ebenso wenig an Motiven, sich an die neue Stellung zu gewöhnen, die die Hände frei machte erst zur Führung von Steinen und Keulen, und dann zur Verfertigung und Handhabung künstlicher Geräthe, mithin im Kampfe um das Dasein förderlich war“. — Zeigt uns doch heute nur eines jener „Schrittchen“, und wir wollen euch glauben. Und ist es nicht merkwürdig, dass heute kein Thier von einem : solchen „Motiv“, sich an eine „neue Stellung‘ zu gewöhnen, berührt wird? — ‚Noch gewaltiger erscheint der Fortschritt von dem wilden Schrei des Affen zu der articulirten menschlichen Sprache. Indess eine Art von Sprache, wie die meisten höheren Thiere, haben auch die Affen: sie stossen War- nungsrufe aus, wenn sie die Annäherung einer Gefahr bemerken ; sie geben in verschiedenen Affecten verschiedene Laute von sich, die von ihres gleichen verstanden werden“. — Aber warum sprechen sie denn nicht? Es folgt der Grund: ‚Allerdings sehen wir bei keiner der jetzigen Affenarten dieses Vermögen sich ‘“ weiter entwickeln; was er auch sonst lernen mag, sprechen lernt 5* 68 der Affe auch in der Umgebung des Menschen nicht. Aber die Stimmorgane, die bei seinen Vettern sich bis zur Sprache ent- wickelt haben, fehlen ihm keineswegs“, — um so merkwürdiger, dass sie es nicht lernen! — ,‚‚und überdiess ist ja hier nicht von dem jetzigen Affen die Rede, sondern von einem vorwelt- lichen Urstamme, der unter seinen Zweigen auch einen zählte, dessen höhere Entwicklungsfähigkeit ihn mit der Zeit zur Mensch- lichkeit aufwärts führte, während die übrigen Zweige in die zum Theil noch jetzt bestehenden Affenarten auseinander gingen‘. — Ja warum war denn gerade der eine Zweig so bevorzugt? — „Bis jener vormenschliche Zweig sich nach und nach etwas wie Sprache angebildet hatte, mögen unermessliche Zeiten vergangen sein; aber als er sie einmal, wie unvollkommen auch, gefunden hatte, ging es gegen früher mit beschleunigter Geschwindigkeit weiter‘. — Ja gewiss, sobald so „etwas wie Sprache“ da war, — da war sie da! Aber wie kam sie?. — „Die Fähigkeit zu denken, die im vollen Sinne erst mit der Wortbildung eintritt, muss auf das Gehirn gewirkt, es erweitert und ausgearbeitet, und hinwiederum diese Ausbildung des Gehirns auf die ganze Thätig- keit des seltsamen Mittelgeschöpfes zurückgewirkt, seine Ueber- legenheit über die Stammverwandten entschieden, seine Mensch- werdung vollendet haben“. Wie schön hört sich das alles an! Sollte man nicht sagen, Strauss wäre dabei gewesen? Nein, so „vollendet sich‘‘ die ‚„‚Menschwerdung“ niemals, mit so leicht- fertigen Sprüngen kommen wir nicht weiter. Da stehen wir also vor der Frage, die Darwin vergeblich zu lösen versucht hat. Die Art, wie er den Vorgang der Mensch- werdung beschreibt, wäre uns sehr plausibel, wenn wir, wir wollen nieht sagen, den ganzen Vorgang oder einen Vorgang von ähnlicher Tragweite, sondern nur einen Ansatz dazu, d,. h. eine jener minimalen Veränderungen, aus denen sich der ganze Process complieirt, heute in der Natur zu erkennen vermöchten. „Dass der Mensch“, sagten wir an einer andern Stelle (Darwin und die Sprachwissenschaft), „aus der niedern thierischen Form entwickelt ist, davon legt jeder Knochen seines Skeletts, jeder Muskel und das Blut, das in seinen Adern rinnt, Zeugniss ab; aber wie er Mensch wurde, darüber geben uns die heute in der Natur sichtbaren Vorgänge keinen Aufschluss: dies einzugestehen ist gerathener, als den Beweis, wie aus dem Affen der Mensch wurde, erzwingen zu wollen und damit die Descendenzlehre in Misscredit zu bringen‘. Ueber die Menschwerdung, über Wesen 69 und Gestalt des Urmenschen vermag uns die Beobachtung nichts zu sagen; es bleibt uns nur der Schluss, wie wir ihn bereits gezogen: Der erste Mensch ist aus einer thierischen Form, die einem Affen ähnlich gesehen haben mag, gezeugt, aber nicht von einem Affen. Eine naturgemässe Entwicklung müssen wir annehmen, aber die ‚Schrittehen‘‘ und die „lange Zeit‘ thun es nicht allein: es war ein Ruck in der Entwicklung, der das neue Wesen, so unvollkommen es auch anfangs gewesen sein mas, brachte — und so wird es bei all den folgenschweren Uebergängen gewesen sein, die man sich umsenst bemüht an heutige Vorgänge anzuknüpfen. Wir müssen vor allem von dem Irrthum zurückkommen, ein anthropoider Affe, sei es in noch so ferner Zeit, sei der Vater des ersten Menschen gewesen — eine Behauptung, die ganz ebenso irrig wäre, wie die, dass aus dem höchstentwickelten Gliederthier das erste Wirbelthier geworden sei. Eitel Dunst, wie die von Darwin vorgebrachten Vehikel, die den Affen zum Menschen gemacht haben sollen, sind die Aus- einandersetzungen, die sich hier und da“ daran geklittert haben: Die Noth der hereinbrechenden Eiszeit soll den Affen erfinderisch semacht haben — warum macht denn die Noth nicht unsere Affen erfinderisch, da sie ja noch den Vortheil haben, dass sie bloss nachzumachen, nicht zu erfinden brauchen, was der Mensch schon hat? Die ältesten Steinwaffen sollen von Affen verfertigt worden sein —- dies ist der Gipfelpunct des Aberwitzes, der dem verdienten Hohn nicht entgehen wird, wenn man einst zu nüchternen Anschauungen gelangt ist. Fechten kann nur der Mensch, und nur er Waffen bereiten. Einen Stein aufheben zum Schleudern und einen Stein brechen zum Schneiden, welch ein Sprung! Wir werden uns sogleich über die Grenzen der thierischen und menschlichen Fähigkeiten auseinanderzusetzen haben, und wollen hier nur noch auf einen Punct hindeuten, den wir bereits (oben $. 33) berührt haben: das Zwischenwesen, das nicht mehr Affe und noch nicht Mensch sein soll, hat sich weder in den versteinerten Resten der Vorzeit, wo man darauf fahndet, gefunden, noch unter den jetzt lebenden Gliedern der Mensch- heit, die sämmtlich, bis auf die wildesten Stämme herab, voll-- ständige Menschen sind. Der Humbug, den man mit dem Neanderthaler Schädel getrieben hat, sollte endlich aufhören, und ebenso der verwandte Humbug, der die niedrigsten Menschen- stämme, Hottentotten, Papuanen und Australier, auf die Linie der Affen zu drängen sucht, Davon später, 70 „Ich würde mich, sagt Virchow (auf der Naturforscher- Versammlung zu München) keinen Augenblick weder wundern noch entsetzen, wenn der Nachweis geliefert würde, dass der Mensch Vorfahren unter anderen Wirbelthieren hat. Aber ich muss doch erklären: Jeder positive Fortschritt, den wir in dem Gebiete der prähistorischen Anthropologie gemacht haben, hat uns eigentlich von dem Nachweise dieses Zusammenhanges mehr entfernt, Wenn wir den fossilen Menschen, der dech unseren Urahnen in der Descendenz- oder eigentlich in der Ascendenz- reihe näher stehen müsste, studiren, so finden wir immer wieder einen Menschen, wie wir es auch sind. Noch vor zehn Jahren, wenn man etwa einen Schädel im Torfe fand oder in Pfahl- bauten oder in alten Höhlen, glaubte man wunderbare Merk- male eines wilden, noch ganz unentwickelten Zustandes an ihm zu sehen. Man witterte eben Affenluft. Allein das hat sich allmählich immer mehr verloren. Die alten Troglodyten, Pfahl- bauern und Torfleute erweisen sich als eine ganz respectable Gesellschaft. Sie haben Köpfe von solcher Grösse, dass wohl mancher Lebende sich glücklich preisen würde einen ähnlichen zu besitzen... Im Ganzen müssen wir anerkennen, es fehlt jeder fossile Typus einer niederen menschlichen Entwickelung. Irgend ein fossiler Affenschädel oder Affenmenschenschädel, der wirklich einem menschlichen Besitzer angehört haben könnte, ist noch nie gefunden worden .... Thatsächlich, positiv müssen wir anerkennen, dass noch immer eine scharfe Grenzlinie zwischen dem Menschen und dem Affen besteht. Wir können nicht lehren, wir können es nicht als eine Errungenschaft der Wissenschaft bezeichnen, dass der Mensch vom Affen oder von irgend einem andern Thier [d. h. von irgend einer jetzt lebenden Thier- form] abstamme.‘“ Das Urtheil dieses competenten Forschers wird also wohl die Hoffnung des Verfassers des neuen Glaubens, dass ‚‚wir vielleicht künftig den fossilen Menschen noch auf einer viel tieferen Stufe seiner Entwickelung, noch weit näher seiner thierischen Abstammung überraschen werden‘, in Dunst auflösen. ‚Die Hoffnung, sagt Ratzel (Vorgeschichte des Europäischen Menschen), aus den vorgeschichtlichen Resten des Menschen, wie man sie in Europa findet, Schlüsse auf die Schöpfungsgeschichte "oder Entstehungsgeschichte des Menschen ziehen zu können, hat sich auf allen Puncten getäuscht ge- sehen‘ — nicht anders wird das Resultat in den übrigen Erde- theilen sein, x 71 XU. Der sprachlose Urmensch Häckels hat nicht existirt. Die Sprachentwickelung ist im Kleinen eine Wieder- holung der Entwickelung der Organismen. Sehr viel entschiedener, als Darwin, spricht sich Häckel über die Menschwerdung aus. Er lässt seine „vermittelnde Zwischenstufe‘“‘ zwischen dem Menschenaffen und dem echten Menschen, nämlich die ‚.sprachlosen Urmenschen‘‘ (homo primi- genius alalus) entstanden sein „aus dem Menschenaffen oder An- thropoiden durch die vollständige Angewöhnung an den aufrechten Gang, und die dem entsprechende stärkere Differenzirung der beiden Beinpaare. Die „Vorderhand“ der Anthropoiden wurde bei ihnen zur Menschenhand, die „Hinterhand‘‘ dagegen zum Gangfuss. Obgleich diese Affenmenschen so nicht bloss durch ihre äussere Körperbildung, sondern auch durch ihre innere Geistes- entwickelung dem eigentlichen Menschen- viel näher, als die Menschenaffen gestanden haben werden, fehlte ihnen dennoch das eigentliche Hauptmerkmal des Menschen, die articulirte menschliche Wortsprache und die damit verbundene Entwickelung des höheren Selbstbewusstseins und der Begriffsbildung. Der sichere Beweis, dass solche sprachlose Urmenschen oder Affenmenschen dem sprechenden Menschen vorausgegangen sein müssen, ergibt sich für den denkenden Menschen aus der ver- gleichenden Sprachforschung und namentlich aus der Ent- wickelungsgeschichte der Sprache.‘ „Es bedarf nur geringer Einbildungskraft, heisst es an anderer Stelle, um sich „ein ungefähres Bild“ von diesem „muthmasslichen Urmenschen oder Affenmenschen‘“, von dem wir „noch keine fossilen Reste kennen“, vorzustellen. „Die Schädelform desselben wird sehr langköpfig und schiefzähnig gewesen sein, die Hautfarbe dunkel, bräunlich. Die Behaarung des ganzen Körpers wird dichter als bei allen jetzt lebenden Menschenarten gewesen sein, die Arme im Verhältniss länger und stärker, die Beine dagegen kürzer und dünner, mit ganz unentwickelten Waden ; der Gang mit stark eingebogenen Knieen“. Nun, wir wollen über die Prädicate, welche dem Urmenschen gegeben werden, nicht rechten, da wir ja auch der Meinung sind, dass der Urmensch sich aus körperlich wie geistig kargen Zuständen zu der Höhe, welche heute der weisse Culturmensch 72 einnimmt, entwickelt hat; aber einen sprachlosen Ur- menschen hat es nicht gegeben! Wir müssen anderen, die der Zoologie und Anatomie kundig sind, die Prüfung der „sicheren Beweise“, die Häckel für seinen Stammbaum des Menschen gibt, überlassen; wenn aber diese „sicheren Beweise“ in anderen Puncten nicht sicherer sind, als dieser auf die Sprache gegründete Beweis, so dürfen wir uns nicht mehr wundern, wenn an dieser Sicherheit von den verschiedensten Seiten arg gerüttelt wird. Wir hoffen bei anderer Gelegenheit . (Darwin und die Sprachwissenschaft) den „sicheren Beweis“ erbracht zu haben, dass der homo primigenius alalus Haeckelii nie existirt hat; das Phantasiegebilde dieser „‚vermittelnden Zwischenform‘* muss ausfallen in dem Stammbaum, und wir steigen gleich zum „echten sprechenden Menschen‘ auf. Aber weil Häckel sich auf die Sprache beruft, so wollen wir diese um Rath fragen; es wird sich zeigen, dass die Sprachent- wickelung die Entwickelung der organischen Welt, wie wir sie auffassen, im Kleinen genau wiederholt, Wir fassen unsere Resultate in den folgenden Sätzen zusammen: { 1) Die Sprache ist eine dem menschlichen Wesen an- haftende Urzeugung, wie der Mensch selbst das letzte Glied der Urzeugung (oben $. 29) ist, welche die organische Welt aus der Materie entstehen und sich entwickeln lies. Und darum werden wir über den Ursprung der Sprache so wenig je sichere Auskunft geben können, wie über den Ursprung des Menschen selbst und des Lebens überhaupt. Nur die Ent- wickelung ist, bei der Sprache, wie bei der organischen Welt, unserer Forschung einigermassen erreichbar. 2) Es gab eine Ursprache des Menschengeschlechtes von einfachster Gestalt, die der erste Menschenverein in der Urheimat unseres Geschlechts gesprochen. Von dieser, durch sichere Beweise gestützten Consequenz darf uns die Unmöglichkeit, diese Ursprache aus dem heutigen Bestande der Sprachen aufzuweisen, ebensowenig abschrecken, wie die Unmöglichkeit, die Urform organischen Lebens aus den heutigen Lebeformen nachzuweisen, uns das Recht gibt, von der Consequenz der monophyletischen d. h. einheitlichen Entwickelung Abstand zu nehmen. 3) Aus dieser Ursprache haben sich alle Sprachen der Welt in steigender Differenzirung entwickelt; dies müssen wir annehmen trotz der Unmöglichkeit, aus dem heutigen Bestande 73 der Sprachen die Descendenzlinien aufzuweisen, die auf die eine Ursprache zurückleiten. Und so gibt uns die Unmöglich- keit einer lückenlosen Descendenzlinie für die organische Welt kein Recht, die Abstammung von einer Urform zu bestreiten. 4) Die Sprache hat sich in der Urheimat des Menschen aus der untersten Stufe, der Isolirung (wie sie in Tschina noch ist), zur zweiten Stufe, der Agglutination (wie sie bei allen übrigen Farbigen ist), und aus dieser bis zur höchsten Stufe, der Flexion (im Wesentlichen der Sprachform der weissen Rasse) ent- wickelt. Ebenso die Welt des Lebenden in dem Schöpfungsmittel- puncte, der mit der Urheimat des Menschengeschlechts identisch ist, aus den niederen Classen bis zu der höchsten, vom Schleim- thier zum Glieder- und Wirbelthier bis hinauf zum Menschen. 5) Die Uebergänge aus der niederen Entwickelungsstufe in die höhere haben sich naturgemäss vollzogen; dies können wir für die Sprache nachweisen, und müssen es für die orga- nische Welt annehmen. Aber dieser ungehemmt in die Höhe treibende Entwickelungsprocess hat in der Urheimat des Menschen- geschlechts seinen Abschluss gefunden: eine höhere Form der Sprache, als die Flexion, ist nicht denkbar, so wenig, wie eine über den Menschen hinausgehende Lebeform. 6) Die Sprache ist, sowie die Stämme (oder vielmehr die Ansätze zu denselben) aus der Urheimat gewandert waren, in der Weise erstarrt, dass sie auf der Wanderung und in den erwan- derten Wohnsitzen nicht mehr aus dem von der Urheimat mit- genommenen Rahmen der Isolirung, Agglutination und Flexion hinauskam: kein Volk hat seine Sprache, unbeschadet aller Weiterbildung, aus der Isolirung zur Agglutination, oder aus dieser zur Flexion entwickeln können. Ebenso trat mit der Entlassung aus dem Schöpfungsmittelpuncte bei den Organismen bis zu einem gewissen Grade Erstarrung ein: ein Schleimthier bildete sich nicht mehr zum Gliederthier, ein Gliederthier nicht zum Wirbelthier, der Affe nicht zum Menschen weiter. 7) Bei dieser Erstarrung, d. i. beim Organismus Vererbung, blieb beständige Fortbildung, d. i. Varürung , möglich: die Sprache differenzirte sich von vornherein in Dialekte, was bei den Organismen die Varietäten (Spielarten) sind; die Varie- täten aber sind beginnende Arten, d. h. aus den Dialekten werden neue Sprachen. Aber diese neuen Sprachen sind auf- gebaut auf der mitgebrachten Grundlage, aus dem alten Material — das ist die Constanz der Arten. 74 8) Diese neuen Sprachen haben ihre Schöpfungsmittel- puncte, wie die Arten (das Englische z. B., das an den ver- schiedensten Stellen der Erde gesprochen wird, in England). Aber diese Schöpfungsmittelpuncte erweisen sich als die End- puncte von Zweigen, die auf einen gemeinsamen Ast zurück- führen (das Englische mit dem Deutschen, Holländischen, Dänischen, Schwedischen auf eine Germanische Grundsprache), und diese Aeste leiten zurück auf den Stamm, der in der Urheimat des Menschengeschlechts erwachsen ist. In derselben Weise müssen wir von den Schöpfungsmittelpuncten der Arten zuletzt in den einen Schöpfungsmittelpunct zurückgelangen. Die Frage: entstehen noch immer neue Sprachen? steht also genau der andern gleich: entstehen noch immer neue Arten? Man kann darauf antworten ja und auch nein: ja, insofern die Differenzirung der Sprache, sowie ein Volk ab- gesondert sich entwickelt, schliesslich so weit gediehen sein wird, dass man von einer neuen Sprache reden kann, Hörte einmal der Zusammenhang mit England auf, so könnte man behaupten, dass über einige Jahrhunderte die Vereinigten Staaten von America ihre eigene Sprache redeten; nein, insofern als die neue Sprache, wie die neue Art, doch immer auf der Grund- lage der Muttersprache resp. Stammart steht. So gibt die Sprachentwickelung die einfachste Lösung -der streitigen Probleme der Descendenzlehre. Die ver- gleichende Sprachwissenschaft unserer Tage arbeitet ganz im Sinne der Descendenzlehre, indem sie überall nach der den einzelnen Sprachindividuen zu Grunde liegenden Ursprache forscht, Aber sie ist erst auf dem Standpuncte Cuvier’s angelangt, der ja, obwohl er als Gegner bekämpft wird, doch auch wieder in gewissem Sinne der Descendenzlehre vorgearbeitet hat: hat er doch das gesammte Thierreich, das vor ihm aus einer Menge unverbundener Formen bestand, zu seinen vier Typen zusammen- geordnet, so dass der Descendenzlehre die Aufgabe blieb, den Zusammenhang dieser vier Typen nachzuweisen. Ebenso hat unsere Sprachwissenschaft die Masse der vorher unverbunden nebeneinanderstehenden Sprachen zu einer Anzahl von Sprachen- gruppen vereinigt, denen je eine Ursprache zu Grunde liegt: sie vermag nachzuweisen, dass fast alle Europäischen Sprachen zusammen mit der Persischen und Indischen in Asien von einer Arischen Ursprache abstammen, dass ebenso alle Sprachen der Americanischen Rasse (der Indianer), alle Sprachen der Oceanischen 75 Rasse (Malayen und Polynesier) etc, zusammengehören. ' Aber den Zusammenhang dieser Sprachengruppen untereinander leugnet sie zur Zeit noch, und folgerichtig denn auch die Herleitung aller Sprachen aus einer Ursprache des Menschengeschlechtes. Sie steht also in dieser Beziehung noch nicht auf der Höhe der’ Descendenzlehre ; aber vor der Macht der Consequenzen wird auch sie sich beugen müssen, und dann wird Häckel’s homo alalus ausgelebt haben. Zu einer Erkenntniss ist aber unsere Sprachwissenschaft bereits vorgedrungen, die uns die Aussicht eröffnet, dass auch der letzte Schritt zum Ziele gethan werden wird: sie hat aner- kannt, dass alle höher entwickelten Sprachen die tieferen Stufen durchgangen haben müssen, d. h. dass die Flexion sich zunächst aus der Agglutination, und weiter zurück aus der Isolirung entwickelt hat, und ebenso die agglutinirenden Sprachen aus der ursprünglichen Isolirung. Und das hat für die Organismen dieselbe Bedeutung, wie der auf der Grundlage der Descendenz- lehre unanfechtbare Satz: die erste Gliederthierform hat sich aus der Schleimthierform entwickelt, und die erste Wirbel- thierform knüpft ebenso an die beiden Vorstufen an. Nur darf man nicht behaupten, dass dieser Entwickelungsprocess sich allerwärts auf der Erde vollzogen habe: denn dann entstände sofort die Frage, warum z. B. die Tschinesische Sprache bei aller Feinheit der Entwickelung nicht über die unterste Stufe, die Isolirung, hinausgekommen sei, oder das Türkische und Mexicanische nicht über die Agglutination. Wir dürfen auch nicht behaupten, dass die erste Flexion sich, aus der best- entwickelten agglutinirenden Sprache, die agglutinirende Sprache aus der bestentwickelten isolirenden gebildet habe, d. h. also, dass etwa aus dem Tschinesischen — auf Tschinesischem Boden, wie wir annehmen müssten — die erste agglutinirende Sprache entstanden sei, oder aus der Mexicanischen Sprache in America die erste Flexion: das wäre genau derselbe Irrthum, dem Darwin und Häckel verfallen sind, indem sie den Menschen aus den anthropoiden Affen, der eine in Africa, der andere in Südasien sich entwickeln lassen. Wir verlegen den Process zurück in das Urland und in jene ferne Zeit der Urzeugung, dann hat es mit der Sprache, wie mit der organischen Weit seine Richtigkeit: dort strebte damals die Entwickelung in un- gehemmtem Triebe aufwärts, von dort zweigten sich nach einander die ersten Geschlechter mit der isolirenden Sprache, die folgenden 76 mit der agglutinirenden Sprachform, die letzte mit der Flexion ab — es waren die Urkeime der heutigen Sprachen, ein jeder in der Höhe der Entwickelung, wie sie bei der Absonderung aus dem Urlande erreicht war. Diesen sprachlichen Urkeimen entsprechen ' die Urformen der Orbanismen, oder Urtypen, wie wir gesagt haben, deren Descendenz wir heute allerwärts auf der Erde in mannigfach entwickelten Gestalten — wie die Sprachen — wiederfinden. Gelänge es also jemals, die locale oder auto- chthone Entwickelung der Sprachen, wie der Arten, abzustreifen, die Zweiglein, wie sie sich überall gestaltet haben, in die Zweige, und diese zu den Aesten zusammenzuführen, so dämmerte uns die Hoffnung, die grossen Aeste an richtiger Stelle, die einen tiefer, die anderen höher, an den Stamm anzusetzen, der nur an der einen Erdstelle aufwuchs, und so in dem Stamme hinunterzusteigen bis zur Wurzel, zur Urform aller Sprachen, zur Urform auch aller Organismen. Dann sähen wir auch dort die Uebergänge, die vermittelnden Zwischenformen — und der Sprachwissenschaft wie der Naturwissenschaft wäre geholfen ! Diese Uebergangsformen bereiten der Sprachwissenschaft keine besondere Schwierigkeit: wir können deutlich an der Structur der Sprachen erkennen, wie aus der isolirenden Sprachform die agglutinirende, aus dieser die flectirende hervorgegangen sein muss — und es bleibt uns nur zu erklären, warum heute bei keiner Sprache mehr diese Stufen ineinander überwachsen. Für die unendlich viel verwickeltere Welt der Organismen wird die Sache um so viel schwieriger, als die Schritte von Art zu Art, von Classe zu Classe bedeutender sind. Darwin’s allmähliche Transmutation setzt eine Menge von anbildenden Zwischenformen etwa zum ersten Vogel oder zum ersten Säugethier voraus: sie haben sich nicht gefunden und werden sich aller Wahrschein- lichkeit nach auch in dem Schöpfungsmittelpuncte, wo sie allein zu finden sein müssten (oben S. 57) nicht in der gewünschten Ausdehnung finden, da die Transmutation dort nicht eine so allmähliche war, wie Darwin sie annimmt, und wie sie es heute in der That ist. Da stehen wir also in dem Reiche der Sprachen wie in dem Reiche der Organismen vor derselben Schwierigkeit, einen Stammbaum zu Wege zu bringen. Die Sprachwissenschaft ist, wie bereits gesagt, über die Vorarbeiten noch nicht hinausge- kommen: sie hat die verwandten Gruppen von Sprachen — ast- weise könnte man sagen — zusammengestellt; bis zum Stamme [Ki selbst d. h. bis zur Einfügung dieser Aeste in den Stamm vor- zudringen hat sie noch nicht versucht. Aber selbst für die einzelnen Aeste ist die Arbeit noch lange nicht gethan, Am gründlichsten untersucht ist bis jetzt der eine Ast mit seinen Zweigen und Zweiglein, die Arischen Sprachen, zu denen auch unsere Sprache gehört. Aber trotzdem dass alle gut durchforscht sind, ist noch keine Einigung über den Stammbaum und die Art der Verzweigung erzielt: die Fachkenner brauchen wir bloss daran zu erinnern, wie sehr an dem von Schleicher aufge- stellten Stammbaum, der lange als unangefochten gegolten, im letzter Zeit gerüttelt worden ist, Die einen stellen das Lateinische mit dem Griechischen zu einer engeren Einheit zusammen, andere rücken es ab zu dem Keltischen. Die Germanischen Sprachen stellen die einen dem Slavischen, die andern dem Keltischen näher. Die einen erkennen in dem Griechischen die Ueberleitung von den Europäischen Sprachen zu den Asiatischen unseres Sprachstammes, die andern in dem Lithauischen — so dass zuletzt absolut sicher nur der eine Satz ist, dass alle diese Sprachen von einer Arischen Ursprache abgestammt sind, und schon gleich der zweite, dass die Europäischen Sprachen, den Asiatischen gegenüber, von einer speciell Europäischen Grundsprache herzu- leiten sind, d. h. dass alle Arischen Völker Europas von einem Stamme abgezweigt sind, der diesseits des Ural und Kaukasus noch in einer Einheit zusammen gesessen haben muss, kaum mehr über alle Zweifel erhaben ist. Woher kommt nun diese Meinungsverschiedenheit? Eben daher, dass in dem einen Puncte zwei Sprachen sich nahe berühren, die in einem andern weit auseinandergehen und an ganz andere Sprachen anknüpfen. Wir überzeugen uns leicht, dass eine durchgeführte Uebereinstimmung nirgends vorhanden und darum der Schluss:, diese Sprache ist aus jener entstanden, absolut unzulässig ist, — es sei denn, dass die Sprachgebilde so jung sind, wie die Romanischen Sprachen, deren Anknüpfung an das Lateinische wir historisch erreichen können. Die Sprache bildete sich allerwärts in freier Weise weiter, aber auf der alten Grundlage, die sie mitgebracht von ihren Anfängen, d. h. von dem Anfang aller Sprache; neben oder unter den neuen Formen, die sie ausbildet und die eben die unterscheidenden Kennzeichen gegen andere Sprachen werden, ist — wie selbst die Romanischen Sprachen zeigen — manches Uralte, das in den Dialecten nie verloren war und nun auf’s neue hervorgesucht wird. Das ist 78 die Rückschlagstendenz, die oft in wunderlich caprieiöser Weise zurückgreift in längst übersprungene Bildungen, sie wieder auffrischt und in ihrer Weise zurecht macht. Es gibt in dem Reiche der Sprachen keinen ‚überwundenen Standpunct‘“ — trotz des Fortschrittes der Sprachentwicklung, den wir im Allgemeinen ja nicht verkennen können. Und gerade so in der Welt der Organismen: die Rück- schlagstendenz setzt nach dem Gesetze der Vererbung dem Streben nach Variirung die Grenze. Dem künstlichen Züchter gibt die Natur nicht die Freiheit — die sie sich selbst nicht nimmt — die Variationen bis in’s Unendliche zu mehren, immer droht der Rückschlag nach der Stammform zu. Und wie in den Sprachen das alte Erbgut zerstreut ist, und gelegentlich immer wieder hervorgelangt wird, so dass von einer consequenten Weiterbil- dung, die das einmal Verbrauchte nicht wiederbraucht, nicht die Rede sein kann, so treten auch in der Entwickelung der Orga- nismen alte, auf früheren Stufen bereits überwundene Bildungen, wenn auch als Rudimente, immer wieder hervor; der Mensch trägt die Spuren mancher Bildungen an sich, die ihn an tiefere Stufen der Thierwelt anknüpfen, und die beim Affen schon zurückgetreten, rudimentär geworden waren, beim Menschen also, bei consequenter Weiterbildung, verschwunden sein müssten. (Vgl. Darwin Abstammung des Menschen I. 8. 16 £.) Dieses beständige Hervorlangen alter Bildungen ist ein eclatanter Beweis für die gemeinsame Abstammung aller Lebewesen von einer Urform, also für die Descendenzlehre überhaupt; aber es widerstreitet einerseits der Vorstellung, die wir uns von der natürlichen Zuchtwahl machen sollen: dieselbe soll das Passendste auslesen, das Unpassende beseitigen uud doch erscheint das beseitigte Unpassende bei passender Gelegenheit immer wieder; andrerseits bereitet es der von Darwin und Häckel in ihrer Weise versuchten Einreihung der bestehenden Lebeformen zu einer Kette sich auseinander entwickelnder Formen unübersteig- liche Schwierigkeiten. Und so ist der Umstand, dass Uran- fängliches, was die Sprache gelernt hatte seit Anbeginn, sporadisch in den einzelnen Sprachen wieder auftaucht, ein starker Beweis für den Zusammenhang aller Sprachen und die Nothwendigkeit der Annahme einer Ursprache, bringt aber die Stammbaum- Theoretiker unausgesetzt in Verlegenheit. 79 XII. Die psychischen Unterschiede in der organischen Welt. Die Instinete des Thieres und der Geist des Menschen, Wir kommen zu einem andern Puncte, der uns nöthigt, gegen die Weise, wie Darwin und Häckel ihren Stamm- baum zusammensetzen, Einsprache zu erheben: dieser Stamm- baum ist einzig auf die körperliche Beschaffen- heit gegründet, die andere Seite des animalischen Wesens, die seelischen Fähigkeiten, sind ganz ausser Acht gelassen. Die pflanzlichen Organismen können hier aus dem Spiele bleiben; denn wer wollte hier die Unterschiede des vegetabilen Lebens angeben und eine Classification darauf gründen? Aber inner- halb der Thierwelt zeigen die Aeusserungen animalischen Lebens so bemerkenswerthe Unterschiede, dass es uns bedenklich er- scheinen muss, sie bei der Bestimmung der genealogischen Verwandtschaft bei Seite zu schieben. Zwar schiebt Darwin die Entwickelung der psychischen Fähigkeiten in der Thierwelt, mit Einschluss des menschlichen Geistes, keineswegs bei Seite, er widmet ihr vielmehr grosse Aufmerksamkeit und kommt zu dem bekannten Schlusse, dass der menschliche Geist, die höchste Potenz dieser Fähigkeiten, allerwärts in der Thierwelt vorgebildet und nur dem Grade, nicht der Art nach, quantitativ, nicht qualitativ von den psychischen Fähigkeiten der Thiere verschieden sei. Eine solche Entwickelung muss jeder annehmen, der sich auf den Boden der Descendenzlehre stellt: er muss den Faden suchen, der von der seelischen Begabung der ersten Form des organischen Lebens hinaufleitet bis zu dem Endpuncte, dem Menschen. Wir pflegen den Unterschied zu machen, dass wir die in einen bestimmten Kreis gebannten psychischen Functionen, die wir beim Thiere wahrnehmen, Instincte nennen, gegenüber der freien Arbeit des menschlichen Geistes; aber diese Instincte sind nichts anderes, als die niedere Stufe der geistigen Fähig- keiten, das braucht nicht geleugnet zu werden. Wen das auf- regt, der müsste sich ja auch davor entsetzen, dass er das Blut, das Fleisch und die Knochen mit dem Thiere gemein hat. Es bleibt ja doch jedem der Trost — wir werden noch davon zu reden haben — dass die menschliche Psyche der 80 Gipfelpunct, die Vollendung dessen ist, was sich innerhalb der Thierwelt in schwächern oder stärkern Ansätzen vorbildet. Denn das ist es ja, auf Grund dessen wir für unser Ge- schlecht eine besondere Stellung — die oberste — in der Rang- ordnung der organischen Welt beanspruchen und mit Recht beanspruchen können: unsere geistigen Fähigkeiten. Gewiss sind der anatomischen Unterschiede unseres Leibes auch genug: der aufrechte Gang und die ‚endlosen Veränderungen‘, die er im Gefolge hat, die Ausbildung von Hand und Fuss zu getrennten Functionen, der Verlust des Haarkleides u. s. w. Aber diese würden der systematischen Einreihung des Menschen in das Thierreich keine Schwierigkeiten bereiten, und wir könnten uns wohl mit dem Gedanken befreunden, dass der Mensch körperlich nichts weiter als ein veredelter Affe ist, wenn nur nicht jene anatomischen Verschiedenheiten doch auch wieder im Dienste der menschlichen Psyche von so gewaltiger Tragweite wären, Die Unterschiede in der leiblichen Organisation sind es nicht, die dem Menschen den höchsten Rang unter den Geschöpfen . anweisen. Wer die leibliche Beschaffenheit des Menschen für die vollkommenste halten und sie zum Massstab der Beurtheilung nehmen wollte, dem würde man endlose Zweifel entgegenhalten können: warum hat der Mensch nicht ein Haarkleid oder Federn, um sich gegen die Einflüsse der Witterung zu schützen? warum nicht einen Schwanz, um die Fliegen zu verscheuchen, wie das ‘ Rindvieh und die Pferde? warum hat er nur zwei Beine, während sich doch mit sechsen besser laufen liesse? wäre es nicht besser, wenn er Flügel hätte, ‚wie die Vögel, um auch die Luft überwinden zu können ete. Einzig in dem Geistesleben liegt der Werth des Menschen, geht seine Bedeutung auf. Kunst und Wissenschaft, Religion und sittliches Bewusstsein, namentlich aber die Vorbedingung zu allem Fortschritte, die Sprache, sind die wahrhaft menschlichen Attribute. Aber wie scharf hier die Grenze gezogen ist zwischen Mensch und Thier, einer Ueberzeugung darf man sich nicht. ver- schliessen: alle diese geistigen Fähigkeiten sind vorgebildet in der Thierwelt. Das Thier spricht nicht, aber es hat Laut- äusserungen, womit es bestimmte Empfindungen reflectirt, so gewiss wie es Gedächtniss und ein Bewusstsein hat, wenn auch nicht ein Selbstbewusstsein, das nur dem Menschen zukommt. Das Thier hat keine Religion und kein Gottesbewusstsein ; aber namentlich im Verkehr mit dem Menschen entwickeln sich bei 81 höheren Thieren Gefühle der Anhänglichkeit an den Mächtigern, der ihnen Speise und Trank reicht und sie vor Unbilden schützt, in denen sich eine niedere Stufe unserer religiösen Gefühle wieder- spiegelt. Das Thier hat keine Kunst, aber bei manchen Thieren, wie Ameise, Biene, Spinne, Biber etc. finden wir Fähigkeiten, die beim Thiere auf vererbtem Instinete beruhen, die aber, wenn der Mensch sie übt, Kunst genannt werden, und bei denen nur der eine Unterschied stattfindet, dass das Thier sie so ausüben muss, während die Kunst des Menschen einer Veränderung fähig ist, die in der Regel Fortschritt ist, aber auch Rückgang sein kann. Dieser Unterschied ist allerdings gross genug, um zu einer trennenden Kluft sich zu erweitern. Die Möglichkeit fortzu- schreiten und psychische Fähigkeiten zu entwickeln wird man — bis zu einem gewissen Grade — auch den Thieren zuschreiben müssen; die Verschiedenheit der Lebensbedingungen hat in langer Gewöhnung unverkennbar grosse Unterschiede in der Intelligenz hervorgerufen. Die Raubthiere sind intelligenter, weil sie bestän- dig auf der Lauer liegen, List und Aufmerksamkeit anwenden müssen, um ihren Lebensunterhalt zu erringen, der den pflanzen- fressenden Thieren ohne Mühe zufällt, Unter unseren Hausthieren zeigt sich ein grosser Unterschied in Bezug auf Intelligenz: der Hund, das Pferd stehen hoch, Rind und Schaf niedrig, obwohl der Unterschied in der körperlichen Organisation gewiss nicht beträchtlich ist. Der Mensch beschäftigt sich mit dem Hunde und braucht ihn zu ganz anderen Diensten als das Schaf oder Rind, die er mästet, um sie zu schlachten und ihre Haut und ihre Wolle zu brauchen. Es fehlt also bei letzteren der an- regende Verkehr mit dem Menschen; dazu kommt die Sicherheit und das bequeme Auskommen, welches der Mensch ihnen bietet — das Schaf ist also wehrlos und dumm. Aber diese Mög- lichkeit der Vervollkommnung hat bei dem Thiere ihre Grenzen: die Dressur, deren die Thiere fähig sind, unterscheidet sich von der Erziehung, die man dem Menschen angedeihen lässt, gerade wie der Mensch selbst von dem Thier: sie vermag das beste Thier nicht zu der Höhe des Menschen zu erheben. Die Intelligenz des Thieres ist nicht hinreichend entwickelt, sagt Darwin; will man unter Intelligenz die Geisteskraft des Menschen, die Voll- 'endung aller psychischen Fähigkeiten, wie sie die Natur geben konnte, verstehen, dann hat das Thier keine Intelligenz. Auch der Mensch thut manches aus Nachahmung — eben Kuhl, Descendenzlehre. 6 82 in Folge der Erziehung — und zwar um so mehr, je mehr der Lehrende dem Lernenden überlegen ist, was sich namentlich in dem Verkehr des Europäers mit den culturlosen Naturvölkern zeigt. Aber er wird durch die Erziehung zu einer freieren Thätigkeit angeleitet, deren das Thier niemals fähig ist. Freilich ist auch der menschliche Geist — wovon noch die Rede sein soll — weil an die Materie gebunden, nicht absolut frei, sein Denken nicht unbeschränkt; aber dies kann uns niemals bewegen, den Unterschied zwischen menschlicher und thierischer Intelligenz zu verwischen. Auf der andern Seite begehen wir auch leicht den Fehler, dass wir die Leistungen der Thiere zu hoch an- schlagen: es scheint uns vernünftig, was sie thun, obwohl es dies in der That nicht ist. Der Hund sieht uns so treuherzig an, wenn wir mit ihm sprechen: wir unterstellen sofort, dass er uns versteht und über unsere Worte nachdenke; und doch wissen wir, wie schwer es ist, das Verständniss auch nur für ein ein- ziges Wort dem Hunde durch Dressur beizubringen. Hätte er das Verständniss, das man ihm zutraut, so hätte er auch Sprache d. h. die menschliche Sprache und er wäre Mensch. Das Thier spricht gerade soviel — oder so wenig, wie es denkt. Den gewaltigen Unterschied zwischen Mensch und Thier beweist uns eben die Natur des Instinctes. Instinete sind nach der Erklärung Darwin’s und Haeckel’s Gewohnheiten, die durch Anpassung an die Lebensbedingungen allmählich entstanden, durch natürliche oder künstliche Zuchtwahl gehäuft und auf die Nachkommen vererbt worden sind. Das wird uns vollständig begreiflich, wenn wir bedenken, wie bei unseren Jagdhunden, Dachshunden etc. die durch Dressur ihnen beigebrachten Fähig- keiten, zugleich mit ihren körperlichen Eigenthümlichkeiten, in langer Folge der Generationen immer fester auf die Nachkommen vererbt werden. So können ja auch beim Menschen gewisse Gewohnheiten und Neigungen, auch böse, z. B. das Stehlen, in gewissen Familien erblich werden. Greifen wir die Sache weiter, so zeigt uns die geistige Entwicklung der gesammten Menschheit die Wirkungen dieses Gesetzes der Vererbung. Was wir Cultur nennen, ist die Summe der von unseren Vorfahren überkommenen Arbeit, die für jedes folgende Geschlecht der Ausgangspunct zu immer höheren Leistungen wird. Mit dieser Arbeit verbessert sich der ganze Mensch und vererbt die veredelte Natur auf die Nachkommen, welche die Arbeit also von vornherein mit besserem Rüstzeug beginnen. So ist die Kluft, die heute die 83 Culturvölker von den Wilden trennt, in langen Generationen ent- standen. Das Eigenthümliche ist nun, dass die thierischen Instinete, die doch in ihrem Ursprunge psychische Regungen sind, durch die Vererbung so starr werden, dass sie einem Zwang vollkommen gleich kommen. Und dies wird um so merkwürdiger, je höher wir steigen auf der Stufenleiter der Instincte, je com- plieirter die Verrichtungen sind, wie bei Bienen und Ameisen, deren Lebensweise man nur zu studiren braucht, um zu erstaunen bei dem Gedanken, dass man es hier nicht mit vernünftigen, im Einzelmomente eingegebenen Handlungen, sondern mit ererbten Gewohnheiten zu thun hat, die gedankenlos verrichtet werden, Wir müssen uns überzeugen, dass hier das Thier ohne Ueber- legung thut, was dem Menschen nicht ohne Ueberlegung und ohne planmässige Leitung gelingen würde. Und noch mehr müssen wir darüber erstaunen, dass es dem Thiere, dessen Urer- zeuger zu einer solchen Stufe aufgestiegen war, nicht vergönnt war, von dort aus in der langen Kette der Nachkommen zu freierer Seelenthätigkeit aufzusteigen. Das ist die Kluft, die das Thier vom Menschen trennt: beim Menschen konnte niemals die Summe der erworbenen Fähigkeiten, ob sie gleich vererbt werden, zu dem starren Instincte werden, der ihn und seine Nachkommen für immer in ein bestimmtes Geleise bannte; er behauptet seine Freiheit der Bewegung, und diese treibt ihn immer höher und wird ihn treiben bis zu einer Grenze, die wir vorläufig nicht sehen können. Für die Menschheit ist das Gesetz der Vererbung das Vehikel zu immer grösserer Vervollkommnung, für das Thier ist es der Bann, der den Fortschritt in Fesseln geschlagen hat. Darwin ist hier nicht recht verständlich, wenn er meint, die complieirten Instinete seien ‚unabhängig von irgend einer Intelligenz‘‘ entstanden „durch die natürliche Zuchtwahl von Variationen einfacher instinetiver Handlungen“. Jeder auch noch so einfache Instinet muss als die Bethätigung eines’ Seelen- lebens niedriger Stufe angesehen werden , insofern das erste Hervorbrechen nicht anders denn als ein Act der Seelenthätigkeit angesehen werden kann, Dafür spricht auch der Umstand, auf den Darwin selbst Gewicht legt, dass bei den höher entwickelten Thieren neben dem Zwang der ererbten Gewohnheiten doch auch die Spur eines Handelns nach vorheriger Ueberlegung mehr und mehr: hervortritt. „Ich möchte durchaus nicht läugnen, fährt Darwin fort, dass instinctive Thätigkeiten ihren fixirten und nicht angelernten Charakter verlieren und durch andere 6* 84 Thätigkeiten ersetzt werden können, welche durch Hilfe des freien Willens [d. h. der Ueberlegung] ausgeführt werden.“ Hier wird es oft zweifelhaft, ob man es mit einer instinctiven Handlung oder einem Act vorheriger Ueberlegung zu thun hat, wie in dem Falle, den Darwin erzählt, von den Hunden, die in einem Polarlande den Schlitten zogen: „sie gingen aus- einander und trennten sich, wenn sie auf dünnes Eis kamen, so dass ihr Gewicht gleichmässiger vertheilt wurde.‘ Darwin erzählt weiter zwei Beispiele von der Klugheit des Hundes. Auf einer Jagd wurden zwei Enten flügellahm ge- schossen und fielen auf das jenseitige Ufer des Flusses nieder. Der Hund ‚‚versuchte beide auf einmal herüberzubringen, es gelang ibm aber nicht. Trotzdem man wusste, dass er nie vorher auch nur eine Feder gekrümmt hätte, biss er die eine Ente todt, brachte die andere herüber und ging nun zum todten Vogel zurück.‘‘“ Bei einer andern Gelegenheit wurden zwei Rebhühner auf einmal geschossen, ‚das eine wurde getödtet, das andere verwundet. Das letztere rannte fort und wurde vom Hunde gefangen, welcher auf dem Rückwege beim todten Vogel vorbeikam, Er blieb stehen, offenbar sehr in Verlegenheit, und nach ein- oder zweimaligem Versuchen, wobei er fand, dass er es nicht mitnehmen konnte, ohne das flügellahm geschossene entwischen zu lassen, überlegte er einen Augenblick, biss dann dieses mit einem kräftigen Ruck absichtlich todt und brachte dann beide Vögel auf einmal. Es war dies das einzige be- kannte Beispiel, dass er je mit Absicht irgend welches Wildpret verletzt hätte.“ „Hier haben wir Verstand, meint Darwin, wenn auch nicht durchaus vollkommenen.‘ Und sofort auch den Unterschied zwischen dem thierischen und menschlichen Verstande; denn einmal gelingt es dem Thiere nicht über diese „nicht vollkommenen Ansätze‘‘ zu freierer Verstandesentwickelung weiter zu kommen; sodann aber nehmen solche Verstandes- handlungen, sobald sie sich durch Generationen hindurch regel- mässig wiederholen, den Charakter des Instinctes an und laufen vorkommenden Falles Gefahr widersinnig zu werden. Vom Hamster sagt man, dass er den Vögeln, die er erwischt, die Flügel zerbeisst, damit sie ihm nicht entwischen können. Der Urerzeuger, der dies zuerst that, verrichtete damit unzweifelhaft eine verständige Handlung; bei seinen Nachkommen ist sie zum Instincte hinabgesunken: nun zerbeisst der Hamster auch dem todten Vogel, den er findet, die Flügel. 85 Wir kommen zu unserm Schlusse: wollen wir mit der Descendenzlehre Ernst machen, so müssen wir auch für die psychischen Fähigkeiten einen Fortschritt der Entwickelung in der Lebewelt anerkennen, der bis zur höchsten Stufe, der mensch- lichen Psyche, hinaufleitet; wir müssen für die psychischen Fähigkeiten, die ja mit der Materie zu unzertrennbarer Einheit verbunden erscheinen, eine ebensolche Stufenleiter nachweisen können, wie für die Entwickelung der körperlichen Form. Man könnte zunächst “unterstellen, dass alle Gliederthiere in dieser Beziehung höher stehen, als die Schleimthiere, alle Wirbelthiere höher, als die Gliederthiere; denn erst bei den Wirbelthieren beginnt Rückenmark und Gehirn, dessen Stelle bei den niederen Thieren Nervenknoten (Ganglien) vertreten. Das Gehirn aber ist beim Menschen der Sitz des Denkvermögens, woraus sich ergäbe, dass je geringer entwickelt das Gehirn ist, desto mangel- hafter die psychischen Fähigkeiten sein müssten, und je weniger überhaupt von dem, was man Gehirn nennen könnte, vorhanden ist, desto weniger auf das Vorhandensein von Entwickelung psychischer Fähigkeiten gerechnet werden dürfte. Dies ist aber nicht der Fall: die Ameise, die ihren geordneten Staat hat, die Biene, die ihr künstliches Zellenhaus baut, die Spinne, die ihre feinen Fäden zu dem Netze webt, womit sie sich selbst schützt und ihre Beute fängt, stehen in psychischer Beziehung unendlich viel höher, als das gutmüthige Schaf, das vor dem kleinsten Hunde davonläuft. Die psychischen Fähigkeiten sind ungleich vertheilt, das zeigt ein oberflächlicher Blick auf die Thierwelt, und wenn wir bei dem Versuch, auf die körperlichen Verschiedenheiten hin das Thierreich zu einem Stammbaume zu ordnen, auf be- denkliche Schwierigkeiten stossen, so ist es platterdings unmöglich, die Thiere nach ihren psychischen Fähigkeiten in eine Rang- ordnung zu bringen. Es bleibt uns nichts mehr als die all- gemeine Bemerkung, dass, wie die Pflanze mit ihrem vegetativen Leben über dem Minerale steht, dem wir jedes Leben abzu- sprechen gewohnt sind, ebenso das animalische Leben des Thieres sich über die Pflanze erhebt, und dass der Mensch den Gipfel- punct des psychischen Lebens bezeichnet — wobei es fast wie ein Zufall aussieht, dass der Affe, wie er körperlich dem Menschen am nächsten steht, so auch psychisch gleich hinter dem Menschen rangirt, Das ist aber nicht mehr, als dass wir auf Grund dessen das allgemeine Entwickelungsgesetz behaupten 86 können. Die Schwierigkeit ist Darwin nicht entgangen. „Wir können wohl einsehen, warum die Classification, welche auf irgend ein einzelnes Organ oder Merkmal — selbst auf ein Organ von einer so wunderbaren Complieirtheit oder von solcher Bedeutung wie das Gehirn — oder auf hohe Entwickelung der geistigen Fähigkeiten sich gründet, sich fast mit Gewissheit als unbe- friedigend herausstellt“, sagt er mit Beziehung auf einen Versuch, den man gemacht hatte, die Säugethier-Reihe mit Rücksicht auf die Gehirnbildung in Unterclassen einzutheilen Wir müssen uns zunächst überzeugen, dass das Gehirn nicht nothwendige Vorbedingung zur Entwickelung psychischer Fähigkeiten überhaupt ist; wir können nur sagen, dass das Hervortreten dieser psychischen Fähigkeiten in höchster Potenz an den Besitz eines Gehirns geknüpft ist: der Mensch wäre nicht Mensch ohne Gehirn und ein Thier ohne Gehirn konnte niemals zur Menschenhöhe aufsteigen. Dieses Gehirn selbst ist aber gewissermassen die Blüthe der Nervensubstanz, die den ganzen Leib durchzieht; wenn man also, mit Recht, das Gehirn vorzugsweise als den Sitz des Denkvermögens ansieht, so muss man hinzufügen, dass die Nerven ein integrirender Bestandtheil dazu sind, die seelische Kraft also nicht auf das Gehirn beschränkt ist, sondern durch das Rückenmark in den Nerven den ganzen Leib durchzieht. ,‚Die Seele ist ganz im ganzen Körper und ganz in jedem seiner Theile‘, sagt Kant. Damit allein lässt sich erklären, dass Thiere auch ohne Gehirn, wie Ameise und Biene, psychische Fähigkeiten zu entwickeln ver- mögen, und es ergibt sich daraus, dass die Anlagen zu psychischer Entwickelung durch die ganze belebte Welt vorhanden sind und sich geltend machen an den verschiedensten Stellen und in den verschiedensten Graden — bis sie im Menschen den Höhepunct erlangen, bis zu welchem die an die Vorbedingung der Materie geknüpfte seelische Befähigung aufzusteigen vermochte. Hier ist nun der Punct, wo wir mit Darwin in Wider- spruch gerathen: wir sehen die psychische und physische Natur der Organismen zu einer untrennbaren Einheit verbunden, und leiten daraus das Recht ab, dass beide Seiten der Lebensäusserung von der Descendenzlehre, die in der Darwin’schen Weise einen Stammbaum aufstellt, in gleicher Weise berücksichtigt werden. Kann die psychische Entwicklung nicht mithelfen bei der Classi- fication, so ist es nicht genug, sie einfach bei Seite zu schieben und allein auf die physische Entwicklung den Stammbaum zu gründen. ,‚‚„Uebereinstimmungen in unbedeutenden Bildungen, 87 in nutzlosen und rudimentären Organen sind für die Classification bei weitem die zweckdienlichsten, sagt Darwin; denn sie können kaum Folge von Anpassungen sein, die in einer späteren Zeit etwa eingetreten wären. Sie offenbaren uns daher die alten Descendenzlinien oder die eigentliche Verwandtschaft.“ Das ist im Allgemeinen gewiss richtig; aber zu welchen Consequenzen eine Classification auf ,‚Uebereinstimmung in unbedeutenden Bildungen‘‘ hin führen kann, zeigt am grellsten der abenteuerliche Versuch Häckel’s und Friedrich Müller’s, die Menschen- rassen nach dem Haar einzutheilen (vgl. Anfänge des Menschen- geschlechts II S. 177 ff.) — was in der That soviel heisst als die Häuser nach den Dächern eintheilen. Aber was die Hauptsache ist, wir überheben uns bei einer solchen Classification unberechtigter Weise der Verpflichtung, nachzuweisen, wie sich die Differenz, der ungleiche Schritt der physischen und psychischen Entwickelung bilden konnte. Wenn man uns nun sagt: durch Vererbung hat das Geschlecht der Bienen von einem Urerzeuger, der an irgend einem Puncte der Erde «unter günstigen Ver- hältnissen sich so hoch entwickelte, diese Fähigkeiten erhalten, so genügt dieses vollständig für unsere Auffassung, aber für Darwin bleibt der Einwand offen: warum hat jener Urerzeuger oder sein nächster Nackkomme, den seine Flügel doch über die ganze Erde, also gewiss an manchen günstigen Ort tragen konnten, sich nicht weiter entwickelt zur höheren Art oder Classe ? Woher diese Erstarrung, die wir vergebens mit dem Namen der Vererbung decken? Fallen die geringen Veränderungen, die wir sehen, gegenüber dieser Constanz in’s Gewicht? Und doch sollen sie die Umwandlung der Arten in unbegrenzter Variation herbeigeführt haben! Die auf gutem Grunde ruhende Erkenntniss, dass es „Schöpfungsmittelpuncte“ der Arten gibt, ist der Tod für Darwin’s Vorstellung von der allmählichen Transmutation. Führen uns dagegen die Schöpfungsmittelpuncte auf den einen Schöpfungs- mittelpunct unserer Anschauung zurück, wo die Umbildung in ungehemmter Variation aufwärts stieg, so erklärt sich alles un- gezwungen: dort, in dem Schöpfungsmittelpuncte, entwickelte sich allerdings, wie es die Descendenzlehre fordern muss, die erste Wirbelthierform aus dem Gliederthiere, und das erste Wirbel- thier muss dort auch in psychischer Beziehung über dem Gliederthiere gestanden haben. Dafür bürgt uns die Anbildung des ersten Gehirnes, womit allein wir der Entwickelung bis 88 zum denkenden Menschen entgegen gehen. Die dunkle Spur davon, dass dies so gewesen sein muss, ist uns erhalten: die höchste Vervollkommnungsfähigkeit, die, wie die angeführten Beispiele vom Hunde zeigen, an eine Bethätigung freier Intelligenz grenzt, findet sich doch nur auf der Stufe der Wirbelthiere, die ein Gehirn besitzen — am meisten beim Affen, bei dem man zur Erklärung weder den Jahrtausende langen Verkehr mit dem Menschen, noch den treibenden Zwang der äusseren Lebens- bedingungen geltend machen kann: er, d. h. sein Urahne muss seine psychischen Fähigkeiten mitgenommen haben aus dem Ur- lande, so dass uns gerade der Affe die Spur einer Rangordnung, wie sie einst im Schöpfungsmittelpuncte gewesen muss, offenbart. Aber es waren nicht die fertigen Gestalten, die von dort aus- gingen, die Gestalten, wie wir sie heute sehen, sondern Urtypen, wie wir gesagt haben, die hinausgingen, entwickelungsfähig jeder in seiner Art, aber gleichwohl gebannt in die Stufe der allgemeinen Entwickelungsleiter, die sie als unverlöschliches Muttermal mit hinausnahmen in die weite Welt. Bei aller psychischen Entwickelung am günstigen Orte konnte ein Glieder- thier einmal sich nicht mehr in die Reihe der Wirbelthiere:. erheben; aber es konnte sich auf seiner Stufe so hoch erheben, dass man nun ein Recht hat zu fragen, ob der fleissigen und geschickten Ameise nicht ein höherer Rang zustehe, als dem gutmüthigen Schafe oder der dummen Gans. | Und diese Erhebung bezieht sich nicht allein auf die psychischen Fähigkeiten, auf die man freilich mit Recht ge- neigt ist den höheren Werth zu legen; mit der psychischen Erhebung geht, da das Psychische mit dem Physischen einmal zu der wahren Zweieinigkeit verbunden ist, in welcher das eine mit dem andern steigt oder fällt, die physische Vervoll- kommnung — Verfeinerung, möchten wir sagen — Hand in Hand: wer will sagen, dass die einförmigen Flossen der Fische oder auch die plumpen Füsse so mancher Reptilien besser wären, als die feingegliederten Füsse der Insecten? Ist eine Kröte schöner als ein Goldkäfer? oder intelligenter? eine Fledermaus besser organisirt als ein Kolibri? sie müsste es sein, wenn alle Wirbelthiere vollkommener sein sollten, als die Glieder- thiere, alle Säugethiere vollkommener als die Vögel. So begreift man, wie eine Rangordnung unter den heutigen Lebewesen auf Grund grösserer oder geringerer Vollkommenheit herzustellen noch weniger möglich ist, als einen Stammbaum 89 der leiblichen Descendenz. Wir können wieder die Sprach- entwickelung zu Hilfe rufen: Ist die Tschinesische Sprache, die auf der untersten Stufe der Sprachentwickelung, der Isolirung, erstarrt ist, schlechter als die agglutinirenden Sprachen der Wilden? Jedermann wird sagen nein; denn man weiss, dass die Tschinesische Sprache hoch entwickelt ist. Aber schlechter als unsere flectirenden Sprachen? Auch das wird man nicht einmal einräumen: Steinthal (Charakteristik der hauptsäch- lichsten Sprachtypen) setzt sie als Formsprache neben die uns- rigen. Jedes Geschöpf ist in seiner Weise vollkommen, wenn es den Lebensbedingungen, in die es gesetzt ist, möglichst vollkommen entspricht; dazu hat sich die Descendenz heran- gebildet aus dem Urtypus ihres Geschlechts in der langen Zeit ihres Bestehens, wie, das hat uns Darwin erklärt; aber warum dabei die Stufe dieses Urtypus nicht überschritten wurde, das hat er nicht erklärt. Diese Lücke wollten wir ergänzen. XV. Unser Stammbaum. Lebensdauer und Untergang der Arten. Nunmehr können wir unsere Anschauung über die Ent- wickelung der Organismen leicht zusammenfassen. Einen Stamm- baum müssen wir haben, da wir an die Entwickelung glauben; aber wir setzen unseren Stammbaum anders zusammen, als Darwin und ‚Häckel. Wir lesen nicht die heutigen Formen aus allen Ecken und Enden der Erde zusammen zu einer aufsteigenden Linie, die von der Urform organischen Lebens bis hinauf zum Menschen führt; diese Formen sind uns vielmehr umgestaltete, fortgebildete, angepasste Endglieder so vieler Entwickelungsreihen, die Enden so vieler Aeste und Zweige, die sich an den Baum der Entwickelung, der nur an einer Stelle, in dem wahren Schöpfungsmittelpuncte, bis zur Krone, dem Menschen, auswachsen sollte, die einen höher die anderen tiefer angesetzt haben. Der Stamm dieses Baumes setzte sich zusammen aus einer Reihe aufsteigend aus einander entwickelter Urtypen, ‚die aus den heutigen Formen nicht mehr oder nur annähernäa dargestellt werden können; diese heutigen Formen haben sich nicht, wie Darwin und Häckel annehmen müssen, aus und nach einander, 90 sondern neben einander entwickelt aus gemeinsamer Grundlage, die nicht mehr verlassen wurde, seit die Abtrennung von dem Stamm erfolgt war. Wir zeichnen also einen wirklichen Baum — oder wenn wir das Pflanzenreich dazu nehmen, zwei Bäume, die an der Wurzel zusammenhängen, — dessen Stamm in gerader Linie aufsteigt, am unteren Theile, zunächst der Wurzel, die Schleim- thierform, darüber die Gliederthier- und Wirbelthierform, zuletzt der Mensch, die Krone, mit welcher der Stamm endet. An den Stamm setzen sich sodann, wiederum aufsteigend von der Wurzel bis unter die Krone, die Aeste an, die nach allen Seiten weit hinausreichen und überall wieder Zweige entsenden, die sich wieder zu Zweiglein spalten. Die Endpuncte dieser Aeste, Zweige und Zweiglein stellen die heutigen Formen dar, den Endpunct des Stammes der Mensch. Diese Endpuncte stehen nicht mit einander in Verbindung, so wenig, wie die Aepfel, die der Apfel- baum trägt; sie haben nur denselben Saft gesogen, sind aber nicht auseinander hervorgegangen. Die Linie, die bis zum Menschen aufwärts führt, ist also nicht durch die anthropoiden Affen gegangen; als diese ihr heutiges Gepräge erlangten in den fernen Wohnsitzen, zu derselben Zeit wurde der Mensch vielleicht in dem Urlande, oder war eben geworden. Man darf also nicht sagen, dass der Mensch aus einer anthropoiden Affen- art hervorgegangen ist und wiederspricht, indem man dieses leugnet, doch der Thatsache nicht, dass der nächste beim Menschen der Affe ist. Der Baum ist gewachsen, wie heute Bäume wachsen: er hat am Boden mit dem einfachsten Keime begonnen, der zum Stämmlein erstarkt, sich sofort am Boden schon — hierin sich von unseren Bäumen unterscheidend — in Zweige theilte, die zu Aesten wurden, indem sie sich wieder theilten. Hier treten uns die geologischen Urkunden helfend zur Seite. ‚‚Die Palä- ontologie, sagt Zittel (Aus der Urzeit), bietet zahlreiche Fälle, wo eine Menge von Merkmalen, die wir heute auf verschiedene Familien und Gattungen vertheilt sehen, in einer Art oder Gat- tung vereint sind, so dass wir dieselben als unfertige Vorläufer von später kommenden, mehr differenzirten Formen bezeichnen dürfen .... Das Anoplotifrium [eine pferdähnliche Form] lässt sich beim ersten Blick als Hufthier erkennen, allein es ist weder Dickhäuter, noch Wiederkäuer, noch Omnivore in dem Sinne, wie wir diese Ordnungen jetzt präeisiren, sondern es hat 91 von jedem etwas, es ist Alles in Einem, oder mit anderen Worten, es ist ein Prototyp, eine Abstraction der Hufthiere überhaupt“. Mit diesen ‚Prototypen‘ kommen wir unseren Urtypen näher, d. h. zunächst aus den Zweigen zu den Aesten, dann durch diese zu dem Stamme, der aus den heutigen Formen also nicht zusammenzusetzen ist. Der Baum wächst aber auch noch, wie heute Bäume wachsen : die Zweige theilen sich noch immer und der Endpuncte gibt es also noch immer mehr, d. h. es entstehen noch immer neue Arten, wie andererseits auch hier und da ein Zweig, d. h. eine bestehende Art, abstirbt. Aber einmal sind die neuen Zweige abhängig von dem Mutterzweig, d. h. die neuen Arten entfernen sich nicht zu weit von der Stammart; sodann ist auch hier gesorgt, dass der Baum nicht in den Himmel wächst: er hat seinen Gipfelpunct in dem Menschen erreicht, höher hinaus wird er nicht gehen. Denn darüber dürfen wir uns keiner Täuschung mehr hingeben: das höhere Wesen, das dereinst den Menschen in der Würde eines Königs der Schöpfung ablösen könnte, wird nie erscheinen. Dieses höhere Wesen müsste sich nach Darwin’s Auffassung in allmählicher Transmutation aus dem Menschen entwickeln und zwar an jeder beliebigen oder an irgend einer besonders geeigneten Stelle auf dem weiten Erdenrund — und hier könnte kein Mangel sein, da ja der Mensch über die ganze Erde gebreitet ist. Nun stehen uns die Beobachtungen von fünf Jahrtausenden zu Gebote, was sehen wir nun? Wo sind die minimalen Veränderungen, die aus dem Menschen allmählich das höhere Wesen umzeugen sollen? Die Menschheit ist in Rassen auseinandergegangen, aber der ganze Process der Rassenbildung ist, wie wir sagten, nichts weiter als ein Anpassungsprocess an die localen Bedingungen der Existenz, der die Einheit der Art nicht in Frage zu stellen vermocht hat. Die weisse Rasse ist die Rasse der Cultur, der leiblichen und geistigen Veredelung geworden, weil sie sich in den besseren Erdetheilen entwickelt hat; aber gleichwohl hat sie sich trotz allen Fortschrittes der Cultur nicht über die Menschlichkeit erhoben, wie andererseits die niederen Rassen, trotz aller Versunkenheit in Folge der Ver- einzelung und des Druckes der physischen Verhältnisse (wovon unten noch die Rede sein wird), nicht unter das menschliche Niveau herabgedrückt worden sind. Und nun zeigt sich gerade das Gegentheil von dem, was sich zeigen müsste, wenn Darwin Recht behalten sollte: statt “ 92 dass die Spaltung sich fortsetzt, strebt, wie wir sagten, die Menschheit zur Einheit zurück, von der sie ausgegangen ; die Farbigen weichen immer mehr vor dem Europäer und sterben aus, so dass es den Anschein hat, als wenn zuletzt nur noch die Arische Descendenz und ihre Mischlinge die Erde bewohnen sollten. Wo ist nun die Spur, dass aus dem Europäer das neue Wesen sich entwickelte, das uns die Herrschaft der Welt streitig machen sollte? Wir kennen unser eigenes Geschlecht zu genau, um so etwas für möglich zu halten. Die Rassen stellen eine leichte Spaltung der Krone in einem Kranz von Blättern dar, von denen die einen kurz und wenig entwickelt sind, die andern in der Mitte stolz emporstreben und sich wie eine Decke über die anderen breiten. Nirgends aber zeigt sich ein neuer Spross, der über die Krone sich erhebend den Stamm in höhere Regionen zu führen bestimmt wäre, um einst selbst Krone zu werden — wie es doch sein müsste, wenn es mit Darwin’s Auffassung seine Richtigkeit hätte; die Ansätze müssten sichtbar sein, wiederholen wir, und der Hinweis auf die lange Zeit, die nöthig sei, deckt den Schaden nicht zu: denn die uns zur Beobachtung dargebotene Zeit müsste lang genug sein, diese Ansätze zu zeigen, da ja eben ein regelmässiges, unaus- gesetztes Arbeiten der Natur zu den Fundamenten der Darwin’- schen Lehre gehört. Wenn also Darwin am Schlusse seines Werkes über die Entstehung der Arten (in der $. 21 ceitirten Stelle) darauf hinweist, dass ‚alle die künstlich gebauten Lebensformen durch Gesetze hervorgebracht sind, welche noch fort und fort unter uns wirken‘, so stimmen wir mit ihm in Bezug auf die Ge- setzmässigkeit des Processes überein, legen uns aber diese Gesetze anders aus, indem wir der Vererbung und Veränderung und namentlich ihrem gegenseitigen Verhältnisse eine andere Bedeutung geben. Die Ansicht, -dass nach Jahrhunderten oder Jahrtausenden die Erde von ganz neuen Geschöpfen bewohnt sein werde, hat nur eine bedingte Richtigkeit: neue Arten ent- stehen, aber nur auf der alten Grundlage; die unbeschränkte Variation gehört nicht mehr zu unseren Rechten. Die Einzel- entwickelung innerhalb eines beschränkten Kreises setzt sich noch immer fort; die Gesammtentwickelung, die über den Menschen hinaus aufwärts treiben könnte zu höheren Formen, hat eben mit dem Menschen ihren Abschluss, ihren Culminationspunct gefunden, 93 Aber auch so noch bedarf die Aufstellung Darwin’s einer Beschränkung: nicht ewig wird dieser Process, auf unserer Erde wenigstens, sich so weiter spielen; wo ein Anfang war, da wird auch ein Ende sein. Die Astronomie malt uns das Ende unseres Planeten aus: er wird einst, eine ausgetrocknete Masse, zusammenbrechen in Stücke, die sich auf den Sonnen- körper, in die Mutter aller Planeten, gleich diesen selbst zurückstürzen. Lange vorher aber wird alles organische Leben auf der Erde vertilgt sein; die Bedingungen, an welche das Bestehen der Organismen geknüpft ist, werden allmählich schwinden, und so werden die Organismen in der umgekehrten Reihenfolge, wie sie einst auftraten, wieder abtreten vom Schauplatze, voran der Mensch, der die höchsten Existenz- bedingungen voraussetzt, danach die höheren Thiere und so fort bis zum Moner hinab, Wir haben keine Gewissheit, wie über den Anfang so über das Ende, da wir jenen nicht gesehen haben, dieses nicht sehen werden; aber consequent ist diese Anschauung und den uns zugänglichen Erfahrungen nicht widersprechend — und darum glaublich. Sie benimmt uns die Seligkeit des Traumes, der uns bei aller Veränderung im Einzelnen doch die Aussicht auf ewige Dauer des Erdganzen lässt ; sie schliesst aber auch die andere Forderung ein, dass dieser Abnehmungsprocess ebenso auf natürlichem Wege, also langsam und gleichmässig verlaufen wird, wie das Wachsthum verlaufen ist. Die Kraft der Variirung, nahmen wir an, wird immer schwächer, die Beharrungstendenz, die in ihrem Grunde Er- starrung ist, immer stärker. Dafür gibt der Umstand Zeugniss, dessen wir Erwähnung thaten, dass die Arten sich heute eigen- sinnig gegeneinander absperren und dass, selbst wo eine Kreuzung möglich ist, die erzeugten Bastarde ihr Geschlecht nicht fort- zupflänzen vermögen. Das muss einst anders gewesen sein, sonst wäre der heutige Formenreichthum nie zu Stande gekommen. Je näher nach dem Stamme unseres Baumes hin, d. h. je weniger entwickelt. und damit befestigt die abgezweigten Formen waren, desto leichter muss die Kreuzung gewesen sein — nur so lässt sich die Menge der Formen erklären, die, wie Hirsch und Reh, sich so nahe zu stehen scheinen und doch sich nicht fruchtbar zu vermischen vermögen. Und das heisst denn so viel, als: je weiter zurück in der Zeit, desto ungehemmter die Vermischung, je weiter vorwärts, desto mehr schwindet die Möglichkeit der 94 Vermischung — und im Hintergrunde steht die Zeit, wo die Art, der Endpunct eines weit vom Stamme abgekommenen Zweigleins, nur auf sich angewiesen, sich allmählich vollständig ausgibt, d. h. abstirbt. Also nicht als wenn wir behaupteten, ehemals hätten sich Hirsch und Reh fruchtbar vermischen können, sondern wir sprechen von einer Zeit, wo es noch keinen Hirsch und kein Reh gab, sondern nur Sammelformen von unbestimmtem Gepräge (oben S. 90), aus deren Descendenz sich erst die be- stimmt geprägten und auf ihre Lebensbedingungen angepassten Arten entwickelt haben. Dass die Erstarrung zunimmt, wird auch durch andere Beobachtungen wahrscheinlich gemacht. „Enge Inzucht, sagt Darwin, vermindert Kraft und Fruchtbarkeit, während bei Thieren wie bei Pflanzen Kreuzung zwischen verschiedenen Varietäten, oder zwischen Individuen einer und derselben Varietät, aber verschiedener Linien, der Nachkommenschaft Stärke und Fruchtbarkeit verleiht.“ Jeder kennt die schlimmen Folgen der Blutschande; aber den ersten Menschen, die auf einen engen Kreis beschränkt waren, hat die Blutschande keinen Schaden gebracht. Die Natur perhorreseirt Selbstbefruchtung ; selbst die Pflanzen, die hermaphroditisch gebaut sind, suchen ihren Samen auf fremde Individuen derselben Art zu übertragen. Die Natur sucht also Mischung des Blutes, und diese ist heute nur zwischen Individuen derselben Art möglich; zwischen verschiedenen, wenn auch nahe stehenden Arten nur in sehr beschränkten Grenzen. Indem sich aber innerhalb derselben Art in langen Fristen, bei stets gleichbleibenden äusseren Verhältnissen, stets dasselbe Blut mischt, wird dies immer gleichartiger, die Zeugung wird zu einer engen Inzucht, deren Folgen, Erschlaffung der Art und endlich Unfähigkeit zur Fortzeugung, nicht ausbleiben können. So konnte man zu der Behauptung kommen , die Darwin anführt, ohne eine Begründung dafür angeben zu können: dass „Arten geradeso wie Individuen eine regelmässige Lebensdauer haben“, Das ist ein grosser Gedanke, dessen Bedeutung wir ganz erfassen müssen, wenn wir uns über manche Schwierig- keiten hinweghelfen wollen. Es ist dasselbe Gesetz, das für die Erde im Ganzen wie für jede Theilexistenz, für die Art wie für die einzelnen Individuen gilt: auf die Jugend, die Zeit des Wachsens und Werdens, folgt das Mannesalter, die Ent- faltung der höchsten Kraft; dann beginnt der Rückgang bis zum allmählichen Verfall, dem Greisenalter, bis der Tod endlich er die faulende Frucht verschlingt. Hier unterstützt uns wieder der Befund der geologischen Urkunden: ,‚,Die Paläontologie, sagt Zittel, lehrt uns, dass nicht allein dem Individuum, son- dern auch der Art, ja der Gattung, Familie, Ordnung etc. eine gewisse Lebensdauer zukommt, dass die Art, Gattung etc. ebenso eine Kindheit und Jugend, ein Mannes- und Greisenalter durch- läuft, wie das Individuum, und dass sie nach allmählicher Er- schöpfung ihrer Lebenskraft unerbittlich der Vernichtung anheim fällt.“ Gerade diejenigen Gattungen, die in der einen geo- logischen Formation mit wenigen Arten hervortreten und in der folgenden sich‘in zahlreiche Arten spalten, nehmen auch in der nächsten Formation in der Regel ebenso rasch wieder ab und verschwinden am frühesten — wohingegen die bescheiden auftretenden Gattungen in der Regel auch eine nachhaltigere Lebenskraft entwickeln. Die ungeheuerlichen Thiergestalten der Vorwelt, das Mammut, Rhinoceros etc. sind ausgestorben, wir graben erstaunt die Reste ihrer Knochen aus der Erde. Es war ein Ueberschuss der thierischen Production, der mit dem Auftreten des Menschen zu Gunsten der bescheideneren Formen der lebenden Gegenbilder derselben Linien, Elephant, Nashorn etc. zurückweichen musste. Was hat sie zu Fall gebracht? der Mensch, der ihnen zu Leibe ging, wie er heute dem Elephanten das Leben sauer macht? Das kann man mit Recht sagen. Aber so viele Thiere erhalten sich trotz der Verfolgung von Seiten des Menschen, ja sie machen sich, wie die grossen Raubthiere, dem Menachen furchtbar. Man kann ferner anführen, dass eben die Körpergrösse, die ein bedeutendes Nahrungsquantum bedingt, ein Hinderniss für Ver- breitung und Vermehrung ist, da kleine Thiere leichter ihre Nahrung finden, sich auch leichter vor ihren Feinden verbergen können. Auch das ist richtig. Aber warum hat denn kleine, unscheinbare, in ihren Existenzbedingungen nicht wählerische Thiere, wie die Trilobiten (die Vorläufer unserer Krebse), die einst die Primordialmeere so sehr füllten, dass in Böhmen unter den 40 bekannten Versteinerungen nicht weniger als 27 Arten zu den Trilobiten gehören, dasselbe Schicksal ge- troffen? Wir haben zunächst keine andere Antwort, als den Hinweis auf die Thatsachen, und aus diesen schliessen wir, dass für jede Art endlich die letzte Stunde geschlagen haben wird. Und da nun einmal in der Naturwissenschaft aller ge- heimnissvolle Zauber verpönt sein muss, so fragen wir nach 96 den natürlichen Gründen; und diese können wir nur darin finden, dass für jede Art endlich die Grenze kommt, wo sie sich aus- gegeben, d. h. die Möglichkeit der Theilung und Varirung — und dies heisst hier der Selbsterhaltung, in vollem Masse er- schöpft hat. Die Zweiglein kommen endlich so weit vom Stamme ab, dass sie nicht weiter können; sie müssen absterben, weil der Lebenssaft, den sie vom Stamme aus mitgeführt, ihnen aus- gegangen ist, und zwar um so früher absterben, je weniger günstig ihre Lebensbedingungen sind. Nur so können wir einer Erklärung des merkwürdigen Umstandes näher kommen, dass so hoch organisirte Geschöpfe, wie Mammut, Rhinoceros etc. so früh ausgestorben sind, während die viel schwächeren Gegen- bilder der heutigen Lebewelt, die für den Kampf un das Da- sein gewiss nicht besser ausgerüstet sind, bis heute ansgedauert haben. Diese Gegenbilder sind nicht, wie man meinen könnte, Weiterbildungen der ausgestorbenen Riesenarten, der heutige Elephant z. B. nicht ein Nachkomme des vorweltlichen Mammut, sondern eher umgekehrt: der Elephant ist eine dem Urtypus näher gebliebene Form, während das Mammuth ein weiter hinausgestreckter Zweig ist, der eben deshalb, weil er sich weiter von dem Aste, d. h. von diesem Urtypus entfernt hatte, auch früher abgestorben ist, Und so können wir auch, ohne Prophet zu sein, aus der heutigen Welt der Organismen diejenigen auslesen, die ihrem Untergange nahe gekommen sind. ‚Es würde keine besondere Schwierigkeit machen, sagt Zittel, unsere heutige Schöpfung nach ihrer Lebensfähigkeit in verschiedene Gruppen zu zerlegen, deren Zukunft wir mit einiger Wahrscheinlichkeit voraussagen könnten. Wir würden den alten Geschlechtern, die sich auf ahnenreiche Stammbäume stützen, einen früheren Untergang prophezeien, als jungen, erst in der Tertiär- oder Diluvialzeit entstandenen und im kräftigen Aufstreben begriffenen Familien... Wäre es nöthig, Beispiele anzuführen, so könnten als dem baldigen Untergang. geweiht unter den Pflanzen die Cycadeen, Araucarien, Lycopodiaceen, unter den niederen Thieren die Crinoideen, Brachiopoden und vierkiemigen Cephalopoden genannt werden. Unter den Säugethieren sehen wir in den Beutelthieren, in Tapir, Rhinoceros, Elephant und Pferd Beispiele von ab- sterbenden Stämmen, während die Wiederkäuer, die Affen, und vor allem der Mensch noch im Aufblühen begriffen sind“ — nicht die anthropoiden Affen, müssen wir jedoch hinzufügen, die 97 sich zu den Atten verhalten, wie das Mammut zu dem Elephanten. Hätte der Mensch sich nicht über die Erde gebreitet, hätte er frühzeitig sich in einem gleichartigen Klima festgesetzt, so stände es nicht besser mit ihm als mit den anthropoiden Affen oder mit den Elephanten, Giraffen, Straussen etc., d. h. er hätte sein Ende unmittelbar vor sich. Aber er musste eben Mensch sein, um sich über die ganze Erde breiten und auf der ganzen Erde sich erhalten zu können, XV. Jugend, Mannesalter und Greisenalter unseres Planeten, Anfang, Fortgang und Ende unseres Geschlechtes, Der Untergang der Arten und auch der grösseren Gruppen, Gattungen, Familien ete., das ist was uns die Erfahrung lehrt. Aber wie kommen wir von da zum Untergang aller Arten, der ganzen organischen Schöpfung? so wird man fragen und darauf hinweisen, dass an die Stelle der ausgestorbenen Arten ja immer neue getreten seien; man wird geneigt sein anzunehmen, dass dies auch immer so weiter gehen werde. Auch darüber belehrt uns die Erfahrung, dass eine ausgestorbene Art niemals wieder erscheint auf dem Schauplatz — so wenig wie eine aus- gestorbene Sprache je wieder, es sei denn künstlich, in’s Leben gerufen werden kann. Aber geht denn der Process der Neu- bildung nicht ewig weiter? Nach Darwin wohl, Aber hier gebietet uns die astronomische Wissenschaft Halt, die uns hin- weist. auf das Ende unseres Planeten, auf die Zeit, wo er dem lange geleisteten Dienst versagt und nicht mehr zur Erhaltung der vorhandenen, geschweige denn zur Erzeugung neuer organischer Formen im Stande sein wird. Wir mussten uns bereits über- zeugen, dass die aufsteigende Linie der Entwickelung mit dem Menschen ihr Ende erreicht hat, dass der Stamm seine Krone bereits trägt und nur die Zweige und Aeste noch in die Breite sich zu dehnen bestrebt sind; soll also der Mensch unbekümmert um die geringfügigen Veränderungen, die in der Schöpfung um ihn her vorgehen, ewig die Erde bewohnen und beherrschen ? Niemand, der unseren Auseinandersetzungen gefolgt ist, wird diese Kuhl, Descendenzlehre. 7 98 Frage mit Ja zu beantworten wagen. Die Nothwendigkeit, dass die eine Art nach vollendeter Laufbahn endlich erstirbt, schliesst die andere Nothwendigkeit in sich, dass zuletzt die Reihe an jede Art kommen wird; die Fortzeugung, die auf die Urzeugung gefolgt ist, wird endlich ganz erlöschen, auch für unseren Planeten im Ganzen kommt, wie für jede Theilexistenz auf demselben, endlich der letzte Tag. Ja wir sind nicht ganz rathlos, wenn wir für unsere Erde die Zeit der Jugend, das Mannesalter und das Greisenalter mit einigen Linien markiren sollen. Die Jugendzeit reicht von der Bildung unseres Erdkörpers und der Erzeugung des ersten organischen Lebens bis zur Gewinnung des Menschen; die Dauer unseres Geschlechts auf der Erde bezeichnet das Mannesalter ; es folgt das Greisenalter, d. h. das allmähliche Absterben des organischen Lebens, und der Schluss ist der Tod, d. h. der Zerfall des Planeten. Und wiederum sind wir nicht ganz rath- los, wenn wir das Stadium der Entwicekelung, in welchem sich das Menschengeschlecht derzeit befindet, angeben sollen: Es war die Jugendzeit unseres Geschlechtes, als am Hindu-Kusch sich die erste Menschheit entwickelte und von dort sich zu breiten begann über die Erde, und diese Jugend reichte, entsprechend dem Entwieklungsgange der Organismen, bis zu der Zeit, wo dort in der Urheimat die Sprache sich bis zur höchsten Stufe, der Flexion, emporgebildet hatte. Wellenartig nach allen Seiten lösten sich nacheinander die Geschlechter ab, um in ihrer De- scendenz die Erde Schritt vor Schritt zu bevölkern, die ältesten mit der isolirenden Sprache — deren Rest ist heute Tschina und Hinterindien, darüber die folgenden mit der Agglutination — und deren Descendenz gelangte bis an die Enden der Erde; zuletzt die Geschlechter, die bereits die Flexion aus der Urheimat mitnahmen, die Urväter der Aramäer (Semiten), die sich in Vorderasien ausbreiteten, und die Arier (Indogermanen), die darüber hin Europa erreichten und heute von dort aus in ihren Nachkommen die Welt umspannen. Die Asier und Aramäer, sowie sie die höchste Stufe der Sprachentwickelung erreicht haben, behaupten auch den Vorrang unter den Rassen: sie machen im Wesentlichen die weisse Rasse aus; die niederen Sprachstufen bezeichnen zugleich — mit geringen, leicht zu erklärenden Aus- nahmen — die niederen Rassen, die Farbigen (vgl. über alles dieses Anfänge des Menschengeschlechts II S. 196 ff.). So lagerte sich und lagert sich noch immer die menschliche Bewohnerschaft schichtenweise, den geologischen Schichten der Erdrinde entsprechend, auf der Erde übereinander, die einzelnen Schichten erkennbar an der Sprache, die nach dem dreifachen Rahmen der Isolirung, Agglutination und Flexion überall scharf geschieden ist und innerhalb dieses Rahmens die bunte Mannig- faltigkeit der Sprachen entwickelte. Die Stämme und Völker haben sich übereinandergeschoben, die jüngeren Ankömmlinge immer die ältere Bewohnerschaft verdrängend oder aufsaugend, wie wir es heute noch immer bei den Farbigen sehen. Ver- wahrten sich die Sprachenreste im Boden wie die Versteinerungen, so würden wir genau die Zusammensetzung der geologischen Urkunden in den ausgestorbenen Sprachen wiedererkennen; aber die Sprache verschwindet mit dem Volk, das sie gesprochen, und nur hie und da, wo man es, wie in dem alten Aegypten, zu einer Literatur gebracht hat, reden noch die verschollenen Geschlechter zu uns. Die isolirende Sprachform kann sich nicht weit im Kreise um das Urland- gebreitet haben; ihre Spur ist bis auf Tschina, das dem Urlande dicht zur Seite liegt und sich gleich von Anbeginn gegen den Strom, der nach Westen ging, abschloss, vom Erdboden vertilgt. Die agglutinirende Sprach- form dagegen ist, wie wir sagten, über die Erde gebreitet, wir dürfen annehmen, dass sie einst überall da gesprochen wurde, wo heute die Flexion herrscht: die Vorfahren auf unserem Boden, die alten Höhlenbewohner, redeten unzweifelhaft eine agglutinirende Sprache. Die Spur der agglutinirenden Sprachform, die einst in ganz Europa verbreitet war, ist ‚heute geschwunden bis auf geringe Reste: die Baskische Sprache in den Pyrenäen, die Finnische im Norden, dazu die Sprachen der später eingewan- derten Ungarn und Türken. Stände es nun historisch fest, dass in irgend einem Lande ein Urvolk mit isolirender Sprache gesessen, dass darüber ein Volk mit agglutinirender Sprache, zuletzt eines mit flectirender Sprache gekommen sei, und wären uns die Reste dieser verschiedenen Idiome in alten Denkmälern erhalten, so hätten wir genau dasselbe Verhältniss wie bei den geologischen Urkunden: einmal läge in der Regel die höhere Sprachform über der niederen, die höchste über der höheren; aber Ausnahmen wären stets möglich, wie das Beispiel der Türken zeigt, wo eine agglutinirende Sprache über die frühere flectirende, das alte Griechische, gekommen — eben wie in den geologischen Urkunden die höher organisirte Form nicht immer über der auf der niederen Stufe stehenden erscheint. Sodann 2. ir würde uns die höhere Form auf der niederen, die höchste auf der höheren wohl die Stufenleiter der Entwickelung der Sprache überhaupt offenbaren, ohne uns jedoch die Anknüpfung der gefundenen Sprachenreste aneinander und ihre Herleitung aus- einander möglich zu machen; die Sprachen in concreto ständen ebenso unvermittelt übereinander, wie die paläontologischen Reste in den geologischen Urkunden — mit geringen Ausnahmen, wo wir, wie bei den Romanischen Sprachen, den Uebergang historisch bebachten können. Zu dem Stamme, der aus der Isolirung in die Agglutination, aus dieser in die Flexion trieb, gelangen wir nicht zurück; dieser Stamm der Sprachentwickelung ist uns nicht erreichbar, eben wie auch der Stamm der orga- nischen Entwickelung; die paläontologischen Sprachenreste können uns gerade so viel und so wenig zu einem Stammbaum der Sprachen verhelfen, wie die geologischen Urkunden zu einem Stammbaume der Organismen. Mit der Sprachentwickelung bis zum fertigen Ausbau des Gerüstes, das nun für alle Zeiten ausreichen sollte, war die Jugend des Menschengeschlechtes abgeschlossen. Es beginnt das Mannesalter, die Zeit der entwickelten Cultur, des geistigen und leiblichen Fortschrittes, an dem die Völker der Reihe nach arbeiteten, die Zeit der Thaten, die Geschichte. Die Menschheit spaltete sich in den erwanderten Wohnsitzen wie in Rassen so in Stämme und Völker, es kam über die älteste Schicht die zweite und dritte, so wie die Wellen aus dem Mutterschoosse der Menschheit ausgegangen waren, immer so, dass die folgende Schicht, die mit höherer Vorbildung und besserem Rüstzeug — die höher entwickelte Sprache ist dafür Zeugniss — vom Ur- lande ausgegangen war, den vorhergehenden älteren überlegen war, sie unterdrückte, oder ihnen in der Vermischung das eigene Zeichen aufprägte. So begann in der uralten Zeit schon der Untergang der Farbigen, der bis heute sein Ende nicht erreicht hat, vielmehr heute, seit die neuen Welttheile entdeckt sind, einen grösseren Umfang angenommen hat. In uralter Zeit schon, die von dem Lichte der Geschichte nicht mehr erhellt ist, erlag in Vorderasien ein dunkles Geschlecht mit agglutinirender Sprache dem jüngeren Geschlecht der Aramäer: die Babylonier und Assyrier, mit denen wir gewohnt sind die Geschichte zu beginmen, waren bereits jugendliche Völkerindi- viduen, die auf dem Boden der weichenden dunklen Gestalten erwachsen waren. In Indien und Persien drangen die ersten 101 Arischen Geschlechter ein, ebenfalls einen dunklen Menschen- schlag von niederer Cultur verdrängend, und andere Arische Geschlechter erreichten Europa, wo sie dem finstern Geschlechte der Höhlenbewohner und den schon helleren Zeiten der Pfahl- bauten ein Ende bereiteten. Die Cultur, d.h. diejenige geistige Erhebung des Menschengeschlechtes, die allein dieses Namens werth ist, nahm ihren Anfang und Fortgang bei der weissen Rasse, die darum allein auch eine Geschichte hat. Die Farbigen, deren Urväter unreif abgegangen waren aus der Urheimat, ver- fielen mehr oder minder dem physischen Drucke ihrer Umgebung und der steigenden Vereinzelung und Absonderung von dem lebendigen Leibe. der Menschheit, bei welchem sich die Cultur entwickelte; sie vermochten zum grossen Theil‘ nicht einmal die Höhe zu behaupten, welche ihre Urväter bereits in der Urheimat erlangt hatten, wofür wiederum ihre wohlentwickelte, wenn auch hier und da wortarme Sprache das einzige, aber auch vollgültige Zeugniss ist (Anfänge des Menschengeschlechts II $. 64). Die Geschichte der menschlichen Cultur, oder- was im "Wesentlichen dasselbe ist, die Geschichte der weissen Rasse, umfasst das Mannesalter der Menschheit. Und diese Geschichte nimmt ihren Weg von dem Urlande am Hindu-Kusch westwärts über Vorderasien, von da über das Mittelmeer nach dem Süden Eu- ropas, von wo sie abschwenkt nach dem Norden. Die Namen der alten Reiche am Euphrat, am Ganges und am Nil, dann Griechenland, Rom, das alte Deutschland, Frankreich, England, das neue Deutschland sind ebenso viele Stationen auf diesem langen Entwickelungswege der Menschheit. Nun tritt uns hier die bemerkenswerthe Erscheinung ent- gegen, dass die Völker in derselben Reihenfolge, wie sie in die Cultur eingetreten sind, von der steigenden Cultur langsam verzehrt und aufgerieben worden: es liegt in den Bedingungen der Cultur — die genauen Nachweise s. Anfänge des Menschen- geschlechts II Seite 267 ff. —, dass die geistige Arbeit nur auf Kosten des leiblichen Gedeihens verrichtet werden kann. Nach der Reihe treten die Völker ein in die Cultur, die sie von ihren Nachbarn und Vorgängern überkommen haben, sie ringen mit frischen Kräften nach den uralten Zielen der Menschheit, fördern und mehren jedes in seiner Weise die Erkenntniss, um dann endlich erschlafft zu Boden zu sinken und die Arbeit dem . wiederum mit frischen Kräften eintretenden Nachbar zu über- lassen. So durchlebte jedes einzelne Volk seine Jugend — es 102 war die Zeit des jugendlichen Emporstrebens, nachdem die Wanderung beendet und der feste Wohnsitz gegründet war; sein Mannesalter — die Zeit kräftigen geistigen Schaffens, das mit. der politischen Blüthe Hand in Hand ging; sein Greisen- alter — das Abblühen und langsame Hinwelken, indem die Kräfte schwanden von innen heraus und damit der äusseren Vergewaltigung durch den mächtigen Concurrenten der Boden seebnet wurde. Wo sind heute die mächtigen Reiche am Euphrat und im Nilthal, die für die Ewigkeit gebaut zu sein schienen? wo das in geistiger Arbeit rüstig schaffende Völkchen der Griechen? wo das Weltreich der wuchtigen Römer, denen keine Macht der Erde zu trotzen im Stande .war? Sie sind alle hingestorben, vergangen als wären sie nie gewesen, und man würde nichts mehr von ihnen zu erzählen wissen, wenn nicht der Ruhm des geistigen Schaffens weit über die Grenzen eines irdischen Daseins dauerte. Die alte Welt — wir nennen sie so, obwohl sie selbst eine jüngere war den älteren Ver- hältnissen gegenüber, auf welche sie gefolgt ist — wurde mit dem Sturze des Römerreichs begraben; es begann eine neue, aufgebaut auf den frischen Lebenselementen, welche die aus ihren Wäldern hervorbrechenden Germanischen Stämme in die modernden Verhältnisse brachten. Germanien trat bestimmend in den Gang der Weltgeschichte ein, es wurde das Herz Eu- ropas, sowie es dies heute noch, oder vielmehr wieder ist: das alte Deutsche Reich, Süddeutschland ist zurückgetreten, die Kraft wohnt heute im Norden. So ging und geht noch die Reihe um bei den Arischen Zweigen in Europa, dem Germanischen gehört die Gegenwart, dem noch unverbrauchten Slavischen die Zukunft Europas. Und wenn der letzte Zweig sich ausgegeben haben wird, wenn Europa der allgemeinen Stagnation verfallen sein wird, wie der Orient schon seit Jahrhunderten, was dann? Wird dann, nachdem sich die drei Erdtheile der alten Welt abgerungen, in der neuen Welt eine neue Zeit beginnen, die wir in Wahrheit die neue nennen können? Wir wissen es nicht, aber das wissen wir, dass dann auch für diese neue Zeit endlich der Tag kommen wird, wo sie zu den alten gelegt wird, und dass auch dem neuen Welttheil ‚nicht anders angerichtet ist, als wie den anderen allen.‘ Es mag noch eine lange Zeit währen, aber das wird das endliche Loos sein; Tschina, das uralte Reich der Mitte, das ohne Zweifel zuerst begonnen, zeigt uns unsere Zukunft, — wie der Mond uns die planetarische Zukunft der Erde offen- bart. Tschina und so die anderen Reiche alle der Reihe nach haben längst aufgehört eine Geschichte zu haben, höchstens nur eine passive, eine Leidensgeschichte —- das wird das Loos der letzten Menschheit sein. Oder erwarten wir, dass der Process, nachdem er im Westen Americas, am Grossen Ocean, sein Ende erreicht, jenseits dieses Oceans, in Tschina wieder beginnt? Die Todten stehen nicht wieder auf und der Greis wird niemals mehr zum Jüngling. Die Verjüngung der Völker, von der man so oft sprechen hört, kann nur kommen durch Vermischung mit einem frischen, unverbrauchten Volk, das neues Blut in die Adern der entnervten Geschlechter bringt. Nur auf Grund dieser Erneuerung durch das Germanische Blut haben die Romanischen Länder eine neue Blüthe gesehen, die für Spanien längst, für Italien ebenfalls vorüber ist, und für Frankreich jetzt eben zur Neige geht. Woher soll heute noch das frische Blut, woher der jugendliche Stamm kommen, nachdem die Periode der Wander- ungen längst vorbei ist und die Völker und Stämme längst auf einen Kreis gebannt sind? Heute zieht kein frisches Geschlecht mehr vom Hindu-Kusch ab. Allerwärts sind die Völker an den Boden gebannt und gezwungen zu kreisen in demselben Cirkel. Dasselbe Blut kreist in den Adern, es gleicht sich immer mehr - an, die Zeugung muss zuletzt einer Selbstbefruchtung gleich- kommen, welche die Natur perhorrescirt (oben S. 94). Es ist das sicherste Zeichen, dass ein Volk seinem Greisenalter zugeht, wenn seine Population, statt zuzunehmen, stockt oder gar ab- nimmt, wie wir gerade jetzt an Frankreich sehen. (Anfänge des Menschengeschlechts II. S. 275). Und wiederum auch be- ruht gerade auf dieser Vermehrung der Population auf engem Raume, mit welcher das Anwachsen der Bedürfnisse und An- forderungen bei steigender Cultur Hand in Hand. geht, die ganze Misere unserer socialen Verhältnisse: der Mutter Erde wird mehr zugemuthet als sie leisten kann. Die Millionen, für die sie kein Brod mehr hat, auf einen anderen Boden ver- pflanzen, wo noch Raum und Nahrung ist, das wäre die nach- haltigste Hilfe gegen den Socialismus, der unsere gesellschaft- liche Ordnung bedroht. Hier gestatte man eine kleine Digression, die sich jedoch nicht zu weit von der Sache entfernen soll. Die beiden grossen Grundgesetze der Natur, Veränderung und Vererbung, beherrschen, wie wir sie bereits ($. 73) in der Sprachentwickelung wirken 104 sahen, die Entwickelung der Menschheit überhaupt, die Bildung der Nationen. Die Veränderlichkeit sucht in dem entstehenden Menschenverein stets ein Neues dem Alten zuzufügen; dieses Neue geht aus von einzelnen begabten Individuen, den ‚Genies‘, und die Menge findet es schön und ahmt es nach wie eine neue Mode. Die Vererbung hält das Gewonnene fest und über- liefert es den kommenden Geschlechtern, bei denen es zum festen Besitz und zum Ausgangspunct für weitere Entwickelung wird. So sind, wie die neuen Arten im Pflanzen- und Thier- reich, die eigenthümlichen Nationalcharaktere entstanden, welche aus der ursprünglich gleichartigen Menschheit so viele wohl- gesonderte Glieder gemacht haben. Wo die Vererbung mächtiger zu wirken beginnt, als die Veränderung, da ist, wie im Reiche der Natur, die Erstarrung im Anzuge, die zum geistigen Tode und zugleich zum physischen Verfall führt: die geistige Arbeit nähert sich mehr und mehr der Form des Instinctes bei den Thieren (oben $. 82), d. h. sie sinkt immer mehr hinab zu schematischer Gewohnheit. Dies ist überwiegend der Fall bei den Farbigen, und auch im Bereiche der weissen Rasse zeigen sich bemerkenswerthe Unterschiede. Es ist ein bekanntes Kenn- zeichen der Wilden, dass bei ihnen einer aussieht wie der andere, und so auch denkt und spricht wie der andere — also gleicher Bildungsstand , wie gleiche Rassenmerkmale. Diese Gleichheit ist eben das Zeichen ihrer Erstarrung: sie haben, abgeschnitten von dem grossen Leibe der Menschheit, in welchem sich die Cultur entwickelte, und von Hause aus der weissen Rasse nicht ebenbürtig, das Vermögen der Veränderung ver- loren, sie verhalten sich darum der Cultur gegenüber , die ihnen jetzt von dem Europäer zugebracht wird, ablehnend (Anfänge des Menschengeschlechts II. S. 222), und das ist der wesentlichste Grund ihres Unterganges. Ganz ähnlich ist das Verhältniss der abgelebten Nationen des Orients: man lasse sich nicht täuschen von dem Gerede über das neuerwachte Leben. das z. B. den Japanesen die Europäische Cultur ge- bracht haben soll; es ist eine blendende Tünche, die der erste kräftige Regen wieder abspült. Jene abgelebten Nationen zeigen uns unsere Zukunft, aber nicht unser Ende, da sie ja ihre Existenz, wie kläglich dieselbe auch ist, noch immer fristen. Dieses Ende, so scheint es, muss von aussen kommen. Erscheinen die äusseren Ursachen, welche die Astronomie uns prophezeit, ist die Erde soweit gediehen in 105 ihrem Alterungsprocess — und dies wird, so dürfen wir an- nehmen, in gleichem Schritt erfolgen — dann wird die über- reife Frucht von selbst vom Baume fallen, So gewiss wie für unseren Erdball endlich die Zeit kommt, wo „aller Tage Abend‘ ist, so gewiss wird einst, und zwar lange vor dieser Zeit, der letzte Mensch sterben und keiner mehr sein, der dies aufzeichnet, wie wir es aufzeichnen, wenn der letzte eines farbigen Stammes das Zeitliche segnet. Aber dieser Untergang der Mensch- heit wird anders aussehen, als wir gewöhnlich glauben: wir stellen uns gewöhnlich vor, dass ein gewaltsames Ereigniss den „Jüngsten Tag‘‘ herbeiführt, etwa ein Komet, der mit der Erde zusammenstösst und diese mit allem Lebenden auf derselben mit einem Schlag zertrümmert. Davor wollen wir uns nicht mehr fürchten. Die gütige Natur hat dafür gesorgt, dass selbst im Tode alles gesetzmässig verläuft, und dass der, welcher zum Sterben kommt — wenn er anders eines natürlichen Todes, d. h. nach Ablauf der gesetzmässigen Lebensfrist an Alters- schwäche stirbt — bereits aufgelöst und zum Tode reif ist. Er stirbt ohne Schmerzen und — was der grössere Vorzug ist — ohne Bewusstsein. Sein Geist war längst geschwächt, er vegetirte nur noch, und dem Tode bleibt nichts zu thun als ‘die bereits ersterbende Flamme völlig zu verlöschen. Und ebenso wird, so dürfen wir annehmen, das Bild der aussterben- .en Menschheit aussehen. Noch lebt unser Geschlecht in seinem Mannesalter, noch hat sich nicht die letzte Nation an der ewigen Aufgabe der Menschheit erschöpft. Aber das Greisenalter steht vor der Thür; denn die längere Reihe der Nationen ist bereits zusammen- gebrochen. Der allgemeinen Stagnation wird die Sterilität und der Verwesungsprocess folgen, wie auf das Greisenalter der Tod. Und dann wird das Greisenalter unseres Planeten be- ginnen. Dem Menschen werden die übrigen Organismen folgen, Sie waren vor ihm da, er bedurfte ihrer; nun sind sie über- flüssig und verschwinden in derselben Reihenfolge, wie sie auf- getreten, die höher organisirten zuerst, die niedrigsten werden am längsten halten. Dann hat die Erde selbst ihren Dienst gethan; mag sie noch eine Zeit lang als ‚‚rudis indigestaque moles‘“ die alte Bahn suchen, auch sie wird reif werden zum Untergang: ‚‚Was besteht, ist werth, dass es zu Grunde geht.‘ Dieses Ziel muss die Descendenzlehre, wenn sie consequent sein will, in’s Auge fassen; da sie einmal von vornherein den 106 Weg der Hypothese betreten hat, so muss sie, wie sie uns zu dem Anfang zurückführt, so uns auch das Ende zeigen. In Bezug auf den Anfang hat Haeckel nachgeholt, was Darwin versäumt hat; warum hat er nicht das Ende zu denken gewagt? Wir lassen vorläufig die Hypothese der Naturwissenschaft bei Seite, die uns sagt, dass Anfang und Ende, Werden und Ver- gehen nichts ist als ein ewiger Kreislauf, dass die Sonne, wenn sie die Planeten wieder in sich aufgenommen, von neuem ein Planetensystem, in der alten Weise, erzeugen müsse. Unsere Erde ist für uns eine Einheit, und hat als solche, wie einen Anfang so ein Ende — und so alles, was auf ihr ist. Dieses Ende an den Anfang zu knüpfen, das ist das Ziel der Descendenz- lehre, die wahre Einheits-Anschauung, der wahre Monismus, xXVI. Der Mensch ist das Ziel der Schöpfung. Der „anthropo- centrische Irrthum‘“. Der Mensch ist das Ziel der Schöpfung, über welche dieselbe nicht hinausgekommen ist, und dem gegenüber die übrige Schöpfung fast wie die Vorbereitung zur Ausführung erscheint — so lautete ein Satz, den wir an anderer Stelle (Anfänge des Menschengeschlechts I. S. 17) ausgesprochen haben, und den wir uns nun anschicken auf Grund der vorhergehenden Betrachtungen zu beleuchten. Die Schöpfung — wir meinen damit selbstverständlich die irdische Schöpfung. Denn, was jenseits unserer Erdatmosphäre ist, ob und wie sich dort der Entwickelungs- process des Lebendigen gestaltet oder gestalten wird, darüber haben wir nur Muthmassungen, keine Gewissheit. Und Schöpfung ist uns, wie wir sagten, gleichbedeutend mit Entwickelung. Also der Mensch ist das Ziel der irdischen Entwickelung. Er ist zunächst der Endpunct der irdischen Entwickelung und das letzte Glied der Urzeugung, in dem weiteren Sinne verstanden, die bei ihm Halt gemacht hat, der Höhepunct in der aufsteigenden Linie ungehemmter Variation, dem das Absteigen folgt, der Punct, wo Werden und Vergehen, die beiden Gegen- sätze, die sich zum Begriff der Entwickelung vereinen, sich berühren. Mit dem Menschen war der letzte Trumpf ausgespielt; der erste Mensch hatte das Recht, von dem Untergang der Welt zu träumen. Die Darwin’sche Auffassung der Descendenzlehre, die eine unbegrenzte Variation, d. h. also auch eine unbegrenzte 107 Weiterzeugung neuer Formen über den Menschen hinaus, an- nimmt, ist uns, wie wir gesehen, den Beweis schuldig geblieben ; sie vermag die Stockung, die mit der Entwickelung des Menschen eingetreten ist, nicht zu erklären — und darum vermeiden es die Vertreter dieser Anschauung wohlweislich, uns hinzuweisen auf die Ablösung, die nach dem Menschen kommen soll, und uns ein Bild zu entwerfen von diesem vollkommneren Wesen, das einst die Erde beherrschen soll. Auch Strauss, der sonst alle Consequenzen, berechtigte wie unberechtigte, der Darwin’schen Lehre rücksichtslos zieht und den Vorgang der Menschwerdung so einleuchtend zu schildern weiss (oben S. 67), schiebt diese Frage, als wenn es damit genug wäre, mit der Redewendung: „das lassen wir billig dahingestellt“ bei Seite. Und doch ge- hörte kaum grössere Kühnheit dazu, den Stammbaum, wie er bis zur Urform zurück auf Muthmassungen gebaut ist, auch vor- schauend über den Menschen hinaus zu erweitern, und uns, wie den „‚Urerzeuger‘‘ des Menschen, so auch seine verbesserte Nach- kommenschaft im Bilde zu malen. Die Beobachtung der That- sachen, obwohl sie waren, leitet uns rückwärts bis zur ersten Form organischen Lebens kaum mit grösserer Sicherheit zu- rück, als sie uns vorwärts den Weg zeigte in die Zukunft, wo noch keine sind, aber nach den vermeintlichen Gesetzen werden könnten, ja werden müssten. Wer so genau diese Gesetze der Entwicklung auf Grund heute gemachter Beobachtungen fest- stellen zu können meint, der könnte unter der Hand das Geleise noch etwas weiter legen, dass wir hinausfahren und schwelgen könnten in dem Anblick der neuen Geschöpfe, die schöner und vollkommener sein werden als wir — und sollte uns auch die Angst überfallen, dass es mit unserer Herrschaft auf der Erde so bald aus sein müsste. Vergleicht ja doch Strauss die Dar- win’sche Theorie, von der er zugibt, dass sie noch höchst un- vollständig ist und manche Hauptpuncte noch unerklärt lässt, mit einer „nur erst abgesteckten Eisenbahn“, bei der noch Abgründe zu überbrücken, Berge zu durchgraben seien, deren Richtung man aber doch schon sieht: „dahin wird und muss es gehen, wo die Fähnlein lustig im Winde flattern.‘*“ Man zeige uns die Ansätze zu einer Differenzirung am Menschen, die zu einer neuen Art führen könnte, und wir wollen glauben! Der Trieb, der aufwärts führte, ist erloschen; es wird nach dem Menschen so gewiss kein vollkommneres Geschöpf auf dieser Erde entstehen, wie sich von der Erde kein neuer Mond mehr ablösen wird. 108 Sodann ist der Mensch der Culminationspunct der Schöpfung; diese hat in ihm ihre Vollendung erreicht. Die Linie, die ihn trennt von der übrigen Schöpfung, ist scharf genug gezogen, die Vorzüge, die ihn über die übrige Schöpfung erheben, fest genug gegründet. Und zwar weniger in leiblicher Hinsicht. Denn hier geht neben ihm wie sein Zerrbild der Affe einher, und so fest die Merkmale sind, die den Affen vom Menschen scheiden, der aufrechte Gang, die Scheidung von Hand und Fuss, die unbehaarte Haut, der aufrechte Kopf: der Sprung vom Affen zum Menschen ist in körperlicher Beziehung gleichwohl nicht so bedeutend, als die Kluft, die den Affen von den niederen Wirbelthieren, oder gar von einem Glieder- oder Schleimthiere trennt. Hier ist eine Trennung des Menschen von der Thierwelt absolut unmöglich. Aber seine psychische Entwickelung ist es, die den Schnitt macht. Sollen wir wieder eine Lobrede auf den menschlichen Geist halten? Wir denken, dessen ist genug geschehen, und beschränken uns auf das, was die Naturwissenschaft in dieser Beziehung concedirt, oder con- cediren muss, wenn sie den Thatsachen nicht widersprechen will. Wir haben (S. 82 u. 38) eingeräumt, dass die psychischen Fähigkeiten mit der Materie zu einer untrennbaren Einheit ver- knüpft sind, und dass ihre Entwickelung in aufsteigender Linie durch das Thierreich bis zur menschlichen Psyche hinauf ge- langt. Wenn Darwin also den menschlichen Geist nur quanti- tativ, nicht qualitativ verschieden sein lässt von der 'Thierseele, so können wir dies einräumen, wenn wir nur sofort bekennen, dass diese psychische Entwickelung in der menschlichen Psyche erst ihre Vollendung, ihren Höhepunct erreicht hat, der nun nicht mehr zu überschreiten ist. Denn in der That, was psychische Entwickelung in Verbindung mit der Materie zu erreichen vermag, ist in der menschlichen Psyche erreicht ; sollte diese Entwickelung sich noch weiter erheben, so könnte sie dies nur ohne die hemmende und beschränkende Materie — und von einem Wesen, das nur Geist wäre, können wir uns auf Grund unserer thatsächlichen Beobachtungen keine Vorstellung machen. Und von dieser Seite betrachtet, wird der quantitative Unterschied zu einem qualitativen, ja, wir können sagen, dass eigentlich nur der menschliche Geist die Qualität ‘der geistigen Potenz hat, und dass die Thierseele nichts ist als eine Anbildung zu dieser geistigen Potenz, ein Versuch, der auf dem Wege stecken bleibt, ohne das Ziel zu 109 erreichen. .Und da weiterhin die körperlichen Unterschiede, die den Menschen vom Affen, d. h. überhaupt von der Thier- welt trennen, mit der psychischen Entwickelung in untrennbarer Wechselbeziehung stehen (oben S. 80), so gewinnen auch diese körperlichen Unterschiede, wie geringfügig sie auch auf den ersten Blick erscheinen, eine erhöhte Bedeutung. Mit Recht sagt deshalb Gerland (Anthropologische Bei- träge): ‚‚Ist der Mensch die höchste Stufe natürlicher Ent- wickelung,, zu’welcher Stufe nach den grossen Gesetzen der Natur sich alles hinbewegen musste, — denn eine zufällige, d. h.. gesetzlose Entwickelung ist doch eine absolut sinnlose Annahme: so ist das Ziel der ganzen organischen Um- bildung kein anderesalsdieHeranbildung der mensch- lichen Seele und der grossen neuen Fähigkeiten, welche sie zuerst in die Welt bringt. Diese neuen Fähigkeiten sind Selbst- bewusstsein, Sprache, Wissenschaft, Kunst, Sittlichkeit und Religion, welche wir auf den früheren Stufen zum Theil noch gar nicht, zum Theil nur in ihren ersten Anfängen finden.‘ Mensch und Thier sind durch eine ‚‚unübersteigliche eherne Mauer“ getrennt und „ein Ueberschreiten dieser Mauer nach vorwärts oder rückwärts ist für alle Zeiten unmöglich... Kein Thier hat Selbstbewusstsein, Begriffe, Kunst, Religion, Sprache, kein Mensch, selbst nicht der tiefststehende, entbehrt sie. Jener kann sie nicht haben, dieser sie nicht entbehren: das folgt aus beider Natur, aus beider innerstem Wesen. Dass der Mensch nicht vom Affen abstammen kann, glauben wir bewiesen zu haben; dass er sich aus thierischer Grundlage entwickelt hat, zeigt seine Natur wie im Grossen, so in jedem kleinsten Theil. Aber das Resultat dieser Entwickelung ist etwas ganz Neues, nicht mehr Thierisches, ein®durchaus und.rein Menschliches... Auch das Höchste, wozu Thiere angeregt werden können, wie tief steht dennoch das ganze Wesen — denn dies ist das Ausschlaggebende, nicht einzelnes, ‘ künstlich Hervorgerufenes — das ganze Wesen der höchst ge- bildeten Thiere unter dem ganzen Wesen des tiefsten Menschen !*‘ Wir haben dem Thier bereitwillig gelassen, was ihm ge- bührt, finden uns aber dadurch nicht bewogen, den Unterschied, der für jeden, der sehen will, grell genug in die Augen springt, zu verwischen oder gar aufzuheben. Sich selbst loben über Ge- bühr, ist Unbescheidenheit und Anmassung; aber sich selbst herabsetzen, was sonst übertriebene Bescheidenheit ist, wird hier 11 zur Eitelkeit der auf die neue Ermittelung stolzen Wissenschaft: in den Affen die eigenen Vorfahren hätscheln, ist die bekannte Resignation der Cyniker, bei der man die Eitelkeit durch die Löcher des Mantels schimmern sieht, Der Standpunct, der die Australier, Hottentotten und Papuanen auf die Linie der Affen herabzudrücken sich bemüht (oben $S. 69), muss endlich auf- gegeben werden; sie sind nicht die nur wenig über den thierischen Urzustand der Menschheit erhobenen, sondern die von einer Höhe, welche bereits ihre Urväter in der Urheimat unseres Geschlechtes erstiegen hatten, herabgedrückten Glieder der menschlichen Ge- sellschaft. Beweis dessen ist, wie bereits gesagt (S. 101), ihre Sprache: sie gehört allerwärts der zweiten Stufe, der Agglutination an; die Urväter der Australier, Hottentotten ete. standen also höher und haben sich später abgelöst aus der Urheimat, als die der Tschinesen, die den ältesten Geschlechtern angehörten. Hätten die Australier ihre mitgebrachte Höhe in dem ungünstigen Wohn- platze bewahrt, die Tschinesen die ihrige in dem günstigen Wohn- platz nicht. verbessert, so müssten Australier und Hottentotten heute über den Tschinesen stehen. Hinfällig ist also das Urtheil, welches Häckel (in Bleek, über den Ursprung der Sprache) aus- spricht: „‚Bekanntlich sind die Völkerschaften Südafricas, die Hottentotten, Buschmänner, Kaffern u. a. bis auf den heutigen Tag auf der tiefsten Stufe menschlicher Entwickelung stehen ge- blieben und haben sich am wenigsten von den Affen entfernt. Wie von ihren gesammten physischen und moralischen Eigen- schaften, so gilt dies auch von ihrer Sprache.‘ (Vgl. Anfänge des Menschengeschlechts II 8. 64). Den sprachlosen Affenmenschen Häckels haben wir (oben $. 72) beseitigt; es blieb uns bei dem Uebergange vom Thier zum Menschen nur der Spring, der den sprechenden Urmenschen, also den fertigen Menschen brachte — wenn es auch vorerst nur der harmlose, un- eultivirte Urmensch war, der aber darum nicht Unmensch war. Wir würden erstaunen, vermöchten wir die Höhe geistiger Entwickelung zu Schauen, welche bereits der Urstamm der Menschheit in dem Urlande erreicht hatte, ehe die ersten Glieder sich ablösten und sich auf die Wanderschaft begaben. Hier ist die Forschung noch in ihren Anfängen, und diese Anfänge hat kein anderer gemacht, als Darwin selbst. In dem Buche ‚über den Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei den Menschen und bei den Thieren‘‘ ist er zu dem Schlusse gekommen: „Ich habe mit Ausführlichkeit zu zeigen mich bemüht, dass alle die hauptsächlichsten Ausdrucks- ou weisen, welche der Mensch darbietet, über die ganze Erde die- selben sind. Diese Thatsache ist interessant, da sie ein neues Argument zu Gunsten der Annahme beibrinet, dass die ver- schiedenen Rassen von einer einzigen Stammform abgegangen sind, welche vor der Zeit, in welcher die Rassen auseinander gingen, beinahe vollständig menschlich in ihrem Baue und in hohem Grade so in ihrer geistigen Entwickelung gewesen sein muss.‘ (Das Genauere s. Darwin und die Sprachwissenschaft S.13 ff.) Die „im allerstrengsten Sinne menschliche‘ Ausdrucks- form des Erröthens ist sämmtlichen Rassen des Menschen eigen, d. h. also: das echt menschliche, keinem Thier zukommende Gefühl der Scham besass der Urmensch schon. Ja man darf dem Urmenschen schon, da er sich an den Halmfrüchten eross- gezogen (oben S. 47), die Anfänge des Ackerbaues, der die Grundlage und der Ausgangspunct aller Cultur ist, zuschreiben, sowie er bereits auch die wichtigsten Hausthiere, die er mit- genommen hat über die Erde, gezähmt und zu seinem Dienste verwandt haben muss. Und noch mehr: manche von .den Sitten und Bräuchen, die heute noch in Uebung sind, lassen sich in ihrem Ursprunge bis in die Urheimat unseres Geschlechtes zurück verfolgen (Anhänge des Menschengeschlechts II S. 351 ff.), sie sind getragen von Anschauungen, die einen nicht geringen Grad von Reflexion voraussetzen, im Urlande also einen so hohen Grad von geistiger Entwickelung, wie wir ihn heute z. B. in Australien nieht wiederfinden. Diese Höhe konnte der Urmensch nur auf Grund seiner menschlichen Natur erreichen, die ihn von vorn- herein über den besten Affen gestellt hatte. Wir sahen (oben $. 85), wie eine Rangordnung unter der Thierwelt in Bezug auf psychische Fähigkeiten absolut unmög- lich ist, und nur der eine Satz stand uns fest, dass der Mensch das höchst entwickelte Geschöpf ist. ,‚Ueberall, sagt Gerland, zeigt sich durch die animalische Schöpfung der Drang zur höheren psycho-physischen Entwickelung; aber erst mit dem Auftreten des Menschen ist dieser Drang in wirklich leibende Erfüllung übergegangen,‘‘ d. h. also: der Mensch ist der Culminationspunct der Schöpfung und seine psychische Entwickelung erhebt ihn über die Thierwelt; und die Naturwissenschaft braucht sich dieses Satzes nicht zu schämen, da er durchaus objectiv d. h. auf die Thatsachen gegründet ist. In dem Gesagten ist der dritte Satz in der Stufenleiter unserer Behauptungen bereits enthalten: der Mensch ist das Zie] der Schöpfung, die übrige Schöpfung die Vorbereitung dieses Zieles. Es kann einen Culminationspunct geben ohne ein Ziel; es kann ein Weg auf einen Berg führen, um sich oben zu ver- laufen oder auf der Höhe an beliebiger Stelle wieder abwärts zu führen — diese seine höchste Stelle ist sein Culminations- punct. Wenn er aber in die Höhe führt, zu einer Burg oder einer Capelle, die dort oben auf dem Felsen thront, wenn er in manchfachen Windungen und manchfachen Schwierigkeiten, bald rechts bald links sich wendend, aber immer ansteigend diese Burg endlich erreicht, dann ist die Burg das Ziel des Weges. Nun kann man von vornherein von einem jeden von Menschen gebahnten Wege annehmen, dass er ein Ziel hat — wenn er anders zu einem ernsten Zwecke geschaffen ist, und nicht etwa blos dem Vergnügen dient. Ein solcher Weg ist die Entwickelung der Organismen; die verschiedenen Stufen der Ent- wickelung sind die Stufen, auf denen wir ansteigen bis zum Gipfelpuncte, dem Menschen. Die ganze Bedeutung der irdischen Schöpfung geht darin auf, dass sie die Anbildung zum Menschen ist, mit dessen Erscheinen die schaffende Kraft, weil sie das Höchste geleistet, sich ausgeboren. Man könnte zunächst fragen: warum ist überhaupt organisches Leben enstanden ? konnte die Erde nicht ebensogut als todter Körper bis zum Ende ihrer Tage die Sonne umkreisen? Man: könnte weiter fragen: warum blieb das einmal erzeugte Leben nicht auf der Stufe der Pflanzenwelt oder niederen Thierwelt, oder an irgend einem anderen Puncte stehen, warum musste es sich bis zum Menschen entwickeln, der alle übrigen Geschöpfe so sehr überragt, dass sie ihm unterthan sein müssen? Und nun die Hauptfrage: warum setzte es beim Menschen ab? Gerade der letzte Punct, hat man ihn einmal anerkannt — und wir hoffen dies erwirkt zu haben — nöthigt uns, in dem Menschen das Ziel der Entwickelung zu erkennen. Die Natur ist mit dem Menschen „über sich, aber nicht aus sich hinausgeschritten‘‘ sagt der Verfasser des „alten und neuen Glaubens‘‘: sie ist nicht aus sich hinausgeschritten, weil auch der Mensch, obwohl die Krone, an die untersten Elemente der Schöpfung angeknüpft ist, wie des Baumes Krone an die Wurzel; sie ist über sich geschritten, weil der Mensch so sehr den Höhepunct der Entwickelung, die Vollendung des schöpfe- rischen Processes bezeichnet, dass er auf diesen Grund hin zur Herrschaft über die gesammte Schöpfung berufen ist. „‚Im 115 u Menschen , heisst es an anderer Stelle, hat die Natur nicht bloss überhaupt aufwärts, sie hat über‘sich selbst hinaus ge- wollt. Er soll also nicht bloss wieder nur ein Thier, er sell mehr und etwas Besseres sein. Der Beweis, dass er es sein soll, ist, dass er es kann. Die sinnlichen Bestrebungen und Genüsse sind schon in der Thierwelt voll entfaltet und erschöpft; um ihretwillen ist der Mensch nicht da; wie überhaupt kein Wesen um desjenigen willen da ist, was schon auf früheren Lebensstufen gegeben war, sondern um dessentwillen, was in ihm neu errungen worden ist. So soll der Mensch das Ani- malische in ihm mit dem Höheren, das in ihm angelegt ist, mit den Fähigkeiten, die ihn vom Thiere unterscheiden, durch- dringen und beherrschen. Auch der rohe, grausame Kampf um das Dasein war bereits im Thierreich sattsam losgelassen. Der Mensch kann ihn gleichfalls nicht ganz vermeiden, sofern er noch ein Naturwesen ist; aber er soll ihn nach Massgabe seiner höheren Anlagen zu veredeln, und seinesgleichen gegen- über insbesondere durch das Bewusstsein der Zusammengehörig- keit und gegenseitigen Verpflichtung der Gattung zu mildern wissen. Das wilde, ungestüme Wesen der Natur soll in der Menschheit zur Ruhe kommen ; sie soll gleichsam das placidum caput sein, das der Vergil’sche Neptun aus den empörten Wogen hebt, um sie zu stillen.“ Wir treten jedem Worte dieser schönen Stelle aus voller Ueberzeugung bei. So erscheint in der That die übrige Schöpfung Bin eziehung zum Menschen wie die Vorbereitung zur Ausführung. Nicht als wenn der Schöpfer erst Versuche gemacht, bis er endlich das Richtige getroffen: dies konnte man mit Recht Cuvier ent- gegenhalten, der den Schöpfer nach der Vertilgung der Ge- schöpfe durch die Erdrevolutionen eine neue Schöpfung an die Stelle setzen liess (oben S. 34). Man sah nicht ein, warum die alte Schöpfung nicht hätte bleiben können — wie sie ja thatsächlich geblieben ist, wenn auch nicht in denselben Ge- stalten. Nein, die Abhängigkeit der höheren Art von der vorausgehenden niederen, der höchsten, des Menschen, von allem vorher Gewordenen ist, sowie sie einen Grundgedanken der Descendenzlehre ausmacht, die beste Begründung für unsern Satz. Nichts bestätigt so sehr die Descendenzlehre, als die Thatsache (worauf bereits S. 47 hingewiesen ist), dass ein Ge- schöpf auf das andere angewiesen ist, eines das andere braucht und voraussetzt, um selbst leben zu können. Die Pflanze braucht Kuhl, Descendenzlehre, 8 a Bier die Atmosphäre und den Boden, woraus sie ihre Nahrung saugt; die Thiere setzen das Pflanzenreich voraus, der Mensch beides. Die Thiere athmen den Sauerstoff ein, den die Pflanzen aus- athmen, und geben wiederum an diese den Kohlenstoff ab. Einer lebt vom andern, das ist der grosse Stoffwechsel in der Natur; jeder verarbeitet die Nahrung geringerer Art zu besserer, der Mensch zur besten. Der Mensch ist zur Herrschaft über die Natur geboren; er braucht, was ihm brauchbar erscheint; ver- tilgt, was ihm schädlich ist; die Thiere tödtet er, um sich mit ihrem Fleische zu nähren, oder mit ihrem Felle zu kleiden; andere zwingt er, ihm bei seinen Arbeiten behilflich zu sein. Wir dürfen nicht sagen: alles ist der Menschen wegen erschaffen, Sonne, Mond und Sterne, die Erde und was auf ihr ist. Denn einmal spricht alle Analogie dafür, dass die übrigen Planeten und die zahllosen Himmelskörper mit derselben Bestimmung in’s Leben getreten sind wie die Erde selbst, nämlich die Ent- wickelung des organischen Lebens in gleicher oder analoger Weise durchzumachen (oben $. 30). Sodann bliebe bei diesem allge- meinen Satz auf der Erde selbst manches unerklärt, was für den Menschen entweder gleichgiltig oder sogar schädlich ist — wobei man nur mit einem unberechtigten Zwange eine Nutzbar- keit für den Menschen herauszufinden vermöchte. Und dies wäre dann eine unberechtigte Ausbeutung des Zweckbegriffes, wovon sogleich die Rede sein wird. Wir sprechen jetzt nach Darwin nicht mehr: der Ochse hat kräftige Hörner und einen starken Nacken, damit er dem Menschen zum Ziehen diene, oder: das Schaf hat das wollige Vliess, damit es dem Menschen "wärmende Kleidung bereite. Aber die Thiere waren da und der Mensch durch seine geistige Ueberlegenyeit zu ihrem Herrscher gesetzt, und nun braucht er sie zu seinen Zwecken, und unter seiner Zucht mehrten sich ihre nützlichen Eigenschaften, so dass diese nun als ihr eigentlicher Zweck erscheinen können. Wenn also der Verfasser des alten und neuen Glaubens (in einer später genauer zu bezeichnenden Stelle) sagt: „Das All ist in keinem folgenden Augenblick vollkommener, als im vorher- gehenden, noch umgekehrt, es gibt in ihm überhaupt einen solchen Unterschied zwischen früher und später nicht,, weil in ihm alle Stufen und Stadien der Ein- und Auswickelung, des Auf- und Absteigens, des Werdens und Vergehens nebeneinander bestehen und sich gegenseitig in’s Unendliche ergänzen‘, so gilt dies von dem einzelnen Himmelskörper, also auch von der Erde 115 gewiss nicht. Für diese war die grösstmögliche Vollkommen- heit erreicht, als der Mensch in’s Leben trat. Der Mensch konnte nicht eher auftreten, als bis alles zu seinem Dienste bereitet war, erst als die Erde fertig war und wohnlich eingerichtet. Und das hatten die Geschöpfe besorgt, die vor ihm hinausge- gangen waren und ihm die Wege bereitet hatten. Er ging hinaus, um die Erde in Besitz zu nehmen, drang vor bis in die fernsten Zipfel des Landes, soweit der Fuss noch festen Boden fand, und lernte das Meer befahren bis in die entlegensten Winkel. Kein Thier, auch das beste nicht, hat dies vermocht — es sei denn, dass der Mensch es, wie den Hund, zu seinen Diensten mitgenommen. Das ist die Kluft, die den Menschen vom Thiere trennt, die auf den Menschen hinüberzeigt als auf das Ziel der Entwickelung. Der „anthropocentrische Irrthum“, wir wollen besser sagen der kosmocentrische Irıthum, dass der Mensch, d. h. der Mensch dieser Erde das vorbedachte Ziel der ganzen Schöpfung sei, ist seit Copernicus gefallen — darin stimmen wir Häckel bei; aber es bleibt für den irdischen Menschen der „geocentrische Irrthum‘ d. h. die Wahrheit, dass er das Ziel der irdischen Schöpfung ist, und die Descendenzlehre kann an diesem vermeintlichen ‚‚Irr- thum“ nicht rütteln. Und nehmen wir an, dass die Entwickelung auf den übrigen Himmelskörpern bis zu ähnlichem Ziele, zur Gestaltung selbstbewusster und denkender Wesen in irgend welcher körperlichen Beschaffenheit, gelangt ist oder gelangen wird, so bleibt für diese Wesen, die wir allesammt auf Grund dieser geistigen Beschaffenheit Menschen nennen können, auch der anthropo- oder kosmocentrische „Irrthum‘‘ als Wahrheit be- stehen — so lange bis es Darwin und Häckel gelingt, auch nur die Ansätze zu einem über den Menschen hinausgehenden Wesen nachzuweisen, d. h. also für immer. XVH. Mechanische und teleologische Weltanschauung, Reichen die Darwin’schen Erklärungsmittel aus die Welts zu erklären? Das Ziel der Entwickelung — hier sind wir bei dem heftig umstrittenen Gegensatz, mechanische oder teleologische - Weltanschauung, angelangt. Wo irgend ein Unternehmen plan- g*+ 116 mässig angelegt wird, da darf man annehmen, dass es ein Ziel hat, wie umgekehrt, wo wir ein Unternehmen planmässig einem bekannten Ziele zuschreiten sehen, dass dieses Ziel von vornherein in’s Auge gefasst war. Und wiederum: jedes planmässig ange- legte Unternehmen, bei dem ein Ziel von vornherein in’s Auge gefasst wird, setzt irgend einen Jemand, ein denkendes Wesen voraus, von dem jener Plan entworfen, jenes Ziel in's Auge ge- fasst ist. Das sind alte Sätze, die aber zu keiner Zeit so frag- lich geworden zu sein scheinen, . als heute, seit Darwin aufge- treten ist. Ist die Natur planmässig angelegt, zweckmässig ausgeführt? Hierüber kann kein Zweifel sein, da ja eben auf diese Erkenntniss die Descendenzlehre gegründet ist. Bei allen Schwankungen im Einzelnen geht die Entwickelung im Ganzen so fest ihrem Ziele zu, dass es hiesse blind sein wollen, wollte man dies verkennen; und ebenso lehrt uns die Betrachtung der einzelnen Geschöpfe, dass ein jedes möglichst zweckentsprechend nach seinen Lebens- bedingungen eingerichtet ist oder sich darauf einzurichten strebt. Diese Veberzeugung bildete zu allen Zeiten und bildet noch heute die wesentliche Grundlage unseres Gottesbegriffes: die schöne Harmonie des Kosmos im Ganzen, wie die Zweckmässigkeit in der Gestaltung der Organismen im Einzelnen konnte man sich nur als den Ausfluss einer höheren Intelligenz denken, die nach vorbedachtem Plane das Weltganze eingerichtet und diesem Ganzen die Einzelwesen als harmonische, überall zweckmässig eingreifende Theile anpasste. Je weniger man von den Kräften der Natur und ihrer stillen, gesetzmässigen Arbeit kannte, desto mehr häufte man auf dieses unbekannte Wesen, dessen Hand man überall thätig sah, wo man sich eine natürliche Erklärung für den Zu- sammenhang der Begebenheiten nicht zu geben wusste; desto phantastischer wurde bei Völkern niederer Cultur der Gottesbe- griff, und wird es noch heute bei Menschen geringerer Geisteskraft, die damit auf die bequemste Weise jeder weitern Rechenschaft über das Zustandekommen irgend eines natürlichen Processes überhoben sind, Dagegen erhebt sich und erhob sich zu allen Zeiten die materialistische Weltanschauung, d. h. diejenige Meinung, die in der Materie die Gesetze findet, nach denen sich mit Nothwendigkeit die ganze Entwickelung der Natur auf mechanischem Wege — ohne jedes Zuthun eines höheren, überirdischen Wesens vollzogen hat und vollzielt. Die in der Natur sichtbare und auf eine höhere Intelligenz gedeutete Zweck- 417 mässigkeit in der Natur stellt der Materialismus, wie wir bereits andeuteten (S. 24), überhaupt in Abrede und entledigt sich damit auf einfache Weise des unbequemen Einwandes. Aber hier widersprechen die Thatsachen, und man durfte mit Recht eine Erklärung verlangen, wie diese mechanische Wirksamkeit der Natur zu Stande kommt. Und diese Erklärung hat Darwin zu geben versucht und behauptet sie gefunden zu haben in der natürlichen Zuchtwahl im Kampfe um das Dasein, der er später die geschlechtliche Zuchtwahl zugefügt hat. ,‚‚Darwin’s Theorie zeigt, wie Zweck- mässigkeit der Bildung der Organismen auch ohne alle Ein- mischung von Intelligenz durch das blinde Walten eines Natur- gesetzes entstehen kann“, auf diese Worte eines Deutschen Naturforschers beruft sich der Verfasser des alten und neuen Glaubens, um den „Wundermann, der die Welt auf den Kopf stellt‘‘, aus der Natur zu entfernen. Hier wollen wir uns dar- über klar werden: reichen die von Darwin gefundenen Agentien aus, das ganze Getriebe der Natur zu erklären und vermögen sie uns darzuthun, wie nach diesen Gesetzen die Natur sich entwickeln musste in der Richtung und zu dem Ziele, zu dem sie sich entwickelt hat, so bedürfen wir keines Schöpfers mehr, überhaupt keines Gottesbegriffes, und mit aller Religion ist es aus, da eine Religion ohne Gottesbegriff nicht gedacht werden kann. Indem also Darwin die Zweckmässigkeit in der Natur nicht leugnet, wie die Materjalisten, sondern sie als das Product - ganz natürlicher Factoren zu erweisen sucht, wird er ein viel gefährlicherer Gegner jeder positiven Religion — daher der Kampf auf Tod und Leben, das verzweifelte Ringen aller der- jenigen, die am „alten Glauben‘ hängen, den sie von den Vätern geerbt. Wir haben ruhig und vorurtheilsfrei geprüft und Stellung genommen zu der Frage, ob die Darwin’schen Mittel ausreichend sind, und wollen hier noch einmal alles zusammenfassen. Die natürliche Zuchtwahl — wir nehmen diese für. den ganzen Apparat der Darwin’schen Erklärungsmittel — erklärt uns nicht alles, haben wir gesagt; sie ist also nicht das, wofür sie von Darwin und seinen Anhängern ausgegeben wird, Denn 1) beschränkt sie sich wesentlich auf die Anpassung, d. h. auf die Veränderungen und Theilungen, die der aus dem Schöpfungs- mittelpunet ausgegangene Urtypus bei der Wanderung und in Folge der Wanderung durchmachte. Für die Umzeugung jener Urtypen selbst, d. h, für den im Schöpfungsmittelpunet bis zur 118 Krone, dem Menschen, aufschiessenden Stamm der organischen Welt gibt sie keine Erklärung, da uns hierbei die heute unserer Beobachtung zugänglichen Thatsachen, worauf die Darwin’sche Descendenzlehre gegründet ist, im Stiche lassen. Für die un- begrenzte Variation, die Darwin annehmen muss, fehlen heute die Belege, und wie sie damals gewirkt, können wir nur ver- muthen — und damit verlassen wir den Boden der That- sachen. 2) Sie zeigt uns nicht den Anfang des Processes, den sie zu erklären unternommen hat. Die nothwendige Consequenz der Descendenzlehre ist die Entstehung des Organischen aus dem indifferenten Urstoff; denn nur damit ist eine einheitliche, mo- nistische Weltanschauung zur Wirklichkeit geworden. Wir sind ’ gezwungen, die Urzeugung anzunehmen, und können sie gleich- wohl mit heutigen Mitteln nicht darstellen, und die von Darwin vorgebrachten Mittel bleiben hier ganz ausser Betracht, da sie sich nur auf die Entwickelung, nicht auf die Erzeugung des organischen Lebens beziehen. Die Descendenzlehre in der Dar- win’schen Gestalt gelangt nicht einmal zu der nothwendigen Annahme einer einzigen Urform, und eine erste Form unterstellt, kann ‘diese nur durch Variation aus ihrem Innern heraus zur Theilung und Weiterbildung gelangen — und damit sind die übrigen Factoren der Entwickelung, die Darwin nennt, für diese Urform ausser Thätigkeit gesetzt. Denn womit hatte die erste Form zu kämpfen um das Dasein? wie konnte ‚‚das Passendere überleben‘, wenn nur eine Form war und die Indi- viduen dieser einen Form unter sich gleich waren ? 3) Sie zeigt uns auch nicht das Ende des Processes der Entwickelung und verliert auch hierdurch den Anspruch auf das Prädicat einer monistischen Weltanschauung, Für Darwin hat der Entwickelungsprocess keine bestimmte Grenze: wir haben nachgewiesen, dass der Mensch der Endpunct der aufsteigenden Entwickelung ist. Das Auftreten des Menschen bezeichnet den Punct, wo die zeugende Urkraft, d. h. die unbegrenzte Variirung und die Vererbung, d. h. die beginnende Erstarrung, ihre Rollen wechseln, wo mit dem Fallen der einen die andere steigt. Und im Hintergrunde steht das allmähliche Schwinden der Lebens- kraft, der Zerfall der Organismen, das Ende unseres Planeten ; aber wie und warum das Ende eintritt, die Lebenskraft schwindet, darüber hat uns Darwin so wenig belehrt, als über die Frage, wie und warum sie begann. 119 4) Sie findet nur Anwendung bei den Organismen unserer Erde, also einem engbegrenzten Theile des Weltganzen, nicht einmal bei allen Theilen der irdischen Welt, Indem Häckel die Darwin’sche Lehre zum Monismus, d. h. zur einheitlichen Welt- anschauung ausdehnt, erweitert er sie über ihre Grenzen hinaus und versetzt ihr damit einen tödtlichen Stoss, indem sie sich unfähig erweist, das grosse Weltganze zu umspannen. Das Anorganische auf der Erde bleibt von dem Kampfe um das Dasein selbstverständlich gänzlich unberührt. Aber auch dieser Theil des Kosmos hat seine Gesetze: die Krystallisation z. B. ist die Bethätigung eines Processes, der für das Anorganische dieselbe Bedeutung hat, wie die Entwickelung für das Organische. Diese Gesetze aber sind uns ja, wie Häckel selbst zugestehen muss, völlig dunkel; zum wenigsten ist vorläufig nicht abzu- sehen, wie sie mit dem Kampfe um das Dasein und der natür- lichen Zuchtwahl etwas zu thun haben sollen. 5) Noch viel weniger gehen die Darwin’schen Erklärungs- mittel über den Bereich unserer Erde hinaus, während diese selbst doch nur ein winziger Theil des Weltganzen ist, welches der umspannen muss, der von monistischer Weltanschauung redet. Freilich ist neuerdings der Versuch gemacht, den Kampf um das Dasein, die natürliche Zuchtwahl, das Ueberleben des Passendsten auch auf die Himmelskörper anzuwenden (du Prel, der Kampf um das Dasein am Himmel) — mit welchem Er- folge, können wir nicht sagen. In Bezug auf den innern Werth, die Güte des Stoffes bestehen , soviel wir vermuthen können, keine Unterschiede unter den Himmelskörpern, da wir mit aller Wahrscheinlichkeit annehmen, dass sie alle aus derselben Materie gebaut sind (oben 8. 30). Was die Form anbelangt, so ist uns keine andere bekannt, als die runde; hier haben also die Kräfte der Natur nicht theilend, sondern nivellirend gewirkt und nur die eine Form gestattet. Von Variirung und Ver- erbung ist also keine Rede — man müsste denn die einzige Varirung darin finden, dass das eine Sonnensystem vielleicht mehr Planeten wie das andere, der eine Planet mehr Monde als der andere entwickelt hat. Aber dies wäre ja nicht die Variirung, die dem Darwin’schen Gesetze zu Grunde liegt: ein anderes Sonnensystem als das unsrige ist unserer Beobachtung nicht zugänglich, und warum ein Planet, der mehr Monde ent- wickelt hat, vor einem andern, der weniger hat, einen Vorzug haben sollte, ist uns absolut unerfindlich. Eher könnte von 120 von einem Kampfe um das Dasein am Himmel die Rede sein — und so war es ja auch gemeint. Allerdings, die Himmelskörper laufen in gemessenen Bahnen, und der müsste oder hätte weichen müssen, der den andern gestört hätte — falls der letztere der mächtigere war. Aber das ist nichts mehr, als was wir jeden Augenblick auf der Strasse sehen: einer macht dem andern Platz, wenn er nicht umgerannt sein will; so war es seit Menschen- gedenken, ehe man noch den „Kampf um das Dasein‘ erfunden hatte. Bei der Entstehungsweise unseres Sonnensystems, wie sie uns Kant und Laplace gelehrt haben, konnte ein solches Umrennen ja gar nicht eintreten, da sich die Planetenringe nur in gemessenen Zwischenräumen abgelöst haben können — also fällt auch der Kampf um das Dasein weg. Und dies um so mehr, da wir ja keine Erfahrung von einem solchen verdrängten und zerschellten Planeten haben: der fehlende Planet zwischen Mars und Jupiter ist viel wahrscheinlicher nie dagewesen, die für ihn bestimmte Masse ist von vornherein in die Asteroiden auseinandergegangen; er ist also auch nicht zerschellt worden — wozu überdies ein zweiter nöthig gewesen wäre, für den aber kein Raum vorhanden war. Vom ersten Nebelballe bis zu dem Sonnensysteme, und in diesem, auf den einzelnen Himmels- körpern, bis zum Ziel der organischen Entwickelung, und wieder rückwärts bis zum Zerfall des einzelnen Himmelskörpers und des ganzen Systems — das ist der Weg, den die monistische Naturanschauung zurückzulegen hat. Wir schliessen uns ihr freudig an, bekennen aber, dass wir für die Gesetze dieser gross- artigen Evolution nur Muthmassungen, keine Gewissheit, nur staunende Bewunderung, keine auf greifbare 'Thatsachen gestützte Begründung haben. 6) Aber auch so bleibt manches auf der Erde selbst, ja innerhalb der organischen Welt, deren Vorgänge uns die Darwin’sche Theorie klar machen soll, unerforschlich. Es ist eine bekannte Thatsache, dass die Zahl der Geburten sich stets und allerorten ziemlich gleichmässig auf die beiden Geschlechter vertheilt, Will man hier etwa an die natürliche Zuchtwahl, an den Kampf um das Dasein denken — oder gar an die ge- schlechtliche Zuchtwahl, welche die Ausgleichung schon im Mutterleibe herbeiführe? Ein solcher Versuch würde schon, ab- gesehen von der Unmöglichkeit des Nachweises, an der Beob- achtung scheitern, dass diese Ausgleichung der Geschlechter ja gar nicht an das Individuum gebunden ist: manche Eltern 121 haben ja nur Knaben, andere nur Mädchen zu Kindern. Bis hierher reicht also keines der Darwin’schen Gesetze. Dagegen können wir uns sehr wohl denken, wie da, wo ein Ueberschuss des einen Geschlechtes geboren wäre, die natürliche oder ge- schlechtliche Zuchtwahl corrigirend einträte und den Ueberschuss beseitigte; und in solchen Fällen offenbart sich ja gerade, dass die Darwin’schen Gesetze, soweit sie den Ausgangspunct seiner Theorie bilden, nicht etwa nur Hypothesen sondern offenkundige Wahrheit sind. Aber sie treten erst in Wirksamkeit im gegebenen Falle der Erscheinung — eben wie auch die künstliche Zucht- wahl nicht vorher bestimmend auf die Entwickelung einwirken kann: sie heftet sich an die von der Natur freiwillig ge- gebene Erscheinungsform derart, die sie dann zur Nachzucht auswählt. Eben diese künstliche Zuchtwahl, je mehr sie ver- möchte, wäre ein desto glänzenderes Zeugniss dafür, dass ohne eine höhere Intelligenz, welche die Bewegung leitet, die ganze Naturentwickelung nicht gedacht werden kann: soll die natür- liche Zuehtwahl, wie es Darwin thut, aus der künstlichen erklärt werden, so muss hinter der natürlichen Entwickelung die höhere Intelligenz stehen, wie hinter der künstlichen der Mensch. Wir haben noch einen Einwand, den wir berühren müssen, ob- wohl wir von vornherein wissen, dass er uns in vollem Masse zurück- gegeben wird. Die natürliche Zuchtwahl soll nach der Meinung Dar- win’s nur „für das Gute eines jeden Wesens“ (oben S. 22) thätig sein, und doch findet sich manches angezüchtet, was mit Recht als ein bedenkliches Danaergeschenk angesehen werden kann. Die geschlechtliche Zuchtwahl soll den Singvögeln die Fähigkeit ge- bracht haben zu singen: die Männchen stechen sich bei der Be- werbung um die Weibchen durch den schönen Gesang einander aus. Aber da hat die geschlechtliche Zuchtwahl etwas gebracht, was die natürliche Zuchtwahl wieder ausmerzen müsste: durch ihren Gesang verrathen sich die Thierchen und locken den Feind — namentlich den Menschen, der sie wegen ihres Gesanges ein- , fängt — herbei, dem sie, wenn sie schwiegen, verborgen blieben. Und‘ so trifft auch die natürliche Zuchtwahl der Vorwurf, dass sie wirklich gute und nützliche Abänderungen nicht zu erhalten vermag, diese vielmehr der Rückschlagstendenz zum Opfer fallen, wie Darwin selbst eingestehen muss: „‚Ich hatte beständig be- obachtet, dass seltene und scharf markirte Structurabweichungen, welche Monstrositäten genannt zu werden verdienen, nur selten durch natürliche Zuchtwahl erhalten werden können, und dass 122 die Erhaltung selbst äusserst wohlthätiger Abänderun- gen in einer gewissen Ausdehnung vom Zufalle abhängt“ — da sind wir beim Zufall, von dem Darwin einmal nicht los- kommt! Die Consequenz der Darwin’schen Auffassung von Ver- änderlichkeit und Vererbung wäre, wie v. Hartmann (Wahr- heit und Dichtung im Darwinismus) sehr richtig hervorhebt, dass ‚die nützlichsten Charaktere die bei der Vererbung be- ständigsten, die für den Kampf um das Dasein indifferenten Charaktere aber die unbeständigsten sein müssten“ — was aber durch die Erfahrung nicht bestätigt wird. Hieraus schliesst v. Hartmann mit Recht, dass die mechanische Auffassung un- zulänglich ist und dass wir „überall zur Anerkennung eines den Fortschritt der Organisation leitenden inneren Entwickelungs- gesetzes‘‘ hingedrängt sind. Ja die natürliche Zuchtwahl hat Gutes zu Gunsten eines weniger Guten ausgemerzt. Warum hat der Mensch sein Haar- kleid verloren? so fragt man mit Recht. Zu ornamentalen Zwecken, als geschlechtliche Zierde, sagt Darwin, haben ‚unsere weiblichen Urerzeuger allmählich diesen Charakter der Nacktheit erlangt und ihren Nachkommen überliefert.‘‘“ Angenommen, dass dieses richtig ist, so steht auch hier die geschlechtliche Zuchtwahl der natürlichen im Wege, und die sonst so gute Züchterin Natur befindet sich im Widerspruch mit sich selbst. ,‚Der Verlust des Haarkleides, sagt Darwin an anderer Stelle, ist eine Unbe- quemlichkeit und wahrscheinlich [warum wahrscheinlich?] ein Nachtheil für den Menschen; denn er ist hierdurch plötzlichen Erkältungen, besonders während des feuchten Wetters ausgesetzt.‘ Also die natürliche Zuchtwahl müsste das Haarkleid wieder herauszüchten, da der Mensch nun einen grossen Nachtheil vor dem Thiere hat: wir streifen den Thieren den Pelz ab, um uns damit künstlich gegen die Einflüsse der Witterung zu schützen. Was der Eisbär von Natur hat, muss der Eskimo sich erst bereiten. Aber es ist auch nicht richtig, dass der Mensch das Haarkleid zu ornamentalen Zwecken abgelegt hat, schon darum nicht, weil wir ja, wie Darwin selbst zugibt, das was uns ge- blieben ist von. Haar, hauptsächlich zu ornamentalen Zwecken brauchen und darin eine Zierde erkennen: der Mann den Bart, das Weib das üppige Haupthaar. Der Verlust des Haarkleides hängt direct mit der Menschwerdung, d. h. mit der Verfeinerung der Nervensubstanz zusammen (wie Gerland richtig auseinandersetzt). _ Der Umstand aber (worauf Darwin seine Ansicht gründet), dass N ee re 123 die Frauen weniger behaart sind als die Männer, hängt nicht mit der geschlechtlichen Zuchtwahl zusammen. Denn einmal müsste dann der Mann weniger behaart sein, da auch beim Menschen die Bewerbung vom männlichen Geschlechte ausgeht, der Mann also, wie bei den Thieren, seine Reize entfalten müsste. Sodann aber müssten die anderen charakteristischen Unterschiede des weiblichen Geschlechtes ebenfalls mit denselben Mitteln erklärt werden können. Darwin sagt freilich: „Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Weibchen [unsere weiblichen Urer- zeuger] auch in anderen Beziehungen zu demselben Zwecke und durch dieselben Mittel modificirt wurden, so dass die Frauen angenehmere Stimmen erhalten haben, und schöner geworden sind als die Männer‘. Aber hier fehlt der Nachweis; es kann be- stritten werden, dass eine Frauenstimme schöner ist als eine Männerstimme — ist sie ja doch nur eine auf halber Entwicke- lung stehen gebliebene Männerstimme, eine Knabenstimme; ja es kann bestritten werden, dass überhaupt die Frauen schöner sind als die Männer, Es ist eben nur Courtoisie und spricht sehr für den hohen Adel des Menschen, dass bei ihm das starke Geschlecht dem schwächern freiwillig den Preis der Schönheit einräumt; das thun wir auf unserer Culturstufe, aber man frage nur einmal bei den Wilden an! Der Unterschied des weiblichen von dem männlichen Geschlecht liegt viel tiefer, als dass er von den Mitteln der geschlechtlichen Zuchtwahl erreicht werden könnte; er ist ein physiologischer, wie Virchow (bei Häckel eitirt) ‚auseinandersetzt: „Das Weib ist eben Weib nur durch seine Generationsdrüse; alle Eigenthümlichkeiten seines Körpers und Geistes oder seiner Ernährung und Nerventhätigkeit: die süsse Zartheit und Rundung der Glieder bei der eigenthümlichen Aus- bildung des Beckens, die Entwicklung der Brüste bei dem "Stehenbleiben der Stimmorgane, jener schöne Schmuck des Kopf- haares bei dem kaum merklicben weichen Flaum der übrigen Haut, und dann wiederum diese Tiefe des Gefühls, diese Wahr- heit der unmittelbaren Anschauung, diese Sanftmuth, Hingebung und Treue — kurz alles, was wir an dem'Weibe Weibliches bewundern und verehren, ist nur eine Dependenz des Eierstocks., Man nehme den Eierstock hinweg, und das Mannweib in seiner hässlichsten Halbheit steht vor uns,‘“ Die Inferiorität des Weibes datirt von dem Augenblick her, wo sich die Geschlechter theilten und dem weiblichen Geschlecht die Aufgabe zufiel neues Leben zu gebären und grosszuziehen. Mit demselben Augenblick fiel 124 dem männlichen Theil die Aufgabe zu, dem anderen Geschlecht Schutz und Stütze zu gewähren bei diesem Geschäft — und darum musste das männliche Geschlecht das stärkere und voll- kommenere werden. Diese Auffassung ist mindestens ebenso berechtigt als die Darwin’sche, welche die Superiorität des männlichen Geschlechts aus dem Kampfe der Bewerber unter sich herleitet. Und dies gilt von den Thieren in gleicher Weise wie vom Menschen. Es ist schon unberechtigt, dass Darwin für den Menschen das Verhältniss der Geschlechter zu einander in Bezug auf Bewerbung etc. umkehrt, Die grössere Stärke, die tüchtigere Bewaffnung bezeichnen den vollkommenen Zustand, zu dem das Männchen auswächst, während das Weibchen, im Hinblick auf seine besondere Aufgabe, in dieser Beziehung auf unvollständiger Entwicklungsstufe stehen bleibt. Daher die fehlenden oder unvoll- kommenen Waffen, die unansehnlichere Gestalt, der mangelnde Putz bei den Weibchen, bei den Vögeln der mangelnde Gesang. Die Farbenzeichnung, wodurch sich das Männchen in der Regel auszeichnet, kann nicht die Folge geschlechtlicher Auswahl sein: wer wollte den Weibehen der Vögel, Schmetterlinge ete. einen so fein differenzirten Geschmack zutrauen, dass das eine diese, das andere jene Farbe, das eine die gesprenkelte, das andere die gebänderte Zeichnung vorzöge! Dass die Farben über- haupt nichts mit dem Geschlecht zu thun haben, wird bewiesen durch den Umstand, dass auch bei niederen Thieren, bei welchen die Geschlechter gar nicht gesondert sind, ebensolche Farben- zeichnungen auftreten. Darwin gesteht selbst, dass ‚‚deren Farben das directe Resultat entweder der chemischen Beschaffenheit oder der feineren Structur ihrer Körpergewebe sind, und zwar unab- hängig von irgend einem daraus fliessenden Vortheile“. Das ist die einzig mögliche Erklärung für alle Farbenentwicklung! „Kaum irgend eine Farbe ist schöner, fährt Darwin fort, als das arterielle Blut; es ist aber kein Grund vorhanden, zu vermuthen, dass die Farbe des Blutes an sich irgend ein Vortheil sei; und wenn sie auch dazu beiträgt, die Schönheit der Wangen eines Mädchens zu erhöhen, so wird doch niemand behaupten wollen, dass sie zu diesem Zwecke erlangt worden sei.‘‘ Wäre unser Blut nicht roth sondern grün, so würden wir die Mädchen mit recht grünen Backen schön finden. Die unausbleibliche Folge von alle dem wird sein, dass Darwin eingestehen muss, dass er der geschlecht- lichen Zuchtwahl in derselben Weise zu viel zugeschrieben habe, 125 wie der natürlichen Zuchtwahl. Sagt er doch jetzt schon gleich darauf: „Die hier über die Rolle, welche die geschlechtliche Zuchtwahl in der Geschichte des Menschen gespielt hat, vorge- brachten Ansichten ermangeln der wissenschaftlichen Präcision‘‘ — dann war es besser, sie nicht vorzubringen. Hat somit die natürliche Zuchtwahl nieht immer das Bessere an die Stelle des Minderguten gesetzt, so hat sich umgekehrt trotz der natürlichen Zuchtwahl Unnützes, ja Schädliches erhalten und mit bemerkenswerther Zähigkeit durch die Generationen weiter geschleppt: wir meinen die rudimentären Organe (S. 8 und 17). Sie sind nicht sinnlos, indem sie die besten Zeugen sind, wo über die Verwandtschaftsverhältnisse der Organismen entschieden werden soll, aber vollständig zwecklos, und deshalb hat man ge- rade darauf die Lehre von der Dysteleologie (der Unzweck- mässigkeit) gebaut. Sie sollen der Tod aller Teleologie sein. Hier hat Gerland bereits die richtige Antwort gegeben: „Das teleologische Princip zeigt sich in der ganzen Welt so herrschend, dass man es nicht wegleugnen kann. Die‘ Entwickelungslehre, welche ein stetiges Fortschreiten vom Niedern zum Höhern mit unbestrittenem Rechte lehrt, beruht ganz auf diesem Princip, und dadurch, dass sie dessen Mechanik aufdeckt, schafft sie es doch nicht aus der Welt; jedes einzelne Wesen ist nach teleo- logischem Plane gebaut, wenn auch nicht absolut vollkommen und nicht ohne Störung durch den Gang der Entwickelüng selber, wie z. B. die rudimentären Organe beweisen. Allein, da dieselben einst [in den älteren Stammformen] teleologisch wirksam waren, so beweisen sie gerade das zähe Festhalten der Natur an dem einmal als zweckmässig, als teleologisch gut Erkannten.‘‘ Nur ein beständiges Neuschaffen (in dem Sinne Cuviers) hätte die rudimentären Organe beseitigen können und beseitigen müssen; und dasselbe hätte man von Darwin’s unbegrenzter Variation erwarten können. Die rudimentären Organe sind der wirksamste Beweis für die Descendenzlehre; aber der Beweis gegen die Teleologie, den man daraus zimmert, ist wirkungslos. Nur wenn der Beweis erbracht werden könnte, dass ein solches Organ nicht aus alter Erbschaft mitgeschleppt, sondern erst später in dem Entwickelungsgange, als es bereits unnütz war, entstanden sei, dann wäre es allerdings ein Beweis gegen die Teleologie; dann wäre es aber zugleich auch eine schwere Anklage gegen die natürliche Zuchtwahl. Wir sagten oben: man wird uns unseren Einwand mit 126 vollem Masse zurückgeben. Was wir von der natürlichen Zucht- wahl verlangen, dass sie alles zum Guten gestaltet habe, das wird man von der Teleologie, in deren Namen und Wesen es ja liegt, von vornherein voraussetzen zu müssen glauben. Was also die natürliche Zuchtwahl in dieser Beziehung nicht leistet, fällt nicht mehr dieser zur Last, als der Teleologie. Unzweck- mässiges und Unvollkommenes mischt sich überall unter das Zweckmässige und Vollkommene; übertragen wir die Sache auf das sittliche Gebiet, so durchzieht das Böse überall so sehr das Gute, dass es geradezu eine Inhärenz des Weltbegriffes genannt werden kann. Wir werden darauf zurückkommen und wollen hier nur bemerken, dass die Ausnahmen hier, wie immer, die Regel nur verstärken. Das könnte man freilich auch von der natürlichen Zuchtwahl sagen; aber wer macht uns klar, warum sie nicht, wenn sie einmal den Weg der Ausnahmen betrat, auf diesem verblieb, warum sie den Weg in die Regel zurück findet? Das ist die Freiheit, wir möchten sagen der freie Wille, den der Schöpfer nicht etwa nur dem Menschen, sondern in gewissem Sinne der ganzen Natur gelassen hat — der freie Wille, der je höher die psychischen Fähigkeiten steigen, desto eigenmächtiger und eigensinniger eingreifen kann in die natürliche Ordnung der Dinge, am meisten also beim Menschen, der auch in dieser Be- ziehung über alle anderen Geschöpfe hervorragt. Aber trotz dieser Freiheit wird man gleichwohl die Naturgesetze für unab- änderlich halten dürfen. Hat der Hagelschlag hier die Früchte des Feldes zerstört oder ist aus irgend welchem Grunde Misswachs eingetreten, so gedeihen sie anderwärts desto besser, und war das Jahr überall schlecht, so folgt darauf ein um so besseres. Auf Regen folgt Sonnenschein, pflegt man zu sagen, und wir sind gewohnt, von dieser Abwechselung das Gedeihen für unsere Saaten zu erwarten. Aber hier bleibt der Regen, dort der Sonnen- schein länger aus, als gut ist, — und die Welt geht darum doch nicht aus den Fugen. Wir nehmen an, dass es ganz natür- liche Ursachen sind, die diese Schwankungen herbeiführen; aber was hat die natürliche Zuchtwahl für Mittel, sie auszugleichen ? Ein Abirren in’s Unendliche wäre nach der Darwin’schen Theorie nicht ausgeschlossen, und damit die Herrschaft des Zufalls — und diesen gibt es nicht in den kosmischen Gesetzen. „Kein Denker, sagt Huber (die Forschung nach der Materie), sei er Philosoph oder Naturforscher, kann den Zufall im eigentlichen Sinne behaupten, weil er damit jede bestimmte Kraft und jedes 127 Gesetz der Wirksamkeit dieser Kraft leugnen würde, und dann nicht mehr erfindlich wäre, was er noch in der Natur, die für ihn ja nur ein stets sich wandelndes Kaleidoskop wäre und jeden Moment ein anderes Gesicht zeigte, erforschen wollte.‘ Wie unendlich klein erscheint nun das Gesetz der natür- lichen Zuchtwahl gegenüber der grossen Aufgabe, die man damit zu lösen unternommen hat! Die angebliche Trägerin der mo- nistischen Weltanschauung schrumpft zu einem ziemlich unter- geordneten Regulator der Variirungen bei den organischen Wesen unserer Erde zusammen. Dazu steht ihr in Aussicht, dass sie nur immer mehr von ihrer Bedeutung verliert, dass ihre Wirk- samkeit allmählich mehr und mehr schwindet, mit der schwinden- den Kraft der Variirung selbst — wie sie ja bei den wohl- ausgeprägten und fest gewordenen Arten, wie namentlich beim Menschen selbst, jetzt schon kaum mehr eine Bedeutung hat. Sie wird aussterben mit den Arten, und die Dinge werden noch da sein — und mit ihnen das uralte Räthsel. XVII. Mechanisch und teleologisch, keine Gegensätze. Der Zweckbegriff. „Die Wilden, welche zum erstenmal ein Linienschiff oder eine Locomotive sehen, halten diese Gegenstände für die Erzeug- nisse übernatürlicher Wesen und können nicht begreifen, dass der Mensch, ein Organismus ihresgleichen, eine solche Maschine hervorgebracht habe.‘‘ Mit. diesen Worten mahnt uns Häckel daran, dass wir „bei Betrachtung solcher höchst vollkommenen Organe (wie Auge und Ohr), die scheinbar von einem künst- lerischen Schöpfer für ihre bestimmte Thätigkeit zweckmässig erfunden und construirt, in der That aber durch die zweck- mässige Thätigkeit der | natürlichen Züchtung mechanisch ent- standen sind, ähnliche Schwierigkeiten des naturgemässen Ver- ständnisses, wie die rohen Naturvölker gegenüber den verwickelten Erzeugnissen ungerer neuesten Maschinenkunst, empfinden.“ Könnte er uns beweisen, dass Linienschiff und Locomotive durch die beständige Potenzirung des Versuches, sie ihrem Zwecke näher zu bringen und dienstbarer zu machen, sich von selbst zu diesem 128 vollendeten Mechanismus entwickelt hätten, erst dann wäre sein Beweis zutreffend. Die Indianer wurden bald gewahr, was dies für weisse Götter waren, die ihnen die Seeschiffe zum erstenmal zeigten und in ihren Kanonen den Blitz und Donner hören liessen. Man stellt dem Wilden den Constructeur der Maschine in der Gestalt eines weissen Mannes vor, zeigt ihm die Con- struction der. Locomotive und erklärt ihm die Wirkung des Dampfes, und damit ist für ihn die Sache erledigt; wer aber zeigt uns die höhere Intelligenz, den unbekannten Techniker, der hinter dem Getriebe der grossen Maschine steht, die wir Welt nennen? Auge und Ohr, diese kunstvoll complieirten Organe, ver- folgen wir rückwärts bis zu den kargen Anfängen bei den niederen Thieren. So können wir auch den stolzen Bau des Linienschiffes rückwärts verfolgen bis zu dem einfachen Baum- stamme, auf dem der erste Mensch rudernd über den Fluss ge- langte, und um einen Stammbaum für dieses Product der natürlichen Züchtung wären wir nicht verlegen: finden wir doch bei den Wilden noch heute eine stattliche Reihe von primitiven Fahrzeugen, wie sie einst die Menschheit, als sie anfing, zu fahren, haben musste, und die Geschichte gäbe uns die weitern Entwickelungsphasen an die Hand. Aber was haben wir damit gewonnen? Soll der Baumstamm einem bewussten Ziele zutreiben, so muss der Mensch dabei sein, der ihm die Richtung vor- schreibt; er treibt sonst in’s Unendliche, in den weiten Ocean ebenso gut, als an das jenseitige Ufer des Flusses: Ganz ebenso konnte es nur der Mensch sein, der den ersten Schritt vorwärts that auf der Linie, die zu unseren stolzen Schiffen führte: den Baumstamm aushöhlen, um sich und seine Lasten darein zu setzen. Und so führt es uns in dieser Frage nicht weiter, wenn wir die Locomotive auseinander nehmen und zerlegen in ihre Theile von Eisen und Blech, um zu beweisen, dass „kein Pferd darin sitzt“: hinter der Geschichte des Wagens, von der ersten Walze bis zur stattlichen Dampffähre, steht der denkende Mensch — und geradeso steht hinter der sich so erstaunlich complicirenden Naturmechanik ein bewusstes Ziel, eine höhere Intelligenz, ohne welche die grosse Weltmaschine in’s Stocken kommen würde, so gewiss wie die ]ocomotive oder das Linienschiff, dem der Lenker fehlte, Wenn sich also die „meisten Naturforscher gegenüber den Formen der Organismen nicht anders verhalten, als jene Wilden 129 ° der Locomotive oder dem Linienschiff gegenüber‘‘, so ist dieses „Verhalten‘‘ durchaus gerechtfertigt. Den Wilden gegenüber ist der weisse Mensch, so lange sie ihn und seine Producte nieht genauer kennen, das „übernatürliche Wesen‘; und so bleibt auch dem cultivirten Menschen „gegenüber ein „über- natürliches Wesen‘ bestehen, das die grosse Weltmaschine nach bewusstem, wenn auch für uns aus der Natur selbst nicht er- kennbarem Ziele sich hat entwickeln lassen und noch entwickeln lässt. ‚Die staunenswerthe Zweckmässigkeit, sagt v. Hart- mann (Wahrheit und Dichtung im Darwinismus), wo er den- selben Ausspruch Häckels kritisirt, wird dadurch um nichts ver- mindert, wenn man den vollen Einblick in den Mechanismus er- langt hat. So bleiben auch wir [wie jene Wilden] im Rechte, wenn wir in dem weit staunenswürdigeren grossen Mechanismus der Natur die Documentirung einer der unsrigen weit überlegenen Intelligenz bewundern, und unsere Bewunderung wird dadurch nicht vermindert sondern erhöht, wenn es uns gelingt, mit unserm Verständniss allmählich mehr inden Zusammenhang dieses Mechanis- mus einzudringen.‘‘ Wir schliessen uns diesen Worten vollkommen an, obgleich wir unter der „überlegenen Intelligenz‘ etwas anderes verstehen, als die „Philosophie des Unbewussten‘. Nicht besser ist der Versuch geglückt, die Harmonie in den Bahnen der Himmelskörper als mechanische Arbeit der Natur ohne jede Zuhilfenahme eines intelligenten Urhebers zu erklären. „Ein in der Kunst des Ballets ganz Unwissender, sagt du Prel, soll eine Reihe Tänzerinnen aufgestellt haben ohne bestimmte Anordnung. Beim Anheben des allgemeinen Tanzes würden (unter Voraussetzung des Verbotes sich gegenseitig auszuweichen), zahl- reiche Collisionen eintreten. Angenommen es sei für den Fall befohlen auszutreten, so würden in Bälde alle unharmonischen Tanzfiguren eliminirt sein, und in indirecter Auslese würden nur solche Tänzerinnen übrig bleiben, welche ohne sich mehr gegen- seitig zu stören, ihre Bewegungen fortsetzen könnten, Ein Un- eingeweihter würde unsern Mann (der sich wohl selbst wunderte, wie sich alles so hübsch gemacht hat), für einen gewiegten Ballet- meister halten. Wir gleichen dem zu spät gekommenen Zuschauer. Wir leben in dem Wahne, die Harmonie der Bahnen sei für die Gestirne vorgezeichnet, während sie doch nur durch die Ge- stirne selbst herbeigeführt worden ist.‘“ Wir wollen nicht darüber rechten, ob diese Annahme, nämlich dass unsere Planeten nur der ausgelesene Rest aus einer grossen Menge ursprünglicher Kuhl, Descendenzlehre. Ö) 130 Planeten seien, mit unseren Kenntnissen von den Verhältnissen des Himmels sich verträgt: es müsste ja der Himmel verfinstert werden von der Masse der Planetentrümmer, die sich alle herum- treiben müssten, und die Meteoriten würden nicht ausreichen als Zeugen dieses grossen „Kampfes um das Dasein am Himmel‘, noch weniger die Asteroiden, die ja nur die Trümmer eines Planeten sein sollen, und die Kometen könnten gar nicht heran- gezogen werden, da sie, zum Theil wenigstens, unserm Sonnen- system gar nicht ursprünglich angehören, sondern fremd in das- selbe hereingekommen sein sollen. Aber von allem diesem abgesehen ist, dabei leider die eine Möglichkeit übersehen, die bei einem solchen Ballet in der Regel wohl zur Wirklichkeit würde: es könnte nach der Reihe jeder der Tanzenden einmal mit einem andern collidiren, und müsste er dann austreten, dann bliebe zuletzt keiner übrig. Und diese Möglichkeit träte bei den Himmelskörpern um so leichter ein, da sie sich einander an- ziehen — was bei den Tänzern nicht der Fall ist. So beweist uns diese Gleichnissrede, so bereitwillig wir die mechanischen Gesetze auch für die Entstehung und Bewegung der Himmels- körper anerkennen, direct das Gegentheil von dem, was sie be- weisen sollte, nämlich dass, wie ein Ballet nicht ohne einen Balletmeister, so die kosmische Ordnung nicht ohne eine ordnende Intelligenz denkbar ist. Gewiss, die Naturgesetze wirken mechanisch ; aber das wider- streitet der Teleologie gar nicht; wir können mechanisches Arbeiten annehmen und dabei vollständig zum Zweckbegriff gelangen, Ist nicht all unsere Arbeit in den Fabriken mechanisch? und doch springt der Zweckbegriff bei jedem einzelnen Stück, das gearbeitet wird, wie bei der ganzen Anlage deutlich in die Augen. Der Zweckbegriff aber setzt die höhere Intelligenz voraus, die den Zweck setzt, den Werkmeister in der Fabrik, und die Natur selbst, in welcher Form auch immer kann dieser Werkmeister nicht sein. Die Behauptung, dass die Natur aus innerer, ihr beiwohnender Kraft die Welt so harmonisch gestaltet, ist nicht weniger sinnlos, als wenn jemand jene Fabrik von selbst ent- standen sein liesse. Hier kennen wir die höhere Intelligenz, die dahinter steht, genau: es ist der Mensch, der über die Materie bis zu einem gewissen Grade gebietet; kennten wir sie ebenso. beim Weltall, d. h. könnten wir sie mit unsern Sinnen erfassen, so wäre die Frage abgethan. Aber der Umstand, dass wir sie nicht kennen, ist kein Grund ihre Existenz zu leugnen. Und so . \ ORTE 131 wird der uralte Schluss aus dem Werk auf den Meister noch immer zu Recht bestehen bleiben : deum non videmus, sed agnosci- mus ex operibus eius. „Man muss es aufgeben, sagt v. Hart- mann, den Begriff des Mechanismus als einen der Telenlogie ab- solut entgegengesetzten zu behandeln, da er den letzteren invol- virt — man .muss aufhören von todtem Mechanismus zu reden, wenn es zu seinem Wesen gehört, unaufhörlich als lebendig, als organisches Leben sich zu erweisen. In der That: wäre der Mechanismus der Naturgesetze nicht teleologisch, so wäre er auch kein Mechanismus geordneter Gesetze, sondern ein blödsinniges Chaos stierköpfig eigensinniger. Gewalten.‘‘ „Sieht man in der Welt nichts als ein nothwendiges Wirken blinder Ursachen ohne regierenden Zweck, sagt Steinthal (Ab- riss der Sprachwissenschaft), so sind alle Schöpfungen Zufall, und die ungeheuerlichste Erscheinung ist so gerechtfertigt, als die in sich übereinstimmendste — sofern dann noch von Recht- fertigung die Rede sein kann.‘‘“ Aber, wird man einwenden, die natürliche Zuchtwahl, die zum Guten der Geschöpfe wirkt, merzt die Ungeheuerlichkeiten aus zu Gunsten der passenderen Form. Aber woher kommt die passendere Form? Sie springt durch Variirung hervor! Was treibt sie denn hervor? Und warum setzen sich die hervorspringenden Variirungen zu einer solchen Stufenleiter immer höherer Vollkommenheit zusammen? Und warum läuft neben dieser leiblichen Vervollkommnung die psychische Ver- vollkommnung her? Ein Trieb zu dieser Vervollkommnung wird zugegeben, er ist im Thiere vorgebildet und erscheint im Menschen erst in wahrer Vollendung. Aber woher kommt dieser Trieb? warum musste er sich bis zum Bewusstsein, im Menschen bis zur Psyche entwickeln, so dass es nun zum Wesen des Menschen gehört zu denken und zu sprechen, religiöses und sittliches Be- dürfniss zu fühlen? Uns will es bedünken, dass der, welcher sich hier mit der natürlichen Zuchtwahl zufrieden gibt, eine Drahtpuppe mit menschlichen Kleidern ausstattet und von ihr verlangt, dass sie sich bewegen und gehen, wünschen und be- gehren soll. Bemerkenswerth ist die Art, wie der Verfasser des alten und neuen Glaubens den Zweckbegriff umgeht oder vielmehr um denselben herumgeht. Ihm ist sein Universum — ein anderer Name für Natur — ‚Ursache und Wirkung, Aeusseres und Inneres zugleich‘, ‚ein gesetzmässiges lebens- und vernunftvolles All“. Das erste ist für den menschlichen Verstand ein horribile 9* 12 dietu (nachgebildet der leidigen Kant’schen Definition von „Natur- zweck‘, s. unten), das zweite danach eine hohle Phrase. Das „gesetzmässige, lebens- und vernunftvolle All“ ist menschlichen Begriffen, nicht etwa menschlichem Aberglauben schwerer zu er- reichen, als der persönliche Gott, den Strauss beseitigen will; wir gerathen aus einem Dogma in ein anderes, welches natür- licher sein soll, aber viel unnatürlicher ist, aus der Seylla in die Charybdis. Wir werden darauf zurückkommen und wollen hier Strauss fortfahren lassen: „Wir betrachten die Welt nicht mehr als das Werk einer absolut vernünftigen und guten Persönlich- keit, wohl aber als die Werkstätte des Vernünftigen und Guten; sie ist uns nicht mehr angelegt von einer höchsten Vernunft, aber angelegt auf die höchste Vernunft.‘“‘ Es ist uns unerfind- lich, was das für einen Sinn haben soll, und wir fragen erstaunt: wo kommt diese Anlage zur höchsten Vernunft her, welche Rich- tung hat sie, welches Ziel? Hier müssen wir constatiren, dass Strauss aus der Rolle fällt: „„Angelegt auf die höchste Vernunft‘‘, das kann ihm Darwin und seine Schule nicht einräumen, da es ja eben der Zweckbegriff in schönster Blüthe ist. ‚Im Menschen hat die Natur nicht bloss überhaupt aufwärts, sondern über sich selbst hinausgewollt‘‘, heisst es an der Stelle, die wir (oben S. 113) vollständig adoptirt haben; hier erscheint der Pferdefuss deutlich genug: hat die Natur gewollt, dann hat sie ein Ziel gehabt, denn nur der kann wollen, der sich eines Zieles bewusst ist. „Der Zweck ist bedingt durch das Wollen, also durch ein wollendes und wissendes Wesen, ohne solches ist der Zweck unmöglich“, sagt v. Kirchmann (in den Erläuterungen zu Kant’s Kritik der Urtheilskraft). Und umgekehrt bedingt das Wollen den Zweck, der ‚erst dann möglich ist, wenn man die Natur als das Werk eines wollenden Wesens ansieht.“ Es kommt nicht darauf an, dass die Natur hier für das intelligente Wesen ge- wonnen wird; sie hat gewollt, und damit haben wir den Zweckbegrifft — naturam expellas furca, tamen usque recurret. Es war also etwas übereilt, dass Häckel seine ‚volle Zustimmung zu dem neuen Glauben von Strauss‘ erklärt hat. Häckel und nach ihm Strauss berufen sich auf den grossen „Königsberger Philosophen“ Kant, der ‚‚neben Lamark und Göthe als der erste und bedeutendste Vorläufer Darwin’s hervor- zuheben‘“ sei, in dessen Darstellung ‚‚die äusseren Umrisse der Lamark-Darwiy’schen Theorie bereits gegeben, und auch von den Springfedern, welche die Bewegung innerhalb derselben bestimmen, I — Je 133 bereits etliche eingesetzt‘‘ seien. Sie eitiren beide eine Stelle aus der „‚Kritik der Urtheilskraft‘‘, die wir „bei dem ausser- ordentlichen Interesse, welches sie sowohl für die Beurtheilung der Kant’schen Philosophie, als für die Geschichte der Descen- denzlehre besitzt,‘“ hier mittheilen: ‚Die Uebereinkunft so vieler Thiergattungen in einem gewissen gemeinsamen Schema, das nicht allein in ihrem Knochenbau, sondern auch in der Anord- nung der übrigen Theile zum Grunde zu liegen scheint, wo bewunderungswürdige Einfalt des Grundrisses durch Verkürzung einer und Verlängerung anderer, durch Einwickelung dieser und Auswickelung jener Theile eine so grosse Mannigfaltigkeit von Species hat hervorbringen können, lässt einen, obgleich schwachen Strahl von Hoffnung in das Gemüth fallen, dass hier wohl etwas mit dem Princip des Mechanismus der Natur, ohne welches es überhaupt keine Naturwissenschaft geben kann, auszurichten sein möchte. Diese Analogie der Formen, sofern sie bei aller Ver- schiedenheit einem gemeinschaftlichen Urbilde gemäss erzeugt zu sein scheinen, verstärkt die Vermuthung einer wirklichen Verwandtschaft derselben in der Erzeugung von einer gemein- schaftlichen Urmutter, durch die stufenartige Annäherung einer Thiergattung zur anderen, von derjenigen an, in welcher das Princip der Zwecke am meisten bewährt zu sein scheint, nämlich dem Menschen, bis zum Polyp, von diesem sogar bis zu Moosen und Flechten, und endlich zu der niedrigsten uns merklichen Stufe der Natur, zur rohen Materie, aus welcher und ihren Kräften, nach mechanischen Gesetzen (gleich denen, wonach sie in Krystallerzeugungen wirkt), die ganze Technik der Natur, die uns in organisirten Wesen so unbegreiflich ist, dass wir uns dazu ein anderes Princip zu denken genöthigt glauben, abzu- stammen scheint. Hier steht es nun dem Archäologen der Natur frei, aus den übriggebliebenen Spuren ihrer ältesten Revolutionen, nach allem ihm bekannten oder gemuthmassten Mechanismus der- selben, jene grosse Familie von Geschöpfen (denn so müsste man sie sich vorstellen, wenn die genannte durchgängig zusammenhängende Verwandtschaft einen Grund haben soll) entspringen zu lassen.“ Soweit eitirt Häckel. Wir wollen aber gleich weiter lesen: „Er (der Archäolog der Natur) kann den Mutterschooss der Erde, die eben aus ihrem chaotischen Zustande herausging (gleichsam als ein grosses Thier) anfänglich Geschöpfe von minder zweck- mässiger Form, diese wiederum andere, welche angemessener ihrem Zeugungsplatze und ihrem Verhältnisse unter einander sich 134 ausbildeten, gebären lassen, bis diese Gebärmutter selbst erstarrt, sich verknöchert, ihre Geburten auf bestimmte, fernerhin nicht ausartende Species eingeschränkt hätte, und die Mannigfaltiskeit so bliebe, wie sie am Ende der Operation jener fruchtbaren Bil- dunrgskraft ausgefallen war.‘‘ Es ist in der That erstaunlich, wie der grosse Philosoph, 70 Jahre vor dem Auftreten Darwin’s, alle die Ermittelungen, wovon unsere Zeit den Namen tragen soll, hier in kurzen Worten vorwegnimmt — eben wie er, der Philosoph, vor mehr als 100 Jahren der Astronomie die Bahn vorgezeichnet hat, welche sie im Ganzen und Grossen heute noch geht (oben S. 3). Nicht nur die Grundlagen und der Ausgangs- punct der heutigen Entwicklungslehre sind in diesen Worten ange- deutet, sondern auch — in der Stelle, welche wir zugefügt haben — das Ziel und endliche Erlöschen dieser Entwicklung, wie wir dies weitläuflg nachzuweisen versucht haben, Also „aus der rohen Materie und ihren Kräften scheint die ganze Technik der Natur nach mechanischen Gesetzen abzu- stammen,‘‘ wir brauchen dazu kein ‚anderes Princip‘‘ zu denken. Das wäre denn im Sinne Häckel’s, wenn nur nicht gleich ein Zusatz folgte, der, wie Häckel selbst gesteht, ‚‚den wichtigsten Grundgedanken des vorhergehenden Satzes, dass durch die De- scendenztheorie eine rein mechanische Erklärung der organischen Natur möglich werde, vollständig wieder aufhebt!‘“ „Allein er [der Archäologe der Natur] muss gleichwohl zu dem Ende dieser allgemeinen Mutter eine auf alle diese Geschöpfe zweck- mässig gestellte Organisation beilegen, widrigenfalls die Zweckform der Producte des Thier- und Pflanzenreichs ihrer Möglichkeit nach gar nicht zu denken ist, Alsdann aber hat er den Erklärungsgrund nur weiter aufgeschoben und kann sich nicht anmassen, die Erzeugung jener zwei Reiche von der Bedin- gung der Endursachen unabhängig gemacht zu haben“. Also eine „zweckmässig gestellte Organisation“, und — die „End- ursachen“! „,Es ist uns, sagt Kant an einer anderen Stelle, schlechterdings unmöglich, aus der Natur selbst hergenommene Erklärungsgründe für Zweckverbindungen zu schöpfen, und es ist nach der Beschaffenheit des menschlichen Erkenntnissvermögens nothwendig, den obersten Grund dazu in einem ursprünglichen Verstande als Weltursache zu suchen‘. Und doch spricht er auch wieder fortwährend von „Naturzwecken‘“, „ohne über die Natur hinaus den Grund der Möglichkeit derselben zu suchen“. „Ein Ding existirt als Naturzweck, wenn es von sich selbst 135 Ursache und Wirkung ist“; der Baum zeugt den Baum und er zeugt sich auch selbst, indem er wächst. Das Wort Naturzweck, sagt v. Kirchmann mit Recht, ist an sich ein Widerspruch; denn die Natur gilt hier als vernunftlos: sie hat kein Wissen und Wollen, kann deshalb auch keinen Zweck haben“. Und Kant selbst sagt: ‚Zwecke haben eine gerade Beziehung auf Vernunft, sie mag nun eine fremde oder unsere eigene sein‘‘. Unsere eigene ist es nicht, welche die Zwecke setzt, sie erkennt sie nur; und die fremde ist nicht die Natur, die keine Vernunft haben kann. Ein wahres Wort spricht Kant aus, wenn er sagt: „Immer den blossen Mechanismus befolgen wollen, muss die Vernunft ebenso phantastisch und unter Hirngespinnsten von Naturver- mögen, die sich gar nicht denken lassen, herumschweifend machen, als eine bloss teleologische Erklärungsart, die gar keine Rück- sicht auf den Naturmechanismus nimmt, sie schwärmerisch machte“, d. h. also: einerseits vermag die Natur durch ihren Mechanismus sich nicht selbst zu erklären, andrerseits genügt es nicht, die weisen Zwecke des Schöpfers sofort überall heran- zuziehen, wo eine Erklärung durch den natürlichen Mechanismus möglich ist. Denn das wäre, wie Kant sagt, „ein Princip der faulen Vernunft, alle Ursachen, deren objective Realität man noch durch fortgesetzte Erfahrung’ kann kennen lernen, auf einmal vorbei zu gehen, um in einer blossen Idee, die der Vernunft sehr bequem ist, zu ruhen“. Das Salz würzt unsere Speisen, das erscheint nun als sein Zweck; aber wäre es nicht da, So wäre unser Geschmack und unser Magen anders organisirt, so dass wir des Salzes nicht bedürften — wie ja thatsächlich das Salz erst verhästnissmässig spät in Gebrauch gekommen ist: Homer spricht noch von Völkern, die ‚das Meer nicht kennen und nicht mit Salz gemischte Speise essen‘‘, und noch heute soll es Stämme in Asien und Afriea geben, denen das Salz unbekannt ist (Hehn, Culturpflanzen und Hausthiere). ‚Ich muss, sagt Kant an andrer Stelle, alle Ereignisse der Natur nach bloss mechanischen Gesetzen benrtheilen, was aber nicht heisst: sie sind danach allein möglich, sondern nur: ich soll jederzeit über dieselben nach dem Princip des blossen Mechanismus der Natur reflectiren, weil, ohne ihn zum Grunde der Nachforschung zu legen, es gar keine eigent- liche Naturerkenntniss geben kann“. Wir können vollständig an den Mechanismus der Natur glauben, selbst in den Fällen, wo wir ihn mit unseren heutigen Mitteln nicht zu erklären ver- mögen. Aber wir können nicht annehmen, dass dieser Mechanismus 136 die Natur erklärt; denn das hiesse die Natur zu einem ver- nünftigen, nach Zwecken handelnden und nach Zielen strebenden Wesen machen, „Also, sprechen wir mit Kant, der Mechanismus der Natur kann nicht allein zulangen, um sich die Möglichkeit eines or- ganischen Wesens [und der Naturentwicklung überhaupt] danach zu denken, sondern muss (wenigstens nach der Beschaffenheit unseres Erkenntnissvermögens) einer absichtlich wirkenden Ursache ursprünglich untergeordnet werden“. Die Einschränkung „nach der Beschaffenheit unseres Erkenntnissvermögens‘‘ macht die Sache nicht anders, Denn reicht unser Erkenntnissvermögen nicht aus, um uns ein Urtheil zu bilden, oder zeigt es uns die Dinge in dieser Beziehung anders, als sie’ sind, so lohnt es sich nicht weiter überhaupt Betrachtungen anzustellen über die Natur, und beide Theile behalten in dem Streite Recht: sie gehen, wie der Ochs und der Esel in der Fabel, d. h. sie sind beide Narren. Mit Recht sagt deshalb v, Kirchmann: -,Hätte Kant Recht, so thäte man besser, alle Bücher auf einen grossen Scheiterhaufen zu werfen und ihren Inhalt, der nur Schein wäre, auch durch Feuer in Dunst aufzulösen. Nur das Vertrauen, dass das Sein dem Wissen erreichbar ist, dass der Mensch die Wahrheit erreichen kann, gibt ihm den Muth, seine Kraft, Zeit und Gesund- heit für ihre Erlangung einzusetzen‘, Also entweder mit dem Materialismus die Zwecke und die Zweckmässigkeit in der Natur überhaupt leugnen und es für Zufall- erklären, dass die Natur sich so und nicht anders ent- wickelt hat, und dass sie namentlich bis zum Menschen, aber auch nicht über den Menschen hinausgegangen ist, oder eine zwecksetzende und der Bewegung das Ziel vorschreibende Intel- ligenz annehmen — das bleibt die einzige Wahl, die wir haben. Aber die Darwin’sche Theorie herbeiziehen, die mit der Erklärung des Mechanismus in der Natur jede Teleologie und damit den Gottesbegriff beseitigt habe — wie auch v. Kirchmann meint — das hiesse kaum mehr, als beim Ertrinken sich an einen Stroh- halm, klammern. Wer den Zufall leugnet in der Weltentwicke- lung — und das muss ja folgerichtig auch Darwin und seine Schule — der ist sofort beim Gottesbegriff. Denn wo Gesetz und Ordnung ist, da ist ein Zweck, und wo ein Zweck ist, da ist ein vernünftiges Wesen, das ihn setzt — und dieses ver- nünftige Wesen kann der Mechanismus der Natur nicht sein. 137 XIX, Die letzten Gründe. Die Atome. Unser Urtheil über die Tragweite, die man den Dar- win’schen Ermittelungen zuschreibt, ist also ein verneinendes. Sollen wir hier noch einmal erklären, dass wir diese Ermittel- ungen selbst durchaus nicht unterschätzen? Darwin hat — und dafür sind wir ihm dankbar — in so vielen Fällen den Mechanismus der Natur aufgedeckt, Aber hat er ihn damit erklärt, d. h. hat er uns seine letzten Ursachen nachge- wiesen? Er selbst gesteht oft genug, dass die Gesetze, von denen er spricht, in ihrem letzten Grunde völlig dunkel sind. Und ebenso bekennt Häckel unumwunden: ‚Wir gelangen nirgends zu einer Erkenntniss der letzten Gründe. Die Entstehung jedes einfachen Salzkrystalles, den wir beim Abdampfen einer Mutter- lauge erhalten, ist uns im letzten Grunde nicht minder räthsel- haft, und an sich nicht minder unbebegreiflich, als die Entstehung jedes Thieres, das sich aus der einfachen Eizelle entwickelt.‘ Variirung und Vererbung sind die beiden Grundpfeiler des Entwickelungsmechanismus: ja wer nur zu sagen wüsste, was sie eigentlich sind! Wir sehen ihre Wirkungen und haben erkannt, wie sie sich zu einander steigend und fallend ver- halten: wer gibt uns aber die Gründe an, warum dieses so ist? Die Variirung springt frei hervor, sagten wir, und Darwin selbst muss anerkennen ; ‚Variabilität ist die nothwendige Grund- lage für die Wirkung der Zuchtwahl und ist vollständig unabhängig von derselben‘; er muss von „‚spontanen‘‘ Abänderungen reden, die „ohne irgendwelche anregende Ursache zu entstehen scheinen‘ — womit er die Sache wieder dem Zufall überlässt. Er sagt an anderer Stelle: „Ich habe bisher von den Abänderungen zuweilen so gesprochen, als ob dieselben vom Zufall veranlasst wären. Dies ist natürlich eine ganz incorrecte Ausdrucksweise; sie dient aber dazu, unsere gänzliche Unwissenheit über die Ursache jeder besonderen Abweichung zu beurkunden.““ Aber das deckt die Sache doch nicht, das ‚ist doch nicht das, was wir Zufall nennen. Wer gab also den Abänderungen die Richtung ? wer leitete die Variirung bis zum Menschen hinauf? Und nun die capriciösen Gesetze der Ver- erbung: dass die Eigenschaften der Eltern auf die Kinder über- 138 gehen, erbliche Krankheiten in einem bestimmten Lebensalter sich einstellen, äusserliche Merkmale, die sogenannten Mutter- male, in bestimmtem Lebensalter an bestimmter Körperstelle auftreten ete. — man lese Häckel’s vorzügliche Darstellung in der natürlichen Schöpfungsgeschichte — das alles sind ‚‚Grund- gesetze der Embryologie‘“‘, sagt Häckel; aber die scheinbar „einfachen und selbstverständlichen Erscheinungen‘ sind doch „überaus wunderbar und merkwürdig‘. Ferner das Gesetz der correlativen Anpassung: wo sich die Beine verkürzen, wird auch der Kopf kürzer und gedrungener, zu langen Beinen ge- hört beim Vogel ein langer Schnabel ete. Wir sehen, dass es so ist, und ‚sagen: es ist Gesetz; aber warum es so ist, wissen wir nicht. Und zum Schluss die Theilung der Geschlechter, die sich aus der geschlechtslosen Fortpflanzung (durch die Zwischenstufe der Zwitterbildung) entwickelt hat, die weit- reichenden Unterschiede in der Entwickelung und den Functionen der beiden Geschlechter (vgl. oben S. 123) — es sind lauter ungelöste Fragen, die mit der natürlichen Zuchtwahl nichts gemein haben. Gerland, der einer „plump mythischen Auffassung des teleologischen Prineips fern zu stehen‘ behauptet, sagt: „Die Bahn des Entwickelungsganges, das Ziel, zu welchem er sich hinbewegt, ist nicht durch die mechanischen Mittel gegeben; vielmehr ist dieses Wichtigste die Folge der inneren Natur des sich Entwickelnden, welche wir einzig und allein aus ihrer Entwickelung kennen lernen‘‘ — ja, wer nur gleich wieder zu sagen wüsste, was es mit dieser „inneren Natur‘ für eine Be- wandtniss hat! Auch Darwin gesteht: ‚In der grösseren Zahl der Fälle können wir nur sagen, dass die Ursache einer jeden unbedeutenden Abänderung vielmehr in der Natur der Con- stitution des Organismus, als in der Natur der umgeben- den Bedingungen liegt. Kant sagt (in der Fortsetzung der Stelle, die wir oben eitirt): „Selbst was die Veränderung betrifft, welcher gewisse Individuen der organisirten Gattungen zufälliger Weise unter- worfen -werden, wenn man findet, dass ihr so abgeänderter Charakter erblich und in die Zeugungskraft aufgenommen wird, so kann sie nicht füglich anders als gelegentliche Entwickelung einer in der Species ursprünglich vorhandenen zweck- mässigen Anlage zur Selbsterhaltung der Art beurtheilt werden.‘‘ Auch Goethe, auf den Häckel sich so gern beruft, sah die Nothwendigkeit der Entwickelungslehre klar vor sich; Sam a Bm a A ana u u ” 139 „Alle Glieder bilden sich aus nach ew’gen Gesetzen ; „Und die seltenste Form bewahrt im Geheimen das Urbild... „Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Thieres, „Und die Weise zu leben, sie wirkt auf alle Gestalten „Mächtig zurück. So zeiget sich fest die geordnete Bildung, „Welche zum Wechsel sich neigt durch äusserlich wirkende Wesen,‘ So eitirt Häckel. Aber wir müssen auch hier fortfahren : „Doch im Innnern befindet die Kraft der edlern Geschöpfe „Sich im heiligen Kreise lebendiger Bildung beschlossen. „Diese Grenzen erweitert kein Gott, es ehrt die Natur sie, „Denn nur also beschränkt war je das Vollkommene möglich “ Das ist gerade das Gegentheil von dem, was man Darwinismus nennt — die Constanz der Arten, und die „Kraft im Inneren‘“, von der Goethe spricht, ist nicht das, was Häckel daraus ge- macht hat. Also man nenne das Ding, wie man will: innere Natur, Bildungstrieb, Formgesetz etc., es bleibt trotz aller An- strengung ein unerklärter Rest, und zwar ein Rest, der das Beste thun muss zur Sache. Häckel selbst hat neuerdings (Freie Wissenschaft und freie Lehre) gestehen müssen, dass es „sehr wohl denkbar ist, dass [ausser der natürlichen Züchtung] noch andere Ursachen bei der Species-Bildung wirksam sind, von denen wir bis jetzt noch gar keine Vorstellung haben.‘ Und so lange dieser Rest bleibt, sind wir zur Annahme eines über die irdischen Verhältnisse hinausragenden Agens gezwungen, unser Gottesbewusstsein hat eine berechtigte Grundlage. „‚Wir können , sagt Goethe, bei Betrachtung des Weltgebäudes in seiner weitesten Ausdehnung, in seiner letzten Theilbarkeit uns der Vorstellung nicht erwehren, dass dem Ganzen eine Idee zum Grund liege, wonach Gott in der Natur, die Natur in Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit schaffen und wirken möge.“ Er fügt dem Abschnitt die herrlichen Verse bei: „So schauet mit bescheid’nem Blick Der ewigen Weberin Meisterstück, Wie Ein Tritt tausend Fäden regt, Die Schifflein hinüber, herüber schiessen, Die Fäden sich begegnend fliessen, Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt. Das hat sie nicht zusammengebettelt, Sie hat’s von Ewigkeit angezettelt, Damit der ewige Meistermann Getrost den Einschlag werfen kann.“ 20 Und nun der Urgrund alles Seins, des „initium rerum“, an dem sich bereits Thales, den wir den ersten Philosophen zu nennen pflegen, versucht hat! In jenem himmlischen Ballet, von dem wir sprachen (oben 8. 129) — seine Richtigkeit zu- gegeben — bleibt noch immer ein doppelter Rest, welcher der Erklärung harrt: Wer ist der Mann, der die Tänzer hinstellt und sie tanzen heisst? und die Tänzer selbst, woher kommen sie? „Der Stoff und die Kraft sind ewig,‘ sagen die Ein- geweihten. Der Stoff —. ja darunter kann ich mir etwas sehr Bestimmtes denken; denn ich nehme ihn mit meinem Sinne wahr. Die Kraft — auch diese ist wenigstens meiner Beobachtung er- reichbar; obwohl .sie ein abstracter Begriff ist und eine Kraft nicht denkbar ist ohne eine Aeusserung ihrer selbst, so sehe ich doch ihre Aeusserung an dem Stoffe. Aber das dritte Wort ewig? Da geht es uns, wie Faust, der die Bibel aufschlägt und liest: ‚‚Im Anfang war das Wort.“ Was ist ewig? Wir können uns keinen Begriff davon machen, da wir selbst nicht ewig sind und nichts Ewiges auf der Erde kennen. Aber wir müssen ja auch annehmen, dass der Raum unbegrenzt ist — ohne dass wir uns aus unsern irdischen Verhältnissen von dem Unbegrenzten eine Vorstellung machen können? Hier sind wir auf dem „extramundanen‘‘ Gebiet angelangt, wir müssen aner- kennen, dass unser Fassungsvermögen nicht ausreicht, unser Geist, der eben an die Materie gebunden ist, gar nicht darauf gebaut ist, das Letzte der Dinge zu erkennen. Was haben wir für Gewissheit in diesen Dingen? wir retten uns nur, indem wir sagen: es ist ein Urgrund alles Seins von Ewigkeit her, der den Stoff und die Kraft von Ewigkeit her gesetzt hat. Beständige Bewegung ist der natürliche Zustand der Ma- terie; Ruhe ist gehemmte Bewegung, so sagt man uns. Die Himmelskörper stürmen von Ewigkeit her vorwärts, und der grössere zieht den kleinern an, wodurch die Bewegung zu einer kreisförmigen wird. Schon der kosmische Nebel, aus dem unser Sonnensystem entstand, war im Rotiren um seine Axe begriffen. Wäre die Schwerkraft und der Widerstand der Luft nicht, so würde alles, was auf der Erde ist, wenn es einmal in Bewegung gesetzt wäre, sich ewig fortbewegen, der Kreisel, den das spielende Kımd mit der Schnur zieht, ewig weitertanzen. Aber woher diese ursprüngliche Bewegung ? woher die Schwerkraft? Es sind Atome, d. h. untrennbare, einfachste Materientheilchen, zu deren Wesen die beständige Bewegung gehört und aus deren beständiger Bewegung = 141 und verschiedener Zusammensetzung alles Leben und alle Ent- wickelung entsteht. So sagt die neuere Naturwissenschaft, indem sie eine alte Vorstellung wieder auffrischt; aber sie erklärt damit nichts, sondern schiebt die Erklärung nur weiter hinaus. „Die Vorstellung, wonach die Welt aus stets dagewesenen und unver- gänglichen kleinsten Theilen besteht, deren Centralkräfte alle Be- wegung erzeugen, ist gleichsam nur Surrogat einer Erklärung“, sagt Du Bois-Reymond (über die Grenzen des Naturerkennens) mit Recht. Das Wort Atom enthält in sich einen Widerspruch, da das kleinste Theilchen, sofern es einen Raum einnimmt, als noch weiter theilbar gedacht werden muss — wenigstens kommen wir, trotz aller Anstrengung der Naturwissenschaft, von dieser Vorstellung nicht los. Es geht uns hier wie bei den Anfangs- definitionen der Mathematik: sowie man sich einen Punct dar- stellen will, hat man einen Körper. Für unsere Vorstellung ist ein solcher Einheitsbegriff stets nur Abstraction, niemals eine Realität, und aus der Einheit entsteht nicht die Vielheit, wie sie das Objeet unserer Wahrnehmung ist — sowenig wie der Körper aus Puncten entsteht. Sodann sind die Eigenschaften, welche in diesen kleinsten Theilchen das Leben erzeugen und entwickeln sollen, nicht leichter zu erklären als in ihren Zu- sammensetzungen: es bleibt ja immer eines wie das andere Materie. Soll aber das Atom Abstraction sein, dann können wir keine Experimente darauf gründen, die uns bis zum Wesen der Dinge führen. „Man mag, sagt Preyer (die Aufgabe der Natur- wissenschaft), den Begriff des Atoms fassen wie ınan will, immer bleibt er nicht etwa eine Hypothese, die man hoffen dürfte der- maleinst zu beweisen, sondern eine Fietion, die schon deshalb unbeweisbar ist, weil sie in jeder ihrer bisherigen Gestalten in unvermeidliche Widersprüche verwickelt. Nur darum hat sich der Atombegriff so lange erhalten und hält sich noch, weil wir kein besseres Aushilfsmittel besitzen, um zahlreiche Erscheinungen in Zusammenhang zu bringen. Hierdurch allein fristet die Atomistik als ein Provisorium ihr Dasein.“ ‚Wir dürfen uns nicht täuschen und glauben, etwas erklärt zu haben, wenn für gewisse Vorgänge ein Name ausfindig ge- macht worden ist,‘ sagt der Französische Anthropolog de Quatre- fages, wo er von dem Newton’schen Gravitationsgesetz spricht. Es ist bekannt, dass Newton selbst, der Erfinder dieses Gesetzes, wenn er den Namen Gottes aussprach, das Haupt entblösßte. 142 Aus dem kosmischen Nebel hat sich unser Sonnensystem gestaltet: es war der Anfang der Kraft, die auf unserm Planeten das Leben erzeugt und zum Schlusse den Menschen werden lies. Aber indem wir annehmen , dass einst aus dem indiffe- renten Stoff das erste Lebendige entstand, haben wir damit die Urzeugung erklärt? Und diese Kraft, die im Grossen wirkte, wiederholt sich täglich und stündlich im Kleinen: jede Zeugung ist eine Wiederholung der Urzeugung beim einzelnen Individuum, wie die Entwickelung des Individuums in gewissem Sinne eine Wiederholung der grossen Entwickelung ist, die wir Schöpfuug zu nennen pflegen. Wie entsteht aus dem Samenkorn die Pflanze? das Leben im Ei? ,‚,Wenn der Naturforscher, sagt Virchow, dem Gebrauche der Geschichtschreiber und Kanzel- redner zu folgen liebte, ungeheuere und in ihrer Art einzige Erscheinungen mit dem hohlen Gepränge schwerer und tönender Worte zu überziehen, so wäre hier der Ort dazu; denn wir sind an eines der grossen Mysterien der thierischen Natur getreten, welche die -Stellung des Thieres gegenüber der ganzen übrigen Erscheinungswelt enthalten. Die Frage von der Zellenbildung, die Frage von der Erregung anhaltender gleichartiger Bewegung, endlich die Fragen von der Selbstständigkeit des Nervensystemes und der Seele — das sind die grossen Aufgaben, an denen der Menschengeist seine Kraft misst, Die Beziehung des Mannes und des Weibes zur Eizelle zu erkennen, heisst fast soviel, als alle jene Mysterien lösen. Die Entstehung und Entwickelung der Eizelle im mütterlichen Körper, die Uebertragung körper- licher und geistiger Eigenthümlichkeiten des Vaters durch den Samen auf dieselbe, berühren alle Fragen, welche der Menschen- geist je über des Menschen Sein aufgeworfen hat.‘ „Und sie lösen diese höchten Fragen mittelst der Descendenztheorie in rein mechanischem, rein monistischem Sinne,‘‘ fügt Häckel hinzu; wir müssen bezweifeln, ob dieses im Sinne Virchow’s gesprochen ist. Derselbe Virchow äusserte sich bei anderer Gelegenheit in derselben besonnenen Weise: ‚Das ist, glaube ich, der Punct, wo die Naturforschung ihr Compromiss schliesst mit der herr- schenden Kirche, insofern sie anerkennt, dass hier ein Gebiet ist, welches dem freien Ermessen des Einzelnen, sei es nach seiner eigenen Construction, sei es nach den ihm überkommenen Begriffen zusteht, welches Andern heilig sein muss, und in welchem die Naturforschung kein Recht hat, so lange sie nicht den Weg der Experimentationen gefunden hat, auf dem sie 143 sicher vorgehen kann, und so lange es ihr nicht möglich ist, zu sagen: hier fasse ich nun Fuss und hier werde ich mit der genauen Methode der Naturforschung die Erscheinungen erklären. Das ist mein Glaubensbekenntniss als Naturforscher, welches, wie ich meine, Allen gerecht wird und weit davon entfernt ist, ein materialistisches zu sein.“ Das ist die Grundlage, auf der wir uns einigen können. Es frägt sich, was Häckel unter der Lösung der Aufgabe versteht. Kann er einen Grashalm entstehen lassen? Er wird sagen: ja, mit Hilfe der Descendenzlehre. Hören wir ihn selbst: „Kant hatte gesagt: Es ist ganz gewiss, dass wir die organisir- ten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloss mechanischen Prineipien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklären können, und zwar so gewiss, dass man dreist sagen kann: Es ist für den Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, dass noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Ab- sicht geordnet hat, begreiflich machen werde, sondern man muss diese Einsicht dem Menschen schlechterdings absprechen.‘ Häckel fügt zu: „Nun ist aber dieser unmögliche Newton siebenzig Jahre später in Darwin wirklich erschienen, und seine Selections- theorie hat die Aufgabe thatsächlich gelöst, die Kant für absolut unlösbar hielt.“ Was hat denn nun Darwin „gelöst‘‘? Können wir jetzt einen Grashalm entstehen lassen? Wie denn? Wenn man uns ein Samenkorn und eine Parcelle der Mutter Erde gibt. Ja, dann haben wir den Grashalm und brauchen ihn nicht erst zu machen. Wir. kennen die Electrieität und zwingen sie zu unseren Diensten: können wir nun Electrieität machen? Doch nur, wenn wir-die electrischen Stoffe haben — und dann haben wir die Electrieität, und der Unterschied zwischen Jetzt und Sonst ist nur der, dass wir sie jetzt kennen und brauchen, eine frühere Zeit sie nicht kannte und die Wirkungen, wo sie die- selben sah, sich nicht erklären konnte. „Gebt mir einen Punct, wo ich stehen kann, so willich die Erde bewegen,“ sprach der grosse Archimedes. Das Wort war kühn, aber es hatte damals eine Berechtigung, da es auf die Ueberzeugung gebaut war, dass die Erde eine ruhende Masse sei, der also mit dem Gesetz des Hebels beizukommen sei. Heute würde man es nicht mehr für eine besondere Kühnheit halten, zu sagen: Gebt mir Materie und ich will euch eine Welt bauen. Oder: Gebt mir Protoplasma, 144 und ich will euch den Menschen machen. Nichts leichter als dies — hätten wir nur erst diesen Stoff und wüssten wir, wo- rin seine Kraft besteht, und könnten sie darstellen, wie wir ein Pferd vor den Wagen spannen, den wir von der Stelle bringen wollen. Das ist ja eben das Geheimniss des grossen Welten- bauers, das er den Menschen nicht verrathen hat. Hätten wir das, mit dem Augenblicke wäre das uralte Ziel menschlichen Hochmuths, ‚‚sein zu wollen wie Gott‘, in Erfüllung gegangen. Wäre uns Materie und Kraft verständlich, sagt Du Bois- Reymond, die Welt hörte nicht auf.)begreifich zu sein,‘ Was nützt es uns, wenn wir aus den beiden Eines machen und sagen, dass die Kraft der Materie immanent ist, dass sie zum Wesen der Materie gehört, wi6 der menschliche Geist zum Körper ? macht dies uns die Materie begreiflicher? Hier scheint nur der sich retten zu können, welcher zur äussersten Consequenz des Materialismus flüchtet: dieser kennt keine Seele; Leben ist ihm nichts als Function des Unbelebten, Denken nichts als Function des Gehirns, von dem sich die Gedanken absondern, wie der Urin von den Nieren. Der Materialismus ist also jeder weitern Erklärung überhoben, oder vielmehr, er überhebt sich selbst, indem er leugnet, was er nicht zu erklären vermag. Die Gedanken sondern sich vom Gehirn ab — dieses können wir zugestehen, insoweit das Zustandekommen des Gedankens von einer Gehirmfunetion bedingt ist. Aber so lange man uns jenen Gedanken-Urin nicht — man verzeihe das Wort — im Topfe zur Besichtigung hinzustellen vermag , können wir jenen Vergleich und jeden derartigen nicht gestatten. Wir legen — ganz mit Recht — Gewicht darauf, dass es der Chemie gelungen, den Harnstoff künstlich, aus anorganischen Stoffen herzustellen. Ist das nun der Harn, der sich von den Nieren absondert? sehen wir jetzt den Hergang dieser Absonderung? Ebenso wenig oder noch viel weniger wird ein künstliches Präparat jemals den Denkprocess vor unseren Augen sich entwickeln zu lassen. ver- mögen. Selbst wenn wir die im Gehirn vor sich gehenden Ver- änderungen sähen, wenn wir die „chemischen und physikalischen Vorgänge‘, auf welche dieselben nach Häckel „zurückführbar‘ _ sein sollen, wirklich nachweisen könnten, wäre damit doch nicht der Denkprocess erklärt. „Es wäre. grenzenlos interessant, sagt derselbe Du Bois- Reymond, wenn wir so mit geistigen Augen in uns hinein bliekend die zu einem Rechenexempel gehörige Hirnmechanik sich abspielen 145 sähen wie die Mechanik einer Rechenmaschine; oder wenn wir auch wüssten, welcher Tanz von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stick- stoff-, Sauerstoff-, Phosphor- und anderen Atomen der Seligkeit musicalischen Empfindens, welcher Wirbel solcher Atome dem Gipfel sinnlichen Genusses, welcher Molecularsturm dem wüthenden Schmerz beim Misshandeln des Nervus trigeminus entspricht. (Aber) die astronomische Kenntniss des Gehirns, die höchste, die wir davon erlangen können, enthüllt uns darin nichts als bewegte Materie, durch keine zu ersinnende Anordnung oder Bewegung materieller Theilchen lässt sich eine Brücke in’s Reich des Bewusstseins schlagen“. „Welche denkbare Verbindung, fährt Du Bois-Reymond fort, besteht zwischen bestimmter Bewegung bestimmter Atome in meinem Gehirn einerseits, andrerseits den für mich ursprünglichen, nicht weiter definirbaren, nicht wegzuleugenden Thatsachen: ich fühle Schmerz, fühle Lust, ich schmecke süss, rieche Rosenduft, höre Orgelton, sehe roth und der ebenso unmittelbar daraus fliessenden Gewissheit: ‚Also bin ich‘? Es ist eben durchaus und für immer unbegreiflich, dass es einer Anzahl von Kohlen- stoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- ete. Atomen nicht sollte gleichgiltig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen werden. Es ist in keiner Weise einzusehen, wie aus ihrem Zusammen- wirken Bewusstsein entstehen könne. Sollte ihre Lagerungs- und Bewegungsweise ıhnen nicht gleichgiltig sein, so müsste man sie sich nach Art der Monaden schon einzeln mit Bewusstsein aus- gestattet denken. Weder wäre damit das Bewusstsein überhaupt erklärt, noch für die Erklärung des einheitlichen Bewusstseins des Individuums das Mindeste gewonnen“. Das „einheitliche Bewusstsein des Individuums‘‘, das ist ja gerade das Unbegreifliche: bei dem beständigen Wechsel des Stoffes, der nicht in sieben Jahren, wie man früher annahm, sondern in viel kürzerer Zeit, den ganzen Menschen erneuert, bleibt dieses einheitliche Bewusst- sein des Individuums stets unangetastet. Der neu anziehende Stoft bringt nicht neue Vorstellungen, nicht eine neue Denkungs- weise, sondern setzt die vorhandenen fort, als wenn er sie, einem ablösenden Posten gleich, von dem abgehenden Stoff überkäme. Und ebenso bildet er nicht ein neues Gesicht, neue Arme und neue Beine, sondern setzt die empfangene Entwickelung fort und assimilirt sich so, dass niemals eine Fuge, eine neue Schicht sichtbar wird — ganz, unseren sonstigen Erfahrungen wider- Kuhl, Descendenzlehre. 10 146 sprechend, da, wo sich sonst Theilchen zusammensetzen, diese immer lösbar und darum erkennbar in ihrer Zusammensetzung bleiben. Woher also dieses Vermögen der Assimilation, woher die Einheit des Bewusstseins bei dem ewigen Wechsel des Stoffes? Wir haben die Vorstellung, sagt Tyndall (Religion und Wissenschaft), dass alles, was wir um uns her sehen, und alles, was wir in uns fühlen, sowohl die Erscheinungen der physischen Natur wie die des menschlichen Verstandes, ihre. unerforschliche Wurzel in einem kosmischen Leben, wenn ich diesen Ausdruck wagen darf, haben; hiervon ist nur ein unendlich kleines Mass der menschlichen Forschung erreichbar. Wir können die Ent- wickelung eines Nervensystems verfolgen und können die parallelen Erscheinungen der Empfindung und des Denkens mit ihm in Beziehung bringen. Wir sehen mit unzweifelhafter Gewissheit, dass sie Hand in Hand gehen, aber wir versuchen in einem Vacuum in die Höhe zu steigen in dem Augenblicke, wo wir den Zusammenhang zwischen ihnen zu erfassen suchen; eine Archi- medische Stütze ist hier erforderlich, über die der menschliche Geist nicht gebieten kann, und das Bestreben dieses Problem zu lösen ist, wie der Versuch eines Mannes, welcher sich an seinem eigenen Gürtelbande in die Höhe heben will“ — das heisst in’s Deutsche übertragen: es ist der Münchhausen, der sich selbst an den Haaren aus dem Sumpfe herauszieht. Sehr beherzigenswerth ist also der Mahnruf, mit dem Du Bois-Reymond sein Schriftehen schliesst: „In Bezug auf die Räthsel der Körperwelt ist der Naturforscher längst gewöhnt, mit männlicher Entsagung sein „Ignoramus‘‘ auszusprechen. In Bezug auf das Räthsel aber, was Materie und Kraft seien, und wie sie zu denken vermögen, muss er ein- für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahlspruch sich entschliessen: ‘Ignorabimus’‘“. Es sind goldene Worte, die seither häufig ange- führt worden sind; sie können nicht häufig genug angeführt werden. Wir haben allen Respect vor den Fortschritten der Naturwissensshaft; aber die Hoffnung, dass diese Fragen, an der sich zwei Jahrtausende vergebens abgemüht, dereinst zur Zufrieden- heit gelöst werden, ist eine „Anweisung auf die Zukunft,‘ mit der der Besonnene nichts anzufangen weiss und die sich ebenso werthlos erweisen wird, wie einst die Assignate der Französischen Republik. „Bei dieser Erscheinung, sagt Häckel, wo er von der Ver- erbung sprieht, sind wir jetzt noch nicht im Stande, die be- Be N ne a A ae wirkenden Ursachen im Einzelnen nachzuweisen. Aber kein . Naturforscher zweifelt daran [wir auch nicht], dass die Ursachen hier überall rein mechanisch, in der Natur der organischen Materie selbst begründet sind. Wenn wir feinere Untersuchungs- mittel als unsere groben Sinnesorgane und deren Hilfsmittel hätten, so würden wir jene Ursachen erkennen.‘‘ Häckel über- sieht, dass es sich hier um Dinge handelt, die den besten „Sinnesorganen‘‘ und deren besten „Hilfsmitteln‘‘ absolut unzu- gänglich sind. So wird der immer wiederholte Protest Häckels gegen das „leidige Igenorabimus, welches der Entwickelungslehre jetzt von vielen Seiten entgegentönt‘‘, nutzlos verhallen. Sehr schön ist das Wort Darwin’s, auf welches Häckel hinweist: „Es sind immer diejenigen, welche wenig wissen, und nicht die, welche ‘viel wissen, die fest behaupten, dass dieses oder jenes Problem nie von der Wissenschaft werde gelöst werden‘; aber hier handelt es sich um Dinge, bei denen eben absolut nichts mehr zu wissen ist, sondern nur zu vermuthen; erkennt man dies an, so muss der Streit, aufhören, und wir müssen endlich lernen, gegen andere gerecht sein, die anders vermuthen. IE Monismus und Dualismus. Darwin und der Materialismus. Das Wunder. Monismus oder Dualismus? Hier sind wir zu dem Puncte gelangt, wo diese beiden Gegensätze sich nicht mehr be- rühren, sondern zu einer weiten Kluft auseinandergegangen sind, die mit einem versöhnlichen Worte nicht mehr überbrückt werden kann. Monismus d. h. einheitliche Weltanschauung, wenn man darunter nichts anderes versteht, als die Ueberzeugung von der einheitlichen Entwickelung des ganzen Weltgebäudes und unserer Erde im Besonderen, so stimmen wir ihm vollständig bei. Wir haben ihn selbst gelehrt: wir haben angenommen, dass aus der indifferenten Materie, die auf unserer Erde keine andere gewesen sein kann, als in den zahllosen Welten, die sich in dem unge- messenen Raume bewegen, das erste Leben sich durch Urzeugung entwickelt habe , nnd aus diesem ersten Leben weiter die zahl- 10* BE} losen Formen der Lebewelt bis zum Menschen hinauf — alles wie wir zugegeben, nach mechanischen Gesetzen, ob sie uns nun bekannt, oder nicht bekannt sind. Aber wenn der Monismus behauptet, dass zur Erklärung dieser Entwickelung die Materie allein ausreiche, d. h. wenn er zum Materialismus wird , so müssen wir einhalten mit unserer Zustimmung, und unsere Wege beginnen sich zu trennen. Soweit der Materialismus das Anerkenntniss bedingt, dass es für unsere Wahrnehmung keinen Stoff ohne Kraft gibt und dass sich die Kraft mit dem Stoffe, der Stoff mit der Kraft entwickelt, sind wir ihm willig beigetreten. Wenn er aber die Kraf, mit und durch die Eigenschaften des Stoffes erklärt zu haben glaubt, geht er über die Grenze des Naturerkennens hinaus und wagt einen Sprung in’s Unendliche, Unbegreifliche, und geräth in einen Gegensatz zu sich selbst, indem sein Aus- gang so subjectiv wird, wie sein Anfang objectiv gewesen. Sowie man sagt Stoff und Kraft, steht der Dualismus schon Einlass begehrend vor der Thüre; er tritt herein und immer fester auf uns zu, je mehr in der Entwickelung die Wege zwischen Stoff und Kraft sich scheiden, bis er im Menschen unerbittlich sein Recht verlangend vor uns steht. Ist es der eine Stoff, in welchem sich die Kraft entwickelt, so bleibt die Frage offen: warum hat sie sich nicht gleichmässig entwickelt? warum denkt der Affe nicht wie der Mensch, woher der ungeheure Sprung, da doch die Leibesbeschäffenheit denselben nicht recht- fertigt? Weil der Affe ein kleineres Gehirn hat als der Mensch, könnte man antworten. Aber warum handelt denn die Ameise verständiger als das Schaf, da sie doch gar kein Gehirn hat ? (Vgl. oben S. 85.) Käme es auf das Gewicht des Gehirns an, so müssten die Meisen z. B. den Menschen bedeutend an Denkkraft übertreffen, da sie ein relativ viel grösseres Gehirn- gewicht haben, Es sind chemische Unterschiede, sagt man. Wir fordern zunächst, dass man sie uns nachweise. Und selbst wenn dies gelänge — wir wollen dies ja gar nicht für unmög- lich halten — so wäre der Beweis noch nicht erbracht, warum es zum Wesen des veränderten Stoffes gehört, solche potenzirten Wirkungen hervorzubringen. Haben wir denn die Electrieität bewiesen, indem wir die Stoffe nachweisen, an welche ihre Wirkungen gebunden sind? Die Kraft ist von vornherein da, sie ist uns von vornherein ein Räthsel und dies Räthsel wird immer grösser mit der steigenden Entwickelung, mit der Ge- 149 wimmung des Lebens, des Bewusstseins und zuletzt der mensch- lichen Psyche. „Die neuere Naturwissenschaft geht nur aus von Stoff und Kraft, sagt v. Kirchmann (in den Erläuterungen zu Kant's Kritik der Urtheilskraft); sie kennt keine Erzeugung, sondern nur Bewegung der Atome nach ihren ihnen untrennbar an- haftenden Kräften, und sie leitet alle Gestaltungen und alle «Unterschiede der Arten und Eigenschaften nur von den Ver- bindungen und Trennungen der Atome ab. Die Ableitung des Organischen aus solchen Atomen mit rein mechanischen Kräften behält zwar auch bei diesem System noch ihre Schwierig- keiten, aber doch nicht mehr in Bezug auf die angebliche Zweck- mässigkeit der einzelnen Organismen; dafür hat Darwin ein erklärendes Prineip in der natürlichen Züchtung gefunden, welches in seiner Fortbildung sich immer mehr als dazu genügend heraus- stellt.‘‘ Aber was hat denn Darwin’s natürliche Züchtung mit der „Ableitung des Organischen aus solchen Atomen“ zu thun? müssen wir hier einwenden. Wo spricht denn Darwin von den Atomen des Materialismus? Er schreitet ja, wie wir gezeigt, nicht einmal bis zur Urzeugung vor und lässt für seine Urformen den Schöpfer zu. „Schwieriger, fährt v. Kirchmann fort, bleibt die Frage der Fortpflanzung und Vererbung; hier hat selbst die neueste Wissenschaft noch wenig mehr als Hypothesen und Möglichkeiten bieten können. Noch schwieriger wird die Auf- gabe, wenn die moderne Wissenschaft nicht blos die körperlichen Organismen, sondern auch die Seelen der Thiere und Menschen aus jenen Atomen und ihren mechanischen Kräften abzuleiten unternimmt. Der Materialismus versucht es, allein er ist hier bis jetzt noch nicht über die blosse Behauptung hinausgekommen. Bei der unendlichen Kluft, die das Geistige von dem Körper- lichen trennt, und in der Seele wieder das Wissen von den seienden Zuständen scheidet, scheint es unmöglich, die Seele aus den Atomen und ihren mechanischen Kräften abzuleiten. Selbst die wildeste Phantasie vermag hier keinen Uebergang von dem einen auf das andere sich zu erdenken; immer bleibt hier ein Sprung, wenn die bloss bewegende oder drückende Kraft sich in ein Wissen oder in eine Lust oder Schmerz umwandeln soll. Der Materialismus sucht sich hier mit einer Verbindung sehr vieler Atome und einer sehr grossen Verwickelung zu helfen; allein dies sind Phrasen, mit denen die Wissenschaft sich nicht begnügen kann; deshalb beginnt die realistische Philosophie \ 150 mit Körper und Seele oder mit Sinnlichem und Geistigem und mit Wissen und Sein; sie bekennt offen, dass sie über diesen Dualismus nicht hinwegkommen kann.“ So gelangt man von den Vordersätzen des Materialisınus ausgehend durch die Macht der Thatsachen zum Dualismus! So ist es in der 'That: wer das Wissen leugnet, leugnet das Sein, und der dem Materialismus entgegengesetzte Irrthum, der den Stoff zum blossen Schein herabdrückt und nur in der Welt des Geistes das wahre Sein erblickt, ist nicht unverzeihlicher als der Materialismus, der den Geist leugnet und nur den Stoff anerkennt, „Zu der dualistischen Weltanschauung, sagt Strauss, verhalten sich sowohl Materialismus wie Idealismus als Monismus, d. h. sie suchen die Gesammtheit der Erscheinungen aus einem einzigen Princip zu erklären, Welt und Leben aus einem Stücke sich zu gestalten. Dabei geht die eine Theorie von oben, die andere von unten aus; diese setzt das Universum aus Atomen und Atomkräften, jene aus Vorstellungen und Vorstellungskräffen zusammen‘. Bald entdecken wir überdies, dass jede dieser Betrachtungs- weisen, consequent durchgesetzt, in die andere hinüberführt.‘‘ Also der Materialismus und der Idealismus finden sich zusammen im Monismus; aber gerade diese doppelte Richtung beweist den vorhandenen Gegensatz: der eine vermag die Materie in ihrer Vereinigung mit der Kraft nicht genügend zu erklären, der andere die Kraft nicht in der Materie — und so bleibt in der ewigen Einheit der ewige Zwiespalt bestehen, d. h. der Dualismus, „Die Meinung, sagt J. B. Meyer (Philosophische Zeit- fragen), es sei die Weltordnung aus dem zufälligen und zweck- losen Geschiebe von Druck und Stoss entstanden, ist an sich wahrlich kein klarerer Gedanke, als der Glaube, diese Weltordnung rühre von der Macht eines hewusst wirkenden Gottes her‘. Und auch kein kräftigerer Gedanke, fügen wir hinzu. Man höre endlich auf, die materialistische Auffassung für ein Zeichen be- sonderen Muthes und kräftigeren, energischeren Denkens auszu- geben; sie ist vielmehr Schwäche und Bequemlichkeit, und feige Flucht vor den Schwierigkeiten des Unbegreiflichen, und dabei eine ungereimte Ueberhebung, da sie sich einbildet, die Probleme dadurch gelöst zu haben, dass sie sie leugnet. Aber eben weil sie dieses ist, wird sie einem denkmüden Jahrhundert stets als die erwünschte Lösung des Knotens erscheinen. Man sieht die Philosophie und Theologie sich vergebens abringen an den uralten Problemen des Menschengeistes und alle ihre Versuche 151 mit Widerspruch enden. Da greift man zu dem bequemeren Stabe, mit dem man an allen unnützen Grübeleien sicher vorbei- zukommen meint. Es sind keine Schwierigkeiten, ruft man der Philosophie zu; ihr sucht sie, um euch und anderen das Leben schwer zu machen. Das ist der Bankerott aller geistigen Arbeit, zu dem die Nation am Eude ihres Entwicklungsganges gelangt, wenn sie nicht mehr denken mag; das ist der Verfall, aus dem der Materialismus seine Nahrung und Stärke herleitet. Aber wir vergessen, dass wir es ja hier nicht mit einer Widerlegung des Materialismus zu thun haben. Wir wollten bloss das Verhältniss der Descendenzlehre zum Materialismus klar stellen. Hat die Descendenzlehre das Problem des Materialismus gelöst, die Kraft aus dem Stoffe und seinen Eigenschaften zu erklären, wie dies Häckel und seine Anhänger behaupten? Ein entschiedenes Nein ist unsere Antwort. Sie beweist den Monismus d. h. die einheitliche Entwickelung des Weltganzen, aber nicht den Materialismus. Sie ruht auf der Grundlage, dass wir aus den irdischen Verhältnissen, in welchen die Kraft stets als Inhärenz des Stoffes erscheint, zur Vorstellung eines reinen, von der Materie abgelösten Geistes nicht gelangen können. Aber weiter nichts! Denn dahinter steht das Unerkennbare, der reine Geist, der sich im Stoffe äussert, aber aus dem Stoffe heraus absolut unerklär- bar ist, und der Dualismus besteht so lange zu Recht, bis es gelingt, die Kraft aus dem Stoffe zu erklären. Umd diese Er- klärung hat die Descendenzlehre gar nicht zu versuchen. Sie lehrt die einheitliche Entwickelung der Welt; um den Gegen- satz von Stoff und Kraft, Geist und Materie braucht sie sich nicht zu kümmern. Der Versuch, die Descendenzlehre gegen den Dualismus in’s Feld zu führen, ist gescheitert; im Gegen- theil, richtig aufgefasst und auf ihre Grenzen eingeschränkt, redet. sie dem Dualismus entschieden das Wort. Wir sahen, wie trotz der Prätentionen Häckels und seiner Anhänger die letzten Fragen, die hier gerade die entscheidenden sind, offen blieben; wir mussten uns mit kühnen Versicherungen begnügen, wo wir gerne die Beweise gesehen hätten. Und dazu blieb die Zweckmässigkeit und Zielstrebigkeit der natürlichen Entwickelung, d. h. also die Grundlage der dualistischen Auffassung, voll- ständig intact und hat dufch die Erkenntniss, dass der Mensch das Ziel der Schöpfung ist, an Kraft gewonnen, und damit ist dem Materialismus auch dieser neue Hoffnungsanker — wir wollen hoffen, dass es der letzte ist — genommen, ( 152 Es ist also eine zweifelhafte Ehre, die man der Dar- win’schen Descendenziehre angethan hat, indem man ihr zu- muthete, den Stein der Weisen, nach welchem zwei Jahrtausende vergebens gesucht, so leichten Kaufs gefunden zu haben. Und hier müssen wir wiederholt zur Rechtfertigung Darwin’s hinzu- fügen, dass nicht er es ist, der diesen Ruhm gesucht hat. Er führt die Descendenzlehre nirgends über die Grenzen dessen, was sie sein kann und sein soll, — nämlich der Nachweis der einheitlichen Entwickelung der organischen Welt — hinaus, gelangt nirgends bis zu den „letzten Gründen,‘ weiss sogar für den Anfang des Lebens den „Schöpfer‘‘ nicht los zu werden. Das Streitobject des Materialismus, der Gegensatz oder die Einheit von Stoff und Kraft, also auch der Gegensatz zwischen Monismus und Dualismus, ist für ihn nicht vorhanden. Er urgirt in Betreff des menschlichen Geistes den Grundsatz, den er braucht für die Descendenzlehre, nämlich dass zwischen der menschlichen und thierischen Psyche nur ein quantitativer, nicht qualitativer Unterschied bestehe — in welcher Behauptung wir bis zu einer gewissen Grenze mit ihm einverstanden sein konnten. Von dem göttlichen Geist aber und seinen Eigenschaften spricht er nicht, nur dass er bei Gelegenheit der von ihm bestrittenen Angabe, dass man bei den Wilden überall die Idee eines Gottes oder mehrerer Götter treffe, äussert: „Natürlich ist diese Frage von der anderen höheren völlig verschieden, ob ein Schöpfer und Regierer des Weltalls existirt, und diese ist von den grössten Geistern, welche je gelebt haben, bejahend beantwortet worden‘ — womit er seine eigene Ansicht deutlich genug durchleuchten lässt. Es ist weise Bescheidenheit, die sich beschränkt auf das Erkennbare , nicht Menschenfurcht und Rücksicht auf seine Landsleute, oder gar Halbheit des Denkens, wie man ihm imputirt hat; er mag sich aussprechen, damit wir es von ihm selber hören! Er ist es also nicht, sondern sein eifriger Jünger Häckel, der die Descendenzlehre aufgebläht hat zu dem all- mächtigen Sacke, der die ganze Welt umspannen soll, der die Britische Descendenzlehre mit dem Deutschen Materialismus ver- kuppelt und dadurch die Zahl ihrer Gegner verzehnfacht hat. Darwin hat, ohne es zu wollen, den Finger hingestreckt, der zur Beseitigung des Gottesbewusstseirts helfen zu können schien; man griff den Arm und zerrt den ganzen Mann zu Consequenzen, vor denen er erschrecken muss, wenn er nicht von sich selbst abfallen will — von denen er auch vielleicht, wer weiss, mit fortgerissen wird, 153 Der Finger aber, den er dem Materialismus hingestreckt, war, dass er den Mechanismus der Natur aufgedeekt, dass er uns von der „plump mythischen‘‘ Auffassung der Schöpfung und des Schöpfers befreit und von manchem Vorgang, den man in Ermangelung besserer Erkenntniss für ein Wunder nahm, den Schleier gelüftet hat. Ist es weiter nichts, so sind wir ihm dafür dankbar. Denn es ist eine berechtigte Richtung unserer Zeit, dass sie sich gegen den Wunderglauben wehrt, wo sie die natürliche Erklärung dafür einsetzen kann; und diese Erklärung zu suchen, ist ja das Lebenselement der Wissenschaft, die, wenn sie nicht stets neue Ziele suchte, bald in einem ge- dankenlosen Nachbeten längst abgedroschener Schulweisheit ver- sumpfen würde. Die Entwickelungsgeschichte des Kosmos im Ganzen, wie jedes einzelnen Organismus ist für uns heute inso- fern nicht mehr eine Reihe von Wundern, als wir uns die Hergänge auf naturgemässe Weise genügend erklären können. Die Wunder, mit denen einst die naive Kindheit unseres Ge- schlechts alle ihre unerklärbaren Vorgäuge umkleidete und namentlich den Anfang der Dinge ausschmückte, erklären uns nicht, warum sie heute nicht mehr geschehen. Zu einer Zeit, als die Phantasie des Menschen noch stärker war als sein Ver- stand und seine Erkenntniss, musste ihm alles ein Wunder erscheinen, was sich uns jetzt als das Resultat natürlicher Vor- gänge darstellt. Verstehen wir also unter Wunder nur die Störung des natürlichen Ganges durch willkürliches Eingreifen der göttlichen Allmacht, dann geschehen keine Wunder und geschahen nie Wunder, da wir die grosse Weltmaschine con- sequent wie das Räderwerk einer Uhr ablaufen, nirgends aber eine Hemmung der Naturgesetze sehen. Aber indem wir die Wunder beseitigen, bleibt das Wunder bestehen, das grosse Wunder, welches wir die Welt nennen: der Stoff, seine Quali- täten, seine Entwickelung. ‚‚Jede Erklärung aus mechanischen Prineipien, hat man mit Recht gesagt, bringt das Wunder lediglich auf Regeln, eliminirt es nicht.“ Und in "diesem Sinne geschehen noch täglich und stündlich um uns her unzählige Wunder; jeder Grashalm ist ein Wunder, da wir mit mensch- lichen Mitteln ihn nicht zu erzeugen, nicht wachsen zu lassen vermögen. Das ist der extramundane oder transcendente Rest, der wohl unserer Vermuthung, niemals aber unserem Wissen erreichbar sein wird. Man dränge die Theologie oder Teleologie — die beiden Begriffe decken sich hier — aus allen ihren 154 Positionen heraus: hier ist ihre feste Burg, in der sie jeden Angriff abwehrt, und von der aus sie wieder vordringt, um die verlorenen Aussenwerke wieder zu besetzen. Hier wird für immer das Gebiet bleiben, wo man glauben muss, ohne zu sehen — oder gar nichts glauben, da man, wo der entschei- dende Vorgang sichtbar werden soll, eben nichts mehr sieht. Das möge ein jeder thun, der es für besser findet: nichts glauben; nur posaune er nicht in die Welt hinaus, dass die Wissen- schaft in Darwin den Beweis gefunden habe, dass man nichts mehr zu glauben brauche. Wenn also der Begründer des ‚meuen Glaubens“ sagt: „Wir Philosophen und kritischen Theologen haben gut reden gehabt, wenn wir das Wunder in Abgang decretirten; unser Wahlspruch verhallte ohne Wirkung , weil wir es nicht ent- behrlich zu machen, keine Naturkraft nachzuweisen wussten, die es an den Stellen, wo es bisher am meisten für unerläss- lich galt, ersetzen konnte. Darwin hat diese Naturkraft, dieses Naturverfahren nachgewiesen, er hat die Thüre geöffnet, durch welche eine glückliche Nachwelt das Wunder auf Nimmerwieder- kehr hinauswerfen wird. Jeder, der weiss, was am Wunder hängt, wird ihn dafür als einen der grössten Wohlthäter des menschlichen Geschlechtes preisen“ — so meint er damit die Wunder, nicht das Wunder, und was an diesem hängt, wird für immer daran hängen bleiben. Es wird aber aueh sofort klar, dass der neue Glaube, der auf das Wunder, das der Darwinismus thun soll — nämlich das Wunder und den ‚‚Wunder- mann“ zu beseitigen — gebaut ist, in seinen Fundamenten schon verfehlt ist. XXL Die Descgndenzlehre und die Religion. Wesen und Ursprung der Religion. Die Descendenzlehre an sich widerspricht nieht unseren religiösen Gefühlen, so hatten wir im Eingang unserer Unter- suchungen gesagt; und indem wir hier das Ende an den Anfang knüpfen, versuchen wir unsern Satz zu begründen. Können wir noch Religion haben in dem Jahrhundert, das von Darwin den Namen haben soll? Was ist Religion? Diese so oft ge- | | ; 155 stellte und so oft beantwortete Frage haben wir zunächst an der Hand der Darwin’schen Abmachungen zu prüfen. „Das Gefühl religiöser Erhebung, sagt Darwin, ist ein in hohem Grade complicirtes, indem es aus Liebe, vollständiger Unter- ordnung unter ein erhabenes und mysteriöses höheres Etwas, einem starken Gefühle der Abhängigkeit, der Furcht, Verehrung, Dankbarkeit, Hoffnung in Bezug auf die Zukunft, und vielleicht noch anderen Elementen besteht,“ d. h. seine Grundlage ist, wie wir hier gleich hervorheben wollen, der Glaube an ein höheres Wesen, von dem wir uns abhängig fühlen, dem wir uns zu Dank verpflichtet fühlen für alles Gute, was es uns bereitet, von dem wir hoffen, dass es unsere Angelegenheiten zum Besten wenden werde. Darwin knüpft diese ‚‚complicirte Gemüthsbewegung‘‘ des Menschen wie überhaupt alle geistige Thätigkeit an die Vorgänge in der Thierwelt an: „Eine Art Annäherung an diesen Geisteszustand sehen wir in der innigen Liebe eines Hundes zu seinem Herrn, welche mit völliger Unterordnung, etwas Furcht und vielleicht noch anderen Gefühlen vergesellschaftet ist.“ Wir können nichts dagegen haben, dass Darwin die Ansätze zu dem Gefühle, das wir beim Menschen Religion nennen, auch bei den höher entwickelten 'Thieren vor- gebildet findet, sofern wir nur gleich hinzufügen , dass diese Ansätze sich zu dem menschlichen Gottesbewusstsein verhalten, wie die thierischen Lautäusserungen zur menschlichen Sprache, oder, was dasselbe ist, wie die thierische Intelligenz zur mensch- lichen — welches Verhältniss wir hinreichend ‘klar gestellt zu haben glauben (oben S. 81 u. 108). „Kein Wesen, sagt Darwin selbst, hätte eine so complieirte Gemüthserregung an sich er- fahren können, solange nicht seine intellectuellen und moralischen Fähigkeiten zum mindesten bis zu einem mässig hohen Stand- punet entwickelt waren‘ — d. h. solange es nicht Mensch war; und dann sind wir einig. „Menschliche Mutterliebe kann wohl zur sinnlosen Affenliebe hinabsinken, sagt J. B. Meyer (Philosophische Zeitfragen), aber keine Affenliebe kann sich zur Höhe und zum inneren Reichthum einer wahrhaft men- schlichen Mutterliebe erheben.‘ Und ebenso steht es mit dem Gefühle der Abhängigkeit von einem höhern Wesen: hier kann der menschliche Glaube wohl zu einem sinnlosen Aberglauben hinabsinken, aber keine Anhänglichkeit des Hundes an seinen Herrn kann sich zur Höhe und zu dem inneren Reiehthum einer wahrhaft menschlichen Religiösität erheben. 156 Die Furcht vor dem Unbekannten soll die erste Religion geboren haben, dieser uralte Satz des Materialismus wird stets auf's neue hervorgelangt und hat auch den Beifall des Ver- fassers des alten und neuen Glaubens gefunden. ‚Die epicu- reische Ableitung der Religion aus der Furcht, sagt Strauss, hat etwas unbestritten Richtiges. Ginge es dem Menschen stets nach Wunsch, hätte er immer, was er bedarf, scheiterte ihm kein Plan, und müsste er nicht, durch schmerzliche Erfahrungen belehrt, der Zukunft bange entgegen sehen, so wäre schwerlich je der Gedanke an höhere Wesen in ihm aufgestiegen. Er hätte gedacht, es müsse so sein, und hätte das in stumpfer Gleich- giltigkeit hingenommen.‘ Ja, wenn er ein Thier gewesen und geblieben wäre. Aber sowie er Mensch war, mussten die ur- alten Fragen an ihn herantreten: woher dies alles? wer hat es mir bereitet? und warum ? Die letzten Fragen menschlichen Wissens mussten zugleich die ersten sein. Und warum sollte er die Natur zuerst als ein ‚‚unheimliches Wesen sich gegen- über gesehen‘ haben ? warum nicht zuerst von der freundlichen Seite? warum soll er der Schrecknisse des Sturmes, des Ge- witters, der Ueberschwemmung etc. eher gedacht haben als der Segnungen des Lichtes und der Wärme, die ihm die Sonne, der Nahrung, die ihm der Boden spendete, des Nutzens, den ihm die Thiere gewähren? warum der Krankheiten und des Todes eher, als des Lebens? Ist denn Ungemach und schlimme Zeit die Regel, oder nicht vielmehr umgekehrt ? Viel sinniger ist die Auffassung, dass das Gefühl der Ab- hängigkeit die Grundlage der Religion sei, das Gefühl der „Verbindlichkeit‘‘ (religio). Dieses Gefühl der Abhängigkeit gründet sich aber nicht, wie Strauss (nach Feuerbach) meint, auf den Wunsch: „‚‚was der Mensch sein möchte, aber nicht ist, dazu mache er seinen Gott; was er haben möchte, aber sich selbst nicht zu beschaffen wisse, das solle sein Gott ihm schaffen.“ Vielmehr hat dieses Bewusstsein der Abhängigkeit seinen Grund in dem Gefühle, dass der Mensch selbst das schwache, ohnmmächtige Geschöpf eines allmächtigen Schöpfers und Herrschers der Welt ist, und dass er weder sich selbst, noch die übrige Natur anders, denn als das Werk dieses Allmächtigen sich denken kann. Soweit er auch durch seine Arbeit, sein Ringen, sein Denken, seine Erfindungen zu gelangen vermag, er kommt an eine Grenze, über die er nicht hinaus kann; er ahnt nur, wie viel noch zu bessern, zu erreichen 2 ini 157 wäre — und hier erst entsteht der Wunsch; und dieser findet nur Befriedigung in dem Gedanken, dass es einen erhabenen, absolut freien Geist geben müsse, ungleich mächtiger, als der Mensch selbst, der alles das, was der Mensch in diesem Erden- leben vermisse, in ungetrübter Fülle geniese. An ihn wendet er sich, wenn er nicht weiter kann, ihm bekennt er seine Schwäche und von ihm erwartet er Abhilfe Und das sollte ein „angenehmer Selbstbetrug‘‘ sein? So ist der Wunsch einer- seits — sofern er nicht zu einem abergläubischen Wünschen wird, das die Gottheit in menschlich niedriger Weise zu seinen Zwecken missbrauchen will — vollkommen berechtigt, anderer- seits aber kann er nicht als der Grund unseres Abhängigkeits- sefühls und der Ausgangspunct der Religion gelten. Und darum ist die Religion auch nicht ‚‚eine Schwachheit, die der Menschheit vorzüglich während den Zeiten ihrer Kindheit an- klebte, der sie aber mit dem Eintritt ihrer Reife entwachsen soll“. Denn auch das energischste Denken führt uns immer wieder, wie wir gesehen, vor die Fragen, die sich nur durch die Annahme eines über das Irdische hinausgehenden, von der Materie nicht abhängigen Agens lösen lassen, also auf den (ottes- begriff und damit auf die Grundlage der Religion. Nur läutern können wir unsere Religion und sie von den „‚Schwachheiten‘“, die ihr ‚‚aus den Zeiten unserer Kindheit ankleben‘‘, befreien, niemals aber sie beseitigen. Und nun verwahren wir uns gegen die Consequenz des alten und neuen Glaubens: ‚Ob wir Gott oder Universum sagen, schlechthin abhängig fühlen wir uns von dem einen, wie von dem andern“. ,‚Wir fordern, heisst es gleich darauf, für unser Universum dieselbe Pietät, wie der Fromme alten Stils für seinen Gott.“ Also wir sollen uns abhängig fühlen und uns in Pietet beugen vor dem ‚‚Universum‘‘, vor demjenigen, das wir überwunden, über das wir nach Strauss’ eigenen Worten (oben S. 112) „hinausgeschritten‘‘ sind. Wir, die wir, eben- falls nach Strauss eigenen Worten, „in keinem Augenblick vergessen sollen, dass wir Menschen, und nicht blosse Natur- wesen‘ sind, wir sollen in der Abhängigkeit von der Summe dieser „Naturwesen‘‘, einem Convolut von nach jener Meinung zwecklos wirkenden Kräften, uns befriedigt fühlen? Der den- kende, vernunftbegabte Mensch soll vor einem seelenlosen Automaten sich beugen? "Wem sträubte sich dagegen nicht alles Denken und Fühlen? Was Strauss dem Verfasser der ‚„Philo- 158 sophie des Unbewussten‘‘, dessen bewusstloses Absolute, als Welt- seele in allen Atomen der Organismen wirkend, mittelst einer „hellsehenden, der jedes Bewusstseins überlegenen Weisheit‘ den Inhalt der Schöpfung und des Weltprocesses beistimmen soll, vorwerfen zu müssen glaubt, passt ziemlich genau auf ihn selbst und sein Universum: „es ist nur ein Wort geändert, in der Sache nicht geholfen; einem Unbewussten werden Leistungen zugeschrieben, die nur einem Bewussten zukommen können‘, Das ‚‚Universum“, die „blinde Naturkraft‘‘, die „‚zu Stande gebracht haben‘ soll, „was einem Zwecke entspricht“, ist um nichts besser, als das ‚‚Unbewusste‘“ mit seiner ‚‚hellsehenden, der jedes Bewusstseins überlegenen Weisheit‘. Aber der Mensch ist „nicht aus der Natur hinaus geschritten‘‘, so sagt ja Strauss auch; er gehört also zu dem „Universum“, und bildet den besten Theil desselben, der Theil, mit dem „die Natur über sich selbst hinaus gewollt“. Also soll er sich von sich selbst abhängig fühlen, vor sich selbst Pietät haben? Nun das thun, so will es uns bedünken, Strauss und seine Anhänger: sie ver- göttern sich selbst, da es doch nun einmal, unter welchem Namen immer, einen Gott geben muss, und lassen die übrige Natur, von welcher der Mensch ein Theil ist, theilnehmen an der Ehre. Man nurtheile, ob dies eine Religion ist, und ob Strauss nicht besser gethan hätte, die am Schlusse dieses Theiles seiner Auseinandersetzungen gestellte Frage: ob wir [d. h. seine Wir] noch Religion haben, statt des zweifelhaften Ja oder Nein. rundwes mit Nein zu beantworten. Wer das Gottesbewusstsein aufgegeben hat, der kann keine Religion mehr haben; wer es hat, der hat Religion, oder ist auf dem Wege sie zu haben. Wenn also Strauss meint, dass ‚die Frage nach dem persönlichen Urheber des Universums uns lediglich ein Phantasiegebilde liefern würde“, so haben ihn allerdings seine Untersuchungen ‚lediglich zu einem Phantasiegebilde“ geführt, das er das. Universum nennt. Die vorgetragenen Anschauungen schliessen die (bereits vorher aufgestellte) Behauptung ein, dass das religiöse Gefühl zu dem Wesen des Menschen gehöre, also ein Gottesbewusstsein und eine darauf gegründete Religion in irgend einer Form sich bei allen Menschen finden müsse, Die Frage, ob bei den Wilden allerwärts der Glaube an eine oder verschiedene Gottheiten angetroffen werde, ist oft gestellt und in verschiedenem Sinne, je nach dem ver- schiedenen Standpunete der Beurtheiler, beantwortet worden, 159 Lassen wir Darwin reden: „Wir haben keine Beweise dafür, dass dem Menschen von seinem Ursprunge an der ver- edelnde Glaube an die Existenz eines allmächtigen Gottes eigen war. Im Gegentheil sind reichliche Zeugnisse, nicht von flüchtigen Reisenden, sondern von Männern, welche lange unter Wilden gelebt haben, beigebracht worden, dass zahlreiche Rassen existirt haben und noch existiren, welche keine Idee eines Gottes oder mehrerer Götter und keine Worte in ihren Sprachen haben, eine solche Idee auszudrücken.‘‘ Dem ist von anderen Seiten — man vergleiche namentlich Gerland, Anthropologische Beiträge — entschieden widersprochen und die Einseitigkeit und Unvollständigkeit in den Angaben der Gewährsmänner, auf die sich Darwin beruft, aufgedeckt worden. Der alte Satz des Cicero: „nulla gens est neque tam mansneta neque tam fera, quae non, etiam si ignoret, qualem habere deum deceat, tamen habendum sciat,‘‘ gilt heute bei unseren erweiterten Kenntnissen ebenso wie einst in dem engeren Horizonte Cicero’s. Darwin gesteht selbst: „„Verstehn wir indessen unter dem Ausdruck „Religion“ den Glauben an unsichtbare oder geistige Kräfte, so stellt sich der Fall völlig verschieden; denn dieser Glaube scheint bei den weniger civilisirten Rassen fast allgemein zu sein.“ „Unsichtbare oder geistige Kräfte‘, da sind wir eben auf dem Wege zum Gottesbewusstsein; es sind verwilderte Zerrbilder der Idee, die sich auf dem Wege der Cultur zu dem „‚veredelnden Glauben an die Existenz eines all- mächtigen Gottes‘‘ entwickelt hat. Denn entwickelt hat sich, wie jede geistige Fähigkeit und wie auch die Sprache, das religiöse Bewusstsein, entwickelt aus den Anlagen, die in die Brust des ersten Menschen gelegt waren. Das können wir Darwin und dem auf ihn gebauten „neuen Glauben‘ zugestehen; dagegen behaupten wir, was Darwin leugnet, dass „dieser Glaube (d. h. der Glaube an ein höheres Wesen) dem Menschen angeboren ist.‘ Er musste durchbrechen, es war nicht in das Belieben des Menschen ge- stellt, ob er ihn haben wollte oder nicht; das Bild der Gottheit musste auftauchen am geistigen Horizonte der Menschheit, und immer klarer werden mit der steigenden Entwicklung. Und dies ist der Unterschied des Menschen vom Thiere: dieses kann keinen Gottesglauben und keine Religion haben, der Mensch muss sie haben in irgend einer Form, und das ist die Stärke des sogenannten ontologischen Gottesbeweises, Das ist die Ur- 160 offenbarung, die einst der Schöpfer dem ersten Menschen in die Brust legte. „Der Mensch, sagt J. B. Meyer, kann sich freilich von diesem vuder jenem Wesen irrthümlich abhängig wähnen [d. h. sein Glaube kann zu einer Gespensterfurcht werden]; aber darin irrt er nicht, dass er jederzeit Grund hat, sich von einer höchsten Macht abhängig zu denken und diese Macht zu verehren.‘“ Diese höhere Macht ist aber dem Menschen etwas anderes, als dem Hunde sein Herr, der einmal mit dem Leckerbissen, das anderemal mit dem Prügelstock die Unter- würfigkeit erzwingt. Wir wissen aus anderen Betrachtungen (oben S. 101 u. 110), dass die rohen Naturvölker, auf die mansich beruft, gesunken sind von der Höhe, die einst ihre Urväter im ersten Menschenstamme, in der Urheimat unseres Geschlechtes bereits erreicht hatten. Niehts steht der Annahme im Wege, dass von den besseren Ideen, die dort bereits Gemeingut geworden waren, die Nachkommen in den fernen Ländern durch die ungünstigen Lebensbedingungen das Beste eingebüsst. Sie sind hier und da zu dem Grade herunter gekommen, dass ihr ganzes geistiges Leben in der stumpfsinnigen Befriedigung der physischen Nothdurft aufgeht, so dass ihr Denkvermögen und eine gut beanlagte Sprache fast überflüssig für sie erscheinen: wo sollte da noch für höhere Ideen Raum sein? Die Polynesier haben (Anfänge des Menschen- geschlechtes II S. 359) den terrassirten Tempelbau, dessen Anfänge bis in die Urheimat des Menschengeschlechtes zurück- reichen und der in dem sagenberühmten Babylonischen Thurm in seiner Blüthe sich darstellt, auf ihren Eilanden in einer fernen Vergangenheit betrieben; die Nachkommen haben diesen Tempelbau, manche sogar — wie die „gottlosen‘‘ Samoaner — die Darstellung ihrer Götter in Bildern gänzlich aufgegeben : ist dies nicht ein sprechender Beweis dafür, dass einem solchen Naturvolke der Gedanke an seine Götter allmählich abhanden kommen kann? Gerade solche Beobachtungen sollten uns von dem leider noch immer in der Wissenschaft geltenden Vorurtheil abbringen, dass die heutigen Naturvölker annähernd den Urzu- stand des Menschengeschlechtes darstellten, über den sie sich nur wenig erhoben hätten. Ueber den Urmenschen wissen wir gar nichts; aber das wissen wir, dass der Urstamm der Menschheit, aus dem nach erfolgter Ablösung und Wanderung in langen Zeitläuften die Rassen erwachsen sind, höher stand als die heutigen Wilden. Der Urmensch d. h. der Urstamm der 161 Menschheit steht”in Bezug auf den Culturwerth nicht unter den Wilden, sondern zwischen diesen und den Cultur- völkern, als Ausgangspunct zu den Extremen nach oben und nach unten. Die Tradition von der goldenen Paradieseszeit und der verlassenen Herrlichkeit des Erstlingswohnsitzes der Menschheit, von der Sündfluth, die das erste Menschengeschlecht bis auf geringe Reste vertilgte, finden wir in grösserer oder geringerer Ausführlichkeit über den ganzen Erdboden wieder. Sie können nicht lange als autochthone Erzeugnisse einer müssigen Phantasie angesehen werden; wir glauben vielmehr erwiesen zu haben (Anfänge des Menschengeschlechtes I. S. 123 ff. II. S. 344), dass sie ihren Ursprung zurückleiten bis in das erste Leben der Menschheit in der Urheimat, (wo wirklich einmal eine Fluth — die also local zu denken ist — unter“ der aufkeimenden Menschheit Verheerung angerichtet haben muss). Ist dies der Fall, so haben die Urväter der gesammten Menschheit einst theilgehabt an den Reflexionen, die diesen- (in der Bibel am klarsten bewahrten) Traditionen zu Grunde liegen, und eine nicht gering anzuschlagende Ausbildung wie der gemüthlichen Seite überhaupt, so namentlich des religiösen Bewusstseins ist für die Urzeit und den Urstamm constatirt. Aber auch so sind die bewahrten Reste jener Ausbildung, wie sie sich heute in kümmerlicher Gestalt bei den Naturvölkern vorfinden, der kräf- tigste Beweis für unsern Satz, dass es zum Wesen des Menschen gehört, religiöses Bewusstsein zu haben; diese Reste mussten ganz verschwinden — oder nach der anderen Auffassung, es durften keine Anfänge hervortreten, wenn dieses Bewusstsein nicht ein unveräusserliches Gut des Menschen wäre, d. h. jene Wilden mussten, wie man will: zum Thiere werden, oder Thieregbleiben. So wird auch von dieser Seite unsere Be- hauptung bestätigt, dass die Religion dem menschlichen Wesen ursprünglich ist, wie so manche andere Kräfte, die den Menschen vor dem Thiere auszeichnen, vor allem die alles zusammenfassende Denkkraft selbst, für die ja auch niemand einen Berechtigungs- schein zu sehen wünscht, um an ihre Existenz zu glauben. Kuhl, Descendenzlehre. 11 162° XXU. Das sittliche Bewusstsein ist mit dem religiösen ent- wickelt. Dogma und Moral. Die gleiche Bewandtniss hat es mit dem sittlichen Bewusst- sein. Es kommt dem Menschen ebenfalls ausschliesslich zu, wie das Gottesbewusstsein. Der Begriff des honestum, d. h. der Sittlichkeit, ist dem besten Thiere verschlossen. Der Mensch kann irren in dem, was er für gut und schlecht hält, aber er muss etwas für gut halten über den bloss sinnlichen Trieb hinaus, ja gegen den sinnlichen Trieb, und darin unterscheidet er sich von dem Thiere, welches nur von sinnlichen Trieben geleitet wird, und dessen Gewissen, wenn man von einem solchen reden darf, in der Dressur und der Furcht vor der Strafe seine Grundlage hat. Weist man darauf hin, dass dieses bei rohen und uncultivirten Menschen gerade so sei, so bleibt doch immer der Unterschied, dass selbst der roheste Mensch einer Erziehung zum moralischen Bewusstsein fähig ist, das Thier nicht: es ist in dieser Beanlagung derselbe Unterschied, wie beim Denken und Sprechen. Auch macht es die Sache nicht anders, wenn man darauf hinweist, dass auch das sittliche Bewusstsein im Menschen entwickelt ist; es müssen Anlagen dagewesen sein, um sich entwickeln zu können, und wir fragen: warum hat es sich beim Thiere nicht entwickelt? „Der folgende Satz, sagt Darwin, scheint mir im hohen Grade wahrscheinlich zu sein, nämlich dass jedes Thier, welches es auch sein mag, wenn es nur mit scharf ausgesprochenen socialen Instineten versehen ist, unvermeidlich ein moralisches Gefühl oder Gewissen erlangen würde, wenn sich seine intel- lectuellen Kräfte soweit oder nahezu soweit als beim Meßschen entwickelt hätten.“ Wir brauchen uns nicht zu ereifern "über den scheinbar kühnen Ausspruch, da ja dieser Satz gerade wieder das Vorrecht des Menschen vollständig klarstellt. ‚‚Der- artige Fähigkeiten (Selbstbewusstsein, Abstraction, allgemeine Ideen etc.), sagt Darwin an einer anderen Stelle, haben sich beim Menschen nicht eher ausbilden können, als bis seine geistigen Kräfte bis zu einem hohen Puncte entwickelt waren“ — d.h. bis er Mensch war. Und wiederum: „Ein moralisches _ Wesen ist ein solches, welches im Stande ist, seine vergangenen und künftigen Handlungen oder Beweggründe unter einander 163 zu vergleichen und sie zu billigen oder zu missbilligen. Zu der Annahme, dass irgend eines der niederen Thiere diese Fähigkeit habe, haben wir keinen Grund‘ — nun, da ist ja der Unterschied von Darwin selbst deutlich genug gezeichnet. Die Schwalbe lässt im Herbst, wenn sie der Wandertrieb ergreift, ihre Jungen im Neste zurück, die nun eines elenden Todes sterben: der Wanderinstinct wirkt mächtiger als der Instinct der Mutterliebe. „Ist (der Vogel) am Ende seiner langen Reise und hört der Wanderinstinet zu wirken auf, welch’ schreckliche Gewissensbisse würde er fühlen, wenn er mit grosser geistiger Lebendigkeit ausgerüstet sich dem nicht entziehen könnte, dass das Bild seiner Jungen, welche in dem rauhen Norden vor Kälte und Hunger umkommen mussten, beständig durch seine Seele zöge‘‘, d.h. wenn” es ein Mensch wäre, der so gehandelt hätte, Also erst auf der menschlichen Grundlage konnte sich das sittliche Bewusstsein entwickeln, wie das religiöse, dessen prak- tische Seite es gewissermassen ist. Die menschliche Entwickelung musste auch hier ein ganz anderes Ziel haben, als die thierische, da sie auf ganz anderer Grundlage beginnt. Für den Menschen gibt es eine Tugend, er kann „nach der göttlichen streben, und sollt’ er auch straucheln überall‘‘ (Schiller, drei Worte). Sie ist nicht, wie der Materialismus lehrt, nur Nützlichkeit, da sie über den praktischen Bedarf, ja. gegen den praktischen Bedarf anzugehen vermag. „Die Erfahrungen der Nützlichkeit‘ konnten niemals, wie Darwin meint, ‚in Folge fortgesetzter Ueberlieferung und Anhäufung zu gewissen Fähigkeiten mora- lischer Intuition in uns werden“, wenn es nicht im Wesen und in der Bestimmung des Menschen lag. Die „socialen Instincte,‘‘ die das Thier mit dem Menschen gemein hat, haben niemals sittlichen Werth; auch dem besten Thier wird man nicht Ge- wissea, Schamgefühl, einen tugendhaften Lebenswandel impu- tiren. Die neueste Behauptung Häckel’s (Freie Wissenschaft und freie Lehre): ‚‚die socialen Instinete der höheren Thiere, z. B. das bewunderungswürdige Pflichtgefühl der Ameisen, sind im besten Sinne geradezu christlich“, wird dem verdienten Spott nicht entgehen. „Die Völker, sagt Strauss, welche die Reisenden in Zweifel liessen, ob bei ihnen Religion anzutreffen sei, sind immer, auch in jeder anderen Hinsicht als die ärmsten und thierähnlichsten befunden worden‘ — der beste Beweis für das Wechselver- hältniss zwischen Religion und Sittlichkeit, ,„‚Weiter aufwärts Il” ee o in der Geschichte, fährt Strauss fort, geht die Ausbildung der Religionen mit dem Culturwerthe der Völker Hand in Hand“, d. h. die Entfaltung des religiösen Bedürfnisses mit der intel- lectuellen und moralischen Kraft. Denn der „Culturwerth‘“ eines Volkes geht auf in dem, was das Volk an allgemein mensch- licher Veredfung zu der Arbeit seiner Vorgänger hinzugethan, und diese Veredlung hat die beiden Seiten der Intelligenz und der Moralität. Indem das religiöse Bewusstsein wächst, sucht es nach einer äusseren Form: so entstehen und entwickeln sich die positiven Religionen; und Hand in Hand mit dem religiösen Bewusstsein wächst das sittliche Bewusstsein und gewinnt feste Gestalt in einer Summe von sittlichen Vorschriften, die für die Moral dasselbe sind, was das Dogma für die Religion. So sehen, wie die Religionen, so auch die Sittengesetze bei anderen Völkern und zu anderen Zeiten anders aus: ja beim einzelnen Menschen können die sittlichen Anschauungen gröber oder feiner sein, je nach dem Stande seiner Erkenntniss — wie ja selbst das geschriebene Gesetz und das noch schärfer gezogene Sitten- gebot des Christenthums immer noch Schwankungen in der Auf- fassung und die Freiheit zulässt, die dem einen als verwerflich erscheinen lässt, was der andere vollkommen mit seinem Gewissen zu vereinen vermag. Die sittlichen Vorschriften sind mit der steigenden Bildung feiner geworden, delicater möchten wir sagen, und sie haben ihren Inhalt erweitert, indem sie sich — worauf Darwin hinweist, — erst allmählich über die Grenzen des eigenen Stammes und Volkes hinaus auf die ganze Menschheit zur allgemeinen Menschenliebe , zuletzt sogar auf die Thierwelt ausdehnten. Aber die Schwankungen, denen zu allen Zeiten die Auffassung des Sittlichen ausgesetzt war, beseitigen nicht den Begriff der Sittlichkeit an sich und die Berechtigung des Sitten- gesetzes — im Gegentheil: da sich im Ganzen, bei allen Schwank- ungen im Einzelnen, das Gesetz des Fortschritts geltend macht, so ist auch hier die Willkür ausgeschlossen, die Menschheit musste das sittliche Bewusstsein entwickeln, weil es zum Wesen der Menschennatur gehört. Wenn wir von der engen Verbindung des religiösen und sittlichen Bewusstseins sprechen, so wollen wir damit sagen, dass sie sich bei. allen Völkern zusammen und in gleichem Schritt entwickelt haben, so dass sie gewissermassen solidarisch haftbar erscheinen, und das eine ein integrirender Bestandtheil des andern ist, wie dies Strauss deutlich genug in dem ange- 165 führten Satze ausgesprochen hat. Das ist die Erfahrung der Geschichte: in der Jugendzeit der Völker blüht der dogmatische Glaube, reich verziert mit Wundergestalten, auf — eben wie der einzelne Mensch in der Jugend am empfänglichsten ist für alles, was über dem niederen Alltagsleben erhaben ist, was zur idealen Gestaltung des Lebens gehört. Dies ist zugleich die Zeit, in welcher die sittlichen Vorstellungen sich läutern und immer festere Gestalt gewinnen im Anschluss an die religiösen Vorstellungen: das aus der Menschenbrust geschöpfte Sittengebot tritt als Gottesgebot auf und erhält damit den stärksten Grad der Verbindlichkeit. Es ist die Zeit der grössten Stärke, des nationalen Aufschwunges, reich an Beispielen grossartiger Selbst- aufopferung und Heldentugend, freilich auch stark im Irrthum und dem Laster, wo dasselbe sich Bahn bricht. Und wiederum offenbart uns die Geschichte der Cultur- völker, dass das Hinwelken der alten Gläubigkeit und Glaubens- seligkeit, die Zersetzung der Religion, für welche die Väter ihr Bestes eingesetzt, zusammentrifft mit dem Hinsterben der nationalen Kraft, des Schwunges, der die Nation einst gross gemacht, und der sıttlichen Grösse, die zu Leistungen trieb, welche weit jen- seits des gewöhnlichen Masses der Pflichterfüllung liegen. Am Schlusse ihres Entwickelungsganges, der sie reif gemacht hat zu erkennen, verleugnet die Nation ihre Götter, die Gebildeten fallen einem trostlosen Nihilismus anheim, während die ungebildete Masse in dem alten Geleise der ererbten Formen, in „‚der Gebräuche tiefgetretener Spur‘‘, wie der Dichter sagt, weiterwandelt. Dieser Zwiespalt bezeichnet den kommenden Niedergang der Nation: sie ist stark, so lange sie an ihre Götter glaubt, die das Gute belohnen und das Böse bestrafen, in ‘dieser oder in einer anderen Welt; sie geht ihrem Ende entgegen, wenn diese alten Grund- festen der Relıgion und Moral wankend werden. Sokrates.brachte - eine freiere Anschauung von dem göttlichen Wesen in Gang: er sprach von der Gottheit, nicht von den Göttern; ob sie gleich die richtige war, noch überwog das praktische Bedürfniss, und Sokrates musste sterben. Aber wem könnte es entgehen, dass in jener Zeit das Unkraut zu wuchern begann, welches den herrlichen Garten des Griechischen Lebens und der Griechischen Freiheit so bald verwüsten sollte? Wer zweifelt, möge die letzten Blätter der Griechischen Geschichte lesen; er wird sich überzeugen, wie Treue und Glauben geschwunden und mit ihnen die öffentliche Sicherheit, und wie die Nachkommen der Helden von Marathon 166 und Salamis ihr Vaterland um schnöden Goldeslohn an den Makedonischen König Philipp verriethen. In Rom, wo noch Cicero seine Stimme für die Altgläubigkeit, gegen die ein- dringenden Lehren der Griechischen Freigeister erhoben hatte, schnitt eine andere Scheere den alten, morschen Faden ab: Constantin der Grosse machte das Christenthum zur Staatsreligion, und kaum anderthalb Jahrhunderte danach brach der Römische Staatscoloss in Trümmer. Das Christenthum hat den Römischen Staat nicht gerettet, welcher der politischen und moralischen Verwesung anheimgefallen war; das neue Leben, das es brachte, kam den frischen Völkern zu Gute, die auf den Ruinen des Römischen Reiches sich erhoben.- Nicht jedoch als wenn diese freiere Regung des Geistes, die den dogmatischen Glauben abwirft und nach dem Verstehen ringt, es wäre, die den Niedergang der Nation herbeiführte — das hiesse die Ursachen und Wirkungen verschieben; sie ist vielmehr nur der begleitende Umstand, das Symptom der langen Krankheit, die den Tod der Nation endlich herbeiführt. Und dieser wird durch eine Reihe naturgemässer Ursachen herbei- geführt, die sich bei jeder Nation mit dem Fortschritte der Cultur von selbst einstellen (Anfänge des Menschengeschlechts II S. 267 ff. und oben $. 101). Eine Nation, die lebt, kommt auch zum Sterben, so gewiss wie der einzelne Organismus; und leben heisst hier vor allem Fortschreiten in geistiger Erkenntniss. Und dieses Fortschreiten kann hinwiederum nicht anders, als zum Widerstreit gegen den alten Dogmaglauben führen, den die naive alte Zeit, ihrem Herzen mehr als ihrem Verstande folgend, zusammengesetzt. Aber sowie die eine Nation abstirbt und ermattet die Arme ‘sinken lässt in dem grossen Ringkampfe der Menschheit, so tritt die Nachbarin, die ihre Kräfte bis dahin gespart hatte, auf, um sich an denselben Problemen zu messen und die Lösung der Fragen, an denen sich der menschliche Verstand aller Zeiten und aller Nationen abgerungen,. mit neuen Mitteln zu versuchen. Das letzte Ziel dieses Ringkampfes ist immer wieder: Beseitigung alles Ueber- natürlichen, Erklärung aller irdischen Dinge aus natürlichen Ursachen — ein vergebliches Beginnen, wie der uralte Titanen- kampf, der den Ossa auf den Pelion häufte, um den Olymp zu ersteigen, oder der Babylonische Thurm, der, wie die Bibel erzählt, bis in den Himmel reichen sollte. So traten die Europäischen Nationen, sowie eine jede zuerst gereift war, in 167 die Arena, und heute ist es unser Vaterland, wo der geistige Kampf am heftigsten tobt. heftiger als selbst in England, dem Geburtslande des Darwinismus. Dieser, der Darwinismus, ist, wie wir sagten, das neue Mittel, mit dem der Materialismus unserer Zeit die alte Streitfrage endlich zu lösen meint, das jede Dunkelheit einer positiven Religion ein- für allemal ver- scheuchen soll. Er ist es nicht, wozu man ihn macht, davon haben wir uns überzeugt; aber er ist mächtig genug, um unserm Dogmaglauben einen neuen Stoss zu versetzen. Und für das Volk im Ganzen bedeutet ein Stoss gegen das Dogma zugleich einen Stoss gegen die Moral: die sittliche Kraft des Volkes, wie sie gewachsen war mit dem religiösen Leben, sinkt mit dessen Zersetzung, diese Wahrheit predigt die Geschichte mit unwiderleglichen Beweisen. Für die Masse ist Sittlichkeit ohne Religion ein ganz undenkbarer Begriff, und auch für den Gebildeten, der die Gesetze der Sittlichkeit aus der eigenen Brust zu schöpfen für genügend halten wollte, fällt gleichwohl die bindende Kraft der Moralität mit dem religiösen Bewusstsein weg, und die Aussicht, in dem Widerstreit gegen die Triebe Sieger zu bleiben, verringert sich. Der gutgemeinte Unter- schied zwischen ‚sittlichem und naturwissenschaftlichem Materia- lismus“, wie ihn Häckel macht, ist für die Praxis werthlos; für diese ist Materialismus Materialismus — wovon später mehr. Wir können dreist behaupten: wer Religion hat, hat auch sitt- liches Bewusstsein, und umgekehrt: wer sittliches Bewusstsein hat, hat auch Religion in irgend einer Form, und wenn er es selbst leugnen wollte. XXIII, Die Entwickelung der Religion. Ihr Ziel ist nicht die „Vernunftreligion“. Das Christenthum. Ist die Schöpfung planmässig angelegt und der Mensch das Endziel der Schöpfung, so muss es wiederum für diesen selbst ein Endziel geben. Da wir das erste bejaht haben, so bleibt das zweite zu suchen. ,‚Nur als moralisches Wesen, sagt Kant, kann der Mensch Endzweck der Schöpfung sein; damit steht Glückseligkeit als Folge, nach Massgabe der Ueberein- stimmung mit jenem Zwecke als dem Zwecke seines Daseins, 168 in Verbindung,‘ d. h. also: Glückseligkeit und wahre Zufrieden- heit erlangen wir nur, wenn wir uns bewusst sind, diesem Ziele der moralischen Vervollkommnung möglichst nahe ge- kommen zu sein. Und auf diesem Wege gelangt Kant dazu, den Gottesbegriff, dessen Stützen er theoretisch ins Wanken ge- bracht hatte, als ‚Postulat der praktischen Vernunft‘‘ wieder- herzustellen: „Die oberste Ursache der Natur, sofern sie zum höchsten Gute vorausgesetzt werden muss, ist ein Wesen, das durch Verstand und Willen die Ursache, folglich der Urheber der Natur ist, d. i. Gott“; das Dasein Gottes, „als eines Grundes aller Verbindlichkeit überhaupt,“ ist moralisch noth- wendig. Das moralische Gesetz „führt durch den Begriff des höchsten Gutes, als das Object und den Endzweck der reinen praktischen Vernunft, zur Religion, d. i. zur Erkenntniss aller Pflichten als göttlicher Gebote, nicht als Sanctionen, d. i. willkürlicher, für sich/selbst zu- fälliger Verordnungen eines fremden Willens, sondern als wesentlicher Gesetze eines jeden freien Willens für sich ‘ selbst, die aber dennoch als Gebote des höchsten Wesens an- gesehen werden müssen, weil wir nur von einem moralisch- vollkommenen, heiligen und gütigen, zugleich auch allgewaltigen Willen das höchste Gut, welches zum Gegenstand unserer Be- strebung zu setzen uns das moralische Gesetz zur Pflicht macht, und also durch Uebereinstimmung mit diesem Willen dazu zu gelangen hoffen können.“ So wird des Wort Goethe’s wahr: „Als ich die Kantische Lehre wo nicht zu durchdringen, doch möglichst zu nutzen suchte, wollte mir manchmal dünken, der köstliche Mann verfahre schalkhaft ironisch, indem er bald das Erkenntnissvermögen aufs engste einzuschränken schien, bald über die Grenzen, die er selbst gezogen hatte, mit einem Seiten- wink hinausdeutete.‘‘“ Mag man immerhin sagen: es ist die Schwäche des alternden Philosophen, die sich auszusöhnen strebt mit der herrschenden religiösen Meinung; das eine ist, - (wie man richtig bemerkt hat), wie das andere Kant’sche Philosophie, und es kann nur in Frage kommen, ob man dem bedächtigeren Urtheile des erfahrenen und gereiften Alters, oder der jugendlichen Kühnheit, die den fruchtlosen Gigantensturm gegen den Himmel unternimmt, den Vorzug geben will. So wenig wir uns also den Entwickelungsmechanismus der organischen Welt ohne das Bewusstsein von der Gottheit als dem Urgrunde alles Seins und alles Werdens vorzustellen ver- fe mögen, ebensowenig kann die psychische Entwickelung des Menschen und namentlich deren wichtigster Theil, die religiöse und sittliche Entwickelung, begriffen werden, ohne die Annahme des überirdischen Agens, von welchem dieser, wie aller Ent- wickelung, ihre Gesetze und ihre Ziele vorgeschrieben sind, und welches selbst wiederum der Hintergrund der ganzen Bewegung ist, dem die Entwickelung zusteuert. Denn ohne das Gottes- bewusstsein hätte sich nie eine Religion, und ebensowenig ein Sittengesetz entwickelt, und eben die im Laufe der Zeit immer klarer werdenden Vorstellungen von der Gottheit machen die Quintessenz aller religiösen Entwickelung aus. Und bei dieser Entwickelung zeigt sich Ordnung und Gesetz, ein regelmässiger Stufengang, der den Zufall ausschliesst, wie bei der organischen Entwickelung: dies zu erkennen ist die Menschheit alt und reif genug geworden; wenn sie auch das Ende aller Entwickelung nicht zu schauen vermag, so kann sie sich gleichwohl eines Zieles bewusst werden. Sie kann sich fragen: warum dies so? warum musste der Mensch andere Ziele“ der religiösen und moralischen Entwickelung haben als das Thier? Und indem sie sich auf diese Fragen eine Antwort zu geben versucht, ist sie mitten im Aufbau einer Religion. Diesen Aufbau begann der erste Mensch; er musste ihn beginnen, sowie er sich die erste Sprache bereiten musste, um seine Empfindungen zu äussern. Und seitdem arbeitet die gesammte Menschheit daran, diesen Bau zu bessern, zu kräftigen, in den einzelnen Theilen auszuführen und nach dem jeweiligen Stande der Erkenntniss umzugestalten. Wir nehmen gewöhnlich an, dass die erste Religion nur eine polytheistische sein konnte, eine Vielgötterei, die alle Erscheinungen in der Natur, bei denen man unerklärtes Leben und Wirken wahrnahm, zu besonderen Gottheiten fixirtee Beim Urmenschen, d. h. bei den ersten Menschen, über deren Zustände wir in der 'That nichts wissen, mag dies zutreffen, für den Urstamm, wie er sich in der Urheimat unseres Geschlechts vor der Wanderung und der sich an diese knüpfenden Entstehung der Rassen entwickelt hatte, trifft es vielleicht schon nicht mehr zu. Wer die Spuren der Cultur, die sich bereits in der Urheimat entwickelt hatte (vgl. oben S. 160) aufmerksam zusammenliest, muss es für möglich halten, dass man dort schon zu einer Ahnung des einen Gottes gelangt war. Man thut dem Judenthum zu viel Ehre an, wenn man es den Monotheismus erfinden lässt. Jedenfalls war man schon 170 in uralter Zeit zu der gesunderen Anschauung, der Erkenntniss des einen Gottes vorgedrungen, der als Weltschöpfer und Welt- erhalter die Geschicke des Kosmos in seiner Hand vereinigt: indem die Vielheit der Erscheinungen zur Einheit der Idee zu- sammengefasst wurde, vollzog sich auf dem Gebiete der Religion der erste Darwinismus, der erste Monismus. Aus dem Judenthume ging das Christenthum hervor, das, wie auch die Gegner einräumen müssen, die vollendetste Form jeder positiven Religion ist. Es trat unter eigenthümlichen Verhältnissen in’s Dasein, die alle zusammenwirken mussten, um ihm den ebenso verdienten wie grossartigen Triumph zu bereiten; es musste den Römischen Staat genau so finden, als es ihn fand, sagt Schiller (in der Jenaer Antrittsrede); man kann den Ausspruch erweitern: es musste die Welt so finden, wie es sie fand: das Judenthum bankerott in politischer und socialer Beziehung, das Römische Weltreich morsch und in seinen Grundfesten wankend, die ganze Welt eine neue sittliche Aufrichtung, den wahren Messias erwartend und bedürfend, dessen Reich nicht, wie die Juden geträumt hatten, von dieser Welt sein sollte. Es hat die Erlösung gebracht, eine neue Welt erhob sich aus den Trümmern, aufgebaut auf den Schultern frischer, jugendkräftiger Völker, die auf der besseren Grundlage ganz anderen Zielen zueilten, als die unter dem Schutt be- grabene Welt des Alterthums. Aber sofort heftete sich das Geschick aller positiven Religionen an seine Sohlen: das grosse Wunder, welches in dem beispiellosen Erfolge des Christenthums documentirt war, zerfloss in eine Menge von kleinen Wundern, und das Dogma wurde mit peinlicher Consequenz durchgeführt, als wenn dies, und nicht die sittliche Kräftigung, welche das neue Bekenntniss der Welt gebracht hatte, die Hauptsache wäre. Und nun, da dieselben Völker mündig geworden sind und alt zu werden beginnen, versuchen sie sich loszuringen von den Banden, die sie einst selbst geschmiedet: man verweigert dem Dogma den Glauben, und nicht zufrieden, die Zieraten zu entfernen, um den Bau in seiner erhabenen Einfachheit wieder- herzustellen, wühlt man die Grundlagen auf, um den ganzen Bau zu stürzen. Das Dogma hat sica consequent entwickelt, sagten wir. Aber unsere Wissenschaft nicht minder consequent, als unser Kirchenglaube. Es war nicht die Laune eines Copernicus oder Galilei, die durch ihre Entdeckungen die an dem Worte hangende a Glaubensseligkeit erschütterten und den ersten Riss in das Ge-. bäude brachten, das so fest gegründet schien; auch nicht eitle Ruhmsucht; und noch viel weniger beabsichtigte Rebellion gegen das hergebrachte Kirchenreginent, dem sich beide demüthig unterwarfen: sondern einzig die Macht der Ueberzeugung, die Macht der Wahrheit, die für den freien Geist des Menschen auch ein Naturgesetz ist, demihn weder der eigne Wille, noch fremder Zwang, und wäre es der Scheiterhaufen, entziehen kann. Und heute liegt Darwin nichts ferner, als die vorbedachte Absicht, dem Volke den Glauben zu nehmen; das ist eine boshafte Denunciation, womit man die Männer der Wissenschaft vor der unwissenden Masse verdächtigt. Was sollte der bescheidene Mann für einen Grund haben? müsste es nicht vielmehr ein viel angenehmeres Bewusstsein für ihn sein, sich mit allem Volk im Einklang der Denkweise zu befinden? So stehen wir vor dem, wie es scheint, unversöhnlichen Gegensatze von Glauben und Wissen: „Das Fortschreiten in den Wissenschaften, sagt Buttmann (Mythologus), das nicht durch den Willen und das Vermögen des Einzelnen geschieht, sondern ein Werk ist der Zeit und ganzer Generationen, hat uns auf einen andern Standpunet geführt! Glauben in jenem Sinne können wir nicht mehr, ohne der Wissenschaft zu ent- sagen; oder vielmehr wir können es nicht, auch wenn wir es wollten. Ob dies besser für uns ist, liegt uns nicht ob zu fragen; denn es ist so: und dass es so ist, dies ist, wie alles Ganze und Grosse, Gottes Werk.“ Ein wahres Wort. Die Zersetzung des Dogmas am Schlusse des Entwicklungsganges der Völker ist, wie der Aufbau am Anfang, Naturgesetz, weil sie sich bei allen Völkern wiederholt, in natürlicher Folge und aus natürlichen Ursachen — und darum Gottes Werk. KRedet man auch hier von mechanischer Arbeit der Natur, nun, so sind wir gleich wieder im Mittelpunet unserer Differenz, da wir uns keine Mechanik ohne den dahinterstehenden Mechaniker zu denken vermögen. Wir können nach den Zielen dieser mechanischen Arbeit fragen, da keine Maschine anders als nach einem Ziele arbeitet; wir können fragen, warum alle Bethätigung des reli- giösen Lebens sich in dieser selben Weise entwickeln musste, Dieses Ziel kann nicht, wie man meint, die Erziehung der Menschheit zur sogenannten Vernunftreligion sein, zu der alle positiven Religionen die Vorbereitung sein sollen. Ver- stände man unter dieser Vernunftreligion nichts anderes als 172 den mit ünserer Vernunft und unserem Wissen in Einklang ge- brachten Glauben, so wollen auch wir Anhänger der Vernunft- religion sein; aber man kennt sie sattsam aus der Geschichte der Französischen Revolution: es war die Religion, welche die Gottheit von den Altären stürzte und die Vernunft an ihre Stelle setzte; und heute versteht man darunter nichts anderes als die Leugnung jeder Religion und jedes Gottesbewusstseins, das durch den Begriff der mechanisch arbeitenden Natur ersetzt werden soll. Es ist der ‚‚neue Glaube‘‘ von Strauss, der heute, wie er selbst rühmt, seine Anhänger nach tausenden zählt. Wir können nicht mehr in der roheren Anschauung vergangener Zeiten verharren, nachdem unsere Intelligenz über diese hinaus entwickelt ist; aber unser Ziel kann auch nicht diese Vernunft- religion sein; denn damit schössen wir über das Ziel hinaus und höben unsere Religion auf eine Höhe, die unsere Intelligenz‘ weder erreicht hat, noch jemals erreichen wird. Denn einen Rest hat die Gottheit, wie wir nachzuweisen versucht haben, uns für immer vorenthalten; das ist ihr Thron, den zu schauen dem Sterblichen einmal nicht vergönnt ist. Also die Gottesidee muss übrig bleiben und damit die Grundlage unserer Religion und zugleich unserer Moral; und von dieser Grundlage aus müssen wir zu einer Versöhnung der streitenden Gegensätze gelangen. Nur die harmonische Auflösung des Widerstreites, in den wir gerathen, kann vernünftiger Weise als das Ziel aller mensch- lichen Entwickelung gedacht werden; sie ist die wahre ‚‚Ver- nunftreligion,“ die Versöhnung des Glaubens und Wissens. Aber wird die Menschheit dieses Ziel je erreichen? Bis jetzt hat die Entwickelung der einzelnen Völker stets das Gegentheil gezeigt: am Schlusse des Entwickelungsganges, dem Tode nahe, waren die Gegensätze unversöhnlicher, denn je; die Gebildeten gehen unbefriedigt ins Grab, der Menge von der Höhe ihrer Erkenntniss mitleidig ein „sancta simplicitas‘‘ herabrufend ; die Masse aber hält fest an den ererbten Formen, aus denen der Geist mehr und mehr entweicht. So zeigen es die christlichen Staaten, die, wie z. B. Spanien, der politischen Verwesung bereits verfallen sind: die treibenden Geister überlassen die Masse ihrem Schicksal, und der positive Dogmaglauben wird zum Noli me tangere, an dem sich die Wissenschaft nicht mehr zu versuchen wagt. Und diese treibenden Geister, die „Genies, ‘‘ sterben zuerst aus, wo eine Nation zum Sterben kommt; es bleibt die stumpfsinnige Masse, die ihre Lebensbedürfnisse, gute #43 oder schlechte, sehr wohl, wie das Beispiel der Spanischen Briganten zeigt, mit den ererbten Religionsformen auszugleichen - weiss. Eine solche Religion ist nichts werth, Nur die Religion, in welcher der Glaube mit dem Wissen ausgesöhnt ist, ist werth fortzudauern bis an’s Ende der Weltund hat die Kraft dazu. Und hier frägt es sich, ob nicht das Christenthum an sich, nach Abzug alles Menschenwerkes, welches die steigende und sinkende Entwickelung der einzelnen Völker hinzugethan, dieser Bedingung vollständig genügen kann, ob nicht namentlich in ihm die unveräusserliche Grundlage jeder Religion, die Gottesidee, und das darauf gebaute System der Moral in einer Reinheit und Würde enthalten ist, die diesem Bekenntniss ewige Dauer und ewige Frische verheisst, und die auch der Gefahr unserer Tage, der zersetzenden Macht der Descendenzlehre, Hohn spricht. Dann aber wäre mit dem Christenthum der Höhepunct der religiösen Entwickelung der Menschheit gegeben, so gewiss wie mit der Flexion der Höhepunct der Sprachentwickelung, und es eergäbe sich der Schluss, dass die Fundamente des Christen- thums aufgeben gleichbedeutend wäre mit dem Aufgeben jedes religiösen Bedürfnisses, also des wichtigsten Vorrechtes der Menschennatur, und einem Rückfall zu der Stufe der Thierwelt, an welche die Descendenzlehre unsere Entwickelung mit uner- bittlicher Logik anknüpft. Wir wollen sehen. Wir prüfen die drei Grundlagen: Gott, Freiheit des Willens, Unsterblichkeit der Seele, ohne jede Rücksicht auf ihre dogmatische Ausgestaltung, und wollen sehen, ob sie sich mit unserem Wissen von der Natur vereinen lassen. XXIV, Der Gottesbegriff. Der Begriff der Gottheit liegt so hoch über unserm Ver- stande, dass unser erstes Gefühl, wenn wir ihm näher treten wollen, stets das beschämende Geständniss sein muss, dass es bei allem Fortschritt menschlicher Erkenntniss niemals möglich sein wird sie zu der Höhe zu erheben, wo wir den reinen Geist, der über dem Kosmos waltet, zu schauen vermöchten, und dass zu allen Zeiten die Frage entstehen musste, ob es nicht besser 174 ist, das Bild der Gottheit, wie jenes zu Sais, verschleiert zu lassen und den Unerforschlichen nur zu ahnen, anstatt ihn leib- haftig sehen und definiren zu wollen. Aber damit begnügt sich der Mensch einmal nicht; er will für alles, auch für das Geistigste eine Vorstellungsform haben, und nun ringt er seit Anbeginn nach dieser Vorstellungsform, und die wechselnde Gestalt, welche die Gottesidee in den verschiedenen Zeiten der Entwickelung erhielt, ist eben der wesentliche Inbegriff der Religionsgeschichte. Der guten alten Zeit hatte eine blühende Phantasie über die Schwierigkeiten rasch hinweggeholfen: ihr wandelte der menschlich, nur mit höheren Eigenschaften gedachte Gott leib- haftig unter den Menschen umher, er stieg herab aus seiner Wohnung, dem Himmel, sprach zu ihnen, sowie er den ersten Menschen mit eigener Hand gebildet hatte, belehrte sie, „wies ihnen alles so und so,‘‘ lobte und belohnte ihre guten Thaten und strafte den Frevel — sodass man mit Wahrheit sagen konnte: hat Gott den Menschen nach seinem Ebenbilde erschaffen, ‘so hat der Mensch ihm reichlich vergolten, indem er sein Bild sehr menschlich gestaltete. Die bessere Erkenntniss bemerkte bald, dass die überall vernommene „Stimme Gottes‘, der überall gesehene „Finger Gottes‘ eine böse Fiction des Menschen war, und seine Wohnung, der Himmel, löste sich in den unermess- lichen Raum auf, der sich in „nichts von dem unterscheidet, welchen unsere Erde jährlich und stündlich durchläuft. Es blieb nur der geistige Begriff, der ‚absolute Gott‘‘, wie Strauss sagt, abgelöst von jeder menschlichen Zuthat: Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn im Geiste. und in der Wahrheit anbeten, sagt das Evangelium. Sein Leib ist die Welt — so können wir in gewissem Sinne sagen; insofern nämlich, als er überall ist und das Weltall durchdringt wie die menschliche Seele den Leib; aber insofern nicht, als er nicht abhängig sein kann von der Materie, wie die menschliche Seele vom Leib, der das Gebundensein an die Materie überall hindernd und be- schränkend in den Weg tritt. Der Mensch muss sich seinen Gott als allmächtig denken, weil er abhängig gedacht von der Materie, ein Wesen gleich uns wäre und dann wieder die Frage nicht beantwortet würde: wie konnte ein solches Wesen die Welt zu Stande bringen? Er muss ihn allweise denken, weil die Summe menschlicher Weisheit niemals ein Weltgebäude mit seinen Gesetzen zu Stande bringen und im Stande zu erhalten vermöchte. Und 175 so ergeben sich alle Attribute der Gottheit aus der Vefgleichung mit der Unvollkommenheit der irdischen Welt, der wir die Gott- heit unbedingt entrücken müssen. Nur so wird der Gottesbegriff werthvoll für unseren Glauben, nur so ein wirksamer Hintergrund für unser Sittengesetz, für das ein macht- und willenloser Popanz dasselbe wäre, wie für den Menschen die Vogelscheuche, die wir zur Vertreibung der Sperlinge auf unsern Feldern aufstellen. Gott ist also nicht, wie Strauss sagt, ‚das auf sich selbst ruhende, im ewigen Wechsel der Erscheinungen sich gleich- bleibende Universum,‘‘ da wir von diesem nicht einsehen können, wie es „sich in einem unendlichen Wechsel nicht bloss ursächlich, sondern auch zweckmässig verknüpfter Erscheinungen manifestiren“ könnte. Gott ist der Geist, der in der Materie waltet von Ewigkeit her, aber durch die Materie nur insofern bedingt ist, als uns sein Wirken sonst nicht offenbar würde. Wir können uns, wie die Sachen liegen, Gott nicht denken vor der Welt, weil wir (oben $. 140) den Stoff für ewig halten müssen wie die Kraft; auch nicht ohne die Welt, weil wir ihn dann ausser Thätigkeit setzen würden, Bekanntlich behauptet ein nam- hafter Kirchenvater, Origenes, die Anfangslosigkeit der Welt auf den Grund hin, dass es ohne die Welt keinen Gott geben könne, wie ohne Herrschaft keinen Herrscher; die ewige Gottheit bedinge die Ewigkeit der Welt. Es deckt die Sache nicht, wenn man dem entgegenstellt, dass die Gottheit nicht unter den Begriff der Zeit falle, der nur geschaffenen Dingen angehöre; denn dann wird für uns der Begriff der Gottheit unmöglich. Wer sagt: Gott ist ewig, der sagt damit auch: die Welt ist ewig, da weder eine Welt ohne Gott, noch ein Gott ohne Welt unseren Begriffen erreichbar ist. Verzichten (in der Weise des Kant’schen Kriti- eismus) auf die Begriffe von Raum und Zeit, die erst durch unser Vorstellungsvermögen zu Stande kommen, heisst überhaupt verzichten auf die Möglichkeit sich von der Gottheit einen Begriff zu machen. Soll Gott vor der Welt gewesen sein, so entsteht die Frage: was that er, ehe die Welt. geschaffen war — die Frage, auf welche bekanntlich Luther die Antwort gab: Er ging im Walde und schnitt Ruthen für die unnützen Frager. Die drastische, hausbackene Antwort hat gleichwohl einen tiefen Sinn; denn unser Denkvermögen hat hier wirklich eine Grenze, wo wir über das Endliche alles Irdischen hinaus die ewige Zeit und den unbegrenzten Raum denken sollen (oben 8. 140). Genug, dass wir erkennen, dass Gott mit der Welt und dem Menschen 176 insbesondere etwas gewollt, und was er gewollt: wir streben der Vollkommenheit nach,. das ist sein Bild, welches in uns wiederleuchtet, und hoffen, dass es uns vorbehalten ist, in einem anderen Leben mehr von ihm zu wissen und ihm voll- kommen ähnlich zu werden — wovon sogleich. In den Kampf der widerstreitenden Meinungen ist in unseren Tagen die Descendenzlehre eingetreten; man hat in ihr, den‘ Urheber weit überbietend, den lange gesuchten Beweis zu finden gemeint, dass der Gottesbegriff weder nöthig noch mög- lich sei zur Erklärung der Welt. Vergebens, wie wir sahen; der alte Gott, der allmächtige Schöpfer und Erhalter der Welt lebt noch und es ist nicht gelungen, ihn aus der Welt zu schaffen. Freilich ist er uns nicht mehr der Schöpfer, auf dessen Machtwort am Anfang der Dinge die Geschöpfe wohl- geordnet nach Classen und Arten entstehen, in sechs Tagen, worauf der siebente als Ruhetag folgte. Wir setzen dafür die Entwickelung ein, Schöpfung ist uns Entwickelung, wie wir sagten. Gleichwohl gestaltet sich die Sache nach unserer Auf- fassung wesentlich anders: die Entwickelung ist nicht, wie der Darwinismus annimmt, eine fortdauernde, unbegrenzte in Be- zug auf Zeit und Ziel, sondern sie theilt sich in eine auf- steigende, mit dem bestimmten Grenzpuncte, der Entstehung des Menschen, und in eine absteigende — und damit kommen wir dem biblischen Begriffe der Schöpfung beträchtlich näher, da wir nur statt der sechs Tage eine yngemessene Frist ein- zusetzen haben, um uns mit der herrschenden Anschauung aus- zusöhnen. Wir beseitigen die einzelnen Schöpfungsacte, wie sie uns in sinnlicher Gestaltung die Bibel vorführt: aber im Grunde genommen ist und bleibt jede hervorspringende Variirung ein Schöpf- ungsact — nur dass damit nicht sofort die fertige Art hingestellt wird, sondern nur der Ansatz zu derselben. Hierin liegt der Grund, weshalb sich Darwin mit der heterogenen Zeugung nicht be- freunden kann, wie umgekehrt alle, die der Teleologie und dem Gottesbewusstsein das Wort reden, die allmähliche Transmutation Darwin’s von sich stossen müssen. Der Anstrich der heute in gleicher Weise wirkenden Gesetzmässigkeit, den Darwin’s mini- male Variirung in die Vorgänge bringen soll, wird hinfällig bei der Ermittelung , dass die Variirung, die heute allerdings minimal ist, einst maximal war, und dass sie sich in Sprüngen bewegt hat, für die wir heute keine gesetzliche Unterlage in der Natur mehr finden. Wir erinnern nur an die beiden folgen- 177 reichsten dieser Sprünge, an die Urzeugung und an die Ent- wickelung des Menschen aus der Thierform — die wir an- nehmen müssen, ohne sie mit heutigen Vorgängen belegen zu können. Die Urzeugung hat bei allem Suchen noch niemand gefunden; wäre sie noch, so stände dahinter (wie wir sagten S. 39) die lange Reihe der Entwickelung, wir würden aus dem Protoplasma den Menschen sich emporbilden sehen. Und so bleibt der Vorgang der Menschwerdung, so natürlich wir uns denselben vorstellen mögen, gleichwohl für uns ein Ge- heimniss, da die thatsächliche Beobachtung unserer Vorstellung nicht zur Seite steht. Wir dürfen nicht sagen: der Mensch stammt vom Affen ab, da der von den heutigen Vorgängen abgezogene Begriff „abstammen“ den Sprung nicht deckt, der aus der Thierform den Menschen brachte. Je bedeutender aber einst diese Sprünge waren, desto dringender wird die Frage: wer bestimmte ihre Richtung, dass sie nicht ausschlugen in’s Blaue hinein? Die Hinaufleitung dieser Bildungsveränderungen und Verbesserungen bis zum Menschen mit seiner Psyche ist und bleibt eine That, für die wir uns umsonst anstrengen, die Natur, die nur der Zufall regieren konnte, mit der Würde eines denkenden und wollenden Wesens zu umkleiden. „Sie gewinnen, sagt Teichmüller (Darwinismus und Philosophie) von Darwin und Häckel, den grossen Stammbaum aller lebendigen Artformen mit einer gemeinschaftlichen Urmutter, aber ohne Vater; denn dieser ist als unbekannter Zufall nicht zu reelamiren.‘‘ Aber den Zufall gibt es nicht, wie wir sagten, in den kosmischen Gesetzen; und damit sind wir auf die bestimmende Hand einer wenn auch in die Gesetze der Natur gekleideten höheren Intelligenz mit un- verkennbarer Deutlichkeit hingewiesen. In die Gesetze der Natur gekleidet. Denn das müssen wir annehmen, da es uns die Thatsachen lehren, dass diese Entwickelung sich nach feststehenden Gesetzen vollzieht, und seit Anbeginn vollzogen hat. Wir sehen nirgends ein willkürliches Eingreifen der Gottheit, da alles gesetzmässig verläuft. Die Gottheit verkörpert sich in diesen Gesetzen ; aber es hiesse ihr menschliche Schwäche andichten, wollten wir sie jeden Augen- blick willkürlich eingreifen lassen in die selbst gesetzte ewige Ordnung der Dinge — wie wir Menschen ja oft genug unserer Laune fröhnen bei dem, was wir geschaffen, unserer Leidenschaft bei denen, die wir beherrschen. Und doch wird durch diese Einschränkung die Allmacht Gottes nicht beschränkt; ihr Zeuge Kuhl, Descendenzlehre. 12 178 ist und bleibt die Welt in ihrer harmonischen Entwickelung. Es ist ein bekannter Kinderwitz: Gott ist nicht allmächtig, denn er kann kein dreieckiges Viereck machen. Eben dieses, ein dreieckiges Viereck zu machen, würde der verlangen, der von seinem Gotte sich die Vorstellung machen wollte, dass er ihn bei jeder Gelegenheit willkürlich die Gesetze der Natur ver- schieben und verändern liesse. Die Sonne stille stehen lassen, um den Tag willkürlich zu verlängern, hiesse das Weltall in Brand setzen, und dies um eines kleinen Lieblings-Völkchens willen, das an irgend einem Puncte der Erde mit seinen Nach- barn in Fehde stand. Was der gemeine Mann wunderbare Fügung, wunderbare Rettung nennt, ist nichts anderes, als die zur rechten Zeit eintretende Ablösung eines Naturgesetzes durch ein anderes. Dürfen wir also getrost einräumen, dass Gott keine Wunder in dem Sinne, wie man das Wort gewöhnlich nimmt, thut, so wird er doch darum nicht, wie man gesagt hat, ein unthätiger, also entbehrlicher Gott. Diese Ablösung der Naturgesetze, von der wir sprachen, kann, wie die Mechanik der Naturerscheinungen überhaupt, nicht ohne eine auf das Ganze gerichtete Für- oder Vorsorge gedacht werden, so wenig wie die von Menschenhand verfertigte Maschine ohne den Lenker. Wir sprachen (oben $. 126) von den Unregelmässigkeiten und der Freiheit der Bewegung, die der Natur bei aller Starrheit der Gesetze gelassen ist: weit entfernt, dass die daraus sich ergebenden Unpässlichkeiten, wie man gemeint hat, für den Gottesbegriff vernichtend seien, geben vielmehr gerade sie ein glänzendes Zeugniss ab von der ordnenden und gebietenden Gewalt, die über dem Weltganzen waltet. Jedes Abirren von der Regel, die geringste Unregel- mässigkeit bringt der von Menschenhand gebauten Maschine Verderben; ein einziges Rad, das aus den Fugen geht oder seinen Dienst nicht auf’s pünctlichste versieht, bringt unsere Uhren zum Stehen; der kleinste Fehler in der Locomotive hemmt ihren Gang und wirft sie aus dem Geleise. Hier ist keine Störung erlaubt ohne Vernichtung des Ganzen. Aber die grosse Weltmaschine läuft trotz aller Unregelmässigkeiten weiter, wie sie seit Jahrtausenden gelaufen ist, so lange der Mensch im Stande ist, ihren Gang zu beobachten. Sie bedarf keiner Schmiere, keiner Reinigung, keiner Ausbesserung und Erneuer- ung schadhafter Theile; sie führt bei allen Schwankungen von selbst überall den Ausgleich herbei, alle Difierenzen lösen sich EEE EEE TE 179 in gefällige Harmonie auf und dienen nur dazu, diese Harmonie erst recht zu verklären und wunderbar zu machen. Die Kometen, die gefürchteten „‚siderischen Vagabunden“, haben noch keinen Riss in unser Sonnensystem gemacht; der Mond, der die Wasser des Oceans hebt, hat sie noch nicht von der Erde ab- gezogen, das Meer wirft seine Fiuthen gegen das Land, ohne es gleichwohl zu verschlingen, Es sind nothwendige Gesetze, nach denen sich die ge- sammte Entwickelung‘ vollzieht. Nun wohl, so müssen wir sie erkennen können, und wenn auch nicht die Endziele, so doch die nächsten Ziele der Entwickelung vorhersagen können. Aber niemand vermag auch nur für einen Tag das Wetter mit Sicherheit vorherzusagen, und mancher, der es versucht, ist zum Gespötte geworden. Der Geschichtskundige weiss anzu- geben, wie auch in dem Leben der Menschen dieselben Ursachen dieselben Wirkungen haben müssen, und wie sich die historischen Ereignisse zu einer Kette von Gliedern zusammenflechten, deren Zusammenhang und gegenseitiges Bedingtsein von einander in der Regel klar genug zu Tage liegt. Hätten wir aber die volle Einsicht in das Getriebe dieser Mechanik, so müssten wir diese Kette mit Bestimmtheit fortsetzen können bis zum Ende der Dinge. Ja wohl, wir machen den Versuch, aber niemand bürgt uns dafür, dass er nicht beim ersten Ansatz zu Schanden wird. Wir kennen die Gesetze nicht, wird man sagen, oder vermögen sie nur in ihrer Gesammtheit, nicht im Einzelnen, zu überschauen. Nun, wenn man das eingesteht, haben wir genng: bei aller Starrheit der Gesetze bleibt der leitende Geist in diesen Gesetzen ebenso nothwendig, wie unserer Erkenntniss unzugänglich. „Und ob alles in ewigem Wechsel kreist, Es beharret im Wechsel ein ewiger Geist.“ (Schiller.) Wir grübeln also nicht darüber nach, wie lange der Vor- rath von Steinkohlen in unseren Bergen vorhält oder das Salz, womit wir unsere Speisen würzen, wann der letzte Sauerstoff, ohne den der Mensch ersticken müsste, aufgezehrt ist, wann das letzte Wasser verdunstet ist oder von der Erde aufgesogen ist, oder wann der gefürchtete Komet kommt, der die Erde in Stücke werfen soll. Kommen diese Ereignisse oder .nur eines von ihnen, dann sind wir gewiss, dass sie zu ihrer Zeit kommen, und dass sie das Menschengeschlecht nicht mehr auf der Erde antreffen. Dieselbe Weisheit, die dem Menschen die Erde zu- 12° 180 bereitet hatte, als er in die Welt trat, wird auch dafür gesorgt haben, dass alle die Dinge, die er braucht, noch da sind, so lange der Mensch selbst noch da ist. Diese Weisheit ist aber nicht die natürliche Zuchtwahl; sie gibt uns kein Brod und schafft uns keine Kohlen. — Aber es ist die Natur, die dabei nach mechanischen Gesetzen verfährt. — Nun, die das sagen, nennen Natur, was man gewöhnlich Gott nennt. Der Vorsehungs- Aberglaube, der überall den „Finger Gottes“ sieht, wo die natürliche Erklärung ausreicht, muss fallen, aber nicht der Vorsehungsglaube,, da ohne ihn die Welt, wie sie ist, niemals zu Stande gekommen wäre und sich nicht im Stande zu er- halten vermöchte, XXTV. Das Böse in der Welt. Der Trost der Religion. Es ist von jeher der schwerste Einwurf gegen den Gottes- begriff gewesen: woher kommt das Böse in der Welt, da ja der Lenker der Weltgeschicke nur das Gute habe wollen können ? warum schmachtet so mancher schuldlos im Elend, während der Schuldige ungestraft die Früchte seines Frevels geniesst? warum ist die Erde im besten Falle ein Jammerthal, das Leben eine Reihe von Sorgen und Entbehrungen, Krankheiten und Qualen aller Art, denen der Tod so oft die gewünschte Erlösung bringt? Entweder beseitigt Gott, so sagt man, das Böse nicht, weil er nicht kann, — und dann ist er nicht allmächtig; oder weil er nicht will — und dann ist er boshaft, Wir wählen getrost das erste und fürchten damit ebensowenig, wie mit der ange- nommenen Starrheit der Naturgesetze seine Allmacht zu beschränken. Er hat der Welt ihren Lauf vorgeschrieben nach bestimmten Gesetzen, die er selbst nicht willkürlich ändern kann, ohne die ganze Ordnung zu zertrümmern. Er kann -es nicht, und muss es so gewollt haben von Anbeginn an, denn wenn wir einmal Entwicklung nach bestimmten Zielen anerkennen müssen, wenn die Welt, wie Strauss sagt, „auf die höchste Vernunft angelegt‘‘ ist, so kann sie hierin nicht planlos sein, und wir sind ge- zwungen, auch hier nach Grund und Zweck zu fragen. , Dieser Grund kann aber nicht Mangel an Macht sein. Denn derjenige, der diese Entwicklung und damit das Hinstreben 181 n zur Vollkommenheit setzte, konnte ebensogut fertige Verhältnisse und vollkommene Zustände setzen. Der Grund kann aber auch nicht Bosheit sein. Denn aus Bosheit das Böse zu schaffen, nur um die Welt zu quälen und in Versuchung zu führen, wäre ein Widersinn, der jedem vernünftigen Beginnen widerspräche. Die Unvereinbarkeit des Bösen in der Welt mit der Vorstellung von dem guten Gotte, der uns so viele Wohlthaten spendet, hat manche Völker dazu verleitet, einen bösen Gott neben dem guten anzunehmen, wie in der Religion der alten Perser neben Ormuzd, dem Gotte des Lichtes, Ahriman, der Gott der Finsterniss, steht, dessen Gegenbild bei uns der Teufel ist. Der böse Gott streitet gegen den guten bis an’s Ende der Welt, wo der Gott des Lichtes den Sieg davon trägt. Ebenfalls ist dieser Widerspruch bei den alten Griechen die Grundlage geworden zu der finsteren Idee des Schicksals, der unbekannten Macht, die drückend über der Welt lagert und der sich selbst die Götter nicht zu entziehen vermögen. ,Si qua fata sinant‘‘ (Vergil), das war die Vorbe- dingung, wenn Jupiter etwas gewähren sollte, und was Schlimmes kam, das kam durch das Geschick. Bei dieser Auffassung konnte sich weder der menschliche Verstand, noch das Herz beruhigen, unser Verstand nicht, weil man, je mehr man im Laufe der Zeit von der Gesetzmässigkeit der kosmischen Entwickelung kennen lernte, desto weniger gewillt sein konnte, ein blindes Walten d h. also den Zufall als Lenker der Welt gelten zu lassen; unser Herz nicht, weil diese Schicksalsidee in ihrer letzten Consequenz dazu führen musste, verzweiflungsvoll die Hände in den Schoss zu legen und kommen zu lassen, was kommen sollte, also dem Menschen den Trost und die Stütze nahm, die in dem eigenen Ringen nach Verbesserung — gleichviel ob mit, oder ohne Erfolg — liegt. Indem wir sehen, wie alles in der Natur nach harmonischen Zielen hinarbeitet, und wie jene Unpässlich- keiten in dem Räderwerk der Natur, von denen wir (oben S, 178) sprachen, stets zu befriedigendem Ausgleich gelangen, ohne dem Gange der Maschine Schaden zu thun, so gibt uns dies schon von vornherein die Hoffnung, dass auch hier ein Ausgleich statt- finden werde und ein befriedigender Abschluss der Entwickelung, und es entspringt uns daraus das Recht, nach diesem Ausgleich zu forschen. Aber wo zu forschen? die Aussenwelt zeigt ihn uns nicht. Wir müssen in uns selbst einkehren. Und hier kommen wir auf das Gebiet, wo die Berechtigung des Glaubens gegen das 182 oe Wissen beginnt, wo man glauben darf auf gute Gründe, ohne zu wissen — freilich niemals wider besseres Wissen. Der mensch- liche Geist hat, wie gewisse Grundsätze des Denkens und Wissens, die als sogenannte Axiome eines weiteren Beweises weder fähig sind noch bedürfen, so auch gewisse Grundsätze des Fühlens und Begehrens, die ‚im Herzen sich laut ankünden“ und ebenso berechtigt sind wie jene, obwohl wir über sie noch weniger Ausweis zu geben vermögen. Der Prüfstein und einzige Beweis für solche Axiome (wie: Gleiches zu Gleichem addirt, gibt Gleiches) ist, dass nur durch sie die Thatsachen sich genügend erklären lassen. ,‚‚Alles Wissen, sagt J. B. Meyer, ruht auf einem Glauben, der selbst nicht aus einem Anderen bewiesen, sondern nur aufgewiesen werden kann.“ Und entsprechend Virchow: „Es gibt in der That auch in der Wissenschaft ein gewisses Gebiet des Glaubens, auf dem der Einzelne nicht mehr die Beweise von der Wahrheit des Ueberlieferten aufnimmt, sondern sich eben im Wege der blossen Tradition unterrichtet —- das- selbe, was wir in’ der Kirche haben.“ Nun stützt sich unser Wissen von der Aussenwelt auf die Aussagen unserer Sinne. Die Aussagen unseres Geistes aber über sein Denken und Wollen, also über sich selbst, sind nicht minder berechtigt, als die Aus- sagen unserer Sinne über die Aussenwelt, auf welche die Natur- wissenschaft ihre Behauptungen gründet. Denn diese sind nicht minder subjectiv, d. h. sie bedingen in gleicher Weise wie jene den aussagenden Geist. Dass der Mensch denkt und fühlt, ist ebenso Naturgesetz, wie dass er isst und trinkt. Er muss bei allem Irrthum der Wahrheit endlich soweit nahe kommen, als es sein beschränktes Vermögen gestattet — sogewiss wie er endlich die richtige Speise finden muss, die seinem Magen allein zuträglich ist. Hier sind wir an dem Quell, aus dem die Religion sprudelt. Sie ist erst einfach wie unser Denken und Fühlen überhaupt; ihre Aufgaben wachsen mit der wachsenden Erkenntniss, bis sie es im obersten Stadium übernimmt, über alle Fragen des Lebens, die von der Aussenwelt nicht beantwortet werden können, uns Antwort zu ertheilen. Die höchste Vollendung hat sie im Christen- thume erreicht. Hatte Sokrates die Griechische Philosophie, die sich bis dahin mit der Erforschung des Ursprunges der Welt und der Berechnung der Bahnen der Himmelskörper beschäftigt hatte, herabgezogen vom Himmel, wie Cicero sagt, und sie ein- geführt in die Städte der Menschen, und sie gelehrt zu forschen, Eu Dann; 183 wie man das Leben am besten einrichte, so trat das Christen- thum von vornherein in diese praktische Aufgabe ein, das Leben der Menschen, namentlich das innere zu regeln, der zerfahrenen, missvergnügten und in ihren Erwartungen getäuschten Menschheit die Grundsätze zu zeigen, an denen sie sich wieder aufrichten, mit denen sie zu wahrer Zufriedenheit gelangen könne. Es hat diese Aufgabe, von allem Ueberirdischen abgesehen, in einer Weise gelöst, die einer Verbesserung nicht fähig ist. Auf all die Fragen, die unsern Sinn verwirren und unser Gemüth ängstigen, gibt es uns die einzig vernünftige Antwort — und darum muss es auch dem, der nichts weiter darin erkennen will, einer historischen That, einem so gewaltigen Fortschritt des Menschen zum Menschenthum gleichkommen, dass wir in seinem Ursprung göttliche Veranstaltung erkennen und seinen Begründer einen Abgesandten Gottes nennen mögen. Was sagt uns nun das Christenthum auf die Frage, wig das Böse in die Welt gekommen ist? Durch die Sünde, weil der Mensch über sein Ziel hinausgegangen ist, sein wollte wie Gott, und hinter seinem Ziel zurückgeblieben ist, ein Ebenbild Gottes zu werden. Wir wollen hier nicht den ganzen Apparat der Erbsünde hervorkramen und fragen nach dem Inhalt dieser Lösung der schwierigen Frage. Enthält sie nicht die offen- kundige Wahrheit, dass der Mensch das meiste Unglück, das ihn trifft, selbst verschuldet, indem er die Gesetze der Sittlich- keit, die ihm eingepflanzt sind, freiwillig übertritt und sich den Lüsten des Fleisches hingibt, die ihn verzehren? Das - Geschlecht ist verderbt von Hause aus, das ist die Behauptung, zu der die oberflächlichste Beobachtung führen musste; man konnte nicht annehmen, dass dies von Anfang an so gewesen sei, und so gewannen die Träumereien von der verschollenen goldenen Zeit, in welcher der harmlose Urmensch mühelos sein Dasein verbrachte, bei allen Völkern der Erde mehr oder minder feste Gestalt. Das erste Geschlecht musste körperlich und geistig besser gestellt gewesen sein; so tönt in den Traditionen der Völker die Sage von den Riesen wieder, die am Anfang der Dinge gelebt, deren Gegenbild die langlebigen Erzväter der Bibel sind (Anfänge des Menschengeschlechtes I. S. 214). Aber wodurch ist das Geschlecht verderbt von Hause aus? Das ist eben die Vermengung des Fleisches mit dem Geiste, die tausend Fäden, die den Menschen, der strebt ein vollkom- mener Geist zu sein, was ihm einmal nicht beschieden ist, an 184 die Erde ziehen, von der er genommen ist, der er trotz guten Willens nicht entrinnen kann. Der freie Wille, darüber gebe man sich keiner Täuschung hin, ist, obwohl im Menschen am höchsten entwickelt, gleichwohl nicht unbeschränkt, wie alle seine seelischen Eigenschaften. Wir verwahren uns gegen den Standpunct des Materialismus, dem auch unser Wollen, wie unser Denken nichts anderes ist als Stoffveränderung in den kleinsten Theilen — worauf wir dieselbe Antwort hätten, die wir bereits auf die materialistische Auffassung des Denkprocesses gegeben haben (oben S. 144). Aber das müssen wir dem Materialismus einräumen, dass die Seele einmal an den Körper gebunden ist, ihn regiert, aber auch von ihm regiert wird; wäre sie ein Wesen für sich, ein selbstständiger Theil im Ganzen, dann hätten wir absolut freien Willen — sowie es dann auch ein absolut freies Denken gäbe, während wir jetzt an die Grenzen des Raumes und der Zeit gebunden und auch sonst beengt sind nach allen Seiten — die Seele würde bedingungslos befehlen über den Körper, der ihr gehorchen müsste, wie das Werkzeug demjenigen, der es handhabt, und dem kategorischen Imperativ würde stets die That folgen. Alsdann wäre aber auch der Mensch erst recht nicht frei: denn es müsste jeder gut sein nach dem Naturgesetze, und dann wäre es kein Ver- dienst mehr gut zu sein, es gäbe überhaupt kein Verdienst, keinen Kampf und keinen Sieg — und damit keine psychische Entwickelung. Im Irrthum liegt die Macht der Wahrheit und der Reiz nach ihr zu forschen. Auf diesem Standpunct geben wir uns die Antwort auf die Frage, warum der Mensch, das Endziel der irdischen Entwickelung, selbst einbegriffen ist in dieses Gesetz der Entwickelung, warum die Menschheit sich aus kargen Anfängen langsam emporarbeiten musste und nicht viel- mehr gleich als vollkommenes Geschöpf in die Welt gesetzt ward. Dieses verlangen hiesse den Menschen der Körperwelt entrücken, was einmal in dieser Welt nicht möglich ist. So muss und wird es stets eine Sünde geben, so gewiss wie das Meer nie ohne Stürme sein wird. Beides sind Störungen des regelmässigen Zustandes, die, wenn sie auch mit einer ge- wissen Regelmässigkeit wiederkehren, doch niemals zur Regel werden. Die Lockmittel zum Verbrechen wiederholen sich in dem vielgeplagten Erdenleben mit derselben Regelmässigkeit, wie die Stürme des Meeres sich zu gewissen Zeiten einstellen ; der Mensch fällt, weil das Fleisch stärker wird als der Geist. \ PT ORG dp A TREU r 185 Aber aus der stets wiederkehrenden Regelmässigkeit der Ver- brecherstatistik den freien Willen überhaupt zu leugnen, ist so wenig angänglich, als aus der ebenfalls kei gleichen Verhält- nissen sich stets gleichbleibenden Zahl der Seeunfälle schliessen zu wollen, dass sie sich alle hätten ereignen müssen und nicht manche. durch grössere Vorsicht hätten verhütet werden können, So wird die Sünde jedesmal zu einer erneuten Auf- forderung an den Menschen, sich von ihr loszuringen, wie der drohende Sturm den Schiffer mahnt, sich nicht auf das Meer zu begeben, oder, wenn er darauf ist, bei Zeiten die nöthigen Vorkehrungen zu treffen. Es findet ein Unterschied statt unter den Menschen: der eine wird mit stärkeren Anlagen zum Bösen geboren, als der andere, und hier zeigt sich gerade die Abhängigkeit unseres psychischen Lebens von den physischen Gesetzen. Aber kein Mensch wird geboren, der nur auf das Verbrechen constituirt wäre, dem nicht vielmehr von Hause aus das Bewusstsein mit auf den Weg gegeben wäre, dass er sich mit gewissen Handlungen® gegen sich selbst und gegen seine Mitmenschen versündigt, mit einem Worte: kein Mensch wird ohne Gewissen geboren — und das ist der stärkste Zeuge für die dem Menschen wenn auch nicht unbeschränkt, so doch bis zu einem gewissen Grade, wir können der übrigen Natur gegenüber sagen: bis zu einem hohen Grade zukommende Willensfreiheit, die im Verein mit dem Denkvermögen dem Menschen eine schlechthin einzige Stellung in der Natur anweist. Und nun noch Eines zum freien Willen: die dem Menschen eingewurzelte Ueberzeugung von der Freiheit seiner Entschliess- ungen, welcher der Dichter in den begeisterten Worten Aus- , druck verleiht: „Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, Und wär’ er in Ketten geboren,‘ darf-mit der dem Menschen ebenfalls eingepflanzten und durch die Betrachtung der Natur aufgedrungenen Gottesidee nicht in Widerspruch stehen. Wir dürfen die Gottheit darum nicht für weniger allmächtig halten, weil sie in der Bethätigung ihrer Kraft sich selbst an Gesetze gebunden, und darum nicht für weniger allwissend, weil sie den Ausgang unserer Ent- schliessungen, obwohl dieselben frei sein sollen, voraus wissen soll — wovon die Kehrseite die bekannte Prädestinationslehre ist, die eben daraus, dass Gott alles vorher wissen soll, den Schluss 186 zieht, dass auch alles vorher bestimmt sei. Gestehen wir uns nur: wir stehen hier vor dem schwierigsten Problem, das der menschlichen Denkkraft gestellt werden kann. Der Zwiespalt, vor den wir gestellt sind, hat die einen dazu geführt, die Möglichkeit der Gottesidee auch von hier aus zu leugnen; andere, denen der Beweis für die Gottheit und ihre Eigen- schaften fester gegründet schien, leugneten die Willensfreiheit : „die Gnade Gottes leidet bei sich nicht ein Fünklein von freiem Willen,‘“ sagt Luther. Hätten wir nicht anderswoher die triftigsten Beweise für die Gotteside, an diesem Zwiespalt müsste sie zerschellen — sofern eben der Mensch bei seiner beschränkten Erkenntniss sich nicht bescheiden wollte, dieses Unbegreifliche, wie anderes, unbegriffen zu lassen. Hier ist der Grund und Ausgangspundt für die Arbeit der Theologie: die Unzulänglichkeit des menschlichen Denkvermögens ist die Mutter unserer Offenbarungsreligion. „Unsere speculirende Vernunft, gast J. B. Meyer, hat keinen andern Zugang zu dem Göttlichen, als den, welchen ihr der Blick in das eigene Innere und die bekannte Welt dar- bietet. Mit dem, was sie auf diesem Gebiete als gewiss er- kennt, muss sie ihre Vorstellungen von der unsichtbaren Welt in Einklang zu bringen suchen. Führt ihre Speculation sie zu Vorstellungen vom unbegriffenen Unendlichen, welche dem widersprechen, was die sichtbare Welt sie annehmen heisst, so hat sie die hier gewonnene Gewissheit nicht um jener Speculation willen aufzugeben, sondern die Speculation fortzusetzen, bis ihr Ergebniss mit dieser Gewissheit verträglich erscheint, oder, falls dies das Vermögen der menschlichen Vernunft übersteigen sollte, das offene Bekenntniss dieses Unvermögens abzulegen. Steht nun die Willensfreiheit, wie nachgewiesen, als Thatsache unseres Bewusstseins unmittelbar und als thatsächliche Forderung unseres Gewissens mittelbar für uns fest, so können keinerlei Specu- lationen über das göttliche Wesen mit Recht diese Gewissheit erschüttern. Nicht die Annahme der Willensfreiheit hat zu weichen, sondern die mit ihr unverträglichen Gottesbegriffe. Unsere Vernunft hat dann die Aufgabe, zu versuchen, Gott und sein Verhältniss zu uns so zu denken, dass die Annahme der Willensfreiheit damit vereinbar bleibt. Und gelingt ihr dies nicht, so hat sie ihre Speculationen über Gott noch nicht für reif und abgeschlossen zu halten. Nach diesem Gesichts- puncte bildet sogar die Vereinbarung mit der Annahme der 187 menschlichen Willensfreiheit ein Kriterium für die Beurtheilung der streitenden Gottesbegriffe.‘‘ Was dann — über das eigene Verschulden des Menschen hinaus — noch bleibt vom Bösen, wie Krankheit, Elend, Un- glück aller Art, auch dafür hat die Religion wenigstens einen Trost. Wir dürfen nicht verharren in der sinnlichen Anschauung, wonach der zürnende Gott Vater hier überall die Zuchtruthe schwingt, da uns dies nicht erklärt, warum der Zorn nicht überall unter gleichen Umständen zum Vorschein kommt, und die Zuekerbrödchen oft gerade da vertheilt werden, wo wir es auch bei aufrichtiger Prüfung am wenigsten erwarten mussten, Hier müssen wir uns zunächst darüber klar werden, dass der Gott, der überall wunderthätig eingriffe und das Böse überall sofort strafte, das Gute belohnte, damit ja —- wie eben der Gott, der dem Menschen den absolut freien, von der Materie unabhängigen Geist gegeben hätte, S. 184 — unsere Willensfreiheit zerstören würde, indem er uns zwänge, ihn anzuerkennen und seine Ge- setze, und damit unser Verdienst und den mächtigsten Hebel für unsere Vervollkommnung beseitigte, die aus freier Wahl hervorgehen soll. Wir dürfen uns. aber auch nicht dem Ge- danken hingeben, dass, während die Welt sonst nicht ein plan- loses Chaos ist, hier Planlosigkeit und der Zufall walte. Die Wissenschaft freilich lässt uns hier rathlos und überliefert uns der stummen Verzweiflung des Pessimismus, der sich allen Ernstes mit der Frage quält, ob das Leben wirklich sich der Mühe des Lebens verlohne, und ob es nicht besser wäre, wenn die Welt, dieses traurige Machwerk, überhaupt nicht existirte ; die Religion aber beweist sich auch hier als die Mutter, die tröstet, wo sie nicht helfen kann: sie weist uns darauf hin, dass derselbe Gott, der alles zum Guten geordnet habe, auch das Leid, das uns getroffen, zum guten Ziele wenden werde; sie zeigt uns die innere Läuterung und Kräftigung, die dem Menschen aus dem Kampfe gegen die Widerwärtigkeiten dieses Lebens entspringen soll, und entspringen muss, wenn er inder gehörigen Weise dazu mitwirkt; sie lässt uns den Ausgleich ahnen, der, wenn nicht in dieser, so in einer andern Welt erfolgen wird. Sind dies Illusionen, so sind sie nicht abgeschmackt — schon der Wirkung wegen, die sie hervorbringen, und nicht unberechtigt, da sie auf dem Grunde der ewigen Weltordnung in der Natur ruhen, die durch keinerlei Unregelmässigkeiten und Unpässlichkeiten aus den Fugen gehen kann. Es ist dafür gesorgt, dass die Bäume 188 nicht in den Himmel wachsen, und die Woge, die ihr Wasser gen Himmel spritzt, muss es gleichwohl dem Ocean zurück- geben. Ohne diesen Vorsehungsglauben wäre allerdings das Leben unerträglich und die ganze Welt ein grosser Unsinn. Wäre es, wie Strauss sagt: „man sieht sich in die ungeheure Weltmaschine mit ihren eisernen gezähnten Rädern, die sich sausend umschwingen, ihren schweren Hämmern und Stampfen, die betäubend niederfallen, in dieses ganz furchtbare Getriebe sieht sich der Mensch wehr- und hilflos hineingestellt, keinen Augenblick sicher, bei einer unvorsichtigen Bewegung von einem Rade gefasst und zerrissen, von einem Hammer zermalmt zu werden‘; wäre es so, so wäre dieses „Gefühl des Preisgegeben- seins‘‘ wirklich ein „‚‚entsetzliches“‘, und man begriffe nicht, wie es noch ein Mensch in der Nachbarschaft dieser Maschine aushalten möchte, man begriffe aber auch nicht, wie die Maschine mit ihren „Hämmern und Stampfen“ sich nicht längst selbst zerstampft haben sollte, Und diese tröstende Mutter thut noch mehr: sie faltet dem Kinde die Hände zum Gebet, Beten? Zu einem Gott, der uns nicht erhört? Nein, so können wir nicht mehr - beten, dass wir als Lohn für unsere Anstrengung die sofortige Er- hörung verlangen, dass wir damit leichten Kaufs einen willkürlichen Eingriff in die ewige Ordnung der Dinge erzwängen. Wäre dies möglich, welche Thorheiten würden dann der Gottheit zu- gemuthet! Und welcher complieirte Widersinn käme zu Tage, wenn, was der eine zu seinem Heile erflehte, dasselbe so vielen anderen Verderben brächte! Hier wünscht der Landmann Regen für seine Saat, der Nachbar hätte für die seinige lieber Sonnenschein: kann die Gottheit beides zugleich gewähren? Aber bleibt denn nicht, da wir wirklich der Stütze im Unglück bedürfen und vertrauensvoll zum Lenker der Weltgeschicke aufblicken, bleibt da nicht die innere Wirkung einer inneren Leistung, wie das Gebet ja ist? Erhebt es uns nicht, macht es uns nicht das Herz leichter, wenn wir immer wieder in den Nöthen des Daseins den Namen des Unerforschlichen anrufen, der über den Geschicken der Welt waltet? ,‚,Die Denkenden bescheiden sich, im Gebete sich subjective Förderung, Fassung und Aufrichtung des Gemüthes zu erringen,“ sagt Strauss; ist das nicht des Lohnes genug? Daneben vergessen wir nicht, nach dem alten Spruche: ora et labora, mitzuwirken, zu thun, was in unseren Kräften steht, um das Unglück abzuwehren. ee N, RE WERE 189 Ein Thor, der das vergessen wollte! Auf Gott vertrauen und das Pulver trocken halten, sagte Cromwell zu seinen Soldaten. Die beiden Mütter Steinthal’s (Zur Religionsphilosophie), von denen die eine am Bette ihres kranken Kindes betet und von Gott Hilfe erwartet, selbst aber nichts thut gegen die Krankheit, die andere die Mittel bereitet gegen die Krankheit ohne zu * beten, stellen in ihrer Vereinigung das Ideal einer guten Mutter dar. Man sage also nicht: ein Gott, der nicht hilft in der Noth, ist ein entbehrlicher Gott, und wenn wir sagen: hilf dir selbst, dann hilft dir Gott, so meinen wir damit: tbue das Deinige, so kannst du, was kommt, getrost erwarten -— nicht aber: hilf dir selbst, denn Gott hilft dir nicht. Wer noch aus dem Grunde seines Herzens beten d. h. sich an Gott ver- trauensvoll wenden kann, dem ist schon geholfen. Zu Strauss Universum zu beten freilich, oder auch nur Vertrauen zu ihm zu haben, wäre eine starke Zumuthung für einen denkenden Menschen. Der Mensch muss sich in Verkehr setzen mit dem Wesen, das er Gott nennt, und der Ausdruck dieses Verkehres, sei er nun in Worten verkörpert oder nur innerlich gefühlt, ist das Gebet, dessen Nothwendigkeit also für den, der noch ein Gottes- bewusstsein hat, auf der Hand liest. Dieser Verkehr kann zunächst nur in einem völligen Sichhingeben an den grossen Gedanken der Gottheit, in der Bewunderung der göttlichen Ällmacht und Allweisheit bestehen — woraus alsdann von selbst die Zuversicht entspringt, dass uns diese Gottheit, wie unerforschlich auch ihre Rathschlüsse sind, niemals übersieht, dass sie, wo sie schlägt, auch wieder heilen wird. Der Mensch muss von vornherein wissen, dass ihm nicht alle Wünsche erhört werden können; aber das darf ihn nicht in seinem Vertrauen auf die ewige Weltordnung und den darauf gegründeten Glauben wankend machen, dass alles, was ihm kommt, zu seinem Besten kommt. Verliert er diesen Vorsehungsglauben, dann ist aller- dings das Leben des Lebens nicht werth, ein kurzer Rausch von Täuschungen und Enttäuschungen, der mit dem Tode zwecklos verhallt. 190 XXVI. Die Unsterblichkeit der Seele. Der Weltzweck. Und nun noch der letzte, schwierigste Punct, auf den be- reits mehrfach hingedeutet worden ist. Das Christenthum ver- heisst uns, in dieser Beziehung übereinstimmend mit den meisten andern Bekenntnissen, für unser standhaftes Ausharren im Kampfe gegen die Unbilden dieses Lebens und unser mannhaftes Ankämpfen gegen die sinnlichen Triebe die Belohnung in einem jenseitigen Leben, und stellt dem, der in diesem Kampfe unter- liegt, zeitliche oder ewige Strafen in Aussicht. Die Unsterb- lichkeit der Seele, der Himmel, die Hölle — gewiss die wirk- samsten Mittel, den Menschen, der „um sich greift‘‘ wie der Dichter sagt, im Zaume zu halten, den Sünder auf den Weg der Tugend zurückzuführen, den Gerechten zu bestärken in seinem Thun. Und so hat, wo irgend eine Religion sich auf- baut, sie gleich über den Gottesglauben, das Fundament einer jeden positiven Relgion, als zweite Lage den Glauben an die Unsterblichkeit. der Seele gelegt, so dass, wenn es uns ge- stattet wäre, den Consensus gentium für einen genügenden Beweis zu halten, dieser für vollkommen erbracht angesehen werden könnte. Mustert man nun die Beweise, welche zu allen Zeiten von den bedeutendsten Geistern, von dem alten Plato bis zu unserm Kant, für die Unsterblichkeit der Seele versucht worden sind, so gelangt man zu der wenig tröstlichen Ueberzeugung, die wir hier nur gleich offen bekennen müssen, dass sie zwar von der angelegentlichen Sorge, die sich das menschliche Gemüth zu allen Zeiten um diese Frage gemacht hat, Zeugniss geben, dass aber keiner für den rücksichtslos prüfenden menschlichen Verstand ausreicht: die Unsterblichkeit der Seele lässt sich eben nicht beweisen, denn es fehlen dazu bei der Natur des Gegenstandes in letzter Instanz immer wieder die thatsächlichen Unterlagen; wir können nur bis zu einer Ueberzeugung gelangen. Es soll freilich nicht unsere Aufgabe sein, die Be- weise für die Unsterblichkeit der Seele zu prüfen oder gar neue hinzuzuthun; wir wollen unserm Plane gemäss nur zusehen, was man mit, oder nach, oder trotz der Descendenzlehre über diesen Gegenstand sagen kann. Die Descendenzlehre — in der Fassung, wie sie von 191 Darwin und noch mehr von seinen Jüngern vorgetragen wird — hat, wie überhaupt allen Abmachungen unserer positiven Religion, so auch der Unsterblichkeitslehre den Todesstoss versetzt. In- dem sie den Menschen einreiht als ein zwar nicht zufälliges, aber doch beliebiges Glied in die organische Entwickelungsreihe, welches das letzte zur Zeit ist, aber nicht für immer zu sein braucht, kann sie für dieses Glied, obwohl es zur Zeit das höchstorganisirte ist, eine Sonderstellung nicht einräumen: dem Menschen die persönliche Unsterblichkeit zugestehen, hiesse für sie zunächst auch den Thieren dieselben Rechte einräumen, und weiterhin allen Geschöpfen von dem Puncte an, wo das erste Leben auftritt. Ja, da auch die anorganische Natur beseelt sein soll — was in gewissem Sinne ja auch zugegeben werden kann — so müsste schliesslich jedes zu einem Individuum ge- staltete Geschöpf, das in seiner Sphäre ein Leben durchmacht, jeder Stein, jeder Ziegel auf dem Dache, der Staub am Wege, unsterblich sein. Freilich räumt der Materialismus, mit dem sich der Dar- winismus - verschmolzen hat, der Materie Unsterblichkeit ein, aber nicht die individuelle, persönliche Unsterblichkeit : der Stoff und die Kraft sind ewig, sterben heisst sich in die Atome auf- lösen, die dann eine neue Zusammensetzung, also ein neues Leben eingehen. Stürzen die Planeten dereinst in die Sonne zurück, so soll der Kreislauf von neuem beginnen, aus derselben Masse ein neues Planetensystem, folgerichtig also auch auf den einzelnen Planeten ein aeues, Leben mit denselben Entwickelungszielen entstehen. Dieses grossartige Tableau widerspricht aber den Erfahrungen, die wir thatsächlich im Kleinen machen, durchaus: weder hat die Entwickelung,. im Ganzen an verschiedenen Stellen der Erde und zu verschiedenen Zeiten zur Bildung derselben oder auch nur ähnlicher Arten geführt, noch auch hat sich im Einzelnen jemals eine Art, die einmal abgestorben war, später erneuert, obwohl der Stoff und seine Gesetze dieselben geblieben sind. Die Entwickelung im Ganzen hat, wie wir dargelegt haben, ihr Ziel, zu dem sie consequent hingearbeitet, den Menschen ; und im Einzelnen hat jede Art ihre besondere Ent- wickelung an einem bestimmten Puncte und zu einer bestimmten Zeit erreicht, um dann einem langsamen Absterben entgegen zu gehen. Kein menschliches oder auch nur menschenähnliches Geschöpf wird noch irgend einmal an irgend welchem Puncte der Erde entstehen, ja nicht einmal irgend eines der Vorder- glieder in der Entwickelung, deren‘ Schlussglied der Mensch ist: das war der Kernpunct der Differenz, die wir mit der landläufigen Auffassung der Descendenzlehre hatten. Es ist umsonst, dass man sich darauf beruft, dass die Gelegenheit dazu fehle, die eben in dem complicirten Zusammentreffen so vieler besonderen Umstände bestehe: die Gelegenheit ist täglich und stündlich gegeben in der Natur, man brauchte nur hinein zu greifen, wie der Dichter sagt, in ihr volles Leben. So wird es nach unsern Erfahrungen fraglich, ob derselbe Stoff noch einmal dasselbe oder auch nur ein gleiches Sonnensystem erzeugen wird, und es steht eher zu vermuthen, dass dieser Stoff seinen Dienst gethan und ohne neuen Zusatz nicht mehr zeugen wird, oder, wenn er dies thut, es jedenfalls in einer andern Weise thut, als es das erste Mal geschehen ist, d. h. ‘dass die zweite Entwickelung ein anderes Ziel hat, als die erste. Und dieses andere Ziel muss nach unseren irdischen Er- fahrungen zu schliessen ein höheres sein, Denn solange die Natur weitergebildet hat — in der Periode der Urzeugung, wie wir sagten — hat sie mit Benutzung der erreichten Stufe aus dieser die höhere, zuletzt den Menschen entwickelt. Der Weiter- bildung folgte die Umbildung, Zertheilung und Vervielfältigung d. h. der allmähliche Zerfall der Formen. Die Gesetze, die sich im Kleinen bei unserer Erde wirksam zeigen, müssen auch für den ganzen Kosmos gelten: soll unser Sonnensystem zerfallen, und, wie die Arten auf unserer Erde, ohne Ersatz aussterben, dann wäre eine Wiederbelebung nicht denkbar; es müsste aller Analogie zufolge ein Sonnensystem nach dem andern aussterben, und anders geartete, um den Ausdruck zu gebrauchen: höher organisirte an ihre Stelle treten. Nun können wir freilich über die letzten Ziele des Kosmos keine Vorstellung, wenigstens keine auf thatsächliche Erfahrung gegründete Vorstellung haben: wir können nicht wissen, wie weit das Gesetz der Entwickelung über unsern Planeten hinausreicht, und ob es jemals durch einen Zustand der Ruhe und des Beharrens, nach erreichter Vollkommenheit, abgelöst wird; für unsere Beobachtung gibt es nur Entwickelung, und Entwickelung ist Leben, Erstarrung Tod. „Schliesslich muss doch einmal, sagt Strauss, wo er von dem Weltzweck redet, eine Zeit kommen, wo die Erde nicht mehr bewohnt sein, ja wo sie als Planet gar nicht mehr bestehen wird. Dann wird nothwendig alles, was dieselbe im Laufe ihrer Entwickelung aus sich erzeugt und gleichsam vor 193 sich gebracht hat, alle lebenden und vernünftigen Wesen und alle Arbeiten und Leistungen dieser Wesen, alle Staatenbild- ungen, alle Werke der Kunst und Wissenschaft, nicht bloss aus der Wirklichkeit spurlos verschwunden sein, sondern auch kein Andenken in irgend einem Geiste zurückgelassen haben, da mit ‚der Erde natürlich auch ihre Geschichte zu Grunde gehen muss. Entweder hat nun die Erde hiermit ihren Zweck verfehlt, es ist bei ihrem so langen Bestande nichts heraus- gekommen; oder jenerZweck lag nicht in etwas, das fortdauern sollte, sondern er ist in jedem Augenblicke ihrer Entwickelungs- geschichte erreicht worden. . .. . Müssen wir so schon bei jedem Theilganzen im Universum, dergleichen das Leben unserer Erde . ist, daran festhalten, dass es seinen Zweck zwar in immer höheren Manifestationen, doch an sich in jedem Augenblicke erreicht: so gilt von dem Universum als dem unendlichen Ganzen ausschliesslich das Letztere. Das All ist in keinem folgenden Augenblicke vollkommener, als im vorhergehenden, es gibt in ihm überhaupt einen solchen Unterschied zwischen früher und später nicht, weil in ihm alle Stufen und Stadien der Ein- und Auswickelung, des Auf- und Absteigens, Werdens und Vergehens neben einander bestehen und sich. gegenseitig in’s Unendliche ergänzen“. Wir sehen zunächst davon ab, dass wir über einen Weltzweck, über die letzten Ziele der. kosmischen Entwickelung ja eigentlich gar nichts zu sagen wissen, und dass das, was Strauss hier andern nachspricht, ja nur auf die Erfahrungen, oder sagen wir besser, auf dem Schein des Augen- blicks gegründet ist, der täuschen kann, wie der scheinbare Umlauf der Sonne, von der wir doch jetzt wissen, dass sie der Erde gegenüber die stillstehende ist. Aber das können wir fragen: warum dieser Unterschied zwischen dem „Universum“ und dem ‚Theilganzen, dergleichen das Leben unserer Erde ist ?“ warum soll ‚das All in keinem folgenden Augenblicke vollkömmener sein, als im vorhergehenden‘, während für das Theilganze der Erfahrung entsprechend, Entwickelung zu „immer höheren Manifestationen“ zugestanden wird? Wird es da nicht viel wahrscheinlicher, dass diese Entwickelung zu „immer höhern Manifestationen‘‘ für den ganzen Kosmos gilt, sich im ganzen Kosmos fortsetzt? So musste derjenige, der die Ent- wickelungslehre zur Grundlage seiner ganzen Lehrmeinung ge- macht hat, und der es Moriz Wagner nachspricht, dass ‚‚das wichtigste Resultat, welches uns die Geologie offenbare, das in Kuhl, Descendenzlehre, 13 194 der Natur waltende Gesetz des Fortschritts sei‘, denken, wenn er sich consequent bleiben wollte! Wer gesagt hat: „Die Welt ist auf die höchste Vernunft angelegt‘ — die also erst heraus- kommen soll bei der Entwickelung und nach seiner Meinung auch herausgekommen ist und noch immer herauskommt —, der kann nicht in einem Athemzuge zugleich sagen: „Das All ist in keinem folgenden Augenblick vollkommener, als im vor- hergehenden.“ Da muss man sich allerdings fragen: wozu denn noch Entwickelung ? warum nicht ewiger Stillstand? wozu die „immer höheren Manifestationen“, wenn doch ‚der Zweck an sich in jedem Augenbliek erreicht‘‘ sein soll? Ist der Zweck erreicht, dann hört das Streben auf, es folgt Stillstand in der Bewegung — bis ein neuer Zweck eine neue Thätigkeit hervor- ruft. So zeigt es uns die Erfahrung. Nun dienen die Einzelzwecke unserer Handlungen alle einem gemeinsamen Hauptzwecke, nämlich die vorgestellte. Voll- kommenheit, das vorgestellte Glück zu erreichen. Nicht anders kann es im Universum sein, wenn dieses wirklich ‚auf die höchste Vernunft angelegt“ ist. Wir können uns wohl vor- stellen, dass eine Einzelexistenz, wie unsere Erde oder der Mensch auf derselben, sein Ziel erreicht und abtritt von der Bühne; aber wir können nicht annehmen, dass der ganze Kos- mos als solcher bei diesem ewigen Wechsel nichts gewinnen, nicht weiter kommen, vielmehr immer wieder von vorne anfangen und immer wieder mit demselben Ziele enden sollte. Mit andern Worten: es muss einen Weltzweck geben, dafür bürgt uns die Ordnung und Gesetzmässigkeit der Entwickelung, die, wie überall im Einzelnen, so auch im Kosmos überhaupt, einen Zweck voraussetzt. „Es ist nur die Einbildung philosophisch ungeschulter Köpfe, sagt Teichmüller (über die Unsterblich- keit der Seele), Gesetze und Ordnungen sich vorzustellen ohne einen Zweck; eine zwecklose Ordnung oder ein zweckloses Ge- setz ist dasselbe wie hölzernes Eisen oder blühendes Stroh“. Und dieser Weltzweck ist mit den- bestehenden Zuständen nicht erreicht: dafür bürgt uns eben diese Entwickelung, welche be- ständige Veränderung und Verbesserung ist; sie würde über- flüssig, sobald die vollkommenen Zustände erreicht und das Gleichgewicht hergestellt wäre, wonach die Natur beständig ringt, wie die Politik nach dem Europäischen Gleichgewicht, das in der That niemals vorhanden ist, sondern nur beständig ange- strebt wird. Ob dieses Gleichgewicht je hergestellt werden 195 wird und welcher Art die vollkommenen Zustände sein werden, bei denen die Entwickelung zur Ruhe kommen soll, wer ver- mag dies zu sagen? Aber das vermögen wir zu sagen, dass mit den jetzigen Zuständen, die überall unvollkommen enden und in der Perspektive die Möglichkeit beständiger Vervoll- kommnung zeigen, das letzte Ziel der Entwickelung nicht er- reicht sein kann. Und darum dürfen wir glauben, wo wir nicht sehen, hoffen, wo wir unsern Gegenstand nicht zu erfassen ver- mögen. Hier sind wir auf dem Wege, der allein, wenn nicht zu dem Beweise, so doch zu der Ueberzeugung von der Unsterb- lichkeit führen kann. Und zu dieser Ueberzeugung verhilft uns gerade die Descendenzlehre, das Gesetz der Entwickelung, welches von ihr vertreten wird — wenn wir diesem Gesetze nur die weiteste Ausdehnung über die organische Welt, auf welche sich Darwin beschränkt hat, ja über die Existenz unseres Erdballes hinaus zu geben uns entschliessen. Für Darwin und Häckel hat die irdische Entwickelung keine Ziele; sie wagen, wie wir gesagt haben, das Ende nicht zu denken. Und Strauss baut darauf sein Urtheil, für ihn kann es, wie überhaupt keinen Zweck, so auch keinen Weltzweck geben. Aber so trüb auch unsere Aussicht wird, wir müssen weiter vordringen über die Geschichte unseres irdischen Wohnplatzes hinaus. Und auf der anderen Seite sind wir gezwungen, für unsere Erde selbst in der Entwickelung des Menschen das Ende der aufsteigenden Entwickelung zu erkennen. Damit stellt sich die Sache sofort anders: ist der Mensch das Ziel der irdischen Entwickelung, so hat diese unvollkommen geendet, mit einem Halbwesen,, das mit dem einen Fusse in der irdischen Entwickelung steht, mit dem andern aus dieser hinaustritt in eine höhere Welt, die frei ist von allen Mäkeln uud Beschränkungen der Materie. Blieb der. Mensch blosses Naturwesen, als welches ihn die Darwin- sche Descendenzlehre nimnıt, so war er als solcher vollkommen genug, genügte seinem Zweck und fand sich zufrieden darin — eben wie die Thiere, in denen keine Sehnsucht nach Standes- erhöhung, geschweige denn nach Unsterblichkeit entstehen kann. Aber da er, wie Strauss selbst zugibt, kein „blosses Natur- wesen‘ ist, da mit ihm die Natur „über sich selbst hinausge- schritten‘‘ ist, so muss er nach den besseren Zuständen ver- langen, die ihm in der irdischen Beschränktheit und Mangel- haftigkeit nicht zu Theil werden können. 13 * 196 Damit wird der Einwand hinfällig, dass, wer für den Menschen Unsterblichkeit der Seele fordert, sie auch den Thieren zugestehen müsse. Räumen wir ein — und darin liegt der Angelpunct der ganzen Frage — dass der Mensch das Ziel einer planmässigen Entwickelung und so sehr den Höhepunct und die Vollendung dieser Entwickelung bezeichnet, dass dies uns erlaubt, für ihn eine besondere Stellung zu fordern, so ist sein Vorrecht hinlänglich gesichert. Räumen wir ein, dass die menschliche Psyche zwar vorgebildet in der Thierseele, aber so sehr über diese hinausgebildet ist, dass eine absolut nicht zu überbrückende Kluft zwischen dem Menschen und selbst dem höchstentwickelten Thiere besteht, so wird das Ueber in dem Strauss’schen Satze zu einem „Aus der übrigen Natur hinaus“, und wir sind berechtigt, der menschlichen Seele wie die son- stigen Eigenschaften, wodurch sie sich vom Thiere unterscheidet, so auch die Unsterblichkeit zuzuschreiben — eben wie ja die Frucht und der fortzeugende, das Leben sichernde Samen der Pflanzen nicht im Stengel und den Blättern, sondern in der Blüthe sitzt. Wie viel man auch von der Vervollkommnungs- fähigkeit der Thiere halten mag, das moralische Gewissen, der Tugendbegriff ist ihnen verschlossen, wie das begriffliche Denken überhaupt, und darum vermögen sie auch nicht zu dem letzten Ziele der sittlichen Vervollkommnung, zu dem Postulate der unsterblichen Seele zu gelangen. Sie können keine andere Vor- stellung von dem Leben erlangen, als dass sie sich dasselbe in physischer Beziehung möglichst angenehm gestalten; die Frage, was der Tod ist und was nach dem Tode sein wird, kann sie nicht beschäftigen. Wir Menschen, sagt J. B. Meyer, befinden uns in der eigenen Lage, dass wir klar‘ die Grenzen unserer jetzigen Er- kenntniss sehen, und uns‘dach sagen müssen, dass es einem anders gearteten Denkvermögen möglich sein muss, auch das zu erkennen, was jenseits dieser Grenzen liegt. Die Welt ist voller Räthsel für uns, wir haben das klare Bewusstsein, dass es Räthsel sind, die ewig für unsere Fassungsgabe Räthsel bleiben, und wir haben doch das Verlangen nach einer Ent- räthselung, nach einem Zustande, in dem uns die Kraft dazu gegeben sei. In einer solchen Lage scheint uns keines der uns bekannten Wesen zu sein. Oder können wir glauben, dass der Hund sich sagen wird: Du siehst in allem Geschehen nur Folgen; es muss aber auch eine andere Auffassung geben, nach 197 welcher die blosse Folge der Dinge vielleicht als ein ganz anderes Verhältniss erscheint, so denkt gewiss der Mensch, auch du möchtest wohl einmal Mensch werden! Kein Hund, kein Thier sieht aus, als gingen ihm solche Gedanken durch seine Seele. Der Mensch aber sieht im Sinnlichen mit seinem Blick in das verschlossene Gebiet des Uebersinnlichen hinein. Der Mensch verfolgt Ideale des Wissens und sittlichen Strebens, deren Ziele über die uns bekannte Welt hinausgreifen. Und darin sollte keine Tendenz der Natur nach dem Zustande eines anderen Be- greifens und Handelns liegen, darin sollte kein Fingerzeig der Natur sich offenbaren, dass unser Glaube an die Fortdauer der Seele seine innere Berechtigung und Wahrheit habe? Wir sind dieser Meinung, und sehen in diesem Gedanken zwar keinen unwidersprechlichen Beweis, aber doch die einzig mögliche und einzig nöthige Verstärkung des in unserer Seele selbst gegründeten Glaubens an die Unsterblichkeit.‘ Es ist, wie man gesagt hat, ein Versprechen, das die Natur uns gegeben und das sie aus- lösen wird, wie sie den physischen Bedürfnissen, die sie in uns gepflanzt, gerecht wird, indem sie dem Hungernden die Speise, dem Dürstenden den Trank darreicht, und das sie um so gewisser auslösen wird, als sie diese Erfüllung jedem Hoffenden gewähren kann, während sie nicht jedem Hungrigen zu jeder Zeit den Tisch decken kann. Die Descendenzlehre spricht freilich nur von einer organi- schen, also physischen Entwickelung; aber das ist gerade, wie wir sahen, ein Ausfall, dass sie die psychische Entwickelung so wenig berücksichtigt und wie die Dinge liegen, so wenig be- rücksichtigen kann. Dem Stoffe gegenüber entwickelt sich die Kraft in viel gewaltigeren Dimensionen, bis zuletzt im Menschen die psychische Seele ungleich schwerer in die Wagschale fällt, als die physische. Soll sich diese Entwickelung in demselben Verhältnisse fortsetzen, so kann auf der letzten Stufe das Physische dem Psychischen gegenüber gar nicht mehr in Be- tracht kommen, d. h. es dämmert uns die Aussicht, dass, wenn überhaupt noch je ein höheres Wesen den Menschen ablösen soll, dieses von jeder störenden und beengenden Zuthat des irdischen Stoffes gänzlich befreit sein muss. Dieses Ziel der Entwickelung kann aber nur jenseits dieser irdischen Grenzen liegen, da unser irdisches Dasein einmal an das Zusammensein eben mit diesem Stoffe gebunden ist. Hier schwindet uns nun freilich jede Möglichkeit, ein reales Bild von dieser geistigen 198 Existenz zu entwerfen: der absolute, d. h. von der Materie abgelöste Geist existirt in irdischen Verhältnissen nicht, und eine unsterbliche Seele in ihrem zukünftigen Leben zu denken macht nicht mehr und nicht weniger Schwierigkeit, als den Gottesbegriff zu denken. Vollends für den Naturforscher ist alle weitere Erörterung werthlos, da er ein solches Wesen nicht unter die Loupe und das Secirmesser bringen kann. Zudem würde er sofort die Frage aufwerfen: wo bliebe alsdann die Materie und zu was wäre sie noch nütze? Und wo bleibt die Seele selbst, da sie doch nicht ausser der Welt sein kann? Ist die Seele bloss Function der Materie, wie der Materialismus hehauptet, dann wird sie mit der Materie sich zersetzen ; ist sie aber eine Substanz, dann ist ihre Fortdauer gesichert, und der Naturwissenschaft kann es keine Beschwerde machen dieses einzuräumen, da sie für ihre „‚Atome‘‘ ebenfalls Unvergänglich- keit in Anspruch nimmt. Da aber die Seelenthätigkeit als Function zu erklären noch nicht gelungen ist und auch niemals gelingen wird, so sind wir genöthigt sie für eine Substanz zu halten und ihr die Unvergänglichkeit zuzuschreiben. Zöge man hier die Thierseele herein und wollte für sie auf denselben Grund hin die Fortdauer verlangen, so könnte von einem bewussten Fortbestehen ganz gewiss nicht die Rede sein, da das Thier in diesem Leben es nicht zum Selbstbewusstsein bringt. Für den Zweifler bleiben immerhin noch Fragen genug; unser Denken und Wissen reicht eben nicht aus sie alle zu beantworten, und es muss uns genügen dies einzugestehen. So stehen wim auch hier vor einer der ungelösten Fragen, für die der menschliche Geist sich vergebens bemüht die Lösung zu finden. Und doch muss er darnach suchen. Denn es ist sein Kind, das er gezeust, dem er das Leben erhalten muss; und er musste es zeugen, da er dazu disponirt war von An- beginn. Denn so wie der Mensch anfing über die physischen Bedürfiisse hinaus nach höheren Zielen zu streben, musste sich ihm die Unvollkommenheit der irdischen Verhältnisse aufdrängen, er musste erkennen, wie er in seinem Streben nach eigener Läuterung und Vervollkommnung stets von der Materie behindert ist, wie eben diese Materie die Entfaltung seiner intellectuellen Kräfte beengt, wie sein ganzes Leben eine Summe von un- vollendeten Plänen und getäuschten Erwartungen ist, wie der Tod störend zwischen seine Entwürfe tritt und ihm gemeiniglich die bittere Wahrheit enthüllt, dass er von der Erreichung‘ 199 seiner Ziele kaum weniger weit entfernt ist, als zu der Zeit, wo er als Jüngling mit kühner Zuversicht in das Leben hinaus- fuhr; und dieses alles musste in ihm die Hoffnung erwecken, dass der abgerissene Faden nach dem Tode in einem andern Leben sich fortspinne und dort zu einem befriedigenden Abschluss gelange. Die Hoffnung, das tröstende Gefühl, das den Menschen wie ein Schutzengel durch die Widerwärtigkeiten des Lebens geleitet, sie zeigt, wie der Dichter sagt, über das Grab hinaus: „zu was Besserem sind wir geboren“, Diese Gefühle hat nicht die Religion erfunden, sie springen aus der menschlichen Natur von selbst hervor und sind darum ebenso berechtigt, wie der electrische Funken, der aus der Wolke fährt. Der Unsterblich- keitsglaube ist ein Axiom (oben S 182) für den menschlichen Geist, das nicht bewiesen, sondern nur aufgewiesen werden kann. „Die völlige Angemessenheit des Willens zum moralischen Gesetz, sagt Kant, ist Heiligkeit, eine Vollkommenheit, deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt in keinem Zeitpuncte seines Daseins fähig ist. Da sie indessen gleichwohl als prak- tisch nothwendig gefordert wird, so kann sie nur in einem in’s Unendliche gehenden Progressus zu jener völligen Ange- messenheit angetroffen werden, und es ist nach Prineipien der reinen praktischen Vernunft nothwendig, eine solche praktische Fortschreitung als das reale Object unseres Willens anzunehmen. Dieser unendliche Progressus ist aber nur unter Voraus- setzung einer in’s Unendliche fortdauernden Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens (welche man die Unsterblichkeit der Seele nennt) möglich. Also ist das höchste Gut, praktisch, nur unter der Voraussetzung der Unsterblichkeit der Seele möglich; mithin diese, als unzertrennlich mit dem moralischen Gesetz verbunden, ein Postulat der reinen prak- tischen Vernunft (worunter ich einen theoretischen, als sol- chen aber nicht erweislichen Satz verstehe, sofern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrenn- lich anhängt).‘“ So findet Kant den Begriff der Unsterblichkeit wie den Gottesbegriff (oben S. 168), für welche, um seine eigenen Worte zu brauchen, ‚‚die Speculation nicht hinreichende Gewährleistung ihrer Möglichkeit findet“, und die er darum mit schonungsloser Dialektik zerstört hatte, er findet sie wieder „im moralischen Gebrauch der Vernunft‘‘: das „moralische Gesetz‘ in uns, d. h. die Forderung sittlicher Vollkommenheit, welche in diesem Leben unerledigt bleibt, weist uns hinüber in ein 200 jenseitiges Leben, das die Vollendung bringen soll. Der Beweis ist einseitig, wie man mit Recht bemerkt hat — da die sitt- liche Vervollkommnung allerdings den Haupttheil, aber doch nur einen Theil der Vervollkommnung bildet, zu deren Verwirk- lıchung der Mensch geboren ist; aber in Bezug auf die: eine Seite, die Kant hervorhebt, beruht er auf durchaushaltbarer Grund- lage, und wir spannen ihn von da aus leicht weiter über das ganze Vollkommenheitsideal. Die andere Seite dieses Vollkommenheitsideals liegt einem Ausspruch 6 0 ethe’szu Grunde, den Strauss anführt: „Die Ueber- zeugung unserer Fortdauer, sagte Goethe drei Jahre vor seinem Tode zu Eckermann, entspringt mir aus dem Begriff der Thätig- keit; denn wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzu- weisen, wenn die jetzige meinem Geiste nicht ferner auszuhalten vermag.‘ Und dieser „Begriff der Thätigkeit‘‘ entspringt aus dem Bewusstsein der unvollendeter Arbeit, des unerreichten Zieles, das bis zum letzten Augenblicke des Lebens stets zu neuen Anstrengungen treibt, ohne gleichwohl mit unserem Ab- scheiden Ruhe und Erfüllung zu finden. Hier schliesst sich der uralte, noch jetzt an manchen Stellen der Erde getroffene Brauch an, dem Todten die nöthigsten Bedürfnisse des Lebens mit in das Grab zu geben, und wenn er ein vornehmer Mann war, seine Diener und Pferde am Grabe zu schlachten, damit er bei seinem Erwachen im Jenseits die unterbrochene Arbeit sofort wieder aufnehmen könne. Es ist also ein sehr klarer Gedanke, den der grosse Dichter und Denker mit den angeführten Worten ausgesprochen hat, und Strauss schilt vergebens auf die ‚‚Alters- schwäche des Dichtergreises.‘ Und ebenfalls sehr richtig ist der Ausspruch desselben Goethe: „Du hast Unsterblichkeit im Sinne, Kannst du uns deine Gründe nennen?“ Gar wohl! Der Hauptgrund liegt darin, Dass wir sie nicht entbehren können. Sie beseitigen wollen hiesse die menschliche Natur um- kehren, oder einen Quell verstopfen, der doch immer wieder seinen Weg findet. Freilich gibt es und gab es zu allen Zeiten Leute, die sie entbehren konnten: ja ja, es gab auch schon Leute, die nicht essen wollten, obwohl sie der Hunger quälte, und die keinen Regenschirm brauchen, wenn es regnet — aus Grundsatz, wie sie sagen; man hält sie für starke Geister — oder für Narren. Wer sich zu der Höhe erschwungen hat, dass er den Atombegriff (oben S. 140) zu denken vermag, dem kann es keine Mühe kosten, die unsterbliche Seele zu denken — wenn er nur will! Man schaffe die Seele aus der Welt, dann wird sie keine Anliegen mehr haben. Dem Materialismus ist dies nicht gelungen, und die Descendenzlehre hat mit der Frage eigentlich nichts zu thun, da die Entwickelung des Psychischen- für sie ein unerreichbares Gebiet ist. Soviel ist also gewiss: behält die Philosophie die Frage in der Hand, so wird der Unsterblichkeitsglauben nicht ver- loren geben, und die Religion wird sich desselben zu ihren Zwecken bedienen; die Naturwissenschaft freilich in ihrer neuesten Entwickelung weiss nichts mit demselben anzufangen. Inzwischen wollen wir nicht vergessen, dass die Beweise, die man versucht, stets abstract, niemals concret sein können, dass darum unser Glaube immer mehr ein Hoffen, als ein Wissen sein wird. Vor allem aber wollen wir nicht verabsäumen, unseren Unsterblichkeitsglauben jeder sinnlichen Zuthat zu ent- kleiden: die Hölle kann für uns nicht mehr im Innern der Erde sein, wo die Seelen der Bösen ewig brennen — was soll denn brennen, wenn der Körper nicht mehr da ist? und wo ist die Hölle danach, wenn keine Erde mehr ist? — und der Himmel kann nicht mehr oben am Firmamente ein Tummel- platz irdischer Vergnügungen sein: es gibt seit Copernicus kein oben und unten mehr am Firmamente, und dieses selbst ist besetzt von Himmelskörpern, die nicht anders sind als unsere Erde auch. ,‚Der menschliche Glaube an die Unsterblichkeit wird erst recht sicher und frei, sagt J. B. Meyer, wenn man jeden Versuch abthut, aus diesem Glauben ein fassliches Bild vom ewigen Leben der Seele zu entwickeln. Dann will der Glaube nicht mehr sein, als er sein kann: eine Ahnung des Uebersinnlichen im sinnlichen Erdenleben‘‘ — eine Idee nur wie die Göttesidee, aber mächtig wirksam für die praktische Ge- staltung unseres Lebens. Wir schliessen diesen Abschnitt mit den schönen Worten Huber’s (die Idee der Unsterblichkeit): ‚Unsere Betracht- ungen der menschlichen Persönlichkeit legen uns demnach wohl die Ueberzeugung ihrer Unsterblichkeit nahe; aber diese Ueber- zeugung lässt ihrer ganzen Beschaffenheit nach keinen Beweis zu, wie ihn die Mathematik etwa führt; denn sie will und 202 kann nicht bloss Resultat kalter Berechnung, sondern sie will und kann nur Resultat eines in sich gekehrten, an sittlichen Erfahrungen reichen Lebens sein... .. Es gibt Wahrheiten, auf denen unser Leben ruht, im tiefsten Sinne Lebenswahrheiten, weil sie dieses erst ermöglichen, tragen und erfüllen. Auch dies ist daher ein Kriterium von der Wahrheit einer Ueber- zeugung, wenn alles Menschliche auf ihrer Grundlage zu be- stehen und wahrhaft zu gedeihen vermag. Solche Wahrheiten, die nicht bloss mehr Sache des Raisonnements, sondern Resul- tate eigener Lebensarbeit und darum auch der Lohn derselben sind, da sie wie eine Gnade erhebend und beglückend wirken, sind die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Wer thierisch in die Endlichkeit der Welt versunken ist, dem schliesst sich allmählich das Auge für das Göttliche; wer nie- mals einen Act der Selbstüberwindung geübt hat, der verliert den Glauben an die Möglichkeit der Freiheit; und wer es versäumt hat das ewige Leben in sich zu erwecken, der fühlt in sich auch nicht die erhebende Triebkraft desselben.‘ XXVII, Kann es im Zeitalter Darwins noch eine Religion geben ? Der Riss zwischen Gebildeten und Volk. Nunmehr werden wir die Frage, ob es im Zeitalter Darwin’s, das bestimmt zu sein scheint unsere Weltanschauung umzugestalten, noch eine Religion geben kann, entschieden mit ja beantworten. Die drei Grundpfeiler Gott, Freiheit und Unsterblichkeit stehen noch unverrückt, so unverrückt, wie sie immer standen und überhaupt nur stehen können. Die Descendenzlehre an sich beseitigt den Gottesbegriff nicht, rührt den freien Willen nicht an und macht den Unsterblichkeitsglauben so wenig unmöglich, dass sie ihm sogar zur Stütze dienen kann. ‘ Noch ist Raum für die geistige Erhebung des Menschen zu Gott, worin wir das Wesen der Religion erkennen müssen, und für die daraus resultirende sittliche Kräftigung; das Compromiss mit unserem religiösen Bedürfniss ist möglich, wenn wir nur nicht eigensinnig sein, sondern uns die Einrede von beiden Seiten gefallen lassen wollen. Manchem freilich, der in dem guten alten Glauben, in welchem er gelebt, auch sterben will, wird es zu viel sein Lu 2053 was verlangt wird, manchem anderen, der mit den Siebenmeilen- Stiefeln der modernen Wissenschaft vorwärts drängt, nicht genug.; manchem aber auch, der mit dem Schreiber dieser Zeilen das Bedürfniss fühlt, nicht allein Religion, sondern auch einen Aus- druck dafür, also eine positive Religion zu haben, wird die Gelegenheit willkommen sein, um mit sich selbst klar zu werden und eine drückende Ungewissheit und Halbheit der Ueberzeugung endlich los zu werden — und diese sind es, an die wir uns wenden. Kein schlimmerer Feind, als der unbekannte; kennen wir die Gefahr, so prüfen wir die Mittel der Abwehr und wagen den Kampf — oder sterben mit Würde. Wer wäaseren Darlegungen gefolgt ist, kennt den Feind genau und die Weise seines Angriffes, seine Stärke und seine Schwäche; aber er kennt auch die Stärke und Schwäche der eigenen Stellung und weiss, welche Werke vertheidigungsfähig sind, welche aufgegeben werden müssen. - Aber da tönt ernst und feierlich vom Felsen Petri herab das schwere Wort ‚non possumus — wir. können nicht“. Es ist nicht blosser Eigensinn, auch nicht Herrschsucht wie man meint, sondern der eiserne Zwang der Consequenz, jener Con- sequenz, welche die Geister mächtig anzieht und schon manchen, seit die Trennung in Confessionen erfolgt war, in den Schooss der alleinseligmachenden Kirche zurückgeführt hat. Die Unter- werfung der Deutschen Bischöfe unter das neue Dogma, die man in seltsamer Verdrehung der Begriffe für Feigheit auszugeben pflegt, ist in der That ein Act unerhörter Selbstverleugnung, welcher für die Macht der Sache, der zu Liebe er geschehen, ein glänzendes Zeugniss ablegt, und darum der grösste Triumph, den die katholische Kirche je gefeiert hat. Hier ist die Parole: aut Caesar aut nihil, oder mit den Worten des bekannten Jesuitengenerals, von dem man Umgestaltung des Ordens ver- langte: aut sint ut sunt, aut non sint. Es ist der Muth der Garde bei Waterloo, die lieber stirbt, als sich ergiebt. Aber wir hier unten müssen können, wir müssen mit den Ver- hältnissen rechnen, unsere Figuren umsetzen, wenn wir nicht das Spiel verlieren wollen, wir müssen aus dem Geleise, wenn wir nicht von der Locomotive erfasst und umgerannt sein wollen. Quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditum est, so lautet der Wahlspruch. Aber ist denn das, was wir heute glauben, immer, überall und von allen geglaubt worden? sieht 204 unser Glaube heute wirklich so aus, wie er von Anfang an aus- gesehen hat? hat er sich nicht vielmehr nach dem Gesetze alles Irdischen entwickelt? Und die Dogmen, sind sie nicht alle bis auf das jüngste herab im» Verlaufe der Zeiten ge- staltet worden? Würden die Apostel wirklich, wenn man sie heute in eine christliche Kirche führen könnte, die Kirche, an deren Ausbreitung sie ihr Leben gesetzt, wiedererkennen, ohne dass man ihnen alles erklärte, wie es sich im Verlaufe der Zeiten gestaltet hat? Sodann aber, wenn wir wirklich einmal unterstellen wollten, dass alles so wäre wie zu der Apostel Zeit, so läge darin schon der Keim des Unterganges. Nichts ist wie es vor tausend Jahren war, und was so sein wollte, ist für uns nicht mehr. Soll also der angeführte Grundsatz wirklich gelten, so spräche er das Todesurtheil über den alten Glauben aus. Vor tausend Jahren konnte man nicht glauben, was wir heute glauben, und wir können heute nicht mehr glauben, was man vor tausend Jahren geglaubt hat: es gäbe dann ja heute noch Hexen, die Kometen verkündeten Pest und Krieg und die Sonne liefe um die Erde, wie es in der Bibel steht. Was sich nicht assimilirt, wird abgestossen, was sich nicht stets erneuert, stirbt ab — das ist ein Naturgesetz sogut wie die vielen anderen, von denen wir zu reden hatten; und weil es Naturgesetz ist, Gottes Veranstaltung. Sich anpassen den Ver- hältnissen heisst sich das Leben verlängern. Man unterscheide, wie Mangold (Wider Strauss) sagt, zwischen ‚dem Wesen des Christenthums und dessen zeitgeschichtlicher Ausprägung im Dogma... Was dem Dogma zur Last gelest wird, das ‚trifft nicht seinen christlichen Inhalt, nur die zeitgeschichtliche Aus- prägung dieses Inhaltes; und gerade das ist die Arbeit der Theologie, in jedem Zeitalter mit neuer Versenkung in das christ- liche Princip neue, dem wissenschaftlichen Bewusstsein der Zeit entsprechende Weisen zu suchen, die alte und ewig junge Wahr- heit des Christenthums auf einen begrifflichen Ausdruck zu bringen.“ Und so sagt Sell (das Christenthum gegenüber den Angriffen von Strauss): „Die alte Dogmatik ist ein Dialekt der christlichen Sprache, wie er vor Jahrhunderten am Platze war, wie er heutzutage thatsächlich nirgends mehr gesprochen wird.“ Es sind geachtete Theologen, die diese Worte gesprochen haben. Die „alte und ewig junge religiöse Wahrheit des Christenthums“: alt ist die Form, ewig jung der Geist; die Form ändert sich oder stirbt ab, wenn sie dies nichtmehr kann; der Geist bleibt. a tn m a me un und mit ihm die Aufgabe des Menschen, Gott im Geiste und in der Wahrheit anzubeten. Aber während wir hier zu vermitteln suchen, fällt man uns von der anderen Seite in den Arm: Wir wollen keine Ver- mittelung, sagt Strauss, wir wollen nicht ‚an den alten Ge- bilden bessern und flicken, weil wir darin eine Hemmung des Umbildungsprocesses erkennen.“ Fort mit dem ‚Stümpern an der alten Kirche“, mit den „Flickereien der sogenannten Ver- mittelungstheologie.‘‘ Ja gewiss, alle Halbheit ist vom Uebel, zumal Halbheit des Charakters und des Wissens — und dies zu be- tonen, thut heutzutage besonders noth; aber hier verfehlt der kraftvolle Gedanke sein Ziel: da wir einmal einen Rock haben müssen, so ist ein geflickter besser als keiner, Wir brauchen keine Kirche, meint Strauss weiter: ‚die Meinung, es müsse, solange die Welt steht, auch eine Kirche geben, und wem die alte nicht mehr taugt, der müsse eine neue haben, die halten wir für ein Vorurtheil.‘‘ Es ist „die liebe Gewohnheit, meint er, die uns in die Kirche treibt. Man kann sich die Stelle nicht leer denken, wo man von jeher etwas hat stehen sehen. Der Sonntag muss doch Sonntag bleiben, und am Sonntag geht man in die Kirche.‘‘ Dem müssen wir entschieden widerspre- chen. So lange es noch „‚extramundane‘“‘ Fragen gibt, so lange der Versuch, die hinter und in der Weltmaschine stehende höhere Intelligenz in Dunst aufzulösen, nicht besser als bisher gelingt, so lange der Ursprung von Stoff und Kraft und ihre Entwickelung bis zu dem Bewusstsein und der Psyche hinauf, uns, wie sie es heute noch sind, Räthsel bleiben werden — mit einem Worte, so lange es ein Gottesbewusstsein gibt, wird die Menschheit das Bedürfniss der Religion und somit einer Kirche haben, also voraussichtlich für immer. Denn Religion ohne die Ausübung derselben, ist gerade so ein Unding, wie die Kraft ohne den Stoff, das Sprachvermögen ohne die Sprache. So unsinnig die Annahme wäre, dass die Menschheit je nach freier Uebereinkunft hätte stumm bleiben können, ebenso wider- sinnig wäre es, zu behaupten, dass die Menschheit je sich der Religionsübung hätte entschlagen können oder noch jemals werde entschlagen können. Ein Volk kann die bestehenden Formen der Religionsübung ändern, zeitgemäss umgestalten, ja es kann seine ganze Religion gegen eine andere umtauschen: ohne Re- ligion kann es niemals sein. Hier thut, wie so oft, ein Blick auf die‘ Geschichte noth, 206 damit wir sehen, wie sich die Praxis zur Theorie verhält. Die Krisis, die wir jetzt durchzumachen haben, ist, wie wir sagten S. 165, an jedes Culturvolk im Laufe seiner Entwickelung oder besser am Schlusse seines Entwickelungsganges herangetreten: die Zersetzung des alten Glaubens bei steigender Aufklärung und das Verlangen nach reineren Anschauungen. Die Zer- setzung des alten Glaubens, der, was er zu verheissen schien, nicht leistete, hatte bei den Juden dem Christenthum den Boden geebnet. Aber noch war der alte Glaube wirksam genug: man wehrte sich für den Jehovah des alten Glaubens und die Pro- pheten, und der Messias musste sterben. Auf denselben Grund hin wurde in Athen der Neuerer Sokrates — noch hinter der Zeit des Perikles — zum Tode verurtheil. Bei den Römern, dem praktischsten und patriotischsten aller Völker, bei dem das Staatsinteresse alle anderen Rücksichten überwog, konnte schon der aus dem Hannibalischen Kriege bekannte Fabius Cunctator als Augur erklären, was für das Staatswohl unternommen werde, das werde mit den besten Auspicien unternommen; was gegen den Staat ginge, ginge auch gegen die Auspicien, d. h. also gegen die Götter, die in den Auspicien ihre Winke ertheilten. Cicero, der energische Vorkämpfer für die Gläubigkeit gegen den Griechischen Materialismus, spricht gleichwohl entschieden gegen den Wunderglauben, gegen den Blutregen, das Schwitzen der Götterbilder ete., welches man in der guten alten Zeit ge- sehen haben wollte; Blut und Schweiss, sagt er, könne nur aus dem (thierischen) Körper kommen. Er kommt zu dem Schlusse : quidquid oritur, causam habeat a natura necesse est, ut, etiamsi praeter consuetudinem exstiterit, praeter naturam tamen non possit exsistere. Den Schrecken, den uns das ungewöhnliche Ereigniss (rei novitas) beibringt, soll man durch vernünftige Naturbetrachtung (natura ratione) verscheuchen. Livius, der nationale Geschichtsschreiber aus der Zeit des Augustus, nimmt eine vermittelnde Stellung ein: er will die Wunder der Vorzeit seines Volkes, die Abstammung der Zwillinge Romulus und Remus von der Vestalischen Jungfrau und dem Gotte Mars etc., ‚weder bestätigen noch widerlegen‘ wie er sagt; er erzählt noch treulich die Wunder, mit denen sich schwere Ereignisse ange- kündigt hatten. Gleichwohl war zu seiner Zeit der alte Glaube schon völlig in: der Auflösung begriffen und damit dem Christen- thum der Weg gebahnt, und dieses hielt seinen siegreichen Einzug zunächst in die Städte, also in die Stätten der Bildung, 207 wo man zuerst das Bedürfniss nach einer besseren Religion gefühlt hatte, während das Landvolk (pagani, die Heiden d. h. eigent- lich die Landbewohner), wie immer und wie auch zu unserer Zeit, an der Religion der Väter festhielt. Derselbe Sturm zieht heute — und zwar nicht das erste mal — gegen das Christenthum heran: es soll der sogenannten „Vernunftreligion“ (oben S. 171) weichen, die das Ziel aller Entwickelung der Menschheit sein soll. Ecrasez l’infame, schrieen die Eneyclopädisten, und die ‚‚Infame‘‘ schien wirklich vertilgt. Aber die Altäre wurden bald wieder aufgerichtet, und dasselbe Volk, welches die Priester erwürgt hatte, holte bald darauf den in Frankreich einziehenden Papst mit grossen Ehren ein. Wer waren nun die Anhänger des neuen Glaubens, die das Feldge- schrei erhoben hatten? Die Gebildeten? Ja, und der Pöbel in den Städten, der, wie einst die Bauern in der Reformation, die neue Religion in seinem Sinne nahm und die Consequenzen 208: Befreiung von jeglichem Zwange, dem die Religion das Wort geredet. Beim Landvolke blieb es beim Alten. Das Wort, das einst bei einer Gelegenheit Napoleon I. im Zorne zu den Ver- . tretern der Bergischen Geistlichkeit sprach: ‚in fünfzig Jahren brauche Frankreich keine Religion mehr,‘ hat sich nicht erfüllt: heute ist vielmehr Frankreich der auserkorene Sitz der alten Rechtgläubigkeit. Ueberzeuge man sich an diesem Beispiele, dass es niemals möglich ist, einem Volke seine Religion zu nehmen. Es war immer nur ein Bruchtheil der Nation, der die freie Richtung einschlug, und die Masse wälzte sich in dem alten Geleise weiter und die Masse ist das Volk. Und so ist es überall und wird so „bleiben immerfort und so wird es auch uns ergehen. Hier wird man freilich einwenden: Was gebe ich auf die urtheilslose Masse? Plato mihi unus instar est multorum milium. Dem widerstreiten wir so wenig, dass wir vielmehr gerade in dem Riss, der sich zwischen den Gebildeten und der .Masse gebildet, den Grund des ganzen Uebels erkennen. Es ist niemals möglich, dass die ganze Nation d. h. die Masse theilnehme an der geistigen Erhebung, an der wissenschaftlichen Arbeit; diese wird vielmehr, wie so manches andere, stets das Vorrecht einer bestimmten Classe bleiben, die dazu noch im Verhältnisse zu den anderen bevorrechteten Ständen recht eng umgrenzt ist. Sowie die Nation in die Cultur eintritt, sondern sich von vornherein die Wege: der kleinere Bruchtheil über- 208 nimmt die geistige Arbeit, die grössere Masse besorgt die Hausarbeit, möchten wir sagen, und wird in geistiger Beziehung genährt von den Brosamen, die ab und zu von der Herren Tische fallen. Der Riss nicht nur zwischen den Gelehrten und der Masse, sondern auch zwischen den Gebildeten und der Masse wird immer breiter, die einen verstehen die Sprache der anderen nicht mehr. Kein Land zeichnet sich in dieser Be- ziehung so aus, wie unser liebes Vaterland ; es hat sich deshalb oft genug den Spott der Zuschauer draussen gefallen lassen müssen. „Ihre grossen Schriftsteller, sagt der Engländer Buckle von unserer Nation, schreiben für einander, nicht für ihr Land“. Ja sie schreiben oft nicht einmal mehr für.einander d. h. für ihren Gelehrtenstand, sondern für sich d. h. für ihre eigene Person. ,‚‚Gewisse Bücher, sagt in diesem Sinne Goethe, scheinen geschrieben zu sein, nicht damit man daraus lerne, sondern damit man wisse, dass der Verfasser etwas gewusst hat“. Hinc illae lacrimae! Das Volk, ob es will oder nicht, aufklären, d. h. in beständiger Kenntniss erhalten von den Fortschritten der Wissenschaft, ist die Pflicht des Gelehrten- standes, die eben so hoch steht, als die Pflicht, die Wissen- schaft zu vermehren. Dies kann direct geschehen, indem man die erwiesenen Resultate der Wissenschaft, nicht schweifende Hypothesen, welche die Gemüther verwirren, in geniessbarer Form, ohne beleidigenden Stolz und Ueberhebung, wie es einem guten Lehrer geziemt, in Rede und Schrift verbreitet. Und es muss geschehen indirect durch die Schulen, welche die natürlichen Canäle sind, durch welche das wohlerworbene Wissen der Nation eingeleitet werden muss in den Strom der Masse. Aber nur das Wissen, das objective Wissen, nicht das subjective Meinen, wie schwer es auch ist beides immer auseinanderzuhalten. ‚„‚Das, was man weiss, sagt Virchow (in der auf der Naturforscherversammlung zu München gehaltenen Rede) und das, was man nur vermuthet, mengt sich in der Regel so sehr in ein einziges Gebilde zusammen, dass das, was man vermuthet, als die Hauptsache, und das, was man weiss, als die Nebensache erscheint.“ So ist es in der That, und das hat sich niemals so deutlich gezeigt, als heute, wo es sich darum handelt, die Descendenzlehre und ihre Consequenzen zum Gemeingut der Nation zu machen. Die Darwin’sche Lehre ist eine grosse Hypothese, die, wie wir ge- sehen haben, in ihren Fundamenten nicht einmal richtig ge- an 209 stellt ist: das muss uns von vornherein zur Vorsicht mahnen, namentlich wenn es sich darum handelt, die Consequenzen zu ziehen. Und wiederum auch ist sie auf offenkundige Thatsachen sebaut, und dies zwingt uns ihr näher zu treten; wegen un- bequemer Consequenzen die ganze Descendenzlehre einfach bei Seite schieben, ohne auch nur den Versuch zu machen, diese offenkundigen Thatsachen in anderer Weise zu erklären, käme einem Verrath an der Wissenschaft, einem Verrath an dem eigenen Denkvermögen gleich. Die Wissenschaft kann der Hypothesen nicht entrathen, und man würde ihr das Lebens- mark abschneiden, wenn man ihr verwehren wollte auf dem Wege der Hypothese vorzugehen. In diesem Sinne behauptet Häckel (Freie Wissenschaft und freie Lehre) gegen Virchow mit Recht: ‚Eine objective Wissenschaft, die bloss aus That- sachen besteht, ohne subjective Theorien, ist überhaupt nicht denkbar.“ „Es ist, sagt Goethe, mit Meinungen, die man wagt, wie mit Steinen, die man voran im Brette bewegt: sie können geschlagen werden, aber sie haben ein Spiel eingeleitet, das gewonnen wird.“ All unserem Wissen von der Natur haben Hypothesen gleichsam die Bahn voraus abgesteckt. Inter Martem et Jovem interposui planetam, sprach einst Keppler; man fand zwar nicht den Planeten, aber die Planetensplitter, die seine Stelle einnehmen; und ebenso ist der Neptun erschienen, den Leverrier vorausberechnet hatte, ohne ihn gesehen zu haben, Die Kant’sche Hypothese über die Entstehung unseres Sonnen- systems ist, wenn sie auch nicht frei von Einwürfen ist und namentlich gegen das feurig-flüssige Erdinnere neuerdings ge- gründete Bedenken erhoben werden, doch immer der Ausgangs- punct für unsere Astronomie geblieben, da sie so viele offen- kundige Thatsachen, über die wir wohl niemals ein bestimmtes Wissen erlangen, am. besten erklärt. Wenn auch die Natur- wissenschaft in unseren Fragen nicht mit der absoluten Sicher- heit zu Werke gehen kann, wie die Astronomie, die heute das Fernrohr auf den Punct zu richten vermag, wo über ein Jahr- tausend dieser oder jener Stern stehen wird, so darf man doch nicht vergessen, dass auch unser Wissen von den Himmels- körpern mit Hypothesen begonnen hat — wie ja noch Copernicus seine folgenschwere Entdeckung, vielleicht aus gebotener Vorsicht oder Rücksicht auf das herrschende Vorurtheil, vielleicht aber auch aus Bescheidenheit, weil er am besten erkennen mochte, wie vieles noch ungewiss blieb, nur als Hypothese hinzustellen Kuhl, Descendenzlehre. ‚14 210 wagte. Eine Hypothese kann bis zu dem Puncte geführt werden, dass: so kann es gewesen sein, gleich ist: so muss es ge- wesensein und so ist ‚es gewesen — und das ist der einzige Prüf- stein für die Echtheit und den wissenschaftlichen Werth einer Hypothese. So werden wir von der Darwin’schen Hypothese aus — wenn auch selbst wieder auf dem Wege der Hypothesen, wie dies die Natur des Gegenstandes mit sich bringt — zu einer annähernden Sicherheit des Wissens gelangen müssen, und nichts berechtigt uns, über sie einfach deshalb zur Tagesordnung überzugehen, weil sie Hypothese ist. Sagt doch Virchow selbst (Menschen- und Affenschädel): „Vorläufig ist hier [in Bezug auf die Uebergangsfähigkeit von Art zu Art] eine grosse Lücke in unserem Wissen. Dürfen wir sie durch Vermuthungen ausfüllen? Gewiss, denn nur durch Vermuthungen werden die Wege der Forschung in unbekannte Gebiete vorgezeichnet. Und das hat Darwin im schönsten Sinne geleistet.‘ Wenn wir also der Wissenschaft das Recht nicht aberkennen dürfen, die Linie des sicheren Wissens durch Puncte, welche die Hypothesen bedeuten sollen, weiterzuführen, so dürfen wir gleichwohl niemals vergessen, dass wir damit auf einen unsicheren Weg gerathen, auf welchem ein bestimmtes Behaupten ebenso thöricht wie verwirrend wäre. Wir dürfen vor allem nicht ver- gessen, dass es eine Profanation der Wissenschaft ist, wenn man mit dem Aufwand dialektischer Gewandtheit, welche den Schein zum Sein, die Vermuthung zur erwiesenen Wahrheit stempelt, die geheiligte Werkstätte der Wissenschaft der Menge öffnet, die nicht fähig ist zu prüfen und sich von dem Schein so leicht bethören lässt. Von diesem Standpuncte aus wird Virchow Recht behalten, wenn er sagt: „Um so mehr haben wir, die wir die Wissenschaft tragen, die wir in der Wissenschaft leben, die Aufgabe, dass wir uns enthalten, in die Köpfe der Menschen, und ich will es hier besonders betonen, in die Köpfe der Schul- lehrer dasjenige hineinzutragen, was wir bloss vermuthen.‘‘ Die Wahrheit muss jeder vertragen können und jeder ist ihrer werth — am ersten die Jugend. Der versündigt sich schwer, der ihren Sinn verwirrt mit unverstandenen und unerwiesenen Hypothesen, deren einziger Vorzug leider so oft ist, dass sie funkelneu sein sollen und mit allem Dagewesenen brechen. Aber auch der ver- sündigt sich nicht minder schwer, der ihr die erkannte Wahr- heit geflissentlich vorenthält; er erzieht sie statt zu freien, denkenden Männern, zur Lüge und Heuchelei. Sie wirft die u et Au ia Ze a u SA m An Aa ni 211 Maske doch ab, sobald sie die Schulbank verlassen ; der erste Anprall des Lebens wirft in der Regel das ganze erkünstelte Gebäude über den Haufen. Wir haben hier zunächst den Religionsunterricht im Sinne: er muss die Aussicht haben, im Leben wirksam zu bleiben; und hat er diese Aussicht nicht, dann ist er verkehrt und wir müssen ihn anders haben. Es ist eine so ganz andere Sprache, die unsere Jugend in den Religionsstunden, und die sie in ihrem übrigen wissenschaftlichen Leben hört, die Sprache einer Predigt und die Sprache der Classiker, an denen sich die Jugend doch auch erwärmen soll. Dieser Zwiespalt muss ausgeglichen werden; wir dürfen nicht länger verschulden, dass unsere Jünglinge, wie einst Hercules, an den Scheideweg gestellt und der Eventualität einer Wahl ausgesetzt werden, bei der in der Regel das Bessere leider nicht den Sieg behauptet. Von diesem Standpunete aus müssen das Gesetz, welches unseren Geistlichen etwas mehr nationale Bildung abfordert, auch diejenigen, oder gerade die- jenigen gewiss für berechtigt halten, die es mit der religiösen Bildung der Jugend gut meinen. Von jedem Lehrer verlangt man mit Recht ausser seiner Fachbildung einen gewissen Grad allgemeiner Bildung; aber bei keinem thut eine allseitige Bildung so noth, als beim Religionslehrer. Er muss die grossen Fragen, welche die Zeit bewegen, selbst gründlich studiert haben und dafür sorgen, dass die reiferen Schüler, die er in’s Leben zu entlassen im Begriffe steht, dieselben studiert haben, damit ihnen selbst das Buch von Strauss ohne Gefahr in die Hände fallen kann. Oder ist jemand so kurzsichtig, es für genügend zu halten, wenn man die abgehenden Schüler vor gewissen Büchern, wie z. B. Strauss und Häckel warnt? weiss man nicht, dass dies vielmehr in der Regel gerade die entgegengesetzte Wirkung hervorbringt ? Der Riss zwischen Gebildeten und Volk ist das Gründübel unserer Zeit; wer nur zu sagen wüsste, wie man ihn heilte! Der Widerstreit ist verewigt, und nun heisst es: hie Welf, hie Waibling! Was nutzt es, wenn jetzt ein Priester in der Dorf- kirche seiner Erklärung der Schöpfung, als Concession an die Wissenschaft, hinzufügt: unter diesen sechs Tagen kann man sich aber auch sechs lange Perioden denken? Das Volk wird an sich und an dem Priester irre. Es fehlt die Unterlage für die freiere Auffassung; diese hatte die Schule zu schaffen, und die ‚hat es versäumt, als es Zeit war, und versäumt es noch immer, 14* 212 da in unserem Katechismus die Antwort auf die Frage: in wie- viel Tagen hat Gott die Welt geschaffen? noch immer lautet: in sechs Tagen. Warum hat man nicht längst die erwiesenen Resultate der Wissenschaft in den Katechismus aufgenommen, sowie ja längst kein Katechismus mehr lehrt, dass die Sonne geht und die Erde steht? Wird das herrliche Werk Gottes da- durch geschmälert, dass man sagt: die Schöpfung ist eine lange Entwickelung ? Freilich, es ist eine schwere Aufgabe, diese Er- haltung der Concordanz zwischen Glauben und Wissen ; sie muss es sein, denn noch hat keine Nation sie gelöst. Wenn es wahr ist, dass auf dem Markte zu Athen die Reden des Perikles, wie sie uns Thukydides überliefert hat, von dem zuhörenden Volke verstanden wurden, so setzt dies einen hohen Grad allgemeiner Bildung voraus; und doch bestrafte dasselbe Volk den Anaxagoras mit der Verbannung, weil er gelehrt hatte, dass der Helios kein Gott sei, sondern ein Gestirn so gross wie der Peloponnes; und noch später verurtheilte dasselbe Volk den Sokrates, der von der Gottheit und nicht von den Göttern sprach, zum Giftbecher. Und nun muss man bedenken, dass wir es hier mit den Bürgern der Hauptstadt zu thun haben; mit den Landleuten wird’s be- stellt gewesen sein, wie heute auch — und daneben lebte noch eine ungeheure Menge von Sklaven, die doch auch Menschen waren, wenn sie auch hier nicht als Menschen mitzählten. Die Griechische Nation gilt uns aber mit Recht als diejenige, welche in Bezug auf Allgemeinheit der Bildung die höchsten Ziele erreicht hat. Wie soll es also uns ergehen ? Die christliche Kirche hat im Germanischen Staate den Anfang gemacht «mit der Pflege der Wissenschaft; warum musste es so kommen, dass sie jetzt ihr Pflegekind von sich stösst? Es war entartet, wird man antworten. Und doch ist unsere Wissenschaft, sagten wir, nicht minder consequent ent- wickelt, als unser Kirchenglaube, und weder durch Schimpfen, noch durch Drohen lassen sich ihre feststehenden Resultate aus der Welt schaffen. Die beiden Elemente, die einst friedlich nebeneinander, ja harmonisch in einander lebten, sind: zu feind- lichen Gegensätzen geworden, die sich einander abstossen und sich einander zu vernichten drohen, wie das Wasser, das man über das Feuer giesst, in Dunst aufgeht, aber auch das Feuer verlöscht. Der Glaube ist vorzugsweise Thätigkeit unseres Ge- müthes, das Wissen unseres Verstandes; beides, Gemüth und. Verstand, sind Theile unseres Geistes, sie wohnen so dicht 215 nebeneinander und können einander nicht mehr ertragen. Als wir nicht wissend waren, konnten wir glauben und waren stark im Glauben; jetzt, wo wir wissend sind, können wir nicht glauben und haben eine Stütze unserer Kraft verloren. Die harmlose Naivetät, die den Menschen glücklich und zufrieden machte, ist geschwunden; wir sehen, dass wir nackt sind, d.h. wir werden unser Elend gewahr — das ist die tiefe Weisheit des biblischen Berichtes. Wir tragen Verlangen, den Schleier von dem Sais-Bilde zu lüften — es wird uns den Tod bringen. Eine trübe Aussicht für unsere Zukunft. XXVII. Die Ersatzmittel des neuen Glaubens. So steht unsere Zeit und was uns näher geht, unser Volk vor allen vor der schwierigen Aufgabe, an deren Lösung alle früheren Zeiten gescheitert sind, den Glauben mit dem Wissen zu versöhnen. Kann sie je gelingen? Wir bezweifeln es, aber wir bekennen es auch, was wesentlich die Schuld davon trägt: es wird gefehlt hüben und drüben. „Jeder steift sich eigen- sinnig auf sein Machtgebiet, keiner ist gesonnen, etwas abzu- treten. Hier hadern die vielen Religionsgenossenschaften, die alle christlich sein und die Lehre Christi jede allein rein be- wahrt haben wollen, um den todten Buchstaben, anstatt die grosse Gefahr zu sehen, die ihnen allen droht, den aufgesperrten Rachen des Löwen, der sie alle zu verschlingen sich anschickt. Wie kleinlich nimmt sich das Gezänke der confessionellen Parteien angesichts dieser Gefahren aus! Ist es nicht, als wenn man die beiden Nachtwächter in der Fabel hörte, aus deren „Bewahrt‘“ und Verwahrt das Feuer und das Licht‘‘ ,‚Spott, Verachtung, Hass und Rach und Wuth‘“ entstanden war? Mit peinlicher Sorgfalt lehrt man die Kinder in den Schulen, worin sich die christlichen Confessionen unterscheiden, und pflanzt damit den giftigen Samen in das Herz des Kindes, der hernach im Leben den Mann unduldsam und anmassend macht; lehre man sie doch, worin die Confessionen übereinkommen, die herrlichen, grossen Ideen, die einst die morsche Welt aufgerichtet und unsere ehr- samen Vorfahren; die Söhne der Germanischen Wildniss zur Gesittung erzogen haben. Man betone nur immer die alte und ewig junge Grundlage des Christenthums, auf der wir uns alle als Menschenbrüder wiederfinden. Von Arius bis Luther war es doch stets nur oder fast nur das Dogma, worum man stritt, nicht die Moral: man zankte sich in der Regel um Kaisers Bart und sah nicht, wie man dabei die ganze kaiserliche Würde in Frage stelltee Man weiss, wie nichts dem Wirken unserer Missionäre, die den Wilden das Evangelium predigen, hinder- licher ist, als dass sie mit den erhabenen Lehren des Christen- thums auch gleich den Hader der streitenden Parteien mit- bringen; und so kann für uns nichts empfindlicher sein, als dass wir, während wir das Christenthum retten wollen, durch unsern Streit vor aller Welt bekunden, dass es des Rettens nicht werth oder nicht fähig ist. Auf der andern Seite hat man sich bis zur einer Höhe verstiegen, auf der man sich zu vornehm hält, um noch über- haupt mit Glauben und Christenthum zu unterhandeln; wer davon noch spricht, ist geächtet und zählt nicht mit zu den Männern, die noch auf Wissenschaftlichkeit Anspruch haben. Wir brauchen keinen Glauben und keine Kirche, das ist der „neue Glaube“. Aber das Volk beweist, dass es einen Glauben braucht ; es hat ihn immer gehabt und wird ihn immer haben ; und es tritt um so fester für seinen Glauben ein, je mehr er ihm von äusseren Gefahren bedroht zu sein scheint. Man wird nicht irren, wenn man in dem neuerdings mit ungeahnter Macht hervorbrechenden Wunderglauben die engste Verbindung erkennt mit der Meinung, die im Volke verbreitet ist, die Maigesetze sollten die Religion aufheben. Zieht sich Bildung und Aufklärung, wie es angefangen hat, vornehm von dem Glauben zurück, so heisst dies das Volk dem Aberglauben in die Hände liefern; die Masse, die eine Befriedigung für ihr religiöses Bedürfniss sucht, wird sich ihre Religion machen, wie es ihr beliebt, und sie ausstatten mit abenteuerlichen Wundergestalten. Und dem entgegen steht das andere aut: so viele andere nehmen sich ein Beispiel an denen, die ihnen zum Vorbild dienen, und werfen allen Glauben ab. Es folgt der „Massenaustritt aus der Landeskirche“, und im Hintergrunde stehen die Zustände, wo „die Weiber zu Hyänen werden und mit Entsetzen Spott treiben“. Die Aufklärung ist dem Gebildeten die nährende Milch, dem ungebildeten Haufen das Schwert in der Hand des Rasenden. Der Auflösung des Glaubens folgt nothwendig die Auflösung der Sitten, wie der bergende Schatten schwindet, 215 wenn man den Baum entwurzelt.e. Nun schützt uns freilich vor solchen Excessen einstweilen noch das Gesetz und der gesunde Sinn der Mehrzahl; aber die Klagen über die entartete Zeit, die die Arbeit scheut, nur den Genuss sucht und für diesen Beiriedigung um jeden Preis, der trostlose Nihilismus und Pessimismus unter den Gebildeten, das Hinschwinden alles idealen Schwunges vor den nüchternen Interessen des rechnenden Ver- standes, — wir könnten auch sagen: der rechnenden Selbstsucht — alles dies steht in engster Verbindung mit den Stürmen, die gegen den alten Glauben heraufgezogen sind. Freilich wollen die Anhänger des neuen Glaubens uns nicht ohne Ersatz lassen für das, was wir aufgeben sollen. Wir wollen sehen, was es ist, was sie uns anbieten. Es ist entsetzlich wenig: Strauss braucht den Umfang eines ganzen Buches, um den „alten Glauben‘ zu zerstören, zur Darlegung seines „‚neuen Glaubens‘ genügen ihm einige Seiten. „Neben unserem Berufe — denn wir gehören den verschiedensten Berufs- arten an, sind keineswegs bloss Gelehrte oder Künstler, sondern Beamte und Militärs, Gewerbetreibende und Gutsbesitzer [wo bleiben die Tagelöhner und die Bauern?], neben unserm Beruf suchen wir uns den Sinn möglichst offen zu erhalten für alle höheren Interessen der Menschheit‘ — schöner Gedanke, nur kommt’s anders in der Wirklichkeit. Das höchste Interesse der Menschheit, das Gefühl aller Gefühle, ist die Religion; ist dies geschwunden, dann schwinden auch die „höheren Interessen‘‘, die aus dem Gemüthe entspringen, ihm nach, es bleibt zuletzt nichts als der nüchterne Verstand, der Sinn für das tägliche Brod. Ja, meine Damen und Herren — wir ahmen hier eine Strauss’sche Emphase nach — die Welt ist sehr vernünftig geworden, entsetzlich vernünftig; wer weiss, ob es nicht wirklich noch dazu kommt, dass ‚die Menschheit fortan nur noch durch vernünftige Gespräche sich fortpflanzt.‘ „Wir haben, fährt Strauss fort, während der letzten Jahre lebendigen Antheil genommen an dem grossen nationalen Krieg und der Aufrichtung des Deutschen Staates und wir finden uns durch diese so unerwartete als herrliche Wendung der Geschicke unserer vielgeprüften Nation im Inneresten er- hoben.“ Nun, wer hat denn das nicht? ist das etwa ein Kennzeichen der Männer vom „neuen Glauben“, dass sie patriotisch sind, und sie allein? Wir fürchten im Gegentheil, dass der ‚neue Glaube‘, der mit dem Materialismus verbrüdert 216 ist, nichts weniger als zur Stärkung des Patriotismus beitragen wird. Die Ziele des Materialismus sind bekannt; sie laufen aber unseren heutigen Zuständen sehr zuwider. Der „‚neue Glaube‘‘ behandelt auch die Frage, welches die beste Staatsver- fassung sei. Vorsichtig geht Strauss um die Frage herum und meint, die Frage sei immer schief gestellt, wie die, welches die beste Kleidung sei, die sich doch ‚ohne Rücksicht auf Klima und Jahreszeit einer-, „auf Alter, Geschlecht und Gesundheits- zustand andererseits nicht beantworten‘“ lasse. Aber er kommt gleichwohl zu dem Resultate: ‚So viel ist gewiss: einfacher, verständlicher ist die Einrichtung einer Republik, selbst einer grossen, als die einer wohlorganisirten Monarchie. . . In der Monarchie ist etwas Räthselhaftes, ja etwas scheinbar Absurdes; doch gerade darin liegt das Geheimniss ihres Vorzuges. Jedes Mysterium erscheint absurd, und doch ist nichts Tieferes, weder Leben noch Kunst noch Staat, ohne Mysterium‘ — ein merkwürdiges Anerkenntniss eines Mannes, der doch das „Mysterium‘‘ im „Tiefsten‘, die Religion, beseitigen will! Was ist nun das „Mysteriöse‘‘ in der Monarchie? Doch offenbar das Auctoritätsprincip, welches dem „Individuum‘, das der ‚blinde Zufall der Geburt über alle anderen erhebt‘ und ‚‚trotz möglicher- weise beschränkter Geisteskräfte oder verkehrten Charakters‘ zum Herrn so vieler „Besseren und Intelligenteren‘‘ macht, die gebietende, unantastbare, über dem Streite der Parteien erhabene Stellung im Staate verleiht, die so recht in menschlichen Dingen ein Abbild der göttlichen Auctorität in der Welt ist und ihre Berechtigung eben nur von dieser, wie wir sagen: „von Gottes Gnaden‘“ herleitet. Bricht die göttliche Autorität zusammen, so stürzen alsbald die Throne nach; das hat die Französische Revolution zur Genüge gezeigt. Atheismus und Revolution sind Brüderpaare, wie Freiheit und Gleichheit, das Losungswort der Revolution. Dass ein Volk die Republik vertragen kann, setzt genau dasselbe voraus, -wie dass es den Atheismus vertragen kann: die höhere Bildung der Bürger, des ganzen ‘Volkes, und da dies in der Regel eine Unmöglichkeit ist, so führt beides zum Untergang — oder zur Rückkehr! Darum waren Republiken im Alterthum, wie später und in heutiger Zeit, im Wesentlichen nur möglich innerhalb der Grenzen einer Stadtgemeinde. Sowie Rom aus einer Stadtgemeinde zu einem grossen Staat herange- wachsen war, da zeigten sich die Schwierigkeiten, die ihre endliche Lösung darin fanden, dass die Monarchie des Augustus aufge- ne Ein EN richtet wurde. Die kleine Schweiz wird man nicht in Erinnerung bringen und eben so wenig die in beständigem Todeskampfe ringenden Amerikanischen Republiken. Die Vereinigten Staaten geniessen das Glück, keinen concurrirenden Nachbar zu besitzen: man versetze sienach Europa, unter die Concurrenz der Europäischen Grossmächte, so wird das geträumte Freiheitsglück bald zu Ende sein — ebenso gewiss als für Frankreich die heute zu Recht bestehende dritte Republik nichts weiter ist, als die Vorbereitung auf die Wahl des zukünftigen Monarchen. Doch was hat das alles für Beziehungen zu dem „neuen Glauben‘‘? Nur eine, aber eine wichtige: nämlich dass derselbe die Masse nicht zu Patrioten erzieht, sondern sie im Gegentheil recht unpatriotisch macht. Aber hören wir weiter! „Dem Ver- ständniss dieser Dinge [unserer neuesten Geschichte] helfen wir durch geschichtliche Studien nach, die jetzt mittelst einer Reihe anziehend und volksthümlich geschriebener Geschichtswerke auch dem Nichtgelehrten leicht gemacht sind; dabei suchen wir unsere Naturkenntnisse zu erweitern, wozu es an gemeinver- ständlichen Hilfsmitteln gleichfalls nicht fehlt’; und endlich finden wir in den Schriften unserer grossen Dichter, bei den Aufführungen der Werke unserer grossen Musiker eine Anregung für Geist und Gemüth, für Phantasie und Humor, die nichts zu wünschen übrig lässt. ,,,‚So leben wir, so wandeln wir be- glückt‘‘“. Schöne Gedanken, müssen wir wiederholen, wenn die Anhänger des neuen Glaubens alle so feine Leute sind, die Geschichtswerke studiren, unsere Dichter lesen und unsere classische Musik hören! Zum Verständniss des Classischen in Literatur und Kunst gehört classische Bildung, die das Volk nicht hat und nicht haben kann. Man versuche es doch ein- mal und kündige an: vom nächsten Sonntag an wird in der Kirche nicht mehr gebetet, gesungen, gepredigt, sondern ein classisches Stück aus einem Dichter vorgetragen, eine Symphonie aufgeführt. Es werden unzweifelhaft sich Leute einfinden, und die dies thun, sind die Anhänger des neuen Glaubens Dann zähle man die Erschienenen und vergleiche die Zahl derer, die ausgeblieben, und es wird sich ergeben, wie es mit den ‚vielen Tausenden“ steht, die Strauss zu seinen „‚Wir‘‘ zählt. Freilich, man wird auf die träge Masse schimpfen, die einmal nicht aufzurütteln sei, und sich damit begnügen, dass es wenigstens „nicht die schlechtesten aus allen Landen‘‘ sind, die da zusammenkommen, Wir greifen daher die Sache etwas 218 tiefer. Was ist es, was uns in Literatur und Kunst begeistern und den alten Glauben ersetzen soll? Doch der ideale Schwung, der uns über die Sorgen und Nöthen des Alltagslebens erheben soll. Steht aber dieser ideale Schwung nicht in seinem letzten Grunde auf der Religion, die seine Quelle ist und zugleich seine ewige Nahrung? Religion und Kunst hängen deshalb so eng zusammen, sie sind zu allen Zeiten in einander gewoben, wie Zettel und Einschlag in unseren Weberarbeiten. Die Malerei und Bildhauerei haben, sowie sie anfingen Kunst zu werden, an der Darstellung der Göttergestalten und Göttersagen im Bilde bei allen Völkern zuerst ihre Kräfte versucht. Des- halb fehlt den Juden die Kunst, weil sie sich in einem be- herzigenswerthen Zuge des Versuches enthielten die Gottheit im Bilde darzustellen; sie mussten die Phönicier herbeirufen, um ihren Tempel zu bauen. Und von unserer Dichtkunst und musikalischen Kunst — in unserem Culturkreise — steht es ja historisch fest, dass sie auf's engste mit der Religion ver- knüpft waren von Anbeginn an: Lyrik und Drama entwickelten sich bei den alten Griechen aus den Gesängen, die bei den Festen der Götter vorgetragen wurden. Die in die Augen springende innige Verbindung der Kunst mit der Religion ist dem Verfasser des neuen Glaubens auch nicht entgangen; aber er weiss sie kunstvoll in sein „Universum“ hinüberzuspielen: ‚Zwar hat die Kunst in allen ihren Zweigen den Beruf, die im Gewirre der Erscheinungen sich erhaltende, aus dem Widerstreit dor Kräfte sich wiederherstellende Harmonie des Universums, die uns im unendlichen Ganzen unübersehbar ist, im beschränkten Rahmen anschauen oder doch ahnen zu lassen“ d. h. Deutsch gesprochen, die unerforschliche Gottheit uns ahnen zu lassen. „Daher die innige Verbindung, in der wir von jeher bei allen Völkern die Kunst mit der Religion finden“. Ja, daher, weil es sich darum handelte, den Hauch der Gottheit im eigenen Schaffen darzustellen, nicht die „im Gewirre der Erscheinungen sich erhaltende, aus dem Wider- streit der Kräfte sich wiederherstellende Harmunie des Uni- versums‘‘, von welchen Prädicaten die Menschheit noch keine Ahnung hatte, als man anfing zu dichten und zu bilden. Und so ist bis heute das ganze Schaffen unserer Dichter- genies auf eine gläubige, die Gottheit anerkennende und ihr dankbare Gesinnung gebaut; bei aller freieren Auffassung der Form des Glaubens stehen sie auf dem Standpunct des Glaubens, naht ierr - el an" nicht auf dem des ‚‚neuen Glaubens“, der kein Glaube ist. Es hiesse den Sinn der bekannten Worte Schillers: Welche Religion ich bekenne? — Keine von allen, . Die du mir nennst, — Und warum keine? — Aus Religion — ungebührlich dehnen, wollte man Schiller damit sagen lassen: wir brauchen keine positive Religion. Es verhält sich damit wie mit einem anderen Ausspruch Schillers, der die Philosophie betrifft : Welche wohl bleibt von all den Philosophien ? — Ich weiss nicht; Aber die Philosophie, hoft’ ich, soll ewig bestehn. Das Gezänke der Parteien verurtheilt der Dichter mit diesen Worten, nicht aber die Sache selbst. „Unter der Hülle aller Religionen liegt die Religion, die Idee eines Göttlichen“, sagt er an anderer Stelle; und seine „Drei Worte‘ enthalten ein ganzes Glaubensbekenntniss: Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, Und würd er in Ketten geboren. Und die Tugend, sie ist kein leerer Schall, Der Mensch kann sie üben im Leben. Und ein Gott ist, ein heiliger Wille lebt, Wie auch der menschliche wanke. Es konnte ihm nicht in den Sinn kommen, sich unter diesem Gotte das Universum des neuen Glaubens zu denken. War es bei Goethe „Altersschwäche des Dichtergreises‘‘ (8. 200), so ist es bei Schiller ohne Frage jugendliche Ueberschwäng- lichkeit, wenn er etwas zu Gunsten der alten Vorurtheile — im Strauss’schen Sinne gesprochen — vorbringt. In der That würde der Dichter, der zum „neuen Glauben‘‘ schwören wollte, seiner Kunstabschwören ; er müsste aufhören, den „Hippogryphen zu satteln‘‘ und vor den Sonnenwagen des Apollo zu spannen, und statt dessen das trostlos prosaische ‚Universum‘ auf den Milchesel laden. Strauss spricht auch vom sogenannten „vierten Stand‘‘, von der ‚„soeialistischen Beule“, von den „Gräueln der Pariser Commune“; in den Flammen des Stadthauses und des Louvre sei der Gesellschaft aller Länder hell genug gezeigt, wohin gewisse Grundsätze führen“. Nun, der oberste dieser „Grundsätze‘‘ ist die Lossagung von der Religion. Denn so lange diese noch wirksam ist unter den Arbeitern, sind solche Excesse undenkbar. Daher beginnen diese „Gräuel‘‘ stets mit demselben Alpha, der Beseitigung der Priester, denen die Fürsten folgen, und schliessen mit demselben Omega, der Ver- tilgung jedes privilegirten Standes und der Beraubung des Eigenthums , welches nach jenen Grundsätzen Diebstahl ist. „Das Eigenthum ist die unentbehrliche Grundlage der Sittlich- keit, wie der Cultur‘‘, sagt freilich der neue Glaube; meint er es zur Zeit des Dranges, wenn die ‚rohen Kräfte sinnlos zu walten‘‘ beginnen, mit diesem schönen Satz besser zn schützen, als der alte Glaube, der sagt: die Religion ist die unentbehr- liche Grundlage der Sittlichkeit wie der Cultur? Die Religion sagt: „Du sollst nicht stehlen“; vermag sie sich keinen Ge- horsam mehr zu erzwingen, so thut es noch viel weniger ein schöner Satz — und es bleibt zuletzt keine andere „Grundlage der Sittlichkeit und Cultur“, als das Strafgesetz und das Zuchthaus. Das Christenthum lehrt jene Menschen Achtung vor dem Gesetz, Gehorsam gegen ihre Fabrikherren — wie es hinwiederum stets auf der Seite des Arbeiters steht gegen den Fabrikherrn, der seine Pflicht versäumt und die ‘Kräfte seiner Dienstleute zu eignem Vortheil rücksichtslos ausbeutet; es ist ja „„den Armen gepredigt.‘‘ Die Religion mahnt sie zur Arbeitsamkeit, zur Ge- nügsamkeit, verpönt die Genusssucht, die für jene Leute ja in der Regel die Quelle aller Unzufriedenheit ist; und wo das Elend wirklich ist, da tritt sie ein in die Hütte des Armen, bringt ihm Speise und Trank und was mehr ist, Trost und Ermunterung im Ausharren. Was bringt aber der neue Glaube statt der Tröstungen der Religion? Die Lectüre der Dichter und Geschichtschreiber ? Diese, wenn sie möglich wäre und dem Ver- ständnisse zugänglich, wäre wirkungslos, weil der Sinn dafür fehlt: sie gibt uns kein Brod, wird der Arbeiter sagen. Die Concerte? Diese verstehen jene Leute so, dass sie sich ein Ver- gnügen daraus machen, was dem Leibe dient, nicht der Seele — und damit ist ja nur der gefährlichste Feind, die Sucht nach Vergnügen, von neuem heraufbeschworen. Panem et Circenses! es wirft gewiss kein günstiges Licht auf die Zustände des Römischen Pöbels, dieses Tiosungswort! Und doch stammt es aus einer Zeit, wo Rom auf der Höhe wie seiner Macht so auch seiner Bildung stand. Nein, diese Ersatzmittel des neuen Glaubens bedeuten ohne die Religion nichts mehr als die Nullen, die bleiben, wenn man von einer höheren Einheit eben die Einheit wegstreichtt und die Nullen stehen lässt: sie sind zusammen Null, so viele es ihrer sein mögen; und wir ‘fürchten, dass zu RR, den falschen Propheten, von denen Strauss sagt, dass sie den wahren gegenübergetreten, Strauss selbst und sein Anhang vor allen gehört. Unser Schluss ist also, dass dieser neue Glaube uns nicht _ genügt: er ist weder neu; denn es ist der alte Materialismus, mit der Darwin’schen Farbe neu angestrichen ; noch auch ein Glaube; denn er entbehrt die nothwendigsten Grundlagen eines Glaubens. Der ‚neue Glaube‘ ist in der That der alte Unglaube in neuer, verschlimmerter Auflage. * XXIX, Unser neuer Glaube. Die angebliche Selbstzersetzung des Christenthums. Man wird jetzt erwarten, dass unser neuer Glaube auf der Bühne erscheint. Auch wir haben stets in der Voraussetzung gesprochen, unsere ‚Wir‘ hinter uns zu haben und im Namen „vieler Tausende und nicht der schlechtesten in allen Landen‘ zu sprechen, auch wir ‚gehören den verschiedensten Berufsarten an, sind keineswegs blos Gelehrte oder Künstler, sondern Beamte und Militairs, Gewerbtreibende und Gutsbesitzer‘‘, und wir haben dazu auch noch Raum für den ‚vierten Stand“, den schlichten Mann aus dem Volke, für den der neue Glaube von Strauss keinen Platz weiss. Aber wer über unseren neuen Glauben jetzt noch eine breite Auseinandersetzung erwartete, dem könnten wir eine Täuschung nicht ersparen. Unsere Auf- gabe war es ja nicht, den alten Glauben zu zerstören, wir haben also auch keinen neuen aufzurichten. Wir wollen Christen bleiben, so lange für eine freiere Ueberzeugung noch Raum in der christlichen Kirche ist. Wir verabscheuen den religiösen Indifferentismus, den wir für einen Abfall von der Menschheit und Menschlichkeit, und einen Rückfall in die thierische Art halten. Dieser freieren Ueberzeugung aber haben wir im Verlauf unserer Untersuchungen sattsam Ausdruck gegeben. Wir müssen zunächst der herkömmlichen Auffassung der Inspiration ihre Schärfe benehmen. Die Männer, welche die Bibel geschrieben ee haben, sind uns ehrwürdig und heilig, gleich dem Gegenstande, um den sie sich bemühen; sie sind uns unfehlbar in der Be- ziehung, als wir sie eines wissentlichen Irrthums oder gar wissent- licher Fälschung für unfähig halten; aber sie sind nicht un- fehlbar schlechthin, denn sonst dürften sie in keinem ‘Puncte, auch in äusserlichen, unwesentlichen Dingen nicht irren. Der gut gemeinte Unterschied, den man von theologischer Seite macht zwischen Hauptsache und Nebensache, Glaubenswahrheit und nebensächlichen Bemerkungen, scheint uns doch die Sache nicht zu decken und muss zuletzt auf einen nutzlosen Wortstreit hinauslaufen, da bei der Bestimmung dessen, was Hauptsache und was Nebensache ist, eine objective Grenze nicht zu ziehen ist, vielmehr dem subjeetiven Dafürhalten die Sache überlassen werden muss (— eben wie bei der Unterscheidung der Arten die Bestimmung, was ein wesentliches, was ein unwesentliches Merkmal ist, oben $S. 58). Wer in irgend einem Puncte ein- räumt, dass die biblischen Auctoren ‚im Geiste ihrer Zeit‘* schrieben, also den irrthümlichen Anschauungen ihrer Zeit unter- worfen waren, der hat, so däucht uns, die Inspiration that- sächlich aufgegeben. Wer sie gleichwohl in ihrem ganzen Umfange festhält, der muss auch die Unfehlbarkeit des Papstes anerkennen, oder umgekehrt: wer die Unfehlbarkeit des Papstes bestreitet, der handelt nur consequent, wenn er auch die Un-' fehlbarkeit der biblischen Autoren bei Seite schiebt. Denn hat es jemals unfehlbare Menschen gegeben, so kann es solche auch heute noch geben, und der Papst hätte als Stellvertreter Christi und unmittelbarer Nachfolger der Apostel darauf das erste Anrecht. Es muss ferner der falsche Wunderglaube fallen d.h. die böse Gewohnheit, das Wunder da einzusetzen, wo die natür- liche Erklärung ausreicht, und selbst da, wo gar nichts Wunder- bares zu erklären ist. Wir glauben, sagten wir (S. 153) an das Wunder, aber nicht an die Wunder. Nun hat sich freilich der Wunderglaube zu allen Zeiten und bei allen Völkern so eng um den Begriff der Religion gerankt, dass er fast wie ein integrirender Bestandtheil desselben erscheint. Es ist ein aller- wärts wiederkehrender Zug, dass die Menschheit der alten Zeit, bei der — nicht zum Schaden einer glücklichen Existenz —- die Phantasie stärker war als der Verstand, die über das ge- wöhnliche Mass hinausgehenden Leistungen einer grossen Zeit, namentlich die geringen Anfänge einer hernach zu weltgeschicht- licher Bedeutung emporgewachsenen Gründung. in’s Wunderbare zieht. Der Nimbus löst sich auf bei steigender Erkenntniss, wie der Nebel vor der aufsteigenden Sonne weicht. Was ist dabei zu tadeln? oder wer wollte wagen, hier von Betrug zu reden? Wenn von Betrug die Rede sein könnte, so wäre es die ganze Menschheit, die ihn ausgeführt, und zwar an sich selbst ausgeführt hätte. Es ist dasselbe Verhältniss, wie mit den Hexenprocessen und anderen Thorheiten, die Jahrhunderte beherrscht haben. Die Wunder am Anfang der Dinge, sagten wir, erklären uns nicht, warum sie heute nicht geschehen; aber dass sie heute nicht geschehen, erklärt uns, dass sie auch am Anfang der Dinge nur in der Einbildungskraft des Menschen geschahen. War das Gnadenwerk Gottes an Wunder, d. h. an ein willkürliches Eingreifen der Gottheit in den Gang der Natur- gesetze geknüpft, so musste es daran geknüpft bleiben, und wir sähen dieselben Wunder auch heute noch. Wer überhaupt an Wunder glaubt, muss auch das Wunder von Marpingen für möglich halten, wer Marpingen leugnet, leugnet sie alle — diese Consequenz muss sich jeder vor Augen halten, der über Wunder redet. „Die Erklärung, sagt Mangold (wo er von dem Wunder der Menschwerdung Gottes spricht), die ich über das Wesen des Christenthums gegeben habe, verlangt weder mit Nothwendigkeit das Wunder für dasselbe, noch schliesst sie das Wunder noth- wendig von demselben aus. Doch verschieden sind die religiösen Bedürfnisse der Menschen. Die einen wollen, poesievoll und liebebedürftig, in ihrem Vorsehungsglauben überall die Hand Gottes greifbar vor Augen sehen; für sie ist das Wunder des Glaubens liebstes Kind, und die Aussagen, in denen sie den Heilswerth der Person und des Lebens Jesu zusammenfassen, thun ihnen nicht genug, wenn sie nicht den Glanz des Wunders über ihren Herrn und Meister ausgiessen. Die anderen, mehr auf den geschlossenen Zusammenhang des Denkens gerichtet, glauben nur dann eine würdige Vor- stellung von Gott sich bilden zu können, wenn sie seine Wirksam- keit als eine gesetzmässige innerhalb der von ihm selbst her- rührenden Naturordnung, der sittlichen Weltordnung und der Ordnung seines Gnadenreiches zu fassen vermögen; deshalb meinen sie auch ohne das Wunder Christo eine schlechthin einzige Stellung in der Menschheit anweisen zu dürfen, Aber die Einen sind nicht bessere und die Anderen nicht schlechtere Christen, so lange sie nur beide in der lebendigen Gemein- 224 > schaft mit Christus Antheil suchen an dem Leben göttlicher Art, das Jesus hineingelebt hat in die Menschheit“. Kann die Theologie dieses aus ihrer Mitte kommende Zugeständniss ein- räumen, so ist jedem aggressiven Vorgehen des neuen Glaubens segen den Inhalt des Evangeliums ein- für allemal die Spitze abgebrochen. Kann sie es nicht, so ist uns immer noch der- jenige lieber, der zu viel, als der gar nichts glaubt. Quod si in hoc erro, sagt Cicero, wo er von der Unsterblichkeit der Seele spricht, lubenter erro, nec mihi hunc errorem, quo delector, extorqueri volo. Wer den Wundern der Bibel eine besondere Stellung einräumen zu müssen glaubt, der thue es, ‘was hat’s denn für Schaden für die anderen? Es hat es ja jeder mit sich zu thun. Wer es nicht will, der sei darum nicht ausgeschlossen von der „lebendigen Gemeinschaft mit Christus‘, wenn er nur in dieser religiösen Erziehung der Menschheit, die mit der Er- weckung des christlichen Glaubens ihren Abschluss gefunden hat — wir mögen diese Erziehung recht eigentlich die Offen- barung nennen — die Hand Gottes, des liebenden Vaters, erkennt, die ihm die Wege gezeigt zu seinem Heile. Aber wer da mit den Anhängern des neuen Glaubens von Betrug und bösem Willen redet und die heiligste Gestalt, die je auf Erden gewandelt, entstellt, wie es der Verfasser des alten und neuen Glaubens gethan, „hie niger -est‘‘, mit dem hat derjenige nichts zu schaffen, der noch ein Christ sein will. Wir haben ferner unsere Stimme erhoben gegen das über- grosse Gewicht, das man dem Dogma zuschreibt, welches doch nur der todte Buchstabe ist, in den eine jeweilige glaubensbe- dürftige, aber auch des Irrthums fähige Zeit Dinge, die so sehr über unserem Erkenntnissvermögen liegen, dass sie sich kaum in Worte fassen lassen, in feste Formen gebannt hat. Lebendig soll der höchste Gedanke sein, sagt Schiller, lebendig für alle Zeiten! Möglichst wenig Dogma und möglichst viel Christen- thum, das wäre der bessere Wahlspruch gewesen. Der Kirchen- glaube hat sich consequent entwickelt, sagten wir; das ist seine Stärke, aber auch seine Schwäche. Die Dogmatisirung hat die Erstarrung herbeigeführt, die Unfähigkeit der Variirung und der Anpassung an die gegebenen Verhältnisse, und damit die Unfähigkeit zu leben — eben wie im Bereich der Natur-Ent- wickelung eine bis zum Eigensinn festgewordene Art, je weniger sie noch Spielraum hat für die Variirung, desto gewisser ihrem Ende, dem Aussterben nahe ist. Soll das Christenthum absterben, SS 225 ‚wie man .prophezeit, so kann es nur das Dogma sein, das ab- stirbt, nicht der Geist, der erst absterben wird, wenn überhaupt der Geist abstirbt. Und auch vom Dogma nur der unwesentliche Theil; denn alles Wesentliche, worauf sich die positive Religion, ein positives Christenthum gründet, bleibt bestehen, Nun könnte freilich jemand einwenden: was bleibt dann noch vom Christenthum, wenn man die Wunder beseitigt und vom Dogma so gute Stücke wegnimmt? Was bleibt dann noch anders, als das Sittengesetz? Das haben wir ja auch und wollen es bei Leibe nicht verbannen. Aber wir brauchen dazu kein Christenthum, überhaupt. keine positive Religion, wir finden es in unserer Brust. Wer uns das einwenden wollte, den müssten wir an unsere Ausführungen zurückverweisen, die darzu- thun versuchten, dass sich das sittliche und das religiöse Be- wusstsein aneinander und miteinander entwickelt haben und gewissermassen solidarisch haftbar für einander sind, wie wir sagten (S. 164), so dass mit dem Schwinden des einen das andere ebenfalls seinen inneren Halt verliert. Das werden die Herren vom „neuen Glauben‘ allerdings heftig bestreiten und auf ihr eigenes Beispiel hinweisen. Wir haben die sittigende Macht der Bildung und ihr Wechselverhältniss zur Ausbildung der sittlichen Anschauungen durchaus nicht verkannt und wollen dem Worte des alten Tschinesischen Weltweisen: der Mensch hat nur nöthig belehrt zu werden, um gut zu werden, gewiss nicht seine Berechtigung absprechen. Der rohe Mensch vermag sich nicht zu wahrer Sittlichkeit zu erheben, und auch die beste Religion wird dies nicht mit ihm vermögen. Aber einmal: welcher Art soll die Bildung sein, welche diese Wirkung hervorbringt? An- eignung nützlicher Kenntnisse und praktischer Handgriffe, mit denen man sich bequem durch das Leben schlagen kann? Was hätte das aber mit der sittlichen Erziehung zu thun, wie würde damit die Menschheit moralisch besser? Brauchbarer, klüger, hier und da auch arbeitsamer,, sparsamer — das alles kann man zugeben; aber zu sittlicher Vervollkommnung führen uns diese Vorzüge nicht, sie erscheint nur dem, der den Blick von dieser Erde zu erheben vermag in das Reich des ewigen, voll- kommenen Geistes. Das Geschlecht hat noch erzogen zu werden, dessen Bildung auf die religiöse Grundlage Verzicht leistete, und dann erst wäre es möglich, die eine Bildung mit der an- deren, die neue mit der alten zu vergleichen. Sodann aber, wenn wir die höhere Bildung im Auge haben und ihr mehr zutrauen Kuhl, Descendenzlehre. 15 ER wollen: wie wenige können an ihr Antheil haben! Und was würde dann mit der Masse? Was wird aus ihr, wenn sie einmal eingeweiht ist in das Evangelium des neuen Glaubens, wenn man ihr klar gemacht hat: es gibt keinen Gott ‚zu strafen und zu rächen,‘‘ kein Jenseits, wo wir unsern Lohn empfangen! Man wird sich sofort zum Ersatz das Diesseits so angenehm wie möglich zu gestalten suchen, ohne Rücksicht auf Moral, sofern man nur an dem Strafgesetz vorbeikommt. Die Geschichte wird zeigen, ob die Zeiten des neuen Glaubens auch die der höchsten Sittlichkeit sind; sie hat gezeigt, dass in allen ähnlichen Fällen früherer Zeiten das Umgekehrte der Fall war. Das Gottesbewusstsein ist allein die feste Basis, worauf wahre Sittlichkeit gegründet werden kann — und da stehen wir an der scharfen Grenzscheide gegen den neuen Glauben, der auch dieses entbehren zu.können glaubt. Das Gottesbewusstsein und die darauf ruhende Ueberzeugung von der göttlichen Leitung der Weltgeschicke ist der ideale Inhalt jeder positiven Religion, vor allem des Christenthums, in welchem er zum reinsten Aus- druck gekommen ist; und dieser ideale Inhalt wird aller Zer- setzung des Dogmas zum Trotz nie dem mechanischen Gesetz verfallen, so lange es noch Menschen auf der Erde gibt. Einzig aus dem Gottesbewusstsein resultirt die bindende Kraft für die sittlichen Vorschriften, und die Aufgabe für den Menschen, der Idee der Gottheit, wie sie sich uns aufdrängt aus der Betrach- tung der Welt, näher zu kommen durch die eigene Vervoll- kommnung, sowie das Bewusstsein, dass wir unser Ziel verfehlt haben, wenn wir hinter dieser Forderung zurückbleiben, zugleich aber auch das Vertrauen, dass eben diese Gottheit, die alles nach Zielen geordnet, uns auch die Mittel an die Hand gegeben habe zu unserm Ziel zu gelangen. So allein hat Strauss’ Aus- spruch einen Sinn, dass die Welt „auf die höchste Vernunft angelegt‘ sei. Somit haben wir unser srod oc@ gefunden. Der neue Glaube, der des Gottesbegriffes entbehrt, ist obdachlos; er setzt seine Bekenner an die Strasse und gibt sie dem Wind und Wetter preis. Wir haben doch eine Wohnung, wo wir uns sicher zu bergen vermögen vor dem drohenden Unwet- ter, zu schützen vor der Kälte d.h. dem gemüthlosen Nihilis- mus, vor der Hitze, d. h. den brausenden Begierden der Sinnlichkeit, und vor den wilden Thieren d. h. den Gefahren und dem Elend des Lebens, dem, ‚Kamel Lebensnoth,‘“ wie 27 a Di 4 ar es in der Rückert’schen Parabel heisst, das den drohenden Rachen gegen uns aufsperrt. Nun mag sich in seiner Wohnung jeder einrichten, wie es ihm beliebt. Der eine liebt weite Räume, worin er sich frei bewegen kann, und kahle Wände: er mag sein Zimmer leer lassen; der andere zieht wohlausge- stattete Räume und mit Bildern behangene Wände vor: er mag sich wohnlich einrichten nach seinem Geschmack, so lange dieser nur nicht abenteuerlich wird. Hier muss das laisser faire in breitester Ausdehnung gelten, wenn nicht grenzenlose Verwirrung, Parteihass und blutige Verfolgung entstehen soll. Wer zu uns hält, der hat einen Gott, den er im Geiste und in der Wahr- heit anbeten kann; er kann noch beten, und zu dem Herrn der Welt, der alles zu dieser schönen Harmonie gestaltet hat, mit dem Vertrauen aufblicken, dass er auch unsere Geschicke zum guten Ausgang lenken werde. Das Volk will beten — lasse man es doch! Der Staat steht noch auf gesunder Grundlage, wo das Volk noch ungeheuchelt betet und das Vergnügungs- local nicht lieber besucht als den Gottesdienst. Man verbreite reinere Anschauungen, aber man nehme ihm nicht seinen Gott und seine Religion; denn wir haben ihm nichts dafür zu geben. Bildung und Aufklärung, Erziehung und Wissenschaft, das ist die Panacee des modernen Materialismus; sie soll „nicht nur Dummheit und Aberglauben, sondern auch Armuth, Elend und Knechtschaft aus der Welt schaffen‘ (Büchner, der Gottesbe- griff). Ja, wem dies gelänge, der hätte die Aufgabe aller Aufgaben gelöst, das wäre der wahre Prophet, wir würden ihm göttliche Ehren erweisen. Aber. „Ihr durchstudirt die gross’ und kleine Welt, Um es am Ende geh’n zu lassen, Wie’s Gott gefällt“. (Goethe. Nicht als wenn wir Bildung und Aufklärung verschmähten, der Dummheit und dem Aberglauben das Wort reden wollten, bei Leibe nicht! Wer uns dessen zeihen wollte, dem müssten wir vorhalten, dass er unser Glaubensbekenntniss missverstanden hat, oder habe missverstehen wollen. Nur als das, wofür man sie ausgiebt, als Ersatz für den „phantastischen, unpraktischen und obendrein unwahren Gottesglauben‘“ haben wir sie nicht gelten lassen können. Und so verschmähen wir auch nicht die „Ersatzmittel“ des neuen Glaubens, vor allem die Kunst in allen ihren Gestalten: nur dass wir sie wieder nicht als Ersatz- mittel ansehen können. Das innerliche Wohlbehagen, das wir 15* 228 empfinden beim Anblick eines schönen Bildes, beim Anhören einer edlen Musik liegt dicht neben dem anderen: der Freude an der Natur, dem schönen blauen Himmel, der grünen Flur, dem Gesang der Vögel. Von da schweift der Blick hinauf zu der Sternenwelt, zu dem Gestirne des Tages, der Leben und Gedeihen spendenden Sonne, nicht als ob wir dort den Uner- forschlichen mit leiblichen Augen zu schauen verlangten — für unsern Gott kann nie die „Wohnungsnoth‘ entstehen, da wir ja wissen, dass er ein Geist ist, der keine Wohnung braucht — sondern unser Gedanke weilt bei ihm, bei all’ dem Herrlichen und Unbegreiflichen, das er geschaffen — nein, sich hat ent- wickeln lassen ; so müssen wir ja jetzt sagen — wenn nur der Unterschied des Wortes nicht gar zu winzig wäre gegenüber der erdrückenden Macht des Gefühles! ,‚Die Schönheit der Natur allein sollte hinreichen, sagt E. v. Hartmann, uns von der in ihr sich offenbarenden Idee unmittelbar zu überzeugen, und uns für immer vor dem Irrthum zu bewahren, als ob jemals ein todter Mechanismus die Natur würde erklären können.‘ Die Schönheit der Natur — da sind wir bei der Religion, mitten in unserem neuen Glauben, welcher der ur- alte ist, er hat sich ganz unseres Gemüthes bemächtigt. Wir fühlen uns gehoben, dass es uns Menschen allein vergönnt ist, den „grossen Gedanken der Schöpfung noch einmal zu denken,‘ und gestärkt in der Aufgabe, der Grösse und Vollkommenheit des göttlichen Geistes in menschlicher Schwäche und Unzuläng- lichkeit nachzustreben. Also nicht: Ecrasez l’infame, wie es ehemals hiess, sondern: Rettet das Christenthum! Dies sei unser Losungswort. Das Wort, welches Goethe sprach von der Unsterblichkeit der Seele (oben S. 200), es gilt noch viel mehr vom Christenthum überhaupt: wir können es nicht entbehren. Und dazu kommt, dass wir nichts Besseres einzusetzen haben. Wir können nicht mehr zurückkehren zu den rohen Anschauungen des Heidenthums — so wenig wie unsere Sprache in die Stufe der Isolirung zurück- weichen kann, oder wir selbst zu der Thierform, aus der wir erwachsen sind. Wir können aber auch nicht fortschreiten zu der sogenannteu Vernunftreligion oder was dasselbe ist zum ‚neuen Glauben“: denn das wäre kein Fortschiitt, sondern ein kläglicher Rückschritt, wie wir darzuthun bemüht waren, und zugleich eine anmassliche Selbstüberhebung. Und nun rede man uns nicht mehr von der bevorstehenden „Selbstzersetzung des 229 Christenthums“ ; wir antworten mit dem Liede der alten Bur- schenschaft: Die Form mag zerfallen, was hat’s denn für Noth? Der Geist lebt in uns allen, und unsre Burg ist Gott. XXX, Schluss. Wir leben in einer Zeit der Ueberraschungen, der Ueber- stürzungen und — der Enttäuschungen. Alles stürzt mit Hast vorwärts, als wenn es gälte, eine Festung, die den Angriffen von Jahrtausenden getrotzt, im Sturm zu nehmen, die Höhe zu erklimmen, die uns mit einem Schlag in den Besitz aller geistigen und leiblichen Güter bringen soll, nach denen die Menschheit in den Jahrtausenden, seit sie besteht, vergebens gerungen, die Höhe, wo uns endlich die Vollendung aller irdi- schen Mühen, der ungetrübte Genuss aller unserer Errungen- schaften erwarten soll. | In diese Erregung trat die Descendenzlehre ein. Hat sie dieselbe hervorgerufen? Man wird geneigt sein diese Frage mit ja zu beantworten ; hat sie doch den ‚neuen Glauben‘ ge- zeugt, der nun auf ihren Schultern stolz sein Haupt emporhebt, den gepriesenen Zukunftsglauben, der unsere Ueberzeugungen von nun an beherrschen soll. Und doch, wie bescheiden trat sie auf, als sie vor nunmehr zwei Jahrzehnten das Licht der Welt erblickte! Von der Prätention, alle irdischen und überirdischen Erscheinungen und noch einiges mehr erklären zu wollen, war Darwin so weit entfernt, dass er nicht einmal zu dem Postulat eines einheitlichen Ursprunges der organischen Wesen gelangte, und für den Anfang der organischen Welt den ‚Schöpfer‘ ein- setzte, den man heute aus den letzten Schlupfwinkeln seiner Existenz zu vertreiben unternimmt. Klage man nicht mehr den bescheidenen Darwin an! Es war eine wissenschaftliche Hypo- these, die er vorbrachte, aus der sich etwas machen liess, weil sie auf ein gediegenes Fundament gegründet war — aber nicht das, was man daraus gemacht hat. Der Geist der Zeit, jene unnahbare Gewalt, der gegenüber der Einzelne, und wäre er der tüchtigste und beste, machtlos ist, hat sie ergriffen, und einmal eingetaucht in diesen allbezwingenden Strom wurde sie mit fortgerissen und ihr Urheber selbst zu Concessionen ge- 230 trieben, die ursprünglich gewiss nicht in seinem Sinne lagen. Der ungewisse Sturm, der da braust, man weiss nicht von wannen er kommt und wohin er geht, er ist wie der Sturm, der unsere Bäume entwurzelt und unsere Dächer abdeckt, ein Naturgesetz, dessen Macht sich niemand entziehen kann: es ist das Gesetz des Fortschrittes, dass alle irdischen Verhältnisse beherrscht. Wir sahen dieses Gesetz die ganze Entwicklung durchdringen, die der niedern Art stets fortzeugend die höhere anreiht, bis die höchste Sprosse auf der Leiter, der Mensch, erreicht, der neue Factor, die menschliche Psyche, in die Welt eingeführt war. Das war das Ende der physischen und zugleich der Anfang der psychischen Entwicklung, die eben jetzt wieder — und dazu ist Darwin, wir möchten fast sagen, die unschul- dige Veranlassung geworden — in ein neues Stadium eingetreten ist: der menschliche Geist schwelgt seitdem in dem Rausche, den Schlüssel zu den letzten Fragen alles Wissens gefunden zu haben, die Descendenzlehre soll sie alle lösen. Fortschritt, wer liebte nicht den Fortschritt, wer hätte nicht gerne Licht, wo es dunkel war? Ist es ja doch des Menschen Bestimmung, bis zur Grenze alles Erkennbaren vorzudringen, er ist darauf gebaut, und ob er es will oder nicht, er muss es! Aber der gesetzliche Fortschritt soll es sein, der die „Grenzen des Naturerkennens‘‘ achtet, nicht mit kühnen Sprüngen hinwegsetzt über die Klüfte, die noch nicht überbrückt sind und voraussicht- lich niemals überbrückt werden, Hier ist der Angelpunct des Kampfes, der unsere Zeit bewegt. Nicht die Descendenzlehre an sich sollte billigerweise die Gemüther in Aufregung bringen; verträgt sie sich doch, wie man richtig bemerkt hat, „gleich gut mit mechanischer und organischer, materialistischer, pantheistischer und theistischer Weltanschauung“ (v. Hartmann, Wahrheit und Dichtung im Darwinismus), da sie für jede Ueberzeugung, wofern sie nur von alten Vorurtheilen gereinigt ist, Raum lässt, und zwar ohne dass man ihr Zwang anthut — weshalb wir auch nicht besorgen, dass man uns, einen Vorwurf zurückgebend (oben $S. 152), be- schuldigt, wir hätten die Descendenzlehre mit der Theologie verkuppelt. Aber die überstürzte Eile, womit man die Darwin- sche Lehre in ihren falschen Consequenzen praktisch zu ver- werthen bemüht war, und die Verbrüderung, die man sie ge- zwungen hat mit dem Materialismus einzugehen, dessen Zwecken sie dienstbar gemacht worden ist, das ist das Beleidigende, der 281 unberechtigte Zwang, den der ruhige und gewissenhafte Beur- theiler von sich abwehren muss. Schon ist es längst verpönt, bei Strafe der Unwissenschaft- lichkeit, noch von einem überfiüssigen Schöpfer zu reden. Den Wilden wirft man zum Zeugniss ihrer mangelnden Gesittung vor, dass sie keinen Gottesglauben, keine Religion hätten. In der That ist noch kein Stamm gefunden werden, der nicht irgend eine Idee von der Gottheit, irgend eine Religion hätte, so harmlos und aberwitzig sie auch sein mag. Aber nun scheint es, als wenn das Ende all unserer Cultur, die Frucht aller Mühen, womit die Menschheit der Erkenntniss nachgerungen, der Zustand sein sollte, den man den Wilden angedichtet hat: eine gottesleere Oede, vollständige Verleugnung alles Idealen und Höheren, totaler Bankerott all der Ideen, wofür die Mensch- heit Jahrhunderte lang gelebt und gestrebt, gestritten und gelitten, eine stumme Verzweiflung, die uns zu dem Geständniss treibt, dass unser Schicksal, das Schicksal des Herrn der Schöpf- ung, nichts besser ist, als das des Hundes, der uns umwedelt, ja noch weit schlimmer, indem das Thier die Tiefe, in der es steht, nicht fühlt und nach Besserem nicht verlangt, der Mensch dagegen das Gefühl hat, dass er ‚zu was Besserem geboren‘‘ ist, und das Streben nach diesem Bessern zu suchen, in sich trägt, aber gezwungen sein soll, dieses Gefühl als eitlen Plunder bei Seite zu werfen und sich mit der traurigen Gewissheit zu begnügen, dass ihm nichts Besseres angerichtet ist, als den Thieren allen. Ja wahrlich, da müssen wir uns über die natürliche Zucht- wahl, die ja alles zum guten Ausgang gebracht haben soll, bitter beklagen, dass sie uns Triebe eingepflanzt, ohne uns die Mittel zur Befriedigung zu geben, dass sie uns etwas angezüchtet, was wir besser nicht hätten; denn unsere gerübmten Vorzüge vor dem Thiere sind in einen Nachtheil verwandelt, da das Thier seiner Lebensaufgabe genügt und sich zufrieden darin findet, den Menschen aber seine Psyche verwirrt und an sich selbst irre macht. Theologie und Philosophie müssen aus der Reihe der Wissenschaften verschwinden, sie sind jetzt eine über- flüssige Zierat geworden, die unser vorgeschrittenes Jahrhundert entbehren kann, Philologie und Geschichte werden ihres besten Inhaltes beraubt, da ihnen kein anderer Werth mehr innewohnt, als die Erforschung der Verirrungen des menschlichen Geistes, die jetzt das neue Licht zu Schanden gemacht hat. 232 Es bleibt nur die Naturwissenschaft, die nach dem neuen Be- griffe allein noch den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit machen kann, und daneben fristen die Mediein und Jurisprudenz nur aus dem Grunde ihr Dasein, weil man sie im praktischen Leben braucht, die Medicin als nützlichen Appendix zu den Naturwissenschaften, die Jurisprudenz als die nothwendige Stell- schraube für den Kampf um das Dasein. Ja, das Leben wird leider sehr praktisch, und unsere ganze Bildung, unser ganzes geistiges Leben läuft immer mehr darauf hinaus recht praktisch zu sein. Welcher Art bei solchen Zuständen das verheissene Glück sein wird, muss die Zukunft lehren, Es ist überflüssig, dass wir noch denken, und gar unsere Gedanken niederschreiben. Apres nous le deluge ! Es klingt geradezu komisch, wenn Haeckel am Schlusse der natürlichen Schöpfungsgeschichte auf den Spruch des alten Weisen hinweist: „Erkenne dich selbst‘, und auch das noch der Descendenzlehre — nicht zu vergessen in der Fassung, welche er ihr gegeben — zumuthet, dass sie erst dem Menschen zur wahren Selbsterkenntniss, „dem mächtigsten Hebel zur sitt- lichen Vervollkommnung‘“, verholfen habe und die Menschheit „durch die Erkenntniss ihres wahren Ursprunges und ihrer wirklichen Stellung in der Natur auf eine höhere Bahn der moralischen Vollendung‘ leite.e. Wir haben bereitwillig alle guten Wirkungen der Descendenzlehre anerkannt, dass sie uns über manche Vorurtheile fortgeholfen und uns Klarheit verschafft hat in manchen Dingen, wo wir in Ermangelung des Wissens und Erkennens den Glauben und Aberglauben eingesetzt hatten; aber was hat das alles für eine Beziehung zu unserer „sittlichen Vervollkommnung“, zu unserer „moralischen Vollendung‘? Hat uns die Meinung, dass Gott die Welt geschaffen, oder selbst das concreteste Vorurtheil des persönlichen, anthropomorphen Gottes mit allen seinen Zuthaten unsittlich gemacht? Es hat die Unsittlichkeit, die Schlechtigkeit, die Bosheit nicht vertilgt von der Welt, das ist noch keiner Religion gelungen, Aber was thut dazu die Descendenzlehre? Was lehrt sie uns denn an uns „erkennen“? Sie verweist uns auf unseren thierischen Ursprung, offenbart uns die leider nicht wegzuleugnende That- sache, dass in Bezug auf den Kampf um das Dasein, den Kampf.aller gegen alle, in welchem um der eigenen Erhaltung, der Verbesserung des eigenen Loses willen jede Rücksicht auf den Nebenmenschen bei Seite gesetzt wird, die Menschheit besser, aber ER nicht viel besser gestellt ist als die Thiere: macht sie damit nicht unsere Willensfreiheit, welche die Vorbedingung alles verdienst- lichen Handelns ist, illusorisch ? sanctionirt sie nicht Eigennutz und Selbstsucht, Rücksichtslosigkeit gegen unsere Nebenmenschen, indem sie unsere Schlechtigkeit mit dem Zwange des Natur- gesetzes beschönigt? Aber wozu hat denn der Mensch seine psychische Ent- wickelung, die doch die Forderung der Sittlichkeit in sich schliesst? so wird man einwenden. Nun, und zu gleicher Zeit wird uns gesagt, dass die menschliche Psyche nichts weiter sei, als eine höhere Potenz der seelischen Fähigkeiten der Thiere, nicht qualitativ, sondern nur quantitativ verschieden von der Thierseele; dass der Mensch nicht das Endziel der Schöpfung, sondern nur ein Glied in der Entwickelungskette ist, das möglicher- weise jeden Augenblick von einer besseren, höher entwickelten Art abgelöst wird, dass wir mit allem, was wir sind und haben, in der Natur stehen, aus der wir nicht herauszukommen ver- mögen; dass alles Transscendente, Supranaturale, Ideale un- berechtigt ist vor der menschlichen Vernunft; dass es keinen Zweckbegriff für die Natur, also auch nicht für den Menschen, gibt; dass das Gottesbewusstsein überflüssig und lächerlich, ja schädlich iss — wo bleibt bei alledem der Antrieb zur „sittlicehen Vervollkommnung“ , zur ‚moralischen Vollendung‘ ? Nein, es ist eine trostlose Lehre, diese Descendenzlehre ; wir müssen sie anders haben. Sie bescheide sich das zu sein und zu bleiben, was sie sein kann und soll, und was sie von Anfang an war; sie reisse sich los aus dem Dienste des Materialismus, dessen Magd sie geworden ist, und von dem Tage ab wird sie keinen Gegner mehr haben. Wir stammen vom Thiere ab; aber wir sind nicht mehr Thier, sondern Mensch, in dem vollen Sinne, in der ganzen Bedeutung des Wortes — das sage sie uns, und wir sind mit der Descendenzlehre ausgesöhnt. ‚Nicht derjenigen Theologie gehört die Zukunft, welche gegen die siegreiche Entwickelungslehre einen fruchtlosen Kampf führt, sondern derjenigen, welche sich ihrer bemächtigt, sie anerkennt und verwerthet“, sagt Häckel (in der Münchener Rede) mit Recht; aber nur nicht seine Entwickelungslehre, denn derer kann sich keine Theologie bemächtigen, ohne sich selbst auf- zugeben. Und ebenso nicht seine Religion, die „vernunftgemässe Naturreligion“; denn das ist keine Religion. Es ist eine gewaltige Revolution, die sich in unsern Tagen 254 zwar nicht im Stillen, aber doch nicht mit dem Sturme, der sonst Revolutionen zu begleiten pflegt, abspielt, die aber eben darum, weil sie gesetzmässig verläuft, viel dauerndere Wirkungen haben wird, als so manche andere Revolutionen, die sich über- stürzt und ihre Hände sofort in Blut getaucht haben. Gewaltig schlägt der Zeitgeist seine Flügel, als schickte er sich an, unerhörte Dinge zu vollbringen. Wer hat den Sturm hervor- gerufen? Die Descendenzlehre, das Vaticanische Dogma, die Maigesetze? Alle diese Namen schwirren in der Luft. Aber sie sind alle Kinder derselben erregten Zeit, die hier nach Fort- schritt schreit, dort dem stürmenden Laufe nicht zu folgen vermag oder zu folgen aus guten Gründen nicht gewillt ist: wer wollte untersuchen, welcher Tropfen Wassers bei der Ueber- schwemmung die unterwühlte Mauer endlich umgerannt? Wer wollte aber auch der heranstürmenden Fluth sich eigensinnig entgegenstemmen? Man grabe dem Strom das Bette, man nehme den Zeitgeist in den Dienst und richte grosse Dinge mit ihm aus, das ist besser, als nutzlos wider ihn schmälen und sich dabei von ihm umrennen lassen. In Frankreich liessen sich der gute Ludwig XVI. und die Hofpartei überraschen von der Revolution. Die Encyclopädisten hatten die Aufklärung und damit die Brandfackel unter die Masse geworfen, die das Licht zu ertragen nicht reif war; und die Folge war, dass Ströme von Blut die guten Ziele erstickten, zu denen die Bewegung hätte hingelenkt werden können. Bei uns hat die Bewegung die Staatsgewalt auf ihrem Posten gefunden. Die Geschichte wird es Bismarck einst höher anrechnen, als alle seine diploma- tischen Erfolge, dass der Märkische Edelmann die Ideen, die er mit der Muttermilch eingesogen, aufgab, um den Fortschritt in den Arm zu nehmen. Das war eine grosse That der Selbst- verleugnung, die unser Vaterland vor unsäglichem Elend be- wahrt hat. Er sprach nicht: non possumus, sondern begriff seine Zeit und ihre Forderungen, und wurde ihnen gerecht. Seitdem haben wir den Fortschritt auf unsere Fahne geschrieben, aber den gesetzlichen Fortschritt, der ‚mit Weile zu eilen“ und den ‚modus in rebus‘‘, die ‚„‚certi denique fines‘‘ zu achten weiss; der Sturm, der unsere Häuser umzustürzen drohte, ist zu einem erfrischenden Luftzug gemässigt, der neues Leben, gesetzmässige Entwickelung in unser geistiges Leben zu bringen bestimmt ist. Hätte dies doch jedermann im Volke gleich erkennen können, gleich erkennen wollen; der unselige Zwist, der heute die Gemüther beunruhigt, wäre nie entstanden! Deutschland, nicht das alte Deutschland an der Donau, sondern das neue unter der Führung Preussens hat Frankreich in der Aufgabe abgelöst an der Spitze derCivilisation, d. h. des geistigen Fort- schrittes zu marschiren: es ist, wie wir sahen, nicht Zufall, sondern der natürliche Verlauf der Dinge. In dem grossen Entwickelungsprocesse der Menschheit, der Nation an Nation, die junge, lebensfrische immer an die Stelle der alten, abge- lebten reiht, ist die Rolle an das neue Deutsche Reich gekommen, seine Kräfte zu versuchen an den ewigen Fragen der Mensch- heit. Wir fragen also nicht mehr, warum sich der erbitterte Kampf um die heiligsten Interessen der Menschheit sofort an seine Fersen heften musste, warum es gerade das neue Deutsche Reich war, von dem der Widerstand gegen das Vaticanische Dogma ausging, während andere Länder, vor allen Italien, das doch ohnehin im Widerstreite gegen das Papstthum lag, und Frankreich, das einen Voltaire geboren hatte, sich schweigend verhielten. Den Kampf gegen Rom schrieb man auf die Fahne, und er ist bei vielen gewiss ehrlich gemeiut; aber bekenne man es nur: die Mehrzahl der Kämpfer steht in einem andern Sold: in dem des neuen Glaubens, welcher einen jeden, der überhaupt noch das Bedürfniss eines Glaubens und einer Religion empfindet, sofort mit dem Ehrentitel eines „‚„Ultramontanen‘“ belegt. Die Deutschen Enceyclopädisten sind im Gange, das sind die Schattenlinien, die sich um unseren Culturkampf ziehen! Der Kampf ist ein Zeichen überschüssiger Kraft, wie überall der ‘ Kampf Leben bedeutet, die Ruhe Erstarrung und Tod; aber im Kampfe verschleisst sich die Kraft, beide Theile gehen entkräftet aus dem Kampfe hervor — das beherzige jeder und versuche, soviel an ihm liegt, durch versöhnliches Wort die Hände wieder ineinander zu flechten. Ist die blutige Lehre vergessen, die unser Volk im dreissigjährigen Krieg er- halten .hat ? Am besten wäre es freilich, wenn alle im Staate nach einer Facon selig werden könnten; aber da dies einmal nicht möglich ist, so gewöhne man sich endlich daran, jeden nach seiner Facon selig werden zu lassen: jeder auf seine Art, aber jeder auf eine Art — besser als keine Art, Man be- herzige das schöne Wort Goethe’s; 236 „Das Unser Vater, ein schön’ Gebet, Es dient und hilft in allen Nöihen; Wenn einer auch Vater unser fleht, In Gottes Namen, lass ihn beten !“ „Die Toleranz, sagt Bagehot (Ursprung der Nationen), ist die modernste aller Ideen; denn die Vorstellung, dass die schlechte Religion des A das Glück von B hier oder in Ewigkeit nicht gefährden könne, ist, so merkwürdig dies klingen mag, eine moderne Vorstellung.‘‘ Dies ist freilich nur zum Theil richtig. Es gab gewiss schon in den aufgeklärten Städten Griechenlands in dem alten Rom etc. tolerante Männer, die über den kleinlichen Religionshass erhaben waren. Beruhten ja doch die politischen Erfolge der Römer wesentlich darauf, dass sie nicht, wie später die Araber, ihre religiösen Anschau- ungen auf der Schneide des Schwertes in die eroberten Länder trugen — so wenig, dass sie vielmehr das ihnen Zusagende, wo sie es auch fanden, ihrer eigenen Religion einverleibten. Aber richtig ist, dass die Toleranz aufgeklärte Zustände vor- aussetzt. Es ist sehr natürlich, und begründet in der allge- meinen Menschenliebe, dass gerade bei diesem den Menschen so sehr interessirenden, die Menschheit so tief innerlich ergreifenden Gegenstande jeder das Glück, das er selbst geniesst und allein geniessen zu können glaubt in seiner Religion, auch dem anderen zu Theil werden lassen will — weshalb die Proselytenmacherei wohl schwerlich ein Ende nehmen wird, so lange es verschie- dene Confessionen gibt und dem Menschen die Religion nicht überhaupt gleichgültig ist. Ein Fortschritt in der Toleranz ist deshalb ein Fortschritt in der freieren Anschauung, und diese wird erst möglich, wenn die beengenden Schranken der ererbten Dogmatisirung dnrchbrochen werden — und dazu ist unsere Zeit reif geworden. Jeder werde geduldet, so lange er nicht in seinen religiösen und damit auch in seinen sittlicheu Anschauungen gemeingefährlich und für andere, mit denen er in der Staatsgemeinschaft zusammenleben muss, zum Störenfried wird. Hier tritt das Recht und die Pflicht des Staates ein, der, wie er überhaupt in seinen Gesetzen der Ausdruck des Gesammt- willens der Nation ist, sich über die Grundlage zu befinden .. hat, innerhalb deren er die gedeihliche Gesammtentwickelung für möglich hält; und auf dem Boden dieses Gemeinrechtes hat alsdann jeder Einzelne mit dem Mass der freien Bewegung, ee a Tahirn 237 die ihm gelassen ist, sich einzurichten. Weiter aber kann die Gewalt des Staates, d. h. die Gewalt der Gesammtheit über den Einzelnen, nicht reichen, er kann sich in die innere Ordnung, wie sie sich jede einzelne Confession auf der Basis der freien Bewegung ausgestaltet, nicht einmischen, ohne die gefährlichste Verwirrung hervorzurufen. Denn er würde damit selbst genöthigt sein, eine Confession zu gründen, die er nur mit unberechtigtem Zwange aufrecht erhalten könnte; er ginge aus sich selbst heraus und würde aus einem Staat zur Kirche. Das wäre allerdings ein glücklicher Standpunct; aber es ist ein un- möglicher Standpunct. Die Geschichte hat gezeigt, dass die politische und religiöse Einheit für die Entwickelung einer Nation stets die günstigste Voraussetzung ist; sie hat aber auch gezeigt, dass diese Einheit auf die Dauer in keinem Falle aufrecht zu erhalten war. Also religiöse Duldung, das ist die neutrale Basis, auf der wir uns allein versöhnen, einander wieder verstehen und ertragen lernen können; das ist zugleich die einzige Arznei, mit der wir unsere krankhaften Zustände heilen und uns vor einem vorzeitigen Verschleiss, der ja doch einmal unfehlbar kommen wird, schützen können. Noch steht unser Volk da in voller Kraft, im Schmuck der frisch errungenen Ehren und Siege ; unserm Geschlecht war es be- schieden nach den Tagen langer Schmach und Thatenlosigkeit die Wiederaufrichtung der Deutschen Nation zu schauen. Aber schon zeigen sich die Symptome der inneren Krankheit, die an unserer Lebenskraft zehrt — wie die lachende Frucht des Sommers den Herbst herbeiwinkt, der die Blätter des Baumes herabstört; an die Frucht, eben gereift, setzt sich der Wurm an, um sie bis in den Kern zu zernagen. Das hat auch der Verfasser des neuen Glaubens gesehen, ohne zu erkennen, dass er an seinem Theil wesentlich dazu mitgewirkt; er ermahnt, wo er vom „vierten Stande‘‘ spricht, die Staatsgewalt, auf ihrem Posten zu sein: „Aufforderung genug für die neue Deutsche Staatsgewalt, ihres Amtes zu warten und zu sehen, dass das gemeine Wesen nicht Schaden nehme“. Nun, die neue Deutsche Staatsgewalt ist dieser „Aufforderung“ nachgekommen, aber nicht zu Gunsten des „neuen Glaubens“, dessen Saat in den jüngsten Ereignissen aufgegangen ist. Zwei Attentate nach einander auf den edelsten, massvollsten und gerechtesten Herrscher, der je eine Krone ge- tragen, haben auch dem Blödesten die Augen geöffnet und „hell genug gezeigt, wohin gewisse Grundsätze führen‘ — die 238 Grundsätze, die der neue Glaube predigt! Man thüe dem wissen- schaftlichen Socialismus, der literarischen Freibeuterei des neuen Glaubens Einhalt, wenn man den politischen Socialismus mit Erfolg. bekämpfen will. Es sei fern von uns, die Freiheit der Wissenschaft beschränken zu wollen, was ja überdiess ein Ding der Unmöglichkeit wäre. Und zu der freien Forschung. gehört die freie Lehre; denn eine Forschung, die nicht gelehrt werden dürfte, wäre ein Denken olne Sprache — wobei dem Einzelnen wohl vorläufig möglich bliebe fortzu- schreiten, die ganze Menschheit aber zuletzt nicht nur das Forschen, sondern auch das Wissen verlernen würde. Aber man mässige sich und lasse sich die Correctur gefallen, und baue nicht auf Hypothesen frivole Folgerungen auf, wie der Verfasser des neuen Glaubens gethan. Man impfe nicht auf den Univer- sitäten der leicht erregten Jugend die streitbaren Grundsätze ein, die der Mann hernach im Leben nicht mehr verleugnen kann; man pflanze namentlich nicht dem künftigen Lehrer, der an der religiösen Erziehung der Jugend mitwirken soll durch Lehre und Beispiel, den gefährlichen Dünkel ein, der sich mit der wohlfeilen Negation des Kirchenglaubens bei den Schülern inter- essant zu machen meint. Man werfe nicht die missverstandene Aufklärung des neuen Glaubens in den Tagesblättern unter die Masse der ‚„‚Ewigblinden‘‘, bei denen ‚des Lichtes Himmelsfackel“ zur Brandfackel wird, die „Städt’ und Dörfer einäschert“. Der gesunde Sinn der Nation wird hier besser als der Zwang der Verordnungen Remedur schaffen; thut der es nicht, dann wäre er nicht mehr gesund — und das wollen wir ja nicht ein- räumen, Vergessen wir nicht den weisesten Spruch, der je menschlichen Lippen entglitten ist: undev ayav, alles mit Mass ! Einige Ergänzungen. Zu 8. 45 Mitte. War es an den Polen, so hätte das erste Land aller Wahr- scheinlichkeit nach keine Organismen gehabt, wenigstens hätte es nicht vermocht, die organische Entwickelung bis zu ihrem Höhepunete, dem Menschen, zu zeitigen; man sähe nicht ein, warum sich nicht dort, auch bei der abnehmenden Wärme, eine den wärmeren Zonen an Reichthum und Zahl der Formen gleich- kommende Flora und Fauna entwickelt haben sollte, die sich auf die Kälte angepasst hätte von vornherein, und warum nicht am Ende auch der Mensch auf Grönland oder Spitzbergen hätte ent- Stehen sollen nn an: in die nordische Nacht vorzu- dringen, zu einer Zeit, als dies das dortige Klima noch verstattete — bis sie der sich mehrenden Kälte endlich erliegen mussten. Zu S. 53 oben. . von Sibirien“. Es ist bemerkenswerth, dass in den ältesten geologischen Perioden die Flora und Fauna Europas, wie die geologischen Urkunden lehren, ein Indisch-Australisches Gepräge zeigt: gibt man nun zu, dass jene älteste Flora und Fauna aus einer der beiden Erdstellen in die andere eingewandert ist, so wird man zweifellos zu dem Schlusse getrieben, dass Südasien seinen Vorrath nach Europa, und nicht umgekehrt Europa nach Südasien entsandt hat. Zu 8. 55 unten. .. in die Ferne. Steht uns also für den Menschen in Bezug auf die Linien seiner Wanderung eine fast an Gewissheit grenzende Vermuthung zu, so wird die Sache um so kritischer, je tiefer wir in der Stufen- folge der Organismen herabsteigen. Wir dürfen nicht unterstellen, dass die Ausdehnungs- und Gestaltungsverhältnisse des festen Landes und des Wassers auf der Erdoberfläche, seit dieselbe landbewohnende Organismen trägt, dieselben gewesen seien wie heutzutage; diese Verhältnisse haben vielmehr in den verschiedenen geologischen Perioden gewechselt: das Wasser hat an Ausdehnung allmählich verloren, das Land gewonnen, das Land ist hier und da ver- schiedentlich untergetaucht unter das Wasser und hat sich danach wieder gehoben ete. Hier entsteht also die schwierige Aufgabe für die geologische Forschung, die Linien und die Weise der 240 Wanderung, auf denen in den einzelnen geologischen Zeitabschnitten die landbewohnenden Thiere gewandert sind, namentlich die Land- brücken, auf welchen die grossen Säugethiere weiter kamen, im Einzelnen nachzuweisen. Nur das dürfen wir annehmen, dass, je näher dem Menschen zu, desto mehr die Wanderungslinien mit denen des Urmenschen zusammen fallen (bei der annähernd gleichen Gestaltung der Erdoberfläche); je weiter zurück, desto weniger ist es zur Zeit noch möglich, diese Wanderungslinien auch nur annähernd zu bestimmen. Ueberhaupt aber bleibt in diesen Fragen einstweilen noch vieles dunkel ... .. [Danach wolle man S. 48 0. genauer fassen: Was steht der Annahme entgegen, dass vor ihm in ähnlicher Weise... . st. auf denselben Linien. ] Zu S. 143 unten. ... Kühnheit halten, das Wort, welches Kant nur zweifelnd und mit einer gewissen Beschränkung sprach, zu sagen: Gebt MIT aan Zu 8. 161. (Die Traditionen vom Paradies, der Sündfluth, dem Thurm- bau ete. constatiren für den Urstamm der Menschheit eine nicht gering anzuschlagende Ausbildung wie der gemüthlichen Seite überhaupt, so namentlich des religiösen Bewusstseins.) Denn die Vorstellungen, welche die grosse Fluth zu einem Strafgericht, die Sintfluth zu einer Sündfluth machten, wurzeln wie die Vorstellungen von der Erbsünde (wovon unten) und von dem T’hurmbau (worüber das Genauere Anfänge des Menschengeschlechts I. S. 140 if. II. S. 360) auf einem Grunde, der bereits eine nicht unbeträchtligh entwickelte Reflexion erkennen lässt und eine Höhe der Intelligenz, wie wir sie bei den heutigen Wilden nicht mehr vorfinden. Sie mussten also diesen Wilden in den gesunkenen Verhältnissen, ebenso wie der terrassirte Tempelbau, stellenweise abhanden kommen oder sich bis zur Unkenntlichkeit verwischen. Aber auch in der zerrissenen, entstellten und des Zusammen- hangs beraubten Gestalt, in welcher sich die Reste jener Tradi- tionen bei den Naturvölkern vorgefunden haben, sind sie der kräftigste Beweis für unsern Satz . Zum Sehlusse ersuche ich in meiner Schrift „Darwin und | die Sprachwissenschaft“ folgende sinnentstellende Druckfehler zu verbessern: S. 12, Umgekehrt lassen wir, um unser Unvermögen zu helfen und unsere Rathlosigkeit zu bezeichnen, den Kopf und die Brust sinken... (st: unserem). - Sal: Der Farbe auf der Haut ,.. st. oder Haut. Sollen sich also bei den Urmenschen . . . st. soll ich also, 1 [i ns 23 A en l/h: Aphabetisches Inhalts-Verzeichniss A. Seite Acclamatisirung 5) Affenmensch a Allmähliche Transmutation 20 ff. 57.176 America nicht der Schöpfungs- mittelpunet . Be Anthropocentrischer Stand- punct 31.115 Archimides . 143 . ten Entstehung der Arten . 25 Veränderlichkeit der Arten 14. 25 Constanz der Arten 25.78.73 Aussterben der Arten 30. 93. 94. 97 Asien die Urheimat der ge- _ sammten organischen Welt 52 Atome 140. 149. 191 Axiome =182 B. Bagehot . 286 Bastardirung . 29.95 du Bois-Reymond . . 141.144 ff. Seite Buckle . 208 Buttmann .17a (©8 Christenthum . 170. 183. 204 ff. Culminationstheorie . 28. 92.108 CGultur . . NH Rey „ reibt die Völker auf . 101 Culturwerth der Völker . 164 Cuvier . 13.32. 34. 36. 74.113 D. Darwin 11. 14. 32. 36. 62. 79. 110 117. 137. 143. 152. 155. 162. 171. 229. Descendenziehre . . . . . 1 Ihre Begründung . . . 7 Sie widerspricht nicht un- seren religiösen Gefühlen 11. 154 #, Ihre Verbindung mit dem Materialismus 151 ff. 230 Ihre Verbindung mit dem „neuen Glauben“ . 229 Die Descendenzlehre und die Unsterblichkeit der Seelen. un en et Die Descendenzlehre und die Moral 16 242 Seite Dialekte 02.2... ne ee Dogma 164. 170. 204. 214. 224 Dualismus . 1478. Dysteleologie „125 E. Embryologie . 7.60 Entwickelung der organischen Formen nieht nach und aus einander, sondern neben einander . es eh) Erbsünde 161. 183 Erde, ihre Jugend, ihr Alter, ihr Untergang . Ersatzmitteldes neuenGlaubens 215 F, Farbenzeichnung . . 124 Fortschritt . : 230. 234 Freiheit des Willens 126-184. 233 G. Gebet . SS Gehirn 85 ff. 144. 148 Geist des Menschen 23.79 ff. 108 Geoffroy St. Hilaire . 13 8.32 ff. 50. 57. 90. 95. 99 Gerland . 47. 62. 109. 125. 138 Gewissen N ol oerakeh) Glauben und Wissen 171. 181. 213 Gleichgewicht in der Natur 31.194 Goethe. . 138. 200. 208 Gottesbegriff 116. 168.173 ff. 180 ff. Gottesidee bei den Wilden 152. 160. 231 Geologische Urkunden E% Haarkleid beim Menschen . Häckel 34. 37. 65. 71. 87. 127. 139. i 152. 167. 232 . 28. 98. 97 ff. | „122| Seite v. Hartmann 122. 129. 131. 158. 228. 230 Hehn . 53.1355 Heterogene Zeugung . 60. 176 Himmelskörper bewohnt 30 Hindu-Kusch . 46. 56. 66 Höhlenmenschen in Europa 33. 70. 99 Huber . \ 126. 201 Hypothesen, ihr relativerWerth 209 l Idealismus . 150 Inspiration . al Instinct . 23.79. 82 fi. Inzucht 94 1: Kampf um das Dasein 15. 119. 232 Kant 3. 132 ff. 138. 199. 209 v. Kirchmann 132. 136. 149 Kreuzung 95 I Lamarck . 3.12 Lemuria . . 34. 46. 65 M. Mammut . . 19. 45. 50. 95 Mangold . 204. 223 Marpingen . 2283 Materialismus 24. 116. 144. 148. 150. 167. 184. 191. 227 Mechanische Naturanschauung 24. 115 ff. 127 ££. Mensch, das Ziel der Schöpfung 22. 26. 91. 106 £f. = stammt nicht vom Affen ab 33. 61. 65 ft. 90.177 „ und Thier 23.67. 80, 108. 155. 162. 196. 231 243 Seite Menschwerdung 61. 63 fl. 71. 177 Entwickelung und Ende der Menschheit . Skat Meyer, J. B. 150. 155. 182. 186. 196. 201 Moneren . N Monismus . 106. 119. 147 ff. Monotheismus . . 169 Müller, Friedr. . 87 N. Nationen, Entwickelung der- selben . ee 02. Naturvölker gesunken 101. 110. 160 Naturgesetze unabänderlich 126. 177 Newton . 141. 143 O. Offenbarung . 159. 186. 224 BD Peschel ea) Pessimismus 187. 231 Polytheismus . 169 Prädestination . Ale du Prel . 119. 129 Preyer . 141 Protisten 37 Q. de Quatrefages . 141 R. Rangordnung der Organismen 88 „ der Sprachen . 89 Rassen des Menschen 19. 87. 91. 98ff. Ratzel 70 Seite Religion, ihr Ursprung . . 154ff. gehört zum Wesen des Meuschen . . 158 ff. Entwickelung der Religion ” 169. 182 Kein Volk ohne Religion 205. 214 Religionsunterricht . 211 Rückschlagstendenz . 25. 78.121 Rudimentäre Organe. . 3.17.125 S« Schicksalsidee . . 181 Schiller, über Religion . als) Schleicher BR Schöpfung 9. 22.176. 212 Schöpfungsmittelpunct 34. 41 ff. 87 Sittliches Bewusstsein 162 fi. 225. 232 103. 219. 238 25 Socialismus . Spielart (Varietät) Sprache, ihre Entwickelung eine Wiederholung der or- ganischen Entwickelung Die Sprachenschichten Stammbaum der Sprachen 76. 100 Rangordnung der Sprachen 39 Sprachloser Urmensch 65. 71. Stammbaum der Organismen 63 ff. 76. 89 ff. 177 - 72 ff. 98 Steinthal 89. 131. 189 Stoff, der indifferente . 39.59 Stoff und Kraft 140.148. 191 Strauss 5. 56. 59. 67. 107. 112. 131. 150. 154 157 ft. 175. 188. 205. 215. 219 Sündfluth . 47.161 244 Te - Seite Teichmüller . 177.194 Teleologie 24. 115ff. 126. 127 ff. 153 Teufel Ä a ol Tod der Nationen. 101. 166 Tugend . 163 Tyndall . 146 U; Universum (Strauss) 131. 157. 175. 189. 218. 259 Unsterblichkeit der Seele 190 ff. Urform des organischenLebens 36 ff. Urheimat des Menschenge- schlechts 33. 46 Urmensch 63. 69. 71. 110. 160. 169 Ursprache des Menschenge- sehlechts 12.75 Urstamm der Menschheit, seine Cultur Urtypen . Urzeit, andere Bedingungen in derselben . 27.48.59 Urzeugung 12. 37 £. 118. 177 in dem erweiterten Sinne . ” 29 Ne VArUFUng. m et Unbegrenzte Variirung 25.28 Das umsetzende Verhält- . niss zwischen der Va- riirungs- und der Be- harrungstendenz . 28.58. 93 . 110. 161.169 | Zeit, die langen Zeiten in der 85. 88. 91.117 | | Seite Jede Variirung ein Sprung 59. Die Variirung springt frei hervor RR ORA Jede Variirung ein Schöpf- ungsact . . 176 Verbrecherstatistik . . 185 Vererbung „14. 28. 58. 82. 137 Vernunftreligion 71. 207 Virchow . . 70.123.142. 208 Vorsehung 176 137 1 182. 1 W. Wanderung der Organismen 19. 48, 61 IE 153. 178. 222. Weitzweck . Wunder Z. im Darwi- 10. 21. 26. 59. 92 60. 142 Geologie und nismus , Zeugung . Zittel . 52790398 Zuchtwahl, natürliche 16. 22. 25. 78. 117 ff. 121.231 ! künstliche 14. 25. 121 geschlechtliche , 17, 60. 120 ff. Zufall . 122. 126. 136. 137. 177.181 ” Zweckbegriff 114. 1150282 Zwischenformen 31H. 90.06 es vom Affen zum Menschen . 88. 69.71 Kgl. Hof-Buchdruckerei.von E.Mühlthaler in München, an87°