-- OMEOF . THE BOOKS OF 7n. ^^ ' *• 2- — DIE DESCENDENZTHEORIE GEMEDsYEESTANDLICHE YORLESUNGEN UBER DEN AUF- OD XIEDERGANG EINER NATUR- WISSENSCHAFTLICHEN HYPOTHESE GEHALTEN VOR STUDIEREXDEN ALLER FAKULTATEN VON Dr. ALBERT FLEISCHMAM O. 0. PKOFESSOK DER ZOOLOGIE UND VERGLEICHEXDEX ANATOMIE IN ERLAXGEN MIT 124 TEXTABBILDUXGEN LEIPZIG VERLAG VON ARTHUR GEORG1 1901 Truck von C. Grurnbach in Leipzig. ^~ >\s LIlHAUVjS 1 Vonvort, Vor Jahresfrist habe ich vor einem groBeren Horerkreise einen Cyklus von Vorlesungen liber den gegenwartigen Stand der De- scendenztheorie gehalten. Von verschiedenen Seiten aufgefordert, lasse ich dieselben im Druck erscheinen und hoffe so fiir meinen Teil auch litterarisch beizutragen, dass die falschen Ansichten von dem wissenschaftlichen Werte dieser Theorie zerstort werden. Ohnehin sind die sachlichen und logischen Griinde, welche Einige der Jiingeren uuter den Zoologen bestimmen, die Eichtigkeit der verfiihrerischen Lehre zu bezweifeln, seit langerem nicht mehr. in zusammenfassender Form vorgefiikrt worden. Mogen diese Vor- lesimgen die Liicke ausfiillen und die Sicherheit eines Standpunktes erweisen, welchen man bisher nur mit Achselzucken zu betrachten sich berechtigt fiihlte! Das Anrecht auf eine MeinungsauBerung in dieser Frage glaube ich mir personlich um so mehr zusprechen zu durfen, als ich lange Jahre zu den ,,begeisterten Jiingern" der Entwickelungslehre zahlte und eine ,,Reihe von Arbeiten iiber Entwickelungsgeschichte ge- schrieben habe, die ganz auf dem Boden der Descendenztheorie stehen."1) Allein je mehr ich mich in die vermeintlichen Beweis- griinde derselben vertiefte und durch Spezialuntersuchungen positive Anhaltspunkte fiir die Stammesverwandtschaft der Tiere zu gewinnen suchte, um so klarer stellte sich mir die Erkenntnis heraus, dass jene Theorie eben doch mehr nur ein bestrickender, Ergebnisse und Aufklarung vortauschender Roman sei, als eine auf positiven Grund- lagen aufgebaute Lehre. Die Wandlung meiner Ansicht, welche ich zuerst durch eine offentliche Vorlesung im Winter 1891/92 bekannte und spatej in meinem Lehrbuche der Zoologie2) vertrat, hat bei Vielen im descendenz-theoretischen Lager Staunen und Unwillen hervorgerufen. Insbesondere hat E. Haeckel meine Stellungnahme verdonnert und zugleich mit folgendeu Siitzen schniahlichen Verdacht auf mich zu lenken versucht3): 1) E. Haeckel, Jenaische Zeitschrift. 1898. Bd. 31. S. 470. 2) Wiesbaden, C. W. Kreidel, 1898. 3) E. Haeckel, Aufsteigende und absteigende Zoologie. Jenaische Zeit- schrift 1898. Bd. 31. Seite 470. IV Vorwort. ,,Dr. Fleischmann war spezieller Schiiler und Assistent des ausgezeichneteu Zoologen Selenka und vertrat seine Stelle in Erlangen mehrere Jahre wahrend dessen ausgedehnten Reisen; nachdem Selenka seine Professur vor zwei Jahren niedergelegt hatte, scheint Fleischmann jetzt definitiv zu seineni Nachfolger bestimmt zu sein. Vielleicht steht die in- zwischen erfolgte ,Bekehrung' damit in ursachlichem Zusanamen- hang? Jedeufalls wiirde dann der dringende, noch irn Vor- jahre ausgesprochene Herzenswunsch des bayrischen Landtags erfiillt, dass die Naturwissenschaft endlich umkehre, und dass man als ihre Vertreter keine ,Darwinisten' mehr anstelle. Da an alien anderen Universitiiten die Entwickelungslehre fiir Zoologie wie fiir Botanik die Grundlage bildet, so wird dann das rechtglaubige Erlangen um so strahlender als kindliche Vertreterin des naiven ,Sch6pfungsglaubens' in dieser Wissen- schaft glanzen, unbefleckt von sleep tischer Spekulation und kausaler Erkenntuis. " "Woher nahrn der Mann, dem meine Personlichkeit vollig un- bekannt ist, das Recht, die Reinheit meines wissenschaftlichen TJrteils zu bezweifeln? Doch wohl nur aus der Verranntheit in den Glauben an die allein selig machende Kraft seiner tkeoretischen Dogmen, in der er sich zu sagen erlaubt, wer hier nicht folge, den konnten bloB auBere, unlautere Griinde zuriickhalten. Dass es aber Letite giebt, welche deshalb nicht folgen, weil sie kritischer und besonnener siucl als andere und weil sie die lediglich der iiber- reizten Phantasie entsprungenen Satze wohl unterscheiden von wissenschaftlich erwiesenen Lehren, scheint E. Haeckel weniger fasslich. Wenn ich der Darwin-Haeckel'schen Hjpothese u'ber die Stammesverwandtschaft uud die Entstehung der Tierarten nicht bei- pflichte, will ich nicht das gerade Gegenteil derselben lehren. Mein Ziel ist kein anderes als festzulegen, dass wir die Frage als jenseits des Gebietes exakter Analyse stehend zu erachten und die Unzulassig- keit der stamrnesgeschichtlichen Hypothese fiir jedermann offen- kundig zu halten haben. Der Naturforscher kann exakt bloB iiber diejenigen Organismen und Erscheinungen reclen, welche er wirklich beobachtet. Die Individuen der jetzt lebenden, die Reste der ver- storbenen und fossilen Tierarten bilden fiir den Zoologen Quelle und Objekt der wissenschaftlichen Arbeit. Dasselbe ist als gegeben hinzunehmen und kann ebenso wenig genetisch erkliirt werden, als der Physiker die Entstehung der mechauischen Gesetze und der Chemiker die Bildung der Elernente erklaren will. Sobald der Naturforscher von liingst verflossenen Geschehnissen, wie der Ent- Vorwort. V stehung der Tierarten spricht, denen weder er noch em anderer Augenzeuge beigewohnt hat, verlasst er eigentlich sein Fachgebiet. Damit soil die Reflexion iiber solche Probleme keineswegs als un- berechtigt bezeichnet werden; der Menschengeist wird fort und fort iiber die Grenzen der greifbaren und sichtbaren Wirklichkeit hinaus driingen und der Losung der Weltratsel durch Hypotbesen naher zu kommen suchen. Aber im Gegensatze zur modernen Uber- schatzung der Descendenzhypothese "will ich laut davor warnen, die- selbe als gesicherte Voraussetzung weiterer wissenschaftlicher Arbeit anzusehen, damit nicht langer noch aus der falschen Pramisse ganzlich unhaltbare Schliisse abgeleitet werden. Der Vorwurf Haeckel 's, ich sei .,vom krassen Darwinistischeii Unglauben zum fromrnen Glauben an die imabhangige Erschaffung der einzelnen unveranderten Arten bekehrt worden", beriihrt mich nicht. Er ist ein dialektischer Kniff zur Bekainpfung eines Gegners, den sachlich zu widerlegen man sich die Miihe sparen mochte, und ungehorig in der Diskussion wissenschaftlich gerechter Manner, welche die Stichhaltigkeit ihrer Meinung nur nach dem Gewicht der sachlichen Griinde werden erproben wollen. Eine groBe Gefahr meines Widerspmches sieht Haeckel darin, dass ,,alle Gegner unserer modernen Entwickelungslehre - - vor allem die orthodoxen Theologen und die teleologischen Philosophen niein Lehrbuch als eine griindliche Widerlegung der Darwin'schen Irrlehren begriiBen wiirden". Haeckel's schiefe Auffassung der Streitpunkte (vergl. S. 34 — 37) tritt in diesem Satze klar zu Tage. Er hat sich immer so geberdet, als sei die Billigung der Descendenz- theorie ein untriigliches Zeichen liberaler Gesinnung und hat die Kritik seines Idols besonders wegen des Frohlockens verabscheut, mit welchem seine politischen Gegner die sachliche Opposition betrachten werden. Da das gleiche Bedenkeu auch von anderen Anhiingern der stammesgeschichtlichen Schule geteilt wird, er- klare ich auf das bestimmteste, dass ich die Berechtigung des Entwickelungsgedankens lediglich auf dem sachlichen Gebiete meines Faches gepriift babe, unbekiimmert um alle Kon- sequenzen. Nach meiner Uberzeugung hat der Fachuiann, be- sonders derjenige, dem die - Gott sei Dank noch unabhangige Stellung des Universitatsprofessors beschieden ist, die moralische Pflicht, das Eesultat seines Nachdenkens ohne Riicksicht auf jede auBerwissenschaftliche Folgerung darzulegen. Als der geschworene Zeuge ehrlichen Strebens nach Erkenntnis wird er von keiner Erwagung beriihrt, welche Konsequenzen fiir religiose, politische, soziale Verhaltnisse daraus gezogen werden mochten. Frei von jeglichem Parteiinteresse spreche ich auf den folgenden Bogen Vorwort. aus, was ernstlich und objektiv betriebene Studien mir als sicheres Ergebnis erscheinen lassen. Soweit es fiir cincn Kreis nicht fachmannisch geschulter Zu- horer moglich 1st, habe ich in meinen Vorlesungen die Beweismittel der Descendenztheorie, welche sich auf die Ergebnisse der ver- gleichenden Anatomic, Palaontologie und Eutwicklungsgeschichte stiitzen, einer kritischen Betrachtung unterzogen und war mir stets bewusst, dass die Darstellung mehr eine Skizze bleiben werde und nicht so eingeheiid sein diirfe, als ich es selbst wiinschte. Erschopfende Ausfiihrlichkeit kann bei Vorlesungen vor einer grb'sseren Schar eben niemals erreicht werden, weil in der kurzen Zeit, welche der Laie fiir die Beschaftigung mit einem freniden Wissensgebiet aufwenden will, die liebevoll ins einzelne dringende Arbeit des Fachgelehrten nicht zu leisten ist. Ich hoffe aber durch die Be- sprechung ausgewahlter Probleme der Stammesgeschichte die falsche popularisierende Weiso vermieden zu haben, welche die Schwierig- keiten einer wissenschaftlichen Frage absichtlich ubergeht. Auch bei der nachtraglichen Redaktion leitete mich das bestimmte Verlangen, dass der Leser meine ohne Aufwand eiues groBen, gelehrten Apparates einfach stilisierten Ausfiihrungen wirklich nachdenke. Wenn ich vielfach Ausschnitte aus den Abhandlungen der Fachgelehrten, gewissermaBen offizielle Aktenstiicke der wissen- schaftlichen Diskussiou eingefligt habe, welche dem Leser einen Einblick in die Ratlosigkeit der ganzen stammesgeschichtlichen Schule gestatten, so geschah es, urn deni Vorwurfe zu begegnen, als plagten niich allein unter alien Fachgenossen die skeptischen Zweifel an der herrschenden Modetheorie. Das Stenogramm hat wenig redaktionelle Anderungen fiir den Druck erfahren, weil ich das in der Urspriinglichkeit der freien Rede liegende personliche Moment nicht verwischen wollte. Nur manche Abschnitte, die an der Hand der natiirlichen Objekte leicht ausfuhrlich dargestellt werden konnen, wahrend der gedruckte Bericht wegen des niemals auszugleichenden Mangels von Demonstrations- praparaten groBe Weitschweifigkeit erheischt, sind mit Riicksicht auf den Umfang des Buches stark gekiirzt worden. Mein Lehrer und vaterlicher Freund Prof. E. Selenka hat mir die Benutzung der Cliches seines im gleichen Verlage er- schienenen zoologischen Taschenbuches in liebenswiirdiger Weise gestattet. Ihm sei auch an dieser Stelle warmer Dank gesagt. Erlangen, 18. Oktober 1900. A. Fleisckmaim. ', • «» :.:. i J -. • -3 N .' . ' ' ' ' Inlialt, Seite Erstes Kapitel. Einleitung 1 Zweites Kapitel. Die Typen des Tierreiches Drittes Kapitel. Der Banplan der GliedmaBen 33 Viertes Kapitel. Fingerhand und Fischflosse 49 Fiinftes Kapitel. Das wParadepferd" der Descendenztheorie 62 Sechstes Kapitel. Die Stammesgeschichte der Yogel. Der Urgreifvogel 88 Siebentes Kapitel. Die Wurzeln des Saugetierstammes 106 Achtes Kapitel. Die Entstehung der lungenatmenden "Wirbeltiere 121 Neuntes Kapitel. Die Stammesgeschichte der Arthropoden . 132 Zehntes Kapitel. Die palaeontologische Entwicklung einer SiiGwasserschnecke 147 Elftes Kapitel. Das eigentliche phylogenetische Problem der Mollusken 171 Zwolftes Kapitel. Die Entstehung der Stachelhauter 182 Dreizehntes Kapitel. Das Licht der Entwicklungsgeschichte 199 Vierzehntes Kapitel. Die Ausnahmen des biogenetischen Grundgesetzes 217 Fiinfzehntes Kapitel. Der Zusammenbrnch der Haeckelschen Doctrin 235 Sechzehntes Kapitel. Der Entwicklungsgedanke und die logischen Gesetze 253 /i <> Erstes Kapitel. Einleitung. Falscbe Meinungen berrscben iiber den Wert der Descendenz- tbeorie, die auf zoologiscber Basis vor vierzig Jahren neu be- griindet wurde und vielen Menscben so groBartig erschien, dass sie sebr rascb eine Wirkung auf andere Wissenscbaften ausiibte, in alle Scbicbten der Bevolkerung eindrang und dem letzten Drittel des scbeidenden Jabrbunderts den Titel der Darwin'scben Epoche der Kulturgescbicbte verlieb. Es bedarf beutzutage keiner umstandlichen Beweisfiibrung, um die Herrscbaft dieser Lebre zu erweisen; denn jeder von Ibnen bat es genugsam erfabren, dass uberall das Be- streben berrscbt, wissenscbaftlicbe Lebrmeinungen oder Ansicbten des Tageslebens durcb den Hinweis auf die Werke Darwin's und seiner Scbule zu begriinden. In der Tbat ist der Zauber, den die moderne Abstammungs- lebre auf jedes begeisterungsfabige Menscbenkiud ausiibt, unbescbreib- licb stark. Keine andere wissenscbaftlicbe Hypotbese vermag in gleicher Weise alle Faden unseres Denkeus zu umfangen und uns in ibren Ideenkreis zu bannen. Das Problem von der laugst verrauscbten Ur- gescbicbte unseres eigenen Gescblecbtes, die Frage, wie der Menscb auf Erden entstanden, aus welcbeu Uranfangen er sicb zum Glanze der Kultur des neuuzebnten Jabrbunderts emporgescbwungen bat, taucbt irgend einmal am Gedankenborizonte jedes denkenden Mannes auf und beiscbt gebieteriscb den Losungsversucb. Eine bestimmte von naturwissenscbaftlicber Seite erteilte Antwort wircl umso glaubiger hingenommen , je mebr sie verwandte Eriunerungen aus der Kinderzeit wacbruft, wo wir alle dem Reize einer langst ent- scbwundenen Marcbenwelt unterlagen und die Pracbt des goldenen Zeitalters der Menscbbeit fast greifbar vor unseren Augen saben. Vollstandig kann sicb keiner dem Bannkreise dieser Vorstellungen entzieben; mag aucb der gereifte Mann lacbelnd auf die kindlicben Legenden berabblicken, die Vorliebe fiir sagenbafte Erziiblungen baftet ihm trotzdem an. Gerade in unseren Tagen , die so gerne als das aufgeklarte niichterne Zeitalter gepriesen werden, bat die 3?leis chmann, Descendenztheorie. 1 2 Erstcs Kapitel. Sagenwelt ihr Recht auf dein naturwissenschaftlichen Gebiete be- bauptet. Sie konnen es in vielen wissenscbaftlichen Werken lesen: die bochste Aufgabo menschlicher Forschung sei die Frage nach dem, was wir nicbt wissen konneu, namlich nach der Ver- gangenbeit der Menschen- und Tiergeschlecbter jenseits der ge- scbicbtlicben Morgenrote; die Frage, wie sind die organiscben Wesen geworden, was sie sind, miisse den denkenden Geist mehr beschaftigeii, als die Kenntnisnabuie der Gegenwart. Die modern e, von wissenscbaftlicben Forscbern vertretene Ant- wort kliugt an uralte Gedankengiinge an und zeigt dadurcb, wie tief ina menscblicben Geiste das Sebnen nacb unmoglicher Erkenntnis wurzelt. Auf Grund von Naturbeobacbtungen , welcben die Unter- stiitzung durcb die vortrefflichen moderneu Instrunieute mangelte, batten sicb griecbiscbe Pbilosopben eine Ant wort zurecbt gelegt, die darin mit der beute geltenden Meinung iibereinstimmt, dass sie von der Annahme ausgeht, die friibereu Zustande des Menscben und der Tiere auf Erden seien total audere gewesen, als die moderueUj uns vertrauten Verbaltnisse. Der kiibne Denker des Altertumes, Anaxinaandros aus Milet, welcber eineu von uns nicbt genauer zu bestimmenden Stoff - das Unendlicbe genannt - - als den Urgrund aller Dinge bezeicbnete, sucbte die Entstebung der Tiere in folgender "Weise zu erklaren. Zuerst, meinte er, seien die Tiere ini Wasser, welcbes die gauze Erdkugel umgeben babe, emStanden. Sie seien mit einer stacbeligen Rinde uingeben gewesen. Mit fortscbreitendem Alter seien sie auf das Land gestiegen und batten, indem die Rinde geborsten sei, in kurzer Zeit ibre Lebensweise geandert. Also ist die Umwandlung der Seetiere in Landbewobner offenbar gelebrt und mit hocbst naiver Logik als sicber bewiesen biugestellt worden. Ebenso sind die Menscben nacb seiner Ansicbt aus andersartigen Tieren entstanden. Als Beweis fiibrt Anasimander an, dass die Tiere sicb rascb selbst ernabren, wahrend der Menscb einer langen Wartuug bediirfe, so dass er wobl nicbt, wenn er am Anfange so bilflos bescbaffen ge- weseu wiire, wie er jetzt geboren wird, sicb biitte erbalten konnen. Die ersten Menscben entstanden in Fiscben, wurden ernabrt, und nacbdem sie die Fa'higkeit, sicb selbst zu belfen , erworben batten, wurden sie ausgeworfen und lebten auf dem Lande, anfangs selbst nocb abnlicb einem Fiscbe. Der Fiscb wurde aucb als Speise ver- boten, weil er zugleicb Vater und Mutter der Menscben sei. Solcbe in bocbst naiver Form ausgesprocbenen Ansicbten der Alten, deren Vertreter icb jetzt nicbt nambaft macben will, habeu merkwiirdigerweise vor unseren Augen einen grossartigen Triumpb gefeiert, nacbdem sie lange Jabrbunderte durcb die in den beiligen Einleitung. 3 Religionsschriften der Juden enthaltene Schopfungsgeschichte ver- driingt gewesen waren, welche ebenso naiv die Bestandigkeit der heute vorhandenen Tier- und Pflanzeuarten vom Weltenanfang an berichtete und fiir die gesamte Lebewelt einen mit den wirklichen Verhaltnissen ganzlich unvereinbaren paradiesischen Friedenszustand vor clem Siindenfalle lehrte. Da die unerhorte Machtsteigerung der christlichen Lehre den offentlichen Zweifel an dem mosaischen Berichte lange untersagte, regte sich kein Widerspruch der gelehrten Kreise, bis durch die experimentelle Reform der Naturbeobachtung im 17. und 18. Jahrhundert der Autoritatsglaube vernichtet und die kritische Methode in der Naturwissenschaft eingebiirgert wurde. Seit dem Jahre 1756 lassen sich hie und da einzelne Wort- fiihrer horen, welche die Ideen der griechischen Philosophen, sicher ohne Kenntuis derselben und ohne das klare Bewusstseiu , in alten Gedankenfahrten zu wandeln, von neuem verkimden. Sie fanden jedoch unter den Fachgenossen keinen Anklang, weil das Haupt- interesse der damaligen Zoologen auf die von Linne vorgezeichneten systematischen Arbeiten gerichtet war. Mehr als hundert Jahre (1748 — 1859) herrschte namlich die Ansicht, dass die wichtigste Auf- gabe des Zoologen darin bestehe, die lebenden Tiere zu sammeln, ihr Ausseheu moglichst genau zu beschreiben und nach richtig ge- wahlten Merkmalen in die Gruppenbegriffe des Linne'schen Systemes einzuordnen. t^ber dieseni wissenschaftlichen Arbeitsplane stand durch Linne s Autoritat geschiitzt die mosaische Lehre von der Unveranderlichkeit der Tier- und Pflanzenarteu. Die einseitig klassifizierende Richtung hatte in der ersten Halfte unseres Jahrhunderts eine groBe Ode und Eintonigkeit der zoologischen Arbeit hervorgerufen, welche aus der Litteratur jener Zeit langweilig genug spricht. Nutzlose Streitigkeiten iiber eine be- friedigende Einteilung der groBen Tiergruppen und die richtige Eeihen- folge der Ordnungen, Familien und Gattungen, unerfreuliche Dis- kussionen iiber die Bedeutung eines trennenden Merkmals, iiber den Geltungsbereich einer systematischen Art, iiber den Unterschied zwischen Arten und Varietateu u. a. beanspruchen darin einen groBen Raurn. Da legte Charles Darwin durch sein beriihmtes Buch : Die Entstehung der Arten durch natiirliche Zuchtwahl im Jahre 1859 er- folgreichen Protest ein, indem er die bisher bloB als unterscheidende Merkmale betrachteten Eigenschaften der Tiere als Schriftspuren einer uralten, von der Natur selbst aufgezeichneten Urkunde be- handelte , welche iiber die Stammesgeschichte oder wie man auch sagt: die Phylogenie der Organismen Aufkliirung verbreiten konne. In den Augen der damaligen Professoren der Zoologie 1* 4 Erstcs Kapitel. war scin Versuch ein unerkorter Frevel und die darauf folgende Er- rcgung der wissenscbaftlicken Meinung auBerorclcntlich stark. Denn Darwin's Beginncn bedeutete die Kriegserklarang an zwei bisher kaum bezweifelte zoologische Dogmen: 1. an das Dogma der Unveranderlickkeit der Arten; 2. an die Typentheorie. Die letztere, von demfranzosiscken Anatomen Cuvier begriindet, lekrte, dass es im Tierreich vier sogenannte Typen gebe, vier groBe Hauptzweige der Korpergestaltung, deren Glieder nach einem ge- ineiusamen Bauplan modelliert zu sein scheinen, also formvenvandt sincl und nur durcJi leichte, auf die Entwickelung oder das Hinzu- treten einzelner Teile gegriindete Modifikationen sich unterscheiden, ohue dass an der "Wesenheit des Planes etwas geandert ist, wakrend sie von an deren Typen grundsatzlich durch unausfiillbare Spalten getreuut seien. Als solche Typen hatte Cuvier aufgestellt: 1. Die Wirbeltiere, d. h. die Fische, Ampkibien, Reptilien, Vogel und Siiugetiere; 2. die Weichtiere, Muscheln, Schnecken und Tintenfiscke ; 3. die Gliedertiere, Insekten, Spinnen, Krebse, Glieder- wiirmer. 4. Radiartiere, Stackelkauter, Eiugeweidewurmer, Meduseu, Polypen, Infusorien. Darwin dagegen hehauptete in Anlelinung an den franzosischen Zoologen Lam ark, die Organisatioustypen seieii nicht so scliarf getrenut, wie Cuvier angenommen habe, sie seien vielinelir durch Umbildung aus einander kervorgegaiigen, ikre Vertreter seien durck Blutsbande verkniipft, das ganze Tierreick selbst sei ein einkeit- licker Lebensbaum, den er mit poetisckem Sckwunge sckilderte1): ,,Die Verwandtsckaften aller Wesen eiuer Klasse sind mauckmal in Form eines groBeu Baumes dargestellt worden. Ick glaube, dieses Bild entsprickt sekr der Wakrkeit. Die griinen und kuospenden Zweige stellen die jetzigeu Arteu und die in jedem vorangekenden Jakre entstandeuen die lange Aufeinanderfolge erlosckener Arten dar. In jeder Wackstumsperiode kaben alle wackseuden Zweige nack alien Seiteu kin auszutreiben uud die umgebenden Zweige und Aste zu iiberwacksen und zu imterdriicken gestrebt. Die groBeu, in Zweige geteilteu Aste waren zur Zeit, wo der Stamm nock Jung war, selbst kuospeude Zweige geweseu. Von den vielen Zweigen, welcke munter gediekeu, als der Baum nock ein bloBer Busck war, 1; Ch. Darwin, Die Entstehung der Arten durch natiirliche Zuchtwabl. Stuttgart 1860. p. 140. Einleitung. 5 leben nur noch zwei oder drei, die jetzt als machtige Aste alle anderen Verzweigungen abgebeu, und so haben von den Arten, welche in langst vergangenen Zeiten lebten, nur sehr wenige noch lebende und abgeanderte Nach- kornmen. Yon der ersten Entwickelung eines Baumes an ist mancher Ast und mancher Zweig verdorrt und ver- schwunden, und diese verlorenen Aste von verschiedener GroBe mogen jene ganzen Ordnungen, Familien und Gattungeu vorstelleu, welche, nur im fossilen Zustande bekanntj keine lebeuden Vertreter mehr haben. Wie wir hier und da eiuen vereinzelteu diiuuen Zweig aus einer Gabelteiluug tief unten am Stamme hervorkommen sehen, welcher durch Zufall begiinstigt an seiner Spitze noch fortlebt, so sehen wir zuweilen ein Tier, wie das Schnabel- tier, das durch seine Verwandtschaften gewissermaBen zwei groBe Zweige der belebteu Welt miteinander verbindet. Wie Kuospen durch Wachstum neue Knospeu hervor- briugen und wie auch diese wieder, wenn sie kraftig sind, nach alien Seiten ausragen und viele schwachere Zweige iiberwachsen, so ist es, wie ich glaube, durch Zeugung mit dem grofien Baume des Lebens ergangen. der mit seinen toten und gebrochenen Asten die Erdriude erflillt und mit seinen herrlichen und sich noch immer weiter teilenden Verzweigungeu ihre Oberfliiche bekleidet." Durch diesen Ausschnitt wollte ich Sie selbst die verfiihrerische Wirkuug erfahren lassen, welche den Schrifteu Darwin's anhaftet und eiue ungeheure Zahl von Gelehrteu in den Banukreis der Ab- stammungslehre gezogen hat. Ware Darwin selbstbewusst mit be- stimmt pracisierten Behauptungen aufgetreteu, etwa wie Ok en sein naturphilosophisches System entwickelt hat, so hatte er sicher den grossen Einfluss auf seine Zeitgenossen nicht erlangt. Aber seine bescheideue Ausdrucksweise, die oft bis aufs Unertragliche gesteigerte Manier, die eigene Ausicht durch eine Masse von gegen- teiligen Eiuwanden zu bekampfen, der Widerlegung der Gegen- griinde einen groBen Raum zu gonnen und schlieBlich der urspriing- lich ausgesprochenen Meinuug beizupflichten, regte die Leser zur Vertiefung in Einzelfragen und damit zu neuer wisseuschaftlicher Arbeit an. Voll Begeisterung waudte sich eine groBe Zahl von jungen und tiichtigeu Forschern der Aufgabe zu, durch das vergleichende Stadium der anatomischen, entv/ickeluugsgeschichtlichen und biolo- gischen Thatsachen die Beweise fiir die neue Auffassung zu sichten. Wahrend friiher nur die trennendeu Momente betont worden waren, 6 Erstcs Kapitcl. strebte jetzt jecler die unterscheidenden Merkmale zwischen den weiten Tiertypen und den engeren systematischen Gruppen, z. B. zwischen Wirbcltieren und Gliederwurinern, zwischen Vogeln und Eidechsen, zwischeu dem Menscheu uud den Affeu ihres treunenden Wertes zu eutkleiden und die zwischen diesen Gruppen bestehendeu Ahulich- keiten als besouders bedeutungsvoll zu besprechen. So begauu die sachliche Prlifung der Darwin'schcn Speku- lation innerhalb des exakten Gebietes der zoologischen Fach- wissenschaft uud zwar nach zweierlei Richtuugen: einerseits wurde die Frage untersucht, ob eine Entwicklung iiberhaupt stattgefunden habe, also ob eine wirkliche Blutsverwandtschaft zwischen den systematischen Gruppen des Tierreiches besteht, audererseits nach den Ursachen geforscht, welche fiir die ziichtende Umbildung maBgebeud geweseu sein kouuten. Ich werde in den folgendeu Yoiiesungen nur die erste Frage behancleln, weil die Zuchtwahltheorie unter den Gebildeteu niemals so groBes Interesse, als die Abstammungslehre erweckt hat, und weil sie in der urspriiuglichen Fassuug heute von verhaltuismaBig wenigen Gelehrten vertreten wird. Darwin's Erklarungsversuch, wie durch Zuchtwahl die Umbilduug der Tierarteu moglich gewesen seiii konne, hat bereits die Anuahme zur Voraussetzung, dass alle Lebe- wesen blutsverwandt seieu, und dass die hoher Organisierten von niederen und einfacher gebauten abstammen. Da diese Voraus- setzung mir iiberhaupt nicht hinreichend begriindet erscheint, will ich die Fundamente der Abstammungslehre allein besprechen. Zwischen den Gelehrten, welche sich seit vierzig Jahren ab- niuhen, eiue bestimmte Vorstellung iiber Vorgauge aus laugst entschwundeuer Zeit zu gewinneu , machten sich bald lebhafte Meiuuugsverschiedenheiten geltend und spalteten das Gros der Natur- forscher in zwei Parteien. Die Freunde l) der Abstammungslehre waren iiberzeugt, dass ,,die Grundlage der Darwin'schen Lehre, die Descendenzhypothese, die eiuzige heutzutage berechtigte wissen- schaftliche Annahme iiber die Entstehung der organischen Fornien ist, dass demnach wissenschaftliche Diskussionen es uur uoch mit der Darwin'schen Theorie selbst zu thun habeu kounten, nicht aber mit deren Grundlage" . Die anderen dagegen wollten zuvor schlageude Beweisgriinde fiir die Blutsverwaudtschaft der Tiere horen, ehe sie sich der . neu verkiindeten Lamark'scheu Umwandlungslehre an- schlieBen konnteu. Diese Parteieu siud bis heute bestehen ge- blieben, obgleich die Stiirkezahl ihrer Mitglieder manuigfachen J) Vergl. A. Weismann , Ubcr die Berechtigung der Darwinschcn Theorie. Akademischer Vortrag, gehalten am 8. Juli 1868 in der Aula der Universitiit Freiburg i. Br. Leipzig, W. Engelmann 1868. Vorwort p. Ill, Zeile 11 — 15. Einleitung. Sckwaiikimgen unterworfeu war. Wahrend der Jahre 1860 — 1870 mochten wohl die Gegner der Lehre iiberwogen baben ; dann anderte sich das Verbaltuis zu Gunsten der Aubanger. Aber seit einem Jabrzebnte gewinnt es den Anscbein, als sei die Zabl der direkt widersprecbendeu oder aucb der gleicbgiiltig gewordenen Gelebrteu im Zunebmen begriften. Es ware jedocb vollkommen verkebrt, wollte man die Kicbtigkeit einer wissenscbaftlicben Tbeorie scblecbt- bin nacb der Zabl ibrer Aubanger beurteileu; deuu die Kultur- gescbicbte lebrt uns viele Beispiele kenuen, dass ganze Generationen von gelebrten Manuern Bebauptungen fiir wabr gebalten mid rnit dem Aufgebote bocbsten Scbarfsinnes verteidigt baben, welcbe beute eiu Laie als uuricbtig verlacbt. Der Streit zwiscben beiden Parteien ist mitunter auBerordent- licb beftig geworden uud bat viele Feiudscbaft zwiscben die Genossen gemeinsamer Arbeit getragen. AktenmaBig lassen sicb freilicb solcbe Vorfalle scbwer nacbweiseu, weil die kritiscben Epitbeta, welcbe wissenscbaftlicbe Forscber den Vertretern einer anderen Ausicbt zuerkennen, gliicklicberweise selten durcb die Bucbdruckerkunst der Nacbwelt iiberliefert werden. Damit Sie selbst errnessen konneu, wie bocbgradig die Erregung durcb die tbeoretiscbe Meinungs- verscbiedenbeit gesteigert wurde, will icb Ibneu aus einern Streite, der zwiscben den Professoren E. Hackel in Jena, Carl Semper in Wiirzburg, V. Hen sen in Kiel, "W". His in Leipzig eutbrannte, einige Scenen vorfiibren. W. His und A. Goette batten es gewagt, gegen Hackel's Auffassung der Eutwickelungsgescbicbte zu opponieren. Desbalb bedacbte sie der Sacbwalter1) der Eutwickeluugstbeorie mit folgender Kritik : ,.Wir wiirden diese unglanblicbe Robeit pbysiologiscber und morpbologiscber Vorstelluugeu fiir uubegreiflicb balten (— • be- sonders bei einem Auatomen (His), der die Vorlesungen von Jobannes Miiller, Robert Remak, Rudolf Vircbow und Albert Ko Hiker gebort bat -) weun wir sie uus nicbt bin- reicbend durcb den beberrscbendeu Einfluss des ,.bocbverebrteu" Carl Ludwig (Professor der Pbysiologie in Leipzig) erklarenkonnten. Dieser ,.grosse Pbysiologe", welcbem Wilbelm His ,,Uusere Korper- form" gewidniet bat, zeicbnet sicb bekanntlicb ebenso sebr durcb seine Tecbnik in der Kunst des Experimentiereus und durcb siuu- reicbe Erfiudung pbysiologiscber Apparate, wie durcb die naive Robeit seiner allgemeinen biologiscbeu Anscbauimgeu uud durcb l) Hackel, Ziele und Wege der heutigen EDtwicklungsgescbiclite. Jenaische Zeitschrift fiir Naturwissenschaften. 10. Bd. 1876. p. 34, p. 45, p. 58, p. 71. 8 Erstes Kapitel. seine sprichwortliche Unbckanntschaft mit dem Gesamtgebiete tier Morphologic aus.u ,,Weim His die Schriften Immanuel Kant's oder auch nur cinnial die iuduktive Logik von Stuart Mill gesehen hatte (was ilm iiberhaupt vor vielen Fehlern bewahrt haben wiirde), so wiirde er auch richtigere Ansichten liber den Wert der Induktions- und Deduktionsschlu'sse besitzen. Da ihm jedoch das Verstandnis fiir philosophische Verstaudesoperationen iiberhaupt fehlt, so erscheiut auch hieriiber eine weitere Auseinandersetzung iiberfliissig." — Tiber Alexander Gotte, Professor der Zoologie in StraBburg, der 1875 die ,,Entwickelungsgeschichte der Unke als Grundlage einer vergleichenden Morphologie der Wirbeltiere" herausgegebeu hatte, fiillt Hackel folgendes Urteil: „ Welcher bodenlose Unsinn, welche unbegreiflichen Widerspriiche in den angefiihrten und vielen ahnlichen Satzen angehiiuft sind, brauche ich wohl kaum ausdriicklich hervorzuhebeu." ,,Wenn wir freilich erwiigen, dass die morphologische ,,Ver- gleichung" eine philosophische Verstandesoperation ist, die um so mehr Urteil, Vorsicht und allgemeine morphologische Bildung er- fordert, je verwickelter die zu vergleichenden Objekte sind; und wenn wir uns dann wieder der oben mitgeteilten gottlichen Proben Gb'tte'scher Philosophie erinnern, dann werdeu wir uns iiber keine ,,Vergleichung" desselben mehr wundern. In der That haben viele Vergleichungen von Gotte einen iihnlichen Wert, wie der oben von mir angezogene Vergleich des Tiereies mit einem Knallbonbon." - ,,Hier versagt mir die Feder! Ich hoffe, dem Leser reiBt mit mir der Faden der Geduld, und er stimmt mir bei, wenn ich er- kliire, dass eine gleich anspruchsvolle und sinnlose AnmaBung in der Wissenschaft unerhort ist und die harteste Zuchtigung vor deren offentlichem Forum verdient! Ein vollig unklarer und un- reifer Handlanger der Wissenschaft, dem jedes tiefere Verstandnis fiir deren Ziele und Wege abgeht. wagt es, den anerkannt groBten Meister derselben (Carl Ernst von Baer), auf dessen Schultern wir alle stehen, dariiber zu belehren, dass er seine eigenen wich- tigsten, von ihm selbst erst festgestellten Grundbegrifte nicht ver- stehe, und dass sie eigentlich ihr Gegenteil bedeuten!" - Da die Gegner der Descendenztheorie damals hiiufig Louis Agassiz als die erste Autoritiit auf dem Gebiete der Entwickelungs- geschichte anfuhrten und behaupteten, derselbe als ,,grundlichster Kenner" dieser Wissenschaft habe die ,,grofie Irrlehre" Darwin's liingst griindlich widerlegt, sah sich Hiickel zu einer heftigen Einleitung. 9 Polemik1) gegen den bereits verstorbenen Gelebrten veranlasst, aus der ich einige Stellen herausgreife : ,,Einer ernsten Widerlegung werden die popular-naturwissen- schaftlichen Scbriften von Agassiz in den Fachkreisen der Natur- forscher nicht fiir wiirdig gebalten. Aber auBerhalb der Fachkreise erfreuen sie sich einer grofien Anerkennung und einer hohen wenn auch natiirlich verstandnislosen - - Bewunderuug. Wir wiirden das vollig Unhaltbare und Sinnlose derselben bier nicht besonders hervorheben, wenn nicht die orthodoxe Kircbe in Agassiz einen vorziiglichen Bundesgenossen erkannt, sich seiner Ideen bemachtigt und sie mit Erfolg zu einem neuen Aufputz ibres theistischen Phrasengebiiudes benutzt hatte. Die Wirkung dieser Cbarlatanerie ist nicht zu unterschatzen. Man lese bloB die zahlreichen Nekrologe, in welchen Agassiz im vorigen Jabre (1874) nicbt bloB als einer der groBten Naturforscher seiner Zeit verherrlicht, sondern aucb besonders darauf hingewiesen wurde, wie derselbe die groBten Resultate der modernen Naturwissenschaft in den schonsten Einklang mit dem AVortlaut der Bib el zu bringen gewusst und als die wahre ,.Natiirliche Schopfungsgeschichte" diejenige des Moses nacbge- wiesen hat." ,.AVeit entfernt davon, nieiuen verehrten Spezialkollegen Moses (dessen bobe Verdienste icb stets willig anerkannt babe) wegen dieser naturwissenscbaftlichen Huldigung von Agassiz zu beneiden, mochte ich mir doch in geziemender Bescheidenheit die Vermutung gestatten, dass es letzterem mit jenen und ahnlichen Satzen wohl niemals ernst gewesen ist. Ich wenigstens sehe uberall deutlich den PferdefuB des Mephisto uuter dem schwarzen Priestertalar hervorschauen, in welcben sich der schlaue Agassiz mit so viel theatralischem Anstand und dekorativem Talent einzuhiillen verstelit. AVer die zahlreichen Schriften von Agassiz (insbesondere die theistisch-naturphilosophischen) niiber kennt und wer mit den darin kundgegebenen frommen Ideen den bekannten Lebensgang des groBcn wissenschaftlichen Industrieritters, seine A7orliebe fiir das philanthro- piscbe Institut der Sklaverei etc. zusammenhiilt, kann sich der tberzeugung nicbt verschlieBen, dass derselbe im Grunde ganz andere Anschauungen besaB, als es dem nicht eingeweibten Leser seiner AVerke scheinen konnte." ,,Es liegt vielleicht nabe, mich noch wider ein drittes Gegner- paar zu wenden, welches unter den zahlreichen Feinden der heutigcn Entwickelungsgeschichte in das Vordertreffen sich gedrangt hat, niimlich Albert AVigand und Adolf Bastian. Indessen ge- l] 1. c. p. 83. 10 Erstes Kapitcl. stehc ich, class ich weder Lust und MuBc finde, den unglaub- lichen und Avirklich gchiiuften Unsinn, den diese beiden Schrift- steller der Entwickekmgsgeschichte in den Weg gelegt haben, fortzuriiumen. Auch ist das dicke Buch von Albert Wigand ,,Der Darwinismus und die Naturforschung Newtons und Cuviers'' (1874), sowie desselben Autors ,,Genealogie der Urzellen" (1872) bereits von dem trefflichen, um die Forderung der Descendenztheorie hochverdienten Zoologen Gustav Jager in Stuttgart griindlich analysiert und richtig gewiirdigt worden."1) Wir wollen nun eine audere Scene der damaligen Diskussion betrachten! In der ersten Auflage der naturlichen Schopfungs- geschichte hatte Hack el ein und denselben Holzstock auf einer Seite (p. 248) dreimal neben einander abdrucken lassen und die vollkommen identischen Figuren als Embryo des Hundes, des Huhnes und der Schildkrote bezeicbnet. His2) protestierte im Interesse der wissenschaftlicben Wahrheit gegen das sonderbare Verfabren und scbloss seine Kritik mit den Worten: ,,Es bleibt das Verfabren von Prof. Hack el ein leicbtfertiges Spiel mit Tbatsacben, gefahrlicher iiocb als das friiher geriigte Spiel mit Worten. Letzteres fallt der Kritik jecles verstandigen Denkers anheiiQ, jenes vermag aber nur vom speziellen Facbnaann durch- scbaut zu werden, und es ist um so weniger zu verantvvorten, da Hiickel sicb wohl des Einflusses bewusst ist, den er auf weite Kreise auszuiiben vermag." ,,Jcb selbst bin im Glauben aufgewachsen, dass unter alien Qualifikationen eines Naturforscbers Zuverliissigkeit und unbedingte Acbtung vor der thatsachlichen Wahrheit die eiuzige ist, welche nicbt entbehrt werden kann. Auch heute noch bin ich der Ansicht, dass mit Wegfall dieser einen Qualification alle iibrigen, und sollten sic noch so glauzend sein, erbleichen. Mogen daher andere in Herrn Hackel den thatigen und riicksichtslosen Parteifiihrer ver- ehren, nach meinem Urteil hat er durch die Art seiner Kampf- fiihrung selbst auf das Recht verzichtet, im Kreise ernsthafter Forscher als Ebenburtiger mitzuzahlen." Darauf erwiderte Hackel3): ,,Dieses vernichtende Urteil von His ist allerdings fiir mich fiirchterlich! Nun, wenn ich aus dem Kreise ernsthafter Forscher durch diesen Rhadamanthys-Spruch ausgeschlossen bin, daun wird mir wohl nichts u'brig bleiben, als der Ubergang in das Lager der *) 1. c. p. 90. -) W. His, Unsere Korperform und das physiologische Problem ihrer Ent- siehung. Leipzig 1874, p. 171. 3) 1. c. p. 39. Einleitung. 11 scherzhaften Forscher, und der Versuch, der Naturwissenschaft auf meine Weise mit Humor zu dienen! ,,Ein jeder client ihr auf besondere Weise!" Warum auch nicht? Kann der ernsteste Forscher beim Nachdenken iiber die tiefsinnigen Theorien von His, die ich als Hollenlappen-, Briefcouvert-, Gummischlauch-Theorie etc. be- zeichnet babe, ernst bleiben? Oder kann ein kenntnisreicher und urteilsfahiger Forscber ernst bleiben angesicbts des erbeiternden Unsinns, der jetzt tagtaglich unter der Firma ernster Wissenschaft zur Widerlegung der Entwickelungstheorie auf den Markt gebracbt wird? Man lese nur den neuen ,,Schopfungsplan", den uns Louis Agassiz nocb nacb seinem Tode in einem kiirzlicb erscbienenen, von Giebel iibersetzten und eingefiihrten Bucbe offenbart bat! Man lese das geistreicbe neueste Werk von Adolf Bastian iiber ,,Schb'pfung oder Entstebung", oder die balsbrecbenden Evolutionen von Micbelis in seiner beiteren ,,Hackelogenie", oder den gehauften Unsinn in dem dicken Bucbe von "Wigand: ,,Der Darwinismus und die Natur- forscbung Newtons und Cuviers". Welch e reicbe Quelle der Er- beiterung und der vergleichend-psychologischen Gemiitsergotzung !" An Hack el's Verbalten iibte der verstorbene Professor der Zoologie in Wiirzburg K. Semper sebr scharfe Kritik: ,,Dass aber Hackel1) wagt, Hypothesen als feststebende bewiesene Satze vorzufiibren, ein System aus ibnen aufzubauen, macbt sie zu Ubelgebilden, die das wirklich durcb ernste Arbeit der Wissenscbaft gewonnene Gut verbiillen und damit diese letztere schadigen. Aber nicbt genug, dass er Ibnen Hypotbesen als wahre Lebrsatzebinstellt, die Gegner seiner sogenanntenTbeorien alsDualisten d. b. fur ibn als Pbantasten und Dogniatiker zu bezeicbuen wagt, aucb die Beobacbtungsthatsacben, die seinem Gebaude zu Grunde liegen oder liegen sollen, kann der Zoologe nicbt mebr als Tbatsacben binnebmen. " ,,Die groBte Starke einer ganzen Anzabl sogenannter Tbeorieu Hackel's liegt fast durcbweg nicht in dem logischen Bau, sondern in der dogmatischen Wiederholung uud haufigeu Betonung ihrer auBeren Anerkennung und ihrer wissenschaftlicheu Fruchtbarkeit." V. Hens en2), Professor der Pbysiologie in Kiel sprach sicb 1892 noch deutlicher aus: ,,Es wird behauptet, daB die Ideeu von Lam ark und Charles Darwin, uameutlich in der Weise, wie sie Hackel ge- formt und ausgefiihrt hat, jetzt die wissenschaftliche, mit Studien a) Carl Semper, Der Hackelismus in der Zoologie. Hamburg 1876. p. 31, p. L»8. 2) Victor Hensen, Die Planktonexpedition u. Hackel's Darwiuismus. Kiel u. Leipzig 1892. p. 5. 12 Erstcs Kapitel. iiber die Organismeu bescbaftigte Welt beherrschen. Icb weiB nicht, in wie holiem Grade dies der Fall ist, ja ich mocbte sogar solcbein Anscbein gegeniiber einwenden, daB diese wissenscbaftlicbe Welt ibrem innersten Weseu nacb durcb nicbts beberrscbt wird und durcb uicbts beberrscbt werden kann. Soweit man an Hypotbesen glaubt und auf sie scbwort, bort man leider auf, wissenscbaftlicb zu sein und wenn das wirklicb beute alle Forscher tbaten, so staude in dieser Ricbtung die Wissenscbaft still, oder ricb tiger gesagt, es existierte nur Recbtglaubigkeit, die Wissenscbaft scbliefe. Meines Wissens liegt die Sacbe aber nicbt ganz so, es balten mancbe niir persoulicb bekanute Forscber sicb vollig gegenwartig, class die De- scendenztbeorie nur Hypotbesen vorlegt, denen sicb eine Reibe von Tbatsacben sebr gut auscbmiegt ; aucb ist scblieBlicb jeder, der auf diesem Gebiete forscbt, mebr oder weniger ein Zweifler. Wenn icb nicbt irre, sind sogar die jiingeren Forscber auf ibreu besouderen Forscbungsgebieteu in immer scbarfer sicb betoneuder Opposition gegen Hack el's Dogmen begriffen, was sie freilicb meistens nicbt bindert, auf auderena Gebiet ibueu treu und ergeben zu sein." — ,,Hackel1) ist uicbt nur Facbgelebrter in alien geuannten und einigen andereu naturwissenscbaftlicben Facbern, er ist auBerdem nocb Tbeologe imd bat dabei recbt deutlicb gezeigt, dass es docb uicbt ganz gleicbgiiltig ist, wie weit man sein Gebiet ausdebnt. Eiuen so iiblen imd das Ausebeu der Naturwissenschaften so scbwer scbadigeuden Erfolg, wie ibn Hack el in dieser Ricbtung gebabt bat, babe icb uicbt geglaubt erwarten zu diirfeu. Wie konnte aber Hack el docb die Natur der allermeisten Meuscben so vollig ver- keunen, wie er das getban bat, und was batte er fiir alles das, was er zu zerstoren bemiibt war, als Ersatz darzubieten?" ,,Etwas Un- frucbtbareres und Oderes als sein Monismus war docb kaurn zu denken! Diese Niedeiiage batte er uns wobl ersparen koniien! ,,Der Erfolg dagegen, welcbeu Hiickel als Darwinist errungen bat, ist eiu desto groBerer gewesen, allerdiugs aucb dies gegen mein Erwarten, denn niemals babe icb in den beziiglicben Scbriften etwas anderes erblicken konnen, als emeu bocbst iuteressanteu und lebr- reicben, sowie forderlicben Versucb der Entwickelungsgescbicbte der Organismenreiben naber zu kommen. Hackel aber bat das Problem fur gelost erklart." — ,,Hackel2) spielt nacb wie vor leicbtfertig mit der Vererbung, mit Grundgesetzen der Natur, mit Starnmbaumen und Eutwickelungs- Vorgiingen, genau wie ein ,,tbatigeruud riicksicbtsloser Parteifiibrer". Leider ist es ibrn geluugen, in gewissen Zweigen der Wisseuscbaft *) Hensen 1. c. p. 44. 2) Hensen 1. c. p. 64. Einleitung. 13 Parteien, wie in einem Parlament zu bilden, und seine Partei ist hoch getragen worden von einem autoritats-glaubigen Laienpublikum, um welches er warb. In der Wisseuschaft ist aber keine Partei- lierrschaft zu dnlden, sie macht zwar stark im Kampf, aber wen sollen wir denn bekampfen? Doch nicht etwa die Natur? Sie, die niemals falscht, sondern dern wahren Freund immer die Wahr- heit redet!" ,,Mau sagt rnir, ich erwiirbe rnir zu viele Feinde, wenn icb Hack el's Partei bekampfeu wolle. Sei es! Aber diejenigeu, die fiihlen konnen, dass ich bemiiht gewesen bin, auch hier nach meinen Kraften der Wissenschaft zu dienen, werden meine Freunde sein." - — ,,Allein auf Thatsachen, auf so sorgfaltig wie mog- lich nach MaB, Gewicht und Zahl festgestellte Thatsachen kommt es an; ihnen gegentiber verwehen alle Meinungen uud Yermutungen, denen diese Stiitze fehlt, wie die ,,Staubsaule", welche ,,die Wirbel- winde auf den StraBen in die Hohe fiihren." Der Gegensatz besteht uoch heute in der gleiche Weise, je- doch scheint sich mir eiue gewisse Klarung vorzubereiten, so dass man das Resultat eiuigerrnaBen voraussehen kaun. Keinesfalls darf das Urteil eines Zeitgenossen Darwin's, des englischen Anatomen Th. Huxley als bindend betrachtet werdeu: ,,Es giebt nur eine Hypothese betreffs der Eutstehung der Arten, welche wissenschaftliche Existenz hat, die Darwinische; wenn sie auch nicht strenge wahr ware, so besitzt sie doch eine solche Annaherung an die Wahrheit, wie die Kopernikanische Theorie flir die Planetenbewegung gehabt hat. " Zuni Beweise dafiir brauche ich Ihnen nur aus zwei modernen Schriften Belege vorzulesen. Vor 4 Jahren schloss G. Wolff) einen wissenschaftlichen Vortrag in Wiirzburg: ,,So diirfen wir wohl die Hoffnung hegen, der endgiiltigeu Beseitigung des Darwinismus ent- gegen zu gehen." Der Verfasser meint daniit die Zuchtwahltheorie, uicht die Abstammungslehre , welche er nicht in den Rahmen der Diskussiou gestellt hatte. Gegen die letztere war Driesch2) mit scharfen, aber wie mir scheint, vollkorumen berechtigten Worten drei Jahre friiher aufgetreten: ,,Fiir den denkenden Leser ist im vorigen die Verurteilung der bloBen Desceudenzlehre ohne Angabe der umwandelnden Ur- sachen enthalten, wenigstens soweit dieselbe die Priitension erhebt, Einsicht und nicht vielmehr bloB unverstandene Thatsachen hypo- thetischen Charakters zu ermitteln." — ,,Abgesehen von dem prinzipiell geringeren Werte der Geschichte gegeniiber der ratio- a) G. Wolff, Der gegemvartige Stand des Darwinismus. Leipzig 1896. 2) Hans Driesch, Die Biologie als selbstiindige Grundwissenschaft. Leipzig 1893. p. 26, p. 30, 31. II 14 Erstcs Kapitcl. nollen Wissenschaft steht also die Biogenie (Entwickelungslehre) auch historisch genommen auf einem sehr tie fen Niveau; zwischen Wabrscheinlichkeiten rein iiuBerlichen Charakters (Palaontologie, Geographic) und wiister Phantasie (Typen) schwanken ihre ,,Stamm- biiume". • ,,Etwa gar auch auf die Pratensionen der wider- legten sog. Darwinschen Theorie einzugehen, ware eine Beleidigung des Lesers. Es genligt hier, die Titel dreier Schriften zu nennen: "Wigaud, Der Darwinismus und die Naturforschung Newtons und Cuviers. Niigeli, Mechanisch-physiologische Abstammuugslehre. Wolff, Beitrage zur Kritik der Darwin'schen Lehre. Biol. Centralblatt Bd. 10." ,,Wann wird man einmal anfangen, diese und andere Werke zu beriicksichtigen, und aufhoren, in der Darwin'schen ,, Theorie ein gesichertes Gut der Wissenschaft zu erblicken?" Der Vorstand der biologischeii Anstalt in Helgoland, Prof. Dr. R. Heinke sagte neulich: ,,Es ist allmahlich genug philosophiert worden iiber die verschiedenen Probleme der Descendenzlehre, um bei ernster Priifung zur tlberzeugung zu gelangen, dass auf diesem philosophierenden Wege nicht mehr weiterzukommen ist, Die Ent- deckung neuer Thatsachen, vieler neuer Thatsachen und ihre klare Beschreibung, die Ausdehnung solcher uiichternen Forschung auf bisher uubekannte Gebiete das sind die wahren Mittel zum Fortschritte." Aus diesen Beispieleu, Avelche nur aus Riicksicht auf die knappe Zeit der ersten Stunde so spaiiich bemessen sind, konnen Sie ersehen. dass heutzutage unter den Naturforscherh erne Einigung in Bezug auf die Abstammungs- und Zuchtwahltheorie nicht besteht, dass also alle in populiiren Schriften so vielfach aufgestellten Be- hauptungen von der einmiitigen Herrschaft der Theorie der Sach- lage nicht entsprechen. Anders aber gestaltete sich das Schicksal derselbe-n in den Kreisen der gebildeten und ungebildeten Laien. Denn dort ge- niigten oberflachliche Darstellungen der naturwissenschaftlicheu Lehren, um die Cberzeugung von der Umbildung aller Geschopfe und ihrer aus niederer zu hoherer Stufe fortschreitendeu Ent- wickelung zu befestigen. Wir werden im Laufe unserer Betrach- tungen genug Gelegenheit bekommen, die Bedeutungslosigkeit der das allgemeine Publikum bestrickenden Scheinbeweise zu erkeunen. Heute will ich sie nur erinnern, welch groBen Eindruck die populareu Bilder aus der Geologie und Paliiontologie machten, wie die philo- sophischen Ideen der Geschichtsschreiber von einem in der Welt- geschichte zu Tage tretenden Fortschritte, wie die Betrachtung der Einleitung. 15 Kulturgeschichte, die Resultate der vergleichenden Sprachwissen- schaft in eflektvoller Weise herbeigezogen wurden, um die Ent- wickelungstheorie einer ungeheuer groBen Menge von Mannern und Frauen plausibel zu machen. Den tiefsten Eindruck aber machte die nach der falschen Regel der alien Scholastik aufgestellte Alternative : entweder ist das Leben auf Erden durch den iibernatiirlichen Eingriff eines hoheren Wesens am Beginne der Welt geschaffen worden oder es hat sich einmal aus dem anorganiscben Reicbe auf mechaniscbe Weise entwickelt und allmahlich zu hoherer Vervollkommnung emporgearbeitet. Wenn Sie die einschliigigen Scbriften aus den Jahren 1860 — 1875 uud etlicbe spiiter erschienene Werke nachlesen, konnen Sie sich davon iiberzeugen, dass der durch die Descendenzlehre neuerdings wach- gerufene Widerspruch gegen die mosaische Schopfungsgeschichte eine unwiderstehliche Wirkung ausgeiibt hat. Bei der damaligen Geistesstimmung nahm eine ungeheuer groBe Zahl von Gebildeten ohne Zogern fiir die zuletzt genannte Moglich- keit Partei, weil sich dieselbe besser mit der antikirchlichen Stinamung der Zeit vereinte und als Waffe in deni Kampfe gegen die intolerante Herrschaft der Geistlichkeit benutzt werden konnte. Ware der Kontrast gegen die von den Theologen als wichtigen Bestandteil der Glaubenslehre vorgetragene mosaische Schopfungs- geschichte nicht hiiufig betont worden, so hatte die Abstammungs- lehre sicher nicht so viele Anhiinger werben konnen. Leider erhielt dadurch das wissenschaftliche Problem ein ganz falsches Gesicht, und es wurde eine rein zoologisch - botanische Frage hinausgetragen in den Tageskampf der politischen Parteien und zu einem demagogischen Kampfesmittel herabgewiirdigt; denn es bleibt immer ein bedenkliches Beginnen, unfertige wissenschaft- liche Ansichten vor das groBe Publikum zu bringen, einen Richter, bei dem sich Gefiihl und Verstand notwendig durchkreuzen. Hypothesen sind notwendige Hilfsmittel der Forschung fiir neu zu erhellende Gebiete der Wissenschaft, aber sie leiten wegen der unvermeidlichen Schritte auf unbekanntem Boclen den Laien irre. Es zeugt von kraftigem wisserischaftlichen Leben, neue Hypothesen aufzustellen und dariiber eine sachliche Diskussion anzuregen. Diesen Kampf jedoch offentlich fiihren, das Laienpublikum als richterliche Instanz anrufen und dem einer wahren Priifung unfahigen Volke hypothetische Lehrgebaude als dogmatische Lehrsatze mitteilen, kommt einer Tituschung des Volkes und einer Schiidigung der Wissenschaft gleich. Noch weniger berechtigt ist es, vor dem Forum der Offentlich- keit die Autoritat der Naturforschung gegeniiber den religiosen 16 Erstcs Kapitel. Lehrcn zu erortcrn; denn die Religion ist Sache des Glaubens, die Wissenschaft ist das Feld des Zweifels. Thcologie und Natur- wissenschaft konnen ebenso \venig wie Matbematik uud Jurisprudenz wicbtige Lebrsatze mit einander gemeiiibaben. Eiue wissenschaftlicbe Wabrbeit ist nicbt notwendig cine religiose. Darwin batte mit feinem Taktgefiible und im Interesse der Wabrbeit eine scbarfe Scheidung der beiden Gebiete getroffen uud das Problem von der Entstebung der Alien als ausscblieBlicb dem zoologiscb-botaniscben Arbeits- gebiete zugeborig bebandelt. Seine Anbanger aber baben die dem Fortscbritte uud dem Friedeu dienlicbe Scbeidung verkannt und die neue Lebre geradezu als ein Kampfmittel gegeu die Tbeologie ge- braucbt. Die Folgen dieses falscben Begiunens macbeu sicb beute in bobem Grade fiiblbar. Scbou bemerken weitere Kreise, dass uuter den Naturforscbern groBe Uueinigkeit iiber die Abstaniniungslebre berrscbt. Die Opposition gegeu die zu dogrnatiscben Formeln ver- knocberten Ansicbteu von E. Hack el ziebt die Aufnierksamkeit der allem geistigen Fortscbritte feindlicben Elemeute auf sicb und ge- stiitzt auf die Streitscbrifteu der Facbgelebrten gewinnt die ortbodoxe Reaktion an Bodeu. Die Krise ist auBerordentlicb beftig. Die dar- winistiscb gesiuuten Forscber wollen nicbt einseben, dass in den letzteu dreiBig Jabren der Vorrat ibrer scbeinbareu Beweise arg zusammengescbmolzen ist, wabreud die besonnenen Gelebrten die Notwendigkeit des Rlickzuges verteidigen, nacbdem viele Vertreter der Naturwissenscbaft mit ibren Bebauptuugen weit iiber das Facb- gebiet binausgegangen siud. "Wir stebeu also gegenwartig vor einer bedeutsamen Weudung in der Gescbicbte der Abstammungslebre uud werden im uacbsten Jabrzebnte Gelegenbeit baben, alle Pbasen der Krise zu erlebeu. Desbalb babe icb Sie an der Wende des 19. Jabrbunderts zu einer Vorlesung eiugeladen, die einen Uberblick sowobl liber die Eut- wickeluug der descenclenz-tbeoretiscbeu Spekulation in den letzten 40 Jabreu, als aucb iiber den gegeuwartigen Zustaud und die Prognose fiir die niicbsteu Jabre geben soil, einzig und allein in der Absicbt, Sie durcb eine facbwisseuscbaftlicb objektive Darstellung in den Stand zu setzen, sicb ein selbstandiges Urteil zu bilden und iiber Ibre Stellungsnabrne in kiinftiger Zeit klar zu werden. Da icb in dieser Frage eine andere Meiuung bege, als die rneisten meiner Kollegen, werde icb den Inbalt der popularen de- scendeuztbeoretiscben Werke, welcbe Sie zuna Teil scbon wabreud der Gymuasialzeit mit Begeisterung gelesen babeu, bier nicbt re- kapitulieren, souderu solcbe Tbatsacbeu, welcbe von den Au- baugern der Abstammungslebre nicbt gebiibrend gescbildert oder Einlcitung. 1 7 leichthin iiberschlageu werden, eingeheud darstellen und aus der dem Laienpublikum nicht vertrauteu zoologischeu Litteratur wichtige Aktenstiicke zur Illustration der Ansichteu tiichtiger Vertreter und Geguer der Hypothese yorfiihreu. Auf Grtmd langjahriger und sorgfiiltiger Priifimg bin ich zur Ansicht gelaugt, dass die Abstarn- muugslehre nicht begriindet 1st. Ich gehe sogar noch weiter und be- haupte, die Diskussion der Frage gehort gar uicht in den Bereich der exakten Zoologie und Botauik. Es liegt niir jedoch feme, Sie durch dialektische Kunststiicke zum IJbertritte auf meiuen Stand- punkt verleiten zu wollen, und ich werde rnich bestrebeu, die An- sichten der Descendenztheoretiker, soweit es eben eiueni Geguer moglich 1st, objektiv mit Ihueu auf die exakten Beweisgriinde zu priifen; denu die hohe Aufgabe des Universitatslehrers wird nicht erfiillt, wenn er seine Zuhorer zu bliuden Parteigangern der privaten Meiuung erzieht. Ihni obliegt es vielrnehr; seine Schiller auzuleiten, dass sie die im Leben wie in der Wissenschaft jederzeit bestehendeu Gegensatze beobachten, ihre geschichtliche Notwendigkeit begreifeu, ihre logische Starke und ihre thatsachlichen Unterlagen ruhig erwagen. Die Entscheidung, welcher Ansicht der Vorzug gebiihre, bleibt dern perscinlicheu Ermesseu des freien akademischen Burgers iiberlasseu ! Fleisohmann, Descendenztheorie. Zweites Kapitel. Die Typen des Tierreiches. So sehr die Vorstellung von ciner fortschreitenden Entwickelung aller menschlichen Verhaltnisse , des Tier- und Pflanzenreiches und des gesamten Weltalls dem Denken der meisten Menschen zusagt, so konnte sie sich doch nirgends fester einwurzeln als bei den biolo- gischen Naturforschern, deuen die Wahrheit des Satzes: navx OQSI fort- wahrend vor die Seele gefiihrt wird. Welche Provinz ihres Arbeits- gebietes sie auch betreten mogen, liberal] begegnen ihnen gewaltige Revolutionen der Korperforni, die am lebenden Korper oft binueu wenig Stunden oder Tagen ablaufen und neue unerwartete Gestalteu hervorzaubern. Die Beispiele der Metamorphose sind bekannte Be- lege dafiir. Der hassliche Wurm, welcher miihselig seinen plumpen Leib hinschleppt und mit gefrafiiger Gier unsere Nutz- und Zier- pflanzen entlaubt, spinnt sich ein, um sich in eine anscheinend tote Puppe zu verwandeln, welche den Wiuterstiirmen trotzt. Im Friihlinge entschliipft der braunen Hiille ein hunter , leicht beschwingter Schmetterling, der histig in der Luft gaukelt und siiBen Nektar aus den Bliiten saugt. Tausende von ahnlicben Bei- spielen machen uns den Gedauken der Umbildung vertraut und veranlassen uns, auch dort, wo wir die Metamorphose nicht direkt beobachten konnen, eine solche fur friihere Erdperioden anzunehmen. Durch allzu voreilige Generalisation scheint uns dann die Metamor- phose der Tiergeschlechter als eine denknotwendige Konsequenz der individuellen Umformung. Deshalb wird der Gedanke sich in ab- sehbarer Zeit nicht aus der Diskussion entfernen lassen, wenn auch vielleicht die nachste Generation von Forschern ihn nur als ein schones Ideal ohne realen Inhalt, etwa wie die allgemeine Abriistung der Volker beurteileu wird. Darwin dagegen, seine Zeitgenossen und seine spater geborenen Anhanger sind von der schonen Idee bethort worden uud haben ihre Geisteskraft fiir den aussichtslosen Ver- such einer Beweisfiihrung aufgewendet, welche uach meiner Ansicht em ihren Wiinschen uicht entsprechendes Resultat gezeitigt hat. Ehe wir die Priifung im einzelnen beginnen, wird es notwendig sein, Ihnen den allgemeineu Charakter des Problems, welches durch Die Typen des Tierreiches. 19 Darwin's Buch der zoologischen Wisseuschaft vorgelegt wurde und die Komplizierimg desselben in den nachfolgeuden Jahrzehnten an- zuzeigen. Weun jemand, der mit der Mannigfaltigkeit der Geschopfe einigennaBen vertraut ist, dem Gedanken Raum giebt, dass die hoheren Tiere von niederen abstammeu, dass die niederen Lebewesen durch den Kampf urns Dasein und die natiirliche Zuchtwahl zu hoherer Vollkommenheit fortgeschritten seien, so obliegt es ihm zuniichst, die verschiedenen Klassen des Tierreiches, welche sein Denken rait den ,,heute sichtbaren Stufen des Entwickelungsprozesses" ver- gleicht, auf ihre Ahnlichkeiten und Uuterschiede zu untersuchen, um die bei Stammesverwandten notwendig vorkommende Gemeinsamkeit der Form- und Charakterziige festzustellen. Damit beginnen die Hinder- nisse der neuen Theorie; denn seit dem Beginne des Jahrhunderts ist es ausgemacht, dass im Tierreiche nicht ein einziges General- modell des Korperbaues kerrscht, welches sich etwa durch das anatomische Stadium der menschlichen Leiche ergriinden lasst. Fig. 1. Fig. 2. Fig. 1. Schematische Skizze des Stilplanes der Wirbeltiere. a After, c Herz. g Geschlechtskeimwulst, Ji hintere GliedmaBe, I Leber, m Magen, n Niere, o Mund, p Schlund- taschen, s Schadel, v vordere GliedmaCe, w Wirbelsaule. Fig. 2. Gehirn und Ktickenmark eines me nschlichen Embryos. Nacli His. Gleichwie die Kunstgeschichte verschiedene Stilarten im Aufbau der Gebaude und anderen menschlichen Kunsterzeugnissen unterscheidet, konnt der Anatom Stilarten des Korperbaues, die er Formtypen oder Organisationskreise nennt. Der Bauplan eines Insekts weicht Tom Bauplau des menschlichen Leibes vielleicht noch rnehr ab, als ein gotischer Dom von einem chinesischen Tempel. Ich will Ihnen zunachst einige Beispiele der tierischen Stilistik vorfiihren: Betrachten wir zuerst den Aufbau eines Wirbeltieres, der durch das vergleichend anatomische Studium der Fische, Amphi- bien, Reptilien, Vogel und Saugetiere als allgemeiner Typus ab- strahiert wurde. 2* 20 Zweites Kapitol. Durch deu ganzen Korper (Fig. 1) zieht nahe dcr Riickenflache und meist durch die Haut biudurcb i'iiLlbar cine kuocberne Stiitze, die Wirbclsiiule , aus zablreicben Wirbeln zusammengefiigt. In der Kopfgegend schlieBt sicb ibr der Scbadel an, eine feste Scbutzkapsel fiir das Gchirn und die wichtigen Sinnesorgane des Gerucbes, Ge- sicbtes und Gebores. Die den Wirbelkorpern riickenwarts aufge- setzten ,,oberen Bogen" bilden eine Reihe von Knochenarkaden, welche durcb Bander und direkte Beriibrung der Bogen selbst zu einem cylindriscben ,,Kauale der Wirbelsaule" gescblossen werden, der sicb direkt in die weite Scbadelbohle fortsetzt. Diesen Hohlraumen ist das Riickeurnark und Gebirn als nervoses Centralo'rgan (Fig. 2) eingeschaltet. Dasselbe ist nicbt solide - - was fiir das Studium der anderen Organi- sationstypen von bober Bedeutung ist • • sondern ein Hohlgebilde, iudem das Riickenmark ein sebr dickwandiges, cylindrisches , aus Nervenfaseru und Nervenzellen gewebtes Eobr von engem Kaliber darstellt und vorne in der Scbadelboble zu fiinf groBen, ebenfalls auBerordentlicb dickwandigen Gebirnblasen (Vorder- , Zwischen-, Mittel-, Hinter-, Nacbbirn) anschwillt. An den verscbiedensten Stellen der Seitenwand von Gehirn und Riickenmark wachsen Nerven- strange beraus und dringen in alle, selbst die entferutesten Raum- gebiete des Wirbeltierleibes. Neben den oberen Bogeu werden an den Wirbeln nocb die Rippen gefunden, bogenartig gekriimmte Spaugen, welcbe von deu Wirbelkorpern abwarts nacb der Baucbseite bangen und in der seit- licben muskulosen Korperwaud eingebettet sind. Alle bisber be- scbriebenen Teile sind direkt nicbt wabrzunebmen, weil R-iicken- mark und Gehirn von den Knocbenstiickeu der Wirbelsaule und des Scbadels und diese wieder vom Muskelfleiscbe und der Haut verdeckt werden. Das Skelet der Wirbeltiere ist also eiu inneres, in den Korper eingesenktes Knocbengeriiste und dieut zugleicb als Futteral fur das nocb rnebr verborgene Centralnervensystem. Unterbalb der Wirbelsaule liegt ein weiter von den Eingeweiden erfiillter Raum, die Leibesboble. Sie erstreckt sicb nicbt durcb den ganzen Korper, sondern debnt sicb nur irn Rumpfe aus, so dass die Kopf- und Scbwanzgegend solide erscbeinen. Der Darm bangt an einem zarten, GeiaBe und Nerven umscblieBenden Aufbaugebaud, dem Gekrose, von dem unterbalb der Wirbel- saule stebenden Riickengewolbe der Leibesboble berab. Da seine Liinge die des Korpers meist um ein Bedeutendes iibertrifft, ziebt er als vielfach gewundener Scblaucb. Jmmer siucl drei Abscbnitte an ibm erkennbar: der Vorder-, Mittel- und Enddarm. Die bintere Zone des Vorderdarmes ist meist erweitert als Magen (ni), und dicbt binter demselbeu, am Mitteldarm, miinden zwei Verdauuugsdriisen, Die Typen des Tierrciches. 21 die kleinere lappig verzweigte Bauchspeicheldriise und der Gallen- gang der inachtigen rotbraunen Lcber (I) ein. Der Mund (o) befindet sicli am Vorderende des Kopfes, der After (a] an der hinteren Grenze des -Eumpfes. Charakteristisch fiir alle Wirbeltiere treten am Vorder- darme dicht hinter der JVlundhohle seitliche Aussackungen,die Schlund- taschen (p), auf. Ihre physiologische Bedeutung und ihr Schicksal bei den verschiedenen Klassen 1st jedoch so mannigfach, dass ich hier nur die Allgemeiubeit des Yorkommens konstatieren kann. Das Blut ist rot und in einem reich verzweigten, alle Organe durch- ziehenden Gefafinetze eingeschlossen. Der Kreislauf des Blutes in demselbeu wird durch das als Saug- und Druckpumpe wirkende und deshalb in zwei Abschnitte: Vorhof und Kaminer geschiedene Herz (o) betrieben, welches im vordersten Winkel der Leibeshohle unterhalb des Darmes liegt. Die Geschlechtskeimstatten d. h. die Hoden, bezw. Eierstocke hangen als kleine Wiilste (g) vom Riickengewolbe der Leibes- hohle herab. Sie besitzen intime Beziehungen zu den gleichfalls in die Gewolbewand der Leibeshohle eingefiigten paarigen Urnieren, Harn- organen, welche nur bei den Fischen und Amphibien durch die ganze Le- bensdatier des Individuums Urin ab- scheiden und machtig bleiben, wahrend sie bei den drei hoheren Klassen diese physiologische Kolle friihzeitig auf- geben und durch sog. Dauernieren ersetzt \verden. Da ich die ver- wickelten Beziehuugen zwischen den Geschlechtswiilsteu, den Urnieren und zwei seitlich davon ziehenden paarigen Kaniilen, dem AVolffschen und Miiller- schen Gange hier nicht darlegen kann, will ich Sie nur auf die merkwiir- dige Thatsache aufmerksam machen. i , . „ ^T. , ,,. ,. TTrniere und dem W o 1 f f s chen und aass bei alien \VirbeJtieren die Ge- Muiierschen Gauge. (Der Miillersober Gang Vorniere Geschlechtswulst --- Urniere Hamblase Kloake Enddarm " Fig. 3. Schematische Skizze der des schlechtswiilste der Ausfiihrgange er- Gang' nicbt besonders ° langs der Uruiere.) mangeln. InfoJgedessen sincl besondere Bildungsvorgange notwendig, um bei den miinnlichen Individuen den \VolffschenGang mit der Ableitung desSamens,bei den weiblichenTieren den Miillerschen Gang mit der Ausfuhr der Eier zu betrauen. Kein anderer Orgauisationstypus des Tierreiches zeigt Einrich- tungen, welche mit diesem Stile der Geschlechtskeimstatten und deren Ausfiihrgangen einigermaBen vergleichbar waren. 22 Zweites Kapitcl. Das Gleiche gilt auch, wie Sie sofort einsehen werdcn, fiir alle iibrigen Organsysteme : Die Beschaffenheit und die rote Farbe des Blutes, Lage und Ban des Herzens, wie des gesamten GefaBsystemes, die Lage und die Wirbelgliederung des Acbsen- skelettes, der Besitz des Kopfscbadels findet kein Analogon bei den niederen Tieren. Die Eigenart der Wirbeltiere ist vielmehr so groB, dass man ihnen siimtlicbe andere Lebewesen als wirbellose Tiere gegeniiberstellen kann. Sie miissen nur die Bezeichnung ,,wirbellose" ricbtig auffassen und nicbt bloB an den Mangel einer knochernen Wirbelsaule denken , sondern festhalten , dass in alien Organen des Korpers ebenso schroffe Unterschiede besteben, wie im Skelette, weil eben zur summarischen Kennzeicbnung der Sonderstellung der Wirbeltiere eine pars pro toto, eine Eigenscbaft statt vieler hervorgeboben wird. Den Leib derlnsekten (Fig. 4) umgiirtet eine frei zu Tage liegende, aus Cbitin bestehende Panzer- biille, das auBere oder Exoskelett und scblieBt die zur Bewegung notweu- digen Muskelmassen ein. Die Lage- beziebung der Stiitz- und Bewegungs- organe ist also gegeniiber den Wir- beiiieren gerade umgekebrt, und Sie b) Fig. 4. Fig. 5 Fig. 4. Schematise he Skizze des Bauplanes der Insekten. a After, c Herz, /' Fiihler, i unteres Schlundgaugliori, I Fltigel, in Magen, s oberes Schlundganglicm. Fig. 5. Anatomie der Honigbiene. Nach Leuckart. a Fiihler, au Auge, &! 6263 Bein^. cm Chylusmagen, ed Enddarm, rd Enddaruidriisen, st Stiginen, ft Haupttracheenstamni, vm 5,'al- pighi'sche Gefajje. Das strickleiterfbrmige Nervensystem zielit in der Mittellinie der Figur- begreifen, dass man sicb nicbt vorstellen kann, die Anordnung der beiden Organsysteme sei bei irgend welcben einfacben Urinsekten der- artig geiindert worden, dass sie dem bei Wirbeltieren berrschenden Typus naber kamen. Wenn das auBere Hautskelett eine einfacbe Hiilse bleibt, wie z. B. bei den Scbildkroteu, so verleiht es dem Trager wobl kriiftigen Scbutz, aber zugleicb einen boben Grad plumper Starrbeit. Die Insekten sind weit beweglicher, weil das Hautskelett in kleine, Die Typen des Tierreichcs. 23 z. T. leicht gegen einander verscbiebbare Stiicke, abnlicb den Panzer- riistungen der raittelalterlichcn Eitter zerfallt. Der Weichkorper selbst 1st durch Ringfurcben der Haut in eine bestinimte Anzahl vou cylindrischen Abschnitteu, den sog. Segmenten, gegliedert. Deren Oberfliicbe scheidet wabrend der Larvenzeit die einzelnen Stiicke des Cbitiupanzers ab. So zeigt schon der auliere Habitus der Insekten ein ganz anderes Aussehen als irgend ein Wirbeltier. Tudem etliche Segmente iutimere Beziehungen zu einander erlangen, werden drei Hauptregionen des Korpers unterscbeidbar. Zuvorderst stebt ein linsenforrniger Abscbnitt, der Kopf; dann folgen drei meist ver- wacbsene Segmente als sog. Brust oder Tborax imd eine groBere Zahl (gewobnlicb 10) beweglicber Segmente als sog. Hinterleib oder Abdomen. Wahrend das Wirbeltier auf vier GliedmaBen gestiitzt ist, tragen drei an der Baucbseite der Brust gelenkende Bein- paare den Insektenleib. Ibre Gliederung in beweglicbe Stiicke erfolgt nacb eigenartigem Typus ; deun jedes Bein bestebt aus neuu Stiicken, von denen die meisten, in Cbarniergelenken bangend, nur klappeude Bewegungen macben konnen, die der Beweguug einer am Heite befestigteu Klinge eines Tascbenmessers vergleicbbar sind. Statt funf Zeben stebeu zwei Klauen am Ende jedes Fufies. Der Eiickenflacbe der Brustregion entsprossen zwei Paare von Fliigeln (I) ; das sind Organe, fiir welcbe es iin gauzen Tierreicbe iiberbaupt keiue formverwaudte Einricbtung giebt. Die Leibesboble ist sebr geriiumig und erstreckt sicb durcb den ganzen Korper. Sie boblt also den Kopf, die Brust, den Hinterleib, ferner die Beine, die Fliigel und die Fiibler des Kopfes, wabrend sie bei Wirbeltieren die Grenze des Rumpfes nicbt iiber- scbreitet. Die Leibesboble ist mit Blut, einer weilien, Zellen ent- baltenden Fliissigkeit erfiillt, welcbes, nicbt in einem GefaBnetze eingescblossen, kraft der Pulsationen des Herzensin ibr fluktuiert. Das Herz selbst ist anders gebaut und liegt an einer ganz anderen Stelle, als wir vorbin bei Wirbeltieren fanden. Es ziebt niinilicb als ein langer, von seitlicben Offuungen durcbbobrter Scblaucb (c) dicbt unterbalb der Eiickenwancl des Hinterleibes und der Brust. Das Nervensystem liegt dem Herzscblaucbe gerade gegeniiber an der Baucbwand des Korpers (Fig. 4, 5). Ibrn ist die Form des dickwandigen Nervenrobres gleicb Riickenmark und Gebirn nicbt eigen. In jedern Segmente liegen solide paarige Haufen von Nervenzellen und Nervenfasern , die Ganglieuknoten, welcbe durcb quer und langs streicbende Nerven zu eiuer strickleiter- abnlicben Einbeit, der Baucbganglienkette, verkniipft werden. Nur im Kopfe fiuden sicb zwei Paare von Nervenknoten ober- 2-4 Zwcitcs Kapitrl. balb und uuterbalb des Scblundes, die oberen und unteren Scblund- ganglien (s, ij, durcb Quer- und Liingsnerven zum sog. Scblundringe vereint. Das sind wicbtige Ccntralorgane und ibrer pbysiologiscben Bedeutung nacb, nicbt in ibrem. Baue — dem Gebirne der Wirbeltiere vergleichbar. Muskeln sind an der gesamten Korper- wand zerstreut, ibre Hauptmasse jedocb ist im Brustabscbnitte Oberlippe Oberkiefer Zungentaster Aafienlade - - Kiefertaster - AuBenlade ..._ Innenlade Stammglied Unterkinn Kiiin Fig. 6. Kauwerkzeuge der Soli a be. zur Beweguug der Beine und Fliigel konzentriert, wo sie die Leibesboble bis auf schniale Spaltraume einengt, Die Kauwerkzeuge (Fig. 6), bei den Wirbeltiereu als bufeisen- formig gekriimmte Zabnreiben auf Ober- und Unterkiefer stebend, erscbeinen bier als drei Paare seitlicber und fein gegliederter Mundanbange. Der Darm (Fig. 5) entbebrt der groBen Yerdaiuingsdriisen, wie Leber und Baucbspeicbel- driise der "Wirbeltiere. Nur in der Mundboble miinden die Ausfiibrgauge von Speicbel- driisen. Ganz sonderbar ist das Auftreten der Malpigbi'scben GefaBe, feiner, dem End- darme anhiingender Scblaucbe,welcbe, die Ausscbeidung unbraucbbarer Produkte des StofiVecbsels besorgend, ihr Sekret in den Darm Samentasche — I Scheide Eischlaucli<} Driise Fig. 7. Die weiblichen Geschlech tsorgane des Flohes. Nach Stein. Die Typen des Tierreiches. 25 selbst ableitcn. Die Geschlechtsorgane (Fig. 7) sincl mit eigenen Ausfiihrwegeu versehen, velche direkt an den Keimstiitten, d. h. den Hoden und Eierstocken, ausetzen. Die letzteren wiederum erscheinen nicbt als solide "Wiilste, sondcrn als Biischel von feinen Hoden- oder Eischliiuchen. Besonders merkwiirdig entwickeln sich die Atemorgane, die Tracheen (Fig. 5). Von auBeren wandstandigen Offnungen, den sog. Stigmen (insgesamt 6 — 10 Paaren), an der Seitenwand des Korpers wachsen zarte, von einer Chitintapete ausgekleidete Schlauche, eben die Tracheen, in die Leibeshohle und verasteln sich zu einem unglaublich feiuen und zierlicheu Netzwerke, das samtliche Organe umspinnt und seine feinsten Aste in die Substanz derselben entsendet. Rhythmische Bewegungen des Hinterleibes veranlassen den Luft- wechsel in den Ateinrohren. Ganz auders erscheint der Korperbau der Mollusken (Fig. 8), d. h. der Muscheln, Tintenfische uud Schnecken. Zunachst vermissen wir die deutliche Gliederung des weichen Leibes in Hauptabschuitte , wie Kopf, Brust uud Hinterleib bei den Insekten sahen, und die auBere Korperform ist so mannigfaltig. scharf getrenute wir sie als ... - Buccalganglion .. Gehirnganglion _ Pleuralcranglion sPedalganglion Parietalgangliou Eingeweideganglioii Fis. 8. Fig. 9. Fig. 8. Schematische Skizze des Bauplanes der Mollusken. a After, c Herz, cj Ge- schlechtskeimstatte, k Kieme, n Niere, p Mantelhohle, s Schale. Fig. 9. S ch enia tische Skizze des Nervensystem.es einer Schnecke. dass sich eine allgemein giiltige Beschreibung gar nicht geben lasst. An der Bauchseite samnieln sich miichtige Muskelmassen an und befahigen diesen Korpeiiappen, den sog. FuB zur Kriech- oder Schwimmbewegung. Eine Falte der Haut springt dachfurmig als sog. Mantel liber den Leib heraus und begrenzt erne schmale, meist mit Wasser gefullte Mantelhohle (p), die, an der hinteren Korperflache liegend, mehr oder weniger weit an der rechten und linkeu Seite nach vorne dringt. Die ganze Mautelnienibran'fund der groBte Teil der Hautoberflache scheiden ein als Kalkschale (s) erhartendes 26 Zwcitcs Kapitel. Sekret ab. Die Schale dicnt als eine iiuBere, clem Chitinskelette der lusekten vergleichbare Schutzhlille, unterscheidet sich aber wesentlich von dem letzteren, well sie der Gliederung eutbehrt und in ihrer Formbilduug so unabhangig von der anatomischen Struktnr des Tieres selbst erscheint, dass sie mit guteni Rechte das Gehause d. h. eine die auatomischeu Charakterziige des Tieres wenig wieder- spiegelnde Wohnstatte geuannt wird. In die Mantelhohle springeu paarige Lamellen, Auswiichse des Korpers, die Kiemen (&) vor, sie werden vom Wasser urnspiilt, dienen der Atmung und sind ganz anders gebaut, als die physio- logisch gleichwertigen Orgaiie bei Insekten und Wirbeltiereu. Die Leibeshohlc durchzieht gleich wie bei den Insekten den ganzen Korper, jedoch nicht als eiu weiter Raum, soudern als unregelmaBiges System von kommunicierenden Liicken uud Spalten, wie die Hohlen im Hornskelette eines Badeschwammes. Sie ist von weiBeni Blute erfiillt, welches, nicht in GefaBen eingeschlosseu, durch die Spalten der Leibeshohle getriebeu wird durch die Pulsation des an der Riickenseite dicht uuter der Haut im Herzbeutel, einem etwas groBereu Abschnitte der Leibeshohle, liegeuden Herzeus (c). Der Wortlaut meiner Beschreibung konnte Sie leicht verfuhren, hier eine wesentliche Ubereinstimmung mit dem Insekteutypus zu vermuten, welche in der That nicht vorhanden ist. Denn dort zieht das Herz als ein langer Schlauch unter der Riickeii- decke und saugt das Blut durch seitliche Offuuugeu direkt aus der Leibeshohle • hier gleicht das Herz eineni birnformigen Sackcheu, besitzt an der rechteu und linkeii Seite je einen sackforniigen Auhang, die Vorhofe, uud diese saugeu vermoge ihrer Pulsation das Blut aus den Kiemen eiu, wahrend das Herz dasselbe in die Leibeshohlen- spalten des Korpers treibt. Das Nervensystem (Fig. 9) besteht aus quer und liings ziehenden Nervenstrangen uud paarigen Gauglienknoten, welche nicht zu einer strickleiterahnlichen Gesamtheit angeordnet sind, sondern im Leibe zerstreut sind und in wesentlich geringerer Zahl (fiiuf Paare) als bei den lusekten (vierzehu Paare) auftreten. Laugsnerven ziehen von den oberhalb der Muudhohle liegenden Gehirngauglien zu den iibrigen Nervenknoten. Der Darm durchsetzt in Windungen die schwammige Korpermasse vom vorder- und niederstiiudigeu Munde(o) zum hinterstaudigen, hoher liegeudeu After (a). Er besitzt immer eine auBerordeutlich voluminose Verdauungsdriise, die sog. Leber. Die Harnorgane («), weite Sacke mit vielfach gefalteter Innenflache, also durchaus verschieden von den Malpighischeu GefaBen der lusekten und den Nieren der Wirbeltiere, liegen dicht uuterhalb des Euddarmes uud miiuden mit Die Typen des Tierreiches. 27 gesonderteu Poren uabe dem After. Die Gescblecbtskeimstatten (g) be- sitzen die Gestalt von Sacken, nicbt vou Scblaucbbuscbeln, an deren Innenwand die Samenzellen oder Eier reifeu. Die meisten Mollusken sind getrennt gescblecbtlicb, nur die Yorderkiemer und Lungen- sclinecken sind Z witter mit zwitterigen Geschlechtsorganeu nach einem ganz besonderen, in anderen Klassen des Tierreicbes nicbt wiederbolten Plane. Einen neuen Forrneukreis offenbaren die Stacbelbauter, die Ecbinodermen, indem die wicbtigen Organe nicbt paarig, sondern in der Fiinfzabl auftreten. Der spbiiriscb reguliire Leib (Fig. 10) dieser Gruppe, deren Arten alle stereometriscben Varianten zwiscben der Kugel, Scbeibe, Walze und Kegel realisieren, wircl clurcb ein Skelett (s) Pig. 10. Fig. ii. Fig. 10. Schem atisch e Skizze des Bauplanes der St achelhaut er (Seeigel). a After, f WaseerfiilicheD, g Geschlechtsorgaue, o Mund, s Skelett, Wassergefalie punktiert, Blutgefaii- ring schwarz. Fig. 11. Ein kriechender Seeigel mit weit ausges tree k ten WasserfiiCchen. N Ko manes und Ewart. kleiner Kalkplatten gefestigt. Dasselbe ist kein AuBenskelett, wie bei den Insekten und Mollusken, sonderu den tiefen Scbicbten der Haut eingelagert und von den oberen Scbicbten derselben iiber- deckt. tJber die Haut (Fig. 11) rageu fiinf meridional gestellte Doppelreiben von zarteu kontraktileu , steckuadelabnlicben Scbliiucben, den sog. Wasser- oder AmbulacralftiBcben (f), welcbe sicb mit ibren verdickten Eudstiicken an die feste Unterlage an- saugen, wieder losen und nacb erneuter Ausstreckung und Fest- baftung das Tier selbst fortbewegen. Da die Reibeu der Wasser- fiiBcben durcb foBlose Felder vou einauder getrennt sind, fallen an der AuBemvand jedes Ecbinodermen zebu meridionale Zonen : fiinf Am- bulacralfelder uud fiinf Interambulacralfelder auf. Aucb die Skelett- platten zeigeu entsprecbend den Zouen cbarakteristiscbe Unter- 28 Zwoites Kapitcl. schiecle (Fig. 12) uml audere Orgauc unterliogen tier gleichen fiinf- stmhligen Priignng. Die Leibeshohlc ist weit und geiilumig, die Korperwand ver- ualtnismaJBig diinn, so class der Leib eines Stachelhauters ganz gnt einem spharischen Holilsacke verglichen werden kann. Der Mund (o) liegt an eineru, der After («) am entgegeugesetzten Pole. Nahe dem Muncle befindet sich innerbalb der Leibeshohle der Kingkanal des Wasser- gefa.Bsystemes (Fig. 10 punktiert), eines allein den Echinoderrnen zukommen- deu Organsystemes. Dasselbe client dazu, die WasserfiiBchen je nacb dem Bediirf- nisse mit Fliissigkeit zu fiillen ocler bei der Kontraktion der FiiBchen die ausgetriebene Fliissigkeit aufzuspeicbern. Deshalb geben YOU dem Ringkanale (Fig. 13) fiinf meri- Das Kalkskelett eines See- igeis (ctdaris). a Ambuiacrai- clionale Hauptstamnie Kings der Korpei- felder, * Interambulacralzonen, d £ entsenden kleiue mifc SeitCU- c Mundfeld. blaschen, sog. Ampullen, besetzte Seiten- zweige in die boblen WasserfiiBchen. Yom Riugkanale zieht auBer- dena ein eiufacher Ast, der Steinkanal, zur Haut, uni dort mit einer siebformig durcblochten ,,Madreporenplatte" zn rn linden und Meerwasser in das steruforniige Ge- Biaseu samtgefiiBnetz eiuzu- fiiliren. Dem Wasser- ringkanale benacbbart liegt ein Blutgefa'Bring (scbwarz) mit fiinf me- riclionalen Seitena'steu. Die Hauptmasse des Nervensystemes bildet FiilSolien Ampxillen der FiiBoheu Ambulacraler Hauptstarnin Eingkanal Steinkanal Madreporenplatte Fig. 13. "Wasser gefaB sy st e m eines Seeigels. einNervenring, der ebeii- falls fiinf rneridiouale Nerven an die Korper- wand entsendet. So ist also in gauz eigenartiger Weise fiinf Organsystemen, der Bewegnng, dem Skelette, den Wasser-und BlutgefiiBen und Nerven die fiinfstrahlige Orduuug aufgepragt und den Ecbinodernien eiue Sonderstelluug im Tierreicbe zugewiesen? da kein auderer Organi- satioustypus etwas Ahnliches aufweist. Der Darra zieht gescbluugen durch die Leibeshohle, an eineni Die Typen des Tierreiches. 29 i diiimen Bande wie bei Wirbeltieren am Gekrose aufgehangt. Er entbehrt meist gro'Berer Driiseuankange. Harubereitende Organe sind mit Sicherheit uicht uachgewiesen. Die Hodeu und Eier- sii">rke treten bei deu durchweg getrennt geschlechtlichen Stachel- hautern als fiinf in meridionalen Zoneu nahe clem After liegeude Paare von Sack en auf, \velche direkt an der Haut ohne Ver- rnittelung eines Ausfiihrganges mtinden. Nocb einfacher sincl die Pflanzentiere, Coelenteraten, ge- baut, d. h. die Polypen, Seerosen, Korallen und Quallen. Ikr Korper (Fig. 14), kanu einem Hoklsacke verglichen werden, welcber niit seineni Boden festsitzt und urn die Muudoffuung, einen Krauz von beweglicben Anbangen. deu Tentakeln, tragt. Eine Leibes- hohle uud viele andere Organe siud iiber- liaupt uicht differenziert. Die Muudoffnung fiihrt direkt iu eine weite Magenhohle obue darmahnliche Fortsetzuug und ohne After. Ibre Ausdebuuug bestirnmt meist das Yolunieu des Tieres. Denn die Wand der Magenboble ist inuig mit der Korperwand verwacbsen. Verdauuugsdriiseu, Nieren, Atemorgane siud uicbt vorbanden. Klein ere Zellengruppen der Leibeswaud eutfalten teils niuskulose, teils nervose Thatigkeit. Aucb die Gescblecbts- zelleu entsteben in der Korperwand uud ge- langen durcb Platzeu derselben ins Meer. Wenn ein Skelet gebildet •\virdj wie bei den Leder- und Steiukorallen, so entstebt es entweder iunerbalb der Leibeswaud oder als Sekret der Haut. Bei den Urtieren, Protozoen eudlicb verbarrt der Korper fast iuuerbalb der Grenzeu mikroskopiscber Zwergbaftigkeit und entbebrt jeglicber Organbilduug. Er stellt eine wiuzige, bocbst verscbieden- artig geformte Menge lebender Substanz vor und auBert alle Lebens- erscbeinuugen wie ein kompliziert organisiertes Tier. Er bewegt sicb, er nimmt Nabruug auf. er wirft die unbraucbbaren Nahrungs- bestandteile wieder aus, er scbeidet die Zersetzuugsprodukte seines Stoffwecbsels ab, er atrnet, er pflauzt sicb fort - - aber obne deutlicb ausgepragte Organe. Am bocbsten sind die Infusorien ausgebildet (Fig 15), deren Oberflacbe mit feiusten Flimmerbaaren iibersat ist. Eine scbrage Einne an einer beliebigen Korperstelle zeigt die Stelle an, wo Nabrungsstofle in die weicbe Leibesmasse aufgeuommen und vor ibrem Eintritte einer Priifung (wabrscbeinlicb auf ibre Zutraglicb- keit) unterzogen werden. Der Leib selbst zeigt zwei Zoneu, eine auBere, gleichmaBig byaliue, diiune Scbicbt und eine grobkoruige Binnen- 14. S eh ematische Skizze desBau planes der Coe- lenteraten. 30 Zweites Kapitel. Hauptkerne Nalirungs- korper //•^i- • •/••v-f ^WSpl --'wP^ Vakuol; — After Fi.4. is. Eiu Infusorium (Stylonichia mytilus). Nach S t ein. masse, in welch er cler Kern, ein Blascken aus fiirbbarer Nuklein- substanz, samt cleni Nebeukern eingebettet ist. Beicle siud die wicktigsten Teile des Infusorieukorpers, deiui ihr Verlust zieht un- \vimperzonedes rettbar den Tod des Tieres nach sick. Ick iibergeke die Schilderungder anderen Stiltypeu, weil die seeks Beispiele geuiigen. Iknen eine Yorstelluug von den groBeu, in Wirklickkeit besteken- deu Untersckiedeu der Orgauisnieu zu geben. Als Darwin 's Buck im Jakre 1859 ers.ckien, war es allgemeine An- sickt der Zoologeu, dass sieben stilistiscke Gruudformeu im Tier- reicke kerrscken, die in Verbesserung einer zuerst von Cuvier aufGrund der Untersckiede in der allgemeiueu Anordnung derKorper- teile ausgesprockeneu Erkeuntnis augeuommeu wurdeu. Die eben an wenig Beispielen und ganz oberflacklick ckarakterisierten Stileigentiim- lickkeiten katten uamlick den geuialen frauzosiscken Anatomen G. Ouvier veranlasst, vier groBe Organisatiouskreise: Die Wirbeltiere, AVeicktiere, Gliedertiere und Radiartiere aufzustellen : Der Typus der Wirbeltiere umfasste die Saugetiere, Vogel, Reptilien, Lurcke, Fiscke, Der Typus der Gliedertiere die Insekteu, Spinnen, Krebse, Gliederwiirmer, Der Typus der Weicktiere die Tintenfiscke , Sckuecken, Musckeln, Pteropoden, Brackiopoden, Cirrkopoden, Ascidieu. Unter dem Typus der Hadiaten wurden alle iibrigeu Gruppen : die Stackelkauter, Polypen, Quallen, Eiugeweidewiirmer, lufusorien zusammengefasst. Als man spater die Unnatiirlickkeit zweier Cuvierscker Typen erkannte und die Infusorien ganz von den Radiaten treunte, feruer den Rest der Radiaten in den Typus der Eckinodermen und der Coelenteraten, sowie die Gliedertiere in die Artkropoden , Glieder- fuBer d. k. Insekten, Spinnen, Krebse uud in die Auneliden, Die Typen cles Tierreiches. 31 Gliederwiirmer, zerlegte, waren sieben gesonderte Orgauisations- kreise der Tiere bekanut. lu den letzten vierzig Jahreu hat sich durck eirigehende anatoniische Forsckungen die Notwendigkeit ker- ausgestellt, nock mehr stilistiscke Tvpen zu untersckeiden, welcke ick in tabellariscker Form kier aufzakle. R. Hertwig 1900 J. E. V. Boas 1890 J. Kennel 1893 A. Fleischmann 1898 1. Protozoa, Urtiere 1. Protozoa, Urtiere 1. Protozoa, Urtiere 1. Protozoa, Urtiere 2. Coelenterata, Pflanzentiere Spongia, Anliang der Coelenterata 2. Coelenterata, Korallen, Quallen 2 Spongiae, Schwiimme 3. Coelenierata, Korallen, Quallen 2. Spongiae, Schwamme 3. Coelenterata, Korallen, Quallen 3. Plathelminthes, 1 Plattwiirmer I 4. Platodes, Plattwiirmer 5. Nemertini, Schnurwiirmer 4. Platodes, Plattwiirmer 5. Nemertini, Schnurwiirmer Rotatoria, Anliang d°r Plathelminthes 6. Rotatoria, Radertiere 6. Rotatoria, Radertiere 3. Vermes, Wiirmer 4.Nemathclmintbes,J Rundwiirmer | 7.Nemathelminthes,l Spulwiirmer 8. Rhynchhelmin- thes, KratzwiirmerJ 7. Nemathelminthes, Rundwiirmer 5. Annelides, J Gliederwiirmer | 9. Annelides, Gliederwiirmer 8. Annelides, Gliederwiirmer 9. Sipunculida, Sternwiirmer § Bryozoa Bryozoa, Anliang der Annelides 10. Bryozoa, Moos- tiere 10. Bryozoa, Moos- tiere ^ Bracliiopoda< Bracliiopoda, An- liang der Annelides 11. Bracliiopoda, Armfiissler 11. Bracliiopoda, Armfiissler, -=s Tunicata Tunicata, Anliang zu den Wirbeltieren 12. Tunicata, Manteltiere 12. Tunicata, Manteltiere 4.Echinodermata, Stachelhauter 6. Echinodermata, Stacbelhauter 13. Echinodermata, Stachelhauter 13. Echinodermata, Stachelhauter 5. Mollusca. Weichtiere 7. Mollusca, Weichtiere 14. Mollusca, Weichtiere 14. Mollusca, Weicbtiere 6. Arthropoda, Gliederfiilier 8. Arthropoda. 1 GliederfuCer 1 5. Crustacea, Krebse Tracheata, 16. Tracheenatmer 1 15. Arthropodu, i GliederfuGer 7. Vertebrata, Wirbeltiere 9. Vertebrata, Wirbeltiere 17. Vertebrata, Wirbeltiere 16. Vertebrata, Wirbeltiere 32 Zweitcs Kapitel. Die scharfere stilistische Trennung der Tiergruppen ist in wisseu- schaftlichen Abhandlungen durchgefiihrt worden und hat sich ohne groBes Geschrei vor der Offentlichkeit vollzogen. Deshalb wurde die neuerliclie Komplikation des Abstainmungsproblems weiteren Kreisen gar nicht bekannt. Jetzt besteht aber die Thatsache, dass 17 Typen unterschieden sind, bei welchen die Korpergestalt, die Anordnung uud die Ausbildung der einzelnen Organe iu verschiedenartiger Weise erfolgt. Infolgedessen ist das Problem, welches von Darwin der zoologischen Wissenschaft vorgelegt wurde, als ein komplexes, zusammengesetztes Problem zu beurteilen. Es handelt sich nicht mehr urn die verhaltnisinaBig einfache Frage, aus welchen Ur- formeu die vier Cuvier'schen Kreise sich entwickelt haben, wir miissen vielmehr hinter jede einzelne der Typen die Frage stellen : itg Jio&ev els drdgcov, node 101 Jiofag ijde roxfjes. ?,Von welcher Urform hast du dich entwickelt?" Der Lai e unterliegt also gleich von vornherein einer groBen Tiiuschung. Denn die Abstammungs- frage lost sich dem Eingeweihten zunachst in 17 gesonderte Probleme auf, welche gesoudert untersucht werden miissen, uud da ist die Zahl noch niedrig gegriffen, weil inuerhalb jedes einzelnen Formenkreises wiederum ungeheuer viel Sonderprobleme auftauchen. Drittes Kapitel. Der Bauplan der Glieclmasseu. Iu der letzten Stunde habe ich Ihnen zu zeigen versucht, welches Problem durch das Erscheinen des Darwin'schen Werkes iiber die Entstehung der Arten der zoologischen Wissenschaft gestellt wurde und heute noch das allgemeine Interesse erregt. Die exakte Forscliung soil ergriinden , ob iiberhaupt die hoheren stilistisclien Typen des Tierreiches aus einfacheren Typen entstanden sind und mit der Bejahung der Frage zugleich erlautern, wie die eigenartige Organisation eines bestinimten Kreises sich in einen ganz anderen architektonischen Plan umge- wandelt hat. Ferner wird Auskunft dariiber verlangt, durch welche Ursachen die Umbildung eines Strukturplanes in den anderen hervor- gerufen wurde. Die Schwierigkeit des Problemes tritt Ihnen lebhaft vor die Seele, wenn Sie sich nochmals der in der vorigen Stunde geschilderten Differenzen eriunern. Bei den Wirbeltieren liegt das centrale Nervensystem in der Riickenzone des Leibes als ein Rohr, dessen solide Wand aus Nervenfasern und Ganglienzellen gewebt ist. Sein Vorderende in der Schiidelregion schwillt zu den fiinf groBen Hirublasen an. Bei samtlichen iibrigen Stiltypeu wird diese Form des centralen Nerven- systemes nicht mehr gefunden, meist tritt das letztere in Gestalt von bauchstandigen Nerveustrangen und segmental geordneten Ganglienknoten, wie bei den Insekten, auf oder in Gestalt von zerstreuten Ganglienzellhaufen, welche durch Nervenstriinge ver- kniipft sind, wie bei den Molluskeu. Die Form des Herzens, seine Vorkammer und Kammer, so wie seine Lage iin vordersten ventralen Winkel der Leibeshohle stellt eine ganz unvermittelte, nur den AVirbeltieren zukommende Einrichtung dar. Solcher Beispiele lieBen sich noch unendlich viele anfiihren. Will die zoologische Wissenschaft die Frage losen, von welchen Ahnen die Wirbeltiere stammen, so muss sie Zwischenformen suchen, die erlautern, wie die bauch- oder mundstandigen Nervenniassen anderer Typen nach der Riickenseite verschoben und zugleich aus Fleischinann, Descendenztheorie. o 34 Drittcs Kapitel. tier Leibeshohle cntfernt in die solide Masse desKorpers eingelagert und von den ganz ueu crscheinenden Wirbeln umfangen wurden, wie sich das strangartige Nervensystem niederer Tiere in ein aus Gauglien- zellen und Nervenfasern gewebtes Rohr umgewandelt hat, wie die Gebirnblasen am vorderen Ende entstanden sind, welches die Veranlassung zur Bildung cler Sinnesorgane wurde. Noch viele Hunderte von anderen Fragen sind dabei zu beantworten, um die Entstehung des specifischen Gepriiges fiir jeden Korperteil eines Wirbeltieres zu erklaren. Da fiir jede der siebzehn stilistischen Gruppen des Tierreiches die gleiche Arbeit zu leisten ist, so begreifen Sie wohl, dass das Descendenzproblem sachliche Fragen in Hiille und Fiiile inner- halb des Rahmens der zoologischen Fachwissenschaft auf- geworfen hat, welche mit der Schopfungslehre der Theo- logen durchaus nichts zu schaffen haben. Viele von Ihneu haben bisher einer anderen Meinung gehuldigt, weil sie durch die Werke E. Haeckel's und anderer popularer Schriftsteller der Descendenzschule in falscher Weise dariiber unterrichtet wurden. Daher kommt es, dass man jedeu die neue Lehre nicht beifallig aufuehmenden Mann als Soldling der streng gliiubigen Priesterschaft bezeichuet und ihm durch die ebenso bequeme. wie unbegriindete Verdiichtigung das Urteilsrecht abzusprechen glaubt. Dieser Irrtum hat sich aus dem ersten Jahrzehute der Darwin- schen Bewegung in unsere Tage vererbt, weil die Verquickung von zwei durchaus nicht zusammengehorigen Ideenkreisen, der rein zoologischen Frage u'ber die Abstammung der Tiere und der theologischen Schopfungslehre, von Haeckel und seinen Freuuden als ein Mittel angewendet wurde, um allgemeines Interesse fiir ihre Schriften zu erwecken. Der Zoologe darf sich keiner Tauschung dariiber hingeben, dass die sachliche Frage der Blutsverwandtschaft von Lebewesenr welche den meisten nicht einmal dem Namen nach bekannt sind, den Laien ebenso gleichgiiltig erscheint, wie so viele Tausend andere fachwissenschaftliche Fragen der Chemie, Mathematik, Philologie und Jurisprudenz. AVas ich Ihnen neulich iiber die Architektur des Tierkorpers klar zu machen suchte, wird immer bloB den Fach- mann lebhaft beschaftigen und ihn zu neuer Vertiefung anreizen. Jch glaube auch, manchem der Zuhorer nicht zu nahe zu treten,. wenn ich die Vermutuug iiuBere, er habe die Modelle und die stilistische Erklarung derselben wohl mit Aufmerksamkeit verfolgt, sei aber jetzt froh, dass ich die Darstellung dieser Punkte fiir geniigend halte und auf eine breitere Ausfiihrung verzichte. Der Bauplan der Gliedmassen. 35 In clem Bestreben, die uuleugbaro Teilnahrnslosigkeit aller Nichtziinftler zu beseitigen, suchte Haeckel's Schule die neue zoologische Fragestellung durch den Vergleich mit dem mosaischen Schopfungsberichte und den Hinweis auf den Konflikt mit religiosen Ansichten interessant zu machen, ferner dadurch, dass sie aus derFiille zoologischerProbleme dieganz untergeordnete Frage, ob der Mensch von den Affen abstamme, als Kardinalpunkt herausgriff. So wurde das Urteil des Publikums irre geleitet, das Problem seiner Aufrichtigkeit beraubt und die Diskussion wesentlich erschwert. Der Febler ist gar nicht zu entschuldigen, weil Haeckel ebenso gut wie jeder andere weili, dass ein naturwissenschaftliches Ratsel durch die Anleihe bei theologischen Fundamentalwerken nicht gelost werden kann. Die zoologische Wissenschaft miisste doch allgemeiner Verachtuug preisgegeben werden, wenn ihre Jiinger, der eigenen Einsicht misstrauend, zu den Theologen sprechen wollten: wir haben im Buche der Natur gelesen, um die Stammesgeschichte der Tiere zu erfahren, aber keine Aufklarung gefunden, lest ihr uns aus der Bibel vor, damit wir griindliche Erkeuntnis schopfen. Wie konnten Manner der exakten Beobachtung rekurrieren zu einem ehrwiirdigen Buche, das nimmermehr als Lehrbuch der Natur- wissenschaft geschrieben wurde und andere Zwecke verfolgt, als Aufklarung iiber die modernen Probleme der Abstammungslehre zu bringen ! Fallt es niemandem ein, Belehrung iiber die Geographie, die Flora, die Fauna, die Geologie von Paliistina uud Mesopotamien in der Bibel zu suchen, hochstens Belehrung iiber die dariiber bei den Zeitgenossen des Verfassers der mosaischen Biicher herrschenden Ansichten, so gedenkt auch der Zoologe nicht, seine junge Wissen- schaft durch die Hberlieferung der heiligen jiidischen Religions- schriften zu begriinden. Trotzdem hat Haeckel den Gegnern der Descendenztheorie diese unsinnige Absicht untergeschoben, da er sie durch sachliche Griinde nicht zum Schweigen zu bringen vermochte. Sie diirfen mir glauben, jeder will Sie iiber das wahre Ver- haltnis tauschen, der behauptet, die Descendenz babe auch nur eine leise Beziehung zur Religion. Das Problem ist fiir die Kreise der reinen Fachwissenschaft gestellt und wird durch anatomische Unter- suchungen gelost werden. Nur diejenigen Manner, die mit den That- sachen der tierischen Anatomic, Entwickluugsgeschichte und Palaon- tologie genau vertraut sind, kounen dariiber urteilen. Die lacherliche Frage, ob der mosaische Schopfungsbericht zutrifft, kommt hierbei nicht in Betracht. Wenn ich iiber das Descendenzproblem nach- denke, kann ich natiirlich auch historische Untersuchungen dariiber 36 Drittes Kapitel. anstellcn, ob die Frage frtiher aufgeworfen wurdc, und muss dann von dcm Versuche eiuer Antwort Kenntnis nehmeu, die im ersten Buche Mosis steht. Das kann den Naturforscher f'iir einige Zeit beschiiftigeu, aber iudem wir die Geschichte des Problems verfolgen, sind wir doch nicht genotigt, alte einstmals von Laien geiiuBerte Ansichteu als positive Wahrheiten hinzuuehmen. .Noch weuiger werden wir den Kriegszustand zwischen den Naturforschern und Theologen proklamiereu , weil der exakte Forscher das Fundament der Thatsachen jedem autoritativen Berichte vorzieht. Manche Naturforscher und manche TheoJogen mit naturwissen- schaftlichen Neigungen baben gelegeutlich versucht, einen Ausgleich zwischen den naturwissenschaftlichen und theologischen Glaubens- satzen zu finden, besonders seitdem vom Ha eckel'schen Lager heftige Proteste gegen die fernere Aufrechterhaltung der christlichen Lehre erhoben worden waren. Mir scheinen die gut gemeinten Versuche erfolglos bleiben zu miissen, da die Anhiinger einer bestimmten Uber- zeugung sich durch einen Vermittler nicht vom Gegenteile belehren lassen. Sie scheinen mir aber auch irn Prinzipe verfehlt, weil nach meiner Ansicht der Ausgleich zwischen Theologie und Naturwissen- schaft iiberhaupt nicht zu suchen ist. Beide Fakultaten arbeiten zwar nach den gleichen logischen Denkregeln, jedoch gehen sie von verschiedenen Grundvoraussetzungen aus: Die Theologie glaubt, dass die heiligen Schriften die iiberirdische Oifeubarung der Heilswahr- heiten enthalten, die Naturwissenschaft dagegen will nichts fur sicher ansehen, als das, was durch sinnliche Beobachtung festgestellt ist. Ein vernlinftiger Mann kann nur darnach streben, die gegenseitige, durch die Zugehorigkeit zur Uuiversitas litterarum gebotene, Tole- rauz der beiclen, ganz verschiedeue Ziele verfolgenden Wisseuschaften im litterarischen und personlichen Verkehre zu fordern und daflir zu sorgen, dass die Lehren der einen wissenschaftlichen Disziplin sagen wir der Theologie • nicht als kritischer MaBstab fiir natur- wissenschaftliche Ergebnisse gelten und umgekehrt. Wederbeim Erscheiuen von Darwins Buche. noch heutehandelt es sich um die Entscheidung, ob die Tiere von Gott erschaffeu oder auf natiirlichem Wege ohne Eiugreifen einer iiberirdischen Macht entstanden sind. Wir haben nur zu zeigen, ob die Umbildung der Organisationstypen durch reelle Beweisstiicke sich be- legen lasst; das ist zweifellos eine fachwissenschaftliche Frage, freilich in Anbetracht der Hilfsmittel und der Methode der exakten Forschung so auiierordeutlich kompliziert, dass ich in groBen Zweifeln bin, ob sie iiberhaupt gelost werden kann. Vorderhand ist sie noch nicht gelost, wie die starken Meinungsverschiedenheiten des heuti- geu Tages beweiseu. Die Auhilnger uud Gegner polemisiereu vor Der Bauplan der Gliedmassen. 37 unseren Augen oftmals mit der gleiclien Erreguug, wie vor vierzig Jahren, obgleich ihr Streit eine sachliche Frage betrifft, welche die personliche Verstimmung gar riicht rechtfertigt. Anatomische Untersuchungen werden die tbatsiicblicben Anhaltspunkte lieferu; halten dann diese der kritischen Beurteilung stand, so wird sich der Beweis von selbst entwickeln, entweder, dass trotz der gewaltigen Unterschiede in der alJgemeinen Korpergestalt, in der Verteilung, der Lage, dem Volumen, der Zahl mid der Struktur der Organe, der Zeit ihres Entstehens und der Art ihrer Tbiitigkeit doch so viele ubereinstimniende Eigenscbaften besteben, um uns den tTbergang eines Typus in einen anderen nicbt bloB tbeoretiscb annebnien, sondern durcb die positiven Tbatsacbeu recbtfertigen zu lassen, oder es wird sicb das Gegenteil berausstellen. Nacbdem icb Ibuen gezeigt babe, dass das Abstammungsproblem eine facbzoologiscbe Frage ist, erortere icb kurz die Arbeitsmetboden, welcbe fiir die Losung der Descendenzfrage in Betracbt kornmen. Die exakten Forscber geben nicbt von allgemeinen Satzen aus und leiten nicbt durcb logiscbe Deduktion daraus das Besondere ab. Sie fordern, dass alle Lebreu auf einwandsfrei beobacbteten Tbat- sacben begriindet sind und gestatten es nicbt, umgekebrt aus tbeo- retiscben Verallgemeinerungen Scbliisse zu zieben, fiir welcbe nacb- trilglicb Tbatsacben als Beweise krampibaft gesucbt werden. Die Folgerung aus allgemeinen Satzen mag in mancb anderer Disziplin gliinzende Resultate zeitigen, in der Naturwissenscbaft ist sie ver- pont, so lange nicbt eine sebr groBe Zabl von positiven Daten die Ableitung einer allgemeinen Bebauptung notweudig stiitzen. Wir spotten z. B. dariiber, dass vor secbzig Jabreii die geist- licben und weltlicben Gericbte zu San Fernando in Cbili einen Mann Nameus Renoux wegen Zauberei verurteilten, weil er Raupen hatte, die sicb in Scbmetteiiinge verwandelten. Aber dieselbe Un- kenntnis berrscbte vor 300 Jabren allgemein unter den Gebildeten und Gelebrten der alten Welt und ist bloB dadurcb zerstreut wordeu, dass man die Tbatsacben geuau verfolgte, die Stadien der Raupen sammelte, die Veranderung des Korpers studierte und die Umwandlung in den Scbmetterling durcb die Beobacbtung feststellte. Sicberlicb ware kein logiscber DeduktionsscbluB im Stande gewesen, das Resultat ebenso unanfecbtbar zu erbarten. So gebt es in vieleu anderen Fallen. Wenn icb im Meere ein kleines Tier (Fig. 16) fiude, von kegelformiger Gestalt, mit Fortsatzen und Wimperscbniiren, und bebaupte , es sei die junge Larve eines Seeigels (Fig. 11), also eines Tieres, dessen kugeliger Leib mit Kalkstacbeln und WasserfiiBcben bedeckt ist, so wird jeder verlangen, dass icb es aucb beweise. Die Beweise 38 Drittes Kapitel. wurden durch die eingehenden Beobachtungen von J. Miiller vor 40 Jahrcn geliefert. So, wie jeder Schulknabe jetzt die Umwand- lung der Raupeu im Zucbtkasten veriolgt, so bat Miiller die See- igellarveu beobacbtet und gezeigt, dass sie sicb in einen Seeigel verwandeln , der so bimmelweit von ihnen verscbieden ist. Wah- rend der Seeigel durcb die cbarakteristiscbe Anordnung der moisten Organe nacb fiinf- strabligem Typus ausgezeicbnet ist, erscbeint die Larve bilateral symmetriscb , aber sie schreitet durcb langsame Umbilduug zur Or- ganisation des Seeigels fort, wie jetzt deutlicb nacbgewiesen ist. Wenn jemancl sicb weigern sollte, die Be- bauptung als ricbtig anzuerkennen, so bin icb IB. im Stande, ibm die Umbildungsstadien vorzu- fubren und alle Zwcifel zu losen. Die Des- igels- cendenztbeorie, welcbe die Probleme derMeta- morpbose sarntlicher Stiltypen urnfasst, muss gleicbfalls so bebandelt werden, indern die verbindenden Glieder zwiscbeu den durch scbarfe Grenzlinien der Organisation ge- scbiedenen Kreisen demon striert werden; denu die exakte Forscbting soil zeigen, dass lebende Orgauismen die Stilgrenzen wirklich iiberscbritten baben, nicbt bloB, dass es unserern Verstande einleucbtend sei, sie batten sie iiberscbreiten konnen. Zu diesem Behufe mlissen vermittelnde Formeu, wie sie zwiscben dera Eaupenei und Scbmetterling bekannt sind, zwiscben den engeren und weiteren Gruppen des Tierreicbes vorgestellt werdeu. Ibre Bescbaffung ist fur die Abstammungslebre unerlasslicbes Erforderuis, aber als Darwin's Bucb erschien, waren solcbe Zwiscbenglieder nicbt bekannt, iiberbaupt die Anatomie und Eutwickelungsgescbicbte der Typen zu wenig untersucbt. In dieser Verlegenbeit niussten einstweilen bereits bekannte Tbatsacben den Facbgenossen und dem Publikum als scbeinbare Beweise gelten, welcbe wenigstens innerbalb eines gescblossenen stilistiscben Kreises die Umwandlung extremer Formen bezeugten. Die Anatomie der Wirbeltiere bot einige bequeme Bei- spiele dar. Ibre systernatiscbe Zusammengeborigkeit stebt ganz auBer Zweifel, weil die typiscbe Anlage der meisten Korperorgane bei alien Arteu der Fiscbe, Arnphibien, Reptilien, Vogel und Siiuge- tiere iibereinstimmt, trotzdeni die iiuBere Erscbeinuug der fiinf Klassen eine unerscbopflicbe Variation der Korpermodellierung zeigt. Der Bauplan der Gliedmassen. 39 Im Korper eingebettet liegt das Knorpel- oder Knochenskelett, die lange Wirbelsaule, welche aus zablreichen Wirbeln besteht. Die Wirbel selbst lassen den cylindrischeu Wirbelkorper, die oberen Bogen und die bauchwiirts biingenden Rippen unterscbeiden. Die oberen Bogen umspannen den AVirbelkanal, in welcbem das nervose Riickenmark gescbiitzt ruht, wahrend die Rippen in die muskulose Leibeswand ragen und derselben neben der versteifeuden Festigung emeu gewissen Grad von Beweglichkeit sicbern. Am Vorderende der Wirbelsaule liegt der knocberne Scbadel. Die Leibesboble erstreckt sicb nur iiber den Rumpf, nicbt in die Kopf- und Scbwanz- region. Der Darm zerfiillt in drei' Hauptabscbnitte und haugt an einem breiten Band (Gekrose) von der dorsalen Decke der Leibes- boble. Die Hauptstamme der BlutgefaBe durcbzieben in ubereinstim- mender Weise den Korper, stets liegt im vordersten ventralen Winkel der Leibesboble das Herz. Die Harn- und Gescblechtsorgaue zeigen gleicben Typus. Icb kiinnte bundert und aber bundert alien Wirbel- tieren gemeinsanie Eigenscbaften aufziiblen. weun icb nicbt furcbten miisste, Ibre Geduld dadurcb unnotiger Weise zu erscbopfen. Dieselben waren im Jabre 1860 nicbt so vollstandig bekannt, wie beute, nacbdem viele Spezialuntersucbungen unser Wisseu auBerordentlicb erweitert baben. Aber ibr Vorkornmeu spricbt nicbt unbedingt fur die Ricbtigkeit der Descendenztbeorie , weil sie nur Zeugnis fur den gerneinsamen Bauplan der Wirbeltiere ablegen und mit sebr t i e f gr e ifenden Unterscbieden gepaart sind. Um die bestebenden Gegensatze zu ermessen, braucben Sie bloB an einen Fiscb und einen Vogel zu denkeu, deren auBere Erscbeinung und deren innerer Ban der Verscbiedenbeit des Aufentbaltsortes und der Lebensweise entsprecbend ganz fun dam en tale Ab- weichungen von deni allgemeinen Stilplan der Wirbeltiere zeigt. Das Gleicbe gilt aucb fiir die drei anderen Klassen: der Saugei', Reptilien und Lurcbe. Lasst sicb nacbweisen, dass die Unterscbiede einzelner Korperteile bei den Wirbeltieren gradueller, nicbt wesentlicber Natur uud dort, wo sie uns besonders auffallen, nur extreme Steigerungen eiuer, anderen Gruppen gleicbfalls zukomnienden Einricbtuug sind, kurz gesagt, lasst sicb nacbweisen, daB die zunacbst so fundamental gescbieden erscbei- nenden Tierformen innerbalb der Wirbeltiergrenzen durch Ubergauge verbunden sind, so ware es denkbar, dass aucb zwiscben den groBen Organisation stypen eine gewisse tlbereinstimmung berrscht, und die jetzt bestebenden Scbeideliuien bei genauerer Analyse ibre Bedeutung teilweise verlieren. In der ersten Hiilfte der Darwin'scben Periode erzwang der Mangel an umfassendeu Untersucbungen. welche nacb den eben 40 Drittes Kapitel. charakterisierten und damals ncuen GesicMspunkten durcbgefiihrt gewesen wurcn, die bescheidene Ziigelung kiihner Hoffimngen. Solche Vergleicbungen, wie sie nunmehr notweudig wurden, er- fordern Zeit, schon um das umfassende Untersucbungsmaterial zu sammeln uud ferner, um die Vergleichimg hinreichend zu vertiefen. Man war also darauf angewiesen, die bereits bekannten anatomischen Thatsachen innerhalb des Rahmens der Wirbeltiere • die Wirbel- losen waren iiberhaupt ganz ungeniigend bearbeitet - - in dem Sinne zu priifen, ob sicb nicbt aus ihneu allein ein vorlaufiger Anhalts- punkt fiir die Umwandlung der Arten gewinnen lasse. In der That genugten einige Kapitel der vergleicbenden Anatomie der neuen Geistesriclitung und wurden demgemaB vielfacb erortert, um die Gegner zu der reformatorischen Lehre zu bekebren. Fiir meine Absicbt reicbt es bin, ein einziges Beispiel, uanilich den einbeitlicben Plan in der Verscbiedenheit der Extre- mitaten der Wirbeltiere etwas eingeliender zu besprecbeu. Die GliedmaBen dieser groBen, streng gescblossenen systematischen Gruppe erscbeineu als auBere Anbange des Leibes von cylindrischer, walzen- iibnlicber, zwiefacb winklig geknickter Form und steben je ein Paar an der vorderen und biuteren Grenze der Rumpfgegend. Ob Sie einen Salamander, eine Schildkrote, einen Harder anseben, immer clienen die walzigeu GliedmaBen, den Leib iiber den Erdboden zu erbeben, die Last des Korpergewicbtes zu stiitzen und das Tier vom Orte zu bewegen. Der gemeiusame Zweck der Bewegungs- organe bat es jedocb nicbt verhiudert, dass die Natur eine staunens- werte Maunigfaltigkeit derselben erzeugte und damit den besonderen Lebensbediirfnissen der verscbiedenen Wirbeltierarten Recbnung trug. Neben kurzen Stummelbeinen der Kriecbtiere: Salamander, Eidecbsen, Krokodile, Scbildkroten, neben den niedrigen Fiissen kleiner Sauger imden wir langgestreckte grazile Saulenbeine bei guten Laufern, den Huftieren, die Beweglicbkeit der GliedmaBen steigt bei alien kletternden Arten (Affen); den Fliegern leisten sie als Luft- ruder vortrefflicbe Dienste. Nocb auffallender ist der Reicbtum der Hand- und FuB- formen. Um mich nicbt ins Weite zu verlieren, will icb die Bei- spiele auf die Gruppe der Saugetiere bescbranken. Die Glied- maBen des Baren enden mit unfornilich plumpen SoblenfiiBen, aus deren Haarkleid die gekriimmten Krallen berausscbauen. Die Vorderbeine des Scbuppeutieres tragen groBe sicbelformige Scbarr- krallen an dem gleicbmiiBig cylindriscben Stamme. Beim Haul- wurf ist die Hand schaufelformig verbreitet. Die plumpeu Beine des Elepbanten laufen in eine stempelartige Anscbwelluug aus, an deren Rand wobl stumpfe Hufe, aber keine Finger sicbtbar Der Bauplau der Gliedmassen. 41 siud, wiibrend bei Menscben und Affen die Hand in feine zierlicbe Greiffinger gegliedert ist. Die schlanken Laufbeine der Huftiere endlich stehen gar rnittels eines oder zweier Hufe auf dem Erd- bodeu. Icli brauche die Beispiele nicht weiter zu baufen, urn die un- geheure Abwechselung der natlirlichen Handforrnen in Ihrer Erinnerung wacbzurufen. Kein Laie wird durch ihren Anblick versucht, ge- rneinsame Gesetze des Baues zu vermuten. Die Freude der Ana- tomen, den einfachen gemeiusamen Bauplan fur alle GliedniaBen entdeckt zu habeu, war daruna sehr groB und klingt, trotzdem das stilistische Verstandnis schon zu Ende des achtzehnten Jahrkunderts gereift war, in den darwinistischen Schriften der sechziger und siebenziger Jabre wieder. Die Betracbtung der GliedniaBen des lebenden Tieres batte die Einsicbt menials gewonnen. Man muss die Haut, Muskeln und Bander abpriipariereu, uni bei Vergleicbung des Knocbengeriistes die Stilverwandtscbaft der Extreniitaten zu ent- decken. Arme und Beine zerfallen in je drei Regioneu: Oberarm • Oberscbenkel, Unter- arm • Unterscbeukel, Hand FuB und zeigen folgende Gliederuug ibrer Skelettgruud- lage (Fig. 17). In der oberen Region liegt ein eiuziges langes Skelettstiick (o), der Ober- armknocbeu, Humerus • Oberscbenkelkuo- cbeu , Femur ; in der unteren Region folgeii zwei parallele Stiicke, die Elle, Ulna (n), und die Speicbe, Radius (r) • • das Wadenbein, Fibula, und das Scbienbeiu, Tibia. In Hand bezw. FuB scblieBeu sicb zimacbst zwei Quer- reibeu kleiner Knocbeustiickcben, die erste imd zweite Reibe der Handwurzelknocben - Fusswurzelkuocben an. Mit Ibnen sind fiinf laugere Kuochensauleu , die Mittelband- knocben (m), Metacarpalia — MittelfuBkuocben, Metatarsalia, verknu'pft, welcbe je eiue Reibe klirzerer Gliederstiicke, Pbalaugeu der Finger - Zeben tragen. Durcb die biindige Be- scbreibung babe icb Ibueu das Resultat der vergleicbeud-anatomiscben Untersucbungen der letzten zwei Jabr- bunderte vorgefiibrt. Trotz aller auffalligen und deii ungeiibten Beobacbter recbt verwirrenden Unterscbiede siud alle, die vorderen wie biutereu GliedniaBen uacb einem gemeinsameu Plane gebaut. Derselbe ist nur in verscbiedener Weise modificiert. Aus der groBeu Zabl derselben greife icb wieder eiu recbt einfacbes Beispiel Fig. 17. Schematische Skizze von der Zahl und La- gerung der Skelettele- mente in der rechten VordergliedmaBe. MI Mittelknochen, o Oberarm, r Speiche, u Elle. Dritlcs Kapitel. hrrnus. mimlich die Verschiedeuheit des Handskelettes bei den Saugern. Jeder Laie stellt ohne weiteres fest, dass die Zakl der Finger in der Hand niclit iiberall dieselbe ist ; wahrend die Hand des Menschen (Fig. 18) mid der Aft'eu fiinf frei bewegliche Finger tragt, ist die Fiugerzahl anderer Arteu gemindert. Zuni Belege demou- striere ich Ihuen verschiedene Praparate. Beirn Hunde (Fig. 19) z. B. ist der Daumen sehr kleiu. An der Vorderpfote des lebenden Tieres sehen Sie vom ersten Finger iiberhaupt niclit mehr als em weuig iiber die Haut vorragendes kurzes Warzchen, arn Skelette jedoch lassen sich der Mittelhaud- imd die Gliedknocheu des- selbeu deutlich uachweisen. Weun auch schwach 3. Fig. 18. Fig. 19. Fig. 20. Fig. 18. Eechte Hand des Menschen. Nach Gegenbaur. Fig. 19. Rechte Hand des Hundes. Nach Gegenbaur. Fig. 20. Kechte Hand des Kameles. Kach Flower. entwickelt, ist er doch vorhaudeu, wie an der Hand (Fig. 18) des Menschen, wo er in feiner Fimktion geiibt wird. Gehen wir weiter zu den Huftieren, so treten uns z. B. an der Hand des Kamels (Fig. 20) merkwiirdige Einrichtuugen eutgegeu. Statt der Mittelnaudkuocheu, welche iiberall durch ihre Eiu- fiigung zwischen die zweite Handwurzelreike imd die Fiugerglieder erkeuubar siud, findet sich ein einziger cylindrischer Kuocheustab, das sog. Canonbein. An seinem uutereu Rande haugen zwei Reihen von je drei Knochen, welche wir ohne weiteres als Fiugerphalaugen ansprechen diirfen. Nicht so leicht ist es verstaudlich, warum in der Mittelhand die Regel der Der Bauplan der Gliedmassen. 43 fiinf wobi getrennten Mittelknochen durch die Anwesenheit ' eiues derben Stiickes aufgeboben 1st, und weiter 1st die Frage zu ent- scbeiden, welchen Fingern die beideii Reiben der Fingerglieder entsprecben, dem ersten und zweiten, oder dem zweiten und dritten. oder dem dritten imd vierten Finger u. s. w. Die Autwort ist bereits ini vorigen Jabrbuudert erteilt worden, als Fougeroux de Bondaroy, 1758 die FiiBe junger Kalber und Scbafe praparierend, statt des einfacben Mittelknocbens zwei getrenute, dicbt an einander gescbmiegte Siiulenknocbeu fand und ibre spatere Verscbmelzung feststellte. Die vergleicbenden Anatomen debnten bernacb die Beobacbtuug auf andere Arten, Eebe, Hirscbe, Autilopen u. s. w. aus und erkannten, dass in der Ordnuug der Huftiere starkere Reduktioneu der Handkuocben vorkomnien als bei alien iibrigen Saugetiereu . Sie versteben den besonderen Fall ganz leicbt, weim Sie jetzt das Haudskelett des Scbweines (Fig. 21) betracbten, welcbes vier Finger, zwei starke uud zwei kleinere, etwas uacb rlickwarts gescbobene Pbalangenreibeu saint Mittel- knocbeu besitzt, und sicb dabei erinneren, dass wir beini Hunde bereits eineu Fall kennen gelernt baben , in welcbern der Daurnen scbwacblicb erscbien. Dem Scbweine feblt der erste Finger vollstlindig. Die Deutuug der ubrigen Finger bereitet keine Scbwierigkeit. sobald Sie dieselbeu in ibrer natiirlichen Lage an einem vollstaudigeu Scbweineskelette betracbten. Mittelband- und Gliedknocben des dritten und vierten Fingers siud kraftig, diejeuigen des zweiten uud fiinfteu Fingers erscbeinen als kleine Anbangsel uud sind riickwarts an die bintere Seite des dritten und vierten Fingers gedrangt. Horuige Klauen- scbube umbiillen die auBersten Fiugerpba- langen, derbe kraftige am dritteu und vierten Finger, scbwacbere, sog. Afterklaueu bildend, am zweiten und fiinften Finger. Daruacb sind die zwei einzigen Pbalangenreiben der Kinder- band dem dritteu uud vierten Finger zuzurecbueu uud das Canon- l>ein als Verscbmelzungsprodukt des beim Scbweine getrenut bleibendeu dritteu uud vierten Mittelknocbens aufzufassen. Der Vergleicb mit der Hand von Hirscbeu und Rebeu bestatigt unser Resultat. Deuu bier (Fig. 22) finden wir liber den Afterklauen wiuzige 4. 3. Fig. 21. Kechte Hand des Schweines. Nach Flo wer. 44 Drittes Kapitcl. Phalaugenreihen imd beim Rehe sogar noch Reste der Mittelknocheu des zweiten untl flinfteu Fingers. Den Rindern uud Verwandteu 1st also vou drei Fiugern der Hand uiclits lib rig geblieben, als die zwei Hornschuhe der Afterklaueu. Sie merken jetzt schou, wie gut diese Beispiele in den Ideeugaug der Abstammungslehre passen. Die ganz extreme Handform der Wiederkauer wird durch die Bekanutschaft mit weniger stark ver- aiiderten Beispielen ihrer Sonderstellung beraubt und dient dazu, die Giiltigkeit des gemeiiisamen Stilgesetzes zu bekraftigeu. 4.3. Fig. 22. Fig. 23. Fig. 24. Fig. 25. Fig. 26. Fig. 22. Kechte Hand des Hirsches. Nach Flower. Figg. 23, 24. Eechte Hand des Pferdes. Vorder- und Seitenansicht. Nach Gaudry. Figg. 25, 26. Eechte Hand von Anchitherium. Vorder- und Seitenausicht. Nach Gaudry. Gleich erfreulich war die Analyse der Pferdehand (Fig. 23, 24)7 welche zuerst noch sonderbarer aussah, weil der Arm in eine einzige Phalaugeureihe ausgeht. Ein kraftiger Mittelknochen stiitzt sich aufsie. Zu seinen beiden Seiten liegt je eiu schmaler, spitz endender Knochenstab, die sog. Griffelbeine. In der Zone der Mittelhand angetroffen, miissen sie als Mittelknocheu bezeichuet werden. Der Vergleich mit auderen Arten (Fig. 25, 26), bewies, dass sie die Reste des zweiten und vierten Mittelknochens sind. Also gehort der kraftige Mittelknochen samt den drei Phalangeu dem dritten Finger an, uud es siud bei den heutigen Pferden vier von den typischeu fiinf Fingern bis auf die Rudimente ihrer Mittelknochen gauzlich unter- driickt. Der Bauplan -der Gliedmassen. 45 Als sogar bier und dort lebende Exemplare von Pferden ge- sehen wurdeu, welcbe neben deni einfacbeu Hufe zwei kleine, etwas emporgescbobene Afterbufe besaBen, jubelten die Anbanger der Abstamrnungslebre iiber die leicbe Miibe, der Natur das Gebeimnis der Scbopfung abzulauscbeu. Deun der dem einfingerigen Laufer unniitze Besitz von zwei den Bodeu nicbt beriibrenden Afterbufen war ibuen uur durcb Vererbung, durcb leise Riickeriunerung an eine friibere Periode der Gescbicbte des Pferdestammes erklarlicb. Sie sagten, weil die Natur uicbts TJberfliissiges scbaffe, die Organisnaen vielmebr ibren Bediirfuissen eutprecbend mit Werkzeugen ausriiste. miisse das sporadiscbe Auftreten der Afterklauen, sowie ibrer Knocben, eine tiefere Bedeutung baben. Die naive Ausleguug, dass die riick- scblagende Kraft des Vererbungsgesetzes solcbe Erscbeinungen bedinge und darnit die stammesgescbicbtlicbe Erforscbuug der Tierwelt er- moglicbe, fond damals imbedingten Glauben. Als eudlicb eine groBere Zabl von fossileu Tierarteu durcb die Palaoutologen bescbrieben wurde, deren Handskelett verscbiedeue Grade fiir die Starkung des dritten Fingers imd Scbwacbuug der iibrigen Finger aufwies, wurden die Beweisakteu vollstandig gescblossen. Es lagen nun mindestens zwei scbeinbare Entwickelungsreiben vor, um fiir die Gruppe der Paarbufer die gescbicbtlicbe Riickbildung der fiiuf- fiugerigen Hand in eiue zweifingerige und fiir die Gruppe der Un- paarbufer die Riickbildung in eine einfiugerige Hand auBer Zweifel zu stellen. Ja, die Spekulation trug die begeisterten Forscber bis zu der Bebauptung, dass das vergleicbend-anatomiscbe Studiuni des Hand- imd Fussskelettes die Abstamniung der Saugetiere von einer einfachen fiiuffingerigen kleineu Form uacbgewiesen babe. Mogen Hand imd Fuss vieler Arten mit fiinf Fiugern ausgeriistet sein oder mag der Eeicbtum bewegiicber Endglieder bis auf zwei und eiue Reibe, wie bei den Wiederkauern imd Pferdeu berabsinken, oder mogeu die Modifikationeu der Saugerband in ganz anderer Ricbtung wie bei den Waleii und Fledermausen erfolgen, dereu Eigen- art Sie in jedem Handbucbe der vergleicbeuden Auatomie verzeicbuet finden, jedeufalls lasst nacb der Meinung der Desceuztbeoretiker der gemeiusame Stilplan dieses Korperabscbnittes gar keine audere plausible Erklaruug als die Abstammimg von gemeinsamen Urabuen zu. Das Stilgesetz des Extremitatenbaues reicbt iiber die Sauge- tierklasse binaus. Arm uud Bein der Vogel, den besonderen Lebens- bedinguugeu in vortrefflicber Weise angepasst : der Arm samt seineni Federkleide als Luftruder dienend, das Beiu zum Hiipfen, Klettern und Festbalten gebraucbt, lieBeu deuselben Grundplan erkennen und lebrteu gleicbzeitig eineu ganz neuen Fall der Modifikation desselben. Die GliedniaBen der Reptilieu und Anipbibien zeigten 4(3 Drittcs Kapitel. sich der gleichcn Regel untertban. Desbalb schieu kein Zweifel rnehr erlaubt, dass die iiberraschende Einheit des auatoinischen Gefiiges desselben Organes bei vielen Tausenden von Tierarten durch deren direkte Blutsverwandtscbaft verursacht sei, wie Darwin uncl seine glaubigeu Scbiiler E. Haeckel und G. Jager meinten. Das eine Beispiel erweckte froke Hoffuuug. Es eriibrigte fiir die Zukunft, audere Organe in der gleichen Weise zu piiifen. Wenu das- selbe Resultat fiir die Wirbelsaule, den Scbadel, die Muskeln, Nerveu, das Riickenmark, das Gebiru, die Siuuesorgaue, fiir das Herz, die Lungeu, den Darm u. s. w. zu Tage treten wiirde, was den Anbangern Darwin's vor der Uutersuchung scbou gewiss erscbieu, dann ware die Stanimesverwandtscbaft aller Wirbeltiere bewiesen. Die Spezialuntersuchungen iiber die Weichteile der Wirbeltiere, welcbe mangels guter techniscber Metboden friiber ungeniigeud erforscbt waren, bericbteteu bald ueue unerwartete Ubereinstimmim- gen im Bane des Herzens, der Luugen, Niereu u. s. w. Alle diese Befunde iibteu auf das Deuken der damaligen Forscber eineu weitaus gro'Beren Eindruck als beute, weil jene, in der Scbule der unterscbeidenden Merkmale aufgewacbseu, von den gemeinsamen Eigenscbaften recbt wenig erfabren batten. So trug ein nebensacblicbes Moment zum Aufbliiben der Abstamnaungslebre bei. Die Siegesgewissbeit steigerte sicb durcb nene Beispiele der stilistiscben Concordanz von vorber als bimmelweit verscbieden beur- teilten Organen und im Kraftgefiibl des aufsteigenden Gedaukens gaben die Autoren der secbziger und siebziger Jahre ibrer llber- zeugung Ausdruck: Wo die Abnlicbkeit in der Ausbildung gewisser Organe bei verscbiedenen, im ,.unnatiirlicbeu" zoologiscben Systeme Linne's weit auseinander gerissenen Gruppeu gefunden wird, liegt Blutsverwandtscbaft der Erscbeinung zu Grande nacb dem Satze, dass die Glieder eines blutsverwandten Gescblecbtes eine bocbgradige Ubereinstimmuug aucb der feinsten und kleinlicbsten Ziige der Korperstruktur, ja ibrer Neiguugen und Gewobubeiten zeigen. Die laute Wiederbolung solcber und abnlicber Gedanken iibertonte mancbe waruende Stimme klar denkender Forscber leider zum Scbaden des rubigeu Fortscbrittes der modernen Zoologie. Eiue groBere Portion von Skepsis ware damals recbt angebracbt gewesen, damit viele ob der neu besprocbenen Ubereinstimmung die trennenden Uuterscbiede und das die stammesgescbicbtlicbe Spekulation storende Gewicbt derselben nicbt ganz vergessen biitten. Ich kebre wieder zum Tbema meiner Betracbtung zuriick, welcbes icb unmerklicb verlassen babe, weil icb durcb den absicbt- licben Febler die Abwege der stammesgescbicbtlicben Scbule zeigen wollte. Um Beweisgriinde fiir die Verwandtscbaft der Wirbeltier- Der Bauplan der Gliedmassen. 47 arten zu linden, habeu wir das geschicktliche Resultat der verglci- chenden Forschung liber das Extremitatenskelett, also das Resultat des Vergleiches fertiger Skelettformen ins Auge gefasst. Als dann die jeden unerfalirenen Mann iiberraschenden Ergebnisse derselben bei den Huftieren sich hiiuften, habe ich das Raisonnement der stammesgeschichtlichen Schule daran gekniipft und Sie selbst den verlockenden Zauber solcher Denkweise empfinden lassen. Ich muss Sie also nochmals daran erinnern, dass unsere Absicht dahin zielte, neben den bestehenden Unterschieden der naanuigfaltigen Arm- und FuBformen iibereinstimmende Eigenschaften festzustellen. Das Ziel war zur Zeit der Neubelebung der Abstammuugstheorie erreicht. Der einfache, ohne theoretiscke Beeinflussuug ausgefiikrte Vergleich des Handskelettes sowohl, wie der iibrigen Regionen der GliedmaBen hatte die Herrschaft eines gemeinsamen Stilplanes fiir die Wirbel- tiere erwiesen. Dieses anatomische Resultat hat ungefahr den gleichen Wert wie die Erkenntnis der Stilhistoriker, dass samtliche grb'Bere Kirchen der gothischen Periode gemeinsame Eigenschaften des Grundrisses, der Gewolbekonstruktion und des ornamentalen Schmuckes zeigen. Die descendenz-theoretische Schule aber hat das niichterne Ergebnis anders gedeutet und aus der Konstatierung eines gemeinsamen Planes die Konsequenz gemeinsamer Ahnen gezogen. Ich kann auch heute fiir diese Folgerung die zwingende Notwendigkeit nicht einsehen und sicher werden Sie entschieden widersprechen, wenn jemand fiir die gothischen Halleukirchen die ahnliche Behauptung aufstellen wollte, die gemeinsame Stilart derselben weise auf einen gemeinsamen Architekten hin. Doch trifft das Beispiel nicht voll- standig, weil die gegenseitige Beeinflussung der mittelalterlichen Steinmetzschulen und ihrer wandernden Gesellen allbekannt ist. Die Thatsache steht aber meines Erachtens auBer Zweifel, dass der durchgehende Stilplan der Extremitaten bei Tierarten be- obachtet wurde, welche durch viele andere Eigentiimlichkeit auBer- ordentlich stark von einander abweichen, und dass wir bisher nur einen Bruchteil des Wirbeltierkorpers untersucht haben. Aus der Ahnlichkeit eines Korperteiles folgt nicht, dass samtliche iibrigen Stiicke denselben Grad der IJbereinstimmung besitzen miissen. Ver- gessen Sie fiir die Folge ja nicht, auch die stammesgeschichtliche Schule betont das, dass die anderen Organe ebenso genau zu priifen sind, ehe der Beweis fur die Blutsverwandtschaft wirklich gefiihrt ist. Wollen wir also die Abstanmiung des einfingerigen Pferdes oder des zweifingerigen Rindes von fiinffingerigen Ahnen gelten lassen, so miissen die Modifikationen des gesamten Skelettes und s'imtlicher Weichtheile in sichtbaren Stufen vorgefiihrt sein. 48 Drittes Kapitel. In der Praxis, d. h. in popularen Darstellungen fur die Ge- bildetcn und auch wohl in Lehrbiichern, vergessen die Descendenz- theoretiker jedoch die offenkimdige Unvollstandigkeit des Beweis- materiales und argumentieren zu gunsten ihrer Lehre, indem sie die morphologische Ubereinstimmung eines einzigen Organes her- ausgreifen, sowie ich eben das Handskelett behandelte. Die erfreu- liche Wirkung der einfachen Erkenntnis auf den Geist des unge- iibten Lesers wird dann benutzt, um bei ihm die Meinung zu erwecken, als sprilchen die anderen Organe die gleiche Sprache. Das mag im ersten Rausche einer neuen Idee nachgesehen werden, es kann spaterhin, wie der heute noch anhaltende Erfolg der Lehre zeigt, dem Laien geniigen' und einen jungen Mann verfiihren; denn wir wissenalle, alswir wiihrend der letzten Gymnasialjahre in Haeckel's Schopfungsgeschichte ahnliche Beispiele lasen, erschieu uns der Beweis fiir die sympathische Lehre zwingend. Den Fachgelehrten aber kann und darf das beschriinkte Material nicht befriedigen. Indem er nach Vertiefung und Starkung der Beweisgriinde strebt. sieht er ein, dass die allgemeine Ahnlichkeit der einfiugerigen Pferdehand mit der vollstandigen Hand irgeud eines Saugetieres noch uicht zwingend die Blutsverwandtschaft beider fordert, weil oft die Ahnlichkeit verschiedener Tierarten in einern Organ mit den bedeutendsten Unterschieden in anderen Organen verkniipft ist. Die Feststellung der Ahulichkeit erfordert also eine weitere Untersuchung der iibrigen Organe. Die Laien halten solche Priifung fiir iiberfliissig, sie sind zufrieden, wenn sie einen greifbaren Anhalt fiir eine zusagende Meinung kenuen gelernt haben, und spotteln sogar iiber die Griindlichkeit des Fachmanus. Sie aber werden jetzt begreifen, dass der begeisternde Eindruck, den vorhin die Kenntnisnahme des Handvergleiches auf Sie machte, die vertiefende Untersuchung nicht abschneiden, sondern zu lebhafter Energie anfeuern muss , damit Unzuliinglichkeiten der theoretischen Auffassung verhiudert werden. Viertes Kapitel. Fingerliand und Fischflosse. Durch den Versuch Darwin's, alle Tiere, welche jemals aui der Erde gelebt haben, heute leben und in fernster Zukunft leben werden, als Sprossen eines gewaltigen, die Oberflache des Planeten iiberschattenden Stammbaumes anzusehen, wurde die zoologische Wissenschaft vor em Problem gestellt, das sie nicht losen kann, trotzdem die Laieu auf Grand der populiiren Darstellungeu die Aufgabe im Bereiche der Moglichkeit liegend halten. Aber es kommt ja haufig vor, dass der mit einem bestimniten Wissensgebiete weniger vertraute Beurteiler die Schwierigkeiten einer Specialauf- gabe unterschatzt und sich wundert, dass der Fachgelehrte nicht so- gleich zu einer Antwort bereit ist. Das Ansehen des letzteren leidet bei der groBen Menge sogar Schaden durch das freimiitige Be- kenntnis, dass das Descendenzproblem sein wissenschaftliches Ver- mogen iibersteigt, uud es bedarf dann einer miihsamen aufklarenden Arbeit, um den weitgehenden Optimismus des Laieupublikums auf das richtige MaB zuruckzufiihren. Die Abstammungslehre ringt zunachst mit der Unmoglichkeit, ver- mittelnde Zwischenglieder zwischeu den durchso groBe Unterschiede in der Form uud Auordnung der einzelnen Korperteile getrenuten Formtypeu des Tierreiches vorzulegen und genau zu beschreiben. Die Notweudigkeit, dieser Forderuug zu geniigeu. wirdniemandabstreiten. Denn es steht auBerZweifel, wenu ich die Behauptung aufstelle, dass die im Meere freischwimmende uud in Figur 16 abgebildete, kleine Larvesich in einen Seeigelurnwandelt, so liegtmir diePflichtderBeweis- fuhruug ob. Es ware sogar eiue Beleidigung fiir jeden denkendeu Mann, wollte ich erwarten, dass er meiue Behauptung ohne Beweis annahme. In wissenschaftlichen Fragen herrscheu eben die gleichen Regeln wie im praktischen Leben. Habe ich gegen jemand eine Beschuldigung erhoben, so muB ich vor Gericht die thatsachlichen Be- weise fiir die Berechtigung meiner Behauptung vorlegen. Ebenso muB ich, wenn ich iiber den Ban oder die Entwicklung jetzt lebender Tiere eine Abhandlung veroffentliche, die meine Ansicht Fleis chma nn, Descendenztheorie. 4 50 Vicrtes Kapitd. recbtfertigrnden Praparate teils durcb Bescbreibung , teils durch genauc Abbildung derselben vorfiihren oder direkt demonstrieren , um alien Fachkollegen die Moglicbkeit zu geben, meiue Anschaimngen zu kontrollicren. In jeder Frage iiber jctzt lebende Tiere muss icb so ver- fabren, wenn icb das Vertrauen und die Achtung meiuer Facbgenossen genieBen will, und geborcbe danait der strengen Beweisverpflicbtung jeder exakt betriebenen Wisseuscbaft, die alien Facbvertretern auferlegt ist, weil durcb sie allein die Gewabr fiir die sicbere Begriindung unserer Lehren und fiir ibre gegen den Aberglauben und Autoritatsbauu siegbafte Kraft gegeben wird. Der Naturforscber, welcber die Descendenztbeorie als die uu- abweislicbe Voraussetzuug der moderuen zoologiscbeu Arbeit ansiebt, muss die gleicbe Verpflicbtung als bindend auerkennen, und sein Be- strebeu, die Beweisfiibruug fiir dieselbe so scblagend als moglicb zu gestalten, wird ibu veraulassen, die vermittelndeu Zwiscbenglieder, die Ubergaugsformen verscbiedener Organisationskreise, zu sucben. Aber die Ausflibruug des woblberecbtigteu Versucbes ist durcbaus uurnoglicb. Weiin iiberbaupt eine Umbildung der Organismen statt- gefuuden bat, so gescbab sie in grauer Urzeit; kein Zoologe war im stande, den Prozess selbst zu beobachten, die Zwiscben- glieder zu sammelu und fiir eiu modernes Museum zu konservieren. Der Karnpf urns Dasein, Elementarereignisse und geologiscbe Kata- stropben baben ibre Spureu vertilgt. Man kann also beutzutage eineu alien Auforderungen der exakten Naturforscbuug ent- sprecbenden wisseuscbaftlicben Beweis fiir die Abstammuugslehre nicbt rnebrfiibreu. Denu erkouute nur durcb Demonstration der Um- wandluugsforrnen selbst erbracbt werdeu. Das gauze Problem liegt darum auBerbalb des Bereicbes der exakten Naturwissenscbaft, d. b. es kanu uur vermittelst der kornbinatoriscben Pbantasie unseres Denk- vermogens, nicbt aber durcb Realitiiteu bebandelt werdeu. Die meisteu meiner Facbkollegeu betracbten es jedocb als eiue losbare Aufgabe und glaubeu aucb, die exakte Metbode der bescbreibeuden Naturwissenscbaften zu ibrer Losuug verwenden zu kounen. Da sie nicbt im stande siiid, die vermittelndeu Zwiscbenformen vorzufiibren, so lassen sie die ueulicb besprocbeuen scbarfeu Grenzeu zwiscbeu den Organisation stypen gem beiseite, ignorieren die bestebenden Unter- scbiede im Aufbau eiuesWirbeltieres, eiues Seeigels, einer Scbuecke u. s. w. und sucben innerbalb eiues stilistiscben Kreises die zwiscben den Gliedern desselben vorbandenen Differeuzen ge- ringereu Grades eutweder ganz zu verwiscben oder als weuiger be- deutsam zu erweisen. In dem engereu Rabnieu, wo der Prozess der Umbildung gleicbfalls nicbt zu beobacbten ist, spiiren sie nacb Zwiscbenformen teils unter den jetzt lebenden Arteu, teils in den Fingerhand und Fischflosse. 51 versteinerten Resten ausgestorbener Geschlechter und verdecken die Erfolglosigkeit der Benilihimgen gerne durch die pathetische Hoffuung, dass gliickliche Funde zur Ausfiillung der immer noch bestelienden Liicken beitrageu werden. Immerhin erscheint auf deii ersten Blick das vergleichencle Studium gewichtige Zeugnisse f'iir den Gedanken gemeinsamer Abstammung zu liefern.' Das Hand- und FuBskelett der Wirbel- tiere zeigt viele TJnterschiede. Schon iunerhalb eiuer ein- zigeu Gruppe der Saugetiere ist die Maunigfaltigkeit der Glied- massenbildung auBerordentlich groB. Die an ihneu zu Tage tretenden Unterschiede lielien noch vor 200 Jahren die Manner der Wissenschaft keiue gemeiusanien' Eigenschaften der vordereu Extremitat der Saugetiere, geschweige aller vierfiiBigeu Wirbeltiere vermuteu. Die anatomischen Untersuchungen seitBeginu des vorigen Jahrhunderts haben uus vorn Gegenteil belehrt. Es unterliegt keinem Zweifel mehr, die so verschiedenartigeu Leistungeu dienenden Haude und FiiBe aller hoheren Wirbeltiere sind uach eiuern einheit- lichen Bauplan angelegt. AVer einmal darauf aufinerksam gewordeu ist, kann denselbeu in sehr vielen Fallen deutlich erkeunen, jedoch sind die gemeinsamen Charaktere nicht immer so scharf ausgebildet, wie an der Figur 17. Demi die Xatur fiihrt den Plan oft ungleich- maBig aus, sie unterdriickt manche Teile, um audere dafiir zu ent- falten, sie verschmilzt Kuocheu der Haudwurzel, drangt Knocheu des Unterarms zuriick, und variiert die Lauge des Oberarmes gar mauuigfach. Aber trotz aller Modifikationeu legt die anatomische Yergleichung in jedem einzelnen Falle den einfacheu, gemeiusanien Bauplan klar. Da nun der Typus nicht gleichma'Big durchgefiihrt ist, lassen sich die spezifischen Formen so ordnen, dass am Beginu der Reihe die fiinffiugerige Hand, am Eude der einfingerige PferdefuB und audere stark reducierte Handfornieu steheu und dazwischen die verbindenden Glieder eingeschoben siud. So erhalten wir eine durch die vergleichende Xebeneiuauderstelluug ver- schiedener Handskelette gebildete Formenreihe oder wie man auch sagt Umbildungsreihe, und der wohl unterrichtete Anatom kann dieselbe durch Beispiele aus samtlichen Gruppeu der vier- fuBigen Wirbeltiere vervollstandigen. Der friiher besprocheue Grundplan beherrscht alle Arten der vier hoheren Klassen des Wirbeltierreiches. In der fiinften Klasse jedoch, den Fischen, ist ein anderer Stiltypus fiir den Aufbau der Glied- maBen geltend. Das bedeutet eine sehr bedenkliche Schwierigkeit fiir die Abstammungslehre. Sie wissen aus den popularen Schriften, weiin die Wirbeltiere sich iiberhaupt von niederen Lebewesen entwickelt haben, so miisseu die Fische die Durchgangsstufen dar- 4* 52 Viertes Kapitcl. stellen. Die Palaontologie hat deren Reste in uralteu Ablageruugen von den oberen Silurschicbten an gefunden ; zur Karbonzeit haben Knorpelfische die Meere unseres Planeteu mit groBer Individuen- und Artenzahl bevolkert und in masseuhaften versteinerten Resten deutlicke Spuren kinterlasseu. Diese Urfiscbe niiissen die Stamm- eltern aller iibrigen Wirbeltiere gewesen sein, oder wenigstens den- selbeu sekr nane gestauden sein, so lautet die unabweislicbe Sckluss- folgerung der Descendeuztheorie. Vom tbeoretiscben Standpunkte ist gegen dieselbe nicbts ein- zuwenden. Wir baben aber jetzt die thatsiicblicben Beweise dafiir zu priifen. Weun wir zu diesem Bebut'e die iibrigeu Wirbeltiere mit den Fischen vergleicben, um die gemeinsamen Eligeuscbaften aufzufinden, welche Blutsverwaudte zeigen miissen, so fallen ims recbt viele und scharfe Unterscbiede auf. Icb will von den meisten Fig. 27. Der Lachs, Salmo salar. derselbeu, von der spezifiscben Fischgestalt der in das Wasser ge- bannten Schwimmer, von dem Scbuppenkleide, von der besonderen Art der Kiemenatmung und vielem anderen beute nicbt reden, um nur ein Organ, die GliedmaBen, zur genaueren Besprecbung beraus- zugreifen. Die Fische bewegen sicb mittels Floss en, die iibrigen Wirbeltiere steben auf fiinffingerigen GliedmaBen. Ist die Bebauptung der Descendenztbeorie ricbtig, so muss sicb nacbweisen lassen, in welcber \Yeise die paarigen Flossen der Fiscbe, die Brust- und Baucbflossen, in die fiinffingerige Arm- und FuBstiitze der iibrigen Wirbeltiere umgebildet ward. Hier begiunensofortuniiberwindlicbe Scbwierigkeiten, weil die Struktur der Flosseu ganz eigenartig und kaum mit derjenigen der Glied- maBen vergleicbbar ist. Um die Darstellung dieser Verbiiltnisse nicht iibermaBig zu kompliziereu, werde icb Ibre Aufmerksamkeit nur auf die Skelettbestaudteile einerseits der Flossen, andererseits der fiinffingerigen GliedmaBen lenken und die Weicbteile, die Bander, die Muskeln, Nerven, BlutgefaBe auBer acbt lassen. Die Fiscbflosse zoigt einen viel groBeren Reicbtum an kleinen strablig geordneteu Skelettstiicken als jeglicbe GliedmaBe Fingerhand und Fischflosse. 53 Fig. 28. Knorp elskele 1 1 der Brustflosse von Acanthias vulgar is. Nach Gegenbaur. eines Salamanders oder Siiugetieres. Trotz vielfacher? alle Er- wartungen libersteigender Mannigfaltigkeit der Flossenformen bei den 10,000 Arten der Fische sind dock gemeinsame Formbeziehungen unter ihnen erkannt, und als Grundform kann nach Gegenbaur die Flosse der Haifische gelten. Daran fallen (Fig. 28) drei groBe durch straffe Baudmassen verbundene Knorpelstiicke, das Pro-, Meso-, Meta-Pterygmm auf, welche an der Basis der Flosse gelagert und die Ver- bindung zum Schultergiirtel bildend, mit zahl- reichen in strahligen Reihen geordneten kleineren Knorpelstiicken besetzt sind, welche in den Flossenkorper auslaufen. Die Flossen anderer Fischgruppeu bieten zwar im einzelnen viele Unterschiede, wir sind aber im stande fiir eine groBe Zahl der Fischflossen die iibereiustimmende An- ordnung ihrer Bestandteile, wie sie diese schema- tische Flosse zeigt, nackzuweisen. Dariiber be- stehen wenig Meinungsverscbiedenheiten unter den Fachgelehrten. Da die Abweichungen von der als Norm betrachteten Flossen- form uns heute nicht interessiereu, stelle ich Ihnen sogleich einen anderen von der descendenztheore- tischen Spekulation seit dem Er- scheinen eines Aufsatzes von C. Ge- genbaur1) viel besprocheneu Forrn- typus, das sog. biseriale Archi- pterygium in der Brustflosse eines Lungenfisches, des Barramunda, Ce- ratodus Forsteri (Fig. 29), vor. Die kleinen Skelettelemente der lancett- formigen Flosse dieses erst vor dreiBig JahrenentdecktenaustralischenFisches sind so angeordnet, dass uni eiuen Stamm, der eine Hauptreihe zahl- reicher gegen die Spitze an Uinfang abnehmender Knorpelplatten darstellt, zwei Langsreihen kleiner Strah- len stehen, welche die Flosse selbst stiitzen. Der Ihnen sofort auffallende Contrast zur Flosse der Haifische Basalatiicke Hauptstamm Seitenstrahleu Fig. 29. Brust floase des Ceratodus. Nach Gegenbaur. C. Gegenbaur, Hber das Archipterygium, Jen. Zeitschr. YII, 1873. 54 Viertes Kapitel. lasst sich abschwachen, wcnu man nur annimmt, die Strahlen der eincn Seite hiitten sich vollstandig zuriickgebildet und die der anderen Seite liiitteu sich teils durch Verkiirzung des Hauptstammes, teils durch Zusammenschiebung in das an der Haiflosse erscheinende Bild gruppiert. Viel groBer erscheint aber der Gegensatz zu der fiiuffingerigen Extremitat der iibrigen Wirbeltiere. Abgesehen davon, dass die strahlige Orduung der Knochenteile nicht deutlich ausge- priigt ist, dass in der Fischflosse die knorpeligeu Stiicke durch Bander schier unbeweglich verkniipft sind, wahrend in den Gliedmaften der hoheren Wirbeltiere zwischen den einzelnen Skelettstiickeu, die meistens verknochern, Gelenke auftreten und der gegenseitigen Ver- schiebbarkeit der eiuzelnen Teile Gewiihr leisten, ist die Zahl der Stiicke des Arm- und Beinskelettes viel geringer: Die FJosse von Ceratodus enthalt mehr als hundert, die Flosse des Dornhaies ungefahr sechzig, die GliedmaBe eines hoheren Wirbeltieres hochstens drei- unddreiBig Stiicke. Wenn Sie mich nun fragen, wie die verschiedeuen, entweder in der Klasse der Fische oder in den vier hoheren Wirbelticrklassen herrschenden Formen der Extremitat als stammesgeschichtliche Ent- wickeluugsstufen erwiesen werden, so kann ich darauf nur mit dem Referate einer Theorie anhvorten , welche C. G e g e n b a u r vor 30 Jahren aufgestellt uud seither vertreten hat, obwohl strikte Beweise fiir seine Ausicht nicht vorliegen. Eine ablehnendo Stimmung gegen dieselbe wird bei Ihnen zuniichst der direkte Augen- scheiu erwecken , da der Vergleich des Flossen- und GliedmaBenskelettes (Figg. 28, 29, 17) den Mangel einer deutlich strahl- igen Kuochcnordnung im Arm- oder Bein- skelette darthut. Gerade diese topogra- phische Beziehung ist ja charakteristisch fiir alle Flossenskelette uud muss auch an der HebelgliedmaBe irgcndwie zu sehen sein, u'enn sich dieselbe aus der Flosse irgend eines unbe- kannten Urfisches zu hohercm Typus fort- schreitend entwickelt hat. Um die Schwierig- keit zu beseitigen, braucht man nach Gegen- baur's Vorschlag in der schematischen Fig. 30 nur eineLiuie zu ziehen, welche die Richtung desHauptstrahles andcutet, dann kann durch vier weitere Hilfslinien die strahlige Reiheustellung aller Extremitiitenknochen gezeigt Averdeu. Auf diese "Weise wird Skizze des Skelettes der rechtenGliedmaBe, in welche die Strahlen nach Gegenbaur eingezeiehnet >iml; der Hauptbtrahl zieht durch Oberarin, Elle und filnften Finger. Fingerhand and Fischflosse. 55 clurch die Zeichnung der Eindruck erweckt, als scien die an Zahl geringen Knochen der HebelgliedmaBe reihenweise geordnet. und man kann nunmehr das ganz anders geformte und als beweg- liches Hebelsystem wirksame Skelett der GliedmaBen aus deni bei den Lungenfischen augetroffeneu biserialen Zustandc ableiten durch die Vorstellung, dass die Knorpelreihe der eiuen Seite giinzlich zu Grunde ging, dass die Strahlen der anderen Seite stark reduziert, n ur zum Teile erhalten und mit ihren Enden weiter auseinander geschoben wurden, indess das Basalstiick der Stammreihe als Ober- armknochen, humerus, bezw. als Oberscbenkelknochen, femur, macbtig entfaltet worden sei. Dann wurden die Pbalaugeuknocben eines Fingers den Endstiickeu der Stammreibe entsprechen. Gegenbaur bielt 1870 dafiir, dass die Speiche des Vorderarmes und die Knocben des Daumens so aufzufassen sind, spater bezeicbuete er das Ellen- bogenbein, und den fiinften Finger als Auslaufer des Hauptstrahles, und beute getraut er sicb nicbt zu entscheiden, ob der Hauptstamm ganz erbalten sei und seitlicb die weuigen (vier) Strablen trage, oder ob vom Hauptstamme nur das kriiftiger entfaltete Basalstiick vor- banden und mit fiinf in die Finger auslaufenden Strablen besetzt sei. Obwohl die Idee bereits 18701) veroffentlicht wurde, ist man seither nicbt weiter gekommen. Zum Beweise will icb einige Ab- scbnitte aus moderneu Lebrbiichcrn vorlesen, zugleicb ausdriicklicb bemerkend, dass icb Stellen aus Biicbern heranziebe, deren Verfasser Anbiinger der Descendenztbeorie sind. Icb riicke die Darstellung Haeckel's an den ersten Platz, damit Sie durch die nacbfolgenden AuBerungen auderer Forscber lernen konnen, wie sebr der Laie durch die Lektiire seiner Scbriften liber den wirklichen Stand einer zoologischen Frage getiiuscht werdeu kann. In der systematiscben Phylogenie, eineni dreibiindigen Werke, das sich ausschliefilich an Fachgelebrte wendet und Laien nicbt verstandlich ist, beiBt es mit einer iiberrascbenden Bestimmtbeit2), gleich als ware der Vorgang selbst beobacbtet: ,.Aus den polydaktylen Flossen der Fiscbe und Dipneusten (Lungeofiscbe) entwickelte sicb spatestens wabrend der Karbonzeit der pentadaktyle (fiinffingerige) Fuss der Aniphibieu und vererbte sicb YOU dieser Stanimgruppe der Quadrupeden (vierfiiBigen Tiere) auf samtlicbe Anmioten (d. b. Eeptilien. Vogel und Saugetiere). Die bedeutendeu Veranderungen der Fimktiou, welcbe dabei die paarigeu GliedmaBeu erlitteu, wirkten auf alle Teile ibrer Struktur zuriick. Aus deni einfacben Hebel der platten Fischflosse wurde der gegliederte J) C. Gegenbaur, Jenaische Zeitschr. V, p. 433. -) E. Haeckel, Systematische Phylogenie. Berlin 1895. III. BJ., p. 91. 56 Viertes Kapitel. Hebelapparat des GangfuBes, fiir welchen eiu hoherer Grnd von Festigkeit, Gelenkigkeit und Beweglichkeit unerlasslich war. Indem die Dipneusten (Luugenfische) das Wasser verlieBen und ihre Ruderflossen zum Fortschieben auf dem festeu Lande benutzten, trat in erster Liuie eine transversals Gliederung der freien Extremitat ein, sowie eine festere Verbindung rnit dem Rumpfskelett ; die biegsarnen Kuorpelstabe verwaudelten sich in feste Knochen ; an ihren Verbindungsstelleu bildeten sich Gelenke aus. • Schon bei den altesten Amphibien, dereu fossile Reste wir kenuen, den karbonischeu Stegocephaleu, tritt uns die Peutanomie, der typische Skelettbau des pentadaktyleu FuBes, in derjenigeu charakteristischen Ausbildung entgegen, welche er auch uoch bei heutigen Amphibien besitzt, und dereu unverwischbare Grundziige sich von diesen auf samtliche Amuioten vererbt haben." Beachten Sie, class Haeckel hier wohl vondeu alten Zeugnissen flir das Vorkommen der fliuffingerigeu FliBe, aber uicht von Zwischenformen zwischeu der Fischflosse uud dem Finger- fuB redet. In dern jiingst erschieneneu, fiir die groBe Masse der gebildeten Laieu bestimmteu Buche ,,Die Weltratsel" berichtetv Haeckel1) wie folgt: ,.Der bedeuteudste vergleicheude Anatom der Gegeuwart. Carl Gegenbaur, zeigte in seinen ,Untersuchungen zur ver- gleichenden Anatomic der Wirbeltiere' (1864), wie diese charakteristische ,fiiufzehige Beinform' der landbewohuenden Tetrapoden urspriinglich (erst in der Steiukohleuperiode) aus der vielstrahligeu ,Flosse' (Brustflosse oder Bauchflosse) der altereu wasserbewohnenden Fische eutstandeu war." Gegenbaur2) selbst hatte aber das Ergebnis seiner Uuter- suchungen etwas auders bezeichnet: ,,Es ist also das Extremitaten-(GliedmaBen-)skelett der hoheren Wirbeltiere nur in seiueu allgerneinsteu Eiurichtungeu mit jenem der Selachier (Haifische), und darnit auch del- lib rigeii Fische vergleichbar. und so bestimnit es aus den im Laufe dieser Abhaudlung hervorgehobeueu Thatsachen hervor- geht, dass das Metapterygium der auch in das Skelett derVorder- extremitiit der hoheren Tiere iibergehende Abschnitt der Brust- flosse der Fische ist, so wenig begriiudbar ist eine Ausfiihrung der Yergleichung der einzelnen Stiicke rnit einauder. Wir ») E. Haeckel, die Weltratsel. Bonn 1899, p. 35. Zeile 21. 2) C. Gegenbaur, Untersuchungen zur vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere. II. Heft 1865, pag. 169. Fingerhand und Fischflosse. 57 liaben selbst bei deii Selachiern (Haifischen) solch bedeutende Verschiedenheit im Flossenbau gefunden, dass nur wenige Stiicke in alien gleichmiiBig nachgewieseu werden konnteu, die bei weitem groBere Mebrzahl dagegen keine Vergleiche zulieBen. Das Arniskelett der hohereu Wirbeltiere verhalt sich nicht anders zum Flossenkelette der Selachier etc., als die Flossen- skelette der Selachier etc. unter sich. Auch bei dieseu fand die Vergleichuug nur eiue Homologie der Einrichtung des Ganzen, nicht der einzelnen Teile. Es fehlen also die Nachweise der speziellen Homologien, weil die Uber- gangsformen uns abgehen, nicht nur die von den Fischen zu den hoheren Wirbeltieren, sondern auch jeue, welche uuter den Selachiern eiuen uumittelbaren Zusammenhang herstellen konnten." Acht Jahre spater erklart Gegenbaur *), dass seine Unter- suchungen in der ,.Aufstelluug einer Grundform des GliedmaBen- skelettes der Wirbeltiere uud der stufenweise verfolgbaren Ableit- barkeit aller bis dahin bekannten Formzustande desselben ihren Abschluss fanden. " Bei manch anderer Gelegenheit hat der Begriinder der Theorie das Hypothetische uud Ungenligende seines Versuches scharf gekennzeichnet." Ebenso vorsichtig driickt er sich ini ersten Bande seines kiirzlich erschieneneu Handbuches der vergleichendeu Auatomie 2) aus : ,,Eine weite Kluft trenut die Organisation der Flosse von jener, welcher wir von den Amphibieu an im Arniskelette begegnen." In den nachsten 15 Zeilen wird der Gedanke ausfiihrlicher besprochen. — ,.Eine Reihe von Uberein- stimniuugen lasst das Skelett der GliedrnaBen der hoheren Wirbeltiere mit jenem der uiedereu verknlipfen, wie es zuerst durch rnich geschehen ist. Wenn wir nicht von einem einzelnen gebildeten Zustande ausgehen, wie er da und dort verschieden- artig ausgebildet ist, soudern aus der Surnnie der Organisation das Gemeinsame aufsucheu, so gelangen wir zur Erkeuntnis jenes Zusanimenhanges. Fiir das Flossenskelett hat sich das Archipterygium als mauuigfacheu Zustanden zu Gruude liegend ergeben. — — Sollte das Archipterygium auch in der Glied- maBe der hohereu Wirbeltiere vorhanden sein? Wir finden ein Knorpelstiick als Stamm, welches mit Raclien (Seitenstrahlen) .besetzt ist. die sich wie der Stamrn in Abschnitte gliedern." J) C. Gegenbaur, tlber das Archipterygium. Jenaischc Zeitschrift VII. 1873, pag. 131. -) C. Gegenbaur, Yergl. Anatomie der Wirbeltiere. I. Bd. Leipzig 1898. pag. 519. 58 Viertes Kapitel. Gegeubaur legt daim seine Ansicht clar, class die Glied- niaBeii entsprechend ihrcr ueueu Fuuktion als lokomotorische Werk- zeuge sich zu cinem Hebelsystem gestalteten. Der Oberarm ersclieint ihui als der zuerst selbstandig gewordene. Mauche Befuude bei Amphibien erinnern ihn an die Luugenfische, doch vorsicktig setzt er hinzu, ,,wenn wir aucb die Amphibien uicht von Dipnoern in derselben Organisation, wie sie ihre uoch lebenden Verwandten besitzeu, abzuleiten vermogen. — ,,0b dieser Glied- maBenbefund bereits bei den uachsten Vorfahren der Amphibieii bestand, ist uns unbekannt. " Andere Fachgeuosseu uahmeu G eg e u b aur's Ansicht mit geringem Beifall auf. Ch. S. Minot1) schreibt: ,,Die morphologische Bedentung der Wirbeltierextremitiiten ist lange Zeit Gegenstaud der Diskussion uud Speculation geweseu, mid die Losuug, welche die Frage angeublicklich erfahrenhat, ist mehr eine theoretische als eine positive. - Gegenbaur bat liber die Entstehuug der Extreniitaten eine Hypothese aufgestellt, fiir welche seine Abhandlung sehr wenig Beweisrnaterial liefert." ,.Diese Theorie, welcher sich Huxley angeschlossen hat, erregte seiner Zeit groBes Aufseheu, wurde aber widerlegt durch die Beobachtungen von Balfour iiber die Entwickeluug der Flosseu bei Scy Ilium." ,,Auf Grund2) unserer Kenntnisse von der Eiitwickelung uud der Morphologic der Flossen kouuen wir, wenigsteus gegen- wartig, Gege nb aur's Auffasuug nicht auerkennen." ,,Uuter diesen Umstanden3) scheintmir die Gegenbaur'sche Theorie nur uoch historisches Interesse zu besitzeu." J. Kollniaun, Professor der Anatomie in Basel berichtet 4) : ,.Die Frage, auf welche Weise aus der Brust- uud Bauch- flosse der Fische die fiinfstrahligen Extremitiiten der hohereu Wirbeltiere entstanden seien, beschaftigt die Embryologie seit Jahreu. Auf Grund weitgehender Untersuchuugen wird ange- nommeu, dass in der formenreichen Gruppe der Urselachier (Urhaifische) derjenige Fisch zu suchen sei, den die Natur einst durch verschiedeue Zwischeustufeu auf die Hohe eines J) Ch. S. Minot, Lehrbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen, Leipzig 1894, pag. 453, 454. 2) Minot 1. c. p. 456. 3) Minot 1. c. p. 454. 4) J. Kollmann, Lehrbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen. Jena 1898, p. 287. Fingerhand und Fischflosse. 55> Urmolches gehoben babe. Aber alle Anstreugungen, den Weg zu fiudeu , auf dem sich diese Umwaudluugeu voll- zogen, sind bisher frucbtlos gewesen." R. Wiedersheim, Professor der Anatomic in Freiburg i. Br., sagt, das Gleicbe mit etwas audereu Worten r) : ,,So leicht sich auch das Flosseuskelett samtlicher Haupt- grtippen der Fiscbe auf einen Grundtypus zuriickfiihren lasst, so schwierig scbeiut von hier aus die Aukuiipfuug an die Extreniitaten der Arnphibien. Zwischen beiden scbeint eine tiefe, auf die verschiedeuen Lebeusbediugungen zuriickzu- fiihreude Kluft zu existiereu uud eiue sichere Autwort auf die Frage: wie ist aus der nur fiir das Wasser eingerichteten Flosse die GliedmaBe eines luftatmenden, fiir die Bewegung auf dem Laude bestimmteu Wirbeltieres, eiues Urlurcbes entstanden? — ist vorderhand uicht moglich. Ob die Losuug dieses kardinalen Problems in befriedigeuder Weise durch kiiuftige palaontologiscbe Forscbungen zu erwarten stebt, muss die Zukuuft lehren." Es ware iiberfliissig, den eben Yorgefiibrten Urteilen einen langen Epilog anzufiigcn. Sie kcnnen jetzt die Belege dafiir, dass eiue Haeckel sebr einleucbtende stammesgeschichtliche Vermutung audere Fachgelehrte nicbt befriedigt. Gegenbaur erbebt nicbt den Ansprucb, das Problem gelost zu haben. Weil der Vorgang selbst jenseits der Beobacbtung liegt, yersuchte er die Moglichkeit einer Lb'sung anzubahnen, indem er die verscbiedenartige Auordnung der Skelettelemente subjektiv so beurteilte, dass alle Extremitaten der Wirbeltiere auf ein Scbema zuriickgefiihrt, d. b. eiuem morphologiscben Lagerungstypus unterworfen scheinen. Da seine Deukweise von wenigen adoptiert \vurde, ist das Problem beute nicbt gelost Je mehr die Forscbung vertieft wird, um so gcringer erscheint die Aussicbt auf einstmalige Antwort. Bei der Betrachtung der Fig. 17, wird der Unbefangene sichor sagen, es gehore die bestimmte Absicht, unter alien Umstanden die Ahnlicbkeit mit der Fiscbflosse aufzuspiircn, dazu, um die Strahlen in der von Gegenbaur bezeicb- neten Weise zu erkennen. Fiinf strahlige Eeiben sind sicher vor- banden, sie werden durcb die Knocbenglieder der Finger und dercn Mittelknochen gebildet, oberbalb derselben kann ich keine strablige Ordnung wahrnebmen. Mir erscbeint viehnehr die Lagerung der iibrigeu Teile cles Arm- oder FuBskelettes fundamental abweichend vom Typus der Fischflosse. Im Oberarm , also der dem Rumpfe J) E. Wiedorsheim, Grundriss der vergleich. Anatomie. 4. Aufl. Jena 1898, pag. 128. 60 Viertes Kapitel. benachbarten Zone liegt ein einziger Kuochen, daran sclilieBt ein Kuochenpaar, Speiche und Elle des Unterarrnes, dann folgen z\vei Querrcihen der Handwurzel, die eine aus drei Stiicken, die nachste aus vier bis fiinf Stiicken bestehend und erst jenseits dieser zehn Stiicke, deren Zahl auf jeder vom Rumpfe weiter entfernten Zone in einfacher Proportion: 1, 2, 3, 5 zunimmt, beginnt die Strahlen- stellung. "Wollen Sie trotz alle dem die strahlige Ordnung samtlicher Stiicke des Extremitatenskelettes im Sinne Gegenbaur's behaupten, so thun Sie den Tbatsachen einen theoretischen Zwang an , der in denselben nicht begriindet ist. Es bleibt daher dem persb'nlichen Ermessen jedermanns iiberlassen, der ihm zusagenden Ansicht beizu- pflichten. Die Sprache der Tbatsachen ist nicht so eindeutig, dass sie uns zwiinge, einhelliger Meinung zu sein. Das ist sehr haufig das Eesultat der sogenannten stammesgeschichtlicheu Forschimg, sie be- seitigt nicht, sonderu vergroBert den Gegensatz der sub- jektiven Urteile. Mir freilich will es scheinen, als sei die Sprache der Thatsachen in diesern Falle bestimmt und schlagend, indem sie uus unter alien Urnstanden verbieten, den Gedanken eines genetischen Zusammenhanges bei derartig verschieden gebauten Werkzeugen des Tierkorpers zu hegen, wie es Flosse und FingerfiiBe siud. Aber auch angenommen, die Gegenbaur'sche Zusammeufassung ware begriindet, so wiirden wir immer noch im Dunkelu tappen beziiglich der Frage, in welcher Weise die groBe Zahl der Flossenstiicke im Laufe vieler Generationen reduziert, wie die straffe Bandverkniipfuug derselben gelockert, wie die einzelnen dicht geschmiegten Strahlen alhnahlich weiter aus einander gespreizt, und wie der hohere uud ge- ringere Grad der gelenkigen Verbinduug unter ihnen erzeugt wurde. Mit anderen Worten, wenn Gegenbaur's und Haeckel's Meinung richtig ware, so konnte dieselbe nicht als Losung der Frage gelteu, sondern ware nur der Ausgangspunkt fiir neue Spezialuntersuchungen. wrelche endlich die Gewissheit iiber den thatsachlichen Prozess der Extremitateneutwickelung fordern konnten. Das spezielle Beispiel erlautert, mit welchen Schwierigkeiteu der Versuch verbunden ist, innerhalb eines geschlossenen Organisations- typus exakte Anhaltspunkte fiir die phylogenetische Umwaudlung eines Organes zu finden. Heute konneu wir nur sagen, dass eine plausible Vorstellung iiber die Entwickelung des Flossenskelettes der Fische in die fiinffingerige GliedmaBe der hoheren Wirbeltiere nicht existiert. Beilaufig mochte ich day eben erlauterte Problem benutzen, um Ihnen die sonderbare Methodik mancher popularisierender Schrift- steller der Descendenztheorie zu erlautern. Dieselben glauben nanilich. Fingerhand und Fischflosse. 61 clem Laienpublikum die ungeniigende Art der Begriindung ihrer Lieblingstheorie nicht offenbaren zu sollen und sprechen mit auf- fallender Bestimmtheit davon, dass hervorragende Gelehrte den Beweis fiir theoretische Ansichten geliefert batten, welcbe in der Tbat bis beute leere Vermutungen geblieben sind. So ist Cams Sterne, der in weiten Kreisen hocbgeschatzte Verfasser von ,,Werden und Vergehen", fiir folgende Siitze a) verantwortlicb : ,,Gegenbaur bat gezeigt, dass sich in der balbgefiederten Flosse der meisten jetzt lebenden Urfiscbe alle Knocben der AmpbibiengliedinaBen finden und bat durcb starkere Scbraffierung derselben im Brustflossenskelette des Selacbiers die Elemente der Ampbibieuband bervorgehoben." Fi-. 31. Fig. 32. Fig. 31. Brustflossen s k el et t eines jiingeren Urfisches mit Schraffi erung der daraus abgeleiteten Hand. & Die drei Easalstiieke der Flosse. Nach Gegenbaur. Fig. 32. Handskelett eines Amphibium. h Oberarni (humerus), r Speiche (radius), u Ellenbein (ulna), rcicu Handwurzelknochen der ersten Keihe, 1 — 5 Handwurzelknochen der zweiten Reihe. Nach G-egenbaur. Figuren und Erklarung sind dem Buche: ,,Werden und Vergehen" von Carus Sterne ent- nommen. Cams Sterne bat die obeustebenden Figuren 31 und 32 welcbe icb pbotograpbiscb kopieren lieB, zur Erlauterung seiner Angaben beigefiigt. Wenn Sie die von mir citierten Stellen aus Gegenbaur's Werken vergleicben, werdenSie einseben, dass derselbe sich von solcb kiibnen Bebauptuugen weit entferut gebalten und die Fig. 31 nicbt gezeicbnet bat. Carus Sterne, Werden u. Vergehen 3. Aufl. Berlin 1886, p. 401. Ffmftes Kapitel. Das ,,Paradepferd" der Descendenztlieorie. Zuletzt habe ich Sie einen Einblick gewinnen lassen, dass ini Lager der Descendeuz-Theoretiker selbst groBe Unklarheit herrscht iiber die Art und Weise, wie sich aus einer Fischflosse die fiinf- fingerige Hand der ubrigen Wirbeltiere habe entwickeln konnen. Ich sage ausdriicklich : habe entwickeln konnen, da wir sehr weit von der Beantwortung der Frage entfernt sind. Denn Zwischen- formen sind nicht gefuuden und die bisher zum Ersatz des Mangels an positiven Thatsacheu aufgestellte Theorie hat sich keines groBen Beifalls zu erfreuen. Es besteht also sowohl nach meinem Urteile, als auch nach dem Urteile der Descendenztheoretiker selbst eine bis jetzt dnrch keine bekannten Zwischenglieder auszufiillende Kluft zwischen den niederen Wirbeltieren, den Fischen, die man als Urformen und Vorfahren zu denken gezwungen 1st und den hoheren Gruppen der Wirbeltiere : Amphibien, Reptilien, Vogel und Saugetiere. Da ich hier nicht bloB raeine Privatansichten, sondern den gegen- wartigen, in der zoologischen Wissenschaffc herrschenden Zustand der Unklarheit objektiv schildern will, babe ich rnich neulich der um- stiindlichen Vorlesung einiger Stellen aus drei Werken bedient, deren Verfasser alle Anhanger der Descendenz-Theorie sind. Sie konnien daraus lernen, dass die Freunde dieser Lehre sich in verlegenes Schweigen hiillen miissen, sobald Sie fiir die ausserordentlich wichtige Entwickelung der Gliedmassen die Demonstration der Ubergange verlangen. Hochstens Haeckel ergreift das Wort, urn mit iiberraschen- der Bestimmtheit eincn Prozess zu schildern, fiir dessen thatsachliches Vorkommen niemand einen anderen Beweis als die logische Denkmog- lichkeit vof zulegen im stande ist. Man kann dabei nur die Biegsamkeit unserer Sprache bewundern, deren Ausdrucksmittel es gcstatten, unsere absolute Unkenntnis iiber die Umwandlung der Fischflosse in die fiinffingerige Hand der hoheren Wirbeltiere so tauschend zu ver- bergeu, dass der Fernstehende nichts davon merkt. Ich dagegeu sage, was niitzt mir die ganze Abstammungslehre, wenn sie mich ira spezielleu Fall vollkommen im Stich liisst, wenu sie mir keine Das ,,Paradepferd" der Descendenztheorie. (53 •exakten Beweisgriiude fiir eiuen Vorgang vorfiihren kann, der mir aus logischen Grtiuden durcbaus notwendig erscbcint. Wie kann ich ineinen zweifelnden Verstand zwingen , die Richtigkeit einer Theorie anzunebmeu, welche mir in so wichtigen Fragen keine iiber- zeugenden Tbatsacben als sicheren Anbalt giebt. So zwingend der Schluss erscbeinen mag: wenn cine Entwickehmg der Wirbeltiere auf Erden stattfand, so muss diesclbe von den Fiscben ausgegangen sein; vom Standpunkt des niichternen Forscbers ist der Scbluss als vollkommen in der Luft stebend zu betracbton, bis die Beweise vorgelegt sind, dass die tbeoretiscbe Folgeruug mit den tbatsach- licben Ereignissen wirklich ubereiustimmt, Einen gleicb ungiinstigeu Zu stand des Beweismateriales der Abstammungslebre verrjit die Betracbtung der Pferdege- scbicbte. Sie werden das mit Verwunderung boreu, da die meisten von ibuen in populiiren Scbriften gelesen habeu, dass das Pferd und seine Sippe unzweifelhafte Belege seiner stainrnesgeschicbtlicben Genealogie biuteiiasscn bat. Wenn ich bier das gerade Gegenteil einer land- liiufigen Meinung vortrage, so stebe ich, wenigstens soweit sicb die Stellungnabme meiner Facbkollegcn nacb der wissenschaftlichen Litteratur beurteilen lasst, mit meiner kritiscben Auffassung ziem- licb allein. Hatte icb uicbt selbst eine Zeit durcblebt, wahrend welcher icb iiberzeugter und energischer Vertreter der Abstammungs- lebre gewescn bin, wiirde icb nicbt begreifen, wie cs kommen kann, dass so viele ID einer Facbkollegen fest auf die beweisende Klarheit der paliiontologischen Urkunde in der Pferdegeschichte schworen. Aber so weiB icb aus eigener Erfabrung, dass der Anhanger dieser Tbeorie durcb leidenscbaftlicbe Begeisterung fur den scbonen Ge- danken derartig faszinicrt wird, dass er, obne es zu wissen und zu wollen, viele unbequeme, den Beweisgang storende Thatsacben tiber- siebt oder als unbedeuteud einschatzt. Icb will bier, um Miss- verstandnissen vorzubeugen, ausdriicklicb konstatieren, wie voll- kommen fern es mir liegt, meinen der iilteren Ansicbt anbangeuden Facbkollegen irgendwie personlicb zu nabe zu treten. Nein, ich erkenne die Tiicbtigkeit, die ausgezeicbnete Begabung und die glanzenden Leistungen meiner theoretischen Gegner, aucb diejenigen Haeckels neidlos uud unbedingt an; icb bebaupte nur, sie sind das Opfer einer Tauscbung geworden, indem sie die Eicbtigkeit ihrer Lieblingsmeinung in vielen Fragen anerkannten, bevor die notwendige Priifung mit der erforderlicbeu Scbarfe ausgefiibrt war. Nun will icb zur Begriindung meines Urteiles fortscbreiten. Durcb den Besitz eines einzigen Fingers an Arm und Bein stebt das Pferd, Equus caballus L., saint seinen wenigen Verwandten, den Eselu und Zebras, ganz vereiusamt in der beutigen Tierwelt 64 Fiinftes Kapitel. da, wie etwa der StrauB unter deu Vogeln. Die altere Systematik driickte das Verhaltnis durch die Bildung einer besonderen Gruppe der Einhufer aus. Aber die paliiontologischen Funde haben dazu beigetragen, diese systematische Gruppe in ungeahnter Weise zu erweitern, so dass heute die Zahl ihrer Glieder recht groB geworden ist tind die Gruppe selbst wegen der Mannigfaltigkeit der zuge- horigen Arten als Ordming der Unp aarhufer, Perissodactyla, ein-, drei- und fiinfzehige Tiere unafasst. Dadurch erhielt die Gruppe groBeren Wert fiir die Descendenztheorie. Noch am Beginn der siebziger Jahre sprach man nur vom IJbergange fossiler pferdeiihnlicher Arten des Palaotheriums durch Anchitherium und Hipparion in das heutige Pferd.1) Auch Haeckel hebt in den iilteren Auflageu der ,,Natiirlichen Schopfungsgeschichte" und der „ Anthropogenic" die Pferdereihe nicht besonders hervor. Nachdem aber die amerikanischen Palaontologen Leidy, Cope und Marsh ihre interessanten Funde von fossilen Pferderesteu in Nordamerika veroffentlicht uud Huxley dieselben alsbald in popularen Vor- tragen zu New York l)esprochen hatte, steigerte sich die Bedeutung der Pferdegruppe: die fossilen Reste derselben schienen die ehe- malige Entstehung dieser Sippe zu bezeugen und eine Ausicht zu untersttitzen, welche E. Haeckel2) vor kurzem folgendermaBen formuliert: ,,Die bedeutungsvolle phyletischeEntwicklungsreihe der Pferde ist jetzt von den altesten eocaenen Condylarthren (Phenacodus) bis zum heutigen Equus durch die ganze Reihe der tertiaren und quartaren Formationen hindurch so vollstandig bekannt, dafs sie rnit vollem Rechte als das imposante ,,Paradepferd der Descendenzthorie" gilt, als eines der wichtigsten und vollkornmensten Beispiele von palaontologisch be- wiesener allmahlicher Unibildung. - — Nachdem schon friiher die wichtigsten Stufen dieser phyletischen Stufenleiter aus dem Tertiargebirge von Europa bekannt geworden waren, sind sie neuerdings in liickenloser Vollstiindigkeit und iiberraschender Heichhaltigkeit in den verschiedenen Tertiar- schichten von Nordamerika gefunden worden." Diese Auffassung wird in den meisten Lehrbiichern durch die beisteheude Abbildung (Fig. 33) erlautert, welche in der Mitte der siebziger Jahre von dem amerikanischen Palaontologen 0. C. Marsh fiir die von Th. Huxley in New York gehaltenen Vortrage ge- 1) Vergl. Oscar Schmidt, Descendenzlehre und Darwinismus. Internationale wissenschaftliche Bibliothek. 2. Bd. 1873, p. 255 . 2) E. Haeckel, Systematische Phylogenie. III. Bd., p. 549. Das ,,Paradepferd" der Desccndenztheorie. 65 Equus Pliohippus Protohippus u\ Miohippus (Anchitherium) Mesohippus Orohippus Knochen des 00 5 2 ^ i O rt Si -a Backzahn Oberer Unterer Fig. 33. Genealogie des Pferdes. Nach Marsh, Polydactyle Horses. Amer. Journ. 1879. (Clichg aus Zittels Palaozoologie IV. Ed. p. 261.) Fleischmann, Deseendenztheorie. 5 QQ Funftcs Kapitel. zeicbnet und spiiter von Marsh1) selbst publiziert worclen ist. Huxl ey lintte sie in der gedruckten Ausgabe seiner Vortrage und Reden reproduzieren lassen und seitdem ist sie in viele das gleiche Thema behandelnde Schriften iibergegangen. Wer die Figur 33 unbefangen ansieht und clurch die er- klareude Beischrift erfahrt, dass hier die stamrnesgeschichtliche Reihe der Pferde iibersichtlich zusanimengefasst sei, mufs die Be- weisfiihrung fiir schlagend halten. Die einzelnen Figuren sind in horizontalen Zeilen so geordnet, dass unten die alteren Reste, oben die jiingeren Fundstiicke und die Skeletteile des jetzt lebenden Pferdes stehen. Auf diese Weise werden Avichtige Ziige des Hand- und Fufsskelettes, des Unterarmes und Unterschenkels, sowie der Zahne von verschiedenen als Pferde bezeichneten Tierarten dargestellt, deren Reste vor 30 Jahren bekannt geworden sind. In den alteren Ablagerungen wurclen naehrfingerige Pferde gefunden, wahrend dreifingerige Arten in neueren Schichten auftreten und die jetzt lebenden Pferde nur je einen Finger an Hand und Fufs besitzen. In der untersten Zeile, welcbe sich auf den etwas rnebr als fuchsgroBen Vorlaufer des Pferdestamnies, Orohippus bezieht, zeigt die Hand vier, der FuB drei Zehen ; beiden fehlt der Daumen und dem FuBe iiberdies noch der fiinfte Finger. Der Mittelknochen und die Glieder des dritten Fingers sind an Hand und Fufs starker, als die gleichwertigen Stiicke des zweiten und vierten Fingers ; die Stiicke des fiinften Fingers der Hand sind kiirzer und zarter als diejenigen aller iibrigen Finger. Bei dem schafgroBen Mesohippus und dena Miohippus, beide in Ablagerungen des Miocan's gefunden, treten die Mittelknochen des zweiten und vierten Fingers gegen den starken Mittelknochen des dritten Fingers zuriick und sind auch etwas verkiirzt. An der Hand hangen noch Reste des fiinften Mittelknochens, besonders klein bei Miohippus. Bei Protohippus, von welcheni einige Arten die Grofse des Esels erreichten, fallt die machtige Entwicklung des dritten Mittel- knochens und die schwache Ausbildung des zweiten und vierten Mittelknochens auf, welche kurze. den Boden nicht mehr beriihrende Afterzehen tragen. An Pliohippus undEquus werden die Finger- glieder des zweiten und vierten Fingers vermisst und die zugehorigen Mittelknochen hangen neben dem groBen Mittelknochen des kraftigen dritten Fingers als diinne, unten spitz zulaufende sog. Griffelbeine, die nicht einrnal bis zum unteren Rande des dritten Mittelknochens reicheu. Hier ist jede Spur des fiinfteu Fingers und des zugehorigen Mittelknochens verschwunden. American Journal of Science, III. ser, 1879, vol. 17, p. 505. Das ,,Paradepferd" der Descendenztheorie. 67 Die Figur 33 lehrt also, class bei vielen von den Palaontologen als Pferde angesprochenen, ausgestorbenen Tierarten der erste und fiinfte Finger zum Schwunde kommt, class der zweite und vierte Finger imrner schmaler und cleren Fiugerglieder irnmer kleiner und iiber den Erdboden zuriickgezogen werden, wahrend beim jetzt Jebenden Pferde die beiden Seitenfinger ganz riickgebildet und cleren •Mittelknochen als unniitze Reste, als sog. Griffelbeine, erhalten sind. Auf Grund der in Fig. 33 sichtbaren Fornienstufen der Glied- mafsenbildung baben die Anhanger der Descendenztbeorie die bis- ber besprocbenen und mebrere nicbt genannte fossile Pferdearten in eine stammesgescbicbtlicbe Reihe geordnet und gewahnt, cladurcb die Eicbtigkeit ibrer Lieblingsrneinung iiber jeden Zweifel erhoben zu baben. Aber die Aufgabe war nicbt so einfacb, als es schien. \7erscbiedene Forscber ausserten abweicbende Ansicbten iiber die genealogiscbe Verknupf ung der fossilen' Forrnen und bescbenkten uns mit einer grosseren Auswabl von Stammbaurnentwiirf en, von welcben icb nur einige berausgreifen will. Zuuachst Haeckel's Stanirnreibe aus der natiirlicben Scbopfungsgescbicbte, 8. Auflage. p. 669, der dem Vorscblage von Marsh folgt, aber die Reibe urn etlicbe von Marsh eingeschobene Zwiscbenforrneu kiirzte. Pferdegattung Tertiarschicht Vorderbein Hinterbein Lebendes Pferd Equus Gegenwart und Quartarzeit 1 Zehe 1 Zehe Pliohippus Oberpliocan 1 Hauptzehe 2 Nebeczehen 1 Zehe 2 Rudimente Protohippus (Hipparion) Unterpliocan 1 Hauptzehe 2 Nebenzehen 1 Hauptzehe 2 Nebenzehen Miohippus (Anchitherium) Obermiocan 3 Zelien mittlere grofier 3 Zehen mittlere groBer Mesohippus TJntermiocan 3 Zehen und 1 Rudiment 3 Zehen Orohippus ObereociiQ 4 Zehen 3 Zehen Eohippus Stammform der Mitteleocan 4 Zehen und 1 Rudiment 3 Zehen Pferde Hyracotherium Stammform der Pferdelinie Untereocan 5 Zehen mittlere groCer 3 Zehen und 1 Rudiment Coryphodon Unterstes Eocan 5 Zehen, mittlere etwas groCer 5 Zehen, mittlere etwas groUer Phenacodus Unterstes Eocari 5 Zehen 5 Zehen und Kreide? fast gleich fast gleich 68 Fiinftes Kapitel. Anderen Gelehrten erschien cler Vorschlag zu einfach, besonders die amerikanischen Paliiontologen Cope und Wortmann, denen sicb Oscar Schmidt und Carl Vogt anschlossen, meinten die jetzige Gattung Pferd sei nicht von ciner einzigen Stammart mono- phyletisch entstanden, sondern seine Vorfahrenreihe lasse sich in zwei vollstandig getrennten Stammlinien — diphyletisch zu einfachen Urformen verfolgen, die in Europa und Amerika verschieden- artige Zwischenformen gezeugt batten. Zur Erlauterung setze ich den Cope' sell en Eutwurf bei: Amerika Equus Hippidium Protobippus Ancbitberium Mesohippus Palaeotberium Europa Equus Hipparion Ancbitberium Paloplotberium Epibippus I Hyracotberium Systemodon Neuerdings bat E. Haeckel1) eiuen verbesserten Stammbaum der Pferde veroffentlicht, indem er sich vollstandig den von Max Scblosser2) ini Jabre 1889 geiiuBerten Ansicbten anscbloss. Equus Hippidium Hippotberium Pliobippus Hipparion Merycbippus Anchitberium Mesohippus I Epibippus Orobippus .1 Eobippus 1) Systemat. Phylogenie III, pag. 548. 2) M. Schlosser, Beitrage zur Kenntnis der Stammesgeschichte der Huftiere etc. Morpholog. Jahrbuch, Bd. 12, pag. 30. Das ,,Paradepferd" der Descendenztheorie. 69 AVer das FuBskelett der Pferdeformen vergleiclit, wird die Be- rechtiguug der Stammbaume nicht bestreiten wollen. Das Arran- gement der Abbilduugen von Marsh ist so einleuchtend, dass man sich der Miihe iiberhoben diinkt, nach anderen Beweisgriinden zu fragen. Sicher sind auch viele Fachgelehrte durch die Ahulichkeit der FuBbildung fiir die phylogenetische Deutung der Pferdereste gewonnen worden. Und doch ist eine weitere Priifung sehr not- wendig, weil neben den iibereinstimmenden Charaktereu des Extremitiltenskeletts eine Meuge von Unterscbieden besteht. Denn wenn einer bei der Ausarbeitung eines Stammbaumes nur die GliedmaBen ini Auge hat, wie es gegenwartig bei Ihnen alien der Fall ist, so kann er mannigfache Fehler begehen. Ich will sie an einern analogen. nicht ganz zutreffeuden Beispiele erlautern, wobei ich weit entfernt bin zu behaupten. die Palaontologen seien in gleich groBe Irrtiimer verfallen, wie ich sie jetzt aus didaktischen Griinden begehe : Ich kann ohne Anstand die GliedmaBeu der Saugetiere in eine Reihe ordnen, welche einer Entwickelungsfolge gleichsieht. An die menschliche Hand mit ihreu fiinf deutlichen Fingern (Fig. 18) schlieBe ich die Hundehand, (Fig. 1 9) deren Daumen schwa ch entwickelt ist, dann folgt die Hand des Schweines (Fig. 21). ohne Daumen, mit schwachem zweiten undfiinften Finger und starkerem dritten und vierten Finger, die Hand des Kameles (Fig. 20) zahlt nur zwei Finger; dasPferd schliefit die Eeihe mit einem einzigen Finger. Wenn ich nun behaupte, das sei eine nnleugbare Urnbildimgsreihe, eine Serie von natiirlichen Objekten, welche die Vereinfachung des Handskelettes wahrend der stammes- geschichtlichen Entwickelung der Saugetiere ofienbare, so lege ich dem Umstande, dass sich fiinf-, vier-, drei-, zwei-, und einfingerige" Hiinde natiirlich in der Eeihenfolge der Ordnungszahlen neben einander stellen lassen einen allzu hohen Wert bei; denn durch diese Moglichkeit bequemer Ordnung werden andere ITnterschiede des Korpers nicht aufgehoben, und man braucht kein Fachmann zu seiu, um den von mir begangenen Fehler zu durchschauen. Sobald Sie nur die Namen der Tiere horen : Mensch. Hund, Schwein, Kamel, Pferd, treten Ihnen Allen die specifischen Ziige der ganzen Korpergestalt dieser Arten so lebhaft vor die Augen, dass Sie sagen werden, meine eben gebildete Reihe gestatte wohl in bequemer Weise die Einsicht in die Modifikationen der Handbildung, nimmer mehr aber konne sie als Beweis fiir einen stammesgeschichtlichen Zusamnienhang der ausgewahlten Arteu gelten. Wiirden Sie sich nun getrauen, das direkte Gegenteil iiber die Hand- und Fufireihe der fossilen Pferdearten auszusagen und wiirden Sie bestreiten. dass das palaoutologische Material, welches Sie nur durch 70 Fiinftes Kapitel. Beschreibung und wenige Abbildungen kennen, uns zu ahnlichen Fehlern verfiihrcn konnte? Muss niclit die Frage vicl schwieriger erscheinen, da dem Zuhorer durch seine eigene Unkenntnis des Aussehens und dcr Beschafi'euheit ausgcstorbener Tiere die Mog- lichkeit kritischer Priifung benommeu ist? So wenig ich Ihnen eine klare Vorstellung von dem Aussehea. des Barramuuda geben Konnte, iudem ich Ihnen die skelettierte Flosse desselben (Fig. 29) zeigte, so weuig wird jemand, der nur die Marsh'sche Tabelle der Pferdegeschichte gesehen hat, von einer Kenutnis der Pferdeahuen sprecheu diirfen. "Wir miissen also welter fragen, wie andere Teile derselben beschaffen waren und wie die vollstaudigen Tiere aussahen. Der Paliioutologe von Fach wird dadurch nicht in Verlegenheit gebracht, well er eine rnoglichst voll- staudige Beschreibuug der fossileu Reste geben will. Unsere Auf- gabe wird es nun seiii, die von der Palaontologie geforderten Resultate zu verfolgen. Dabei miissen wir immer im Shine be- halten, class unser Urteil sich vertieft, je mehr Korperteile von fossilen Pferdeu wir geuau keunen lernen. Auf die Schilderung der Weichteile und aller physiologischen Vorgauge miisseu wir leider von vornhereiu verzichten, weil die versteinerte Urkunde bloB Reste von Hart- gebilden, von Knochen und Zahueii, iiber- liefert, Wir wollen darum die zahlreich ge- fundenen Ziihne der fossilen Pferdearten etwas genauer betrachteu. Hier treten uns groBe Unterschiede entgegen; ich kann nur eicige derselben narnhaft machen, indem ich ihre Aufmerksamkeit auf die Eigenschaften der Backzilhne leite und Schneide- wie Eck- ziihne vernachliissige. Die Backziihne der heutigeu Pferde weichen von dem unter den Saugetieren weit verbreiteten Typus der schmelzhockerigen Ziihue bedeutend ab. Gewohnlich sind die zwei Bestandteile jedes Zahnes, das Zahnbeiu Dentin und der Schmelz - - Email auf einander gelagert, wie z. B. am Schueidezahu (Fig. 34) eines Menschen. Der Dentinkern des Zahnes triigt auf der in die Muudhohle ragenden Krone eiuen Ueberzug von Schmelz, wiihrend der schmelzlose Dentinteil als sog. Wurzel in einer Kieferhohle befestigt ist. Die grorje Mehrzahl der iilteren Pferde besitzt wurzelige schmelzhockerige Back- Spitze dei- Krone - Schmelz Deiitin Cement Wurzel Cement Fig. 34. Langsschliff durch den Eckzahu des Menschen. Das ,,Paradepferd" der Descendenztheorie. 71 zahne, deren schnielziiberdeckte Krone eiue breite Kauflache bilclet. Die Kaufliiche des Dentinkernes 1st in kleiue Erhaben- heiten oder Hocker ausgezogen und die Schmelzlage iiberzieht die- selben in genau entsprechender Weise gewellt und vorgebuchtet (Fig. 36, A). Unsere heute lebenden Pferde dagegen besitzen schmelz- faltige Backziihne, d. b. die Scbmelzdecke der Kauflache bucbtet sicb mittels tiefer sackartiger Falten in den Dentinkern ein, so dass eine geinischte Lagerung der barten Zabnsubstanzen entstebt. Der Dentinkern selbst ist sebr bocb pris- matiscb; der Scbmelz umbiillt denselben gleicb einem prismatiscben Futterale imd treibt von der Kauflache, welche der Grundflilche des Prisnias zu vergleicben ist, hoble Einstiilpungen in das Dentin. Die letzteren sind am fertigeu Zahn rnit einer dritten Hartsubstanz, dem Cemente, ausgefiillt, das auch die SchmelzauEenflache des prismatischen Zabnes belegt. Durch die Kauthatigkeit wircl die Kauflache Fig. 35. Querschlif f durch den Back- zahn des heuti- gen Pferdes. Schmelz schwarz, Dentin weili. Cement punktiert. der Ziihne abgerieben und es treten danu die drei D Hyracotheritim le- porinura (Owen). Zweiter oberer Back- zahn - i. Pachynolophus si- derolithicus (Pictet). Oberer Backzahn -\. Propalaeotherium aryeutonicum (Gerv.) Oberer Backzabn \i. niirabilis (Leidy). Oberer Milchback- zabn ' !. Hipparion gracile (Kaup). Oberer Backzahu ' ,. Auchitheriuim aure- lianense (Cuv.) Oberer Backzabn 1i'1. G Si/L a S caballus (Lin.) Oberer Backzahn Vi- Fig. 36, .1— G. Obere Backzahne ver schie dener Pferdearten. A — D Ansichten der schmelzhockerigen Kauflache. E — G Ansicht der schmelzfaltigen Kauflache. a, c Aussenhocker, ?;, d Innenhocker, 6', I" Zwischenhocker, a' accessorisches Aussenhockerchen, <]' accessorisches Innenhockerchen, in, m' Marken. Die Figuren sind Zittel's Paliiozoologie, IV. Band, S. 23i entnommen. 72 Fiinftos Kapitel. den Zaun aufbauenden Substanzen: Cement, Schmelz, Deutin toils als Felder, sog. Thaler, teils als gewundene Schmelzbander deutlich hcrvor. (Fig. 35.) Im Gegensatze zum modernen Pferde sind die Zahne vieler fossilen, als Pferde gedeuteten Arten nicht prismatis^h, sondern kurz, wurzelig und schmelzhockerig. Meist ragen vier niedrige, rundliche Hocker nebst zwei Zwischenhockern iiber die Kauflache (Fig. 36, A). Bei den altesten Arten (Fig. 36, B, C) sind die Hocker getrennt und nur die Zwischenhocker mit den Inneuhockern durch schwache Grate verbunden, bei etwas jiingeren Arten (Fig. 36, D) erscheiuen die Hocker nicht inehr rundlich, sondern nait kantigen, sie ungefahr halbierenden Kielen versehen, und bei neueren Arten (Fig. 36, E, F, G) finden sich an Stelle der getrennten Hocker gerade oder gebogene Leisten oder Joche, zwischen welchen vertieite Stellen der Kauflache, die sogenannten Marken, liegen. Zahne von dem Typus der heutigen Pferde werden erst bei Arten des untereu Pliocans (Fig. 36, E) beobachtet Die Zahne von Hipparion be- sitzen prisniatische Gestalt und sind von einer dicken Cenientschicht 37. Scliadel des heutigeu Pferdes, Ec|uus caballus. Die Backzahne sind bloC gelegt. umhlillt, welche an Zlihrien der iilteren geologischen Zonen tiber- haupt uicht vorkommt. Die Ziihue von Equus selbst sind uicht wurzelig, sondern ragen als hohe vierseitige Saulen tief in die Kieferknocheu hineiu, wie die Figur 37 erlautert. Wahrend ferner die vorderen Backzahne der meisteu fossilen Arten, Hyra- cotherium, Eohippus, Orotherium, Palaeotherium, kleiner sind als die hinteren, indem die Zahnkrone vom ersten, kleinsten bis zum letzten Backzahn an GroBe zunimmt, verhalt sich das GebiB des jetzigen Pferdes und etlicher weniger fossiler Arten umgekehrt: cine vordereu Backzahne haben die groBten Kauflacheu, die hinteren Das ,,Paradepferd" der Descendenztheorie. 73 Fig. 38. A Mehrwurzelige Backziihne voii Anchitherium. B Prismatischer B a ckzahn von Hipparion. CPris- matischerBackzabn von Equus. Nach Kowalewsky. ' :i nat. Grosse. kleinere und sclimalere. Bei Mesohippus und Anchitherium kommen die vorderen Backziihne den hinteren an GroBe gleich. Der allgemeinen Formabnlichkeit in der Ausbildimg der FiiBe gesellen sicb also recht bedeutende Unterscbiede der Bezabnung. Alle Arteu bis zum oberen Miocan, Eohippus, Orohippus, Mesohippus. Miobippus, Ancbitberium (Fig. 38, A), besitzen mehrwurzelige Backziihne, Protobippus uud Pliobippus, Hippa- rion (Fig. 38, B) und Equus (Fig. 38, C) baben aber prismatiscbe Back- zabne mit reicblichem Cementbelage. Die prismatiscben Backzabne des Pro- tobippus und Pliobippus sind wesent- licb niedriger, die Backziihue1) YOU Hipparion ungefiibr balb so bocb als diejenigen von Equus selbst. Da icb nicbt tiefer in das verwickelte Detail der Bezabnung bei den fossilen Pferden eingeben darf, kanu icb nur lakoniscb bemerken, dass niemand zu scbildern vermag, wie die pris- matiscben Ziibne durcb Umbildung der mebrwurzeligen entstanden sind. Die Unterscbiede der Zabne steben mit anderen Differenzen des anatomiscbcn Baues in Zusammenbang. Wie Kowalewsky zuerst ausfuhrlich begriindete, ist die Scbadelform wesentlich von der Bescbaffenbeit der Ziibne abbangig. Wurzeln in den Kieferkuocben kleine nieclere Ziibne, so wircl nicbt soviel Raiim be- ansprucbt, als wenn bobe siiulenformige Backzabne dort Platz finden sollen (Fig, 37). Deshalb sind die Oberk'eferbeine viel miicbtiger bei Arten mit prismatiscben Backzabnen. Die GroBe der Oberkiefer modifiziert wieder das Ausseben des ganzen Scbiidels, indem sie bei macbtlger Entfaltung dazu beitragen. den Antlitzteil des Scbiidels recbt massig gegeniiber clem Hirnscbiidel zu gestalten. Die Ab- bildungen etlicher Pferdescbiidel (Fig. 39 — 43) illustrieren die Unter- scbiede. Bei den alteren Arten (Fig. 41 — 43) mit niedrigen Wurzel- ziibnen ist der Gesicbtsteil klein, der Jocbbogen stebt weit ab und die Augenboblen sind uicbt gescblossen, wiibrend beim Pferde (Fig. 39) das gerade Gegenteil gilt. Wenn aucb der Knocben- scbadel des Hipparion eine gewisse Abnlicbkeit mit dem Pferde- scbiidel zeigt, so weicbt der Scbiidelbau der alteren Arten, welcbe als Vorfabren bezeicbnet werden, von Ancbitberium (Fig. 41). J) Ich habe die Yerhaltnisse durch die gut en Abbildungen von Zittel und Ko\valewsky illustriert. Der Vergleich mit den Figuren in der Marsh'schen Tabelle wird Ihnen zeigen, dass letztere die Natur nicht treffend wiedergeben. Fiinftes Kapitel. Fig. 39. Sell a il el cles Tferdes, Equus caballus. Fig. 40. Schadel v o u Hipparion. Xuch Kowalewsky. Fig. 41. Fig. 4-2. Fig. 41. Schadel von An cliithe riura. Naoh Ko wale wsky. -• Fig. 42. Schadel von ,M <_'s <>h i |>p us Rainli. Xach Scott. Fig. 43. Schadel von Palae o t he ri um. Xach Kowalewsky. Das ,,Paradepferd" der Descendenztheorie. 75 Mesohippus, (Fig. 42), Palaeotherium (Fig. 43) doch so becleutend von dem Pferdetypus ab, dass man sick schwer vorstellen kann, iu welcher Weise die hochgradige Umbildung der Schadelplastik er- folgte. Schlosser hob schon 1889 hervor, dass der Schadel des Anchitherium (Fig, 41) mehr dem des Palaeotherium gleicht, als dem jezt lebendeu Pferde, wahrend Anchitherium im Ban der Gliedroassen grosse Ahnlichkeit mit dem Pferde zeigt. Der Schadel des im Haeckel'schen Stammbaumentwurfe vorhergehenden Meso- hippus, dessen ganzes Skelett neuerdings durch Scott1) sehr genau bekanut gemacht wurde, weicht in iioch hoherem MaBe davon ab, uncl fiir Epihippus, Orohippus und Eohippus 1st sicher keine groBere Ahnlichkeit mit dem heutigen Pferde zu vermuten. Auch im Skelette fallen bei genauerem Studium bedeutende Divergenzen auf, besonders an den Vorderarmknochen und den Unter- schenkelknochen, \velche bei einigen Arten wohl getrennt, bei anderen verschmolzen siud. Die hier nur kurz besprochenen Unterschiede sincl ziemlich be- deutend und haben diePalaontologen veranlasst, die fossilen als Ahneu des Pferdes gedeuteten Tierarten in drei gesonderten Familien, die Hyracotherinae, Palaeotherinae und Equinae zu verteilen. Ich gebe ihre Charakteristik nach Zittel's Handbuch der Palaontologie2): 1. Familie der Hyracotherinae: Augenhohlen hinten offen. Elle und Speiche getrennt, von nahezu gleicher Stjlrke. \7"orderfuB vier, HinterfuB drei Zehen. Backzahne sehr niedrig, die vorderen sind einfacher als die hintereu. Hyracotherium, Eohippus, Orohippus, Epihippus. 2. Familie der Palaeotherinae: Augenhohlen hinten weit offen oder unvollstiindig knochern begrenzt. Elle und Speiche getrenut. Backzahue mehrwurzelig, ohne oder mit schwach entwickeltem Cemente. Zwei oder drei der vorderen Backzahne in der Regel den hintereu gleich. Vorder- und HinterftiBe dreizehig, die Seitenzeheu vorn und hinten den Boden erreichend. Palaeotherium, Mesohippus, Anchitherium. 3. Familie der Equinae: Augenhohlen hinten vollstiindig knochern geschlosseu. Elle und Speiche verschmolzen. 1) W. Scott, osteology of Mesohippus, Journal of Morphology V. 1891. 2) C. Zittel, Palaozoologie IV. Bd. S. 239, 245, 252. 76 Fiinftes Kapitel. Backzahnc mit reichlichem Cementc. Die vorderen Backziihne den hinteren gleich. Merychippus, Hippariou, Protohippus, Hippidium, Equus. Durch solche thatsiichlichen Feststellungen wird uuser Urteil iiber den beweisenden AVert der Marsh'schcn Abbildungen und dor phylogenetischen Stammbiiume etwas modifiziert. Gedruckt sind die Namen der Vorfahren des Pferdes einfach auf den Tabelleu abzu- lesen und wirken wie ein vollgiltiger Beweis. AYenu man aber alle bekanntenEigenschaften der ausgestorbeneu Formen erwiigt, so stellen sich dieselben als Tiere dar, welche im Aufbaue der Hande und FiiBe wohl eiue gewisse Ahnlichkeit mit dem modernen Pfercle besitzen, in vielen anderen Pimkteu jedocb von ibm abweichen. Es sind also die alteren Arten aus der Familie der Hyracotheriuae und der Palaeotheriuae iiberhaupt auszuschlieBcn und nur die jiingere Familie der Equinae als wahre Pfercle aufzufassen. Schon Cope1) bat her- vorgeboben, class in der Organisation der Familie der Palaotherinae ein tiefer Kontrast mit den eigeutlicben Pfercleu liege. Wie baben sicb nun die Equinae aus den alteren Formen ent- wickelt? Als vermittelndes Glied wird Merychippus genaunt. Auf cliese Gattung, welche zu Ende der siebziger Jabre in Amerika entdeckt wurde, legt Haeckel mit Scblosser ein Hauptgewicht. AVahrend eiues Aufentbaltes in Amerika bei Marsh batte letzterer Gelegenbeit, die Reste von Merychippus genau zu studieren. Er bezeicbnete sie als die wichtigste Ubergangsform2) zur Organisation der modernen Pfercle; das Gebiss ist bereits pfercleartig, besitzt Cement und ebene Kauflachen, doch ist die Zabnkrone recbt niedrig. Ineiner Anmerkuug iiigt er binzu, diese Ziibne seien das Frappantcste. das er je an Uebergangsformen geseben hat. AVenn Sie aber fragen, wie Merycbippus ausgeseben babe, so kann nur geantwortet werdeu, class die Zabne nacb dem Typus des Pferdes gebaut waren. Frageu sie nacb der Beschaffenheit der GliedmaBen, des Skelettes, des Schadels, so bleibt die Auskunft versagt. A^on Merycbippus sind nichts als Zabue bekannt. In diesem, wie in maucb' anderem Falle wird der stammesgescbicbt- licbe Zusammenbang bebauptet, weil zwiscben isoliert gefundenen Zabnen eine gewisse Formenverwandtscbaft auffiillt. Die ameri- kaniscben Paliiontologen baben iiberhaupt bei den Untersucbuugen nacb der iStammesverwandtschaft der Pfercle das Hauptgewicht friiber so ausscblieBlicb auf die Zabne gelegt, class man glaubeu konnte, die Tiere batten gar keine auderen Orgaue besessen. J) American Naturalist vol. 21b, 1887, p. 1067. 2) M. Schlosser, Morph. Jahrbuch 1887, p. 14, 15. Das ,,Paradepferd" der Descendenztheorie. 77 Der \vissenscbaftlicbe Name ..Merychippus" hat also in diesem Falle eine ganz andere Bedeutung, als der von irgend einem leben- den Tiere, z. B. Equus caballus, das Pferd. Wabrend der letztere im Geiste des Kenners hunderte von woblbekannten Eigenschaften bedeutet, bezeichnet das Wort ,,Merycbippus-' ein Tier, von welcben einzig und allein die Zahnreihen bekannt sind. Der genealogische Nacbweis droht an einer neuen Schwierigkeit zu scheitern. Wir kennen jetzt eine Anzahl alterer Arten, die in ihrer Organisation wesentlich von den beutigen Pferdeu abweichen, z. B. Hjracotherium, Eobippus, Orobippus, Mesobippus, Ancbitberium und eine Gruppe anderer Arten, welcbe unzweifelbaft wahre Pferde sind, niimlicb Hipparion, Protobippus, Pliobippus, Hippidium. Das Yerbindiingsglied beider Gruppen soil Merycbippus sein, ein Tier, das abgesebeu von seinen Backzabnen vorderband nur durcb seinen lateinischen Namen bekannt 1st, Obgleicb der Name obne weiteres in die klafiende Liicke der Stammreibe eingeriickt werden und Laien iiber unsere Unkenntnis binwegtauscben kaun, lasst sicb docb der tbatsachlicbe Mangel wirklicher Zwiscbenglieder nicbt ver- scbleiern, deren Studium uns vielleicbt gestatten wiirde, die Trans- mutation der Unpaarbufer aus den Familien der Palaeotberinae und Hyracotberinae an den Skeletten direkt abzulesen. In der Pferdegescbichte klafft also an entscbeidender Stelle, genau so, wie zwiscben der Fiscbflosse und der fiinffingerigen Hand eines boberen Wirbeltieres eiue bis beute nicbt aus- gefiillte Liicke. Die Vergleicbung der GliedniaBen bilft dariiber nicbt binweg; denn sie belebrt uns nur, dass der bei der anfanglicben Betracbtung des einfingerigen PferdefuBes jedem auftaucbende Gedanke, der- selbe falle ganz aus dem Rabnien der sonst bei Saugetieren berr- schenden FuBbildung, falscb ist. da die vereinfacbte Pferdeband sicb als Spezialfall der Saugerbandbildung erweist, So leicbt nun alle GliedniaBen der Pferdereibe iibersichtlicb geordnet, und so einfacb die Riickbildung der vier iibrigen Finger sicb verfolgen lasst, so ist docb dadurcb die Stammesgescbicbte nicbt als ein wirklicber Prozess erwiesen ; denn Hand- und FuBskelett sind nur Abscbnitte des Tierkorpers, die niemals als sicbere Indikatoren einer an siimtlicben iibrigen Organen erfolgenden Umbildung gelten diirfen. Die Dreizebigkeit einer fossilen Tierart allein ist nocb kein scblagender Beweis, dafs sie eine direkte Vorfabrenform des Pferdes sei, mag sie aucb von den Palaontologen durcb Composita des Wortes Hippus benannt sein. Wer die Stammesverwandtscbaft verscbiedener im zoologiscben Systeme einander nabe geriickter Tierarten aufweisen will, darf 78 Fiinftes Kapitel. eben niclit bloB ein einziges Merkmal, nicht die Beschaffenheit eines Bruchstuckes betrachten, sondern soil den gauzen Korper snmt all seinen Teilen in Erwagung ziehen. Danu sprechen aber die oben bericli- teten Thatsachen gegen direkte Verwandtschaft und iu manchen Fallen geselltsich dazu dieScbwierigkeit, dafsvielefossile Pferdearten nurteil- weise bekannt sind. Infolgedessen wissen wir gar niclit, wie nianche sog. Staminvater des heutigen Pferdes ausgesehen haben. Wir besitzen wokl palaontologische Beweise fiir das Vorkommen zahlreicher Pferdearten, aber dieselben reichen nicht aus, tins eine anschaulicke Vorstellung von der Kb'rperbeschaffenheit derselben zu geben. Ware das Skelett der in den stammesgeschichtlichen Tabellen aufgefiibrten fossilen Pferdearten so bekannt, wie das der jetzt lebenden Tiere, dann ware freilich die Sacbe anders ; man wiirde wenigstens das Knochengeriiste der verstorbeneu Arten vollstandig studieren und vergleichen kb'nnen. Vielleicbt wiirden sich aber neue Ubelstande geltend macben. Ich vermtite es nach der alten Erfahrung, dafs sicb die vollstandig bekannten Skelette jetzt lebender Arten schwer, richtiger gesagt, menials in eine pbylogenetiscbe Reihe ordnen lassen und der An- lianger der Entwicklungstbeorie uns entschuldigend erklart, die ver- kuiipfenden Mittelfornien seien wobl friiber vorhanden gewesen, jedoch vor langer Zeit ausgestorben und ibre Eeste bisber nicbt gefunden worden. Uni nur ein Beispiel anzugeben, will icb Sie an die Faultiere erinnern. In Siidamerika leben zwei Arten, welcbe sicb durcb ibre Fingerzahl so unterscbeiden, dafs sie als drei- zebiges und zweizebiges Faultier bezeicbnet werden. Der Name riickt uns die Vermutung nahe, ob nicbt die zweizehige Art infolge starkerer Reduktion der Finger aus der dreizebigen Art entstanden sei. Das zoologiscbe Studium deckt dagegen die Un- nioglicbkeit des Gedankeus auf. Die beiden Arten weicbeu auBer- ordentlicb stark von einander ab und konnen nicbt direkte verwandt- scbaftlicbe Beziebungen gebabt haben. Man bat sie darimi seit laiiger Zeit in zwei gesonderte Gattungen gestellt, das dreizebige Faultier, Bradypus tridactylus Wied.. mit 9 Halswirbeln in die Gattung Bradypus, das zweizebige Faultier, Cboloepus didactylus mit 7 Halswirbeln in die Gattung Choloepus. Gliicklicberweise 1st die Thiitigkeit der Palaontologen nicbt so beschrankt, Avie es uach den vorhergehenden Siitzen scheineu niocbte. Giinstige Funde lassen aucb fiir die versteinerten Eeste nebeu maucben Ahnlichkeiten tief greifende uud hochst interessaute Unter- schiede nachweisen. Bare Zahl wiirde sich nach meinem Urteil sicher sehr bedeutend vermehren, wenn wir jemals in die gliickliche Das ,,Paradepferd:< der Descendenztheorie. 79 Lage versetzt werden konnten, die Weicbteile der ausgestorbenen Arten zu priifeu. Da aber der gesetzte Fall ein Irrealis ist, so miisseu wir uns mit den Unterschieden begniigen. die an den ver- steinerten Stucken des Tierkorpers deutlich geschrieben stehen, zu- gleicb im Sinne baltend, dass dieselben sicberlicb nur einen kleinen Abscbnitt aus einer ungebeuren Menge von Unterscbieden darstelleu. Die eingebende Analyse der von Jabr zu Jabr vollstiindiger bekannt werdenden Skelettreste einiger fossiler Pferdearten bat bereits den Anlass gegeben, dieselben aus der direkten Abnenreibe des Pferdes zu entfernen. Als einleucbtendes Beispiel bebe icb zuniicbst das Hipparion bervor. Es ist nocb keine lange Frist verstricben, als allgemein das Hipparion als wicbtigste Zwiscbenform gescbildert und die pferdeiibnlicbe Gestalt seines Scbadels, seiner FiiBe und seines Gebisses betont wurde. Heute spricbt man weniger davon, weil die einleucbtende Darstellung von A. Weitbofer1) die Unmog- licbkeit erbellte, die deni beutigen Pferde zukomniende Eigenart des Skelettes in den Verbaltnissen des Hipparionskelettes gleicbsam als Vorstufen zu erkennen. Hipparion wird darurn, wie der Stammbaum auf Seite 68 zeigt. von Weitbofer und Haeckel als Seiteuzweig Iw. L» YV^JJ. 1 Vy X U J-L V JL V/X LI.J-LVL ^^ C\. \. \J Ji. V A t*/J.u *~t\s JL l,*_/ HfJ >Y - ,""! angesehen. Fig. 44. Scbadel von Hippidium ueogaeum. Nach Burmeister. Von den zeitlicb nabestebenden Formen fallt Hippidium ebenfalls aus der direkten Reibe. Hippidiura ist eine Pferdeart Siidarnerikas, deren Korperbau den Zebras, ja selbst deni Esel [ibnlicber war als den ecbten Pferden: durcb die groBere Zierlicbkeit des Rumpfes, welcbe ganz der des Esels entspricbt, durcb die verbiiltnis- J) A. Weithofer, Beitrage zur Kenntnis der Fauna von Pikermi. Beitrage zur Palaontologie Osterreich-Ungarns, Bd. VI., 1888, S. 273—280, ferner M. Pavlow, Etudes sur 1'histoire paleontologique des Ongules. Bull. Soc. Imp. des Naturalistes Moscou 1887, 1888, 1890. 80 Fiinftes Kapitel. mliBig kurzen GliedmaBen und einen absolut groBeren Kopf (Fig. 44). Die Nasenhohlen sind nicht soweit nach vorn knochern geschlossen als beim Pferde, deshalb haben die Nasenbeine lange freie Spitzen. Die dicken, stark gekriimmten , Backziihne besitzen kiirzere Zahnkorper und die Kaufliichen eine ganz audere Zeichnung als die von Equus. Mit Anchitherium, um damit zu den alteren Formen iiberzugehenj verhalt es sich nicht anders. Sein sehr wohl bekanutes Skelett unterscheidet sich so wesentlich vom Pferde, dass Schlosser es iiberhaupt nicht als direkten Vorfahren bezeichnet. Fiir Mesohippus hebt Scott die mannigfachen Unterschiede des Skelettbaues gegeniiber den neueren Arten hervor. Gehen wir endlich bis zu Phenacodus zuriick, dessen voll- standige Skelette 1882 gefunden wurden, so erhellt die beistehende Abbildung (Fig. 45) die grossen Unterschiede vom heutigeu Pferde, Fig. 45. Phenacodus primaevus. Nach Cope. iiberhaupt von samtlichen fossilen Equinen. Das kleine Tier besitzt fiinf deutliche Finger an Hand und FuB, welche nur darin mit dera Pferde iibereinstimmeu, dass der Mittelfinger etwas starker ausge- bildet 1st, als die iibrigen Finger. Schlosser auBerte vermutungsweise die Meinung1), ,,die Stamm- f'orm der Pferde haben wir wohl in Phenacodus puercensis Cope aus dem Puercobed zu suchen. Es ist derselbe zwar noch nicht vollstandig bekannt, doch geniigt sein Gebiss alien Anforderungen, die man an die Stammform der Pferde zu stellen berechtigt ist." Er fahrt fort: ,,Yon eineui der alteren Phenacodus, bei welchem vermutlich wohl die erste und fiinfte Zehe noch kraftiger entwickelt waren, stamrnt wahrscheinlich der erste echte Equine, das Hyracotherium, ab, doch erhielten sich zugleich auch noch mehrere Phenacodus- !) 1. C. p. 11. Das ,,Paradepferd" der Descendenztheorie. 81 formen. - Fast mochte ich den verhiiltnismaBig hochbeinigen und zugleich im Zahnbau noch primitiveren Phenacodus Vortrnani fiir den Vorlaufer der Equiden, den plumperen Phenacodus primaevus dagegen fiir den Ahnen der Palaotherien ansehen." Auf Grund neuerer Studien glaubt aber Matthew1), dass Phena- codus puercenis Cope, welcher heute Euprotogonia puercensis Cope genanut wird, nicht ein direkter Vorfahre von Hyracotherium sei. Eine weitere Schwierigkeit fiir den genealogischen Nachweis der Pferdeahnen scheiut mir die Thatsache zu bereiten, dass die Arteu der modernen Pferdegattung gleichzeitig mit anderen Arten in den Sivalikschichten Ostindiens, d. h. Ablagerungeu des obersten Miocan, und im oberen Pliocan von Italien uud Algier gefunden wurden. Es kamen also die Individuen der als Stamrnvater betrach- teten Arten, sowie die Individuen der daraus eutsprosseuen Arten gleichzeitig mit einander vor. Die beistehende Tabelle aus Zittel's Handbueh gestattet eine bequeme Ubersicht der eiuschlagigen That- sachen. Jetzt Europa, Nordafrika Equus Nordamerika Equus von Europa eingefiihrt Pleistocan Diluvium Pliocan Equus Equus Hipparion Equus Pliohippus Protohippus Hipparion Merychippus Oberes Miocan Hipparion Hipparion, Miohippns (Anchitherium) Mittleres Miocan Anchitherium Miohippus Unteres Miocan Mesohippus Oberes Eocan Palaeotherium Epihippus Mittleres Eocan Palaeotherium Pachynolophus Epihippus, Helohippus Pachynolophus Unteres Eocan Pacbynolophus Hyracotherium Hyracotherium Eohippus J) Matthew, a revision of the Puerco Fauna. Bulletin of Amer. Mus. o nat. hist. vol. IX, 1897, pag. 309. Fleischmann, Descendenztheorie. 6 32 Funftes Kapitel. Die palaontologische Urkunde zeigt also nicht eine so klare Folgereihe der fossilen Reste, wie man sie fiir den Beweis der Stammosentwickelung eigentlich notwendig hat. Das gemischte Vorkommen verschiedener Pferdearten erinnert an den gegenwiirtigen Zustand, da auch heutzutage mehrere durch Bau und Wohnort wohl aus einander zu haltende Pferdearten neben dem Edelpferde leben. Das sind Equus hemionus Pallas, Dschiggetai \ Steppen von Equus onager Schreb., Kulau, Wildesel / Centralasien Equus taeniopus Heuglin, Steppenesel, Afrika Equus asinus L., Esel Equus zebra L., Zebra Equus quagga Gmel., Quagga in Siidafrika Equus Burchellii Gray, Tigerpferd. ' Wie heute dem Zoologen acht gleichzeitige Pferdearten bekaunt sind, lehren die palaoutologischen Funde, dass auch friiher mehrere Arten die Lander der Erde bewohnten. Die Arten selbst unterscheiden sich durch viele Merkmale der auBeren Erscheinung und des gauzen auatomischen Baues. Was die FllBe anlangt, so waren die Differenzen friiher groBer. Im Pliocaii uud Pleistocan lebten drei- und einfingerige Arten neben einander, heute nur ein- fiugerige Arten. Aber das gemeinsame Vorkominen eines syste- matischen Merkmales bei den letzteren ist mit recht vielen und auf- falligen Unterschieden des gauzen Habitus gepaart. Dies hat die Descendenztheoretiker auch abgeschreckt, eine bestimmte Meinung iiber die Verwandtschaffc und die phylogenetische Entstehuug der Zebras und Esel aus den fossil erhaltenen Arteu zu auBern. Nach der Besprechung so vieler Liicken der exakten Beobach- tung muss ich endlich eiuen weiteren fiir die klare Anschaulich- keit der Pferdegeschichte sehr bedenklicheu Mangel an den Prauger stelleu. Die scheinbare Bestimmtheit aller Stammbaum- entwiirfe verliert namlich an exaktem Werte, sobald man erfahrt, dass die so einleuchtend iiber und seitlich aneinander gereihten Namen des Pferdestammbaumes, z. B. Eo-, Oro-, Meso-, Mio- hippus etc. wissenschaftliche Gattungsnameu bedeuten, welche zur Bezeichnung einer groBeren oder geringeren Zahl von Einzelarten dienen. Das kann natiirlich der dem speziellen Arbeitsgebiete ferner stehende Laie nicht wissen und wenn er es erfahrt, zunJichst auch gar nicht ermessen, was es be- sagt ; das heisst nicht mehr uud uicht weniger, als dass die Worte : Eo-, Oro-, Meso-, Mio-hippus genau den gleichen Sinn haben, wie der Ausdruck: die Gattuag Katze , Felis, welcher den Horer auffordert, an samtliche Katzenarten zu denken, oder ihm Das ,,Paradepferd" der Descendenztheorie. 83 etwas, saintlicben Katzenarten Gem einsames mitteilt. Wenn ich z. B. von der Gattuug Bar, d. b. lateinisch YOU dem Genus Ursus oder auck kurzweg Ursus rede, so umfasst der Aus- druck die Gesamtheit folgender Arten : Eisbar, braimer Bar, syriscber Bar, Kragenbar, Grislybar, Bartbiir, malayiscber Bar, Lippenbar, Hoblenbar. In der gleicben AVeise dienen die palaontologiscben Namen : Eo-, Oro-, Meso-, Miobippus etc. nicbt der Bezeicbnung fiir eine ganz bestimmte Pferdeart, sonderu sie neunen je eine Gattung fossiler Tierarten, welcbe wegeu ibrer gemeiusamen Eigeu- scbaften in eiue weitere Gruppe zusammengezogen wurden. Der palaoutologiscbe Terminus Protobippus obne weiteren Beisatz be- zeicbnet folgeude Arteu: Protobippus perditus Leidy. Protobippus profectus Oope. Protobippus labrosus Cope. Protobippus placidus Leidy. Protobippus niedius Cope. Protobippus sejunctns Cope. Im Verkebr mit den Facbgenossen kiirzt man die umstandlicbe Aufziiblung samtlicber Arten ernes Gattungsbegriffes durcb die Au- gabe des Gattungsnamens zur allgemeinen Bequemlicbkeit ab, weil man weiss, dass der Gelebrte Bedeutung und Inbalt der Abbreviatur kennt. Der Laie kann jedocb zu scbwerem Irrtuni durcb die ibm nicbt so gelaufige Metbode gefiibrt werden. Desbalb will icb Ibnen die Arten mebrerer ini Stammbaum eine wicbtige Rolle spielender Gattungen libersicbtlicb zusammenscbreiben.1) Equus be- deutet auBer den oben genannten lebenden Arten nocb folgende fossile Arten : Equus sivaleusis Falc. et Cautl. Equus namadicus Falc. et Cautl. Equus Stenonis Coccbi. Equus caballus fossilis Cuv. Equus bemionus fossilis. Equus excelsus Leidy. Equus crenidens Cope. Equus major Dekay. Equus fraternus Leidy. Equus occidentalis Leidy. Equus curvidens Owen. j) Ich folge dabei meist den Angaben Zittel's und dem neuen Verzeich- nisse von Matthew. 6* 84 Fiinftes Kapitel. Equus argeutinus Burin. Equus andium Wagn. Equus recticleus Gerv. Amegh. Die Gattuug Merychippus bedeutet: Merychippus insignis Leidy. Merychippus inirabilis Leidy. Zur Gattung Mesohippus gehoren uach Matthew: Mesohippus (Auchitherium) bairdi, Leidy. Mesohippus iutermedius 0. et. W. Mesohippus copei 0. et. W. Mesohippus gracilis Marsh. Mesohippus celer Marsh. Mesohippus westoni Cope. Mesohippus praestans Cope. Mesohippus equiceps Cope. Mesohippus brachylophus Cope. Mesohippus longicristis Cope. Mesohippus condoui Leidy. Die Gattung Epihippus umfasst die Arten: Epihippus Uintensis Marsh. Epihippus gracilis Marsh. Die Gattung Orohippus umfasst die Arteu: Orohippus major Marsh. Orohippus silvaticus Leidy. Orohippus uiutauus Marsh. Orohippus agilis Marsh. Von der Gattung Hipparion sind ungefahr 20 Arten, von der Gattung Pliohippus 3 Arteu, von der Gattung Hippidium vier Arten bekannt. Schriebe ich also den Stammbaum des Pferdes so auf, dass die eigentliche Bedeutuug der wissenschaftlichen Gattuugsnanien nicht vernachlassigt ist, so niiisste ich an Stelle der wenigeu Worte des iibersichtlichen Haeckel'schen Eutwurfes (S. 68) die Zahl der unter ihnen subsumierten Arten einzeichnen. Sobald Sie sich die Operation ini Geiste ausgeflihrt deuken, sehen Sie eiu, dass ein wirklicher, den allerbescheideusteu Auforderuugeu der Geuealogie geniigender Stammbaum der Pferdegruppe nicht existiert. Denn der starnmesgeschichtliche Forscher soil uns bei der Ver- folgung des Pferdestamnies in friihere geologische Perioden bestimmte Tierarten als Stammelteru, nicht eine Unsumme von Tierarten ueunen und deni Eutscheide, welche derselbeu genealogisch am wichtigsten ist, uicht aus dern Wege geheu. Das ,,Paradepferd" der Descendenztheorie. 85 Dazu gesellen sich weitere Mangel. Ich kanii Ihnen uicht mit positiver Bestimmtheit sagen, ob die Zahl der oben angefiihrten Arten mehrerer palaontologischer Gattungsbegriffe sicher steht. Die Beschreibuug und die Nomenklatur fossiler Fuude ist zum Teil so unsicher und ungeniigeud, dass leicht moglich ein und dieselbe Art unterzwei oder mehr lateinischen Namen figuriert. Cope *) tadelt z. B. dass Marsh der Entwickelungsreihe der Pferde zwei Formen, Hyraco- theriuni und Hippidium zugefu'gt, aber beiden neueNameu gegeben habe, dem Hyracotherium den Namen Eohippus, dem Hippidium den Namen PlioMppus, fernerdass Marsh zwei neue Stufen als Orohippus und Miohippus aufgestellt habe, die nicht geuiigend charakterisiert werden konnten, um sie wieder zu erkennen. So geht es noch in vielen anderen Fallen. Das erheischt fur die Zukunft eine umstand- liche kritische Untersuchung imd eiue genaue Nachpriifuug des fossilen Materiales, damit die unsagbar verwirrte und widerspruchs- volle Nomenklatur sowie die systematische Einteiluug der versteinerten Reste ansgestorbeuer Pferdearten eudlich gekliirt werde. Da die Mehrzahl der natiirlichen Funde in amerikanischen Museeu liegt, ist es hier in Deutschland nicht moglich, zu eiuem abschlieBeudeu Urteile zu gelangeu, und das Studium der einschlagigen Abhand- lungen steigert nur die Schwierigkeit klarer Einsicht. Die Notlage des exakten Forschers wachst durch die beklagens- werte Ungenauigkeit mancher Palaoutologeu uud Geologen, welche in der Sucht, einige neue Arteu zu beschreibeu, manchmal ungeniigend bestimmte Bruchstiicke als Reste eiuer neuen Tier- art beschreiben, anstatt zu warten, bis ein gliicklicher Zufall reichlicheres Material in die Hand des Untersuchers spielt. Da in der fossilisierten Urkunde der Saugetiere die Meuge der gut erhaltenen Zahnreste diejenige aller auderen Skelettteile iiber- wiegt, bildet das vergleichende Studium derselben die wich- tigste Grundlage fur die Diagnostik, Systematik und Spekulatiou der Palaontologen. Wenu nun z. B. em Forscher irgend eineii noch unbekannteu hinteren Backzahn findet und ihn durch den lateinischen Doppelnamen bezeichnet2), der im zoologischenSysteme gewohnlich fiir vollstandige, wohlbekannte oder wenigstens jederzeit anatomisch zu erforschende Tiere gilt, wahrend ein auderer Palaon- tolog an einer weit entfernten Fundstelle einen gleichfalls noch un- bekannten vorderen Backzahn der gleichen ausgestorbeuen Art findet , und ihn mit einem audern lateiuischen Doppelnamen !) Cope, American Naturalist vol. 21 b, 1887, p. 1074. 2) Leidy z. B. begriindete Hypohippus auf die wohlerhaltene Krone eines Backzahns, Ancbippus auf einen Backzahn, Parahippus auf drei obere und einen unteren Backzahn. 86 Fiinftes Kapitel. belegt, so figurieren im Systeme zwei verscliiedene Narnen und werden vou Jedeni, der die Originalabhandlungen eiugehend zu priifeu keine Zeit oder Lust hat, als Beweis fiir das Vorkommen zweier getrennter Arteu betrachtet, bis eudlich der gliickliclie Fund eiuer vollstaudigen Zahnreihe und die kritische Revision der friihereu Beschreibungen die Widerspriiche lost. Ohne direkteu Augenscheiu ist es darurn uicht rnoglich, den "Wert der Fossilien nach der Beschreibung richtig einzuschatzeu. Jedenfalls besteben beute uoch so viele Widerspriiche, dass man die versteinerten Pferdereste als vollgiltige Zeugnisse der Stammesgescbicbte uicbt anrufen darf, bevor nicbt samtliche Funde vou tiichtigen Forscberu kritiscb vergiicben uud nebst guteu Figuren klar bescbrieben sind. Die Abstammuug des Pferdes ist also nicbt mit der eiuer exakten Beweisftihruug geziemendeu Prazision festgestellt uud es wird noch lange Arbeit erfordern, um die eingebeude Kenntnis der fossilen Arteu zu eiiaugen. Welch seltsamer Kontrast bestebt bier zwiscben den uiicbterueu Thatsachen und der frobeu Hoffuung der Descendenztheoretiker, dereu popularem Apostel Car us Sterne icb zum Scblusse uoch das "Wort geben will: ,,Wir miissen auf die Abstamniimg des Pferdes von rnehrzehigeu Ahuen etwas genauer eingeheu, weil dieses Beispiel das Lebrreichste fiir die neuere Auffassuug des Lebeus ist, was es geben kann. In Amerika, wo selbst das Pferd bei Ankuuft der Europaer vollkomuien ausgestorbeu und unbekaunt war, sind seine Verwaudten iu alien Epocben der Tertiarzeit so haufig gewesen, dass massenbafte IJber- reste dieser Tiere gefuudeu wurden, die eiue vollstaudige, fast liickenlose Eutwickeluugsreihe darstellen, so dass man diesen Erd- teil als die eigentlicbe Heimat des Pferdegeschlechtes betrachten muB." — Daun folgt eiue Schilderung der oben kritisierten Stanimes- geschichte vom fuchsgroBen Eohippus bis zum beutigen Pferde. — ,,Wenu wir eiueu Blick auf die Tafel vou 0. C. Marsh (Fig. 33) werfeu, so sehen wir rnit eineni Blicke, wie sich diese Umwandluug vollzogen bat. ,,Eine ebeuso deutliche und iu ibrer Be- wegung klar verstaudliche Eutwickeluugsfolge bieten die Zahue der vorweltlicben Pferdearteu. Ibre Lange uud ibr Scbmelzleistenbau hat sicb mit der Zeit dahin verbessert, dass sie immer vollkornmener die Aufgabe erfiillteu, einem so lebendigeu und der Krafteutfaltung bediirftigeu Organismus die Nahrung zu verschaffeu. Auch in auderen auf der Tafel uicht dargestellteu Eigeutiinilichkeiten lasst sich ein ebenso allniahlicher Fortscbritt koustatiereu. So bat Marsh iu bezug auf das Gebirn nachweiseu kouueu, dass bei den Pferdeu Carus Sterne, Werden und Vergehen, Berlin 1880, pag. 420, 422, 423. Das ,,Paradepferd" cler Descendenztheorie. 87 eine stetige Erweiterung der Gehirnhohluug seit cler Eocanzeit statt- gefunden hat, so class auch iu clieser Richtung Eohippus, Orohippus, Mesohippus und Pliohippus bis zurn Eqims eine regelrnaBige Reihe bilden, in cler das Gehiru in eineni bedeutencl starkereu Verhaltnisse als der Korper an GroBe zugenoramen hat. So habeu wir die Eutwickeluug des Pferdes aus ihm hochst uuahnlicheu, tapirahnlichen, fiinfzehigeu Urtiereu in eiuer fast liickeuloseu Reihe yerfolgen kounen; wie es eben nur bei einein Geschlechte moglich war imd erwartet werden konnte, dessen Arten wiihreud einer sehr laugen Epoche bestaudig in groBen Schwarmeu vorhaudeu wareu, imd vermoge ihrer Geschwiudigkeit ungeheure Landerstrecken bevolkeru konuteu. Aber eiu solches Beispiel geuiigt, urn die Herrschaft des Gesetzes darzuthuu und uus eiue Ahnung zu erweckeu, wie andere Tiergattuugen in entsprechender AVeise sich langsam von verwandten Formen abgezweigt uud schliesslich zu vollig isolierteu Typeu gewordeu sind." Sechstes Kapitel. Die Stammesgescliichte der Vogel. Der Urgreifvogel. Die Vertiefung iu die anatomiscken Uutersuckungeu liber die fossilen Pferde hat uns beziiglick aller wiclitigen Ereignisse der Stammesgesckickte dieser Gruppe die keute bestekende Unklarkeit und fiir eine Frage, welcke den Descendenztkeoretiker kauptsacklick auf die palaontologiscke Unterstiitzung anweist, den unzureickenden Erkeuntuiswert der versteinerten Bruckstiicke vor Augeu gefiikrt. Die gleicke Erfakrung ist auck in audereu Fallen gemackt worden, wo man ein nnerwartetes fossiles Fundstiick als die Losung aller Ratsel betracktete, um allmaklick zur besckeidenen Resignation zuriick- zukekren. Die Stammesgesckickte der Vogel bietet dafiir ganz unzweifelkafte Belege. Bei der Aknenprobe derselben sind Sauge- tiere imd Fiscke eo ipso ausgescklossen, so bleibeu als niedere Vorfakren nur die Lurcke und Reptilien. Da die letzteren rnekr Merkmale mit den Vogelu gemeiusam kabeu, muss bei ikuen der Ausckluss gesuckt werden, aber sogleick erkeben sick bedeutende Sckwierigkeiten. Die Vorfakreu der gefiederten uud leickt be- sckwingten Wirbeltiere mtissen unter alien Umstanden eine Korper- besckaifeukeit besitzen, welcke viele Auklange an die Organisation der keutigen Vogel zeigt. Wir sollen also bei den Eidecksen, Scklangen , Krokodileu , Sckildkroten uud den ausgestorbenen Reptilien, Diuosauriern , Pterosaurieru anatomiscke Aknlickkeiten mit diesen nackweiseu. Die einleucktende Forderuug ist jedock sckwer zu erfiillen, weil der Vogelkorper viele ikm ausscklieBlick eigentiimlicke Be- sonderkeiteu besitzt und sick dadurck von alien tibrigeu Wirbeltieren weit entfernt. Sein Skelett (Fig. 46) ist durck die Verkiimmerung des aufwarts gekriimmten Sckwauzabscknittes und die starre Verwacksuug der Becken- und Leudeuwirbel, sowie eines groBeu Teiles der Brustwirbel gekennzeicknet. Das breite Brust- bein trugt eiueu koken Kamm und ist knockern mit den Die Stammesgeschichte der Vogel. Der Urgreifvogel. 89 Rippeu verbunden. Der Sckadel besitzt schnabelartig verlaugerte Zwischen-, Ober- imd Unterkieferknochen. Die meisten Skelett- teile sind lufthohl, deun Ankange der Lungen, fiinf Paar Luft- Zweiter Finger Dritter Finger Freibeweglicher Etickenwir bel. Die vor- und ruckwarts liegenden \Virbel sind ver schmolzen Darnibein Sitzbeiii Schambeiu .. Kabenbeiu-Coracoid - Brustbeinkanim Beweglicher Mittelknocheu der 1. Zehe Fig. 46. Liuke Halfte des Skelettes voui Huhn. Nach Milne Marshall und Hurst. sacke, kangen teils iii die Leibeskokle, teils driugeu sie zwiscken die Muskeln unter die Haut imd iu die Knockeu oft bis zu den auCersten Zekenspitzen ein. Der Mangel der Zakne wird durck den muskelkraftigeUj mit einer derben Membran ansgekleideten Kau- 90 Scchstes Kapitel. magen ersetzt. Die Augen sind enorm groB wie bei keinem auderen glricb groBcn Wirbeltiere. Sie legen kalkscbalige Eier uud sorgen briitend fiir deren Eutwickelung. Das Flugvermogen wird ibnen durch eine ganz eigenartige Einricbtung gesichert. Ich konnte eine Masse von auderen Eigenscbaften anfiibren, welcbe erbarteu, wie scbarf die Vogel von den anderen Wirbeltieren gescbiedeu siud, wenu icb uicbt fiircbteu nilisste, ibre Geduld zu erscbopfeu. Wo lasseu sicb nun bei Reptilien Anlaufe zu solcber Speziali- sieruug, die vorbereitenden Eiuricbtungen zur Entwickelung des Flug- verinogens wabruebmeu? Man kounte an andere Flieger, an die Fledermause, an die fossil erbaltenen Flugeidecbsen, die Pterosaurier. denkeu. Allein die genauere Betracbtung der anatomiscbeu Tbat- sacben verbietet den Ausbau der Idee. Denu in beideu Fallen siud die Flugwerkzeuge nacb verscbiedenem Typus gebaut. Obwobl sie stets einen seitlicbeu, lappenartigen Auswucbs an der Yorderregion des Rurupfes bilden, werden sie von verscbiedeuen Skeletteilen ge- stlitzt uud von anders gelagerteu Muskeln bewegt. Bei den Flederruausen siud alle Teile des Armes stark ge- streckt. Die langen Oberarni- und Uuterarniknocben ziebeu am Vorderrand der Flugbaut, wabrend die kolossal laugeu Mittelknocbeu und Pbalaugeu- glieder in die Flugbaut ein- strableu. Bei deu Pierosaurieru (Fig. 47) sind nur die Knocbeu des fiiuften Fingers stabformig gestreckt uud dieuen der vom Hunipfe beriiberwacbseudeu Flugmembran als Haftflacbe, Avahreud die iibrigeu vier Finger kurz, bekrallt und frei beweglicb zuru Aufbaugen des rubenden Tieres dienten. Bei deu Vogeln (Fig. 46) dagegen sind die Finger, wie die gauze Haud scbwacb gebildet, nur der Oberarm, Elle uud Speicbe lauggestreckt und die zwiscben Rumpf und Arm ausgespanute Flugbaut wiuzig klein, indem die groBe Oberflacbe des Luftruders durcb die Scbwingen des Federkleides ge- scbaffeu wird. Durcb diese Merkmale ist die Eigeuttimlicbkeit des Vogelkorpers scbarf bestinimt, uud unsere kurze Betracbtung zeigt Fig. 47. Pterodacty lus spectabilis. Aus dem litho- graphischen Schiefer von Solenhofen. A Augen- hohle, 6 Bauohrippen, c Handwurzel, co Coracoid des Schultergurtels, h Oberarm, il Darmbein, me Mittelhand, N Nasenhoble, st Brustbein. Die Stammesgeschichte der Vogel. Der Urgreifvogel. 91 zur Geniige, dass die Vogelklasse nicht von anderen Flugtieren abzuleiten ist. Trotzdeni muss der Descendenztkeoretiker ahnliche, vielleicht nur etwas einfachere Flugeinrichtungen bei den Ahneu vermiiten. Da es niir hier versagt 1st, alle wichtigeu Eigenschaften der Yogelorganisatiou zu besprecheu, will ich rnich auf das Beispiel des Arm- und Beinskelettes beschranken. Sie sincl nach deni Dauraen Oberarm Handschwingen Armschwiiigen Eippeu Kreuzbein-Sacruin Rabenbein. -- Scbulterblatt Beweglicher Eiickenwirbel - Oberschenkel Darmbeiii Schambein Steuerfedern des Schwanzes Fig. 48. Ruinpf skele 1 1 von Yulpanser tadorna, Fucbsente. Riickenansicht. fiiiber gescMlderten Typus der Wirbeltiere angelegt und tragen dazu noch ganz besonderes, nirgends wiederkehrendes Geprage. Der Oberarmknocheu 1st sehr lang, bei guten Fliegern gilt das Gleiche auch fiir die beideu Unterarrnknochen. Die Elle ist immer starker als die Speiche. Der Hand fehlen zwei Finger nebst den zugehorigen Mittelkuochen. Es ist noch nicht ausgernacht, ob die drei iibrigen Finger dem ersten, zweiten, dritten oder dern zweiten, dritten, vierten Finger entsprechen. 0. Gegenbaur huldigt der erstgenannten Deutuug. wahrend R. Wiedersheim1) die zweite Moglichkeit vertritt. Hier lost sich die Alternative also nicht so befriedigeud, wie bei Pferdeu und Wiederkauern. Die drei Finger siud niit Federn bedeckt und erfiillen keine Fuuktion als Greifwerkzeuge. l) R. Wiedersheim, GrundriC der vergl. Anatomie der Wirbeltiere. 4. Aufl. Jeua 1898, p. 136. 92 Scchstea Kapitol. Besonclers merkwiirdig erscheint die Verwachsung der Skelett- teile iu Handwurzel imd Mittelhand : Wahreud der Embryoualzeit verschmelzen namlich die Knochen der zweiten Handwurzelreihe (Fig. 50, 51 punktiert). Die Mittelknochen des zweiten imd dritten Fingers (ich folge jetzt der Zahlung Gegenbaur's) venvachsen am vorderen und hinteren Raude, meist schlieBt sich ihnen der Mittelknochen des Daumens an. ludem nun die versckmolzenen Elemente der zweiten Wurzelreihe imd die verwachsenen Mittelknochen mit einander ver- schmelzen, entsteht an Stelle der halben Handwurzel und Mittelhand eine breite, von einer schmalen Spalte durchzogene Knochenplatte, an deren oberem Eucle sich zwei Kuochelchen der ersten Handwur- zelreihe (Ulnare und Radiale) als Briicke zum Unterarm eiuschieben. Von Phalaugen sind uur klimmer- liche Reste als Auhaugsel des bei guten Fliegeru oft die Lauge des Vorderarmes bedeutend ubertreffeu- Fig. 49. Fig. 50. Fig. 51. Fig. 49. Rec liter Arm der Taube, Auljenseite. Nach Vogt und Young, o Oberarm, >• Speiche, n Elle, 1, 2, 3 Finger. Fig. 50. Schematische Skizze des Gliedmafienskele ties der W irbeltiere: m Mittel- handknochen, o Oberarm, r Speiche, u Elle, zweite Handwurzelreihe punktiert. Fig. 51. Schematische Skizze der Kuochen der Vogelhand. »•_ Speiche, u Elle, 1, a, 3 Fingerglieder, die punktierte Zone deutet die mit den Mittelknochen verschmolzenen Stucke der zweiten Handwurzelreihe an. Die Grenzen der Mittelknochen sind durch Punktierung angedeutet. den Komplexes der Mittelkuocheu nachzuweisen : je eine Phalange des ersten imd dritten Fingers, zwei Phalangen des zweiten Fingers. Sie werden begierig sein, zu erfahren, wie sich diese Umbildung des Handskelettes vollzogen hat; allein ich vermag keinen Aufschluss zu geben. Niemand weiB, bei welchen Vorfahren die Umbildung der typischen Vorderextremitat zur spezifischen Yogelstilistik eingeleitet wurde. Andere Tiere, welche keine Vogel sind und einen einiger- massen ahulichen Bau des Armskelettes besitzen, sind nicht bekannt. Das FuBskelett der Vogel sieht ebenso sonderbar aus. An einem gut montierten Skelette (Fig. 46) werden Sie vergebens die Die Stammesgeschichte der Vogel. Der Urgreifvogel. 93 t normalen Bestandteile des FuBes suchen. Wenn Sie aucb leicht die Phalangen der vier oder drei Zehen erkennen, so vermissen Sie samtlicbe Knochen der beiden FuBwurzelreiben imd sehen zwi- schen dem kraftigen Schienbeine und den inneren Phalangen der Zeheu einen einzigen Knocbenstab, den sog. Laufknocben eingescbaltet. Fur die Klasse der Vogel gilt also anscbeinend das friiber an den Extremitaten der Sauger beobacbtete Gesetz nicbt, dass die Modi- fikation des Hand- und FuBskelettes zu abnlicbem Eudresultate iiibrt. Und docb rnacbt die genauere Analyse klar, dass am FuBe der Vogel die bomologen Verwacbsungen erfolgen. wie an der Hand, namlich Verscbmelzung der FuBwurzelreiben und der MittelfuBknocben. Die Zebenzabl ist dagegen weniger stark bescbrankt. Der fiinfte Finger feblt immer, nur ein Rudiment des zugeborigen flinften MittelfuBknocbens erscbeint. Von den iibrigen vier Fingern ist mancbmal der Daumen unter- driickt. Der Oberschenkelknocben ist ver- haltnismaBig kurz. Das Scbienbein in jedem Falle kriiftig, das Wadenbein zart und baufig ein ganz unbedeutendes Anbangsel. Wabrend des Eilebens (Fig. 52) verscbmelzen die Ele- mente sowobl der ersten wie der zweiten FuBwurzelreibe in zwei gesonderte Stiicke, die erste Reibe als oberes, die zweite Reibe als unteres Tarsusstiick. Die vier von vornberein stark gestreckten Mittelknocheu verwacbsen samt dern unbedeutenden Reste des fiinften JNlittelknocbens zu einem einzigen, lang gestreckten Mittelstab, wobei ibre unteren Gelenkkopfe fiir die anstebenden Zeben- pbalangen getrennt bleiben. ludem spater der Mittelstab nait dem unteren Tarsusstiick ver- scbmilzt, wird aus typiscb zebn FuBskelett- elementen der ,,L aufkn o cb en"' gebildet; (Fig. 52) das obere Tarsusstiick verlotet mit dem Scbienbein imtrennbar. Die FuBbe- wegungen erfolgen dann in einem zwiscben den beiden Tarsalstiicken liegenden Gelenke, dem sog. ,,Intertarsalgelenke", (Fig. 46) wahrend bei Siiugetieren die Beugung des FuBes im Gelenke zwiscben Scbienbein und der ersten FuBwurzelreibe gescbiebt, Obgleicb eine abnlicbe Verwacbsung der beiden Wurzelreiben Fig. 52. Links :Fussskelett eiaes Huhnchens vom9. Brut- tag e. t Uutersobenkel, o Oberes, u Unteres Tarsus- stuck, 1, 2, 3, 4 Zehen. Eeclits : L auf kno chen. (I) einer jungen Taube. t Unterschenkel, die IMittel- Kuochen sind mit einander und deiu unteren Tarsusstiick bereits verschuiolzen, aber ibre Greiizen noch sicbtbur. Nacb Gegeubaur. 94 Sechstes Kapitel. am FuBe der Eidechsen beobachtet wird, muss der Gedanke an eine stammesgeschichtliche Beziehung der Vogel zu den niedrig ge- stellten Kriechtiereu abgelehnt werden, weil die anderen Elemente der hinteren Extremitilt zu wenig Vogelahnlichkeit oftenbaren. Auch die Stellung der in so sonderbarer Kombination ver- loteten Mittelknochen des VogelfuBes weicht von der sonst ge- wohnten Norm weit ab, weil sie mehr oder weniger steil in die Hcihe gerichtet werden, dass der Laufknochen fast senkrecht gegen die inneren Zehenphalangen abgebogen steht und die Korper- last durch Vermittlimg des Laufes nur auf die Zehen gestiitzt wird (Fig. 46). Die jetzt lebenden Reptilien dagegen schmiegen die Mittel- und Wurzelregion des FuBes direkt dem Erdboden an als sog. Sohlenganger - plantigrade Tiere. Sie stellen jetzt natiirlich die Frage, ob sich nicht Beispiele bei anderen Tieren finclen, dass die Mittelknochen eiuigermaBeu" iiber Fig. 53. Stegosaurus ungulatus. Restauriert nach Marsh. den Boden erhoben sind und vielleicht Neigung zeigen, mit einander zu verloten? Solche Formen miissen ja als yerkniipfende Glieder in der Stammesreihe der Vogel einstmals gelebt haben. Die Paliion- tologie hat die gewiinschten Beispiele in Resten einer total aus- gestorbenen Reptiliengruppe der Lindwiirmer, Dinosauria, aus- gegraben, von denen rnanche sogar noch plantigrad waren. Viele Dinosaurierarten haben sich zu ungeheuren Riesen entwickelt, z. B. der Sohlenganger Stegosaurus im oberen Jura von Colorado, dessen Korperliinge 120 FuB betrug (Fig. 53) und Iguanodon von nahezu Die Stammesgeschickte der Vogel. Der Urgreifvogel. 95 10 Meter Liinge (Fig. 54). Siebzehn vollstanclige Skelette der letzteren Art sind in Benissart bei MODS in Belgien gefunden und im Museum zu Briissel aufgestellt worden. Sie rufen unser Interesse wach, weil wir daran bequem die Cha- raktere der sehr merk- wiirdigen Uutergruppe der Dinosaurier, der sog. Oruithopoden oder vogelfiifiigen Drachen studieren konnen. Fig. 54. Iguanodon benissartensis. Das Sitzbein (is) und das Scharnbein (pp) iu vogelahnlicher Weise schwanzwarts verlangert. I— V Finger, Zehen. Die vordere Ex- treinitiit bietet wenig hierher gehorige Eigen- schaften, sie ist rep- tilienahnlich ohue Ten- denz zum Vogeltypus. Die hinteren Glied- maBen aber erinnern eiuigermaBen an den VogelfuB. Die kriiftigen Mittelknochen des zwei- ten, dritten, vierten Fingers sind aufgerichtet und nur die Zehenglieder liegen dem Boden an. Es steht also der FuB etwa so, wie wenn wir auf den Zehen gehen und durch starke Muskelarbeit den Mit- telfuB aufwarts ziehen. Andere Arten der Or- uithopoden lebten auch als Zehengiinger und man hatte in den sieben- ziger Jahren bald eine Reihe von Dinosaurier- fiiBen gesammelt, welche Fig. 55. Fig. 56. Fig. 57. Fig. 55. FxiJj von Moro saur us grandis. Nach Marsh. Fig. 66. FufivonCamptonotus dispar. Nacb. Marsh. Fig. 57. FuB von Laosaurus altus. Nach Marsh. die stufenweise Abkehr vom Erdboden bis zu der bei Vogeln erreich- ten extremen Art klar zu legen schienen (Fig. 55 — 57). Der ausgezeichnete englische Anatom^ Th. Huxley glaubte sich darum berechtigt, die Dinosaurier als Vogel- ahnen anzusprechen, uud langere Zeit haben andere Forscher ihm beigestimmt, Ich selbst hielt die Ansicht fruher fiir ganz plausibel. 96 Sechstes Kapitel. Die Dinosauria stimmen noch in anderen Punkten ihres Korper- baues mit den Vogeln iiberein. Bei letzteren sind die Knochen nicht markhaltig wie bei den Saugern, sondern lufthohl. Sie brauchen nur den Oberschenkel einer Taube zu zerbrechen, um die Lufthohle zu beobachten und wenn Sie genauer zusehen, finden Sie auch das Loch, durch welches die groBe Lufthohle zuganglich ist. Bei den Dinosauriern gewahreu wir dasselbe: die Beckenknochen, die Extremitatenknochen, der Oberschenkel, der Oberarm, Unterarm, die Wirbelkorper selbst, sind lufthohl. Diese Eigenschaft steigerte die Wahrscheinlichkeit der Verwandtschaft der Dinosaurier mit den Vogeln. Dazu gesellen sich Eigentiimlichkeiten des Beckons, das bei alien Wirbeltieren aus 3 paarigen Teilen: dem Schana-, Sitz- und Darmbeine besteht. Das Becken der Dinosaurier ist ausgesucht vogelahnlich. Das Darmbein ~weit nach vorne verlangert, die Scham- imd Sitzbeine stabformig nach riickwarts ausgezogen. Bei den Vogeln fallen ahuliche Charaktere auf (Fig. 46, 48), nur ist ihr Darmbein breiter und mit einer groBeren Zahl (6 — 15) von Wirbeln verschmolzen. Schambein und Sitzbein stoBen nicht in der ventralen Mittellinie zusammen. Drei Merkmale, uamlich die HinterfiiBe, die Luftraume der Skelettknochen und die Form des Beckens bezeugen also eine gewisse Forrnahnlichkeit der Dinosaurier niit den Vogeln und galten in den siebziger Jahren als zwingender Beweis dafiir, dass direkte Blutsbande zwischen beiden Gruppen bestanden. Aber seit jener Zeit haben auch die Descendenztheoretiker eingesehen, dass sie ihre Lehre nicht auf einzelue Organsysteme stiitzen diirfen. Sind die Dinosaurier wirklich die Stanamvater der Vogel, so miissen sie in einer viel groBeren Zahl von auatomischen Eigenschaften tlbereiu- stimmuug mit ihnen zeigen. Die einfache Betrachtung der beiden Figuren 53, 54 fiihrt Ihnen ungesucht mannigfache Unterschiede vor. Der Kopf ist winzig kleiu und ermangelt des Schnabels; die Wirbelsaule zeigt wesent- liche Unterschiede von den Vogeln. Aus solchen und anderen Griinden hat die auatomische Forschung allmahlich die Verwandt- schaft der Dinosaurier mit den Vogelu abgelehnt. Wegen der beschrankten Zeit kaun ich Ihnen leider nicht die Motivierung der neuen Auffassung im Detail entrollen. Dass es aber so ist, beweist ein Ausschnitt aus dem schonen Buch1) des Professor Kokeu in Tubingen , welcher ein Anhanger der Abstammungslehre ist. Im vorhergehenden Abschnitte spricht Kokeu von der Ahn- 1) E. Koken, Die Vorwelt und ihre Entwicklungsgeschichte, Leipzig 1893, p. 393, Zeile 8. — p. 272, Seite 19. Die Stammesgeschichte dor Vogel. Der Urgreifvogel. 97 lichkeit der Dinosaurier mit den Vogelu, die Punkte verfol- gend, die ich eben mit anderen Worten behandelt babe und fabrt dann fort: ,,Aber alles das (niimlicb die vogeliibnlicben Cbaraktere der ornithopoden Dinosaurier) kann nicbt dariiber hinwegtauschen, dass in anderen Teilen des Skelettes, besonders auch im Ban des Scbadels, der inneren Schadelkapsel sowobl, wie der Deck- knocben sicb eine prinzipielle Verscbiedenheit vom Vogeltypus offenbart, welcbe man nur im ersten Verfolge einer begeistert aufgenommenen Idee iiberseben und ofFenbaren Anpassungs- erscbeinungen unterordnen konnte. Selbst die vogeliibnlicbsten Dinosaurier sind es nur in den einzeluen Teilen, wabrend iibrigens nur die allgemeinsten, bei alien Sauropsiden nacbweis- baren Homologien zum Ausdrucke kommen. Die Abnen der Vogel sind nocb nicbt entdeckt." — ,,So treiben die Entdeckungen der Neuzeit die Konvergenz- punkte aucb nabe verwandter Stamme in immer entlegenere Vergangenbeit zuriick. Was 1st aus den Stammbaumen ge- worden, die man in der ersten Zeit des Darwinismus als bewiesene Tbatsacben in die Welt sandte?" Wir konnen die Vogel nicbt bloB mit ausgestorbenen, sondern aucb mit jetzt lebeuden Reptilien vergleicben und finden dabei Oberarm . Luftsack der Brustrnuskeln Kippensack Bauchsack Fig. 58. Fig. 59. Fig. 58. Lungen und Luftsacke einer jungen Taube. SchemaUsch nach Heider. Fig. 59. Lungen des Chamaleons mit engen Luftsacken. Fleischmann, Descendenztheorie. ' 98 Scclistcs KiipilH. manche Aluilichkeit, z. B. zeigt der Magen des Krokodiles mannig- fache Anklange an den in 2 Abschnitte, eincn Driison- und Muskel- magen, zerfallenden Vogelmagen. Das Chamaeleon (Fig. 59) und andere Rpptilien besitzen an ihrer Lunge Luftsiicke, welche in die Leiboshohle hangen, wie bei den Vogeln (Fig. 58). Aber die ver- einzelte Ahnlichkeit eines Organes hat keinen anatomischen Forscher bestimnit, die Krokodile oc}er Chamaeleoiie als Stammeltern der Vogel zu betrachten, da die zu- gleich herrschenclen Un- terschiede zu augenfallig sind und man mit der VertiefungderDiskussion iminer mebr gezwungen wird, durch Priifung der gesamten Organisation die Fliigel der stanimes- gescbichtlichen Phantasie zu beschneiden In dem Meere von Zweifeln, weJche niein Berichtbeilhnen erweckt hat , mogen manchem die Mitteilungen der iiberzeugten Descendenz- 2. Finger 3. Finger Elle Zahne f. *. -tl ' ' i I- .•&&! Laufknochen -,i •*(/; tei Zehen Sohwanzwirbelsaule • Fig. 60. Archaeopteryx lithographica. theoretiker liber den fos- silen Urgreif, Archaeo- pteryx lithographica, als Hoffnungsauker er- scheinen. Ware es nicht so, wiirde man die Zu- versicht der Ausdrucksweise nicht verstehen, welche die Beschrei- bung von Carus Sterne1) atmet: ,,Zwischen den Reptilien und den Vogeln, deren nahe Blutsverwandtschaft denkende Zoologen langst erkannt hatten, 1st die vorhandene Liicke durch neuere Fuude in unverhoffter Weise ausgefiillt worden. Nachdem man kurz vorher in jurassischen Schichten die ersten Vogelfedern gefunden hatte, entdeckte der Arzt und Petrefaktensammler Haberlein 1861 im Solenhofer Schiefer die Archaeopteryx lithographica. Die !) Carus Sterne, Werden und Vergehen, Berlin 1880, p. 378. Die Stammesgescliichte der Vogel. Der Urgreifvogel. 99 Gegner der damals eben ans Licbt getretenen Darwin'schen Theorie empfanden diesen Fund als eine harte Niederlage; man sprach von eiuer Falscbung, einem Kunstprodukt, und als cliese Deutung durch die genaueste Untersuchung widerlegt wurde, suchte man die Bedeutuug des Fundes in jeder Weise berabzusetzen. Indessen trug er die Beweise seiner Echtheit und Wichtigkeit in nur zu deutlichen und fiir die Entwickelungs- lehre lautes Zeugnis ablegenden Kennzeichen an sich." Die Phantasie eines bildenden Kiinstlers hatte nicht leicht ein noch mehr bizarres Wesen erfinden konnen! Das im lithographischen Schiefer deutlich erhaltene Federkleid dient als Ausweis seiner Vogel- natur, aber der Besitz der langen, aus einer groBen Zahl von Wirbelu gereihten Knochenstiitze des Scbwanzes gemahnt direkt an Eidechsen, da die Scbwanzwirbel der heutigen Vogel ganz kurz sind und zum Teil (4—9 Wirbel) mit der verloteten Ma&se der Becken- wirbel (Sacrum) verscbmelzeu, zum Teil frei bleiben (6 Wirbel), teils wieder zusammenscbmelzen. Gegen die Eidecbseuiibnlicbkeit spricbt binwieder der Besatz des langen Scbwanzes mit zweizeilig gereibten Federn. In den Kieferknocben wurzeln spitze, reptilien- gleicbe Zabne, wabrend Hornscheideu die Scbnabelknocben der heutigen Vogel umbiillen und Zabnanlagen nicbt einmal in der friibesten Embryonalzeit entsteheu. Das Brustbein, das mit Aus- uabme der strauBartigen Lauf- vogel bei alien Vogelarten ein en kraftigen Mittelkamm Scblussel- bein JCamm Schulterblatt Kabenbein Kippen triigt (Fig. 61), ist bei Arcbaeo- pteryx als flacbe Platte der Brustwaud eingebettet. An der Hand ragen drei bekrallte Finger, gleicb dem Befuude bei Pterosauriern , iiber die Haut. Unsere Vogel aber baben die Reste der Finger unbeweglicb z\viscben den Handscbwingen verborgen. Kurzum alle Regeln der Syste- matik wurden uber den Haufen geworfen, als der Vogel der Jurazeit bekannt ward. Der damals gebegte Gedanke , ibu als Schaltform zwiscben die Reptilien und Vogel einzureiben, bat indessen die genaue anatomiscbe Priifung nicbt ertragen. Zunacbst ist die Vogelabnlicbkeit der Hand (Fig. 60) zu prufen. Sie zeigt zwar eine abnlicbe Reduktion der Fingerzabl, iudem drei Finger 7* Brustbeiuplatte Fig. 61. Brustbein und Schultergurtel von Larus marinus, Mantelmove. 100 Sochstes Kapitcl. deutlich sind, der vierte und fiinftc Finger fehlt; jedoch die drei vorhandenen Finger sind lang, tragen Krallen, \vie die der Reptilieu, ragen iiber die Fliigel vor und konnten mittels kriiftiger Phalangen zura Anklammern dienen. Die zugehorigen drei Mittelknochen sind wo hi getreunt und verraten keine Neigung, so wie bei alien jetzt lebenden Vogeln zu einer einfachen, von einer schmaleu Spalte durchbrochenen Platte zu verschmelzen. Trotz des gliickliclien Fundes zweier Exemplare von Archaeopteryx fehlen darum uoch immer Haudformen, welche die Geschichte der reduzierten Vogelhand erhellen. An den hinteren GliedmaBen der Vogel ist der Laufknocheu eine Bildung ganz besonderer Art, Sehnsiichtig wiinscht der Freund der Abstammungslelire, mochte doch Archaeopteryx eine Vorstufe seiner Entstehung enthullen. Leider wird auch diese Hoffnung zer- stort. Der versteinerte Abdruck weist einen typischen Lauf- knocben (Fig. 60) mit wahrer Verscbmelzung der MittelfuBstiicke auf. Er zeigt also nur, wie alt die typische Form des Vogel- fuBes ist und beleucbtet die Schwierigkeit des Problemes, anstatt es entsprecbend den Wiinschen derer, welcbe die Paliiontologie als wichtigste Bundesgenossin der stammesgeschicbtlicben Forscbung preisen , endgiiltig aufzuklaren. Die Spracbe der fossilen Urkunde enttauscht ferner unsere Neu- gier iiber die Entstehung des Federkleides, welcbe umsomebr eiue bestimmte Antwort heischt, als die Haut der Reptilien mit Hornscbuppen bedeckt ist und die Federn ein ausschlieBliches Besitztum der Vogel darstellen. Arcbaeopteryx war uuzweifelhaft in ein Federkleid eingehiillt, dessen vollkommene Ausbildung uns nicbts iiber die fruheren Phasen eines wabrscheinlicb iinvollkommeneu Dunengefieders der Greifahnen scblielien lasst. Der Gegensatz in der Struktur der Korperdecke zwischen Reptilien uud Vogeln ist so grofi, dass nicht einmal eine theoretiscbe Vorstellung zu Gebote stebt, wie man sich die erste Entstehung der Federn denken konnte, etwa wie Gegenbaur eine Vermutung beziiglicb der Umwandlung des Archipterygiums in die Hebelextremitat der vier- luliigeu Wirbeltiere ausgesprochen hat. Icb weiB wobl, dass jungst C. Maurer1) eine subjektive Vermutung in einer schonen Arbeit ver- offeutlicbte, glaube aber nicht, dass seine Meinung, die Haare und Federn batten sicb aus den Hautsinnesorganen niederer Wirbeltiere zu besonderen Scbutzzweckeu entwickelt, des allgemeinen Beifalles teilhaftig ge word en ist. J) F. Maurer, die Epidermis und ihre Abkommlinge. Leipzig 1895. Die Stammesgeschichte der Yogel. Der Urgreifvogel. 101 Ebensowenig kann jemand angeben, wie sich die VerschweiBung der sonst durch Nate scharf getrennten Schadelknochen bei den Vor- fahren der Archaeopteryx vollzog, noch wie die Verlangerung der Schnabelknochen, deren Federgelenk und die elegante Gleitvorrichtung der Kiefergaumenknochen an der Schadelbasis eutstanden sei, wann sich der bei Archaeopteryx noch fehlende Knochenkamm auf dem Brustbein erhob und bei welchen Arten die Zahne des Schadels riickgebildet wurden. Wenn nun die Archaeopteryx iiber die Ahnen der Vogel recht wenig Aufschluss giebt, so stiitzen ihre gut erhaltenen Skeletteile nicht einmal die Annahme, dass sie selbst zu der dem Luft- leben noch besser augepassten Organisation heutiger Vogel fort- gcschritten sei. Viele Merkmale verbieten direkt eine solche Ver- mutung: zunachst der breite Federsaum am langen Eidechsenschwanze, dessen Einzelfedern zweizeilig gereiht sind, wahrend sie bei den lebenden Arten in fiicherartiger Ordnung von den letzten verkiimmerten Schwanzwirbelu getrageu werden, dann der Mangel des Brustbein- kammes und die Form der Wirbel. Letztere stoBen bei alien heutigen Vogeln mit sattelformigt-n Gelenktlachen an einander, bei Archaeo- pteryx ist die vordere und hintere Wand des Wirbelkorpers konisch ausgehohlt ungefahr so, wie bei vielen fossilen Reptilien, den Lurchen und den Fischen, (sog. biconcave, amphicole Wirbel). Aus dieser kurzen tlbersicht, welche Sie nach den Abhand- lungcn von R. Owen und W. Dames leicht vervollstandigen konnen, geht unleugbar hervor. class die Archaeopteryx neben vielen wahren Vogel charakteren, z. B. dem Pederkleide, der FuBbildiing, andere innerhalb der jetzt lebenden Vogelklasse nicht vorkommende Eigen- schafteu besitzt, z. B. die lange Schwanzwirbelsaule, das flache Brust- bein, die biconkaven Wirbel, und infolgedessen nicht ein vermittelndes "Obergangsglied sein kann. Die Freunde der Abstammungslehre haben darumihre Bedeutungauf ein geringeres MaB zuriickgeschraubt; sie gilt ihnen jetzt als ein Seitenzweig der eigentlichen d. h. von keinem Menschen jemals gesehenen Stammeltem unserer Vogel. Die Auffassung ist nicht mehr neu. In einem groBartigen Werke iiber die Anatomie der Vogel fiihrte Max Fiirb ringer1) 1888 folgendes aus: ,,Die jurassischen Archaeopterygidae treten durch eine Summe von Merkmalen. nanientlich aber durch den langen eidechsenahnlichen Schwanz und die an die Verhaltuisse bei Reptilien erinnerude Hand mit ihren gesonderten Mittel- haudknochen und ihren drei gut ausgebildeten, bekrallten J) M. Fiirbringer, Untersucliungen zur Morphologie u. Systetnatik der Vogel, Amsterdam 1888, p. 1539. 102 Sechstes Kapitel. Fingern alien auderen bekannten Vogeln als tiefste uud zugleich weit von ihnoii entfernte Vogelfamilie gegeniiber. Damit soil indosseu keineswegs behauptet werden, class sie eineu ganz und gar abseits von den auderen Vogeln liegeiiden Entwicklungsgang eingeschlagen batten ; die bisher bekanuten Thatsacbeu machen cs viel wahrscheiulicher, dass hier em recht friihes uud primi- tives phylogeuetisches Stadium vorliegt, welches sich in der Nahe desjenigen der jurassischen Vorfabreu der noch lebenden Flugvogel befindet. Wie groB diese Nahe war, welcbe speziel- leren Relationen mit den Abuen clieser oder jener Ordnung der andereu Vogel bestaucleu, wird mit einiger Aussicht auf Erfolg erst claim zu reutilieren seiu, weuu durcb neue gliick- licbe Funde die Osteologie (d. b. das Knochengeriiste) der Arcbaeopteryx nocb genauer bekanut gewordeu. Zur Zeit bindert uamentlicb die niangelhafte Kenntuis des Schiidels, Brustbeiues und Coracoides jede griiudlichere Vergleicbuug." Der Mihichener Palaontologe K. Zittel begriiudete kurz darauf seine Ausicbt, daB Arcbaeopteryx eiu ecbter Vogel uud keiue Zwischen- form sei, mit folgendeu Worten J) : .,A. Wagner, der nur eiue robe, von Oppel aus dem Ge- dacbtnisse ausgefiibrte Skizze gesebeu batte, erklarte die Arcbaeopteryx fur ein mit Vogelfedern versebenes Reptil, Giebel Melt das Londoner Skelett anfaugiicb fiir eiu Artefakt, wabrend Owen darin einen ecbten Vogel erkanute. Aucb Huxley stellte Arcbaeopteryx zu den Yoge.lu und scblieBt sich der Ausicht Haeckel's an, welcher I860 fiir Arcbaeopteryx eine besondere Unterklasse der Vogel (Saururae) errichtet batte. Das jetzt in Berlin befindliche Skelett veraulasste C. Vogt zu einer Ab- handlung, worin er Archaeopteryx fiir eine Schaltform zwischeu Reptil und Vogel erklarte, bei dem jedoch die Reptilieumerk- male im Ban des Kopfes, Halses, Rumpfes, Brustgiirtels uud der Vorderextremitateu iiberwiegen. Ahnliche Ansichteu ver- treten Dollo, Wiedersheini uud Reicbeuow, wTabreud Seeley, Marsh, Dames, Fiirbringer u. a. in Archaeopteryx eiuen echten uud typischeu Vogel, allerdiugs mit absonder- lichen, zum Teil embryonaleu Merknialen erkeuueu." ,.Das eutscheidende Keunzeicheu besteht ohne Zweifel in der Befiederung, die in keiuer andereu Tierklasse vorkommt; dieselbe bedingt aber auch Warmbliitigkeit uud somit vogel- artige Bescbaffenheit des Herzens uud Blutumlaufes. Der Schadel ist trotz seiner Bezabuung, ebenso wie das Gehirn, K. A. Zittel, Palaeozoologie III. Bd. Miinchen 1887—1890, S. 823—824, Die Starnmesgoschichte der Vogel. Der Urgreifvogel. 103 nach dem Yogeltypus gebaut und auch die Vorderextremitat und der Brustgiirtel sind ungeachtet einer gewisseu Ahnlichkeit mit Eidechsen dock im Wesentlichen, wie aus den genauen Beschreibuugen von Owen, Seeley und Dames hervor- geht, vogelartig. Nicht minder erweist sich Archaeopteryx durch die Hinterbeine als echter Vogel. Nur die aus amphi- coleu Wirbelu zusamnieugesetzte Wirbelsaule, die Rippeu, das uur aus 5 — 6 Wirbeln bestehende Sacrum und der lange •Schwauz wiirdeu, weun isoliert gefundeu, eher ein Reptil als einen Vogel vermuten lassen. Immerhiu haben aber die Unter- suchungen von Owen, Parker und Marshall gezeigt, dass bei zahlreicheu juugen Vogeln eiue ebenso groBe, ja sogar noch groBere Zakl von Sckwanzwirbeln vorkommen als bei Archae- opteryx." ,,Seeley, Dames, Fiirbringer u. a. betrachten wohl mit Recht Archaeopteryx nicht als Schalttypus zwischeu Reptilien uud Vogeln, sonderu als eiueu echteu Vogel, dem allerdings noch eine Auzahl embryoualer Merkmale auhaften. Dames legt namentlich auf die Eutwickluug echter Schwuugiederu groBes Gewicbt, und halt Archaeopteryx geradezu fiir eiuen Vorlaufer der Kielvogel. Die nieisten ancleren Systematiker (Huxley, Flirbriuger, Menzbier) folgen Haeckel und stelleu die Saururae als selbstandige Unterklasse den iibrigen Vogeln gegeniiber.'' Kiirzlich hat W. Dames1) auf Grund neuer Untersuchung des Berliner Fundstiicks die Archaeopteryx ganz bestirnmt als wahren Vogel angesprochen : „ Auch die neu aufgedeckten oder doch vollstandiger bekannt gewordenen Skeletteile der Ai-chaeopteryx bilden nach meiuem Dafiirhalten ohne Ausnahme eiue weitere Stiitze der in meiner friiheren Abhaudlung vertretenen Auffassung, dass Archaeop- teryx keine Ubergaugs- oder Zwischeuform zwischen den Klassen der Reptilien uud Vogel mehr ist, sondern in der Eeihe der Vogel schon weit ab von der Stelle, wo beide Aste der Sauropsiden sich trennten, ihreu Platz fiuden muss." Haeckel2) kaun sich dem Gewichte der anatomischeu Griinde, welche gegen die Auftassung sprechen , daB Archaeopteryx das lang ersehnte Bindeglied sei, nicht verschliesseu. Nur driickt er das Verhiiltnis in der ihm eigeutiimlichen Stilisieruug aus, indem J) W. Dames, tTber Brastbein, Schulter- und Beckengiirtel der Archaeopteryx. Sitz.-Ber. Akad. d. Wiss. Berlin, math, naturw. Mitteil. 1897, p. 492. 2) E. Haeckd, System. Phylogenie, Berlin 1895, III. Bd., p. 409. 104 Sechstes Kapitel. or die in Wirklichkcit bestehende grosse Kluft zwischen der Archaeopteryx und den Reptilian durch hypothetische Geschopfe seiner Phantasie ausfiillt: ,,Jedeufalls ist der Ausbildung der Archaeopteryx eine lange Reihe von Vorstufen vorausgegangen, welche die stufen- weise Verwandlung der Reptilienahuen in die ersten fliegenden Vogel allmiihlich vermittelten. Wir bezeichnen diese hypothetische alteste Stammgruppe der Vogel, von der uns fossile Reste zur Zeit noch uicht bekannt sind, als Stammvogel, Tocornithes." Sie habeii nunmehr die Urteile kompetenter Forscher vernommen und erkeunen durch deren Dissonanzzuden popularen, intendenziosem Sinne gefarbten Referaten, (vergl. S. 98, Cams Sterne) dass die wissen- schaftlich vertiefende Arbeit der letzten Jahrzehnte das Problem nur noch verwickelter erscheinen lasst, als man in der Freude der ersten Entdeckung fur moglich hielt. Heute kann iiberhaupt niemand sagen, wie der einseitig rnodificierte Vogelkorper entstanden sei, und von einer Stammesgeschichte wagen selbst die am meisten fanati- schen Apostel der Entwickelungslehre kaurn mehr zu reden. Um dem Verdachte zu begegnen, als wollte ich Ihuen meine Privatan- sicht als wissenschaftliches Gemeingut vortragen, fiige ich einen Abschnitt aus Zittel's1) Palaozoologie ein: ,,Fiir eine Stammesgeschichte der Vogel liegt, wie aus dem Vorhergehenden ersichtlich, nur diirftiges Material vor. Immerhin weisen aber die fossilen Funde aus Jura und Kreide noch mit grb'Berer Bestimmtheit, als die lebenden Vogel, auf eine Stamrnesverwandtschaft von Reptilien und Vogeln bin. Nach den bahnbrechenden Untersuchungen iiber die Dino- saurier durch Huxley waren viele Autoren eine Zeit lang ge- neigt, in den Dinosauriern und speziell den Theropoden und Orthopoden die Vorlaufer der Vogel zu suchen. (Wieders- heim, Bauer, Homes, Menzbier). Andere (Seeley, Owen) glaubten sie eher von Pterosauriern ableiten zu diirfen, oder entschieden sich fiir eine diphyletische Abstammung aus beiden Orduungeu (d. h. teils von Pterosauriern, teils von Dinosauriern) (Wiedersheim, Cope, Mivart). Die tlbereinstimmung iin Bau des Skelettes zwischen Dinosauriern, Pterosauriern und Vogeln beruht jedoch vielfach nur auf Anpassungsanalogie und gewisse osteologische Ahnlichkeiten wie die des Schambeines der Vogel und des Postpubis der Orthopoden warden in ihrer morpholo- gischen Bedeutung betrachtlich uberschatzt, so dass man nach >) K. Zittel, Palaeozoologie, Munchen 1887—1890. III. Bd., p. 861. Die Stammesgeschichte der Vogel. Der Urgreifvogel. 105 dem gegenwartigen Stand unseres Wissens nur der von Marsh, Dames, Vetter, Parker, Fiirbringer, Pavlow und Mehnert befiirworteten Ansicht beipflichten kann, wonach die Abstammung der Vogel aus einer bestimmten Ordnung der Reptilien unzulassig erscheint." Somit bleiben als letzte Zuflucht fiir die nach meiner Meinung auf den Absterbeetat zu setzende Phylogenie die hypotketischen Tocornithes, welche Fiirbringer in amnutiger Weise mit Worten gemalt hat. Dann aber lesen sie nicht mehr eine exakte Darstellung von positiven Beobachtungen, sondern folgen einem erasten Natur- forscher, welcher sich auf dem Gebiete des .Romanes versucht und die von Jules Verne gewiesenen Bahnen einschlagt. Fiirbringer freilich ist so ehrlich, das vorher selbst zu betonen. Aus der stilistischen Fassung anderer Autoren klingt der gleiche Vorbehalt fiir den Laieu nicht so verstandlich heraus. Das anatomische Studium der recenten Vogelarten hat keine besseren Anhaltspunkte geliefert. Es sind jetzt 11000 Arten der- selbeu bekannt; obgleich sie noch nicht so genau durchforscht sind, wie man eigentlich wiinschen sollte, so liegen doch viele Arbeiten dariiber vor und Fiirbringer's monumentales Werk bedeutet eiuen markanten Fortschritt. Aber auch ihm gelang es nicht, die ver- wandtschaftlichen Beziehungen der jetzigen Gruppen anders als durch allgemeine Charakteristik zu erhellen. Die Ausrede, neue palaon- tologische Funde wiirden Aufklarung bringen, richtet sich hier von selbst. Lehreu 11000 jetzt lebende Arten nichts u'ber ihre Stammesgeschichte und wenig u'ber ihre Verwandtschaft, wie werden dann versteinerte Bruchstiicke besseren Einblick gewahren, da die fossilen Reste durch die geringe Erhaltung aller wichtigen Weich- teile immer von hochst problematischem Werte bleiben werden. Siebcntes Kapitel. Die Wurzeln des Saugetierstanimes. Das Studium der versteinerten tierischen Reste, der ,,Denk- miinzen der Schopfung", wie Haeckel poetisch sagt, berichtigt die landlaufige Vorstellung, welche den heute beobachteten Zustand der Tierwelt als unveranderlichen seit ungeheuren Zeitperioden ansieht. Bizarre Tiere, von der iiberschwenglichen Phantasie der Kiinstler kaum geahnt, und riesenhafte Ungettime von schrecklichem Aussehen verdrangen die ims vertraute Fauna, sobald wir in alteren geolo- gischen Gesteinsschichten fOrschen. Aber anstatt uns die Vor- fahrengeschichte der heutigen Arten zu erhellen, stellen sie bei genauerem Zusehen das Denken der Descendeuztheoretiker vor neue Probleme, welche vorderhand gar keine Hoffnung einer kiinftigen Lb'sung ervvecken. Die Kritik des Paradepferdes imd die zuletzt citierten Urteile iiber den Wert der Archaeopteryx baben Ihnen das genugsam bewiesen. Heute wollen wir einmal eiue andere Frage besprechen, fiir welche versteinerte Reste kaum in Betracht kommen. Da ich unsere Aufgabe zunachst moglichst einfach begrenzen will, halte ich mich noch innerhalb des geschlossenenStilkreises der Wirbeltiere, welche durch so viele Punkte ihrer Organisation iibereinstirnnien und ihre systematische Zusamrnengehorigkeit, nach der Ausdrucksweise der Abstammungsfanatiker, ihre ,,Blutsverwandtschaft" jederuiann offen- bareu. Ich wahle daher heute die Stammesgeschichte der Sauge- tiere oder Mammalia alsThema und suche Ihnen daran zu zeigen, wie die Descendenztheoretiker ein phylogenetisches Problem mit Hilfe der vergleichend anatomischen Untersuchung jetzt lebender Arten losen wollen. Bei der Ahneuprobe der Saugetiere miissen natiirlich die hoher organisierten Glieder, wie Mensch und Affe, Raubtiere, Huftiere und die im Meere lebenden Wale aufser Betracht bleiben und ein- fachere Forrnen als Ausgang dienen. Als solche sind die Beutel- tiere, Marsupialia, imd die Kloakentiere, Monotremata, bekannt. Die Wurzeln des Saugeticrstammos. 107 Eke die letzteren entdeckt und ehe die Beuteltiere anatomisch genau durchforscht waren, glaubten viele die Beutler als Stamm- eltern aller hoheren durch die Entwickelung inittels eines embryonalen Mutterkuchens ausgezeichueten Saugetiere betrachten zu diirfen. Noch vor zehn Jahren wurde der phylogenetische Ahnenwert der Beutler ganz ernsthaf t in diesem Sinne erortert. Unterdessen sind jedoch so viele trennende anatomische Einzelheiten bekannt geworden, dass wohl nur wenige die Beutler als direkte Vrorfahren bezeichnen wollen. Sie werden jetzt als ein seitlich stehender, eigenartig differenzierter Ast des Staminbaumes angesehen, und ich brauche keine Zeit aufzuwenden, Ihnen den Ban der Gruppe genau zu schildern. So bleiben nur die Kloakentiere zur Eruierung der Vor- fahrenreibe. In dieser Ordnung werden drei lebende Arten aus Slid- und Ostaustralien und Tasmanien vereinigt: das Schnabel- tier, Ornitborhyncbus paradoxus Blurnenb., mitbaarigem Felle, der stacbelige Ameisenigel, Echidna hystrix Cuv. mit Stachelkleid, der langbaarige Arneisenigel, Echidna setosa Cuv., dessen Haarkleid rnit sparlichen Stacbeln durcbsetzt ist. Icb will die Ordnung mit kurzen Worten charakterisieren : Kloaken- tiere sind Saugetiere, deren Weibcben Milcbdrlisen besitzen und mit deni Sekrete derselben ihre Jungen saugen, zugleicb aber besitzen sie eine Kloake und legen Eier. Wenn icb danii fiir den zoologisch ungescbulten Zuhorer beifiige, dass der Besitz eines durch den After zugangigen Rauines, der Kloake, in welchen die Ausfiihrwege der Harn- und Geschlechtsorgane, sowie die Harn- blase eiuniiinden, eine nie fehlende Eigentiimlichkeit der Vb'gel und Reptilien ist, dann werden Sie sofort geneigt sein. das Vorkommen dieses Merkmales als sicheres Anzeicben dafiir anzuseben, dass die drei Kloakentierarten Zwischenformen zwischen den Mamnialien und niederen Wirbeltieren sind. Die Descendenztbeoretiker haben in der That diese abseits stebenden Tiere als Urformen gedeutet. wie folgendes Citat aus Haeckel's1) Schopfungsgeschicbte bezeugt: ,,Die beiden seltsamen Tiere, welcbe man in der Ordnung der Scbnabel- tiere zusammenfasst, sind off enbar die letzten iiberlebenden Reste einer vormals formenreichen Tiergruppe, welche in der alteren Sekundar- zeit allein die Saugetierklasse vertrat, und aus der sich erst spater, wahrscbeinlich in der Trias oder Juraperiode die zweite Unterklasse, die Beuteltiere, entwickelte." ,,Jedenfalls miissen deni Auftreten der Beuteltiere zahlreicbe, mit entwickeltem Gebiss und mit einer Kloake versehene Schnabel- tiere vorausgegangen sein." ]) E. Haeckel, Naturl. Schopfungsgcscliichte. 8. Aufl. 1889, p. 650. 651. Siebentos Kapitel. Falls Sie dieser Ansicht beipflichteten, wiirden Sie den gleicheu Fehler begehen, welchen ich schon bei der Darstellung der Pferde- geschichte riigte, indem Sie ein einziges Merkmal zu hoch an- schlagen ; denn der phylogenetische Forscher darf nicht ein oder wenige Organsysteme betrachten, sondern muss die Priifung auf den ganzen Organismus ausdehnen. Nachdem er aber den Bau der Kloakentiere sowohl rnit den Siiugern, wie niit den Reptilien und Vogeln verglichen hat, wird er der Deutung Haeckel's schroff widersprechen. Jedenfalls erweckt der sonderbare Bau des Scbnabeltieres das lebhafte Interesse aller Beschauer. Nach ihrer Entdeckung, am Beginn des Jalirhunderts klang die Bescbreibung desselben so iiber- rascbend, dass die Meinung geaufsert wurde, das Tier existiere iiberbaupt nicht, ein Schwindler babe das Fell eines Maulwurfes und einen Entenschnabel zusanimengenaht, um die wissenschaftliche Welt zu dupieren. Als die Skeptiker iiber ibre Zweifel beruhigt waren, gait anderen der rundliche Kopf des Scbnabeltieres, dessen Scbnauze sich in einen mit fester Hornscbeide iiberzogenen, enten- ahnlichen Schnabel verlangert, sowie der Besitz der Kloake als Beweis der Zwischenstellung desselben zwischen Vogeln und Sauge- tieren. Auch diese Auffassung ist langst verlassen, weil oberflachliche anatomische Kenntnisse ausreichen, die Unmoglichkeit derselben einzusehen. Will man iiberhaupt der Entstehung der Saugetiere aus niedereu Formen nachspuren, so kann man die Abnen nur bei Reptilien suchen und in dieser Ricbtung bewegen sich alle neueren Arbeiten. Da aber weder anatomiscbe noch palaontologiscbe Zwischenformen gefunden wurden, so muss die anatomische Priifung iiber die Stichhaltigkeit der Verrnutung entscheiden. Eine groBe Zahl von Forschern um nur neuere zu nennen — Howes, Seeley, Parker, van Bemmelen, Sixta haben am Brustbeine, am Schultergurtel und am Schadel von Ornithorhynchus auffallende Auklilnge an Eidechsen oder Saurier geseben. Da aber bei Echidna die Sauriercharaktere weniger leicht wahrgenommen werden, will ich ausschliefslich das Scbnabeltier besprecben. Der Schadel desselben erinnert lebbaft an den Vogelschadel, weil er eine einheitliche Kuocbenkapsel darstellt und Knochennahte vermissen lasst. Wabrend namlich bei den meisten Wirbeltieren, z. B. den Saugern, Reptilien und Fischen, die einzelnen den Schadel aufbauenden Knochentafeln zeitlebens rnit zackigen Grenzrandern zusammenstoBen, werden sie bei den Vogeln in friiher Jugendzeit mit einander verschweifst. Das Schnabeltier folgt der letzteren Reg el. Die Schadelbohle bleibt klein, die niedrigen Kiefer sind lang, schnabelartig gestreckt. Die Wnrzeln des Saugeticrstammes. 109 Drehen wir den Schadel des Schnabeltieres um, so erinnert das Verhalten der Knochen der Unterseite an die Regel der Saugetiere. DieFliigel- und Gaurnenbeine, Pterygoidea und Palatina sind fest mit der Schadelbasis verwachsen - • nicht frei und beweglich, wie bei Vogeln und Keptilien. Ferner fallt uns auf, dass der Unter- kiefer direkt am Schadel einlenkt. Bei Reptilien und Vogeln wird dazwischen ein besonderer Knochen, das Quadratbein eingeschaltet, das, dem Schadel selbst beweglich angefiigt, das Unterkiefergelenk tragt. Bei den Saugern aber wird das gleiche Verhalten nicht beobachtet ; der Gelenkkopf des Unterkiefers passt direkt in eine Grube des Schlafenbeines, und so ist es auch beim Schnabeltiere. Ein weiterer Unterschied wird durch die besondere Art der Gelenkverbinduug zwischen dem Hinterhaupte und dem ersten Hals- wirbel geboten. Bei Vogeln und Keptilien sitzt iibereinstimmend der Schadel mit einem einzigen unter dem groBen Schadelloch liegenden Gelenkhocker dem ersten Halswirbel beweglich auf bei den Saugetieren vermittelu zwei rechts und links stehende Ge- lenkhocker die bewegliche Verbinduug zwischen Schadel und Wirbel- siiule; der Schnabeltierschiidel besitzt nun zwei groBe Gelenkhocker zur Seite des groBen Schadelloches. Sie sehen also, der Schadel des Schnabeltieres tragt zugleich maiiche den Reptilien und Vogeln und andere den Saugetieren zu- neigende Merkmale. Die bei Reptilien, Vogeln und Saugetieren verbreiteteu Rippen der Halswirbelsiiule sind an Oruithorhynchus etwas stiirker aus- gepragt, als bei den ubrigen Siiugern und erinnern uns an die bei den Reptilien herrscheude Regel. Das Brustbein der Reptilien (Fig. 62) ist eine flache Knorpel- oder Knochenplatte, das der Saugetiere (Fig. 63) aber besteht aus einer vorderen, groBereu Platte, dem sog. Griffe, Manubriuna. dann mehreren oft verwachsenden Stiicken, deren Gesamtheit die Klinge des Brustbeines bildet, endlich der hinteren Spitze des Brustbeines. Dem Brustbeingriff ruht das unpaare knocherne Epi- sternum auf sowohl bei den Reptilien als vielen Siiugetieren, wenn- gleich recht rudimentar bei letzteren. Das Brustbein von Ornitho- rhynchus (Fig. 64) schlieBt mehr an die Saugetiere an. Von den drei Knochen des Schultergiirtels: dem Schulterblatte. Schliisselbeine, Rabenbeiue, ist das Rabenbein der Reptilien und Vogel (Fig. 61) stark ausgebildet, den Saugern fehlt es bis auf kiimmer- liche Reste. Beim Schnabeltiere (Fig. 64) dagegen ist es als ein Paar schmaler, sauleuartiger Knochen entwickelt, welche auf dem Brust- beine ruhen und mit dem Schulterblatte verwachsen. Manche andere 110 Siebentes Kapitel. Ahnlichkeiten, die ich hier nicht ausfiihrlich erortern \vill, veran- lassten den neuesten Bearbeitcr Sixta1) zu cler Bemerkung: ,,Sclbst ein erfahrener Zoologe konnte den Schultergiirtel eines Ornithorhynchus aus dem Skelette herausgenommen fiir den Schulter- Schul- terblatt Gelenk- pfaune d. Ober- arms Eaben- bein Schliis- si'lbein - Proco- racoid Epister- num — Griff des Brust- beines Fig. 62. Fig. 64. Fig. 62. Brustbein und S chul t e r gttrtel von Lacerta agilis, Zauneidechse. Nach Gegenbaur. a Scbliisselbein, c Rabenbein, s Schulterblatt. Fig. 64. Schultergiirtel von Ornitborhynchus paradoxus. giirtel einer Eidechse, nicht fiir jeuen eines Saugetieres halten." Das Skelett der GliedmaBen ist, \venn icli von dem Hornsporn arn FuBe der Mannchen absehe, nach dem Typus der Mammalien ge- formt. Die einzelnen Extremitiitenknochen haben mehr Ahnlichkeit mit denen der Sauger als der Reptilien. Den Reptilienankliiugen etlicher Organe stehen tiefgreifende Unterschiede gegeniiber. Ornithorhynchus und Echidna sind behaart2) und tragen in der Haitt Schweili- und Talgdriisen eingebettct, wie die wahren Saugetiere. Daniit ist erne tiefe Kluft zwischen den Kloakentieren und den Reptilien gekeunzeichnet; denn der Schuppenhaut der Reptilien fehlt fast jegliches Driiseugebilde und Organe, die sich auch nur im entferntesten mit den Saugerhaaren vergleichen lieBen, sind nicht gefunden. Ja es fehlt sogar eine plausible hypothetische Vorstellung, welche Vorstufen die Haare iiberhaupt batten durchlaufen konnen, bis sie als schiitzendes Kleid iiber die Hautoberflache der unbekannten Ahnen der Saugetiere verbreitet wurden. Fig. 63. Brustbein desMen- scben. Oberes Stiick = Handgriff, die nacb- sten vier Stiicke bilden denKorper, anihmbangt d. kurze Scbwertfortsatz. J) V. Sixta, Zoolog. Anzeiger, 22. Bd. 1899, p. 335. 2) Die Stacheln von Echidna und anderen Siiugetieren z. B. Igel, Stachel- schwein sind nur groCe, dicke Haare. Die Wurzeln des Saneretierstammes. Ill Von dem Besitze der Haare ocler Federn hangt die Gleich- maBigkeit der Korpertemperatur ab. Bei den Reptilien wechselt die Hohe der Korperwarme, d. h. sie sinkt und steigt mit der Temperatur der Umgebung. Bei den Saugern halt sie einen be- stimmten gleichmaMigen Stand, unabhiingig von den klimatischen Schwankuugen der Luftwarme. Die Schnabeltiere erweisen sich hierin wieder als wahre Saugetiere, nur steht ihre Korperwarme auffallend niedriger (25 — 28° C.), als die der iibrigen Sauger (37° C.). Milchdriisen und Zitzen zuin Saugen der Jtingen fehlen den Reptilien. Die Kloakentiere ermangeln der Zitzen, aber in der Bauchhaut der Weibchen (Fig. 65.) kommen grofie Haufen von Milch- driisen vor, die aufeinem kreisformigen, siebartig durchbrochenen Milchfelde des Brutbeutels mtinden. Die Juugen saugen die dort zusammenrieselnde Milch ohne Schwierigkeit auf1), ob- gleich die besondere Anordnung der Driisenausfuhrgange auf der Spitze einer warzigen Hauterhebung , der Zitze, welche alle anderen saugeuden Wirbeltiere auszeichnet, hier unter- bleibt. Der muskulosen Bauchwand betteu sich zwei auf dem vorderen Rande des Beckens fuBende, schmale und schriig kopfwiirts divergierende Knochen, die sog. Beutelknochen ein, nur bei Kloaken- und Beuteltieren. Sie werden sowohl bei Reptilien als bei den wahren placentalen Saugern vermisst. Der auBere Gehorgang fehlt den Reptilien und das Trommel- fell liegt meist an der Seitenwand des Kopfes, zwar uicht immer sichtbar, wie bei den Eidechsen, aber doch sehr nahe der Ivorper- oberfliiche. Schuabeltier und Ameisenigel tragen das Trommelfell etwas tiefer geschoben. Ihr Labyriuthorgan erinnert wieder an die Reptilien, weil die Schnecke fast gerade ist, w ah rend sie bei den Saugern mehr oder weniger zahlreiche, spiralige Windungen be- schreibt. Die Gehorknochelchen zeigen wohl erne niedere Ent- wickelungsstufe, aber besitzen den dreigliederigen Stil der Sauger: Der Hammer ist sehr lang, der Amboss klein, der Steigbiigel saulen- formig, wiihrend die Reptilien nur ein Gehorknochelchen besitzen, die sog. Col um el la. *) Zoolog. Anzeiger, 1899, Bd. 22. S. 241. Fig. 65. Unterseite ties briitenden W e i b - Chens von Echidna hystrix init dem Brutbeutel. Nach Haacke. 112 Siebentes Kapitel. Besondcrs auf fallen d ist das Verhalten der Eileiter, der paarigen, recbts und links von der Wirbelsaule ziehenden Aus- fiihrwege fiir die Eizellen, welche bei Amphibien, Reptilieu, Vogeln und den Kloakentieren bis zur Miindung in den Endabscbnitt des Enddarmes getrennt bleiben, bei den Saugetieren aber die Neigung zu verschmelzen zeigen und in geringerem Grade (Beuteltiere) oder in hoherem Grade (placentale Saugetiere) zu einem unpaaren End- stiicke, der Scheide, Vagina, verwacbsen. Der gesonderte Verlauf und die vollkouimen getrennte Miindung der Eileiter in die Kloake ist als scbarf trennendes anatomiscbes Merkmal auzuseben, durcb welches die Kloakentiere weit ab von den Saugern riicken. Endlicb wird die Kloake, welche der systematiscben Gruppe den Namen gegeben bat, als ganz besonders wicbtiges Moment fiir die direkten stammesgeschicbtlicben Beziebungen zu den Reptilien angefubrt, weil die scbulgemaBe Systematik die Diagnose der drei Wirbeltierklassen : Ampbibien, Reptilien, Vogel gegeniiber den Saugern nacb der Anwesenbeit der Kloake entscbeidet. So gefasst ist der Wortlaut der Diagnose direkt falscb. Die Saugetiere besitzen eben- so gut \vie alle iiber den Fiscben stebenden Wirbeltierarten eine Kloake, sie treten den anderen nur dadurcb gegeniiber, dass die Kloake keine standige, sondern eine voriibergebende Ein- ricbtung bildet. B Fig. 66. Schernatische Skizzen des Schicksales der Kloake. A Embryonaler Zuatand, B Befund bei den Kloakentieren, C Befund bei den hoheren Saugetieren. 6 Harnblase, e End- darm, c Kloake, h Harnleiter, fc Urogenitalkanal, I Eileiter. In frtiber Embryonalzeit besitzt der Korper des Meuscben und samtlicher Saugetiere iiberbaupt eine deutlicbe Kloake, (Fig. 66, A) d. b. eiuen gemeinsamen an den After reicneuden Endabscbnitt des Enddarmes, in welcben die Ausfiibrgauge der Harn- und Ge- scblecbtsorgane, sowie die Harnblase einmiinden, so dass Kot, Harn und Gescblecbtsprodukte erst in die Kloake gelaugen und von bier durcb den After ausgestoBen werden. Eine spater, jedocb wiibrend der Embryonalzeit einwacbsende Falte spaltet den Kloaken- raurnin zwei dorsoventral iiber einander ziebende Raume (Fig. 66, B); der dorsale Abscbnitt erscbeint einfacb als Fortsetzung des End- darmes, der ventrale Teil, sog. Urogenitalkanal, entbalt die Miindung Die Wurzeln des Saugetierstammes. der Harnblase uud der Geschlechtsgange. Dabei wird auch der After (Fig. 66, C) selbst in zwei, jenen Raunien zugehorige Miin- dungen gespalten. Von den, aus der Teilung der ursprtiuglich einfachen Aftergrube entstaudenen, Mliudungen stellt die dorsale Offuung den Fakal- after zur Eutleerung der unbrauchbaren Speisereste aus dem Darme, dte ventrale Urogenitaloffnuug die Ausgangspforte fiir den Harn und die Geschlechtsprodukte dar. Der Urogenitalkanal sarnt seiner besouderen Miindung erfahrt bei den placentalen Saugetieren recht bedeutende Umbilduugen und zwar nacb verschiedener Richtung fiir die mannlichen uud fiir die weib- licbeu Individuen. Ich will indessen das Resultat dieser Vorgange nicht speziell beschreiben, da ich zu weit von dem eigentlichen Zwecke uuserer Betrachtung abgefiihrt wiirde. Halten Sie nur fest, dass die embryonale Kloake der Saugetiere in zwei Raume geschieden wird und dass der Urogenitalkanal stets unterhalb (ventral) des End- darmes liegt. Der Kloake derAmphibien, Reptilieu und Vogel bleiben ahnliche Differenzierungen frernd. Die uns am meisten interessierende Kloake der Reptilien erscheint als eine einfache, quer gedriickte, Fortsetzung des Enddarmes, welche durch eiuen einfachen After- spalt nach auBen miindet. 1st eine Harublase vorhanden - - sie bildet sick uanilich bei den Eidechsen. Schlangen uud Vogeln friihzeitig zuriick - so hangt dieselbe an der unteren ventralen Wand der Kloake, die Geschlechtsgange dagegen miiuclen an der dorsalen Wand, also gerade gegeniiber der Harnblasenoffnung ein. Meine ganz gedrangte Darstellung hat Sie den funda- mentalen Gegeusatz der Kloakenbildung bei Saugern und Reptilien erkenuen lassen. Bei den ersteren miinden Harnblase und die Geschlechtsgange dicht neben einauder in das ventrale Teil- stiick der Kloake, den sog. Urogenitalkanal, bei den Reptilien sind die Offiiungen auf die dorsale und ventrale Wand verteilt; der aus dem vorigen Jahrhundert stammende, schlechte Ausdruck: „ Kloake" ruft also ein Missverstandnis hervor, welches auf__ die phylogeuetische Spekulation seinen Schatten wirft und eine Ahu- lichkeit vortauscht, wo keine zu linden ist. Sie fragen nunmehr, welchem Typus der Kloakenbildung Schnabeltiere uud Ameisenigel zuueigen. Die Antwort lautet: unzweifelhaft den Saugetieren. Denu der Endabschnitt des End- darmes der Kloakentiere (Fig. 66, B) wird uuvollstaudig in zwei Raume, den Urogeuitalkanal und einen oberen Kotraum geschieden. Beicle miinden aber nicht mit getrennten Offiiungen an der Haut- sondern besitzen noch ein kurzes gemeinsames Endstiick, so dass Kot, Fleischmann, Desceiidenztheorie. 8 114 Siebentes Kapitel. Harn uud Geschlechtsprodukte durck ein und dasselbe Loch, den After, nach auBen gelangen. Die uuvollstaudige Scheiduug des embryonalen Kloakenabsckuittes kann eiuen wesentlicheu Kontrast zwischen Kloakentiereu und den iibrigen Saugetieren nicht bediugen, well auch bei Beuteltiereu uud gewissen Arteu der Nagetiere der Urogenitalkanal in eine seichte Kloakeuaftergrube miindet. Also 1st der Kloake der Schnabeltiere wirklick der Saugetiertypus zuzu- erkeunen, und ein wesentlicher Gegensatz gegen den Reptilientypus dariu zuseken, dass die Gescklecktsgauge ventral, nicht dorsal in den unvollstaudig abgespaltenen Urogenitalkanal einrniindeu, wakrend bei den meisten Reptilien die Gescklecktsgange uud Harnleiter an der dorsaleu Wand der iiberhaupt nicht geteilten Kloake miinden. Nun habe ich mir aber dock eine Ubertreibuug zu schuldeu koinmen lassen, iudem ich fiir die Kloakenbildung die typische Uber- einstirnmuug samtlicher Saugetiere, die Kloakeutiere eingescklosseu, und die Untersckiede gegeu die Reptilien zu sehr hervorhob; denn die Sckildkroten nehmeu unter den Reptilien wieder eiue Souder- stellung ein und eriunern direkt an die Saugetiere. Ihre Kloake (Fig. 66, B) ist ebenfalls in eiuen veutralen Urogenitalkanal uud einen dorsalen Kotraum uuvollstandig gespalten uud Harnblase wie Gescklecktsgange munden in den Urogenitalkanal.1) Austatt sich zu vereinfacheu, kompliziert sich der phylogeuetischen Forschuug dadurch das Problem, weil die Schildkroten durch ihre gesamte Organisation die Annahme widerlegen, sie konuten die Stammeltern der Schnabeltiere sein. Die anatomische Kritik hat uns nur gelehrt, dass die Bildung des Urogenitalkanales heute nicht inehr als ein den Saugetieren alleiu eigeuttimliches Merkrnal gelteu darf, da sie auch bei den Schildkroten vorkommt. Ganz besonders schwer fallt fiir die Reptilienahulichkeit der Kloakentiere die Thatsache ins Gewicht, dass sie groBe, mit ansehnlichem Nahruugsdotter ausgestattete, von einer pergamentenen Sckale umhiillte Eier ablegen, deren erste Entwickeluug durch partielle Furchung, wie bei Reptilien uud Vogeln erfolgt, wahrend die Eier samtlicher Saugetiere winzig kleiue Eizellen sind, nicht abgelegt werden und im Eileiter selbst ihre Eutwickelung bis zum geburtsreifen Jungen durchlaufen. Das Eierlegeu ist daher ein wahres Reptilienmerkmal, welches sick in keiner Weise absckwachen lasst. Damit kabe ich die wichtigsten Ziige der Organisation der untersten Saugerorduung vorgefiihrt, welche die stammesgeschickt- licke Spekulation zur Ableitung der Saugetiere von den Reptilien ') F. von Moller, Uber das Urogenitalsystem einiger Schildkroten. Zeitschr. fur wissensch. Zoologie, Bd. 65. Die Wurzeln des Saugetierstammes. 115 verwendet. Nack meiner Meiuung spreckeu dieselben we der fiir noch gegen die pkylogenetische Kolle der Kloakentiere. Wir haben eine Anzakl yonEigensckaften kennen gelernt, die die Kloaken- tiere mit deii Saugern teileu, und audere, "vvelche ihnen mit den Reptilien gemeinsam sind. Fiir die Frage, ob sie wirklich Uber- gaugsarteu zu den Reptilieu seieu, miissen wir die iibereinstimmenden und trennenden Merkmale abwagen, und da muss ich sageu, die Saugetiermerkrnale ersckeiueu mir so zahlreich, dass das Gewicht der Reptilieu- und Vogelaknlickkeit stark zuriicksinkt. Es wiirde ungemein viel Pkantasie erfordern, wenn man sick vorstelleu sollte, irgend ein Reptil, eine eideckseuaknlicke Art katte alle Organe seines Korpers so lange umgebildet, bis es eine dem keute lebenden Scknabeltier einigermaBeu vergleickbare Organisation erreickt kabe. Ick gesteke freirniitig, es ist mir total uumoglick, solck einen Ver- wandlungsvorgang okne die unterstiitzende Beobacktung der ver- mitteluden Stufen mir in Gedankeu vorzustelleu. Da taucken tausende von Fragen iiber das Detail der stammesgesckicktlicken Umbildung grober oder feinster anatomiscker Einricktuugeu auf und nirgends seke ick die Moglickkeit, durck eine Spezialuntersuckung die qualenden Zweifel zu beseitigen. Um die vorkergekendeu Betracktungeu fiir die pkylogenetiscke Spekulation kurz zusammenzufassen, ist nack dem Stile der Saugetiere bei den Kloakentieren gebildet: Das Relief der Sckadelbasis, die zwei Gelenkkocker am Hinterkauptsbein, das gegliederte Brustbein, das Skelett der GliedmaBen, die Bekaarung der Haut, die SckweiB-, Talg- und Milckdriisen, die Beutelknocken, die Kloake, die konstante, aber niedrige Bluttemperatur. Dagegen werden folgende Aknlickkeiten mit den niederen Wirbel- tieren, besonders den Reptilien, beobacktet: der vogelaknlicke Sckadel mit den diinuen, naktlos ver- wacksenen Knocken und der scknabelformigen Ver- langeruug der Kieferbeine, die deutlicke Ausbildung des Rabenbeines, die freien Halsrippen, der Mangel des Kammes am Sckulterblatt, der getrennte Verlauf der Eileiter, die pergamentsckaligen Eier, die nickt gewundeue Labyrintkscknecke. 8* 116 Siebcntes Kapitel. Bei cler Reflexion iiber die systematiscbeu Merkmale der Kloaken- tiere kounen wir entweder das Hauptgewicbt auf die Reptilien- abulicbkeit legeu oder die Stilgemeinscbaft mit den Saugern hervor- heben. Im ersteren Falle wird uns die Ubereinstimmung mit den Reptilien bedeutungsvoll erscbeinen, weil wir die Saugermerkmale geringer scbatzen. Dagegen lasst sicb aber einwenden, dass die Behaarung des Korpers, das Vorkommen der SchweiB-, Talg- und Milchdrlisen in der Haut, die konstante Bluttemperatur etc. so sehr cbarakteristiscb fiir die Saugetiere ist und in gar keiner anderen Gruppe der Wirbeltiere erscbeint, dass wir eiu mit denselben ausgeriistetes Tier nur zu den Saugern, aber nicbt zu den Reptilien, Yogeln oder Amphibien stellen diirfen. Wegen der groBen Zabl der Merkmale, welcbe das Scbnabel- tier mit den Saugetieren gemein bat, ist es uacb dern allgemeinen Urteilin die systematiscbe Gruppe der Saugetiere einzureiben. Freilicb besitzen die Kloakentiere so rnerkwtirdige Eigenscbaften, dass sicb niemand vorstellen kann, wie die Umbildung ibres Korpers ein boberes placentales Saugetier gescbaffen bat. Wenn nun einer diesen Gegeusatz besonders betonen will, so kann er die bisberige Klasse der Saugetiere auflosen und die Scbuabeltiere als eiue etwas abweicbende Unterklasse den iibrigeu Saugetieren zur Seite stellen. Dadurcb wiirde aber nicbts fiir unsere stammesgescbicbtlicbe Ein- sicbt gewounen. Es wird bocbstens der anatomiscbe Gegensatz zwiscben den beiden Gruppeu einen scbarferen formalen Ausdruck erbalten. Unser etwas tiefer eindringeudes Studium der sonderbaren Sauge- tiergruppe bat eben einen Ubelstand aller meuscblicben Systematik empfinden lassen, welcber dem Facbmann wobl bekannt ist, bin- gegen dem Laien weniger zum Bewusstsein kommt. Das ist die Unmoglicbkeit, scbarfe Grenzen zwiscben den kleineu oder groBen systematiscben Gruppen zu zieben. Sie lernen einmal wabrend der Jugendzeit die Eiuteilung des Tierreicbes oder eines anderen wissenschaftlicb erforscbten Gebietes in Kategorien verscbiedenen Umfangs und miisseu sicb, weil die Zeit zu ausgiebiger Griindlicbkeit nie ausreicbt, mit der Kenntnis- nabme einiger auffallender Trennungsmerkmale begniigen. Wenige beniitzen die durcb den Unterricbt, sei es auf der Scbule oder auf der Universitat, gescbaffeue Basis, urn selbstandig weiter zu studieren. Den meisten wird die oberflacblicbe Orientierung geniigen. Dann erscbeinen aber dem weuiger keuntnisreicben Verstande die friiber gelernten Gruppen, sowie deren Merkmale als sicbere, nicbt anzuzweifelnde GroBen, und wir alle begen die falscbe Vor- stellung, als seien die systematiscben Reicbe so scbarf gescbieclen, Die Wurzeln des Saugetierstammes. 117 wie etwa die Grundstiicke zweier Nachbarn vertragsmaBig abgegrenzt werden kounen. Die Praxis des Lebens und der Wissenschaft be- lehrt uns allmahlich vom Gegenteil. Wir sehen em, wie Sie jetzt an einem bestimmten zoologischen Beispiel dazu Gelegenheit batten, dass die Grenzeu des Systemes logiscber Ordnung der Thatsachen nicbt scharf sind, dass manche Formen sicb nicht in unser Schema einreiben lassen und wegeu der Miscbung ibrer Charaktere die Giiltigkeit des Systemes selbst erscbiittern. Im Gerichtssaale kampft der Jurist mit der scbweren Aufgabe, die groBe Mannigfaltigkeit menscblicber Beziebungen nacb den Paragrapben der Gesetze zu ordnen und im Studierzimmer bemiibt sicb der Gelebrte, die Um- grenzuug d. i. die Definition der wissenschaftlichen systematiscben Gruppen der Eeicbbaltigkeit uud dem Flusse des Naturgescbebens anzupassen. Einzelue Fiille werden leicbt einregistriert, andere binwieder spotteu aller Versucbe uud als Resultat miibsamer Arbeit bescbeiden wir uns endlicb mit der Erkenntnis, dass in Wirklicb- keit Falle vorkommen, welcbe sicb unserem Bestreben nacb syste- matiscber Ordnung nur daun unterwerfen werdeu, wenn wir uns entschlieBeu. den Gruppenbegriffeu selbst eine gewisse Debn- barkeit, einen gewisseu Grad von Unbestimmtbeit zu belassen, dass also • - auf das zoologiscbe System exemplifiziert isolierte Tierarteu auf Erden leben obne engeren Zusammenbang mit den iibrigen Gliedern der Saugetiergruppe. die neben vielen allgemeinen Abulicb- keiten eine ausreicbende Zabl eigenartiger Cbarakterziige zeigen. Die Freunde der phylogenetischen Spekulation lieben es, solcbe Arteu, welcbe die Merkniale zweier grosser systematiscber Gruppen gemiscbt besitzeu, kurzweg ,,Bindeglieder" zu nenneu. Gegeu die Bezeicbnung ist nicbts einzuweuden, solauge jeder sicb dariiber klar bleibt, das sie eiu tropiscber Ausdruck ist, welcber k e i n reelles, durcb Blutsbaude und stammesgescbicbtlicbe Evolution erzeugtes Band andeutet. Weuu aber eiuer durcb das Wort ,.Bindeglied" in der phautatischen Vorstellung bestarkt wird, muss gegen den Gebraucb desselben energiscb protestiert werden. Nacb der eben gegebeuen Darstellung kann die Existenz der Scbnabeltiere und Ameiseuigel niemals beweisen, dass die Sauge- tiere von reptilienabnlicbeu Abueu entsprossen sind; sie bietet uns nur die Gelegenheit, den schwankenden Umfang und die schwierige Umgrenzung der systematischeu, ja der menschlichen Begriffe liber- haupt einzuseben. Gegen meiii niichtemes Urteil lasse icb auch die verfiibreriscbe Erwaguug mancber Autoreu nicbt gelten, die Kloakentiere (sowie die Lungenfische und Riidertiere) miissten Zwischenfornien sein, sonst konnte man sie nur als Ausuahmen und Abweicbungeu des Siebentes Kapitel. allgemeinen Typus betrachten, ohne einen Grund fiir ihr Vorkommen angcben zu konnen ; denn ich frage, kann ich iiberkaupt einen stich- haltigen Grund dafiir auzeigen, dass es z. B. einen Lowen oder eine Schlauge giebt, dass et\va 11000 Vogelarten, etwa 3000 Siiugetier- arten vorkomrnen? Kaun ich einen stichhaltigen Grund finden, warum die Fiihigkeit des Fliegens in drei Klassen der Wirbel- tiere, bei den Fledermausen, bei den Vogelu, bei den Pterosauriern, uud auBerdem bei den Insekten beobachtet wird? Wer wagt es zu erklaren, weshalb uns so mannigfache Beispiele einer gewissen Ahnlichkeit der auBeren Erscheiuuug von systematisch weit ent- feruten Tierarten auffallt, wie z. B. zwischeu der Kanguruhratte, Hypsiprymuus murinus Illig. und der Springmaus, Dipus aegypticus Hernpr. und dern Springhaseu, Pedetes caffer Illig. oder dem Flugbeutler, Petaurus taguauoides Desm. und dem Flughoruchen, Pteromys vulgaris Wagn. oder zwischeu dem Igel, Erinaceus europaeus L. uud dern Greifstachler, Cercolabes prehensilis Brdt. oder zwischen vielen Schlangeu und der Bliudschleiche, Anguis fragilis L. uud dern Scheltopusik, Pseudopus apus Pall. Es ist uberfliissig, die Reihe der Beispiele zu verlangern. Alle zeigen sie, dass in verschiedenen Gruppen des Tierreichs ahnliche Merkmale beobachtet werden, deren Vorkommen wir als interessante Thatsachen besprecheu konnen, ohne iiber den Grund desselben etwas auszusagen. Mit der Frage nach der stammesgeschichtlichen Bedeutung des Schnabeltieres befinden wir uns in der gleichen Lage. Infolge- dessen hat jeder, der dieselben als Zeugen einer phyletischen Um- bildung von den Reptilien zu den Saugetieren anspricht, eine Menge von unglaubwiirdigen Vermutungen als Stiitzen seiner Meinung notwendig. Hiefiir bietet Haeckel's Phylogenie1) wieder drastische Belege: ,,Die Ordnimg der Promammalien oder Ursaugetiere haben wir fiir die alteste Gruppe dieser Klasse aufgestellt. Dazu rechnen wir zunachst die gemeinsame hypothetische Stam in- form der Saugetierklasse, die wir als Architherium bezeichnen; :) E. Haeckel, Systematiscbe Phylogenie, Berlin 1895. III. Bd., p. 473, 423, 473, 478. Die Wurzeln des Saugetierstammes. H9 weiterkin aber auch eine Auzahl von niedersten Monotremen (Gabeltieren), welcke den Cbergang von diesem Architherium zu den iibrigen Ordnungen der Monotremen einerseits, zu den Prodidelphien, den Stammformen der Beuteltiere andererseits vermittelten. Durch eine lange Reihe von unbekannten Uber- gangsformen (Sauromammalien oder Hypotherien) wird diese Stamnigruppe wakrend der Triasperiode mit den Ur- reptilienahneu der Saugetiere verkniipft gewesen sein. Die letzteren werclen p. 422, wie folgt, beschrieben: „ Diese wicktige Cbergangsgruppe (nilmlich die Hypotherien) wird schon gegen Ende der Palaeolith-Aera (in der Pernizeit) und im Begiune der Mesplith-Aera (in der Triasperiode) durch viele konnektente (verkniipfende) Formen vertreten gewesen sein; welcke von den sparlichen, uns bekannten fossilen Resten dieser Ubergaugszeit etwa zu derselben geboren, lasst sich wegen Unkenutnis ihres Weickkorpers uud ihrer Entwickelungs- geschichte nicht ermitteln." — „ "\Venn wir an folgender Ahnenreihe fiir die Saugetiere festhalten: 1. Progonamphibien (Stegocephalen) 2. Proreptilien (Tocosaurier) 3. Sauromammalien (Hypotherien) 4. Promammalieu (Architherieu), so miissen wir doch gesteheu, dass wir die Kontinuitat dieser Stammfolge nur in den allgemeinen Hauptpunkten begriinden kounen, dass uns aber zu einer speziellenFixierung einzelner Stufeu die palaeontologische Be- griindung nock fehlt." ,,Wir nehmeu an, dass die iiltesten Formen der triassi- schen Ursauger kleine, terrestriscke (auf dem Lande lebende) Tiere von GroBe uud Habitus einer Eideckse oder Salamanders waren." Die keute lebendeu Kloakentiere sind uickt die direkten Re- prasentanten der Bbergangsformen, denn Haeckel sagt ausdriicklich : ,,Die Schnabeltiere bekunden durch ihren gesamten Korper- bau, dass sie eine alte Spezialistengruppe darstellen, welche sich friihzeitig vom Stamme der alteren Monotremen abgezweigt und durck Aupassung an eigentlimlicke Lebeusweise vom Unter- gange gerettet kat." Fragen Sie aber uack der Besckaftenkeit der Ursaugetiere, bezw. uack den fossileu Resten, welche diese hinterlassen haben, so lautet die Ant wort ganz ungeniigend. Vorderhand sind die De- scendenztheoretiker nur im stande. Ihnen Zahue von merkwiirdigern Batie, sog. Multituberculatenziihne, deren Krone sehr viele dicht- gedraugte, spitze Hocker besitzt, aus den Jura- und Kreideschichten vorzulegen und den Mangel auderer Skeletteile durch die kiihne 120 Siebentes Kapitel. Behauptung zu crsetzen, dass die Besitzer dieser Ziihne gerade noit alien denjenigen Eigenschaften begabt gewesen waren, welche die phylogenetische Phantasie fiir die Wurzelglieder des Saugetier- stammes traumt. Deshalb wendet sich Zittel1) gegen diese leere Annahme: ,,Huxley betrachtet die lebenden Monotremata als stark spezialisierte Abkommlinge einer erloscbenen Unterklasee primitiver Saugetiere, fiir welche die Bezeichnung Prototheria vorgeschlagen wurde. Cope und Lydekker glauben in den mesozoischen und tertiiiren Multituberculata (Allotheria) fossile Vertreter dieser hypothetischen Prototheria finden zu konnen, doch ist das vorhandene palaontologische Material noch keines- wegs geniigend fiir eine bestimmte Beantwortung dieser Frage." tfbrigens teilen nicht alle Phylogenetiker die Meinung, dass dieKloakentiere die Reste einer von den Reptilien zu den Siiugern ver- mittelnden t)bergangsgruppe seien. Maiiche2) werden durch die oben kurz zusammengefassten Mischcharaktere bestimmt, die sonderbaren Gesellen als ganz abseits sowohl von den Beuteltieren als den iibrigen Siiugetieren zu stellen und sie als eine isolierte Seitenlinie aufzufassen, welche mit den Ahnen der anderen Sauger iiberhaupt keine Blutsverwandtschaft besitzen, und friihzeitig d. h. schon zu Ende der palaozoischen Zeit von unbekannten Promammalien d. h. Vorsaugetieren einen eigenen Formentwickelungsgang eingeschlagen haben. Diese Ansicht ist nach meinem Urteil nichts weiter als eine tFbersetzung der oben auf Seite 117 gemachten Bemcrkungen in die Stilistik phylogenetischer Aufsiitze. J) Zittel PaJaozoologie IV. Bd. p. 70. 2) Vergl. H. F. Osborn, the origin of Mammals. Americ. Jour. of. sc. vol. VII. 1899, p. 92. Aclites Kapitel. Die Entstehung der lungenatmenden Wirbeltiere. Wie der Vogel fur den Flug pradisponiert erscheint, sind die Fische durch die Korpergestalt und die Flossenform in die Wasserflut gebannt. Obgleich einige Arten z. B. die Labyrinthfische das nasse Element verlassen, versagt ihnen doch die gesamte Or- ganisation, die Erdfeste zum dauerndeu Wohnorte zu wahlen. Wenn nun die Descendenzlehre die Annahme erheiscbt und wegen des Vorkommens von sogenannten Kiemenspalten bei den Embryonen aller Wirbeltiere, auch des Menschen, sogar als sicher hinstellt, dass Fische die Stammvater samtlicher Amphibien, Reptilieu, Vogel und Saugetiere gewesen seien, so mu'ssen wir sebr tiefgreifende Ver- anderungen der Gestalt und physiologischen Bedeutung aller Korper- organe bei den hypothetiscben, zuniicbst nur durcb das theoretische Denken gescbaffenen und gleicb dem Antaus durcb die Beriibrung mit der Mutter Erde zu neuer Entwickelungskraft gekommenen Ur- abnen der vierfu'Bigen Wirbeltiere erwarten, durcb welcbe den spat ge- borenenEnkeln die Unabbangigkeit, zum Teile sogar die direkte Feind- scbaft gegen das Wasser im iangsamen Prozesse der Naturziicbtung erworben wurde. Leider bat niemand dem Vorgange, welcber in die palaozoiscbe Zeit zu datieren ware, beigewobnt und niemand kann fur die Wirbeltiere die Metamorphose der wasserbewobnenden Vorstufen in luftatmende Tiere mit der fiir die Insekten, deren Jugendstadien im Wasser leben, gewohnten Sicberbeit scbildern. Desbalb wandte sich die Spekulation bilfesucbend dem Studium einer ganz sonder- baren Fiscbgruppe, den Lungenfiscben oder Dipnoern zu. Nacbdem zu den wenigen in der Mitte des Jabrbunderts bekannten lebenden Vertretern einer ebemals zablreicben Sippe , namlicb dem afrikaniscben Scbl ammfische, Protopterus annectens Owen, und dem amerikaniscbeu Caramuru oder Schuppenmolcbfiscb, Lepidosiren paradoxa Fitz. (1837 von Natterer bescbrieben) nocb der Barramunda, Ceratodus Forsteri Krefft, in den Fliissen von Queensland 1870 entdeckt war, glaubte die Descendeuztheorie diese Fiscbe als Bindeglieder zwiscben den lungenatmenden 122 Achtcs Kapitcl. Amphibicn (d. h. Frosche und Molche) und den kiemen- atmenden Fischen betrachtcn zn diirfen. Die sonderbaren Einrichtungen ihrer Organisation veranlassten dieses Urteil. Das Herz der drei Arten erinnert durch den Besitz von zwei Vorhofen (die iibrigen Fische besitzen nur einen Herzvorhof) an die Verhaltnisse der hb'heren Wirbeltiere; die sonst blind geschlos- senen Nasengruben sind hier in die Mundhohle durchgebrochen und ihre Schwimmblase, mit atmospharischer Luft regelmaBig gefiillt und entleert, client als Luftatemorgan , wahrend die Kiemen unschein- bar sind. Im Baue der Atemorgane bestebt ja ein tiefgreifender Gegen- satz zwiscben den hoheren Wirbeltieren (Amphibien, Reptilien, Vogeln, Saugetieren) und den Fiscben. Bei den ersteren wachsen die Lungen als paarige, zunachst eiufacb sackformige Aus- d' e Fiof. 67. Die innereu Orgaiie von Squall us cephalus, Dobel. Kach Vogt. a Kiemen, ft Schultergurtel, c Gauinenbogen, d, i?,1 d" Urniere, c, e1 Schwimmblase, f Wirbel- saule, g Eierstock, h Herz, /, »', i- Daruischiingen, k Magen, von der Leber bedeckt, « obere, o untere Bogen der Schwanzwirbelsaule. stiilpungeu aus der ventralen Wand des Vorderarmes und ent- falten sicb zu groBen, oft scbwammigen, reicb mit BlutgefiiBen durcb- sponnenen Organeu, deren Luftventilatiou iiberall durch das am Boden des Vorderdarmes befestigte Knorpelgeriiste des Keblkopfes gesicbert wird. Bei den Fiscbeu (Fig. 67) dagegen vollziebt sicb die Atrnung mit Hilfe der Kiemen vincl der den Lungen einigermaBeu vergleicbbare An- bang des Darmes, die Schwimmblase, ist doch recht verschieden von der Lunge. Denn sie eutsteht als eine uupaare Ausstiilpuug an der dorsal en Wand des Vorderdarmes und liegt als weite mit Gas er- fiillte Blase unterhalb der Wirbelsaule. Trotzdeni diese bei vieleii Fischarten mittels eiues engen Ganges, des sogenannten Schwirnni- Die Entstehung der lungenatmenden Wirbeltiere. 123 blasenganges, mit dem Darme verbunden bleibt, ist es unmoglich, dass die vom Fische etwa geschluckte Luft in die Blasenhohle ge- langt. Die Schwimmblase kann also nicht mit Luft gefullt werden, ihr Gasinhalt wird vielmehr von den BlutgefaBen der Wand selbst abgeschieden. Deshalb ist sie auch kein Atemorgan, sondern hydro- statischen Zwecken dieustbar, indem ihre Volumanderung denFischen gestattet, hb'here oder tiefere Wasserschichten aufzusuchen. Die Lungenfische folgen einer anderen Regel, da ihre Schwimm- blase mit Luft regelmaBig gefullt wird, und das reich ent- faltete GefiiBnetz der Schwimmblasenwand den Sauerstoff derselben absorbiert und Kohlensaure dagegen abgiebt. Infolgedessen spielt hier die Schwimmblase die Rolle eines Atemorganes oder wie man sich auch falschlicher Weise ausdriickt, sie ,,stellt eine Lunge vor." Im einzelnen herrschen bei den drei Lungenfischarten recht abweichende Befunde. Die Schwimmblase ist unpaar bei Ceratodus, sie wird als paariger Sack angetroffen bei Protopterus und Lepidosiren. Ihr Ausfiihrgang ent- springt von der dorsalen Wand des Vorderdarmes bei Ceratodus, er miindet als kurzer und weiter Kanal an der Ventral wand des Vorder- darmes bei Protopterus. Imrner erscheinen die Kiemen der Lungenfische wenig kraftig, der Vergleich derselben mit den machtigen Kiemenplatten bei Hai- und Knochenfischen legt den Gedanken ihrer miuderwertigen Be- deutung fur das Atemgeschaft der Tiere nahe. So erscheinen die mit doppelten Atemorganen von verschiedenem anatomischen Typus versehenen Lungenfische als merkwiirdige, in die heutige Fauna nicht mehr hereinpassende Tiere und wurden von der descendenz- theoretischen Schule als willkommene Zwischenformen, als Binde- glieder zwischen den kiemen-atrnenden Fischen und den Luugenatmern begriiBt, umsomehr, als ja auch die Larven der lungenatmenden Am- phibien eine Zeit durchleben, da sie sowohl auBere Kiemen als wahre Lungen besitzen, bis die Kiemen endlich schrumpfen, und als Atemwerkzeuge nur die Lungen erhalten bleiben. E. Haeckel1) halt mit dogmatischer Starrheit an dem Gedanken noch heute fost: „ Sowohl in rnorphologischer und systematischer, als in phylogenetischer und physiologischer Beziehung bilden die Lurch- fische als ,,Doppelatmer" ein sehr interessantes und wichtiges Zwischenglied zwischen der niederen Stufe der wasseratmenden Fische und der hoheren Stufe der luftatmenden Lurche. Sie haben von den alteren Fischen (Selachiern) den groBten Teil der Organisation geerbt, unterscheiden sich aber von ihnen scharf ») E. Haeckel, Systematische Phylogenie III. Berlin 1885, p. 258, 267, 269. 124 A elites Kapitel. durch die Lungenatmung und die damit verkntipfte Teilung der Herzvorkammer. In diesem bedeutungsvollen Fortschritte der Organisation stimmen die Lurchfische mit ihren Uescendenten (Abkommlingen), den terrestrischen Amphibien iiberein; sie be- sitzen aber noch nicht die fiinfzehigen GangfiiBe der letzteren, sondern haben die schwimmende Lebensweise und die Fischflossen beibehalten. Die altere Auffassung der Lurchfische, nach welcher sie zu den Amphibien gehb'ren, ist ebenso ein- seitig und unhaltbar als die neuere, nach der sie unter die Fische versetzt werden. In Wirklichkeit bilden sie eine Intermediarklasse zwischen beiden." ,,Die ganze Klasse der Amphibien ist monophyletisch, da alle Angehorigen der- selben sich von der gemeinsamen Stammgruppe der carbonischen Stegocephalen (Fig. 68) ab- leiten lassen, der Ursprung dieser alten Stammgruppe ist bei den Paladipneusten, Urlungenfischen, zu suchen." ,,Die Organisation des Weichkorpers der Amphibien irn ganzen schlieBt sich unmittel- bar an diejenige der Lungenfische an, und auch viele einzelne Bildungsverhaltnisse sind von diesen Vorfahren direkt durch Vererbung iibertragen." So veifiihrerisch Haeckel's Darstellung auch klingen mag, den wirklichen Vorgang der Schopfung lungeuatniender Tiere hat sie der Natur sicher nicht abgelauscht. Ich habe eben wieder ein- mal absichtlich den Fehler begangen, Ihre Gedanken mit einem ein- zigen Organe einer Tiergruppe zu beschaftigen, wiihrend wir der Thatsache gewartig sein sollten, dass die Natur einen vollstandigen Fischorganismus in ein lungeuatmendes Lebewesen umzu- bilden hatte. Schon neulich habe ich Ihnen das Extremitatenskelett der Flosse von Ceratodus (Fig. 29) vorgefiihrt nebst dem Urteile verschiedener Auatomen, welche es als unmogHch erklarten, daraus die GliedniaBen der VierfiiBer sei es auch bloB durch eine theoretische Vorstellung — abzuleiten. Heute bitte ich Sie, die bei- stehenden Abbildungen der Gestalt von Ceratodus nnd Lepidosiren (Fig. 69, 70) anzusehen und selbst zu versuchen , ob Sie sich die Umformung derselben in ein einfaches salamanderahnliches Geschopf lebhaft ausmaleu konnen. Ich bin nicht dazu im stande und die seither erschieuenen Untersuchungen anderer Organe haben auch anderen Zoologen keine z^ingenden Beweise fiir die Haeckel- Fig. 68. Branchiosauru s am- blystoraa. Larve eines Stegocephalen , restauriert. Nach Cr edn er. Die Entstehung der lungenatmenden Wirbeltiere. 125 schen Behauptungen geliefert. Da erne Klarung der Ansichten be- reits eingetreten 1st, glaube ich mich der Darlegung speziellen De- tailes iiberhoben und verlese sogleich einige Biicherstellen. L. D o 1 1 o !) fasste das Resultat seiner Studien in folgende Thesen zusammen : 3. Man lasst allgemein rnit E. Haeckel, Professor an der Universitat Jena, die Behauptung gelteu, dass gewisse fossile Dipneusten die direkten Vorfahren der Batrachier sind. Fig. 69. Ceratodus miolepis. • • 4. Aber — in Ubereinstimmung mit der Ansicht von J. E. V. Boas, Professor an der Veterinarschule in Kopeuhagen, E. D. Cope, Professor an der Universitat in Philadelphia und J. S. Kingsley, Professor am Tufts College — bin ich der Meinung, dass sich die Behauptung nicht hal- ten lasst. 8. Ich glaube also, dass die Batrachier nicht von den Di- pneusten abstammen." M o 1 1 i e r 2) gewaun durch das Studium der Lit- teratur folgende Meinimg : ,,In letzter Zeit gewinnt die Ansicht an Boden, dass den Di- pnoern in der Ahnen- reihe von den Fischen zu den Amphibieu nicht der wichtige Platz zukomme, den man ihnen nach der Entdeckung des Ceratodus allgemein zugewiesen hatte, sondern dass die Stegocephalen in gerader Linie von den Crosso- pterjgiern abzuleiten siud. Schon friiher haben Boas, Pollard Fig. 70. Lepidosiren paradox a. *) Louis Dollo, Sur la phylogenie des Dipneustes. Bulletin de la Societe belg. de Geologie. Tom IX. 1895. 2) S. Mollier, Die paarigen Extremitaten der Wirbeltiere. Anatom. Hefte. I. Abt. 8. Bd. 1. Heft. 1897. Achtes Kapitel. und Rabl diose Ansicht geauBert, imd neuerdings sind es vor allem Baur und Dollo, die auf Grund ikrer vergleichend auatomischen Studien diese Auffassung energisch vertreteu." Wenn die heute lebenden Arten die stammesgeschichtliche Spekulatiou nicht unterstiitzen, so bleibt noch die palaeontologische Urkunde uachzuschlagen. Dort finden wir als fossile Verwaudte die Ctenodipterini und Crossopterygier. Was lasst sich nun iiber deren Organisation aussagen? Leider recht weuig; abgesehen von einigeu Gattungeu, die vollstiindige, aber meist zusammengequetschte Abdriicke des Skelettes uud Schuppenkleides (Fig. 71) binterlasseu . hat, kennen wir von den auderen nicht viel mehr als Schuppen, vereiuzelte Knochen und wohlerhaltene Zahne, sind also nicht in der Lage, die allereinfachsten Fragen eiues wissbegierigeii Schiilers, nach den allgemeinen Ziigen Flossentrager Afterflosse " Schwitnmblase mit ver- knocherter Wandung. Fig. 71. Uudina penicillata. Fossiler Rest ernes Crossopterygiers aus dem oberen Jura. der Organisation jener Yorfahren, welche die niedersteu lungen- atmenden Tiere, wie Frosche und Salamander gezeugt haben, zu beautworten . Da die beiden Figuren 69, 70 wohl beweisen, dass bei der Um- bildung eines Lungenfisches in das erste Amphibium recht aus- giebige Veranderungen erfolgen mussten, die Sie durch das Studium der anatomischen Spezialabhandluugen in ihrer ganzen GroBe erst richtig schiitzeu lernen, so werden Sie eiusehen, dass Haeckel nebst seineu Auhangern die ganze Frage etwas zu optimistisch be- handelt hat. Fragen wir schlieBlich, um auch die letzte Klasse der Wirbeltiere wenigstens kursorisch zu beriihren, nach der Stammesgeschichte der Reptilien, d. h. nach der Entstehung der Krokodile, Schild- kroten, Eidechsen, Schlangen , Ichthyosaurier , Pterosaurier , Dinosaurier, so bleibt man uns die Rechenschaft schuldig. Die jetzt lebenden Gruppen (von den fossilen kann es nur ver- mutungsweise angenommeu werden) zeigen zwar wahrend der Die Entstehung dor lungenatmenden Wirbeltiere. J27 embryonalen Stufeu im verganglichen Besitze der Kiementaschen des Vorderdarmes eine gewisse Verwandtschaft mit der nachst niederen Wirbeltierklasse, deu Amphibien. Die genauere Priifung lebrt jedoch das Unbegriindete des Anschlusses kennen. Icli will die Sacblage mit den Worten eines hervorrageuden Vertreters der phylogenetischeu Auffassuug, C. Gegenbaur's1), charakterisieren : ,,Wenn bei den arnnioten Wirbeltieren (Reptilien, Vogelu, Saugetiereu) an der Wand der Kopfdarmhohle Spaltenbildung erscheintj die wir durcb die Vergleichung mit deu Auamnia (Amphibien, Fische) als Kiemenspaltenbetrachten, so schlieBen wir daraus, dass die Amnioten Zustande der Anamnia als Vor- fahren besessen habeu miissen. Mittels Kiemen atmende Tiere waren die Stammeltern der Amuioten, denn uur von solcbeu konnte jene Einrichtung ererbt seiu. Gehen wir weiter in der uaberen Bestirnmnng des Auscblusses, so bieten uns die Am- pbibien in dem bisweilen nur voriibergebend auftretenden Kiemenbesitze uiihere Beziebungen zu den Amnioten als etwa die Fische dar; auch in der Ausbildung neuer Atmungsorgane, der Luugeu, fiir welche bei Fischen wir Vorbilder besitzen, die des direkten Anschlusses eutbehren. Wir folgern daraus, dass deu Amphibien ahnliche Einrichtuugen im pbyletischen (stammesgeschichtlichen) Eutwickeluugsgange der Amnioten (Eeptilien, Vogel, Saugetiere) bestaudeu haben werden. Ein weiterer Schritt der Vergleichung, ein Suchen nach den Stamm- formen bei einzelneu Abteilungeu der lebenden Amphibien fiihrt uns zu Hiudernissen. Jedes genauere Eindringen deckt uns Verschiedenheiten auf, uud die Priifung der Gesamtorgani- sation der Vergleichsobjekte lehrt die Unmoglichkeit der Ableitung der Amnioten von jenen. So entsteht uns die Einsicht von der Unvollstandigkeit auch der phylogenetischen Zeugnisse." Selbst Haeckel's Vorstellungskraft steht demProbleme machtlos gegeniiber, denn er getraut sich nur ein ,,ideales Bild" von der altesten Stammgruppe2) aller hoheren Wirbeltiere, deu sog. Pro- reptilien oder Urreptilieu zu entwerfen. Jetzt babe ich mit Ihnen kurz, nicbt eingeheud die Fragen durchgesprochen, von welcheu Vorfahren sich die vier Klassen der Wirbeltiere : die Sauger , die Vogel , die Reptilien , die Amphibien entwickelt haben konnten. An alien Beispielen konnte *) C. Gegenbaur, Vergleich. Anatomie der Wirbeltiere. I. Bd. Leipzig 1898, p. 20. 2) Vergl. E. Haeckel, Systematische Phylogenie. III. Bd., p. 303 n. p. 282. 123 Achtes Kapitcl. ich zeigen, class trotz eingekender anatomischer Untersuckungen der letzten Epocke die im Jahre 1859 von der Descendenztkeorie hinter diese Gruppen gesetzten Fragezeichen bestehen geblieben siud. Niemand weiB einen klaren Aufsckluss iiber die Stammeltern derselben zu gebeu; ja die anatomiscke Priifung kat sogar erwiesen, dass vorderkaud nickt einmal Ankaltspunkte fiir die Losung der Frage gefunden sind. Die Kluft zwiscken den systematiscken Gruppen der Wirbeltiere gaknt groB und gewaltig. Dabei kabe ick mick mit verkaltnismaBig einfacken Fragen besckiiftigt, weil ick innerkalb eines Orgauisationskreises gebliebeu bin, wo alle Glieder wirklick durck eine groBe Zakl von gemeinsamen, anatomiscken Eigensckaften ausgezeicknet sind. Sckwieriger wird die Aufgabe, wenn die Descendenztkeorie die fundamentalen Differenzen zwiscken den Organisationstypen selbst ausfiilleu soil. Bei der weiteren Diskussion des Problemes, ob die Typen des Tierreickes durck direkte Um- bilduug zu erklaren sind, werden wir zu gleicken Resultaten gelangen. Das keiBt mit anderen Worten: die Erwartungen , welcke die Ab- stammungslekre vor 40 Jakren erweckte, sincl bisker durck posi- tive Resultate der pkylogenetiscken Erkenntnis nickt erfiillt wo r den. Also bin ick wokl berecktigt, von dem Zusammen- bruck der Hoffnung, die Beweise flir die Abstammung der Tiere jemals aufzufindeu, zu sprecken. Wie sekr mick auck die Seknsuckt erfiillen mag, dem Abstammuugsgedanken beizupflickten, immer feklen nock die exakten Beweisgriiude und alle Bindeglieder zwiscken den kleinen und groBen Abteilungen des Tierreickes, welcke meinen zweifeluden Verstand zwingen konnten, ein Ankanger zu werden. Aus diesem Grunde kat uack meiner Meinung die Abstammuugs- lekre gar keine Berecktigung in der Naturwissensckaft. Der Vorzug der letzteren bestebt dock gerade darin, eine sick ere Kenntnis der Tkatsacken und eine den tbatsacklicken Ver- kaltnissen genau entspreckende Eingliederung derselben in das wissen- sckaftlicke System zu vermitteln, dass jeder Zweifler gezwungen wird, die Ricktigkeit einer vielgepriiften Lekre anzuerkennen, indem man ihm die einzelnen Beweisglieder vorfiikrt und zeigt, er vermoge gar keine andere Meinung dariiber zu kegen als diejenige, welcke kervorragende Fackmanner auf Grund eingekendster Sackstudien geauBert kaben. Das Hypotkesengebaude der Stammesgesckickte bietet dagegen keine Tkatsacken, sondern nur denkbare Moglick- keiten. Niemand auf der ganzen Welt vermag bestimmte Arten von Saugern, Vogelu, Reptilien, Fiscken zu nennen, welcke die jetzt bekannten Gruppen wirklick in derselben einleucktenden Weise ver- kniipften, wie sich eine Puppe als notwendiges Glied zwiscben das Raupen- und Sckmetterlingsstadium einfiigt. Die Entstehung der lungenatmenden Wirbeltiere. 129 Mail kamf die Sachlage auf verschiedene Weise darstellen und die Kiirze der Untersuchungszeit , die seit der Publikation der Theorie Darwin's verstrichen ist, als Ursache dafiir anfiihren, dass noch nicht alles geuau gepriift wurde. Alle Anhanger der Descendenztheorie gestehen ja die groBen Liicken der Beweisfiihrung unbedingt zu. Sie fiigen ermunternd an, bei der groBen Arbeitslust der jetzt lebenden Generation und dem regen Interesse, welches die Allgemeinbeit dem Studium stammesgeschichtlicher Fragen entgegen- bringt, diirfe man die Hoffnung hegen, dass die beute bestehenden Unklarheiten in Zukunft beseitigt wiirden. Man kann den gleichen Gedanken auch recht dramatisch ausdriicken und seinen Zuhorern sagen: Ich werde den Triumph uicht mehr erleben, aber wenn ich langst im Grabe modere, werden Sie die Zeugen ungeahnten Fort- schrittes sein und den Sieg des Menscheugeistes iiber das nur widerwillige Auskunft speudeude Untersuchungsmaterial feiern. Aber wie geschickt man diesen Appell auch vortragt, um eine momentane Wirkung bei der groBen Masse zu erzielen, die Satze sind nach nieinem Urteile doch nur unsichere Wechsel auf die Zukunft, von denen keiner weiB, ob sie jemals eingelost werden, oder ob sie unbezahlt verfallen. Es verbirgt sich in ihnen ein durch Wohllaut bestechender Euphemismus fur einen jetzt offenkundig bestehenden Mangel der exacten Beweisgriinde zu gunsten der Descendenztheorie. Ich personlich neige der anderen Ausdrucksweise zu. Da man tFbergangsglieder zwischen den Gruppen der Wirbeltiere nicht gefunden hat, so sage ich offen und ehrlich, sie sind uns nicht bekannt. Mein geheimer Wunsch, sie mochten einstens gefunden werden, hilit bei dieser Sachlage gar nichts ; wir haben sie eben vorderhand noch nicht. Infolgedessen fehleu gerade die wichtigsten Tbatsachen, die als schlagende Beweise fiir die Richtigkeit der Ab- stammungslehre wirken konnten. In solchem Falle scheint es mir eines niichtern denkenden Mannes wiirdiger zu sein, die ganze Theorie, welcher gerade fiir die springenden Punkte die Beweise fehlen, bei- seite zu werfen. Alle innere Begeisterung fiir die Schonheit des Abstammungsgedankens, die ich genau so empfinde wie Sie und viele hundert andere Menschen, hilft uns iiber die rauhe Wirklich- keit nicht hinweg. Wir entbehren der unumstoBlichen Mittel, um jedermann zu zwingen, ihn fiir rich tig zu halten. Sehen Sie, meine Herren, das sind verschiedene Ausdrucksweisen fiir ein und denselben Thatbestand. Soweit ich die Menschen kenne, wird stets die groBere Zahl derselben jener Darstellung zujubeln, welche Liicken der wissenschaftlichen Erkenntnis durch elegante Worte verscbleiert, indem sie ihrer theoretischen Uberzeugung zuliebe Fleischmann, Descendenztbeorie. 9 130 Achtes Kapitel. die Thatsachen so farbt und auswiihlt, dass sie wie Beweise aus- schauen. Wenige aber werden dem niichternen Raisonnement bei- ptlichten, dass, well keine exakten Beweisgriinde gegeben sind, lieber die ganze Theorie fallen muss, als dass man sick noch langer in unniitzen Spekulationen bewegt. Da wir heute zu einer langeren Pause uns trennen, darf ich vielleicht einige personliche Bemerkungen hinzufiigen. Es ist mir von vielen Seiten sehr verdacht worden, dass ich mir die Miihe genommen habe, Sie iiber den gegenwartigen Zustand der Ab- stammungslehre aufzuklaren. Meine Kritiker bebaupten sogar, icb sei von der Partei des Riickscbrittes gedungen und sprecbe eigent- lich gegen meine innere Uberzeugung, wenn ich den Mangel zwingender Beweisgriinde in descendenztheoretischen Fragen Ihnen darlege. Wo Sie solche Verdiichtigungen nieiner ehrlicheu Absicht horen, diirfen Sie energisch widersprechen und dieselben als ganz- lich unzutreffend bezeichnen. Ich habe die Vorlesungen auge- kiindigt weder aus personlicher Eitelkeit, weil ich eine eigene Theorie an die Stelle der uuhaltbar gewordenen Lehre setzen mochte, noch aus krankhaftem Ehrgeiz, um von mir redeu zu machen, sondern ich habe meine Einladung an Sie ergehen lassen, weil ich den jungen Mannern, welche in den nachst folgendeu Jahrzehnten ihre Wirksamkeit im deutschen Vaterlaude entfalten sollen, einen guten Dienst zu erweisen glaubte, indern ich sie iiber den gegen- wartigen Zustaud einer die Welt so stark erregenden wissen- schaftlichen Frage sachlich unterrichte. Wahreud der bisherigen Stunden haben Sie oft genug aus meinem Munde gehort, dass ich Sie nicht in naeiuen Privatansichten schulen will. Ich be- trachte es vielmehr als meiue Aufgabe , das Resultat der zoologi- schen Forschungen wahrend der letzten 40 Jahre als objektiver Historiker in biindiger Form zusammen zu fassen und daraus das allgememe AVertresultat der Epoche abzuleiten. Als solches erscheint mir und manchem anderen die Erkenntuis, dass fur die Entwickelung weder der kleineren systematischen Gruppen, noch der groBen Organisationstypen zwingende Beweise zur Zeit vor- liegen, und nach dem gegenwartigen Stand unseres Wissens scheint mir eine Verstarkung der Beweismittel in nachster Zukunft auch nicht zu erwarten zu sein. Unsere Lehrer und die iilteren unserer Zeitgenossen sind deshalb nach meinem Urteil einer wohl entschuld- baren Tauschung zum Opfer gefallen und haben einen Zustand der Wissenschaft hiuterlassen, der uns mit jedem Tage dringlicher in die Notwendigkeit versetzt, eine scharfe Grenze zwischen theoretischen Die Entstehung der lungenatmenden Wii-beltiere. 131 Folgerungen und wirklich beobachteten Vorgangen zu ziehen. Da- durcb wird in den niicbstfolgenden Jahren die Descendenzlebre aus der wissenschaftlichen Diskussion binausgedrangt, und es wird dem Kreise der Laien offenbar werden, dass die sichere Bestimratbeit, mit welcber die Descendenztbeoretiker ibre Ansicbten aussprecben, nicbt auf einem ebenso sicbereu Fundamente klar gesebener Tbat- sacben begriindet ist, als man bisber nacb einseitigen Bericbten an- nebmen musste. I)as wird dia unabweisliche Konsequenz der bis- herigen Eutwickelung der zoologiscben Wissenscbaft sein, und sie wird von mancbem Manne recbt scbwer empfunden werden. Dass aber das Anseben der Naturwissenscbaft wirklich gescbiidigt wird, weil icb einen dem Eingeweibten unzweifelbaft erkennbaren Zu- stand bereits beute vor Ibnen offentlicb scbildere, und dass icb deshalb ein Verbrechen gegen die Wissenscbaft und die biesige Universitiit begebe, wenn icb ebrlicb meine auf langjabrigeu und griindlicben Studien berubenden Ansicbten vortrage, das kann icb nicbt versteben. Demi icb lebe trotz des Widersprucbs meiner Freunde und Feinde in der unerscbiitterlicben Hoffuung, dass das ebrlicbc Streben nacb exakter Erkenntnis niemals Unbeil bringen und nocb weniger die Wissenscbaft zu scbadigen vermag. Bin icb mit meinem Denken auf einen Irrweg geraten, so wird die wissen- scbaftliche Entwickelung der niichsten Jabre mir Unrecht geben und Sie werden meine Worte vergessen mu'ssen. Steckt aber neben mancbem Irrtume aucb wabre Erkenutnis in meiner Darstellung, so babeu Sie an dieser Statte friiber als anderswo kiinftiges Gescbeben andeuten boreu und sind in objektiver Weise darauf vorbereitet worden ! Neuntes Kapitel, Die Stammesgeschiclite der Artliropoden. An der Wende des Jahrkunderts offenbart sich die Schwache der Abstammungslehre und zugleich der Zusamrnenbruch aller Hoffnungen, sie als bewiesen betrachten zu dlirfen. Vier Jahr- zehnte haben nicht hingereicht, eine vollgiiltige, nach naturwissen- schaftlicher Anschauung zwingende Beweisfiihrung fiir die Richtig- keit der Theorie zu schaffen. Die Anhanger der Lehre befinden sich in der gleichen Lage wie im Jahre 1860, wo Darwin's Werk die Suche nach den IJbergangen angeregt hatte, welche die Um- wandlung der durch so scharfe Grenzen geschiedenen Organisations- typen des Tierreiches erklaren konnten. Wir stellen heute die gleiche Ratselfrage ; aber keiner der jetzt lebenden Zoologen ist im stande, uns eine bestimmte Antwort zu erteilen. Freilich konnen Sie von den Anhangern scheinbare Autworten vernehmen, alleiu diese sind nur Ausfliichte, schone Redensarten und miissen verstummen, so- bald ich eine anschauliche Vorstellung von der Beschaffenheit der Vorfahren erhalten will. Ich mag die fiinf Klassen der Wirbel- tiere aufschreiben, wie ich will: entweder systematisch in horizontalen Zeilen unter einander: Saugetiere, Vogel, Reptilien, Amphibieu, Fische, oder in Form eines Stammbaumes, Vogel Saugetiere Reptilien I Lurche Fische, niemand kann mir cine klare Beschreibung der Vorfahren ent- •werfen. Solange aber fur die Umwandlungstheorie nicht einleuchtende Die Stammesgeschichte der Arthropoden. 133 Thatsachen demonstriert werden, 1st sie ein wertloses Wahngebilde, welches die ihm gezollte Bewunderung nicht verdient. Damit stelle ich keine unbillige Forderung, sondern verlange nur, was jeder ernst denkende Mann wiinschen wird, namlich Uberzeugung durch den Augenschein anstatt des Glaubens an theoretische Wahr- scheinlichkeiten. Die Vorgange in der Natur sind ja so geartet, dass man des Selbstsebens nicht entraten kann, will man sie richtig begreifen. Durch theoretische Schliisse sind anatomische Thatsachen noch auBerordentlich selten vorhergesagt worden, hochstens die allgemeinen Prinzipien derselben, niemals das spezielle Detail. Wer aus eigener Anschauung den verschlungenen Entwickelungsweg der Natur kennt, wer weiB, welch sonderbare Pfade sie einschlagt, urn zu einem bestimmten Formziel zu gelangen, wer durch das Studium der Geschichte seiner Wissenschaft weifs, welche unsagliche Miihe die Feststellung des exakten Thatbestandes machte, und wie gleich- zeitig durch die genaue Erkenntnis der Thatsachen viele vorher als richtig angesehene Lehrmeinungen iiber den Haufeu geworfen wurden, der ist nicht geneigt, die theoretischen Folgerungen der Descendenzschule ohue positiven Beweis hinzunehmen. Wer hatte vor 200 Jahren geglaubt, dass es moglich ware, in den verschiedenen Forrnen der WirbeltiergliedmaBen einen gemeinsamen Grundtypus zu erkennen? Wer hatte theoretisch den Bau der Archaopteryx konstruiert, der Vogel- und Reptilienmerkmale in kurioser Weise mischt? Niemand hat vorher prophezeit, dass die wahren Back- zahne dem Milchgebisse zugehoren, und der feinere Bau der Nieren, der Leber, des Gehirns, die Kernteilungsvorgange mussten miihselig durch Beobachtung ergriindet werden. Wie viele Theorien sind iiber den Bau, die Bedeutung, die Funktion des Nervensystems aufgestellt worden, welch scharfsinnige physiologische Abhandlungen sind dariiber geschrieben worden! Die exakten Untersuchungen eines folgenden Jahrzehntes haben sie alle in Triimmer zerbrochen. Diese Beispiele sollen Sie daran erinnern, dass es schwer, dass es meist geradezu unmoglich ist, das natiirliche Geschehen ohne direkte Beobachtung im Studierzimnier durch die kombinierende Thatigkeit des Verstandes auszukliigeln. Da die Mangelhaftigkeit der theoretischen Schlussfolgerung fiir das zoologisch anatomische Gebiet so offen zu Tage liegt, sollte es den Freunden der Descendenztheorie nur angenehm sein, wenn sie durch den Wider- spruch veranlasst werden, gute Beobachtungsgriinde fiir ihre Meinung beizubringen. Freilich ist die Beweisfiihrung wahrend der letzten vier Zehntel des Jahrhunderts schwieriger geworden , als man anfangs traumte. Damals geniigte die vergleichende Betrachtung Xeuntcs Kapitel. eines einzelnen Organsysterns, eines Brucbstlickes des Tierkorpers, inn die Umbildung zu erweisen ; jetzt wissen \vir , dass die Metbode falscb, ja, dass sie unwissenschaftlich war, weil sie der Griindli.chkeit entbehrt, Indern wir jetzt alle Organe ver- gleicbend betracbten und zuseben , ob die Gesamtbeit derselben oder wenigstens ihre Mebrzabl fiir die denknotwendig eracbtete Verwandtscbaft mit benacbbarten Tierklassen sprecben , werden unserem beweglicben Geiste Ziigel augelegt. Wenn einer nacb Betracbtung eines Organes den starnrnesgescbicbtlicben Zusamuien- bang bebaupten mocbte; erbebt die total verscbiedene Ausbildung eines anderen Organes ein kriiftiges Veto. Una das Beispiel der Wirbeltiere festzubalten : die Vogel lassen sicb nicbt bei den bekannten Reptilien anscblieBen. Keine der Reptilienarten ist als direkte Vorfabrenform der Saugetiere erkannt. Wir wissen nicbt, wie sicb die Reptilien von Anipbibien berausgebildet baben. Es ist nicbt klar, wie die Ampbibien durch Umbildung von Fiscben entstanden sind. Wenn der Descendenztbeoretiker trotz des negativen Ergebnisses der Forscbung an der Abstammungslebre festbalten will und weiter nacb den Vorfabren sucbt, so wird er zu der Schlussfolgerung ge- drangt, dass die jetzt lebenden Tiere nicbt von den beute lebenden niederen Arten oder von anderen Arten, deren Brucbstiicke versteinert erbalten sind , abstammen , sondern dass als Urvater der fiinf Wirbeltiergruppen Tiere von einfacbem Korperbau , von anderer Organisation als die beute lebenden oder bereits ausgestorbenen Fornien gelten sollen. Aber mit dieser Annabme bat der Descendenz- tbeoretiker zugleicb das exakte Gebiet vollkornmen verlassen. Icb kann zu meineni Privatvergniigen rnir den Kopf zerbrecben liber das, was icb nicbt seben und beobachten kann, iiber die Bescbaffen- beit eines frernden Landes oder einer freinden Stadt, aber als Naturforscber ist es mir untersagt, iiber das, was icb nicbt go- sebeu babe, eine bestimmte Angabe zu macben. Meine Tbatigkeit bort auf, sobald mir die Moglicbkeit der Beobacbtung feblt. Tbeoretiscbe Kombinationen, von Gelebrten ausgesprocben, besitzen leider keinen groBeren Wert, als die Vermutungen eines beliebigen Laien, mag aucb der Name des Naturforscbers, welcber die Ver- mutung auBert, niit grossem Glanz und Rubm umwoben sein. Das Lancettfiscbcben, Ampbioxus lanceolatus Rud., und die Manteltiere, Tunicata, welcbe als die wirbellosen Stammeltern der Wirbeltiere friiber eifrig studiert wurden, werde icb bier gar nicbt bebandeln. weil das Verstaudnis dieser auf ganz scbwacben FiiBen stebenden Verwandtscbaft zu viel anatomiscbe Kenntnisse fordert. Wir wendeti uns daber gleicb zur Betracbtung der Stammes- Die Stammesgeschichte der Arthropoden. 135 geschichte der Gliedertiere, Articulata. Die Gruppe umfasst samtliche Insekten, die Kafer, Schmetterlinge, Heuschrecken, Fliegen, Wanzen, Bienen, Wespen, die Spinnen, TausendfuBler, Krebse und die ge- gliederten Wiirmer. Ich darf den groBeu Organisationskreis kur- sorisch behandeln, weil die Anhanger der Descendenztheorie selbst keine klare Yorstellung liber deren verwaudtschaftlichen Beziehungen hegen. Das geht aus wenigen Worten Haeckel's1) hervor: ,,Die beispiellose Mannigfaltigkeit der Speziesbildung, durch welche die Gliedertiere alle anderen Tiere weit iibertreffen, hat in diesem Stamme schon seit langer Zeit zu einem hochst detaillierten Studium der Systematik gefiihrt. Seitdem uns die Descendenztheorie in dem - „ natiirrichen System" der organischen Formen ihren wahren Stammbauni aufzusuchen gelehrt hat, ist auch das systematische Studium der Artikulaten durch die Anwendung der phylogenetischen Methode auf eine hohere wissenschaftliche Stufe erhoben wordeu. Zugleich haben sich in neuester Zeit auf Grund der groBen Bereicherung der phylo- genetischen Urkundeu unsere Ansichten iiber die verwickelten Verwandtschafts-Beziehuugen der groBeren und kleineren Gruppen wesentlich geklart. Sowohl die groBen Fortschritte in der vergleichenden Auatomie und Ontogenie der Gliedertiere, als auch namentlich die wichtigen Entdeckungen ihrer Palaon- tologie habeii in neuester Zeit unser Verstandnis dieses formen- reichsten Tierstammes und seiner historischen Entwickelung wesentlich gefordert. Dennoch sind wir auch heute noch von einer allgemeinen Anerkennung der wich- tigsten Verwandtschafts-Beziehungen weit eutfernt; das zeigt schon der Umstand, dass selbst die besten neueren Lehrblicher die Arthropodengruppe als einheitlichen ,Typus' beibehalten und von ihreii Anneliden-Ahnen ganzlich trennen, dass die natiirliche Einheit der Tracheaten-Gruppe aufgelost und die Arachniden mit den Merostomen verkniipft werden, dass die fundamentalen Beziehungen der Archanneliden (-- als gemeinsame Stamrngruppe aller Artikulaten! — ) und der Trilobiten ( — als gemeinsame Stammgruppe aller Crustaceen ! - -) oft ganzlich verkannt werden. Wir halten es daher fiir wichtig, diejenige Ansicht von der phyletischen Verzwei- gung des Artikulatenstammes, zu welcher wir durch die gleichmaBige Beriicksichtigung aller drei phylogenetischen Urkunden gelangt sind, in folgeuden Satzen kurz zusammen- zufasseu. — • Haeckel, Systematische Phylogenie II, 1896, pag. 508. 136 Neuntes Kapitel. Gehirn Die schonrednerische Farbuug cles Textes wird Ihnen nicht verbergen, dass Haeckel's Ansicht von wenigen seiner Kollegeu geteilt wird, sonst wiirde er sich nicht so dogmatisch aus- driicken. TJnter alien gegliederten Tiereu sind die Gliederwiirmer, deren Arten meist im Meere leben, die eini'achsten. (Der Regenwurm und der Blutegel siud Ihnen bekannte Vertreter der Gruppe). Die stammesgeschichtliche Spe- kulation muss daher sie als die Stammeltern aller hoheren Arten der Krebse und Insekten oder wenigstens als diesen Stamm- eltern nahe stehend betrachten. Der lange schlauchformige Kor- per der Gliederwiirmer (Fig. 72) stimmt in der Gliederung mit den iibrigen Gruppen , in dem auBere, gleich weiten Abstand haltende Riugfurchen der Haut cylindrische Bezirke abgrenzen, die Segmente genannt werden. Die Haut aller Gliedertiere halt die segnaentale Gliederung auch nach dem Tode des Indi- viduums fest, weil sie mit der Fahigkeit begabt ist, eine er- hartende Substanz, das Chitin, als einen auBeren Panzer, ein gegliedertes Chitinskelett, ab- zuscheiden. Die Insekten und Krebse sind mit einem festeren Hautskelett gegiirtet, der Gliederwurm mit einem zarten Chitin- hautchen. Der segmentalen Gliederung ist immer das Nervensystem unter- worfen. Ob Sie einen Blutegel, einen Flusskrebs, einen Kafer praparieren, iiberall finden Sie amBoden derLeibeshohle in bestimmtem, segmentalem Abstande kleine paarige, aus Nervenzellen und Nerven- fasern gewebte Ganglienknoten, die durch quer verlaufende Nerven- strange paarweise und durch langs ziehende Nerven segmentweise verkniipft, in ihrer Gesamtheit ein strickleiterartiges Nervensystem bilden. Dasselbe unterscheidet sich grundsatzlich von dem nervosen Centralorgan der Wirbeltiere (Fig. 2), das die Gestalt eines Rohres (Riickenmark) innehalt und zu vorderen Gehirnblasen erweitert wird. Augen Mundhohle mit Hornkiefern Bauchnerven- strang Darm Parapodien mit Borsten Fig. 72. Ban eines jun gen Gliederwurmes, Nereis. Nach Ed. Mayer. Die Stammesgeschichte der Arthropoden. 137 Oberkalb und unterhalb der Mundhokle findet man meist zwei Paare groBerer Ganglienknoteu, die oberen und unteren Scklund- ganglien, die durch Quer- und Langsnerven zu dem, den Darm umscblieBenden, Schlundringe vereinigt werdeu. Damit sind die weseutlichen gemeinsckaftlicken Merkmale ersckopft, denn die Gliederwiirmer entbehren gegliederter Beine, gleich denen der Insekten und Krebse, welcke selbst wieder durch die Zahl der Beinpaare getrennt werden. Die Insekten tragen an der Brust drei Beinpaare neben eiuigen friibzeitig verkiinimernden Beinanlagen des Hiuterleibes, die Krebse verfiigen liber einen un- gebeuren Reicktum derselben ; bei den groBeren Krebseu, Gruppe der Malacostraca, ist ibre Zabl auf 36 fbdert. Die GliedmaBen siud stets in beweglicbe Stlicke gegliedert, docb bestebt wieder ein fundamentaler Gegensatz zwiscben dem Bau der Insekten- und Krebsbeine. Den Ringelwurmern feblen die Eier I. Antenna KieferfuB Antennen- fufi I. BrustfuB VII. Brust- fuC I. HinterleibsfuC Fig. 73. Fig. 74. Fig. 73. Schematische Skizze des Bauplanes der Insekten. a After, c Herz, f Fiihler, i Unteres Schlundganglion, I Flugel, m Magen, s Oberes Schlundganglion. Strickleiter- nervensystem und Ganglienknoten schwarz. Fig. 74. Gammarus neglectus, ein Wasserflohkrebs. Nach Sars, um die Gliederung dea Korpers und die zahlreichen FiiCe zu zeigen. gegliederten Beine, die im SiiBwasser und in der Erde vorkoninienden Arten baben iiberbaupt keine beinabnlicben Korperanbange. Die Gruppe der meerbewohnenden Gliederwurmer, Cbaetopoda, dagegen ist durcb kleine, nicbt gegliederte und je ein Biindel cbitinoser Borsten tragender Hockercben (Fig. 72), die sog. Parapodien, FuB- stummelcben, cbarakterisiert. Die iibrigen Organe: der Darm, die Exkretions-, Gescblecbts-, Sinnesorgane, das BlutgefaBsystem, die Scbeidung der Leibeshohle in Kammern weicben fundamental von den Einricbtungen bei Insekten und Krebsen ab. Der dadurcb gebotene Gegensatz, weicben Sie in jedem Lebrbucbe der Zoologie uacblesen konneu, bat weitere pbylogenetiscbe Spekulationen verhindert und erspart mir eingebende Scbilderung. Man konnte die Sacblage 138 Nuuntes Kapitel. etwa so kennzeichnen: die Descendenztheoretiker vermuten und \\iinschen die Stammesverwandtschaft der GliederfiiBer mit den Gliedenviirmern. Gefunden haben sie die notwendigen Ubergangs- formen jedoch noch nicht. Man hoffte nun in den sechziger Jahren, dass die Larven der Insekten uud Krebse besseren Aufschluss iiber das Dunkel der Stammesgeschichte bieten konnten. In der That gewann es auch den Anschein, als hatte Fritz Mil Her 1864 durch eiue kleine an- sprechende Schrift: ,,Fiir Darwin" den rechten Weg betreten, als er I. Anteune Auge Kiemen- aulage Aiitennen- fuss Oberkiefer- fuss vi er Si hreit- fiisse Antennen- druse Darin ABC Fig. 75. Krebslarven. A Nauplius von Cyclops, eiuem kleinen SliBwasserruderkrebs. Nach Glaus. B Altere Larve von Hippolyte, sog. Zoea, an welchcr Brust und Hinterleib bereits entwickelt sind. C Altere Zotia von Eupagurus bernhardus, Einsiedlerkrebs, nach Sars, an welcher die SchreitfiiLie erscheineu. den Versuch wagte, die Larven der Krebse (Fig. 75) fur Riickschliisse auf die Urform, von welcher der Krebsstamm sich abgezweigt hat, theoretisch zu behandelu. Unzweifelhaft sind auch die Larven der In- sekten und Krebse sehr interessaut, weil die Jugendstadien von spater recht komplizierten Lebewesen einen auBerordentlich einfachen Auf ban des Korpers zeigen. Sie brauchen nur an den Unterschied zwischen der Schmetterlingsranpe und dem fertigen Schmetterlinge zu denken. Die Fig. 75, A bildet die einfache Larve der Krebse ab. Meist kriecht aus den Krebseiem solch' eiue kleine Larve, der sog. Nauplius, hervor, von den geschlechtsreifen Elteru dadurch unterschieden, dass sie keine Gliederung besitzt, und das freischwimmeude, selbstandig lebende Kopfstiick des allmahlich durch Bildung der Brust- und Schwanzregiou (Fig. 75, B, C) sich vervollstiindigenden Leibes darstellt. Die Stammesgeschichte der Arthropodcn. 139 Fritz Mii Her 's Versuck. die Xaupliusform als Ahneubild der Krebse auzuseken, hat mehrere Jahrzehute laug die wissensckaftlicke Welt bekerrsckt und eiue ungekeure Zakl von Spezialuntersuckungen augeregt. Heute darf er als endgiiltig widerlegt gelten. Nock weniger sind die Hoffuungen der Darwinianer durck das Studium der Insektenlarven gerecktfertigt worden, deren maden- iiknlicke Gestalt (Fig. 76) den Vergleick rait eineni Wurni direkt kerausfordert oder uack der Ausdrucksweise der pkylogenetiscken Sckriften die Vermutung ikrer Verwandtsckaft mit den Wiirmern zur positiveu Gewisskeit steigert. Damit Sie uickt etwa glaubeu, ick wollte Sie in meinen Privatansickten sckulen, keke ick aus zwei niodernen Lekrbiickern, dereu Yerfasser von der Moglickkeit stammes- gesckicktlicker Forsckuug ekrlick iiberzeugt siud, einige Stellen kervor : Fig. 78. Fig. 76. Larve und Puppe des Hirschschroters, Luoanus cervus, in der Erde. Fig. 77. Ichneumonites bellus, eine fossile Schlupfwespe des Miocans. Nach Heer. Fig. 78. Paradoxides bohemicus, ein Trilobite des Cambriums. ,.Man kat friiker allgemein die Stammform der Krebse1) fiir ein naupliusakulickes Tier erkliirt und angenommen, dass sick aus dieser Stammform die keute lebenden Krebse pkylo- genetisck in aknlicker Weise entwickelt kaben, wie sie keut- zutage ontogenetisck (in der inviduellen Keimesgesckickte) nock durck eine Reike von Metamorpkoseu aus dem Nauplius ker- vorgeken. Diese Ansickt kalten wir fiir uuricktig und zwar aus allgemeinen wie aus speziellen Griindeu." (Dies wircl ausfiikrlick erlautert.) J) A. Lang, Lebrbuch der vergl. Anatomie der wirbelloson Tiere, Jena 1£94, p. 420, 421. 14:0 Ncuntes Kapitel. ,.Der Nauplius 1st eine typischo Krebslarve; die Vor- fahren der Krebse besaBen noch keinc typische Nau- pliuslarve, noch weniger stammen sie von einer naupliusahnlichen Stammform ab." ,,Es ergiebt sich aus diesen Betrachtuugen x), dass wir die Metamorphose der Insekten nur in beschranktein MaBe nach der phyletischen (stammesgeschichtlichen) Ptichtung verwerten konnen. Vor allem muss man imAuge behalten, class die aus dem Ei kommenden Larven bereits die typische Gliederung des In- sektenkorpers aufweisen, dass also in keinem einzigen Falle Ahnenformen in den Larven zur Reproduction kommen, welche den altesten Insektenformen vorhergingen. Alles was uns die Insektenlarveu lehren konnen, wird sich daher nur im Rahrnen dieser Klasse bewegen konnen." Die palaeontologische Urkunde ist unseren Zwecken nicht giinstig. Sie giebt wohl die Abdriicke der auBeren Korperform, der Fliigel und Beine, wieder(Fig. 77) und schlieBt zugleich das genaue Studium einzelner Teile aus. So hat ihre Reichhaltigkeit (Zittel schiitzte die Zahl der beschriebeneu fossilen Insekteuarteu auf 2600 Arten) fur unsere Zweke keinen Wert. Die fossilen Krebse, besonders die silurischen Trilobiten weichen von den recenteu Gruppen so weit ab, dass die Aufgabe, zwischen beiden anatomische Beziehungen nachzuweisen, unsagbar schwer ist (Fig. 78). Nachdem wichtige Zeugnisse der Stammesgeschichte absolut versagen, bleibt noch die Priifung der heute lebenden Glieder der groBen Orgauisatiousgruppe iibrig. Wiederuni zog eine erst in neuererZeit entdeckte Tierart, Peripatus, die Hoffnungen der wissen- schaftlichen "Welt auf sich, bis derselbe Abschluss erfolgen wird, wie er uns bei der phylogenetischen Deutung der Lungenfische iiberrascht hat. Die wenigen hierher gehorigen Arten, Peripatus Edwardsi Blanch, und Peri- patus capensis Gr. leben unter faulendem Holze in den 79 tropischen Walderu aller Erd- capensis. Nacii Moseiey. teile und zeigeu anatomische Merkmale der Insekten und Gliederwiirmer bunt zusammengewlirfelt, etwa wie das Schnabeltier eine Mischung von Charakteren der Siiugetiere und Reptilien darstellt. Peripatus weicht von alien Gliedertieren zunachst dadurch ab, dass sein Koiper nicht gegliedert ist, also keine Segmentfurchen J) E. Korschelt u. K. Heider, Lehrbuch der vergl. Entwicklungsgeschichte der -wirbellosen Tiere. Jena 1890, p. 858. Die Slammesgeschichte der Arthropoden. 141 zeigt (Fig. 79). Nur der Vorderabschnitt, der sog. Kopf, setzt sich vom schlauckforniigen Leibe deutlich ab uncl tragtzwei schlank cylindrische, geringelte Ankiiuge, den Fiihleru (Antennen) der Insekten und Krebse vergleichbar. Zu beideu Seiten des nachfolgeuden, nicht segmentierten Korpers stehen 14 — 42 Paare von Hockeru , die als Answiichse der Leibeswand entsteken, mit Querreihen YOU Papilleu besetzt sincl und je zwei endstandige Klauen trageu. In der weiten Leibeshohle liegen Lnftatmungsorgane von besonderer Art. Sie verleihen dem Peripatus ko'keres Interesse, weil die Atemapparate der Insekten und Krebse in stronger Weise Antenne Tracheen- biischel Bauchnerv Eileiter Eierstock Speichel- driise Schleim- driise Segmental- organ Darin After Geschlechtsoffnunif Fig. 80. Fig. 81. Fig. 80. Die Eingeweide eines weiblicheii Peripatus. Fig. 81. Anatomie der Honigbiene. Nach Leuckart. a Fiihler, au Auge, &! &2 13 Beine, em Chylusmagen, ed Enddarm, rrl Enddarmdrusen, s< Stigmen, tb Haupttracheenstamra, vm Mal- pighi'scbe GefaBe. Das strickleiterformige Nervensystem zieht in der Mittellinie der Figur. gesoudert sind und es nicht moglich erscheint, beide direkt aus- einander abzuleiten. Denn die Insekteu siud luftatmende, die Krebse wasseratmende AVesen ; die Insekten fiibreu die Luft in Tracheen- rohren des Korpers eiu, die Krebse nebmeu den Sauerstoff des Wassers mittels Kiemeu auf, welcbe gleicb Plattcben oder Faden an den Beinen haugen (Fig. 75, C). Die Luftaternorgane der Insekten, ein System von Hohlrobreu oder Tracbeeu, durchzieheu den Korper, wie die Blutgefasse durch unsere Organe ziehen (Fig. 81). You kleinen Offnungen an der seitlichen Korperwand, den sog. Stigmeu, die mit reizenden Verscblussapparaten und Reinigungsvorkehrungen zur 142 Neuntes Kapitel. Abhaltuug clos Staubes versehen sind, gehen weite Rokren ab und ver- zweigen sick, je tiefer sie vordringen, in sekuudare und tertian- Aste, in feinere Zweige, bis sie in ein zierlickes Masckennetz ft'inster LuftgefaBe aufgelost sind und darait alle Organe umspinnen. Erweiternde und pressende Bewegungen der Korperwand veranlassen die periodiscke Luftfiillung bezw. -entleerung des Trackeeusystemes. Bei Peripatus sckeint eiue Anfangsstufe der Trackeenatmung vorzuliegen. Denii seine Kespirationsorgane sind Blisckei von Trackeenrokren, deren Zakl der Summe der Fusskockercken ent- sprickt. Die Trackeen selbst sind kurz und umweben nickt die Orgaue. Man kaun also denken, man katte einen anatomiscken Zustand gefunden, der eiustmals vielen Urinsekten gemeinsam war, als diese die AVasseratmung aufgaben uud mittelst blinder, von der Korperwand eingebuckteter Hoklsacke Luft zur Befriedigung des Sauerstoffbediirfnisses eiuzogen. Peripatus katte die einfacke Eiuricktung bewakrt, wakrend die gesteigerte Lebeuseuergie anderer Gruppen der Uriusekten die Vervollkommnung zum reick verzweigten Trackeennetzwerk kerbeifiikrte . Andere Eigensckafteu zeigeu die Exkretionsorgane, bestimmt zur Absckeiduug uud Ableituug der beim Stoftwecksel erzeugten sckadlickeu Auswurfstoffe des Korpers. Bei Peripatus besitzen sie den Typus der Exkretionsorgane der Gliederwiirmer, niimlick enge, zarte, vielfack geknauelte Kanalcken von grofier, den Fulistummelcken entspreckender Zakl, welcke an der Basis der FuBstummel aus- rniindeu. Solcke Organe kommen wieder den Insekten nickt zu. Ikre Exkretionsprodukte werden durck Malpigki'scke GefaBe des Darmes ausgesckiedeu, ein im Tierreick ganz einzig dastekendes Verkalten, da sonst der Harn durck getreunte Kauale abgeleitet wird. Die Abbildung (Fig. 81) illustriert die Verhaltnisse der Honigbiene. An der Greuze zwiscken Mitteldarm und Enddarm kaugen die zakl- reicken Exkretionskanale. Sie mlisseu ikr Sekret in die Darmkokle selbst entleeren, wakrend dasselbe bei Gliederwiirmern und Peripatus aus zaklreicken Exkretionsporen der seitlicken Korperwand traufelt. Bei den Krebsen liegeu die gleickwertigen Organe sogar in der Kopfregiou uud miiuden an der Basis von KopffuBen. Peripatus wiircle kraft dieser Eigenart zu den Gliederwiirmern niikere Beziekungen kabeu uud eine Etappe der Stammesgesckickte versiunbildlickeu, auf welcker die Bilduug der Atemorgane nack dem Insekteutypus bereits eingeleitet war und die Entfernung der Gliederwurm-Exkretionsorgane nock nickt begonnen katte, nursckade, dass sick bei den Insekten gar keine Spuren des ekemaligen Besitzes der gleicken Organe finden. Die Slammesgescbichte der Arthropoden. 143 Das N erven system voii Peripatus fiillt gar nicht in den morpbologiscbeu Typus der Gliedertiere. Auf dem Boden der Leibesboble zieheu zwei weit von einander abstebeude Langsnerven- striinge olme regelmaBig eingestreute, segmeutalen Abstand baltende, Ganglieukuoteii, nur durch feine Nervenquerbriickeu verkniipft. Da fiir Insekten imd Krebse das Strickleiternervensystem. (Fig. 81) die Regel bildet uud die einfacben Gliederwiirrner, welcbe einer niederen stammesgescbichtlicben Stufe zugeboren, die gleicbe Auordnung verraten , so scbafft der verscbiedene Bau bei Peripatus neue Ver- legenbeit. Denn die Urabnen der Insekteu iniissen docb die Form des Nerveusystemes, welcbe mit zaber RegelrnaBigkeit bei samtlicbeu Gliedertieren auftritt, besessen baben, urn I 7? sie auf die Nacbkommeu zu iibertragen. Die eiufacbste Gruppe unter den Tracbeenatmeru bildeu die TauseudfuBer oder Myriopoden (Fig. 60). Bei ober- flacblicber Betracbtung eiuigerniaBen dem Peripatus abnlicb scbeiden sie sicb scbarf von demselben, well der Korper in zabl- reicbe Segmente (15 — 70, 100, 150 uml mebr) gegliedert ist, dereu jedes ein paar kurzer gegliederter Beine tragt. Dadurcb treten sie zugleicb in eiuen anatomiscben Gegeusatz zu den Insekten uud Spinneu, welcbe rnittels drei oder vier Bein- paaren gebeu. Icb will von der Auf- zabluug weiterer Unterscbiede abseben. Jedes Lebrbucb fiibrt dieselbeu an imd ibr Gewicbt ist so groB, dass die Desceu- denztbeoretiker wieder recbt gewagte An- nabmeu niacheu miisseu, urn ibre Lebre scbeinbar zu begriinden. Haeckel1) urteilt iiber Peripatus: ,,Natiirlicb ist dieser letzte moderne Uberrest jener ur- alten Gruppe nicbt als der unveranderte ,Stammvater der Tracbeaten' anzuseben; er wird sicb aber von diesein bypotbetiscben Stammvater nu'r wenig eutfernen; uud wir konneu mis leicbt eiue Reibe von Zwiscbenstuf en vorstellen, welcbe von Protocbaeten (den Urborstenwiirmern) zu den altesten Urluftrobrtieren biniiberflibrten . Die Entwickelung der letztereu aus den ersteren wird scbon in der carnbriscbeu Periode stattgefuudeu baben." Fig. 82. Tausendf ii G er. A. Julus uiaxiuius, TauseudfuC. B. Sco- lopentlra morsitaus , Baudassel. System. Phylogenic. II. Bd., p. 669, 671. 144 Neuntes Kapitel. ,,Als gemeinsame Stamrngruppe der Myriopoden miissen wir eilie hypothetische Ordnung der Prochilopoden (d. h. UrtausendfiiBer) annekmen, welche durck eine Reike von Zwischenformeu rait ihren Urluftrokrtier-Aknen verbunden war. Gleich den letzteren wird dieselbe schon in cambrischer Zeit gelebt haben." Die Krebse unterscheiden sich von den Trackeentieren und den Gliederwiirmern so stark, dass Haeckel und audere Forscker die kypotketiscken Stamrngruppen der Krebse und der Trackeenatmer auf versckiedeneFormeu von Gliederwurm-Aknen zariickfiihren miissen. Als Ergebnis der sog. stammesgesckicktlicken Wissensckaft ist folgender Stammbaum zu betrackten, von dessen Asteu nur die durcksckossen gedruckten Zweige wirklick bekannt sind. Krebse Spinnen Insekten I Urkrebse TausendfiiBer T. I I / reripatus B o r s t e n w iir m er Urtracbeenatmer \ /' Urborstenwiirmer Urgliederwiirnier Sie seken aus diesem Sckema, welckes lebkaft an den auf Venus und Aeneas zuriickfiikreudeu Stammbaum des Kaisers Augustus er- iuuert, dass die Stammesverwaudtsckaft der Gliedertiere weit entfernt, bewieseu zu sein, keute nock ganz in der Luft stekt. Die lebenden Gruppen sind durck auatomiscke uud biologiscke Merkmale so sckarf von eiuander gesckieden, dass bloss der seknlicke Wunsck, von Verbindungsgliederu sprecken zu konneu, zur Bildung neuer Namen und einer absolut oberflacklickeu Ckarakteristik der kypotketiscken Eigensckaften jener Stammkalter Anlass giebt. Solck tkeoretisck kou- struierte Tiere werden jedock niernals lebensfakig, weil sie, wie Lecke treffend bemerkt, im Studierzinimer empfangen uud geboren wurden. Die kritiscke Betracktuog der Anatomie von Peripatus kat gleick friikeren Fallen ick erinnere an Arckaeopteryx, das Scknabeltier, die Luugenfiscke - - dessen koke Einsckiitzung als pkylogeuetisckes Beweisstiick zerstort. Er wird von den Descendenz- tkeoretikern selber nur als ein Seitenast, nickt mekr als wirklicke Stammform betracktet. Die pkylogenetiscke Spekulation ist ebeu in ein tkatsacken- leeres Gebiet verirrt und muss sick durck oberflacklicke Redensarten iiber das eigene Fiasko kinwegtiiuscken. Unzweifelkaft wiirde jeder Protest einlegen, wenn einer unserer Bekanuten folgendes Verkalten Die Stammesgeschichtc der Arthropoden. 145 an den Tag legeu wollte. Er, der niemals im Gebirge gewesen war, machte eine Alpenreise, sageii wir nach Tirol und begniigte sich mit der Fusswanderung im Thai, er folgt also der Brennerstrasse nach Siiden bis Bozen. Wenn dieser Mann uach seiner Kiickkehr nicht bloss iiber die Gegend, die er zu Fuss durchwanderte, sondern auch iiber die Formen der Gipfel in den benachbarten Hohen der Stubaier, Zillerthaleralpen, Passeierberge und Dolomiten Angaben machte und uus die Schwierigkeiten oder Bequemlichkeiten dieses oder jenes Aufstieges zum Gipfel erlautern wollte , wiirde er bald Widerspruch erfahren, denn jedermann ist es selbstverstandlich, dass man iiber die touristische Geographie einer Gegend nicht reden kann, wenn man sie nicht auf vielfacheu Pfaclen durchstreift und durch eigene Anschauuug kennen gelernt hat. In einer ahnlichen Lage wie unser Fusswanderer befindet sich die Descendenztheorie. Sie bestrebt sich, detaillierte Angaben iiber Ereignisse und Vorgange zu macheu, die man nicht gesehen hat und nicht sehen konnte. Deshalb sind ihre Darlegungen direkt abzuweisen ; jemehr wir in die Eiuzelheiten eindriugen, verliert die aus einer gewissen Entfernung recht schon erscheineude Theorie den Schein der Richtigkeit, umso gro'Ber erscheint die Schwierigkeit, ihre Anerkennung in nachsterZeit erwarten zu diirfen. Bei dem krampfhaften Suchen nach Zwischeu- formen ist der Peripatus zu dem Ansehen eines Stammvaters der Insekten gekommen, obgleich ihm eigentlich alle Eigenschaften mangeln, welche einem Stammvater zukommen miissten. Es fehlt die Gliederung des Kurpers, die gegliederten Beine, das gegliederte Nervensystem, und die Exkretionsorgaue sind anders gebaut Das einzige, was der Peripatus mit den Insekteu anatomisch gemeinsam hat, ist die Thatsache, dass seine Atemorgane als Tracheen entwickelt sind, aber bei ihm sind es geschlossene Siicke, die biischelweise stehen, bei den Insekten reich verzweigte Rohreu, die als zusammenhangendes Netzwerk erscheinen. Infolge dieser anatomischen Verschiedenheit zwischen Peripatus uud Insekten muss die Descendenztheorie eine Menge von ausgestorbenen und vollig unbekannten Zwischenformen annehmen, damit die Behauptung aufrecht erhalten werden konne, der Peripatus sei als Vorfahrenform der Insekten zu betrachten. Was die Insekten selbst anlaugt, so wissen wir iiber deren Ent- steheu nichts, trotz ihrer groBen Zahl1): es giebt 220000 Arten, 93000 Arten Kafer, 30700 Arten Hautfliigler, 44500 Arten Schmetterlinge, 24400 Arten Fliegen, 17000 Arten Wanzen. Wenn sich das ungeheure Material in stammesgeschichtlicher J) A Gunther, Numbers of Zoological species known in the years 1830 and 1881. Ann. nat. hist. 6. ser, vol. 17, 1896, p, 180. Fleischmann, Descendenztheorie. 10 146 Nenntes Kapitel. Eichtung katte verwerten lasseu konnen, so katte das anatomi- sche Studium desselben, dessen Unvollstandigkeit ich gern zugebe, dock immerkin einige Ankaltspunkte flir die Verwandtsckaft lieferu sollen, aker die letzten 40 Jakre kaben gezeigt, dass die Grenzlinien zwiscken den einzelnen Gruppen auBerordentlick sckarf sind, ja sie ersckeinen bei tiefer eingekendem Studium nock sckarfer, als wir sie vorker zu vermuten wagten. Wegen der ungiinstigen Sacklage erwakuen auck die Ankanger der Descendenztkeorie von der Stammes- gesckickte dieser Gruppe sekr wenig. Wenn Sie die populareu Sckriften nackscklagen, so werden Sie liber die Entstekung der Insekten nur einige Zeilen gedruckt finden, und die ausfiikrlicke Darlegung eines stammesgesckicktlicken Zusammenkanges vermissen. Zehntes Kapitel. Die palaeontologische EntwickluDg einer Siiss- wassersctmecke, Da das stammesgeschichtliche Resultat fiir den Typus der Gliedertiere keine ausreichende Befriedigung gewahrt, heben viele die ,,vollstandige Einsicht in den Gang phylogeuetischer Trans- formation" bei den Weichtieren, den Mollusken, hervor. Die Gehause derselben widerstehen der zersetzenden Wirkung der Faulnis, der Atmospharilien und des Wassers lange Zeit und werden versteinert in ungeheurer Zahl gefunden. Nach ZitteTs Schatzung sind ungefahr 6000 — 7000 fossile Tintenfische, 10000 fossile Schnecken , mehr als 5000 fossile Muscheln bekannt, welchen als jetzt lebende Weichtiere ungefahr 140 Arten Tintenfische , 16100 Arten Schnecken, 5000 Arten Muscheln gegeniiber stehen. Das reichhaltige Material hat nach dem Erscheinen von Darwin's "Werke die Descendenztheoretiker hauptsachlich zu palaontologischen Studien angeregt in der Hoffnung, dadurch die Richtigkeit der Abstammuugslehre zu demonstrieren. Ohne zuniichst auf die Tinten- fische und Muscheln genauer einzugehen, lenke ich Ihre Aufmerk- samkeit auf die fossilen Schnecken und nenne davon nur drei Beispiele: Planorbis multiformis Hilgd. aus Steinheim (Wiirttemberg), die Gattung Vivipara Lam. in Slavonien, Insel Kos, Atolien, und Melanopsis Fer. in Nordsyrien, ani Orontes, Griechenland. F. Hilgendorf hat zuerst (1866) durch die paliiontologische Untersuchung der Reste von Planorbis die allmahliche Gestalt- veranderung der Organismen beweisen wollen. Wenige Jahre spater hat der ausgezeichnete Wiener Palaontologe M. Neumayr1) in Verbindung mit C. M. Paul die Schalenreste der Gattung Vivipara, zu der die bei uns einheimische, lebendig gebarende J) M. Nenmayr u. C. M. Paul, Die Kongerien- uud Paludinenschichten Slavonians und deren Fauna. Abhandl. d. K. K. Geolog. Reichsanstalt Wien, Bd. VII, Heft 3, 1875. 10* 148 Zehntes Kapitcl. Surapfschnecke , Paludina vivipara gehort, in weit ausgedehnten Schichten Slavoniens verfolgt. In neuester Zeit sind Schalenreste von Melanopsis aus Nordsyricn durch Blankenhorn1) und aus Griechenland durch Oppenheim2) beschrieben worden. A lie diese Untersucber geben von der Thatsacbe aus, dass in den iiber einander liegenden Schicbten der Gesteinsrinde unseres Planeten auf verscbiedenen, oft nahe benacbbarten Horizonten Scbalenreste von Scbnecken gefunden werden, die sich teils durch die Grofte und allgemeine Form, teils durch Skulpturen und Ver- zierungsvorspriinge wesentlich unterscheiden, und suchen durch das Studium der Lagerungsverhaltnisse und das Aufspuren von Uber- gangsformen den Nachweis fiir die Umbildung der geologisch zu- sammengeworfenen Scbalen zu erbringen, indem sie dieselben nicbt bloss als raumlich benachbart, sondern auch als genetisch zu- samraengehorig, d. h. als Glieder einer blutsverwandten Sipper einer phyletischen Umbildungsreibe betrachten. Wer nun einen kurzen Bericht iiber solche Untersuchungen, noch dazu in popular - wissenscbaftlicben Scbriften liest, gewinnt leicht den Eindruck, als sei wirklich ein strikter Beweis gcfiihrt; wer jedoch tiefer in das scbwierige Detail soldier Darlegungcn eindringt, erkennt, dass die scheinbar beweisende Sprache der versteinerten Scbneckeuurkunde eigentlich nichts besagt. M. Neumayrund C. Paul3) betracbtetenSiiBwasserablagerungen in Slavonien von ungeheurer Machtigkeit als besonders giinstig fiir eine descendenztheoretische Untersuchung, weil bier eine lange und ununterbrochene Schichtenreihe des oberen Miocans liegt, welche unter gar nicbt oder ganz unmerklich sich andernden Bedingungen abgesetzt wurden. Die Schichten lassen sich in acht Horizonte einteilen, deren jeder verschiedene aus einander sich herausbildende IVIolluskenschalen aufweist. Neumayr konnte aus den zahlreichen dort gesammelten Versteinerungen vier auf den erstcu Blick geradezu verbliiffende Entwickelungsreiben von Schnecken der Gattung Vivipara Lam. und Melanopsis Fer. zusammenstellen. Wir wollen eine derselben betrachten3) (Fig. 83). ,,Auf den unteren Paludinen- schichten tritt eine vollstandig glatte Schalenform mit gerundeten Um- gangen (Vivipara Neumayri) auf; allmahlich flachen sich die Windungen abund das Gehause nimmt eine kegelformige Gestaltan (Vivip. Suessi), die Umgiinge werden treppenformig abgesetzt (Vivip. pannonica), J) M. Blankenhorn, Zur Kenntnis der Susswasserablagerungen und Mol- lusken Syriens. Palaeontographica, Bd. 44. 1897. 2) P. Oppenheira, Beitrage zur Kenntnis des Neogens in Griechenland. Zeit- schrift d. deutsch. geolog. Gesellsch. 1891. 3) Neumayr u. C. Paul 1. c. S. 98. Die palaeontologische Entwicklung einer SiiGwasserschnecke. 149 auf ihrer Mitte erscheiiit eine Einsenkung (Vivip. bifarcinata), diese Einsenkimg wircl ttefer, der obere Teil der Umgiinge zeigt einen schmalen, wulstigen Kiel, !) der untere eine breite Auf bauchung (Vivip. stricturata), die untere Auf bauchung erhalt ebenfalls einen stumpfen Kiel (Vivip. notha); nun werden beide Kiele scharf und riicken bis auf die ersten Umgange hinauf (Vivip. ornata), und endlich tretcn auf dem unteren Kiele zackige Kuoten auf (Vivip. Hoer- nesi)." Diese Varietateu lagern in der Weise , dass Vivipara bifarcinata, stricturata, notha, ornata, Hoernesi jede ein eigenes Niveau, eine iiber der andereu einnehmen , so dass die geologische Reihenfolge genau der Form- entwickeluug entspricht; sie erfiillen die mittleren und oberen Paludinenschichten wahrenri die drei ersten Formen,Vm- para Neuinayri, Suessi und pannonica in dem groBen, noch nicht weiter ge- glieclerten Komplexe der unteren Palu- dinenschichten liegeu. Piir Melanopsis der slavonischeu Schichten nimmt Neunaayr die Abstamm- ung von einer glatten Urform an, aus welcher sich Formen mit starker wer- denden Rippen (d. h. senkrecht zur spiraligen Langsachse stehenden Wiilsten der Schalenoberflache) entwickelten, wahrend in einer anderen Reihe die Rip- pen verschwinden und wieder glatte Formen auftreten. Blankenhorn und Oppenheim haben kiirzlich andere Umbildungsreihen fiir die Gattung Melanopsis beschrieben. Aus langsgerippten Schalen bilden sich gekielte Formen, indem jeder obere und untere Rand der Langsrippe sich knotenartig verdickt und die benachbarten Knoten allmiihlich mit einander verscbmelzen. So entsteht am oberen und unteren Rande jeder Schalenwindung ein Kiel, wahrend die Liingswiilste verschwinden. Ich will aber auf diese Beispiele nicht naher eingehen, weil dieselben bisher nicht kritisch nachkontrolliert wurden. Neumayr's Fig. 83. Entwicklun gsreihe vonVivi- para. Nacb Neumayr. a V. Neumayri, 6 V. Suessi, c V. bifarcinata, d V. stricturata, e V. notha, f V. oruata, g V. Hoernesi. l) Kiele sind spiralig an der Schale hinziehende Wtilste. 150 Zehntes Kapitcl. Ansicht wurde nur von seinem Schiller Pen e eke bestiitigt, B Ian- ken horn und Oppenheim folgen gleichfalls der Neumayr'schen Denkrichtung. Eine lebhaftere Diskussion aber hat sich urn die Deutung der Schalen von Planorbis multiformis Hilgd. in den ober- miocanen SiiBwasserkalkschichten des Klosterberges von Steiuheim. bei Heidenheim an der Brenz1) entsponnen. Dieselben haben seit langer Zeit das Interesse der Geologen erweckt und sind, weil die Fundstatte so glinstig liegt, vielfach durchforscht word en. Jnfolge dessen konnen wir diese Thatsachen als viel gepriiftes Material der Betrachtung zu Grunde legen. Man kennt etwa 150 lebende, in der nordlichen gemaBigten Zone verbreitete Arten der Gattung Planorbis. Die groBte der- selben, die groBe Tellerschnecke, Planorbis corneus (Pfeiff.) lasst den Charakter der Schalenbildung bequem erkennen. Ihr Ge- hause ist in der Ebene spiralig eingerollt, also scheibenformig mit vielen regelmaBig wachsenden, d. h. von dor Spitze gegeu die Miindung sich erweiternden Windungen. Hilgendorf hat nun in Steinheim Schalen gefuuden, welche teilweise der Tellerschnecke recht iihnlich, d. h. scheibenformig siud, teilweise eiue hohe kegel- iormige Gestalt besitzen und auBerdem eine groBe Menge von Schalen mit gemischten Formcharakteren. Manche sind ganz flach, scheibenformig und zeigen rundliche oder nur mit stumpier Kaute versehene Urngange; andere sind scheibenformig, aber die Umgange tragen deutliche Kiele; eine dritte Gruppe von Schalen neigt zu kegelforrniger Windung; eine vierte Gruppe hat die Schalen- umgange iiberhaupt nicht mehr in der Ebene liegend, sondern frei korkzieherartig in die Hohe geschoben. Der wissenschaftliche Name Planorbis multiformis Hilgd. dient also zur Bezeichnung einer ziemlich groBen Mannigfaltigkeit von Schneckenschalen und bezieht sich nicht auf einen ganz bestimmten Forrnzustand wie etwa Planorbis corneus. Hilgendorf unterscheidet 19 Varietaten: denu- datus, costatus, oxystomus, revertens, suprernus, Steinheiniensis, Kraussii, aequeumbilicatus, parvus, minutus, crescens, triquetrus, tenuis, pseudotenuis, discoideus, sulcatus, rotundatus, trochiformis, elegans. Die samtlichen Formen sind, wie Hilgendorf angiebt, in einer oberen Schicht durch einander gemengt, aber in tieferen un- aufgewiihlten Schichten liegen die verschiedenen Varietaten nach be- stimmten Regeln verteilt und verlaufen nur in gewissen Horizonten durch Ubergange in einander. Die Machtigkeit der beobachteten l) F. Hilgendorf, Planorbis multiformis im Steinheimer SiilSwasserkalk. Ein JBeispiel von Gestaltveranderung im Laufe der Zeit. Monatsber. Akad. d. Wiss. Berlin 1866 p. 474. Die palaeontologische Entwicklung einer SiiBwasserschnecke. 151 10 9 Schicbten wiirde sich auf etwa 13 Meter belaufen, wenn sie an der namlichen Stelle samtlich entwickelt wareu. In der gesamten Schichtenfolge verteilen sich die Varietaten in der Weise, dass einzelne Schichten als Sckichtenfolgen durch das ausschlieBliche Vorkommen oder durch das Yorherrscheu einzelner oder mehrerer Varietaten charakterisiert werden, welche sich inner- halb der Schichten konstant oder wenig variierend verhalten, zur Grenze gegen die folgende Schicht bin aber durch "Obergange zu den nachfolgenden Formen hiniiberfiihren. In der unteren Schicht sind von den 19 Varietaten nur zwei vorhanden: Planorbis parvus und Steinheimensis, deren scheiben- formige Schalen rundliche Umgiinge zeigen; nach und nach treten die anderen hoher gewundenen und turmahnlicheren Formen auf und vergehen wieder, nur supremus behauptet zuletzt noch das Feld. In den dazwischen liegendeu Schichten ist der Formen- reichtum oft viel bedeutender, er geht bis zu sechs Varietaten in derselben Schicht. Dieses Verhalten gestattete die ganze Ablagerung in zehn Zonen zu teilen und die Entwickelung der Varietaten des Planorbis multi- forrnis dieser Zonen in Form eines Stanimbaumes1) darzustellen: supremus crescens 8 costatus crescens denudatus | 7 costatus minutus re vert ens oxystomus costatus minutus costatus minutus triquetrus discoideus trochiformis elegang pseudotemiis rotundatus trochiformis pseudotenuis 3 2 minutus I minutus minutus parvus discoideus i sulcatus I tenuis Steiuheimensis pseudotenuis Kraussii I Kraussii I Kraussii I Steinheimensis aequeumbilicatus Hilgendorf 1. c. S. 476. 152 Zehntes Kapitel. So iibersichtlich der nebenstehende Stamnibaum auch erscheinen mag, vor lebhaftem Widerspruche 1st er nicht bewahrt geblieben. A. Hyatt1), der das gleiche Material in Steinheim studiert hat. weicht in mehreren Punkten von Hilgendorf ab. Trotzdem beide Steinlieimeiiais aequeumbilieatuo Fig. 84. Stammbaum der Planorbis multif ormis. Nach Hilgendorf. Aus Zittel's Palaeozoologie.) Anhanger der Descendenztheorie sincl und darin iibereinstimmen, dass sich alle Planorbisindividuen durch Umbildung einfacher Urformen entwickelt haben, denkt sich Hyatt einen ganz anderen Verlauf der Starnmesgeschichte, den folgende Tabelle erlautert. J) A. Hyatt, the genesis of the tertiary species of Planorbis at Steinheim. Anivers. Mem. Boston Society of nat. hist. 1880. Die palaeontologische Entwicklung einer SiiCwasserschnecke. 153 IM • rH CO a CD CO '00 CO a a . rH pH f~~ CO CO CO CD '3 o a i- o 4-1 pH — i hiformi coideus 2 CD "•O • rH O o CO - r- < ^ a o a CD •| a ll a • rH O> rO. a "a • rH CD do V CO • rH CO — ^ — H O o 1— o 0 lH -r3 \ CO ^ _/ CO • rH nd -4-> '3 -r-> m CD -1-3 QQ 'I %* a a 5 IE -i ~ .rH O ^ r-H a h1 . -4-3 £* CO ^ CD ^ PH r' o rH fj & CO M v ^ 0 s-' CO > CO • rH t> CD 5_, CO ,- — N f N 0 I rH r^ a CD o CO rH O 0 CO co 53 co >_g'g- -1-3 co CO ^ ^"^ CD O> CS p ^ J-* c5 tn O O * -^ .2~T^ rH C -J^ IS 5- CD CD c^ c^ • rH * 7* •-H CO f> rj _ij CO rH * P— ' a CD • rt •— i a CO rH -t-> ^ O c3 c5 co co -u -^ O CO "w O O O 154: Zehntes Kapitel. Hyatt sieht alle Formen als direkte Abkommlinge von vier Varietatcn ciner Stammart, Planorbis levis an, welche vier Abarten bildete, bevor sie in den See von Steinheim einwanderte. Dieselben erzengten dort erst vier parallele Entwickelungsreihen, deren letzte Auslaufer einander ganz uniihnlich wurclen. Die Abweichungen der beiden Stammbaumentwurfe werden dadurch begreiflicher, dass Hilgendorf selbst mehrfach von der Schwierigkeit spricht, die Formen- reihe Planorbis parvus - minutus - crescens - - costatus mit den beiden anderen Hauptasten zu verkniipfen. Er vermutet, sie ge- schehe vielleicht durch aequeumbilicatus. Andere Forscher, Queenstedt, well. Professor der Geologie in Tubingen imd Fr. Sandberger, well. Professor der Mineralogie nnd Geologie in Wiirzburg haben die gleichen Fundstatteu zum Teil scbon vor Hilgendorf besucht und behaupten, dass Hilgendorfs Angaben liber die reinliche Scheidung der einzelnen Planorbisformen in verscbiedenen Schichten sich an den natiirlichen Aufschliissen der Steiuheimer Sandgruben nicbt so scharf erkennen lasse, wie sie in Worten prazisiert worden sei. Anch Hyatt stimmt ibrer Ansicht bei. Queeustedt nirnmt sogar an, die Besitzer der Planorbisscbalen hatten iiberbaupt nicbt im bypothetiscben Steiubeimer See gelebt, die Schalen seien vielmebr in jene Gegend spater zusanimen- geschwemmt worden; so sei ims durch einen giinstigen Zufall eiu Komposthaufen fossiler Schneckeureste dort erbalten worden. Die drei Forscher erheben also mehr oder wenig deutlich den Vorwurf gegen Hilgendorf, er habe der Theorie zuliebe nianche Thatsachen der geologischeu Anordnung nicht so scharf hervor- gehoben, als es eine naturwissenschaftliche Untersuchung erheische. Ihr Widerspruch richtet sich auch gegen die schwer verstandliche Angabe Hilgendorfs iiber die im Laufe der Stammesentwickelung geschehene Riickkehr zur alten Schalenform, welche in der Reihe von PJanorbis discoideus durch trochiformis, oxystomus zu revertens und supremus erfolgt sei. Da der sechsten, die kegelformigen Planorbis trochiformis- Schalen bergenden Schicht die Oxystomus-Zone tiber- lagert 1st, sah sich Hilgendorf zu dem Schlusse gezwungen, dass die Trochiformis-Schnecken Nachkommeu erzeugt hatten, welche uuter Niederdriickung der Schalenspirale und Abrundung der Um- gange allmahlich zu dem friiberen Schalentypus des Planorbis Stein- heimensis zuriickgekehrt seien und bezeichnet darum die auf oxy- stomus folgenden Schalen als revertens. Die Darstellung seiner Ansicht1), die irn Wortlaute zu studieren 1st, zeigt zudem, wie schwer ihm der Nachweis dafiir geworden ist und erscheint mir nicht 1. c. p. 495— 497. Die palaeontologische Entwicklung einer Siifjwasserschnecke. 155 zwingende Beweiskraft zu besitzen. Queenstedt dagegen bekauptet, er konne sick iiiclit davon iiberzeugen, dass die flachgewundenen Sckalen der Hilgendorfschen Varietiit revertens der obereu Schichten eine wesentlick andere Gestalt besitzen als die Flacksckalen von Planorbis Steinkeimensis in den tiefsten Sckickten. Jedenfalls sind die geologiscken Lagerungsverkiiltnisse der Flacksckalen nickt ein- deutig, weil auck Hyatt der Meinung Hilgen- dorl's nickt beipflicktet. Queeustedt giebt ferner an, die nrittlere Zone konne als Haupt- musckellager bezeicknet werden, denn man findet dort fast alle von Hil- gendorf besckriebenen Forrnen bunt durck ein- ander gewiirfelt, wie es die beistekeude Figur 85 zeigt. Diese Tkatsacke wird von Hilgendorf nickt direkt geleugnet, versckiedene Stellen sei- ner Arbeiten betreffen derartige Befunde, d. k. Sckickten, wo die ein- zelnen von ikm unter- sckiedenen und in eine pkylogenetiscke Reike geordneten Varietaten wirr durck einander ge- worfen sind, so dass der Beobackter fiircktet : ..alles miisse sick in endlose Verwirrung auf losen." An manckeu Stelleu der Gruben lasst sick der Entwickelungs- modus nickt regelreckt entziffern, die klare Sckicktung rnackt einem unerquicklicken Ckaos Platz. Oft verkindert Grundwasser das saubere Abputzen und Studieren der Fliicken, an anderen Stellen driingt Jurakalk oder Tkon kervor, okne dass man eine Planorbis- sckale benierkt. Dann miissen andere Gruben erganzend eintreten, und der deutlickere Befund derselben die Liicken der anderen erganzen. Sandberger1) betout gleickfalls, alle Formen bleiben J) Fr. Sandberger, Die Land- und SiiCwasserkonchylien der Yorwelt. Wies- baden, C. W. Krcidel 1870—1875. S. 630 — 648. Fig. 85. Gesteinsprobe aus den Kalkbiinken von S tein- heim, enthaltend Schalen von Carinifex multiformie, Lymnaeus socialis, Gyllia utriculosa. 156 Zehntos Kapitel. nicht auf die von Hilgcndorf augegebenen Niveaus beschrankt, son- dern finden sich, wenn auch zum Teil nur vereinzelt, iu hoheren oder tieferen Zonou wiedcr. Diese kurze Skizze der Diskussion zeigt Ihnen den Widerspruch der Fachgelehrten und lehrt zugleich, dass die natiirlichen Befunde nicht so eiudeutig und durchsichtig sind, wie der Laie nach einem schriftlichen Berichte auzunehmen geueigt ist. Zum Belege schiebe ich den summarischen Bericht eines hervorragenden Zoologcn, dcs Professors A. Wcismanii in Freiburg ein, gegeben kurz nach dem Erscheiuen der Hilgendorf' schcu Abhandlung1): ,,Was Ubergangsformen zwischen verwanclten Spezies be- trifft, so wird es Palaeontologeu, denen ein schr reiches Material zu Gebote steht, gewiss nicht schwer sein, solche in Menge aufzufinden. Eine speziell auf diesen Punkt gerichtete Arbeit ist neuerdings bekannt geworden. Sie bezieht sich auf eine im Steinheimer SiiBwasserkalk zu Millionen vorkommende Schnecke der Gattung Planorbis. Hilgendorf unterscheidet von derselben 19 Varietiiten, welche so wesentlich von einander verschiedeu sind, dass man sie fur Arten halten wiirde, hiitte man sie einzeln vor sich, ohue die verbindenden Cbergange. Nun findet sich jede Varietiit nur in einer ganz bestimmten Zone der Ablagenxng und zwar liegen sie nach ihrer Verwandt- schaft geordnet iiber einander, und die Hauptformen sind durch Ubergange verkniipft, die wiederum nur in den Grenzschichten der Zonen vorkommen. Wir haben also bier die Entwickluiigsgeschichte einer Art vor uns, die Umwandhmg, die sie ini Laufe vieler Jahr- hunderte durchgemacht hat."2) Durch meinen Bericht iiber die Meinungsdifferenzen der Fach- gelehrten haben Sie bereits erfahren, dass Weismann die Schichten- ordnung der Planorbisschalen etwas iiberschiltzt. Gerade in der 1) A. Weismann, tTber die Berochtigang der Darwin'schen Theorie. Aka- demischer Vortrag, gebalten am 8. Juni 1868 in der Aula dor Universitat Frci- barg. Leipzig, W. Engelmann 1868. p. 16. 2) In dem angezo^enem Vortrago wurde der kurze Bericht iiber Hilgen- dorfs Untersuchungen benutzt, um darzulegen, daB tTbergangsformen zwischen Arten vorhanden sind. Weismann sagte kurz vorher (p. 16 oben):] ,,0bgleich offenbar nur ein kleiner Bruchteil der untergegangenen Tierwelfc in fossilem Zustande sich erhalten konnte, und obgleich wiederum von diesem Bruchteil nur ein ganz kleiner Teil der Beobachtung offen steht, da man erst einen kleinen Teil des Festlandes und noch gar nichts vom Meercsgrund auf fossile Reste untersucht hat, so ist es dennoch jetzt bereits moglich, tTbergangs- formen in beiderlei Sinn nachzuweisen, und die Behauptang, daC dieselben fehlen, muC aufgegeben werden." Die palaeontologische Entwicklung eincr SiiOwasserschnecte. 157 Unklarheit clcr natiirlichen Befunde ist die Sch\vierigkeit des ganzen Problemcs begriindet. Wenn Sie (Fig. 85) eiu Probestiick anschauen und die vcrschicdenartigsten Schalenformen dicht neben einaiider sehen, so ist es unmoglich auszusagen, ob zwei dicht benachbarte, vielleicbt einen halbeu Centimeter entfernte Flachschalen Eltern, Geschwister oder Vettern seieu. Wer kann mit Bestimmtheit an- geben, die beiden gleicbschaligen Tiere batten gleichzeitig gelebt? Wenn sich nun die Unterschiede benacbbarter Formen steigern, d. h. wenn flach- und bochgewundene Schalen dicht bcisammen liegen, wird es noch schwieriger, das genetische Verhaltnis derselben zu erbellen. Die wissenschaftliche Pflicht des Naturforschers wiirde vergessen, wollte einer bebaupten, dass sie in blutsverwandtschaft- licbem Verhaltnisse steben. Es gebt in diesem Falle, wie wenn wir uns kurz nacb ciner ttberschwemmung in das trocken gewordene Inundationsgebiet eines Flusses begeben und da uud dort Haufen leerer Gehause von Wasserschnecken finden. Niemand wird es einfallen, mit Bestimmt- heit zu behaupteu, dass die Besitzer der zufallig angetroffenen Schalen in nachstcr Nahe der Fundstatte ihr Leben hinbrachten, und dass sie die Glieder einer eng verwandten Familie seien, weil wir alle aus Erfahrung wissen, in welch' kurioser Weise die Wasser- fluten irgend welche Gegenstande au einer Stelle zufallig zusammen- spu'len. In den Schichten der Gesteinskruste unseres Planeten findet der Palaeontologe die Eeste der ausgestorbenen Arten, Skelett- teile oder Schalen, wirr zerstreut und ist in noch schlimmerer Lage als der Untersuchungsrichter, welcher eine Leiche im un- bewohnten Berglande findet und die Personalien, Heimat und Ver- wandtschaft des Ermordeten feststellen soil. Er ist nicht im stande zu sagen, ob das Tier, dessen leeres Gehause im Sande auffallt, an der betreffenden geologischen Fundstatte gelebt hat, ob sie durch Zufall, seien es nun Regengiisse oder Flussiiberschwemmungen, an den Platz verschleppt wurde, oder ob sie bei cler Eintrocknung eines "Wasser- beckens nabe dem urspriinglichen Uferrande liegen blieb, wo sie nach Tausenden von Jahren der Mensch auflas. Abcr da wir alle die Frage stellen und Antwort heischen, wird sie gegeben, wenn- gleich in limitierter Fassung und erscheint dann manchen als sicherer Entscheid. Es ist wohl begreiflich, dass jeder nach dem etwas trockenen, vergleichenden Studium fossiler Stiicke gewissermaBen zur Erholung sich Gedanken iiber die Lebensgeschichte der versteiuerten Tier- reste bildet. Er wird dariiber eine gewisse Yermutung, seine sub- jektive Meinung aussprechen, iiber die sich reden lasst. Wenn je- 158 Zehntes Kapitel. doch solche Vermutungen gcdruckt und von anderen mit der Arbeits- mcthode der geologischen Wissenschaft weniger vertrauten Leutcn gt'losen werden, clann verwandelt siclinur allzuleicht die vermutungs- weise ausgedriickte Ansicbt in eine sicher stehende wissenscbaftlicbe Lebre und wird vora Laien falscb bewertet. Aucb in unserem Falle niuss der Naturforscber das exakte Ge- biet verlassen, wenn er Bildungsvorgiinge der PJauorbisscbalen scbil- dern will. An der Fundstclle sammelt er aus moglicbst vielen Scbicbten, welcbe nach dem iibereinstimmenden Urteile aller Unter- sucber im Geliinde nicbt so scbarf gescbieden sind, wie die kurze Beschreibung uns vermuten lasst, ein moglicbst reicbes, palaonto- logiscbes Material. Zu Hause werden die Scbalen von der anbaften- den Erde gereinigt, isoliert, und der Inbalt jeder Lokalprobe mog- lichst genau sortiert, inclem der Paliiontologe die einzelnen Scbalen genau vergleicbt und nacb ibrer Abnlicbkeit oder den Unterscbieden zusammenlegt. So kommt man allmahlicb dazu, bestimmte Forinen- typen aus der natiirlicben Mannigfaltigkeit bervorzubeben und sie aucb durcb die Nomenklatur zu kennzeicbnen. Endlich gelingt es, das gauze Material in Reiben zu ordnen, welcbe die Umauderuug einer Scbalenform in eine andere, einer flacben in eine bocb ge- drebte erlautern, etwa so, wie sicb verscbiedene Dreiecke derartig zusammenstellen lassen, dass ich an grapbiscben Figuren die Form- verwandtscbaft oder wie man lieber zu sagen pflegt, den Ubergang eines stumpfwinkeligen Dreieckes in ein recbteckiges und spitz- winkeliges Dreieck zeigen kann. Eine solcbe Reibe ist sicher keine starnmesgescbichtliche Reibe, aber den Mangel der direkten Beobacbtung des Geburtsvorganges und damit des unumstoBlicben Beweises wirklicber Blutsverwandt- scbaft unter den Gliederu der Scbalenformenreibe gleicbt der Pa- laontologe durcb ein ,,unbestrittenes Axiom" aus, welcbes Hi] gen- do rf1) also formuliert: ,.Formen, die mit auderen friiber abgelagerteu durcb geniigend fein abgestufte, in der Zwiscbenzeit erscbeineude Ubergangsexemplare in Zusammenbang gebracbt werden konnen, cliirfen als der friiberen leiblicbe Nacbkommen betracbtet werden." Wenn auf cliese Weise die Vielgestaltigkeit einer bestimmten Tierart einigermaBen iibersicbtlicb bearbeitet ist, ziebt der Palaon- tologe die geologiscben Beziebungen der Scbalenvarietaten in Be- tracbt. Er kebrt in das Gelande zuriick, um zu priifeu, ob die tbeoretiscb gewonuene Reibe trotz der bunt durcb einander gewor- fenen Lagerung aucb am Fundort sicb wiederspiegelt und verfolgt die F. Hilgendorf, Zur Strcitfrage des Planorbis multiformis. Kosmos 1879. Die palaeontologische Ent\vicklung einer SiiCwasserschnecke. 159 einzelnen Schalentypen von unten nach obeu durch die Schichten- relhe. Die abweichenden Behauptungen der Spezialforscker bezeugen, dass der Versucb in der Steiuheimer Gegend und an auderen Loka- litateu nicbt glatt geht, aber die Vorliebe fur eine bestimmte Idee veranlasst viele, die hemmendeu Thatsacheu, obue es zu wissen und zu wolleu, zu iiberseheu. Wenn, wie Hilgendorf beklagend bemerktj die klare Scbichtung einem unerquicklicben Chaos Platz macht und lokale Yerhaltuisse das genaue Studium eines geologiscben Aufscblusses verbieten, bort die exakte Analyse auf. Der Wunscb wird der Vater des Gedankeus. "Wir seben zu leicht das, was wir seben wollen, und nicbt das, was in der That vorhanden ist. Andere Untersucher (Hyatt, Queenstedt, Sandberger) fallen ein anderes subjektives Urteil, so entsteben Meiuuugsverschieden- heiten uud palaoutologische Stammbaunie, die eiuander recbt stark widersprecben. Sowobl iiber die Verbreitung der Scbalenvarietateu in den einzelnen Schichteu, als iiber die Formverwandtscbaft der isolierten Scbalen eutsteht der Streit, uud der uuleugbare Kontrast der Meinungen beweist, welcbe ungiinstige Befunde die Paliiontologen fiir die Untersucbuug eines entwicklungsgescbicbtlicbeu Vorgangs verwendeu wollen. Sobald man Hunderte und Tausende der Planorbisvarietaten in Formengruppen scbeidet und diese wieder nacb Formabstufungen in fortlaufende Reiben ordnet, wird der subjektive Entscheid des Gelehrteu notwendig und damit die Wurzel alles Streites gegeben. Dem einen erscbeinen mancbe Scbalenvarietaten naber verwandt als dem anderen. Er orduet sie desbalb in eine sog. Entwickelungs- reibe, welcbe sicb rait der einem anderen gefallenden Anordnung nicht deckt. Indeni Hilgendorf den Nacbdruck auf die Verteilung der Scbalenformen in verscbiedenen einander folgenden Zonen legte, ward er zu dem Glauben verfiihrt, dass eiue bocb gewuudene Form sicb in eine flacbe, damenbrettartige Plauorbisvarietat umgewandelt babe. Hyatt dagegen bat der Yergleicbung der Scbalenformeu boberen "Wert zuerkannt und die gemischte Lagerung verscbiedener Scbneckenabarten als sekundare Storuugen betracbtet. Infolge dessen sind beider Stammbaumentwiirfe recbt verschieden ausgefalleu. Hilgendorf glaubt 3 Hauptaste der Umbildung erkannt zu baben, wabrend Hyatt 4 Hauptreiben, ausgebend YOU vier Varietaten der Planorbis levis, uuterscheidet und die Riickbilduug der boch ge- wundenen trochiformis in supremus direkt ablehnt. Sie sebeu also, dass verscbiedene Forscber die ,,fein abgestuftentjbergangsexemplare" auf subjektiv abweichende Art gedeutet baben, dass nicht die That- sachen als solche uns zwingen, eine bestimmte Meinung zu hegen. 160 Zehntes Kapitel. soudern dass in der Ordimng fossiler Schneckenschalen lediglicb. das personliche Ermessen des jeweiligen Untersuchers entscheidet. Ebenso steht es dem individuellen Urteile des Lesers der Abhand- lungen frei, die eine oder andere Formenreihe vorzuziehen. Dass die minutioseste Analyse leerer Sckneckenkauser uns keinen Schritt dem hypothetischen stammesgeschichtlichen Vorgang naher fiikren wird, mag ein anderes Beispiel aus der vergleichenden Morphologie erlauteru. Die Wirbelsaule der Saugetiere zeigt in ihreu einzelnen Regionen (Hals-, Brust-, Leuden-, Becken-, Schwanz- region) recht betrachtliche Unterschiede iher reihenweise geordneten Elemente. Ohne eingekeudes Stadium mochte keiner akuen, dass der Fig. 86. Fig. 87. Fig. 86. Dritter S chwanz wirb el des Leoparden. Nach Flower. A Ruckenflacher B Vorderseite. Fig. 87. Zwiilfter Sch wanz wirbel des JJeoparden. Nach Flower. A Riickenflache. B Vorderseite. groBe Brustwirbel und irgend eiu unscheinbares Knocheustiick der auBersten Schwauzspitze einem gemeinsamen Formtypus unter- than sind. Der Brustwirbel zeigt liber einem groBen cylindrischen Korper eineu aufwarts geschlageneu oberen Bo gen mit einem langen Dorufortsatze und zwei seitlichen, mehr oder weniger wagerecht stehenden Querfortsatzen. An einem der vorderen Schwanzwirbel (Fig. 86) fehlt der Dorufortsatz , wahrend die Querfortsatze noch deutlicb sind. Eiuer der letzten Scbwanzwirbel stellt (Fig. 87) nichts als ein cylindriscbes Knocheustabchen dar. Wenn man aber samtliche Glieder der zwischen beiden eingefiigteu Wirbelreihe vergleicht, so erkennt man die allniahlicbe Veranderung aller in der Brustregiou rnachtig entfalteten Formcbaraktere und erhalt das Verstiindnis fiir den alle Wirbel beherrschenden Stil- typus. In der Richtung von vorne nach ninteu fortschreitend strecken sich die Wirbelkorper zu mehr und mehr cylindrisch er- scheinender Gestalt, die oberen Bogen nehmen stufenweise an GroBe ab und sckwinden, die Querfortsatze schrumpfen bis auf kleine Die palaeontologische Entwicklung einer SiiCwasserschnecke. seitlich rageude Restckeu ein. Schliefilich sckwindeu auch die Reste aller Ankauge bis auf den cyliudrisck gestreckten Korper des Wirbels. Ich kabe das Resultat der Wirbelvergleickuug jetzt mit wenig AYorteu auf 6 Druckzeilen berichtet. Wollte ick die natiirlicken Verkaltuisse getreu beschreiben, so wtirden viele Seiten gefiillt, und die stilistiscke Fassuug derselben wiirde sckrecklick eintonig, well der Wortreichtum unserer Sprache nicht kinreickt, die iiber- einstimmeudeu Eigenschaften von 20 — 40 Wirbeln mit versckiedenen Ansdriickeu zu sckilderu. Wir kelfen uns gewoknlick durck einen ab- kiirzendeu Berickt und gebeu die einfacke Formbesckreibung mittels Zeitwortem der Betkatigung: die Wirbelkorper strecken sick, die Bogeu nekmen an GroBe ab, die Querfortsatze sckrumpfeu zusamnieu. Der Fackgelekrte wird dadurck nickt irre gefiikrt, aber eiu weuiger tief eiudriugeuder Hcirer konute nack dem Wortlaute vermuteu . er lese die Besckreibuug eines wirklicken Vor- gauges, der unzweifelkaft von Vertrauen erweckendeu Milnnern der Wissensckaft beobacktet sei. Dieses Missverstandnis spielt in alle Darstelluugeu der Descendenztkeoretiker kereiu und lasst viele schlagende Beweise dort erblickeu, wo keiner zu gebeu ist. Fiir die Wirbelsaule wird niemaud bekaupten wolleu, dass ein vor- derer Wirbel nack kinten gerutsckt sei oder durck Fortpflanzuug audere Wirbel gezeugt kabe. die nack kinten rutsckend durck die Einfliisse der neueu uugewoknteu Lage im Wirbeltierkorper ikre Eigensckaft allniaklick veraudert katten. Denu jeder kennt die straffe Verbiudung aller Gliedstiicke der Wirbelsaule und wird nickt vermuten, dass es in grauer Vorzeit, damals als die Siiugetiere entstanden sein solleu , in dieser Beziekuug anders gewesen sei. Nun kounte man dem Dilemma durck die Bekauptung sick entzieken, dass die Yorfakren der Saugetiere eine aus gleickartigeu Wirbeln aufgebaute Wirbelsaule besessen katten, dereii Glieder durck den Eiufluss der Lage in vorderen oder kiuteren Regionen des Korpers allniaklick veraudert wurden. Damit geriit man aber in das Reick der Fabelu, deuu eine so gleickartige Reike der Wirbel; wie sie die Hvpotkese fordert. wird in der Natur sckwerlick ge- funden. Immer fallen Untersckiede der Glieder auf, gleickgliltig, ob in kokerem oder geringerem Grade. Wir vermogeu also wokl den allgemeiuen Bauplan innerkalb einer Reike versckiedeuartiger Wirbel festzustellen , okne dass das den Morpkologen voll be- friedigende Resultat uus dem kistorisckeu Vorgange der stilisti- scken Modifikatiou naker i'iikrt. Wenn die Formaknlickkeit vieler Naturprodukte uns den Sckluss nake legt, dass die variiereuden Formen durck maunigfacke, auf urspriinglick gleickartige Ausgaugs- Fleischmann. Descendenztheorie. 11 162 Zehntcs Kapitel. objekte wirkende Eiuniisse eutstanden seien, so darf derselbe in der Naturwissenschaft " uur als Anregung fiir eiue neue Untersucbuug dieneu, welcbe nicbt eher rasten will, bis sie deu vermuteten Prozess in all seineu Pbasen durcb Beobachtung wirklicb wabrgenornmen bat. Erfullt sicb die Hoffnung uicbt, wie es iu beiden hier besprocbenen Fallen gescbiebt. so bleibt der Scbluss eine unbewiesene, wertlose Vermutung und kanu nur dazu beitragen, unsere Unwisseubeit in einer bestimmten Frage den Laieu zu ver- biillen. Die fossileu Molluskenscbaleu sprecbeu uicbt deutlicber als die Stiicke der Wirbelsaule. Deun sie liegen als fertige Gebilde im Gesteiu und bieteu uns bloB die Moglicbkeit des Yergleicbes. AuBerdem siud sie ein recbt ungiinstiges Objekt fiir die Beweis- yersucbe der Descendenztbeoretiker. Die Forniverwandtscbaft der vielgestaltigeu, Planorbis multiformis genauuten Scbneckenscbaleu liisst sicb nicbt mit der Aviinscbenswerten Scbarfe erweiseu, weil die Gebause clurcbgebends sebr klein siud. Hyatt zeicbnet sie bei 2, 4 und Sfacber, Hilgeudorf bei Sfacber, auf der dem Zittel'scbeu Handbucbe entlebuten Figur 84 sind sie in audertbalbfacber Yer- groBerung abgebildet. Die flacben Scbaleu babeu eineu Durcb- messer von 1 — 7 Millimeter, von den bocb gewundenen Varietaten 1st denudatus 2 Millimeter, trocbiformis 8 Millimeter bocb. Die von Blaukenborn in Syrien gesarnmelten Scbaleu von Melanopsis scbwanken zwiscbeu 7 — 30 Millimeter. Bei soldi kleiuscbaligeu Scbnecken gerat der Morpbologe in groBe Verlegenbeit, scbarfe Unterscbeidungsmerkniale der Formgruppeu aufzufindeu uud zwar nicbt bloB bei fossilen Forrnen, sonderu aucb bei jetzt lebendeu Familien z. B. Clausilia , dereu Arteu geriuge GroBe babeu. Es mogeu auf der ganzen Welt iiberbaupt nur einige Menscbeu im staude sein, Clausiliaarten von einauder ricbtig zu iinter- scbeiden. Das kaun alleiu derjeuige beurteilen, welcber sicb selbst Stundeu laug bemiibt bat, einen Haufen von LOO irgendWo gesarnmelten liliputaniscben Scbueckenbauscben aus einander zu klauben. Wie oft gerat man da in Zweifel: bat die Scbale einen Kiel, der uns an der groBen Scbale so klar entgegeuspringt, bat sie Hockercben, Langsstreifeu u. s. w.? Die gleicbe Erfabrung bereitet die Praxis der mikroskopiscb auatorniscbeu Untersucbuug. Je kleiner die Formen siud, um so scbwieriger sind sie zu erkennen. Hat man sicb freilicb lange Zeit mit solcbeu Aufgaben bescbaftigt, daun scbarft sicb das Auge und nimrnt wiuzige Knickuugen, Bie- gungen, Hockercbeu etc. wabr, die ein anderer iiberseben miisste. So groBe Ubuug mm aucb ein tiicbtiger Molluskenkenner in der Formbeobacbtung kleiuer Kalkgebause besitzen mag, die kleinen Die palaeontologische Entwicklung einer SiiGwasserschnecke. 163 Sckneckeusckalen werdeu irnnier ein wenig giinstiges Objekt fiir die Beweisversucke zu gunsteu der Abstammuugslekre bleiben, well sie sick nickt sckarf von einauder trennen lassen und weil unter den Spezialisten imrner reckt bedeuteude Meinungsversckieden- keiten besteken. Bei den jetzt lebenden Formen lassen sick die Mangel der Formanalyse einigermaBeu ausgleicken, weil \vir in der gliicklicken Lage sind, die Gesamtanatomie, die Lebensweise und den Aufeutkaltsort fiir die Diagnose auszimiitzen. Die Palaon- tologen dagegen sind dieser Unter stiitzuug beraubt und auf die Analyse der versteinerten Formen angewiesen, mogen sie gut oder sckleckt erkalteu, mogeu sie groB oder wiuzig klein sein. Ina letzteren Falle gelangen wir an die Grenzen unserer Beobacntungsgabe, aber statt den Mangel unserer Fakigkeit offen ein- zugestekeu. legen wir ikn der Natur bei und sckreiben ikr eine unbegreuzte Umbildung zu, wo wir keine Sckranken seken, wo wir in so und soviel Fallen nickt untersckeiden konnen, ob eine Sckneckensckale der einen oder anderen Varietat zugerecknet werden miisse. In der Situation unangenebmer .Ratio sigkeit scklieBeu wir gewoknlick einen Kompromiss uud stellen nack bestem Gutdiinken die Sckalen zu der eiuen oder anderen Varietat. Wegen dieser Un- sickerkeit un seres Untersckeiduugsvermogens kerrsckt in der S}rste- matik nock lebkafter Streit und Widerspruch, und es giebt keute kcin einwandfreies System der Scknecken iiberkaupt. Ganz besonders sckwierig ist das Einverstandnis iiber die tlbergangsformeu zu erreicken. Was H i 1 g e u d o r f als solcke betracktet, wird von anderen Forsckern einer anderen Varietiit zugerecknet. A\renn der Entsckeid im engeu Specialgebiet der Steinbeimer Scknecken sckon widerspreckeud ausfiillt, so ist er durckaus un- moglick, sobald man die Sckneckenreste von liingeren geologiscken Perioden in dieser Hinsickt verwerteu will. M. Blankenkorn,1) welcker fest von der pkylogenetiscken Transformation der Mollusken iiberzeugt ist, driickt die Sacklage ganz ricktig aus: ,,Es giebt uii-gends auf der Welt derartig vollstandige, sick an einander reikende Aufsckliisse, die dazu notig waren, um iiber die Fortentwickelung yon SiiBwasserconckylien von der Tertiarzeit bis zm- keutigen Form des betreffenden Landes ganz uuanfecktbare Sckliisse zuzulassen." Fiir die Gattung Paludina erwacksen weitere Sckwierigkeiten, weil aknlicke Entwickelungsreiken, wie sie Neumayr in Slavonien sammelte, vonWkite in den Laramie-Sckickten Amerikas besckrieben werden mit der gleicken Neigung, die Sckale durck Kiel- und l) M. Blankenhorn, Zur Kenntnis der SiiCwasserablagerungen und Mollusken Syriens. Palaeontographica 44. Bd. p. 93. 11* 164 Zehntes Kapitel. Knotenbildung zu verzieren. Infolge desseu driickt Oppenheim vorsichtig die Meinung aus, die im gleichen Sinue abiindernden Paludinavarietaten konnen an verschiedenen Stellen derErdoberflache zu verschiedenen Zeiten von ganz versckiedenen Vorfahren poly- phyletisch eutstanden sein. Der in verschiedenen Landern beobach- teten allgemeinen Variationstendenz der Schneckenscbaleu muss, wie Oppenheim und Blankenhorn denken, eine gemeinsame Ursache zu Grunde Hegen. Aber sie genauer zu ergriindeu. ist bisher niemandem gelungen. Wenn das richtig ist, so weiB ich nicht, in welcher Weise die Stammesgeschichte fur Tierarten gefiihrt werden soil, die ur- sprivnglich an geographisch entfernten Stelleu von wahrscheinlich etwas abweichendgeformteu Ahnen entstanden sind und trotzdeni iiber- einstimrnende Gestalt im Kampfe ums Dasein erworben haben. Dann muss der stammesgeschichtlicheu Bearbeitung jedcr Art erst eine kritische Untersuchung vorangeheu, ob die darunter zusammenge- fassten Individuen auch genetisch zusammengehoren, was wir jetzt wegen der gemeinsarnen Formcharaktere gewohnlich anuehnien. Soil ich nun meine Ansicht kundgeben, so will es mir bediinken, als handle es sich im Grunde nur um eine Frage der Nomen- klatur. Der vergleichende Morpholog wird vor die Entscheidung gestellt, ob er Schalenreste, welche an einer Ortlichkeit, z. B. in Steinheim gemeinsam bei eiuander liegen, durchwegs als Planorbis multiformis bezeichnen soil, also ob er den verschiedenen auf der Figur 84 abgebildeten Formen einen gemeinsameu Namen geben und die zweifellos bestehenden Differenzen durch Beifiiguug eines zweiten Wortes z. B. Planorbis multiformis — var. trochiformis ausdriicken soil, oder ob er die Unterschiede clirekt durch anders lautende Worte hervorzuheben hat. | Die alteren Forscher Sandberger und Queenstedt haben das letztere gethan und die Schalenreste von Steinheim teils Palu- diua, teils Valvata, teils Carinifex genannt. Hilgendorf dagegen und Hyatt gaben all den so verschieden geformten Resteu den Sammel-Namen Planorbis multiformis bezw. Planorbis levis. Die durch einen Namen zusammengefassten Schalen sind auBer- ordentlich vielgestaltig. Gemeinsam ist alien nur das runde, glatte, in einer Ebene aufgerollte Embryonalende und die schiefe, immer vollstandige Miindung. Alle iibrigen Eigenschaften (Zahl, Durch- schnittsfigur und Dickenzunahme der Wiudungen, der Modus des Aufwindens und die aus diesen Faktoren zusainmen sich ergebende Allgemeingestalt der Schale, Wandstarke, Skulptur, Bildung des Mundsaumes, Grosse) sind den bedeutendsten Schwankungen unter- worfen und waren die Veranlassung, dass innerhalb der allgemeinen Die palaeontologische Entwicklung einer SuCwasserschnecke. 165 Bezeichungsgruppe wiederum 19 Form-Varietiiten, in moderner Aus- drucksweise 19 stammesgeschichtliche Durchgangsstadien abgegrenzt wurden. Durch eineu solchen Modus der Nomeuklatur wird aber vielen, den Thatsachen ferner stehenden Lesern nahegelegt, dieunter dem ein- fachen Namen Planorbis multiformis bezw. levis beschriebene Forinen- mannigfaltigkeit als Einheit aufzufassen und auf dieses Miss- verstauduis weitere logische Operationen zu griinden. Man kann ja dariiber streiten, ob es im speziellen Falle rationell sei, flachen und hochgewuudenen Schneckenschalen den gleichen Namen zu verleihen. Dariiber jedoch wird ohne Zweifel keine Meinungsverschiedenheit bestehen, dass der gleiche Name viele Leute die Schalen als weniger verschieden betrachten lasst. so wie friiher einnial der falsch gewahlte Name: ,,Walfisch" tiichtige Manner vieler Geuerationen besthnmte, die im Wasser lebenden Siiugetiere ohne weiteres fiir Fische zu halteu und die in der iiuBeren Erscheinung beider Gruppeu allein hervortretenden trennen- den Merkmale ganzlich zu ignorieren. Die Geschichte aller be- schreibeudeu Naturwissenschaften bietet dafiir zahlreiche Beispiele. In der Gegenwart, wo das Denken sich langsam von dem uubedingten Einflusse der Abstammungsidee ernancipiert, wird die Unterscheiduug der abweichend geformten Schalen einer bestiminten Fundstatte durch anders klingende Namen wieder fiir notig erachtet. Nach K. Miller1) enthalten die Stainmbaume von Hilgendorf und Hyatt die Vertreter nicht einer Art, sondern zweier ver- schiedeuer Gattungen Carinifex und Planorbis und dreier Unter- gattungeu Gyraulus. Dilatata, und Armiger. und Miller hat ebenso wenig wie Sandberger tFbergiiuge zwischen diesen Gattuu- gen gefunden. Miller bestreitet also Hilgendorf und Hyatt die Berechtigung, die meisten der bei Steiuheim vorkommendeu Schnecken- schaleu Varietaten von Planorbis zu nennen, weil die Verschieden- heit der Formengruppen zu groB sei und Ubergange zwischen ihnen nicht beobachtet werden. Folgende Tabelle giebt die Ubersicht der Meinungsdifferenz der beideu Autoren. Hilgendorfs Varietaten gehoren nach Millers Meinung zu von Planorbis multiformis dem systernatischen Begriffe: discoideus sulcatus trochiformis elegans rotundatus Carinifex multiformis Bronn. J) Konr. Miller, Schneckenfauna des Steinheimer Obermiocans. Jahresh. des Vereins f. vaterl. Naturkunde in Wiirttemberg. 56. Jahrg. Stuttgart 1900. 1QQ Zehntes Kapitel. Hilgendorf's Varietaten gehoren nach Millers Meinuug zu von Planorbis multiformis dem systematischen Begriffe: tennis 1 r\ • • <. Carimfex tennis pseudotenuis J oxystomus 1 ^ .- .f Carinifex oxystoma supremus j Steinheimensis ] revertens Planorbis (Gyraulus) Steinheirnensis Hilgd. aequeumbilicatus crescens -. Planorbis (Gyraulus) Zietenii A. Br. rnmutus denudatus costatus Planorbis (Armiger) costatus Klein. levis (Hyatt) Planorbis (Dilatata) Kraussii Miller. Miller's neuer Vorschlag, welcher zugleich meiue oben ge- machten Bemerkungeu iiber die snbjektive Fiirbung der Formen- gruppen von Planorbis bestatigt, iindert naturgemaB das Urteil jedes Mannes iiber die phylogeuetische Bedeutung der Steinheimer Funde, denn sobaJd Sie horen, in Steinheim seien massenhaft Schaleu von Carinifex, Gyraulus, Dilatata und Armiger gefunden worden und sich ferner erinnern (Fig. 85) wie kunterbuut die Schaleu liegen, deuken Sie gar nicht mehr daran, class dieselbeu durch L'mbildung aus einander entstanden sind, well der Klang der Namen die Ver- schiedenheit der Schalen andeutet. Miller1) selbst resmniert: ,,Die groBe Variabilitat der Steinheimer Schnecken bleibt unbestritten und ist hochiuteressant, aber der fragliche Stamm- baum ist stratigraphisch nicht erweisbar, zoologisch und palaon- tologisch nicht annehmbar, da er nicht uur Arten uud Unter- arten, sondern zwei verschiedeue Gattungen, dereu eine in drei Untergattungen zerfallt, in einander iibergehen lasst. (Dazu die Anmerkung: Wenn auch der Gattungsname des Cariuifex oft wechselte (Paludina. Valvata, Poecilospira), so waren doch alle Autoren darin einig, dass multiformis nicht zu Planorbis ge- stellt werden diirfe. Hilgendorf und Hyatt mussteu. um ihre Angaben annehmbar erscheinen zu lassen. vor allem diesen Gattungsnamen streicheu uud den Sammelnamen Plauorbis einfiihren.) Und die Herausbildnng dieser zwei Gattungen (Carinifex und Planorbis) und drei Untergattungen (Gyraulus, ]) 1. c., S. 358. Die palaeontologische Entwicklung einer SiiCwasserschnecke. 16 Dilatata und Armiger) soil in dem beschrankten Raume der Steinheimer Sandgrube und in der relativ kurzen Zeitspanue der Ablagenmg dieser Schichtcn vor sich gegangen seiu! Es 1st deshalb nicht zu verwundern , wenn wir so wenig als Sandberger Ubergauge zwischen diesen Gattungen uud Untergattungen gefunden habeu; auch an den trefflichen Photographien des Hyattschen Werkes kann man sich von dem Nichtvorhandensein derselben leicht iiberzeugen, und es ist wohl kaum Zufall, wenu in diesem Werke jeweils die entscheidenden Formen, welche den Cbergang darstellen sollen, nur in der schmalen Seitenansicht und nicht in der Vollabbildung gegeben werden." Wir wollen einmal von all diesen Bedenken ganz abseheu und auuehmeu, die Folgerungen der Palaontologen seien wirklich richtig; die Entwickelung von Planorbis, die Schmucksteigerung der Palu- dinen sei durch Neumayr, die Abandoning der Melanopsiden durch Oppenheimund Blankenhorn klar gelegt, so beweisendie weuigen Reihen toter Schneckenschalen doch nichts fiir die Abstammuugs- lehre. Denn in den genannten Beispielen sind die Varietaten charak- terisiert, teils durch das Auftreten von Erhabenheiten auf der Schalenoberflache, teils durch den verschiedeneu Ausbildungsgrad einzelner Windungen, teils durch flache oder hoch aufstrebende Stellimg der Gehiiusespirale, lauter Forrnerscheinungen, die wir bei vielen jetzt lebenden Mollusken wahrnehmen. Sic brauchen nur eine gut geordnete Conchyliensammlung anzuschauen und besonders die Familie der das Meer bewohnenden Melaniiden1) zu verfolgen, daun sehen Sie hochgetiirnite oder breite, niedergewuudene Gehause, teils glatt, teils mit schmalen rippenartigen Erhohungen, teils mit scharfen oder gekronteu Liingskanten bedeckt und erfahren, dass der moderne Systematiker diese Besonderheiteu beniitzt, urn die Arten zu scheiden. Infolge dessen muss sich der Zoologe, welchem die Formver- schiedenheit der jetzt lebenden Arten wohl bekannt ist, von seinem Standpunkt sehr dariiber wundern, dass man soviel Aufhebens davon macht, dass frliher lebende Spezies die gleiche Erscheinung often- baren. So weit ich urteilen kann, lasst sich fur die zahlreichen Arten oder Unterarteu und Varietaten irgend einer recenten Schnecken- gattung kein direkter Beweis erbriugen, dass die geographisch weit getrennten Formen durch Urnbildung einer Stammform entstanden seien. Der Freund der Abstammungslehre vermag wohl sein sub- J) M. von Linden, Unabhangige Entwicklungsgleichheit bei Schnecken- gehausen. Zeitschr. f. wissensch. Zoologie. Bd. 63. 168 Zehntes Kapitel. jektives Urteil in diesem Sinue abzugebeu. In Wahrlieit kauu er bloss die Stiicke von verschiedenen Wobnorten vergleicben. die abnlicben und abweicbenden Formbesonderbeiten bescbreiben, aber keinen Scbritt weiter geben. Die morpbologische Analyse fordert eben leider nur das Verstandnis der fertigen oder der wacbsendeu Naturgebilde, Die gescbicbtlicbe Entstebung derselben wird durcb sie nicbt aufgebellt. weder wabrend historiscber Epocheu nocb wabrend der geolo- giscben Perioden, da em naturbistoriscber Prozess erlebt oder von eiuem verlassigen Augenzeugen uns bericbtet \verden muss, weun er voile Glaubwiirdigkeit besitzen soil. Der bobe Grad der Variabilitat kommt iibrigens nicbt nur den fossilen Arten, sondern aucb den modernen SiiBwasserscbuecken, sowie den Scbnecken des Brackwassers zu. Das bemerkt Oppenbeim1), und O. Bottger2) betracbtet den Grand dieser auffalleuden Variabilitat als einen ganz allgemeinen, der sicb wabrscheinlicb liber alle SiiB- und Brackwasserbewobuer aller Zeiteu und allor Zouen erstrecken diirfte. Darum sind die Befunde bei Planorbis multiformis von Steinbeim nichts AuBergewobnlicbes und beweisen weniger die Bluts- verwandtschaft der Scbnecken, deren mannigfaltigen Scbalen uns erbalten sind, als vielmebr die leicbte Veranderlicbkeit der Scbalenformen, d. b. mit anderen Worten: die Form des Gebauses und die kleinen Skulpturbesonderbeiten seiner Oberfliicbe sind nicht so pedantiscb streng bestimmt, als wir es tbeoretiscb anzu- nebmen pflegen. Sie braucben nur binauszugeben und hundert Stiick irgend einer gemeinen Schneckenart zu sauimeln, so werden Sie das gleicbe Resultat erbalten. Es bestebt eben uicbt die Regel, dass samtlicbe gleicbzeitig lebende Individuen oder die Individueu mebrerer Jabresgeuerationen Scbalen von absolut identi- scber Gestalt besitzen miissen. Viele Scbwankungen fallen bei niiberer Betracbtung auf. Dieselben konnen verursacbt sein durcb ver- scbiedene Wacbstumsenergie der Einzeltiere. oder durcb die Art und Masse der Nabrung oder durcb kliinatiscbe Zustande, oder durcb die Warrne und chemiscbe Bescbaffenbeit des Wassers uud durcb viel andere Montente, deren ursacblicbe Verkniipfung wir beute nocb nicbt abnen. Jedenfalls bindert die individuelle Variation den genetiscben Nacbweis eber, als dass sie ibn erleicbtert. Die Varibilitat scbeint baufiger zu sein bei den Tieren, welcbe ein auBeres Skelett besitzen, wie Scbueckeu, Muscbelu, Krebse uud Insekten. Allein das ist aucb nur scbeinbar, veil die Fornibesonder- J) Zeitschrift der deutschen geologischen Gesellschaft, 1891. 2) 0. Bottger, Tertiarfauna von Pebas am oberen Maranon. Jahrbuch k. k. geolog. Reichsanstalt Wien 1878. 28. Bd. p. 485—504). Die palaeontologische Entwicklung einei' Siifiwasserschnecke. 169 heiteu an der Oberfliiche eines leicht zu erhaltenden Teiles des Tierkorpers liegen und deshalb mehr auffallen als bei inneren Skelett- stiickeu. Die genaue Untersuchuug der letzteren bringt uns eine schier ebenso groBe Zahl der Formabweichimgeu zur Kenntnis. Um zum Schluss zu gelangen, mochte ich Sie noch darauf hin- weisen, dass die vergleichende Bearbeitung leerer Schneckenhauser weder iiber die Organisation noch iiber die Entstehung der lebenden Tiere geniigenden Aufschluss gewahren kaun. Denn die Schalen sind eine Schutzhiille des Weichkorpers, die als solche recht interessant und sehr wichtig fur das Studium ist, aber sie ist eben nur eiu Stiick und ersetzt uns nicht den Mangel aller iibrigen Organe. Es ist also iiber die Schalenuntersuchungen genau das gleiche Urteil zu fallen, das ich friiher an anderen Beispielen, den Knochenteilen des Glied- maBenskelettes und den von den Palaontologen niit so groBer Vor- liebe behandelten Zahnen, abgegebeu habe: ein Stiick des Korpers wird uns niemals den geschichtlichen Zusammenhang kleiuer oder groBer systematischer Gruppen beweisen. Ich stelle diese Behauptung nicht als meine Privatansicht auf und nicht, weil ich ein Gegner der Abstammungslehre Din ; sie ist eine anatomische Erkenntnis, iiber die sich nicht streiten lasst. Nieniaud kann sich derselben eutziehen. und E. Haeckel1) spricht sie scharf genug aus: ,,Fossile Reste von Mollusken sind seit der kambrischen und silurischen Zeit (lurch alle Perioden der Erdgeschichte so massenhaft erhalten, in einer so groBen Zahl von Arten und Individuen angehauit, dass sie fiir die Geologie die groBte Be- deutung besitzen. Viele Spezies (z. B. von Cephalopoden) be- sitzen eine so ausgedehnte horizontale oder geographische Ver- breitung und gleichzeitig eine so beschraukte vertikale oder geologische Verbreitung, dass sie hochst charakteristisch fiir eiuzelne Gebirgsschichten siud; sie werdeu daher in erster Linie zur Erkennung und Unterscheicluug der iiber einander liegenden Formationen benutzt. So werden z. B. die einzeluen Horizonte der mesozoischen Sedimeute vielfach durch boson dere Ammo- nitenarten scharf bestimmt." ..Dieser anerkannten und auBerordentlichen geologischen Wichtigkeit der versteinerten Weichtiere entspricht keiues- wegs ihre phylogenetische Bedeutung. Es wiirde ein groBer Irrtuni sein, aus der ersteren auf die letztere zu schlieBeu. Yielmehr ist die Paliiontologie der Mollusken fiir die meisteu allgemeinen Fragen ihrer Stammesgeschichte nur von ganz untergeordnetem Wert; fiir diese sind vielmehr ver- !) E. Haeckel, Systematische Phylogenie. II. Teil. Berlin 1896, S. 511. 170 Zehntes Kapitel. gleichende Anatomic mid Ontogenie die Hauptquellen. Die wichtigsteu Problerae der Molluskenphylogeuie: der monophy- letische Ursprung mid Ausbau des Stammes, die Entstehung und Verwandtschaft seiner Klasseu und Ordnungen, die historische Differenzierung und Vervollkommnung ihrer Organisation etc. — alle diese Hauptfragen werden nur durch die vergleichende Anatomie und Ontogenie der Weichtiere aufgeklart; ihre Palil- outologie liefert daiiir gar keinen oder nur ganz geringfiigige Beitrage. Dagegen 1st die letztere von groBtem Interesse fiir die spezielle Phylogenie vieler kleinerer Gruppen: Faniilien. Sek- tionen, Gattungen etc., auch die allmiihliche Transmutation der Alien (z. B. bei den Ammoniten) lasst sicb oft sehr schon durch die einzelnen Stufen hindurch verfolgen." Auf S. 514 fiihrt Haeckel fort, die Ursachen dieses Missver- haltuisses zwischen der geologischen und der phylogenetischen Be- deutung der fossileu Molluskeumassen durch acht Thesen zu erklaren. Fiir unsere Betrachtung wichtig hebe ich daraus nur These 5 und 6 hervor : ,,5. Die allermeisten versteinerten Reste von Mollusken sind nur anBere Kalkschaleu (Conchylien); nur selten und ausnahms- weise bleiben auch Abdriicke von Weichteilen oder von ganzen Tieren erhalten. 6. Die Kalkschalen der Mollusken sind zum grofiten Teile von sehr geriugem morphologischen AVerte und gestatten keinen sicheren Schluss auf die Organisation der Weichtiere, von denen sie ausgeschieden wurden. Schnecken von sehr verschiedenem Korperbau konnen ganz ahnliche oder kaum unterscheidbare Schalen bilden. Andererseits bilden oft nahe verwandte Schueckeu ein sehr verschiedenes Kalkgehause, die eineu bauen eine sehr entwickelte, die anderen eine rudimentare, noch andere gar keiue Schale. Dasselbe gilt teilweise auch von den Muscheln und den Kraken." Elftes Kapitel. Das eigentliclie pliylogenelische Problem der Mollusken. GewissermaBen als Gegengewicht gegen den klihnen Ikarusflug der menschlicheu Phantasie auf dem wisseuschaftlich exakten Gebiete treteu iu unbestimmtec Intervalleu Manner auf den Schauplatz des Lebens, welche ihre glauzeudeu Geistesgaben einer besondereu Idee weiheu und deren Geltuugsbereich auf viele Gebiete der Reflexion auszudehuen suchen. Daclurch werden sie gezwungen. die Konsequenzen des Gedaukeus nach alien Richtuugen hin zu ziehen, seine Richtigkeit clurch Erwagung der jeweils bekannten Thatsacheu darzulegeu, und die Berechtiguug ihrer Meiuuug oder das Gegenteil tritt offenkundig zutage. Dem Lebenswerke Haeckel's ist clurch die Probe das traurige Los beschieden worden, dass der Mangel exakter Beweisgriinde sich nicht mehr Terhiillen lasst. Alle bisher besprocheneu Beispiele eiiauterten den traurigen Zustand seiner Lehre. In der vorigen Stuncle haben wir wiederum erkannt, dass die fossilen Schalen der Planorbis in Steinheim alles eher als die Blutsverwandtschaft ihrer einstigen Trager beweisen. Noch ungiinstiger gestaltet sich die Sache der Stammesgeschichte, weuu wir, des Gruudsatzes bewusst bleibend, dass die Schale als eiu Bruchstiick des Tieres nie voile Aufklarung liber dessen historischen Werdegang giebt, den gesamten Bau des Weichkorpers beriick- sichtigen. Denu so wenig, als der Anblick eines fremden Hauses uus den .Charakter seiner Bewohner sicher errateu lasst, ersetzt das Studium leerer Schalen die zootomische Arbeit. Meinem Zwecke entsprechend werde ich nur die allgemein wichtigen Thatsachen hervorheben und das spezielle Detail zuriickdrangen. Der Mollusken- typus umfasst drei scharf geschiedeue Unterkreise der Organisation, die Muscheln, Lamellibranchiata, die Schnecken, Gastro- poda, die Tintenfische, Cephalopoda, deren wichtigste Merk- male clurch die Figuren 88, 89, 90 erlautert werden. Der Korper der Mu scheln (Fig. 88) ist seitlich komprimiert und nach hinten mehr oder weniger lang ausgezogen. Die Seitenflachen des 172 Elftes Kapitel. Korpers sind also breit, die iibrigen, Vorder- uud Hinter-, Riickeu- uud Bauchflachen, schrnale Streifen. An der schinaleii Vorderseite liegt die Mundoffuung (o), genau entgegeugesetzt die Afteroffnung (a). Ohne weiteres kaun man das Tier gar nicht wahrnehmen, well dasselbe von den Mautellappen verdeckt 1st, welche als zwei symmetrische , breite Falteu an der rechteu uud liuken Seite herab- hangen und durch einen gebogenen freien Rand begrenzt werden. Da auf der gesamten Mantelflache ein fest erhartendes Sekret abge- schiedeu wird, liegeu ibr die beiden Kappeu der Muschelschalen auf. Wenn ich die Schalen ablose uud den Mantel empor hebe, gewinue ich den Einblick in die weite, mit AVasser erfiillte Mantelhohle und sehe zuuachst die Halfte des Korpers, den sog. Eiuge- weidesack, zuugeuartig in die Ho hie hereiuragen. Die uutere schuialkautige oder ruudliche Randzone der Zuuge wird von starken Muskelmasseu durch- zogen und kauu durch Blut- schwelluug weit aus der Mautel- hohle alsKriechorgan, sog. FuB Fig. 88. Schernatische Skizze der Organisation der Muscheln (die Scliale ist eingezeichnet). a After, c Herz, g Geschlechtskeiuistiitte, h hin- terer Schlieiimuskel, 7,' Kieme, ( Leber, m Magen, n Niere, o Mund, v vorderer SchlieLirauskel. vorgestreckt werden. Oberhalb desselben wachst die Breiteu- ausdehuung des Eiugeweide- sackes, uni deu Schliugeu des Darmes uud deu Keimstatten (g), d. h. Hoden oder Eierstocken, Rauni zu schaffeu. Seitlich vom Eiugeweide- sack hliugeu in die Mantelhohle je eine rechte uud liuke Doppelreihe vou U-lormig geknickteu Faclen herab, welche durch Querbriicken oftzu einer gitterformigen Membrau, deu Kiemenlamellen (fe), verwachseu sind. Vou zahlreicheu Bkitraumen durchzogeu, uehmeu sie aus deui fortdauernd in die Mautelhohle eingeflihrteu uud wieder abgeleiteten Wasser Sauerstotf auf und gebeu Kohlensiture ab. Die obere Halfte des Korpers ist walzig gegeu deu After (a) ausgezogeu. Man kauu also den Muscbelleib gauz gut einer von deu Mantellappeu ver- hiillten, kurzstieligeu Axt vergleicheu. Oberhalb des Muudes am Vordereude uud unterhalb des Afters am Hinterende liegt je ein ruudliches Biiudel kurzer Muskelfaseru , die sog. SchlieCmuskelu (v, h), welche deu Muskeluarben der Schaleuklappen auhaften uud dem Bedlirfnisse des Tieres eutsprechend deren gegeuseitigeu Ab- stand regulieren. Der Darm wird hinter der Muudoffnuug rasch zum Magen (m) erweitert, zieht in uiehrfachen Windungen durch den Eiugeweidesack, steigt in die obere Stielhalfte empor uud liiuft. die amRiicken liegende Herzkammer (c) nieist durchquereud. zienilich Das eigentliche phylogenetische Problem der Mollusken. 173 gerade gegen die Aftermiiuduug. Uuterhalb des Herzens liegen die groJBen geraumigen Nierensacke (n). Die Tinteufische (Fig. 89) verhalten sick zu den Musckeln, wie em Turni zu einer niedrigen sckmalen Hiitte. Deun ikr Leib kokt sick zuckerhutartig empor und der bei den Musckeln so bedeutende Abstand zwiscken Mund (o) uud After («) ist kier ganz kurz. Vorder- und Hiuterflacke des Korpers sind breit, die Seitenflacken sckmal und sanft gerundet. Beini Vergleick der Korper- form gewinut man also den Eindruck, als sei der Tintenfisck einem von vorne uud kinten wirkenden Drucke unterworfeu gewesen , welcker die Leibesmasse zur Streckuug in die Kegelgestalt zwang. Der gro'Bere Bezirk der Hautoberflacke bildet eiu als diitenformige Kalksckale erstarrendes Sekret. Die derbe Mantelfalte (p) ist gauz kinterstandig, verkaltuismaBig reckt klein, und zerfallt nickt in synimetriscke Lap- pen. Sie ist clem Korper fest verwachsen, nur der imtere Mantelraud stekt frei. Der Mantel liberspannt den breiten Sckmal- raum der Mantelkokle, in welcker zwei gefiederte Kiemen keine Laugsreiken von Kiemenfaden, sondern zweireikig ge- fiederte Kiemenblatter symmetrisck von der den After trageuden Breitwand des Korpers eutspringeu. Das Unterende des Tintenfisckes sckwillt rundlick an, sog. Kopf, uud die dern FuBe der Musckelu vergleickbare Zone ist in zekn bis ackt beweglicke Lappeu, die mit Saugnapfen besetzten Arme, zerscklitzt. Zwiscken der Hinterfliicke des Kopfes und dem Mantelrande liegt ein trickter- formiger nauskuloser Ankang, der Trickter (£), welckem eine wicktige Bedeutung f'iir das Sckwinimvermogen der Tintenfiscke zukomuit. Er ist ikrer Gruppe allein eigen. Dem Kopfe zind zwei kock organisierte Augen eingebettet, wie sie in gleicker Vollkommenkeit keine andere Molluskeugruppe besitzt. In der Mundkokle (o) liegen kraftige ckitiuose Greifscknabel und eine koruige Zakureibeplatte. Der Darm steigt gegen den spitzen Blickenpol des Tieres auf, erweitert sick zum komplizierten Magen (m) und sendet eineu riick- lautigen Sckenkel zum After («), welcker sick in die Mautelkokle Fig. 89. Schema tische Skizze der Organisation der Tinten- fische (die Schale ist niclit ein- gezeichnet). Leber punktiert. a After, I Tintenbeutel, c Herz, g Geschlechtskeinistatte, fc Kieme, m Magen, n Niere, o Mund, p Man- tel, t Trickter. 174 Elftes Kapitel. zwisclieii cleu Kiomen offuet. Nahe dein After miindet in den Eud- darm der Ausfiihrkanal des Tintenbeutels (&), eiues nur den Tinten- fischen eigenen Organes. Ich brauche andere spezifische Eigentiirnliclikeiteu der Organi- sation, die Sie in jedein Lehrbuche verzeichnet finden, gar uicht niehr zu besckreiben, weil die wenigen Thatsackeii Sie in den Stand setzen, den kolossaleu Unterschied zwischeu den JViuschelu imd Tiutenfischen zu beurteileu. Die Schnecken (Fig. 90) lehren eine neue Stilvariante kennen. Ihr Korper ist niedrig und der muskulose Fv.B bildet eine breite Kriechsoble. Beim Vergleich mit den Muscheln und Tintenfischeu ge- winnt man die Vorstellung, als babe in dieser Molluskenklasse eine Kompression in der Ricbtung eiuer die Baucb- und Riickenseite verbindenden Geraden gewirkt. Sie wissen, dass der groBere ober- balb der Kriecbsoble liegende Teil des Schueckeukorpers spiralig gedrebt ist, weil er im bekannten Scbneckenbause geborgen ist. Diese Spiralzone kann man als einen langkegeligeu Auswuchs der binteren Riickenpartie des Scbneckenleibes auf- fassen, der scbrag nacb binten uud aufwiirts ziebt und in eine Spirale ein- gerollt wird. Nicbt die leiseste Neig- ung zu ahnlicher Bildung wird bei den Muscheln und Tintenfiscben beobacbtet. Auch die Mantelhoble nebst den Kiemen nirnmt eine total andere Lage ein, als wir bisher fanden. Wahrend dieselbe bei den Muscheln seitlicb vom Korper sich mund- und afterwiirts er- streckt, bei den Tinteufiscben an der Aftenvand allein stebt, liegt die Mantelhohle bei den Schuecken gerade Fig. 90. Scbematische Skizze der Or- ganisation der Schnecken (Vor- dcrkiemer). (Die Schale ist nicht eiu- gezeichnet.) a After, c Herz, g Ge- sclilechtskeinistatte, fc Kieuie, Leber punktiert, m Magen, n Niere, o Mund, p Mantel, t Tentakel. entgegengesetzt oberbalb des Mundes und zwar asymmetrisch an der rech- ten Korperseite. Verglicben mit den Tiutenfischen scheiut sie eine Drebung uacb vorne erlitten zu baben. Die Kiemen (k) sincl gefiederte Flatten. Sehr haufig birgt die Mautel- hoble nur eine einzige Kieme, oft auch ein ungleichmaBig eut- faltetes Paar. Von der Mundhohle (o), welche scbwacbe boruige Kau- werkzeuge besitzt, steigt der Darm fast bis zur Spitze des spiralig gerollteu Korperteiles empor, bildet dort einen sehr kleinen Magen- raum (m) und sendet einen riicklaufigen Schenkel zu dem oberbalb des Mundes asymmetrisch rechts liegenden After (a). Wiirde ich noch Das eigentliche phylogenetische Problem der Mollusken. 175 genauer aiif den Ban der Schnecken eingehen, so wiirden Sie eine viel groBere Zahl von untorscheiclenden Merkmalen kennen lernen. Ich meine aber, die bisherige Schilderung uncl noch besser die Be- trachtung der scbeniatischen Skizzen reicht aus , Sie von dem fundamentalen Gegensatze der drei Hauptsprossen des Mollusken- staniines zu iiberzeugen. Gerade in diesem Falle kann die Be- schreibung unmoglich das Fbrmstudium guter anatornischer Priiparate oder deren Surrogate, die Abbildungen, ersetzen, Weil die der natiir- licheii Plastik gegeniiber beschamende Armlichkeit der Spracbe uns zwingt, die gleichen Ausdriicke zur Bezeichnung von ganz ver- schiedeu geformten, tierischen Organen zu gebrauchen. Die absonderliche Asymmetric des Schueckenkorpers erscheint bei den das Meef bewohnenden, durch ihr schones Gehause Ihnen bekannten, Schneckenarten der Vorderkiemer, Prosobranchia, und den Luugenschnecken (z. B. der Weinbergsschnecke) am scharfsten ausgepriigt. Sie bedingt einen scharfen Kontrast zu den beiden anderen Molluskenklassen, weil die Tiutenfische und Muscheln gut bilateral symmetrische Tiere siud, deren fur die Beurteilung des anotomischen Stiles wichtige Orgaue, hier die Mantelhohle und die Kiemen, symmetrisch zur Mittelebene des Korpers liegen. Nun giebt es freilich Schneckenarten, bei welchen die Kiemen symmetrisch am Hinterende des abgeflachten Korpers stehen und von einer symmetrischeu halbmondformigen Mantelfalte iiber- schirmt werden, bei welcheu ferner der After genau entgegengesetzt vom Mimde am Hinterende liegt und der spiralige Auswuchs des Korpers fehlt. Allein diese symmetrischen Schnecken sind kraft ihrer Organisation auch so scharf von den zwei anderen Klassen der Muscheln und Tintenfische geschiedeu, dass der Mangel eines Merkmales, namlich der Asymmetrie, keine Vereinfachung schafft. Obgleich die morphologische Analyse den Triumph gefeiert hat, durch eine einfache Hilfsvorstellung den Gegensatz zwischen symmetrischen und asynimetrischen Schnecken in eiuen gemein- samen Formenbegriff zusammenzufassen, ist die historische Genese der Asymmetrie dadurch nicht erklilrt worden. Mir erscheint es unnotig, diese Frage hier ausfiihrlicher zu besprechen, da jeder Interessent in den Lehrbiichern der vergleichenden Anatomic gute Darstellungeu dariiber findet. Meine Yorlesung soil sich nur an die wichtigsten Pimkte halten und darf auch da nicht zu sehr in die Breite gehen, wo meine eigene Neiguug mich verfiihren mochte. Wir fahren daher in der Betrachtung der oberflachlichen Unter- schiede fort und wiclmen noch den Kalkgehausen der Mollusken einige Aufmerksamkeit. Jeder Laie kennt die Unterschiede der Muschel- und Schneckeu- 176 Elftes Kapitel. Durchtrittsstelle des Sipho durch das Septum Sipbo Septum schalen. Die Muscheln scheiden zwei meist symmetrische, oft auch asymmetrischc, durch ein elastisches Schlossband zusammengehaltene Schalenklappen ab; die Schnecken tragen selten kegelformige oder noch flachere Schalen, meistens ist ihr Gehause ein spiral hoch oder niedrig gewundener, gegen die Spitze verjiingter Kalkschlauch. In den beiden Klassen fiillt der Weichkorper des Tieres den ganzeu Schalenraum aus. Bei den Muscheln ist gewohnlich das lebende Tier unter den Schalenklappen versteckt, bei den Schneckeu kann der KriechfuB vollstiindig in die Schale eingezogen werden. Anders ist es bei den Tintenfischen. Der turmformig erhohte Leib derselben scheidet einen diitenforrnigen Kalkschlauch als Schale ab, welche mit dem Wachstum des Individuums langer wird. Dabei kann sie entweder gerade gestreckt bleiben, wie bei den fossilen Belemniten, oder sich in verschiedenartige Spiralen zusammenrollen, wie bei den Ammoniten und Nautiliten. Der lebende Tintenfisch bewohnt niemals die ganze Schalenhohle, sondern uur einen vorderen als Wohnkammer be- zeichneten Abschnitt derselben. Der Liingsschnitt durch das Perlenboot des indischen Oceans, Nau- tilus pompilius (Fig. 91), des einzigen, jetztlebeudeu Tintenfisches, welcher eine typische Schale besitzt, illustriert die Thatsache. Der vom Tiere nicht be- anspruchte Schalenraum ist durch Scheidewande, sog. Septa, in kleiue gas- erfiillte Kammern geteilt und sichert dadurch das Schwimnivermogen der be- schalten Tintenfische. Mit dem Grossenwachstum des Tieres uud der Schale werden immer neue Schei- dewande eingeschoben und eine groBe Zahl von Gas- kammern erzeugt. Der Leib des Tintenfisches steht mittels eines samtliche Scheidewande durchbohrenden, zarten Stranges, sog. Sipho, mit dem iiltesten Teil der Schalenspitze in Verbiudung. Nachdem Sie durch meine oberflachliche Schilderung die Unter- schiede der Molluskenklassen kennen gelernt haben, werden sie die Unmoglichkeit eiuer Antwort auf die Frage begreifen, wie die Eierstock Schalen- muskel Trichter Kackenfalte Auge Tentakel Fig. 91. Nautilus pompilius, Perlboot, in der durchschnit- teneii Scbale. Das eigentliche phylogenetische Problem dei' Mollusken. 177 Tintenfische, Muscheln und Schnecken sich aus einer einfachen ge- meinsamen Grundform batten entwickeln konnen. Dringen wir in die innere Anatomic genauer ein, so wiirde die besondere Form- *i S o = .s° < a£ •< c a v •»» t- = « S£ »- o 2 Ss ^3 gC c fe gestaltung jedes Korperteiles uns neue Ratselfragen vorlegen. Trotz- dem es gelungen ist, gewisse allgemeine Merkmale des Korperbaues zu Gunsten der stilistischen Zusammenfassung der drei Klassen in Fleischmann, Descendenztheorie. 12 178 Elftes' Kapitel. ' dem Organisation stypus der Mollusken aufzudecken, sind die anato- mischen Verscbiedenheiten der in einen geineinsamen logiscben Begriff eingeordneten Gruppen der Weichtiere ebenso groB, wie in anderen Abteilungen des zoologischen Systemes z. B. bei den Wirbeltieren und Gliedertieren. Aucb bier feblt jeder Aubalt, selbst nur eine plausible theoretiscbe Vorstellung zu entwickeln, welcbe uns eine Moglicbkeit denken lieBe, wie die Stammgruppe der von der Desceudenzscbule wobl mit Namen genannten, fiktiven Urmollusken, Promollusca, sicb in drei fundamental geschiedene Zweige spalten konnte. Meine Kritik zielt auf alle stammesgescbicbtlicben Versucbe iiber die Mollusken iiberbaupt; ibre Ricbtigkeit werde icb, urn Ibre Geduld nicbt allzusebr zu erscbopfen, am Beispiel der Tinterifiscbe allein begriinden, indem icb E. Haeckel ]) sprecben lasse: ,,Die systematiscbe Gruppierung der zablreicben Cepbalo- poden-Formen und die damit verkniipfte Erkenntnis ibrer wabreu Verwandtscbafts-Beziebungen ist eine ebenso interessant^ und lebrreicbe, als verwickelte und scbwierige Aufgabe der ifatur- gescbicbte. Einerseits besitzen wir in den gewaltigen Masseu der fossilen Nautiliten, Arnmoniten, Belemniten u, s. w. einen so kostbaren pbylogenetiscben Scbatz, wie ibn die Palaeontologie in wenigen andern Tiergruppen darbietet; indem wrir die Tausende von palaeozoiscben und mesozoischen Spezies genau vergleicbeu und die allmahlicbe Umbildung ihrer Scbalen Scbritt fiir Scbritt durcb die Scbicbtenreibe der Formationen verfolgen, gewinnen wir eine vollstandige Einsicbt in den Gang ibrer pbylogeneti^ scben Transformation, und damit zugleicb einen glanzenden Beweis fiir die Wabrbeit der Descendeuz-Lebre. An- derseits erbalten wir aber durch das genaueste Studium dieser fossilen Scbalen nicbt den mindesten Aufsc.bluB iiber die spezielle innere Organisation der Tiere, w'^lcbe diese auBeren Cuticular- Scbalen absonderten. Im Gegenteil belebrt uns die Vergleicbuug von Ortboceras und Belenmites, von Nautilus und Spirula, von Sepia und Argonauta, dass wir keinerlei sicbere Schliisse aus der Scbalenbildung allein auf den inneren Korperbau der betreffenden Tiere ziehen konnen." Um die absolute Unkenntnis der verbindenden Zwiscb^en- formen zu verscbleiern , stellt Haeckel gerne die Bebauptung auf, dieselben batten wobl friiber gelebt, seien aber nicbt versteinert er- balten geblieben: ,,Ferneristnocb zuberiicksicbtigen, dass auch die Tausende von fossilen Cepbalopoden-Arten, deren Scbalen wir kennen, sicber ') Haeckel, System. Phylogenie, II. Bd. 1896, p. 580— 581, -582, 577. Das eigentliche phylogcnetische Problem der Mollusken. 179 nur einen Bruchteil des formenreicben Stamrnes dieser bocbst- entwickelten Mollusken-Klasse bildeten. Wie jetzt, so haben gewiss auch in fruheren Zeiten zahlreiche Cephalopoden ge- lebt, welche durcb Euckbildung ihre Scbale teihveise oder ganz eingebiiBt batten. Ferner haben sicber in palaeozoischer Zeit zahlreicbe connectente (verbindende) Zwischenf ormen z\viscben den altesten Cepbalopoden (Archolenen) und ihren Promollusken-Abnen existiert. Unter diesen werden sicb t)bergangsf ormen mit einer einfacben Kegelscbale (gleicb man- chen Pteropoden) oder selbst mit einer einkammerigeri, in symmetriscber Planospirale aufgerollten Scbale (gleich Bellero- pbon) befunden haben/' ..Daraus leiten wir weiter die Annabme ab, dass die altesten (cambriscben und praecambriscben) Cepbalopoden eine besondere dritte Ordnung der Klasse bildeten. Wir bezeichnen diese hypothetische Stammgruppe beider Ordnungen als Teutbolenen und rccbnen dazu die formenreicbe Gruppe der palaeozoiscben Ortboceraden. Wir miissen weiterbin annebmen, dass zwischen den altesten (cambriscben) Teutbolenen und deren praecambriscben Vorfabren, den Promollusken, eine lange Keibe von ausgestorbenen "Ober- gangs-Formen existiert bat; clenn nur durcb diese Hypotbese ist die Entstebung der bocb differenzierten Cephalopoden-Form aus der typiscb iibnlicb organisierten, aber viel einfacber ge- bauten Ampbineurenform erklarbar. Diejenige Gruppe dieser Eeibe, in \velcher der typiscbe Cepbalopodenbau zuerst auftrat (die eigentlicbe Stammgruppe der Klasse) unterscheiden wir als Ordnung der Arcbolenen." (Die Gruppe wird von Haeckel nur zu Gunsten seiner Abstammungsspekulationen aufgestellt und entbalt gar keinen irgend wie bekannten Vertreter.) Wie mir scbeint, mutet der Begriinder der systematiscben Pbylo- genie jedem von uns eine fast den jesuitiscbeu Sacrificio dell' intel- letto erreicbende Glaubigkeit an die bypotbetiscben Stammgescblecb- ter und groBes Vertrauen auf die Eicbtigkeit der morphologiscben Pbantasie zu, wenn man solcb verklausulierte Schilderungen fiir wissenscbaftlicbe Ergebnisse der stammesgescbicbtlichen Forscbung betracbten soil. Sie boren aber zugleich aus dem Munde eines be- rufenen Vertreters, dass die landliiufige Ansicbt, der paliiontologiscbe Eeicbtum an Tintenfiscben sei von bervorragendem pbylogenetiscben Werte, nicbt ganz zutrifft. Jeder Morpbolog beklagt beim Studium der fossilen Ammoniten, Belemniten und Nautiliden traurig den Mangel jeglicben Anbaltes, welcber den Bau des Weichkorpers wenigstens in den allerrobesten Ziigen erkennen lieBe. Abnlicb 12* 180 Elftes Kapitel. steht es mit den fos^ilen Rosten der Muschelu und Schnecken, wie Sie in jedem Handbuche der Palilontologie lesen konnen. Ich iiber- gehe darum den ausfiihrlichen Nachweis und bespreche zum Schlusse die Entstehungsgeschichte des Molluskenstammes selbst. Die Abstamnmngslehre wiinscht samtliche Klassen der Mollusken auf einfache Stammarten zuriickzufiihren und gleicht darin einem Schiffbriichigen, der vergebens nach Land ausguckt. Kein Mensch hat jemals die theoretisch so ausserordentlich wichtigen Tiere ge- sehen und niemand kann mir eine klare Bescbreibung derselben geben. Haeckel,1) der doch in alien phylogenetischen Fragen die positiv- sten Bebauptungen aufstellt, lasst sich sebr reserviert aus: ,.Die gemeinsame urspriingliche Stammform des Mollusken-Phylon, von welcher sich alle die mannigfaltigen Glieder dieses formreicheu Stammes morphologisch und phylo- genetisch ableiten lasseu, besass nach unserer Ansicht ungefahr folgende Organisation": Nun folgt die Beschreibung derselben, welche ich bier unter- driicken kann. Haeckel2) fahrt dann fort: ,,Diese hypothetische Organisation der Promol- lusk en, die sich aus der vergleichenden Anatomic und Ontogenie des ganzen Stammes — und insbesondere seiner alteren, pri- mitiven Zweige — ergiebt, hat sich in keinem lebenden Vertreter desselben vollstandig konserviert." ,,Die Frage von der Entstehung und dem Ursprung des Weichtier-Stammes, sowie von der Verwandtschaft desselben mit den iibrigen Tierstammen ist in verschiedener Weise beantwortet worden. Nach unserer Ansicht besteht keine direkte Stammverwandtschaft der Mollusken zu folgenden Stammen: Wirbeltieren, Tunicaten, Artikulaten, Echinodermen. Insbesondere konnen wir die Griinde fiir die Abstammung der Weichtiere von Anneliden oder ahnlichen ,,gegliederten Tieren" nicht anerkennen; wir finden in keinem echten Mollusk eine Spur von wahrer, motorischer Metamerie. Vielmehr konnen nach unserer Uberzeugung als Vorfahren der Mol- lusken (oder als nachste Verwandte ihrer Ahnen) unter den heute lebenden Metazoen nur zwei Klassen in Betracht kommen : die Turbellarien als alteste und die Trochozoen als jiingere Verwandte." Ich kann in dieser Fassung nur das verschleierte Eingestandnis der eigenen Unsicherheit erkennen. Sogar der Verfasser der natiir- !) E. Haeckel, System. Phylogenie, Berlin 1896. II. Bd., p. 606. 2) E. Haeckel, System. Phylogenie, Berlin 1896, II. Bd., p. 507—508. Das eigentliche phylogenetische Problem der Mollusken. lichen Schopfuugsgeschichte verruag keiue plausible Hypothese iiber die Abstammung der Mollusken vorzutragen. Mit andereu AVorteu: Die Hoffuung der Descendenztheorie, es lieBen sich die bluts- verwandtschaftlicheu Reihen der Tierarteu durch wissenschaftlich exakte Studien ergriiudeu, ist schuiiihlicb getauscht worden. Fiir meine eigeue Ansicht kann ich die Bestatiguug aus dem Munde anderer Facbkollegen bringen. Arnold Lang1), em ausgezeichneter Vertreter der phylogenetischen Richtuug schreibt liber die Phylo- genie der Mollusken: ,,Wir wollen uns hier kurz fasseu. Direkte Auknupfuugs- punkte des Molluskenstainmes an andere Abteilungen des Tier- reiches sind zur Zeit nicht bekannt. Uber den Ursprung der Mollusken steht subjektiven Ansichten Thiir und Thor often." Korschelt uud H eider2) urteilten eiu Jahr friiher: ,,TJber die Abstammung und Verwaudtschaftsverhaltnisse der Mollusken ist sehr viel geschrieben worden. Wir verzichten von voruhereiu auf eine Diskussion der verschiedeneu, eiuander teilweise scharf gegeniibersteheuden Auffassuugeu, da dieselbe unsere Ausfiihrungeu nur weit umfangreicber, aber nicht klarer machen wlirde." Nachdem also vorderhaud nicht der Fuukeu eines Beweises dafur erbracht ist, class die Mollusken von andereu Typen abstanimen, schlieBt das Resultat unserer Betrachtung in erfreulicher Harnionie an das kritische Ergebuis an. welches ich fur die Wirbeltiere und Arthropoden erlauterte ; die konsequente Durchfiihrung einer ver- lockenden Idee bezeugt deren absolute Haltlosigkeit in der exakten Forschuug, wo, wie Kant vor lauger Zeit bemerkte, die scheinbare Denknotwendigkeit nicht die Existenznotwendigkeit eiues Dinges bedeutet. J) A. Lang, Lehrbuch der vergleicb. Anatomie, Jena 1894, p. 858. 2) E. Korschelt u. K. Heider, Lehrbuch der vergleich. Entwicklungs- geschichte der wirbellosen Tiere. Jena 1893, p. 1167. Zwolftes Kapitel. Die Entsteliung der Stachelhauter. Ebenso steht es rait einer anderen Gruppe der niederen Tiere, den Stachelhautern odor Echinodermen, d. h. den Arteu der Seesterne, Seeigel, Seewalzen und Haarsterne. Bereits bei einer friiheren Gelegenheit (Seite 27, 28) babe ich Ihnen die dem systemati- schen Typus cbarakteristiscbe Anorduung der wichtigen Organe in fiinf radiale Zonen des kngeligen, walzigen oder platten Korpers vorgefiibrt und dabei betont, dass sie durch das fiinfstrahlige Geprage sich von alien bekannten Tieren unterscheiden, deren Teile fast immer zur rechten und linken Seite einer Hauptebene paarig symmetrisch liegen. Es sei nochmals auf die schematische Figur eines Seeigels verwiesen, wo wir in der Niihe des Mundes drei ringformige Organsysteme mit fiinf radialen Asten erblicken: 1. den Ringkanal mit Wasser gefiillt. 2. den Nervenring and 3. das Ring- gefaB des Blutes. Diese oberflachliche Augabe kennzeicbuet schon zur Geniige die Sonderstellung der Ecbinodermen ; in keiner anderen Abteilung sind Ein- ricbtungen vorhanden, welche sicb damit im entferntesten vergleicben lieBen. Die Ecbinodermen bewegen sich auf eine ganz sonderbare Art mit Hilfe von Handscbuhfingern vergleicbbaren Auswiichsen der Korperwand (Fig. 11). In diese Auswiichse strablen kleine Seitenzweige des WassergefaBsystems binein, sie vermogeu die Fu'Bcben so zu sclrwellen, dass ein See stern oder Seeigel sich auf die Fu'Bchen stiitzt und teils mittels Anschwellung, teils mittels Ab- schwellung verschiedener Fu'Bchengruppen auf der Unterlage weiter schiebt. In der Haut liegt ein rnehr oder weniger machtiges Kalk- skelett (Fig. 12). Ich will Sie nicht weiter in die komplizierte Anatomic einfiihren und nur das einenoch bemerken, dass der Typus der Fig. 93. ScJiem atisch e Skizze des Eau- planes der Seeigel. a After, f Wasserfiilichen, g Geschlechtsorgan, o Mund, s Skelett, "Wassergefafie punktiert, Blutgefatiring schwarz. Die Entstehung der Stachelhauter. 183 beutigen Echinodermen vier stilistische Varianten aufweist: entweder erscheint er als spharischer Hohlkorper mit Kalkstacheln besetzt - Seeigel — , oder als langgestreckte walzige Seegurke — Holothurien — , oder als flacbe funfzackige Scheibe, \vie die Seesterne, oder die Korperscheibe ist kelchartig gekriimmt und ibr aboraler, d. h. dem Munde entgegengesetzter Pol, in einen langen Stil ausgezogen, die Arme lang cylindriscb Haarsterne, Crinoiden. AuBerdem sind die fossilen Reste von zwei giinzlicb ausgestorbenen Gruppen der Cystideen und Blastoideen bekannt. Kein Anhanger der Descendenz- tbeorie kann eine plausible Darstellung geben, wie die sechs Stil- varianten aus einer gemeinsamen Urform entstauden seien. Diese Sachlage spiegelt sicb in Haeckels1) Bericbt wieder: ,,Zur Erklarung des Ursprungs und der Pbylogenese der Ecbinodermen sind seit 30 Jabren mehrcre, sebr weit- auseinandergebende Tbeorien aufgestellt worden. Nach- dem die ganz verfeblte Ableitung der pentaradialen Ecbino- dermen von tetraradialeu Nesseltieren (bald Medusen, bald Ctenopboren) aufgegeben war, kamen die iibrigen Hypotbesen in dem wicbtigen Grundsatze iiberein, dass die uralte gemein- same Stammform des ganzen Pbylon ein ,,wurmartiger Organis- mus", ein bilateraler Helmintb gewesen sein miisse. Ferner einigten sicb die meisten Tbeorien in dem zweiten wicbtigen Grundsatze, dass die Entstebung der pentaradialen Echinodermen aus den bilateralen Helmintben durcb A np as sung an fest- sitzende Lebensweise bewirkt sein miisse. Da eine andere physiologische Ursacbe fur die Ausbildung der fiinfstrabligen Korperform nicbt gefunden werden konnte, ist aucb dieser zweite Grundsatz jetzt fast allgemein angenommen. Dagegen geben nocb beute die Hypothesen dariiber weit auseinander, mit welcbem Korperteile die alteste Dipleurula (oder vielmehr die entsprecbenden Astrelmintben-Abnen) sicb festgesetzt baben, und durcb wclcbe eigentiimlicben Umbildungen daraus das Astrozoon entstanden sei. Unter den verscbiedenen, heute Docb vertretenen Hypothesen balteu wir diejenige fiir die richtige, welcbe (1888) als die Pentactaea-Tbeorie aufgestellt worden ist. Wenn sie auch uicht a lie Riitsel der Astro- genese lost und nicbt alle Seiten dieses verwickelten Problems richtig betracbtet, so enthalt sie docb nacb unserer Uber- zeugung den wertvollen Kompass, der zur vollen Losung derselben fiihren wird." Beacbten Sie wobl, so resiguiert scbreibt ein iiberzeugter Apostel der Descendenztbeorie! Icb spreche die gleiche Tbatsacbe nur l) E. Haeckel, Systematische Phylogenie, II. 1896, p. 355. 184 Zwolftes Kapitel. mit andeien Worten und niichtern aus: Es kann kein Mensch iiber die Entstehung der Echinodermen eine bestimmte Meinung auBern. Zwei andere Zeugen. Korschelt und Heider1), beide warme Anhanger der Descendenztheorie, sagen dasselbe noch bestimmter: ,,Alle Echinodermen besitzen einen radiiiren Bau, die Larven hingegen sind von bilateral-symmetrischer Gestaltung, sowohl in Bezug auf ihre innere wie auBere Organisation. Wie auf ontogenetischem Wege (d. h. wahrend der individuellen Keimes- entwickelung) die radiare aus der bilateralen Struktur hervor- geht, wurde an verschiedenen Beispielen gezeigt, doch thut sich nun die Frage auf, wie die Gestaltung der Echinodermen in phylogenetischer Hinsicht zu erklaren ist. Una diese Frage zu losen, wiirde es erst eine andere zu beantworten gelten, namlich die, ob die verschiedenen Echinodermeugruppen von einander her- zuleiten und welche dann die hochst stehende , welche die niedrigste sei. In neuester Zeit hat man die Holothurien und speziell die fu'Bchenlosen Holothurieu (Synapta) als die am tiefsten stehenden Forrnen angesprochen. — • Diese Theorie leitet zwar die Echinodermen auf eiufache Formen zuriick, aber sie giebt keine Erklarung fiir die Entstehung der radiaren Ge- staltung." ,,Eine andere Theorie ist die, welche die einzelnen Ab- teilungen von einander getrennt auf eine genaeinsanie, als Pentactaea bezeichnete Stammform zuriickfiihrt (Semon). - An dieser Theorie fallt die Schwierigkeit auf, dass die fiinf Stamme, wenn sie eine solche getrennte Entwickelung genommen hatten, kaum eine so groBe Ubereinstimmung in ihrer Organi- sation zeigen wiirden, als sie thatsachlich besitzen. Uns scheint es richtiger, die Stammformen der Echinodermen unter dem thatsachlich vorliegenden Material zu suchen, welches die Paliiontologie bietet, wobei allerdings wieder die andere Schwierigkeit hervortritt, dass dieses Material nicht vollstandig ist, indem zartere Formen nicht erhalteu bleiben und dass es nur die auBere Gestaltung erkennen lasst." ,,Mit der Frage, welcher Art wohl die bilateralen Voriahren der radiaren Stammform gewesen sein mogen, stehen wir vollkommen in der Luft.u Arnold Lang2) muss ein iihnliches Urteil fallen: ,,Kein Stamm steht in der Tierwelt so scharf abge- J) E. Korschelt u. K. Heider, Lehibuch der vcrgl. Entwicklungsgeschichte der -wirbellosen Tiere. 1890, p. 305, 306. -) A. Lang, Lehrbuch der vergleich. Anatomie der wirbellosen Tiere, Jena 1894, p. 1139. Die Entstehung der Stachelhauter. 185 grenzt da, wie derjenige der Echinodermen. Alles in ihrer Organisation ist fremdartig, selbst der radiare Ban ist fremdartig in so ferae er im Gegensatz zu demjenigen vieler Colenteraten nur die Maske ist, hinter welcher sich eine uns noch unver- standliche, komplizierte Asymmetrie verbirgt. Wir sind uicht im stande, irgend einen erwachsenen Vertreter der Echinodermen mit irgend einem erwachsenem Vertreter eines anderen Tier- starnmes von phylogenetischen Gesichtspunkteu aus zu vergleicheu. Die Schwierigkeiten, die dem Versuche eiuer Rekon- struktion der Phylogenese der Stachelhauter entgegen- stehen, werden noch dadurch vermehrt, dass sich die typischeu. charakteristischen Echinodermenlarven auf keinem Stadium der Entwickelung mit irgend welchen Larvenformen anderer uus be- kannter Tierformen vergleichen lassen." Dann folgt eine ausfuhrliche Darstellung der subjektiven Ansicht, welche A. Lang selbst uber die Stammesgeschichte der Gruppe hegt. Sie klingt in folgende Satze1) aus: ,,In den vorstehenden phylogenetischen Betrachtuugeu haben wir vermieden, in das Einzelne zu geheu und haben auch ganz wichtige Fragen - nicht beriicksichtigt. Sie konnen nur durch erneute, sowohl ausgedehnte als vertiefte und verfeinerte Untersuchungen weiter gefordert werdeu. Bei der Anwendung unserer Gesichtspunkte auf speziellere Fragen der Echinodermenmorphologie miisseu wir in der Mehr- zahl der Fiille erkennen, dass sie zur Erklarung nicht ausreichen, dass sie mit zahlreichen Thatsachen der Ontogenie und Anatomie sich zur Zeit nicht vereinbaren lassen. Die neueren Untersuchungen uber Echinodermenmorphologie uud die tastenden Versuche einer phylogenetischen Erklarung, die ganz neue Gesichtspunkte bringen, berechtigen aber eutschieden zu der Hoffnung, dass sich nach und uach manches interessante und wichtige Problem auf diesem Gebiet in befriedigenderer Weise wird 16s en lassen." Also mit anderen Worten : Die Organisation der Echinodermen ist so eigenartig, so scharf geschieden vom Aufbau des Tierkorpers in anderen systematischen Gruppen, dass wir uns keine Vorstellung bilden konnen, aus welcher Urform sie sich heraus gebildet haben. Man begreift die in den obeu augefuhrten Citaten sich aus- sprechende Resignation erst, wenu man die manuigfachen und wider- spruchsvollen phylogenetischen Hypothesen iiber die Entstehung und Verwandtschaft der Echinodermen genauer studiert. Da dies hier !) 1. c. p. 1147. 186 Zwolftes Kapitel. nicht am Platze 1st, will ich Ihnen nur oiu gedrangtes Kesuine liber die in dem letzteu Jahrzehnt erschienenen Publikationen geben. L. Cuenot behauptete 1891, dass keine der Echinodermen- klassen von einer der anderen abstamme, jede besitze ihre eigene Urform, diese aber seien aus einander entstanden. Im gleichen Jahre leitete F. J. Bell alle Klassen von einem Urechiuoderm ab. Biitschli dachte sich eine bilateral symmetrische hypothetische Urform und gab sich alle Miihe, die Entstehung der fiinfstrahligen Organisation aus ihr einleuchtend zu machen. H. Bury bestritt 1895 die Kicbtigkeit aller vorber geauBerten Hypothesen, um eine neue kriecbende bilaterale Urform zu koustruieren, welcbe im Laufe der Stammesgescbicbte radiar geworden seio soil. E. Haeckel erklarte 1896 sein Phantasiegebilde, die uralte Pentactaea als die Stammtbrm samtlicher Stachelhauter ; nur die altesteu palaozoischen Ecbinodermen sollen einer nocb alteren bilateralen Form, welcbe Ampborea genannt wird, entsprosseu sein. Vor kurzem bat der Freiburger Palaontologe G. Steinmann1) eiue ganz sonderbare Ansicbt ausge- sprochen, welcbe icb mit seinen eigenen Worten vortragen will : ,,Alle beutigen und die meisten fossilen Vertreter der Stacbel- bauter zeicbneu sich durch die regelmaBig funfstrahlige Anordnung ihrer wicbtigsten Orgaue aus. Die anscheinend rnathematisch gesetzmaBige Grundlage ihres Baues 1st durchgaugig auch schon beim jungen Tier ausgepragt, welches sich aus einer zweiseitig ge- bauteu Larve durch Metamorphose entwickelt. Aus diesem Verhalten war die Vorstellung entspruugen, dass dem gemeinsamen Vorfahr aller Stachelhauter, der seinerseits von zweiseitig gebauten Abnen stamrne, die regelmaBig fiinfstrahlige Anlage eigen gewesen, und dass diese auf alle Nachkommen als homologes Merkmal iibertragen wordeu sei. Trotzdem nun fossile Kepraseutanten der einzelnen Orduuugeu in groBer Zahl aus alien Zeiten, uamentlich auch aus den altesten Formationen bekannt wareu, hatte doch die Palaontologie auch in diesem Falle in der Auffindung der gemeinsamen Stammform und der geforderteu Ubergangsformeu zu den einzeluen Ordnungen versagt. Dagegen waren in den alteren Ablagerungen zahlreiche Vertreter eiuer ausgestorbenen Gruppe, der Beutelstrahler, Cystoidea, gefundeu worden, die wegeu der unvoll- kommeuen oder gar uicht ausgepragten Fiinfstrahligkeit im Gegen- satz zu den Normalformen als aberrauter und ganzlich erloschener Formenkomplex erschien. Neumayr kounte nun iiberzeugend darthun, dass in den Beutelstrahlern die Stammgruppe der haupt- ') G. Steinmann, Die Erdgeschichtsforschung wahrend der letzten vier Jabrzehnte. Rede bei der tTbergabe des Prorektorates. Freiburg i. Br. 1899. SI rr . 47. Die Entstehung der Stachelhauter. 137 sachlichsten heutigen Ordnungen gegebeu sei, und dass der ftinf- strahlige Ban sich innerhalb derselben mehrmals unabhaiigig herausgebildet habe." An einer spiiteren Stelle der Rede kommt Steinmaiin nochmals darauf zuriick. (S. 49) ..Aii dem Beispiele der Stachelhauter konnte ein weiteres Er- gebnis der historischen Methode aufgezeigt werden, die allmahliche und mehrfach wiederholte Herausbildung der mathematischen Gesetz- maBigkeit, welche jetzt den Ban der gauzeu Klasse beherrscht. Wo derartige GesetzmaBigkeiten, sei es in der Zahl und Lage der maBgebeuden Organe, sei es in der regelmaBigen, z. B. kugelformigen Gesamtgestalt in der Tier- uud Pflanzenwelt auftreten, hat man sie mit Yorliebe fiir Merkmale geuommeu, die der betreffenden Gruppe von eiueni bestimmten Zeitpunkte ihrer Stammesgeschichte an durch einen einmaligen Vorgang endgiltig aufgepragt wordeu seien. Sie galteu fiir etwas Urspriingliches ini*Gegensatz zu der unregel- maBigen oder ungesetzmaBigeu Ausgestaltung, welche sich bei ein- zelnen Individuen oder bei groBeren verwandten Formenkomplexen findet. Daher auch die Neigung, bei der Konstruktion von Stamni- baumeu von den regelmaBigsten Gestalten auszugehen und die ab- weichenden davon abzuleiten. Fiir manche Fiille soil die Moglichkeit eines solchen Vorganges nicht geleugnet werden, die am besten studierten Beispiele, so die Stachelhauter, Steiukorallen u. a. sprechen fiir das Gegenteil." Mich hat an dieser Darstelluug zunachst das Referat iiber Neumayr's1) Ansichteu liberrascht, denn ich war durch die Lektiire des Buches dieses tiichtigeu Gelehrten zu einer anderen Meinung gelangt und glaubte, Neumayr wolle die bekanuteu Echinodermen von regelmaBig fliufstrahligen Vorfahren ableiten, sonst wtirde ich folgeude Satze seiner Darstellung uicht begreifen: p. 487. ..Schon eine oberflachliche Betrachtuug zeigt, dass die Aufstellung eines genauen Stammbaunies nicht rnoglich ist, uud dass die palaontologischen Erfahrnngen keinen Anhaltspuukt geben fiir die Aufstellung einer Hypothese liber die Tierform, aus welcher die Echinodermen sich entwickelt haben. Alleiu wenn auch so weittragende Folgerungen ausgeschlossen sind, so liegen doch einige sehr wichtige Thatsachen fiir die Beurteilung der Frage vor, welche unter den verschiedenen Echinodernienformen. die wir kennen, dem Grundtypus am nachsten steht." p. 489. ,.Es sind nur die Cystideen, welche als der Stammtypus der Echiuodermen, beziehuugsweise als die deuselben am nachsten stehende Abteilung betrachtet werden konnen. Nehmen wir eine J) M. Neumayr, die Stamme des Tierreiches I. Bd. Wicn. F. Tempsky. 1889. 188 Zwolftes Kapitel. Form an mit zahlreicheu unregelmaliig gelagerten Tafeln, aber init regelmaBig fiinfzahligen Ambulacren, so stellt sie uns deu- jenigen Typus dar, aus welchem sich alle auderen durch einfache Ent- wickelting ohne Zuhilfenahme naturwidriger Vorgange ideell ent- wickeln lassen. Agelacrinus l) konnte etwa als ein der Stamm- form nahe verwandter, aber durch Festwachsuug der Unterseite modifizierter Typus betrachtet werden; da iiberdies jeue urspriing- lichsten Vorkommnisse vermutlich mit Kelchporen versehen gewesen sein dlirfteu, so kann etwa die Gattuug Mesites2), wie wir sie obeu kennen gelernt haben als eine dem Stammvater besouders nahe stehende Sippe betrachtet werden." ,.Wenu eine solche Form den Seesternen, Seeigelu, Crinoiden uud Blastoiden gegeniiber als eine urspriiugliche betrachtet werdeu kann, so ist eine audere Frage, ob sie auch uuter den Cystideen selbst dieselbe Rolle spielt. Es handelt sich dabei um die Frage, ob die Formen mit flint' normal strahligen oder diejenigen mit unregelrnaBigen Ambulacren als primitiver betrachtet werdeu niiissen." 26 Zeilen spiiter bemerkt Neumayr (p. 491), die Frage sei noch uicht spruchreif und verdieute, der Aufmerksamkeit spaterer Forscher empfohlen zu werdeu. Professor Steinmann war, nachdem ich ihm meine Bedenkeu niitgeteilt hatte, so liebenswiirdig, niir zu schreibeu, dass er durch die personliche Bekanntschaft mit Neumayr wisse, dass derselbe wahrend des Druckes der ,,Stamme des Tierreiches" seine Meinuug anderte. Leider kounte Neumayr das nicht mehr aussprechen. In dem Nachtrage zum ersten Bande 3) verleiht er nur dem Umstande Ausdruck, dass ,,aller Wahrscheiulichkeit nach die Fiiufziihligkeit des Echinoderrnenbaues sich erst inuerhalb der Cystideen eutwickelt." Flir uusere Betrachtung ist es iibrigeus irrelevant, ob Steiu- mann mit Recht die Autoritat Neumayr 's anzieht. Uns inter- essiert mehr die Thatsache, dass durch Steinmaun's Ideen das stammesgeschichtliche Problem eine neue Verwickelung erfahrt.4) 1) Agelacrinus gleicht einem auf eine Platte aufgewachsenen See- oder Schlangensterne. Die Platte selbst haftet auf einem anderen Korper und wird aus zahlreichen, ohne Regel geordneten, schuppenformigen Stiicken gebildet. 2) Mesites ist eine Form mit ganz reiner Fiinfzahl der Ambulacren. 3) Neumayr, 1. c. S. 582. 4) Um Missverstandnissen zu begegnen, bemerke ich, dass schon vor Stein- mann andere Phylogenetiker die gesonderte, unabhiingige Entstehung groCerer oder kleinei'er systematischer Gruppen behauptet haben. (Vergl. S. 120, 164.) Ich babe Steinmanns Ansichten nur wegen der Feierlichkeit und Ofientlichkeit der Aulierung herausgegrifien, um den ferner Stehenden die Konsequenzen zu liiutern. Eiue nmfassende Kritik aller phylogenetischen Versnche liegt nicht in meinem Plan und ist heute zumeist iiberfliissig. Die Entstehung der Stachelhauter. 189 Bisher hatte man ziemlich allgemeiu angenommen, class die iu einer gro'Beren systematischen Gruppe ob der vielen gemeinsamen Charaktere des Korperbaues vereinigten Artindividuen von einer einzigen Wurzel sich allmiihlich entwickelt haben, dass also alle Echinodermen, Reptilien, Vogelu. s. w. von einer Wurzelart stammeu. Steinmann aber ist anderer Meinung. Er vertritt den Gedauken, dass, wie verschiedene Wege nach Rom fiihren, auch die Natur eine ahnliche Organisation auf verschiedenen Entwickelungswegen gezeitigt haben konne. Das klingt zunachst sehr iiberraschend, weil der dem zoologischen Erfahrungsschatze feme stehende Laie die mannig- fachen Differenzen zwischen den groBeren Gruppen eines Organi- sationskreises nicht kennt und die pedantische Herrschaft eines ihm gerade bekannteu anatomischen Baues fiir alle Einzelfalle vermutet. Erinnern Sie sich aber des fundamentalen Gegensatzes z. B. zwischen den drei Hauptformen der Mollusken, so werden Sie begreifen, dass ein tiichtiger Mann zu der Meinung kommen kann, dass die Muscheln, Schnecken und Tintenfische unabhangig eutstanden seien. In dessen Denken gewinnen eben die wirklich bestehenden Unterschiede eine gro'Bere Gewalt als das Vorkommen gemeinsamer Merkmale. Er sagt sich, wenn wir auch die Muscheln, Tintenfische und Schnecken Mollusken oder Weichtiere nennen, so sind sie doch sehr von einander verschieden, dass ich mir unmoglich vorstellen kann, wie dieselben von einer einzigen Ahnenform entstanden seien. Andere ziehen sich gleich Haeckel aus der Verlegenheit, indem sie eiuige total unbe- kannte, ausgestorbene Verbindungsgruppen in solch einem Falle ein- schieben. Steinmann aber vertheidigt die Ansicht, die Verschieden- heit der heutigen Gruppen deute auf Verschiedenheit der Ahnen hin. Die soeben angestellte Erwagung mit etwas anderen Worten stilisierend sagt er : Die systematischen Gruppen des Tierreiches sind ohne Riick- sicht auf stammesgeschichtliche Gesichtspunkte friiher unterschieden worden. Deshalb miisse, ehe sie als Geriiste fiir die Konstruktion der Stammbaume iibernommen wiirden, erst gepriift werden, ob die ihre systematische Zusammeugehorigkeit erzwingenden Merkmale vieler Arten auch in phylogenetischer Hinsicht verwertbar seien und wirklich fur die monophyletische Abstammung sprechen. Wer einmal so weit fort- geschritten ist, neigt innerlich dem Prinzipe der Vielstammigkeit lieber zu, umsomehr, als er dadurch eine bis jetzt nur zaghaft geauBerte Auffassung innerhalb der phylogenetischen Schule vertritt, welche von der bisher wenig angefochtenen Grundansicht der Descendenz- theoretiker wesentlich abweicht. Denn bisher legte die allgemeine Verbreitung des typischen Organisationsplanes und seine unbedingte Herrschaft in alien Fallen, auch dort, wo starke Modifikationen desselben (ich erinnere an die vorderen GliedmaBen der Wirbeltiere 190 Zwolftea Kapitel. Seite 55) genaues Studium erforderten, bis er tkatsacklick erkaunt war, drn Descendenztkeoretikern den Gedankeu nake, dass der funf- fingerige FuB der Stammgruppe der VierfiiBer bereits eigen war, oder, um einen aknlicken Geclanken in der modernen, sog. kisto- rischen Fassung auszudriicken, dass die gemeinsamen typischen Merk- male einer Gruppe z. B. die fiiufstrahlige Ordnimg der Seitenaste des Wasser-, BlutgefaB-, und Nervenringes etc. den Echinodermen zu einem bestimmten Zeitpunkte ihrer Stammesgesckickte durck einen einmaligeu Vorgang endgiiltig aufgepragt und auf samtlicke mannig- fack divergierende Nackkommen vererbt wurdeu. Ja sogar die entfernteste tkeoretiscke Moglickkeit, irgend ein gemeiusames Moment der Aknlickkeit zwiscken fundamental ge- sckiedenen Organen, z. B. zwiscken der GliedmaBe und Fisckflosse anzuzeigen, katte den Fauatikern der Abstammungslekre geniigt, die Blutsverwandtsckaft als feststekend auzuseken. Auck Haeckel's Deuken bevorzugt in den meisteu Fallen die einwurzelige, rnono- pkyletiscke Abstammung. Jetzt tritt Steinmann auf den Plan, ebenso wie die Mekr- zakl der keutigeu Gelelirten von der Ricktigkeit der Abstammuugs- idee iiberzeugt, und proklamiert das gerade Gegenteil oder mindestens die Ungiiltigkeit der biskerigen Scklussfolgeruug in einigeu Fallen. Ikni bezeugt der kokere oder geriugere Grad anatomiscker UbereiQ- stimmung der Organe bei den Gliedern einer weiten Gruppe uickt .un- bedingt die Blutsverwandtscbaft; er deukt, die einer Gruppe, z. B. den Eckinodernieu oder den Siiugern, gemeinsameu Merkmale konnen eine bestimmte Konibinatiou von anatomiscken Eigensckafteu clar- stellen, welcke von ganz versckiedenartigen Tiergesckleckteru zu ver- sckiedeuen Zeiten erworben wurde, etwa so, wie der Nestbau bei Vogeln und Ameiseu, Bieneu, Wespeu oder die Fakigkeit der Tou- erzeugung bei Vogelu und Grillen auftritt, oder wie die Wasser- atmuug wakrend der Larvenzeit versckiedener, spater luftatmender Tiere, der Ampkibien, vieler Fliegen und anderer Insekten voriiber- gekend ersckeint. So konute die fiinfstraklige Ordnung wicktiger Korperorgane der Eckinodermen mekrfack in versckiedeueu Ge- scklecktern entstauden sein. Nack Steinmanu, der sick damit einer von amerikaniscken Palaoutologeu, z. B. Osboru, geauBerten Denkricktung anscklieBt, konnten auck die systematisck wicktigeu Eigensckaften der Siiugetiere mekrmals und vielstammig, d. k. in drei ganz versckiedenen Reptilieugruppen entstaudeu sein, inclem eine nock unbekannte Reptilieugattung sick gesoudert zu den Scknabeltiereu, eine andere zu den Beuteltiereu und eine dritte uuabkangig zu den placentalen Saugern eutwickelt kat. In audereu Gruppeu mag das in aknlicker Weise gegangen sein. Die Entstehung der Stachelhauter. 191 Obwohl Steinnuuin seine Idee noch nicht welter ausgefiihrt und am thatsachlichen Material die Notwendigkeit derselben erlautert hat, 1st sie fiir unsere Betrachtuugen desbalb wichtig, well sie einen ueuen Zwiespalt im descendenztkeoretiscken Lager andeutet, der zum vollstaudigen Bankerott ftihren wird. Die Rede Steinmann's zeigt, dass ein ebrlicb iiberzeugter Anhanger des Abstammungs- gedankens, ohne denselbeu selbst aufzuheben, die ganze bisberige Richtung der phylogeuetischen Speculation umwerfen kann. Das ware nicht moglich, wenn die TJberlegungen und Scbliisse derselben wirklich auf thatsachlickeni Boden festen Halt gefunden batten. Ina descendenztheoretischeu Lager selbst werden also Zweifel dagegen laut, dass die; systematiscbe Zusammenfassung der kleinen oder groBeren Tiergruppen obue weiteres als genetiscbe Folgen der bypotbetiscb- Termuteten Blutsverwandtscbaft betrachtet werden. Neue Untersucbungen sind anzustellen mit der ausgesprocbenen Ab- sicbt, den systematiscben Ziisammenbang aufzulosen und einen scbarfen Gegensatz zu der ernpirischen, d. b. im rnodernen Sinne reformierten, Linnescben Systematik und der pbylogenetischen Klassi- fikation zu statuieren. Es ist nun abzuwarten, ob man bei der von der ganzeu Abstammuugsscbule beklagten Unvollstaudigkeit des posi- tiven Tbatsacbenmaterials die polypbyletiscbe Entwickelung einer groBen systematiscben Gruppe wird besser beweisen konnen, als die bisber gesucbte monopbyletiscbe Entstebung. Di« pbylogenetischen Versuche an anderen Orgauisationsgruppen ebenso eingehend zu schildern, halte icb hier nicht niehr fiir notig, da Sie an vier tierischen T}'pen die Unzulanglichkeit der stammes- geschichtlichen Denkrichtung sehen konuten und die Vorfahrenreihe der iibrigen nicht sicherer steht. Uber die Wiirmer urteilt Haeckel1) selbst recht kleinlaut: i ,.Die morphologischen und phyletischen Yerwandtschafts- Beziehuugen der fiinfzebn Wurmtier-Klassen, welche wir auf die angefiihrten 4 Cladome verteilt und in dem nachstehenden System zusarnmengestellt habeu, sind sehr schwierig zu be- urteilen; die Ansichten dariiber gehen daher auch heute^noch weit auseinander, mehr als in irgend einer anderen Gruppe des Tierreichs. Dieser Umstand ist nur zum Teil in irrtiini- lichen Ausichten und Urteilen der Systematiker begriindet, zum auderen Teil aber in der Sache selbst. Denn wir miisseu E. Haeckel, System. Phylogenie II, p. 263. 192 ZwSlftcs KapiteL bedenken, dass die heute noch lebenden Vermalieu-Klassen (Wurmklassen) nurdie letzten griinenden Zweige eines reich ver- zweigtenStammbaumessind, desseu zablreicbe Aste zumgroBten Teil langst abgestorben sind; dieselbeu waren im Laufe vieler Jahr-Millionen durch Tausende von divergenten Zweigen vertreten, welche wegen Mangels barter Skeletteile uns keine Spur ibres Daseins hinterlassen konnten." Aucb die Scbwamme steben uocb ganz isoliert. wie Haeckel's1) Worte beweisen: ,,Die zablreicben fossilen Scbwamme, deren verstei- nerte Uberreste wir genau kenneu, uud deren Struktur uns erst seit den letzten 20 Jabren naber bekannt geworden ist, bilden jeden- falls nur einen geringen Brucbteil von der reicben Spongien- (Scbwamm-) Fauna, welcbe seit der Arcbolitb-Ara Millionen von Fig. 94. Foesile Schwamrne. A Aulocopium aurantium, unteres Silur und Diluvium, B Craticularia paradoxa, rechts die Skelettelemente vergrOCert, oberer Jura. Jabren bindui-cb die Meere bevolkert bat. Denn erstens ist ein groBer Teil dieser Tiere der Versteinerung nicbt fabig, vor alien die zarten Asconateu mit ibrem diinnwandigen Robren- leib; ferner die skelettlosen Malthospongieu, welcbe keine Kiesel- oder Kalk-Skleriten (Fig. 95) bilden, eudlicb aucb alle jene weicben Kiesel- und Kalkscbwamme, deren Mineralspikeln leicbt auseiuanderfallen. Zweitens sind diese Mineralstiicke oft metal itbiscb verwandelt; urspriinglicbe Kalknadeln sind gelost und durcb Kieselerde ersetzt; aber aucb der umgekebrte Prozess ist nacbgewieseu, an die Stelle von urspriiuglicben Kieselnadeln ist Kalkerde getreten. Daber ist ibre Deutung oft zweifelbaft. Drittens lebrt aucb bier wieder die auffallende UngleicbmaBigkeit in der Verteilung und Erbaltung der fossilen E. Haeckel, System. Phylogenie II, p. 75. Die Entstehung der Stachelhiiuter 193 Reste, wie liickenhaft die palaoutologiscbe Urkunde iinmer bleibt; so fmden sich zahlreiche fossile Spongien (be- sonders Lithistideii und Hexaktinellen Fig. 94) schon im Silur, spater im Carbon, dauu massenhaft im Jura mid der Kreide; aber die machtigen, zwischeu dieseu Fonnationen abgelagerten Scbicbteu des Devon, Perm und Trias enthalten teils gar keine, teils sehr unbedeuteude und wertlose Reste vou fossilen Spongien. Dazu kornmt viertens nocb, dass scbon u nter den alt es ten fossilen Scbwammen die hocli entwickelten Formen rnit stark differenzierten Kiesel-Nadeln (Fig. 95) (Litbistiden und Hexaktinelliden) vertreten sind. Daraus niiissen wir Fig. 95. Kieselskleriten oder Kieselnadeln von Sch wammen. scblieBeu, dass der altere und interessantere Teil ibrer Stamme'sges'cbicbte in die friibere Arcbolitb-Ara, in die cambriscbe uud pracambriscbe Zeit fiillt." ..Die Palaontologie der Spongien bat demnacb fiir die groBen allgemeinen Ziige ibrer Stammesgescbicbte fast gar keinen Wert; ibre liickenreicbeu positiven Daten kouneu nur auf die bistorische Entwickelung einiger kleiuen Forrnen- gruppen ein unvollkommenes Licbt Tverfeu. Inirnerbiu gebt daraus das bobe Alter dieses unvollkomniensteu Metazoen- Stammes positiv bervor. Fiir die Erkeuntuis der wichtigsten Pbasen seiner Gescbicbte, die Entstebung uud Fortbildung des Olyntbus, die Gescbicbte aller Askonaten und aller skelettloseu Camaroten sind wir gauz allein auf die Urkunden der ver- gleicbeuden Anatomic uud Ontogenie augewiesen." Fl eis ch m ann, Descenilcnztheorie- 13 194 Zwolftes Kapitel. Als einfacbste Lebewesen erscbeineu uns die Urtiere, Pro- tozoen, und zugleich als die Stammeltern samtlicher boherer Typen, wenn wir deren Entwickehmg aus niedersten Formen iiberhaupt an- nehmen. Uber die Art, wie die Vervollkommuung der einzelligeu Tiere zu einem vielzelligen Orgauismus erfolgte, konnen Sie nirgends positiven Aufschluss, ja nicht einmal eine allgernein acceptierte Hypothese boreu. Wir diirfen das Stadium der Organisationstypen und ilirer hypothetischen Stammesgeschichte urn so mehr beschlieBen, als die Descendenztheoretiker selbst allmahlicli zu der Meinung koinmen, dass die Entstehung der Typen iiberhaupt jenseits des exakten Gebietes sicbtbarer Vorgange liegt. Das gebt uu- zweifelbaft aus der Kritik hervor, welcbe Haeckel1) an dem Wert des palaontologiscben Materials iibt: ,,Die zablreicben versteiuerten Reste und Abdriicke, welcbe uns die Metazoen von der cambriscben Zeit bis zur Gegenwart biuterlassen baben, besitzen eiuen verscbiedenen Wert fur die Pbylogenie. Wir konnen in clieser Beziebimg drei Gruppen unterscbeiden : I. Hocbst wichtig fiir die Stammesgescbicbte sind die massenbaft erbaltenen Petrefakten nur in den drei von den zebn Stammen der Metazoen, nanilicb 1) den Mollusken, 2) den Ecbinodermen und 3) den Vertebraten (von den Fiscben aufwarts bis zum Menscben). II. Zablreicbe und gut erbaltene fossile Reste, aber von geringerer oder gar keiner Bedeutung fiir die Erkenntuis der Phylogenie, baben uns ausserdem drei andere Stiimme binterlassen, namlicb: 1) die Spongien, 2) die Cnidarien (Hydro- polypen, Korallen) und 3) die Articulaten (besonders die Cru- staceen). III. Yon den vier iibrigen Stiirnmen ist nur ein Teil der Vermalien (die Bryozoen und Bracbiopoden) durcb sebr zabl- reicbe Versteinerungen bekannt, welche jedocb aucb keinen besonderen Wert fiir deren Stammesgescbicbte besitzen; die grosse Mebrzabl der Vermalien bestand aus weicben und skelett- losen Tieren, die keine fossilen Reste binterlassen konnten, und dasselbe gilt fiir die drei Stiimme der Gastraeaden, Platoden und Tunicaten. Hieraus gebt bervor, dass die grosse Mebrzabl der Tiere, welcbe seit Jahr-Millionen auf unserem Erdballe gelebt haben, keine fossilen Urkunden oder aucb nur Spuren ibrer Existenz binterlassen bat. Aber aucb die positiven E. Haeckel, System. Phylogenie II, p. 15. Die Entstehung der Stachelhauter. 195 Dateu. welche uns die bekannten Petrefacten der Minderzahl liefern, besitzen fur deren Stammesgeschichte einen sehr un- gleichen Wert; in dieser Beziehung sind folgende Unterschiede hervorzuheben : 1) die fossilen Spongien siud zwar zahlreich und gut konserviert, geben aber keine wichtigeu Auf- schliisse iiber die Organisation dieser niedersten Coelenterien, welche wir als ,,Gastraea- Gormen" auffassen. 2) Die ver- steinerten Cnidarien haben nur in einer Klasse dieses formen- reichen Stammes ein bedeutendes historisches Interesse, in der Klasse der Korallen ; die palaeozoischen Vertreter derselben (Tabulaten, Tetrakorallen) sind wesentlich verschieden von den mesozoischen Epigonen (Hexakorallen etc.); auch unter diesen laBt sich die historische Umbildung der Formen-Reihe teil- weise verfolgen. Bei den iibrigen fossilen Cnidarien (Hydro- polypen) ist dies nicht der Fall. 3) Die wohlerhaltenen Kalkschalen der Bryozoen und Brachiopoden, der eiuzigen ver- steinerten Glieder des Vermalien -Stamraes sind zwar in palaeozoischen uud mesozoischen Forrnationen massenhaft und durch mehrere tausend Art-en vertreten; sie sind auch von hohem geologischen Interesse, geben aber liber die Organisation und Geschichte dieser Tiere wenig Auskuuft. 4. Die Ver- steinerungen von Articulaten, die wir kenneu (wenige Anne- liden, zahlreiche Crustaceen und Tracheaten) bilden jecloch nur einen kleinen Bruchteil von der ungeheuren Arten-Zahl dieses formenreichsten Stammes; sie sind aber teilweise von hohem phylogenetischen Interesse, besonders die Aspidonien (Trilobiten und Merostomen) auch die palaeozoischen imd mesozoischen Insekteu. — 5) Die fossilen Mollusken besitzen unter alien Versteinerungen die grosste Wichtigkeit fiir die Geologic, da sich Tausende von Arten wohlerhalten in alien Petrefacten fiihrenden Sediment en, vom Cambrium bis zur Gegenwart finden; viele derselben dienon als wichtige ,,Leitmuscholn" zur Charakte- ristik der einzelnen Schichten, indem sie eine ausgedehnte hori- zontale, aber uur beschriinkte vertikale Verbreitung besitzen. Dies gilt von alien drei Hauptgruppen der Weichtiere. von den Muscheln, den Schnecken und den Kraken. Viel geringer ist der Wert der fossilen Mollusken- Schalen fiir die Phylogenie dieses Stammes; denn erstens ist deren iiuBere Form oft nicht charakteristisch fiir den inneren Korperbau und die systematische Stellung, und zweitens tret en alle drei Hauptgruppen schon im Cambrium neben einander auf ; ihre Entstehungs- geschichte fallt also in die pracambrische Zeit. - 6) Die ver- steinerten Echinodermen dagegen, welche ebenfalls sehr zahl- 13* 196 Zwolftes Kapitel. reich iu alien Sediment-Gebirgen vom Cambriurn an sich finden, sind von hochster Wichtigkeit fiir die Phylogenie dieses Siammes ; denn ihr vortrefflich erbaltenes Dermal-Skelett giebt uns unmittelbar die wicbtigsten Aufscbliisse iiber ibre innere Organisation imd systematische Verwandtschaft; auch sind von den acbt Klassen dieses Stammes die drei iiltesten (Amphori- deen, Cystoideen, Blastoideen) mir aus palacozoischcn Scbichten bekaunt. 7) Noch wichtiger endlicb, imd die bedeutungs- vollsten aller Versteinerungen, siud die fossilen Yertebraten. Scbou aus dieser kurzen Ubersicht der Hauptgruppen er- giebt sicb die zweifellose Thatsache, dass die groBe Mehrzahl der ausgestorbenen Tier-Arten keine fossilen Reste binterlassen bat; aber aucb von der Minderzahl, deren Korper feste Skeletteile besaB und an sicb der Versteinerung fiihig war, blieben viele Arten (wahrscheinlich die moisten!) nicbt crhalten, aus den geologiscben urid biologiscben Gi linden, die wir friiher bereits erortert baben. Besonders ist nocb bervorzubeben, dass uns die zabllosen Jugendf ormen, Embryoneu und Larven der ausgestorbenen Metazoen wegen ibrer zarten Konsistenz fast niemals fossil erbalten bleiben konnten; diese empfind- licbe Liicke ist um so mebr zu bedauern, als deren Kenntuis fiir die Phylogenie von bocbstem Werte sein wiirde". Ebenso unbefriedigend lautet das Urteil iiber die erste Ent- stebung der Tiere selbst. Einstinimig bekennen die Anbiinger der Entwickelungstbeorie. dass wir dariiber iiberbaupt keinc sicbere Keuntnis erwerben werdeu. Teh will zimachst E. Haeckel1) das Wort geben : ..Der erste von den vier grossen Hauptabschnitten der orga- nischen Erdgeschicbte umfasst den ungeheureu Zeitraum vom Beginn des organischen Lebens bis zum Abschluss der cam- briscben Ablagerungen ; wir bezeicbnen denselben als das archo- zoische Zeitalter oder die biogenetische Urzeit Haufig wird dieser Zeitraum aucb heute noch als ,.azoiscbe Periode" den folgenden gegeniibergestellt, bauptsacblicb weil die miichtigen Sedimente desselben iiberaus aim an Versteinerungen sind ; nur die oberen Abteilungen, die cambriscbeu Schichten, enibalten eine geringe Anzahl gut erbaltener Petrefacten. Wenn aber hieraus gefolgert wird, dass wilhrend der Bildung der unteren, verstcinerungslosen Schichten, der gewraltigen laurentinischen Formationen, noch kein organisches Leben existierte, so ist dieser Scbluss vollig irrtiimlich. Der Mangel von Petre- E. Haeckcl, System. Phylogenie I. 1894, p. 20. Die Entstehung der Stachelhauter. 197 facten erkliirt sich sehr einfach durch den metamorphischen (oder besser: metalithischen) Zustand, in welchem sich der groBte Teil der archolithischen Gesteine befindet. Die zahlreichen ver- steinerten Reste von Protophyten und Protozoen, Algeu und Wirbellosen } welche diese krystallinischen Schiefer- und GneiBbildungen urspriinglich einschlossen , sind durch die spiitere Metalithose (d. h. Umanderung des Gesteincharakters) derselben vollig zerstort wordeu. Aber schon aus dem phylo- genetischen Charakter der iiltesten bekannten Petrefacten (aus dem untersten Cambrium) ergiebt sich, dass diesen relativ hoch organisierten Brackiopoden, Mollusken, Trilobiten u. s. w. lange Reihen von niedern Ahnen vorausgegaagen sein mils sen: Ahneureihen, die zu ihrer phyletischen Ausbildimg viele Millionen von Jahren bedurften." Jch setze hinzu, Ahnenreihen, inuerhalb welcher die Entstehung der Organisationstypen des Tierreiches geschehen sein muBte, aber Ahnenreihen, die nur theoretisch vermutct, uns vollkonamen unbekannt und deshalb fur die exakte Forschung von keinem Belauge sind. E. Koken1) sprach friihcr die gleiche Ansicht ganz klar imd dentlich aus : ,,Eine kurze Zusaramcufassung fiihrt zu dem Resultate, dass Colenteraten, Brachiopoden, Mollusken, Echinodermeu, Krusteu- tiere sicher, Annelideu und andere Wiirnier hochst wahrscheinlich schon in der cambrischen Periode scharf geschieden existierten, ja dass sogar unter diesen grosseu Gruppen viele der uus be- kannten Abteilimgen niederen Ranges sichherausgebildet hatten. - AVenn wir uns aui den Boden der Entwickelungslehre stellen und, ganz abgesehen von der Frage nach der Entstehung des erst en Lebens, verlangen, dass es eine Zeit gegebeu habe, in welcher nur Protozoen (einzellige Urtiere) die Bevolkerung der Meere bildeten, so konnen wir diese ruhig ebensoweit vor den Beginu der cambrischen Ara setzeu, wie die gesamte nach- cambrische Zeitrechnung betragt. AVir habeu nicht einrnal das Recht, das Fehleu der Wirbeltiere als begrlindet hinzu- stellen. Die lebenden, niedrigsten Vertreter der Wirbeltiere sind nackt, habeu weder eine Haut noch ein verfestigtes Innen- skelett, dass es sich fossil erhalten konnte, uud angesichts der neuerdings bekaunt gewordeuen Thatsache, dass schon im Unter- silur von Petersburg Fischreste vorkommeu, konnen wir den 1) E. Koken, Die Vorwelt und ihre Entwicklungsgeschichte. Leipzig 1893. S. 82. 198 Zwolftes Kapitel. Satz aussprechcn: Schon in den iiltesten Zeiten, aus deneu wir Urknnden in Gestalt von Fossilien besitzen, waren samtlicbe groBen Kreise der Tierwelt vertreten und zum Teil in mehrere Gruppen gespalten." Die Darlegungen der Phylogenetiker besagen also, dass die samtliehen Typen des Tierreichs zu einer Zeit entstanden sind. aus welcber gar keine positive Kunde zu uns dringen kann. Der Professor der Paliiontologie in Freiburg, Dr. Stein mann bekraftigte erst kiirzlich in seiner Prorektoratsrede1) die gleiche Ansicht mit den kategorischen "Worten : ,,Wir glauben bestimmt zu wissen, class uns die iiltesten Yertreter der Tiere und Pfianzen aller Art fur imnier unbekanut bleiben werden; ihre Spuren -\vurden wobl uberall infolge der hocbgradigen Umwandlung, welcbe die iiltesten Schichtgesteiue erfabren babeu, vollstandig verwiscbt." Desbalb ist es gauz ausgescblossen, die Eiitstebung der 17 Organisationstypen des Tierreicbs (vergl. S. 31) jenials zu erkennen. Der Desceucleuztbeoretiker vergeudet seine Zeit in der Sucbe nacb unmofflicher Einsicbt! Freiburg 1899, p. 33. Dreizelintes Kapitel. Das Licht der Entwicklungsgeschichte. Das haltlose Phautasiegebaude der Abstammungslehre hatte sein langst verdientes Schicksal schon friihor gefundeu, wenn nicht im Denken jedes Meuschen die Neigung fiir Marchen-Erzahlungen so stark lebendig ware. Der Marchenglaube aber wird um so un- erschutterlicher, wenn der nicht fachinannisch geschulte Zuhorer einen scheiubaren Beweis fiir die Richtigkeit der Erzahlung in die Hand bekommt. Als solcher wirkt in unserem Falle die Beliauptimg von den ausgestorbenen fossilen Resten, welche tJbergangsformen zwischen den hente lebenden nnd dnrch so scharfe Greuzlinien der Organisation geschiedenen Gruppen des Tierreiches vorfiihren. Die Leichtgliiubigkeit, welcbe die groBe Masse des Volkes den stanimes- geschichtlichen Berichten jederzeit entgegen bringt, erinuert mich lebhaft an eine Episode, welche Taine1) berichtet : Unter der Regierung von Ludwig XVI. glaubte das Volk, dass die Teuerung kiinstlich sei. Eines Tags belauschte eiu Offizier die Gesprache der Soldaten uud horte sie aus voller Uberzeugung reden, dass die Prinzen nnd Hoflinge das Mehl in die Seine werfen, um Paris aushungern zu lassen. Hieranf stellte der Offizier den Wachtrneister zur Rede? wie ereinesolche Dummheit glauben konnte, uud erbielt die Antwort: ,,Es ist aber die Wahrheit, denn die Mehlsilcke waren mit blanen Schniiren zugebunden". Von diesem Argumeute, das die Leute fiir imfehlbar liielten, waren sie dnrch nichts abzubringen. In unserem Falle treteu teils die fossilen Funde, teils die jetzt lebenden sog. Zwischenformen an die Stelle der blaueu Schniire und gelten den Laien als ein ganz unerschiitterlicher Beweis der Abstammungslehre. Das ist ein ganz sonderbares Verhalten. Wenn bei anderen Gelegenheiten jemand eine Schilderung von dern giebt, was einmal geweseu ist, so glaubt man ihm nicht, bis er die Belege fiir die Richtigkeit seiner Erzahlung briugt. Fangt aber der Anatom zu sprechen an, es konnen einmal Tiergeschlechter von ganz sender- barer Gestalt gelebt und als Nachkommen irgend eine der jetzt J) H. Taine, Geschichte des vorrevolutionaren Frankreichs. I. Bd. p. 384. 200 Dreizehntcs Kapitel. verbreitetcn Gruppen gczeugt baben, so lauscben ihm die Laien obne zweifelude Bedenken und redcn sicb scblieslich eiu, es sei reine Wahrheit, was sie nur als Vermutung aussprechen gebort baben. Diese Leicbtglaubigkeit der groBen Masse ist durcb ibre Unkenntnis zu entscbuldigen ; denii Sie werden durcb die friiberen Vorlesungcn eingeseben baben, welcb umfassendes Wissen in Anatomic und Paliiontologie erforderlich ist, um eiu ricbtiges Urteil iiber den Wert oder deu Unwert der Abstammungsbeweise zu fallen. Derjeuige aber, welcber die Tbatsacben kennt, befindet sicb in einer nocb viel scblhnmereu Lage als der Laie. Er gebietet liber ein tbatsiicblicbes Material, das liber die Entstebuug der Tiere keine GewiBbeit verbreiteu kann. Der Auatom bat immer nur fertige Tierkorper vor sicb, er kanu ibren Bau, ibre Formen studieren, er kann die Formeigenscbaften jedes Organes genau feststellen, und dieselben bei den naber venvaudten oderweiter entfernten Arten vergleicben, deren Abnlichkeiten oder Unterscbiede auslesen, aber er ist und bleibt an das Material gebunden, das feststebt und sich uicbt verandert. Was er in der Zeit ernes kurzen Menscbeulebens unter- sucbt, besitzt ganz bestimmte Merkmale des allgemeinen anatorniscben Aufbaues, welcbe wohl in eugeren oder weiteren Grenzen sebwanken, jedocb nicbt in ganz neue Modifikationen verwandelt werden. Die anatomiscben Tbatsacben verleiten uns also uicbt direkt, an eine Umwaudlung der Tienvelt zu denkcn, sie fiibren UUG ini Gegenteil strenge Grenzen innerbalb einer scbeinbar unbe- scbraukten Mannigfaltigkeit vor. Der Formtypus der Wirbeltiere ist durcb viele Eigenscbaften scbarf von den iibrigen wirbellosen Tiereu, die Insekten wiederum von deu Krebsen und Glieder- wiirmern getrennt. Das Studium der Molluskeu und Ecbinodenneu bestiitigt die gleicbe Tbatsacbe und wiirde icb nocb die anderen 14 groBen Gruppen des Tierreicbes mit Ibnen durchsprechen, so wiirdeu wir zum gleicbeu Resultate gelangen. Sie babeu aucb gebort, dass diese scbarfen Grenzlinien der Tierkreise nicbt bloB von mir, soudern aucb von den Anbangern der Descendenztbeorie betont werden, da sie zu offenkundig dem exakten Forscber in die Augen springen. Weun man nun innerbalb eines Organisationstypus z. B. der Wirbel- tiere Ubej'gangsformeu zwiscben den fiinf durcb scbarfe Grenzliuien des Korperbaues gescbiedeuen Klassen sucbt, so erbalt man wiederum kein befriedigendes Resultat; denn icb zeigte Ibnen fru'ber am Scbuabeltier und den Lungeufiscben , dass diese auf den ersten Blick fur Zwiscbeustufen zu baltenden Wirbeltiere nimmermebr vermitteludc Formen zwiscben den Reptilieu und Siiugetieren, bezw. zwiscben den Fiscben und Ampbibieu sind. Wobin aucb die anato- miscbe Forscbung bis jetzt gefiibrt wurde, an den Cbergiingen Das Licht der Entwicklungsgeschichte. 20 1 zwiscbcu den kleineren systematischen Gruppen und deu groBeren, durch die Auordnimg der wicbtigstcn Korperorgane gescbiedenen Organisationskreisen des Tierreicbes scheiterten die Hoffnungen der Descendenz-Tbeoretiker. Ebeuso verbalt es sicb mit deu paliumtologiscben Beweisen Haeckel's eigene Worte sagtenlbnen, class die fossilen Reste, welcbe viele niedere Tiergruppen in imsagbarer Fiille binterlassen baben, nns gar keinen Einblick in den Anfbau des Wcicbkorpers ibrer Triiger geben. Infoigedessen tappen wir beziiglicb der Umwaudluug der meisten Typen ganz im Dnnkelu. Dieses Resultat wirkt umsomebr niederscblagend, als die Paliiontologie vor 40 Jabren von der Desceudenztbeorie als Bundesgenossin augerufen wordeu war in der Hoffnung, man braucbe nur die iilteren Ablagerimgen der Erdkruste zu durcbsucben, um dort die liingst vom Scbauplatze des Lebens abgetretenen Ausgangsformeu, die einfacben Wurzeltriebe des jetzt so reicb entfalteten Tierstammbaumes zu finden. Die Hoffnung bat sicb als triigeriscb erwiesen, weil in den ultesten Scbichten nicbt, wie man erwartcte, die einfacbsten Formen, sondern die Reste bocb organ isierter Gescbopfe vorkoinmen. An alien bisber besprocbenen Beispielen konnte icb Ibnen klar legeu, dass die bis jetzt bekanuten fossilen Reste nns die groBen Liicken des bypotbetiscben Stammbaumes z. B. der Pferde, der Siiugetiere, der Mollusken uicbt auszufiillen vermogen. dass viele friiber als Zwiscbenformen beurteilte Funde z. B. die Arcbaeopteryx beute nicbt mebr deu boheu theoretiscbeu Wert beansprucben. Da also die Anatomic nnd Paliiontologie uus vollkommen ini Sticbe lassen, wenden wir uns voll Neugier der dritten Gruppe von Tbat- sacben, welcbe die Abstammungslebre stiitzeu sollen, niimlicb der Eutwickeluugsgescbicbte der Tiere zu. Hier tritt uns eine Umbilduug des Tieikorpers entgegen, die man nicbt fiir moglicb bielt, solauge die Larven- und Eientwicklung tiusserbalb des Gebietes zoologiscber Studien lag. Heute weiss jedermann, dass jeglicbes Lebewesen aus dena Ei beraustritt im unvollkommenen Zustand, klein, schwacb und oft bilflos auf die Brutpflege der Eltern angewieseu, dass es allmiiblicb beranwiicbst und zur Selbstiindigkeit reift. Aus deu Kinderscbuben tritt es in die Jugendzeit und in das Mannesalter ein, erfiillt die Gescbafte der Fortpflanzung, bis eudlich der Korper im Greisenalter niorscb zu- sammenbricbt. Wiibrend all dicser Perioden des Lebens crleidet sein Leib gewaltige Verilnderungen des auBeren Ansebens und des inneren Baues. Ich braucbe bloli etlicbe Beispiele kurz zu besprecben, damit Sie seben, dass das Studium der Entwickeluiigsgescbicbte jedermann 202 Dreizehntes Kapitel. Ausgestrecktei' Polyp zum Glauben verfiihren muB, die Transmutationshypothese sei eine ricbtige Annahmo der Naturforscbuug. Zugleich werden Sie begreifen, •\vanim hervorragende Manner ihre gauze Arbeitskraft der Begriindung und Verteidigung dieser nach meiner und nieiuer theoretischen Freuude unhaltbaren Ansicht gewidmet habeu. Wir steigen auf den Meeresgrund. Dort sitzen kleine pflanzenahnliche Tiere oder Polypen, schlauchformige Gestalten, mit einern Pol festge- wachsen, am andern liegt die Mund-Offnung, die in die groBe Magenhohle fiihrt. Die Mundoffnung 1st von kleinen finger- artigen Fortsatzen umstellt. welche sich schlangen- gieich bewegenkonnen und stets bereit sind, nahe kommendeBeutezu packen imd in deii Mund zu stopfen. Einegrosse Abteil- ung derselben, die Hydroid- polypeu, bilden strauch- artige Kolonien von vielert Einzeltieren (Fig. 9G). Zu bestimmten Zeiten wu- chern an der Kolonie neue Tiere, indem sich eine rundliche Zone oder viele diclitbenachbarte Zonen der Korperwand verdicken. Die verdickte Scheibe wircl groBer, endlich lost sich die Knospe vom Leibe des Polypen ab und schwimnit als Meduse im Meerwasser herum. Die Meduse besitzt eine schirm- oder glockenahnliche Form (Fig. 96). Aus der Schirmhohle hiingt ein Stiel herunter, der an seinem freien nntereu Ende die Mundoffnung tragt. Von ihr steigt der Darin als onger Kanal im Mundstiel empor, um sich im Schirm selbst zur Magenhohle zu erweitern. Von der Magenhohle ziehen radiare Kan ale durch den Korper gegen den Schirmrand in das RinggefaR. Die Medusen scheinen zunachst keine Ahnlichkeit mit Polypen zu besitzen. Hatten wir Zeit, so konnte ich nach- weisen, dass eine Meduse als stilistische Moditikation des Polypen- sackes zu betrachten ist; aber das liegt heute auBer meiuem Plan. Ich habe die Polypen nur herangezogen, weil man hier Abgelbste Meduse Polyp, zusammeiigezogeu Hiillkelch desselbeu Haufen von Uledusen- kuospeoi Wurzelftste der Kolonie Fig. 96. Stiiok eiuer Polypenkolonie voii 1 a r i a J o L u s t o n i. C am p an u - Das Licht der Entvvicklungsgeschichte. 203 direkt die Entstehung eines ganz anders aussehenden Tieres, der Meduse beobacbten kanu. Letztere siud die Geschlechtstiere der Polypen. An den radialen Kanaleu oder an der Magemvand verschiedener Medusen entsteheu namlicli GescLlechtszellen, Samen- oder Eizellen, welcbe durch Platzen der Scbirmwand ins Meer entleert werden. Dort kommen sie niit einander in Beriibrung, und die Befrucbtung erfolgt. Aus den Eieru geben jedocb uicht Mednseu, sonderu Polypen bervor. Wir lerneu also eine regelmaBige Abanderung der auf einander folgenden Generationeu von ganz gewaltigem Grade kenneu. Nocb komplizierter 1st die Entwicklungs- gescbicbte des Leberegels, Distomnm bepaticnm, eines kleinen flacben Wiirincbens von Lanzett- gestalt (Fig. 97), das in den Gallcngiingen der Scbafleber lebt. Seine reifen Eier gelangen durcb die Gallengiinge in den Darmkanal, spater mit dem Kot nacb aussen und miissen ins Wasser gespiilt werden , damit aus ibuen birnformige Larven (Fig. 98) ausscbliipfeu, von zartem Ban, bedeckt niit feinen Fliinmerbarcbeii , die Ruderu gleicb die Larve im Wasser berumtreibeu, bis sie sicb in eiue Wasserscbnecke, Lyrnnaens truncatulus, eiu- saugnapf und sehenkligem, verzweig- - ten Darrn. Fig. 98. Ent wicklungsf ormeu des Leberegels. 1 Fliminerlarve, 2 Sporocyste, 3 Eedie, 4 Cercarie. Die Flimnierlarve nistet sicb in der Leber ein, verliert dabei alle fiir das Wasserleben wicbtigen Organe, die schwarzen Augen- 204 Dreizehntes Kapitel. fleckc, die Fliminerhaare u. s. w. uud vervvandelt sich in eiuen Sack, der Sporocyste (Fig. 98) geuannt wird. An der Wand dessclben beginut nun neues Keimen. Es Ib'sen sich von derselben klcine Zelleu- ballen los, die in die Sackhohle hineinfallen, zuerst von rimdlicher Gestalt, spiiter liiuger auswachsend. Indem sich eine Mundoffnung und im Innern der Darmkanal entwickelt, werden die Keimzellhaufen junge, Hinglich gestreckte Tiere, die wir Redien (Fig. 98) nennen. Die Redien bleiben in den Schnecken wohnen und lassen in ihrem Inneren wioderum Ballen von der Wand knospen und in die Leibes- hohle fallen. Diese Ballen runden sich oval ah und am hinteren Rand wiichst ein kleiner, cylindrischer Fortsatz, dor sogenannte Schwanz hervor. Im Innern des Korpers entwickelt sich der Darm- kanal, als gabeliger Schlauch, wie ihn der geschlechtsreife Leberegel (Fig, 97) besitzt, die Saugnapfe entstehen am vorderen Ende und am vorderen Drittel des Korpers. Die kleinen Tiere , Cercarien (Fig. 98) genaunt, zeigen die meisten Organisationseigentiimlichkeiten des Leberegels, unterscheiden sich aber durch den Ruderschwauz. Endlich brecheii sie aus ihrem bisherigeu Gefiingnisse im Schneckeu- leibe aus und schwirren im Wasser mit Hilfe des Ruderschwanzes herum. Aber bald heften sie sich an eine Wasserpflanze fest, werfen den Ruderschwanz ab und scheideu ein Sekret aus, das als Kapsel erstarrt uud sie vor clem Vertrocknen schiitzt. Ein Schaf muss in die Nahe kommen, die Kapsel samt der Pflanze fresseu, damit im Magen die Hiille platzen und der junge Leberegel in die Gallen- giinge wandern kann. Dieses Beispiel beleuchtet den komplizierton Entwickluugsgaug bri den Plattwiirmeru. In audereu Gruppeu des Tierreiches linden sich ahuliche Beispiele ; ich habe schou aufnierksam gemacht, dass alle Krebse nicht in der Gestalt aus deni Ei kriecheu, wie sie Ihnen brkannt siud, soudern dass die rueisten Arteu als ,,Nauplien" (Fig. 75) erscheineu. Das siud kleiue ovale Larven, welche drei Paare von AHhaugeu besitzen, sehr weuig Ahulichkeit mit einem fertig aus- gebildeten Krebs zeigen uud uur deni Kopfe des klinftigen Tieres entsprecheu. Wiihrend sie frei im Wasser herumschwimuieu, wachseu die fehlenden Korperteile laugsam uach. Gleiche Beispiele siud Ihneu besser bekauut aus der Abteiluug der Insekten, feruer bei den Froschen (Fig. 105), die das Ei als deni Wasserleben angepasste Kaulquappen verlasseu, welche aufdem Laude elend zu Gruude geheu mlissten, wenn sie ein Zufall dorthiu brachte. Zu bestimmter Zeit bitssen sie ihren Ruderschwauz ein, verliereu die auBeren Kiemeu, welche die Atmuug im Wasser er- laubt hatteu und wandeln sich in anscheinend gauz audere Tiere, die lungenatruendeu Frosche, um. Das Licht der Entwicklungsgeschichte. 205 Der suiiiraarische Bericht liber die tiefgreifenden Urubildungs- vorgange jugendlicher Tiere muss fur heute genligen. Die rneisten dieser Beispiele siud friihzeitig bekannt gewesen und haben das Nachdenken der Naturforscher ma'chtig angeregt. Zuin Begiiin unseres Jahrhunderts verbreitete sich die Meinung, der Umstand, dass jedes tieriscbe und pflauzliche Lebewesen nicbt fertig ins Leben trete, sondern nacb der Geburt eine Reihe von Veranderungen durchlaufe, kiinde eiu tieferes Geheimuis der Natur an. Die Urnstandlichkeit des individuelleu Entwickelungsganges so vieler Arten zeige die historische Folge welche die Natur bei der Schopfung der Tierwelt eingeschlagen babe. Als erster Apostel dieser Ansicbt. die sicber scbou von alteren Eorschern gebegt, aber nur nicbt scbriftlicb niedergelegt wurde, tritt in' der Litteratur der Naturphilosoph L o r e n z Oken1) in Jena bervor. dessen Aut- fassuug durcb folgende, seiner allgenieinen Xaturgescbicbte fiir alle Stande entnommenen Satze beleucbtet werden soil: ,,Icb bin durcb meine pbysiologiscben Uutersucbungeu scbon vor einer Reibe von Jabren auf die Ausicbt gekoninien, dass die Entwickelungszustande des Kiicbelcbeus im Eie Abu- licbkeit baben mit den verscbiedenen Tierklassen, so dass es anfangs gleicbsam nur die Organe der Infusorien besitze. dann allniablicb die der Polypeu. Quallen, Muscbeln, Scbneckenu. s. w. erbalte. Umgekebrt musste icb daun aucb die Tierklassen als Eutwickelungsstufen betracbten, welche denen des Klicbelcbens parallel gingen. Diese Ansicbt von der Natur forderte die genaueste Vergleichung derjeuigen Organe, welcbe in einer jedeu boberen Tierklasse ueu zti den andereu biuzukornnieu und ebenso diejenigeu. welche irn Kucbelcbeu sicb wahrend des Briitens nacb einander entwickelu. Ein vollkommener Parallelis- mus ist natlirlicb nicbt so leicbt bei eiuem so scbwierigen und uocb lauge uicbt hinlanglich beobacbteten Gegenstaude berzu- stellen. Zu beweisen aber, dass er Avirklicb vorbandeu sei, ist in der That nicbt schwer; dieses zeigt ani deutlichsteu die Yerwandlung der Insekten., welcbe nichts weiter ist, als eine Ent- wickelung der Jungen, die auBerhalb dem Ei vor unseren Augen vorgebt und zwar so langsarn. dass wir jeden enibryouischen Zustand init MuBe betracbten und nntersuchen konneu." ,,Wenden wir uns nun zu denjenigen Insekten, bei welchen diese Zustande ani grellsteu bervortreteu. so fiuden wir deren bei den Scbmetterlingen drei, uiinilicb den Zustand der Raupe oder Larve, den der Puppe nnd den des vollkommenen fliegeudeu Insekts. a) L. Oken, Allgemeine Xaturgeschichte fur alle Stande 1833. IV. Bd., p. 468. 206 Drcizchntes Kapitel. ,,Vergloiclien wir cliese drei Verwandluugszustaude mit anderen Tiereu, so kann es uus uumoglich entgehen, dass die Raupen die groBte Ahulichkeit mit den Wiirmern haben und zwar mit den Meerwiirmern , an denen man Fusswarzen und Borsten bemerkt. - Betrachten wir die Puppen, so ist die Ahulichkeit mit der Schaleubedeckung der Krebse nicht zn verkeuuen; und man kanu nicht umhin zu sagen, dass die Raupeu ihre "Wurmform abgelegt und die Krebsgestalt augezogeu haben. Hier ware mithin die sogeuannte Verwandlung nichts anderes als ein Durchgang durch zwei Tierformen oder Tierklassen, namlich durch die Wiirmer und die Krebse zu den vollkommenen Insekten." Wer die Entwickelung der Tierwelt studiert, beobachtet gleich sonderbare Verauderungeu bis zum Erreichen der defiuitiveu Korper- form der Geschlechtsreife nicht bloB bei Tieren, welche frei lebende Larvenstadien besitzen, sondern auch bei den Tieren, deneu unsere Sprachgewohnheit die direkte Entwickelung zuerkennt. Wenu die Eier von den Miitteru gelegt werdeu, mogen sie nachher noch bebriitet oder sich selbst iibeiiassen sein, so kriecht wohl aus dem Ei ein Individium, das dem elterlichen Organismus mehr oder weniger ahnlich ist, z. B. bei Fischen, Eidechsen, Schlangeu und Vogeln. Sobald man aber das Schicksal des jungen Keirnes inuerhalb der Eischale, d. b. vor dem Ausschliipfen verfolgt, gewahrt man eine Folge YOU Veranderuugen, welche sich den Erscheinuugeu der freieu Metamorphose direkt an die Seite stellen lassen. Man wird daher deiiThatsachenbesser Rechuung tragen, wennrnandie allgemeine Eegel so formuliert: Stark modellierende Yeranderungen des Ktirpers sind eiu allgemeines Bildungsgesetz fiir samtliche Tierarten. Ihm folgen nicht bloB die dem Laien bekanuten, der Metamorphose unterworfenen Tierarten, sondern fast samtliche Eier mit sog. direkter Entwickelung. Die hochgradigen Formwaudluugeu der letzten Gruppe sind zu Beginn des Jahrhunderts nicht ordentlich bekauut geweseu, erst der enisige FleiB der entwTickeluugsgeschichtlichen Schule hat dieselben und ganz besouders die auftallende Ahulichkeit verschiedener, spater recht auffallig geschiedener Tiergruppen wahrend der ersten Entwickelungsstadien klar gestellt. Diese Thatsachen haben das Denken Darwin's1) so stark beein- flusst, dass er die Oken'sche Lehre in erueuter Fassuug wiederholte: ]) Charles Darwin, t)ber die Entstehung der Arten im Tier- und Pflanzen- reiche. Stuttgart 1860, p. 452, 460, 453. Das Licbt der Entwicklungsgeschichte. 207 ,.Denn der Embryo ist das Tier iu seinem weniger modifizierten Zustaude uud euthiillet uns insofern die Struktur seines Stamm- vaters. Zwei Tiergruppen mogen jetzt in Ban- uud Lebens- weise noch so verschiedeu von einander seiu ; wenn sie gleiche oder ahuliche Embryonalzustande durchlaufeu, so diirfen wir uns iiberzeugt halten, class beide von denselben oder von einander sehr ahnlichen Eltern abstammen uud deshalb in entsprechendem Grade einander nahe verwandt sind. So verrat Ubereinstimmuug iu der Embryonalbildung gerueinsame Abstammung. Sie verrat diese gemeinsame Abstammung, wie sehr aucli die Organisation des Alteu abgeandert uud verhiillt worden sein mag." ,.Die vorderen GliedmaBeu z. B., welch e der Stammart als Beine geclieut, mogeu iufolge lange wahrender Modifikation bei einem Nachkommeu zu den Dieusten der Hand, bei eiuem auderen zu cleneu des Ruders und bei einem dritten zu solchen des Fliigels augepasst worden seiu : so werden nach den zwei Prinzipien, class uamlich jede der successive!! Modifikationen in einem spateren Alter entstand uud sich auch erst in eiueni ent- sprechendeu spateren Alter vererbte, die vorderen GliedmaBeu in den Erubryonen der verschiedenen Nachkommeu der Stammart eiuauder noch sehr ahulich sein ; deuu sie sincl von cleu Modi- fikationen nicht betroffen worden. Nun werden aber in jeder unserer neuen Arteu die embryonischeu VorderglieclmaBen sehr von denen des reifen Tieres verschiedeu sein, weil diese letzten erst in spaterer Lebeusperiode groBe Abanderung erfahren haben und in Haucle, Ruder und Fliigel umgewanclelt worden sind. Was immer fiireiueu Einfluss lange fortgesetzter Gebrauch und Ubung einerseits und Nichtgebrauch andererseits auf die Abauderung eines Organes haben mag, so wircl ein solcher Eiufluss hauptsachlich das reife Tier betreffeu, welches bereits zu seiner ganzen Thatkraft gelaugt ist und sein Lebeii selber fristeu muB ; und die so eutstandenen Wirkungen werden sich im entsprecheudeu reifen Alter vererben, daher riihrt es, class das Junge durch die Folgen des Gebrauches uud Nichtgebrau.ch.es nicht veraudert wird oder nur wenige Abauderung erfahrt." ,,In gewissen Fallen mogeu die auf einander folgeuden Ab- auderuugsstuieu aus uns ganz unbekannten Griiuden schou in sehr friiher Lebenszeit erfolgen oder jede solche Stufe in einer friihereu Lebeusperiode vererbt wercleu, als worin sie zuerst entstanden ist. In beideu Fallen wircl das Juuge oder der Embryo der reifen elterlichen Form vollkommen gleichen. ,,So scheiuen sich mir die Haupterscheinungeu in der Erubryologie, welche an uaturgeschichtlicher Wichtigkeit keinen 208 Dreizelmtes Kapitel. ancleren uachsteheu. aus clem Priuzipe zu erklareu, dass geriugr Modifikationeu in cler langen Reihe von Nachkommen eines alten Stammvaters, wenn auch vielleicht in cler friihesten Lebens- zeit eiues jeden veranlasst, doch keineswegs in sehr friiheni Alter weiter vererbt wordeu sind. Die Embryologie ge- wiuut sehr an Interesse, weun wir uns den Embryo als ein mehr oder weniger verblichenes Bild der gemeinsamen Stammform einer jeden grolieu Tierklasse vorstellen." E. Haeckel1) gab' dem unbestimmteu Gedanken Darwins wenige Jahre spater eiue bestimmte dogniatische Fassuug, nannte seine Stilisierung das biogenetische Gruudgesetz uud verstand es. demselben allgemeiue Auerkennuug zu verscbaffen. Dasselbe besagt: ..Die Ontogenesis oder die Eutwickeluug der orgauischen IndiTiduen als die Reihe von Formverauderuugen, welche jeder individuelle Organisnms wahrend der gesamten Zeit seiner individnellen Existenz durchlauft, ist unmittelbar bedingt durch die Phylogenesis oder die Eutwickelung des organiscbeu Stanirnes (Phylon), zu welcbem derselbe gebort. Die Ontogenesis ist die kurze uud scbnelle Rekapitulation cler Phylogenesis bedingt durch die pbysiologiscben Funktionen der Vererbuug uud An- passung. Das organische Individuum wiederholt wahrend des raschen uud kurzen Laufes seiner iudividuellen Entwickeluug die wichtigsten von denjeuigen Formveranderungen, welche seine Yoreltern wahrend des langsamen und langen Laufes ibrer paliiontologischen Eutwickelung nach deu Gesetzen cler Ver- erbuug uud Anpassung durcblaufeu haben. Die vollstiiudige uud getreue Wiederholuug der phyletischen Entwickelung durch die bioutische (d. b. iudividuelle) Eutwickeluug wird verwiscbtund ab- gekiirzt durcb sekuudiire Zusammeuziehuug, iudena die Outogenese eiueu imnier geradereu AVeg eiuschlagt; daher ist die Wieder- holung uni so vollstiiudiger, je lauger die Reihe der successive durchlaufeuen Jugendzustande ist. Die vollstaudige uud getreue Wiederholungcler phyletischen Eutwickelung durch die biontische (individuelle) Eutwickeluug wird gefillscht und abgeaudert durch sekuudare Anpassuug, indem sich das Bion (d. b. Individuum) wahreud seiner iudividuellen Entwickelung neuen Verhaltuisseu anpasst; daber ist die Wiederbolung um so getreuer, je gleicb- artiger die Existeuzbedinguugen sind, uuter cleuen sich das Bion (Individuum) uud seiue Vorfahren entwickelt haben." ]) E. Hacckol, Generelle Morphologic der Organismcn. Berlin I860. II. Bd. p. 300. Das Licht der Entwicklungsgeschichte. 209 Dieser Auffassuug ist E. Haeckel wahrend seiues Lebens treu geblieben. Noch im Jahre 1896 scbreibt er1): ,.Die Ontogeuie besitzt fiir die Phylogeuie deshalb die hochste Bedeutung, well zwischen dieseu beiden Hauptzweigen der organischen Entwickeluugsgeschichte ein unmittelbar enger Kausalnexus besteht." An einer anderen Stelle2) ist das uoch genauer erklart : ,,Die Stammesgeschichte ist die wahre Ursarlir der Keimes- geschichte. Ohne die erstere wiirde die letztrre iiberhaupt uicht existieren. Derselbe findet seineu kiirzesteu Ausdruck in unserem biogenetischen Grundgesetze: die Keimes- geschichte ist ein Auszug der Stammesgeschichte oder scharfer gefasst, die Keimeseutwickelung ist eiue gedrangte und abgekiirzte W i e d e rh olung der Stammesent- wi eke lung. Diese Wiederholung ist umso vollstandiger, je mehr durch bestandige Vererbung die urspriingliche Auszugs- entwickehing beibehalten wird. Hingegen ist die Wiederhorung umso uuvollstaudiger, je mehr durch wechselude Anpassung die spiitere Storungseutwickeluug eingefuhrt wurde." Um den Sinn des biogenetischen Grundgesetzes redit klarzu- legen, fiihre ich die weitere Eiiauterung Haeckel's3) an: ,.Die gesetzmaBige Eeiheufolge, in welch er bei den ver- schiedeueu Tierstammeu die Organsysteme wahrend der Outogenese uach eiuander auftreten , gestattet nns nach dem biogenetischen Grundgesetze eineu sicheren Schluss auf die historische Reihenfolge, in welcher sich die tierischen Organsysteme wahrend des laugen und langsanien Laufes der orgaiiischen Erdgeschichte uach eiuander uud aus einander eut- wickelt haben. Wir sehen also die Eigenschafteu in derselben Reihe auf eiuauder folgen, in der sie wahrend der phyloge- uetischen Entwickeluug erworben worden siud." Haeckel fasst das biogenetische Gruudgesetz dogmatisch und allgemeiu giltig. Er behauptet auch rom nieuschlichen Ei, dass dasselbe fast alle Orgauisationsstufen der niederen Tierwelt bis zu den Saugetieren wahrend der Keimesentwickelung durchlauft, so dass der Keim eiues Menscheu oder eines anderen hoheren Tieres sich zunachst als eiu niedriges Lebeweseu anlegt und in uachfolgen- deu Veranderungeu auf hohere Organisatlousstufeu gehobeu wird. 1) E. Haeckel, Systematische Phylogenie, I. Bd., p. 6. 2) E. Haeckel, Die Gastraatheorie, Jenaische Zeitschr. 1874 p. 5. 3) E. Haeckel, Die Uastraatheorie, Jenaische Zeitschrift 1874., p. 40. Fleischma Jin. Descendenjtheorie. J4 210 Dreizehntcs Kapitel. Das bestiitigeii am besten seine ,,Lehrsatze" liber die Entwick- lungsgeschichte des Menschen x), dereu ,,Wahrbeit fiir jeden An- hanger des biogenetischen Grimclgesetzes oder der Rekapitulations- theorie keines weiteren Beweises bedarf." 1. ,,Die einfa.che Beschaffenheit der menschlichen Eizelle beweist die einzellige Protisten-Natur der altesten menscb- lichen Vorfabren." 2. ,,Die Bildung der beiden prirnareu Keimblatter beweist unsere Abstammung von Gastraaden." 3. .,Das Stadium der scheibeuforrnigen Keimanlage mit Ruckenrnarksrohr, Darmrinne, Riickeusaite uud Mesoderm- lappen (sog. Ch or dula stadium) beweist, dass die Vorfahreu des Meuscben wirbellose Prochordonier, d. b. Wiirnier, waren." 4. ,,Das folgende Stadium, sog. Spondula oder Verte- brella, in welcbem die Gliederuug des Mesoderms in TJr- wirbel und Seitenplatten erfolgt, fiihrt den Beweis, dass der Mensch urspriiuglicb von Acraniern abstamnit." 5. ,,Die Keimform, welcbe der menscblicbe Embryo nach Verlauf von 21 Tagen erlangt hat uud welche eiue Lauge von uugelabr 5 mm. besitzt, ist von besonderer Wichtigkeit: der Keirn besitzt bereits die Anlage der drei primaren Hirnblaseu, der drei hoheren Sinnesorgane , der Kiemenspalten uud des Herzeus; es feblt aber noch jede Spur von GliedmaBeu. Wir konuen daraus auf eine entsprechende Ahnenform aus der Klasse der Cyclostomen schlierjen." 6. ,,Die folgende Keimstufe zeigt bereits die fiiuf sekundaren Hirublasen, sowie zwei Paar flosseuformige GliedmaBeu ; sie beweist die einstmalige Existenz einer Reihe von (silurischen) Ahnenforrnen aus der Klasse der Fiscbe (Selacbii)." 7. ,.Indeni auf der folgenden Keimungsstufe die Lunge sich entwickelt, wabrend die Kiemen nocb persistieren, scblieBeu wir auf eine entsprecheude (devouische) Abnenstufe aus der Klasse der Dipneusteu (d. b. Lungeufische)." 8. ,,Nacb Ablauf des ersteu Monats begiunen sicb beini menscblicnen Embryo die Kiemeuspalten zu scblieBeu und die Anlageu der fiinf Finger und Zeben an den beiden Glied- maBenpaaren zu zeigen ; der Keirn entspricbt auf dieser Bil- dungsstufe einer Reibe von (carboniscben) Abnen aus der Ampbibien- Klasse (Stegocepbala) . " 9. ,.Die Bilduug der Keimbiilleu (Amuion und Chorion) sowie das Hervorwacbsen der Allantois uud ibrer respirato- l) E. Haeckel, Systematisclie Phylogenie. III. Bd. 1895, p. 619. Das Licht der Entwicklungsgeschichte. 211 rischen BlutgefaBe verhalt sich beini Mensckeii geuau so wie bei alien iibrigen Amuioteu ; und da wir fiir diese ganze Gruppe einen mouopliyletischeu Ursprung auuehmeu miissen, so folgt daraus die einstinalige (permische) Existenz eiiier mensch- lichen Ahneuforin aus der Gruppe der Proreptilien." 10. ,,In der folgendeu Keirnungsstufe nirnrnt der mensch- liche Embryo bereits charakteristische Eigentlimlichkeiteu der Saugetierklasse an ; sie rekapituliert die Bildungsstufeu der triassischen M o n o t r e ra e n - Ahnen . " ,,Iu den folgenden Stadieu durchlauft der menschliche Eni- bryo die Stufen der Beuteltiere, der Urplaceutaltiere, der Halb- affen, der echten Affen uud endlich der Menschenaffeu!" Das biogeuetische Grundgesetz herrscht nach H a e ck e 1 irn ganzen Tierreiche. Uberall soil uns die Eientwickelung eine Reihe eiufacher uud hoherer Orgauisatiousstufen vorfiihren, uud iu mehr oder weuiger deu.tlich.er AVeise den Ausbildungszustaud laugst vernioderter Vor- fahreu eines bestimmten Individuums rekapituliereu. Der Beweis fiir seine Auffassung wird YOU ihiu durch viele Thatsachen zu fiihren versucht. Gauz besoudereu Wert legt er1) auf die Erscheinung, dass alle tierischen Lebewesen von eiuor ge- rueinsarnen Ausgangsforni eutsteheu, d. h. dass sie sich mit uur sehr geringfiigigeu Ausnahmeu aus einem spliarischeu Eie entwickeln. ,.Die fuudanientale Thatsache. dass jedes vielzellige Tier am Begiuue der iu- dividuellen Existenz nur durch eine eiii- fache Zelle dargestellt wird, 1st nur durch die Anuahme erklarbar, dass dieser ein- 11- ^ • IT T i- i -ITT- ^ zellige Iveimeszustaud die erbliche VVieder- der Eizeiie, holung einer entsprechenden eiuzelligen Ahuenform ist. Wir schlieBen daraus, dass die altesteu Ahnen jeuer hoch entwickelten U8jaet' puarktiert.m Metaphyten eiufache, eiuzellige Protophyten v;aren, ebenso wie die altesteu Vorfahreu aller Metazoen urspriiuglich als eiufache Protozoen lebteu.'' Die Eizellen tragen bei alien Tieren bestimmte Merkmale. Irn Iniieru ihres plasmatischen Korpers liegt der Eikerii uud die Obeiilache des Eies wird von der mehr oder weniger dickeu Eihaut bedeckt. VTenn Haeckel aus dieser Thatsache die uuerhorte Folgeruug zieht, die allgemeiue Ahnlichkeit der tierischen Eier beweise, dass in grauester Vorzeit alle Tierarteu von eiuzelligen Scliematisches Bild J) E. Haeckel, Systematische Phylogenie. I. Bd., p. 7. 14* 212 Dreizehntes Knpitel. Stammeltern gezeugt wordeu seien, so bildet er einen Trugsckluss, iudem er aus dem Fluss der Entwicklungsersckeinungen die Merkmale eiues einzigen Formstadiunis herausgreift imd alle anderen sonst noch in Betrackt za ziekeudeu Merkniale vergisst. Denn mogen auch alle Eizellen von spkariscker Gestalt sein, einen Plasmaleib, einen Kem und eiue Eihaut besitzen, die Thatsache ist dadurck nickt aus der Welt gesckafft, dass die Eizellen selbst einen reckt versckiedeuen Ban aufweiseu und dass eine Zelle zum Saugetier, die andere Zelle zum Vogel, die dritte zu einern Krebs, eine audere zu eineni See- igel u. s. w. sick eutwickelt, d. k. rnit anderen Worten, dass die eiue gewisse Formakulickkeit verratenden Mengen orgauiscker Substanz, welcke den Ausgaugspunkt fur die Entwickelung neuer tieriscker Individueu biklen, nebeu der gemeinsamen Eigeusckaft, eine Eizelle zu seiu, audere Versckiedenkeiten in der Struktur des Plasmas, der Meuge und Art des Dotters, und besouders der gauz bestimmteu Eutwickelungsricktuug nack eiuer bestimmten Eudforni besitzen. Wir koimen das Sckicksal der Eizelle beein- flusseu, wir k ("tun en sie in uniiatiirlicke Verkaltnisse briugen und dadurck den normaleu Gang ikrer Eutwicklung eiuigermalien storen, wir koimen die Eizelle toten oder zu krankkaften Miss- bilduugen bestimmeu, aber menials ist es beobacktet wordeu, dass aus den Eieru eiuer sicker bestimmten Tierart ein von deu Eltern total abweickendes Lebewesen, d. k. dass aus dem Ei eines Vogels eine Eideckse kervorkrock. Haeckel vergisst, dass die sckeiubar so einfacken Eizellen, welcke okue mauckerlei Zweifel allgemeine Akulickkeit zeigeu, iu jedem ein- •zelnen Falle von eiuern andereu Mutterboden kerstammen uud des- kalb eine versckiedeue ckemiscke Zusaniuiensetziing uud eiue ver- sckiedene Struktur besitzen. Die Eizelle des Saugetiers ist ebeu im Eierstock des Saugetieres, die Eizelleu eiues Vogels oder Ivrebses siud in gauz bestimmt begreuzteu uud wokl erkeuubareu Regionen des Vogel- oder Krebsleib.es gebildet. Infolgedessen findet die Be- kauptung, dass die Eizelle selbst in dem ganzeu Tierreicke eiu gleickwertiges Produkt sei, auf eine geuieiusame Vorfakre nforni kin- weise, keine Begriindung in deu tkatsacklickeu Verkaltuissen. Freilick wenn der Laie drausseu in der freien Natur kleine Eier von Tieren findet, ist er uickt im stande, zu sagen, von welcker Tierart sie abstammen, feruer werden ikm, maugels eingekeudeu Studiums die Untersckiede der Eizelleu vieler Tiere uickt auffallen. Aber dariu ist dock uickt der Beweis zu erblicken, dass die seinem Auge systematise!! uickt imtersckeidbaren Eier wirklick eiu und dieselben Gebilde seien. Wir wiirdeu den Widerspruck jeder Eierkandleriu kerausfordern, wenn wir ikr Das Licht der Entwicklungsgeschichte. 213 gegeuu'ber behaupten wollteu. class Hiihner-, Enten- und Tau- beneier sich nicht unterscheiden lassen, well das menschlicke Auge bloB geiibt seiu muss, um die feinereu morphologischen Differenzen der Xaturobjekte richtig zu beobachten. Deshalb sieht auch ein einfacher Handelsmann au seiner Ware feine Er- kenmingsmerkmale , welche hochgelehrteu jMannern oft gar nicht auffallen. Das Beispiel ist einfach gewahlt, denn au deu Eiern uuserer Hausvogel springeu die Uuterschiede zu deutlich hervor, als class mau sie fur identisch halten kouute. Das gleiche gilt abt.-r auch fur alle Eizellen iiberhaupt. Uni n ur eiu Beispiel an- zufiihren. will ich auf den Dotter der Eizelleu verweisen, wdcher als Reservestoff fiir die Fig. 100. Schematisches Bild eines Kno- chenfischeies. Plasma punktiert, Dotter in Gestalt vou Trcipfcheu. Fig. 101. Schematisches Bild eines Tn- sekteneies mit eeutraler Lau'eritng des Fig. 100. Fig. 101. Embryonalentwicklung oft zu groBer Menge im Plasmaleibe des Eies aufgespeichert ist. Der- selbe zeigt sehr wechselnde Lage, Betters, eutweder erfiillt er die groBere Ha'lfte des Eies uud wircl YOU einer scheibeuforniigen Kappe Plasmas bedeckt (Fig. 100) ocler er liegt im Centrum, allseitig umhtillt vom Bildungsplasnia (Fig. 101). Die Behauptung Haeckels macht also den gleichen logischen Fehler, \velchen ich begehe, wenu ich sagen wollte : alle Saugetiere •\verden geboren und von ihrer Mutter gesaugt, iufolgedessen besitzeu sie erne gemeiusame Mutter. Jedermann sieht den Fehler des Schlusses ein. Der Irrtum ist aber in beiden Fallen derselbe, indem wenige iibereiustimmende Merkmale herausgegriffen wurden, um auf sie die vollstandige Gleichheit der Eltern zu begriindeu, wiihrend die zahlreichen Unterschiede vergessen werden. Die Lehre unserer Betrachtung verbietet es also, aus einer Entvrickeluugsreihe ein einziges Form stadium hervorzuheben und die mehr ocler weniger grosseFormahnlichkeit desselbenbei verschiedenen Arten zu betoneu. Wir diirfen nie aulier Acht lassen, woher die Eier stammen, welchem Mutterboden sie entsprossen sind, welches Endergebnis die Eutwickelung der Eizelle zeitigt. Weitere Aus- fiihrungen sind nach dieser Darlegung uunotig. Denu jedermann ist dariiber unterrichtet. dass die Eizelleu der Tiore und Pflanzen spezifisch verschieden sind , nur liegen die Unterschiede nicht so auf der Hand, wie bei dem Vergleiche ausgewachsener Tiere und man muss laugere Zeit die Entwickelung verfolgen, um alle Unterschiede gewahr 214 Dreizehntes Kapitel. c\ Fig. 102. Eif nr chung einer See- gurke, Holothnria tubu- losa. Nach Selenka. 1, 3-6 Seitenansicht, 3 1'olansicb.t, 1 Zwei Zellen, 2 Vier Zellen , 3 Acht, 4 Sechzehn Zellen, 5 Zwei- unddreiBig Zpllen, 6 Vier- undsechzig Zellen. zu werden. Aber bei Beriicksichtigung der an die befruchtete Eizelle ankniipfenden indivi- duellen Gestaltung werdeu die spezifischen Be- sonderheiten nicht mehr vergessen werden konnen. "Wie sehr die voreingenommene Meinung das Urteil triiben kann, dafiir bieten Haeckel's wissenschaftliche Arbeiten klare Beweise. Er hat in den siebziger und achtziger Jahren die ersten Entwicklungsvorgange in verschiedenen Gruppen des Tierreichs sehr genau studiert und sich, da damals noch sehr wenig von jenen Vorgangen bekannt war, zugleich das groBe Ver- dienst erworben, die ersten Schicksale der be- fruchteten Eizelle fiir eine groBe Zahl von Bei- spielen zum ersten Male aufzuhellen, jedoch ohne den Irrtum seiner oben (S. 211) citierten Behauptung einzusehen. Nachdem die Eizelle jeglicher Tierart durch den Eintritt eines Samenfadens befruchtet ist, tritt die Teilung oder Fnrchung ein. Es ent- steht ein Verein von Zellen aus welchem sich in ganz folgerichtiger Weise die einzelnen Organe auf- bauen. Das Wesentliche dieser Vorgiinge (Fig. 102) ist die Teilung der befruch- teten Eizelle und die Bil- dung einer groBenZahl von Zellen. Zuerst schneidet eine Ebene die Eizelle in zwei Teile, eine zweite, zn ihr senkrechte Ebene, scheidet die zwei Furch- ungszellen in vier, eine dritte Ebene die vier Furchungszellen in acht Zellen, und so zerkliiften imrner neue Furchungsakte den ursprunglich sphii- rischen Eileib in 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256 Zel- len. bis die Zahl der Einzelzellen hinreicht, um Fig. 103. ZweiFurchungsstadien desEies einesKuocbeii- fisches. Der Eileib fiillt den von der Eihaut um- spaiiuten Eauin nicbt ganz aus. Der in der Eizelle atif- gespeicberte Dotter liisst die Furcbung nur an einem seheibeuiormigeu Teil des Eies auftreteu. A. Zwei- teilung, B. Endstadiuui der Furchuug. in welchem ein scbeibenformiger Haufen von Zellen gebildet ist. Das Licht der Entwicklungsgeschichte. 215 den Modellierungsprozess des Embryos zu begincen. Haeckel1^ hatte sich friiher um den Nachweis bemiiht, dass ,,etne einzige Form der Eifurchung als die nrspriingliche" und als ,,gemeinsamer a) E. Haeckel, die Gastrula nnd die Eifurchung der Tiere. Jenaische Zeit- schrift, IX. Bd. 1875. S. 419, 420. 216 Dreizehntes Kapitel. Ausgaugspuukt fiir die iibrigen Formeu der Furchung" betrachtet werden diirfe, und als bedeutungsvoll hervorgehoben . dass bei ,.den Angehorigen siimtlicher Tierstamme ganz diesclbo Form der urspriinglichen Furchung auftritt." Aber diese Ansicht hat sich als imhaltbar erwiesen; scitdem eine grosse Zahl voii Einzel- beispielen genauer studiert worden 1st, wissen wir vielmehr. dass der Furchungsprozess nicht die YOU Haeckel vermutete Einheit besitzt. Yergleichen Sie nur Figur 1(33, welche zwei Stadien aus der Entwicklung eines Knochenfisches illustriert, mit Figur 102, dami sehen Sie em, dass die Eifurchung eiuer Seegurke und eines Fisches recht verschiedenartige Formcharaktere triigt. Zur weiteren Cbersicht fiige ich eine schematische Tabelle (Fig. 104) rneines hochverehrten Lehrers Selenka ein, welche besser als Worte die Mannigfaltigkeit der Furchung erlautert. Bei den Reptilieu und Vogeln wird die schwer mit Dotter be- lastete Eizelle ebenfalls nicht vollstiindig vom Furchungsprozesse ergrifTen. Nur ein kleiner kappenformiger Abschnitt derselben furcht sich, der iibrige Teil bleibt ungegliedert. So eutsteht zum Schlusse nicht eine laigelige Blase, sondern eine kleine urglasformige Scheibe, die Keimscheibe. Es wiirde zu sehr ins Detail fiihren, wenn ich die Unterschiede genauer besprechen wollte. Dariiber lautet auch das Urteil der entwickelungsgeschichtlichen Forscher einhellig, dass die Auffassuug Haeckels eine falsche war. Der Furchungsprozess folgt im Tierreiche nicht einem einzigen Schema, uud zeitigt nicht durchwegs iiberein- stimmende Endresultate. Bei jeder einzelnen Art uud jedem einzelneu Organisationstypus beginnt der Furchungsprozess an einem anderen Objekt, an einer verschiedenartig beschaffenen Eizelle nnd liiuft in abweichender Weise ab. AVir haben uicht ein einheitliches Fornigesetz erkaunt, das die Entwickelung der Eizelle beherrscht. sondern eiuen A7organg, der graduell ausserordentlich verschieden ist. AVie die geschlechtsreife Form der AVirbeltiere, Gliedertiere, Insekten, Mollusken verschiedene Typen des tierischen Korperbaues darstollen, so zeigen ihre Eier uns verschiedeue Typen der Furchung. Yierzelmtes Kapitel. Die Ausnahmen ties biogenetischen Grundgesetzes. Es 1st eine imter den angeheudeu Jiingern der Wissenscliaft weit verbreitete Ausicht, dass die Theologen clurch dogmatisch- orthodoxe Neigungen sich vor anderen Menschenkindern auszeichnen, welche freisiuniger und toleranter zu sein wahnen. Soweit ich jedoch ini stande bin, das nienschliche Leben zu beurteileu, scheiuen niir der Hang zur orthodoxen Meiuuug imd der Zwang uuter dog- matische Leliren Eigeuschaften zu sein, die sick in der Brust jedes Menschen regen uud auf jedern geistigen Arbeitsfelde breit macheu. Audi in der Naturwissenschaft gewahren wir ihre Spuren, trotzdem die Freiheit der Kritik, die unerrniidliche Skepsis auf unsereni Ge- biete so laut proklamiert wird. Die Subordination imter naturwisseuschaftliche Dognieu folgt flir viele Manner aus der Art und der Zeit des Studiums. Es imterliegt wohl keineni Zweifel, dass aller Tnterricht eiu autoritativ- dogmatischer seiu muss. Denn jeder Schiller und derjenige, welcher keiue Zeit noch Lust hat, tiefer durch eigene Forschung einzu- driugeu. uiuss den je\veiligen Stand der wissenschaftlichen Keuntuisse irgend einer Disciplin nach deni Yortrage seiner Lehrer annehrneu und sich auf die verbreiteten Lehrbiicher stiitzeu. Er lernt dereu Inhalt zu eiuer Zeit. wo er selbst noch uufahig ist, die wirkliche Begrtiuduug der Lehren zu erniesseu. Obgleich alien die Moglich- keit einer spatereu Priifuug desseu, was sie ini Horsale erfahreu habeu, freisteht. so hat Ihuen die eigene Beobachtuug sicher schon gezeigt, wie weuige von denen, welche jahrlich die Universitat ver- lassen. wirklich in eine Priifuug all der Fragen eintreten, die das spezielle, eigeue Arbeitsgebiet zu raten aufgiebt. Die Praxis uud der Zwang des Berufes hiudert die Yertiefung. So nehmen recht viele Manner die von ihreu Lehreru yorgetrageneu Ausichten als richtig mit hinaus ins Leben und betrachten sie als sichcre Wahrheit. Deshalb gilt die Autoritat des hervorragenden Fachgelehrteu bei 218 Vierzehntes Kapitel. den meisteii wissenschaftlich gebildeten Mauneru, uicht zum mindesteu bei denjeuigen, welche sich auf der Universitat cleu naturwissen- schaftlicheu Studien gewidmet haben, uud bekerrsckt lauge Zeit das wisseuschaftliche Denken der Gesamtheit, bis endlich bessere Beobach- tungeu den Bruch mit der falschen Lehre erheischen. Was ich von der Autoritatsglilubigkeit sage, bezieht sich iiur auf die groBe Masse der wissenschaftlich Gebildeten. Die selbst- standig Denkenden und die Fachgelehrten siud dem Banue der Autoritat weniger unterworfeu, aber ich mochte nicht direkt be- haupteu, dass das Urteil ernes jeden ganz frei vom Gehorsam gegen Autoritat sei. Die Naturwissenschaft uuterscheidet sich also iu dieser Hiusicht nicht fundamental von auderen Wissenschafteu ; sie ist eiu Meuscheu- werk und tragt den meuschlichen Stempel an sich. Aber sie ist in giiustigerer Lage gegeuiiber audereu Wisseuschaften , weil die Autoritat leichter zerstort werden kauu. Unsere Aufgabe ist es, die Erscheinungen in der Natur, die jedermann vor Augeu liegen, scharf zu beobachten uud klar zu beschreiben. Hat ein Fachgelehrter die Beschreibuug eiues Vorganges nach bestem Er- messen gemacht, so kauu uiemaud abgehalteu werdeu, eiue Nach- priifuug vorzunehmeu und damit alte Irrtiimer zu widerlegeu. Die Gelegeuheit dazu ist heute viel gro'Ber als in friiherer Zeit. Danials waren wenig Gelehrte am Werke , der litterarische Austausch zwischen den Kulturnationen hat sich schwerfallig uud miihselig vollzogen. Heute dagegen sind Huuderte von Forscheru thatig, in den wissenschaftlichen Instituten werden taglich neue Unter- suchungen ausgeflihrt, die sich gegeuseitig kritisieren, die Litteratur erscheiut leicht uud rasch, die Bekanntgabe eiuer Beobachtung liber die ganze Erdoberfliiche ist iu weuigeu Tageu rnciglich. Deshalb ist die Kritik leichter und wird haufiger geiibt. Aber wenn jemaud, diese Mittel des wissenschaftlicheu Fort- schrittes beniitzend, gegen eiue bisher gliltige Lehrnieinuug auf- tritt uud sich bernuht, die Fehler derselbeu darzulegen, so erhebt sich rasch der Widerspruch. Fragen Sie, wer ihu erhebt, so lautet die Antwort: Die Dogmatiker unterden Fachgelehrteu, die in ihrer Meinung groB gewordeu sind uud dieselbe wiihrend eines ganzeu Lebens vertreten habeu. Sie werfen die Autoritat ihres Namens uud ihrer unleugbaren Verdieuste iu die Wagschale, um die orthodoxeu Ansichten einer a'lteren Generation zu uuterstiitzen. Der Streit der Meiuung beginut und wahrt so lauge, bis endlich die alte Lehre abgethan und die ueue an ihre Stelle gesetzt wird. Durch diese Daiiegung wollte ich Sie aufmerksam machen, dass die besondere Art unserer Studienobjekte und die exakte Methode Die Ausnahmen des biogenetischen Grundgesetzea. 219 der Beobachtung die Naturforscher nicht mit besonderen Eigeuschafteu ausriistet. Autoritat und Dogma herrschen genau so wie in anderen Wissensgebieteu, uur die Moglichkeit, eine falsche Autoritat zu zer- storen, ist auf unserem Gebiete groBer. Auch in der Abstammungs- frage dominiert gegenwartig der blinde Autoritatsglauben. Deuu wie wenige der Anhauger habeu die Beweisgriinde gepriift und sind im staude, iiber die Berechtigung derselbeu ein Urteil zu fallen! Aber die Lehre ist verfiikrerisch und man halt an ihr fest, weil sie am besten gefallt. Die Bedeutung eines zoologischen Dogmas erlangte wahrend der letzteu Jahrzehnte E. Haeckel'sbiogenetisckes Grundgesetz, welches besagt: die Eutwickeluug jedes Lebeweseus wiederholt die wich- tigsten Formverauderungen, welche die Voreltern wahrend der laugen Dauer ihrer Stammesgeschichte in grauer Vorzeit durchlaufen habeu ; sie giebt uns also ein Abbild der Umformung einfach gebauter Ahnen bis zur Erreichung der anatomischen Organisatiousstufe der jetzt lebeuden Arten. Eiuen Prozess, zu dessen Volleudung Milliouen von Jahren erforderlich waren, fiihrt die Entwickelungsgeschichte jedes einzelnen Individuunis deni Naturbeobachter in wenigeu Stunden oder Tagen vor und giebt in einer gedrangten Rekapitulation die Ubersicht der wichtigsten Formen, die von der gesamten Lebe- welt seit ihrer Entstehuug auf Erdeu durchlaufen worden siud. Dieses sog. Gesetz iibt einen starken verlockenden Zauber, da die Natur tins in der Metamorphose vieler Tiere beweiseude Bei- spiele in Menge zu zeigeu scheiut. Die auBerordentlich groBen Unterschiede wahrend der einander folgeuden Altersstufen aller der Metamorphose unterworfenen Insekteu erweckeu in uus die Hoffnung, dass dieselbe wirklich einen sehr bequemen Einblick in die Vorfahreugeschichte eroffnen konnte. Ich habe Sie an die In- sekten erinnnert, weil ihre Metamorphose am meisteu bekanut ist. Diese Gruppe ist jedoch nicht allein durch die Metamorphose ausgezeichnet, dank der umfassenden Arbeit der entwickelungs- geschichtlichen Forscher wissen wir heute, dass die Metamorphose eine allgemeine Regel im Tierreiche ist, und dass jede Tierart wahrend der Entwickelung aus dem Eizustande bis zur Geschlechts- reife ungeheuren Forimvandlungen des Korpers folgeu muss. Da nun in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Beispiele der metaniorpho- tischen Entwickelung aus alien Gruppen des Tierreiches bekannt geworden sind, haben die Auhiiuger der Abstammungslehre das biogenetische Gesetz gliiubig hiugenommen und ihm allmahlich eiue dogmatische Giiltigkeit zugeschrieben, trotzdem sich in yielen Eiuzcl- fiillen seine Wahrheit durch die realen Thatsachen uicht erhiirten lieB. Um ein einfaches Beispiel herzunehmeu, wollen wir die Larven- 220 Yierzehntes Kapitel. formen dcr Insekteu nach diesera Gesiclitspuukt zunachst beurteilen. Sie wissen alle, class aus dcu Eiern der Kiifer, FJiegen, Schmetterlinge u. s. w. kleine Larveu von scheinbar einfacber Organisation berauskriecben. Sie besitzen eine langlich gestreckte Gestalt, ibr Korper ist durcb Riugfurcben in giirtelartige Segmente zerfiillt, dcr Kopf ist nicbt besonders groB, entbebrt der Fuhler, oft aucb der charakteristischen Facettenaugen, die Fliigel febleu, die Beine sind sebr kurz. Auf den ersten Blick gewinnt dadurcb die Larve eiue gewisse Ahnlich- keit mit "VVu'rmern, und ein rascb nrteilender Kopf konnte gleich Ok en ZLI der Bebauptung veranlasst werden , die jugendlichen Stadien der Insekten erscbienen zuerst in der Form ihrer starnmes- gescbicbtlicbeu Abnen, der Gliederwurmer. Wcnn wir aber genauer zuscben, dann bemerken wir eine Menge von Unterscbieden gegen- iiber den Gliederwiirmern nnd finden die allerjiiugste Larve wie ein typiscbes Insekt organisiert. Denn die fiir die gauze Klasse so charakteristischen Atemorgane, die Traclieen (Fig. 5), der Ban des Darmkanals mit den Malpigbischen Gefailen, die Form desHerzens. die Bildung des Kopfes und seiner Mundwerkzeuge (Fig. 6), sowie die Anlage der Gescblecbtsorgane (Fig. 7) tragen an der juugsten Larve von Anfaug an den Typus der Insekten, mit anderen "Worten: der Raupenkorper ist gen an nach dem Grundtypus des Scbmetterlinges gebaut. Die Richtigkeit mciner An gab en keuut jeder, dcr sicb, sei es aucb nur als Sanimlcr, mit Insekteu ein- gebeuder beschaftigt bat. Die Merkmale der Klasse sind an den jungen Larven so deutlicb ausgepriigt, dass aucb iu dem Falle, wenu ein Sammler etwa Raupeu begegnete, die er nie geseben bat, er nicht lange im Zweifel bleiben wird, ob er das Jugendstadium eiues Scbmetterliuges oder eiuen Wurm vor sicb babe. Die wissenscbaft- lichen Untersucbungen der letzteu 40 Jabre babeu aucb fiir jeden unbefangenen Beurteilcr klar gestellt, dass die jungen Larven nie und nimmer Bilder dcr Vorfahren geben konnen. Sie stcbeu vom ersten Momeute ibres Lebens auf der Organisationsstufe des Insektes und werdeu in der folgenden Zeit nur biusicbtlicb einzelner Organ- systeme feiner modelliert, immer innerbalb des Rabmens des auato- miscbeu Insektenstiles. Zu Beginn der siebziger Jabre konnte der Engliiuder Lubbock in einem anmutend geschriebenen Bticblein den Yersuch \vagen, die Insektenlarven nach dem biogenetiscben Gesetze zu deuten. Heutzutage wird die Idee einfacb abgewieseu, wie das Citat aus Korschelt uud H eider's Lebrbucb (p. 140) bezeugt. Mit den Larvenformeu anderer Gruppen verbiilt es sich gcrau so. z. B. die Amphibien, d. b. die Frb'sche, Kroten (Fig. 105) und Sala- mander verlassen, wie Sie wrissen, das Ei nicht in der fcrtigen Gestalt dcr Eltern, sondern als kleine clem ausschlieBlichen Wasserleben ange- Die Ausnahmen dea biogenetischen Grundgesctzes. 221 passte Kaulquappen, denen man eine gewisse Fischahulichkeit nicht absprechen kann. Sie besitzen einen breiten Ruderschwauz; seitlich am Kopfe steheu kleine, zierlich baumartig verzweigte Anhiinge, reich von BlutgefiiBen durchzogen. Das sind die fiir das Wasser- leben uotwendigen Aternorgane, die Hautkiemen. Ferner entbehren die Quappen lauge Zeit sichtbarer GliedmaBen. Diese drei Merk- male sprecheu fiir die Fischiihnlichkeit, besonders die Kiemeuatnmng, welche erst am Schlusse der Larvenzeit durch Lungenatmung ersetzt wird; denn die Fische atmen zeitlebens durch Kiemen. Die ein- geheude anatomische Priifung zerstreut aber den Anscheiu der Ahn- Quappen an einer Wasserpflanze fest- gesatigt Die Hiiiterbeine sprossen Quappen rait Kieinen und Sanguined, Ruderschwanz Junse Krote mit Buderschwanz Junge Schwanz fast riickgebildet Fig. 105. Metamorphose der Kn oblau cliskro t e , Pelobates fuscus. lichkeit, well die Kiemen der Fiscbe und die Kiemen der Ampliibieu ganz verschiedene Organe sind, welche an verschiedenen Stellen der Kopfregion liegen und nach abweichendem Typus gebildet siud. Bei den Fischen liegen die Kiemen als facherartig gefaltete Membranen in Seitentaschen des Vorderdarmes, also im Innern des Korpers ver- borgen, wahrend sie bei den Larven der Amphibien als cylindrische, verzweigte Aus wiichse auf der seitlicheu Kopfwand zwischen den ausseren Miindungen der Schlundtaschen entstehen. Die Abnlichkeit zwischen den Lurchlarven und Fischen wird also in bczug auf die Atem- organe durch den sprachlichen Ausdruck vorgetiiuscht, indeni ein und dasselbe Wort ,,Kieme" anatomisch total verschiedene Bil- dungen des Tierkorpers bezeichnet. Je genauer man zusieht, um so grower wird das Gewicht der trennenden Eigenschaften , denn der fischgleiche Buderschwanz der Quappen ist in anderer Weise aufgebaut als die Schwanz- 222 Vierzehntes Kapitel. region der Fische. Fcruer besitzen die Quappen vordere und hintere GliedmaBen nach dem Typus der fiinffingerigen Extremitat, welche init den Flossen der Fische uberhaupt nicht vergleichbar sind. Be- reits an der jiingsten kiemeimtmenden Quappe sind die Lungen ge- bildet, welcbe den Fischen fehleii ; ihr Herz zeigt immer den Typus der Amphibien und nicht den der Fische, der Darm erscheint ganz anders gebaut, desgleichen der Schiidel u. s. w. Wenn spater der lange Ruderschwauz eingeschrnolzen wird , die Hautkiemen schrumpfen, die GliedmaBen aus der Haut hervorwachsen, der Rumpf die Froschgestalt anniinmt und die jungen Tiere endlich das nasse Element verlassen, um auf der feuchten Erde zu leben, treten Orga- nisationseigenttimlichkeiten leicht sichtbar vor die Augen des ober- flachlichen Beobachters, welche vom ersten Beginne des individuellen Larvenlebens vorhanden waren und dem Fach- gelehrten wohl bekannt sind. Man kann deshalb in dem Kaul- quappenstadium keine Rekapitulation der Fischvorfahren erblicken. Um Ihnen die dem Laien etwas schwer verstiindliche Sache klar zu machen, will ich em drastisches Beispiel auziehen. Es verhalten sich die Amphibienlarven zu den Fischen genau so, wie der Schmetter- ling Callima paralecta aus Ostindien zu eiuem vertrockneten Blatte- Da Callima bunt gefiirbt ist (die Vorderflligel siud mit dunkel- braunen, gelb und blau gefiirbten Schuppen bedeckt), so fiillt sie dnrch das bunte Kleid fressgierigen Feinden auf und wird gerne "voii Vogeln verfolgt. Sie vermag sich aber den Nachstellungen ihrer Feinde zu entziehen, indem sie sich unsichtbar macht. Der Schmetterling setzt sich auf einen Stamm nieder, schliigt nach der Art unserer Tagfalter die Fliigel nach aufwarts zusammen und gleicht nun durch die plotzlich sichtbar gewordene Farbung und Zeichnung der untereu Fliigelseite tauschend einem vertrockneten Blatte. Wenn Sie denselberi in der Niihe anschauen, so werden Sie durch die merkwiirdige Ahnlichkeit iiberrascht sein. Es werden nicht nur die Vogel, sondern auch die Naturforscher getauscht. Trotzdeni wird es niemand eiufallen, den Schmetterling als ein Blatt zu bezeichnen. Ich habe das Beispiel gewahlt, um das Verhaltnis der Larven der Amphibien zu den Fischen zu charakterisieren; denn in diesem Falle geht es ebeuso wenig an, die allgemeine Ahnlichkeit jugendlicher Lurche mit der ganz anders organisierten Fischklasse als Beweis fiir die Wiederholuug der ehemaligen Fischorganisation zu betrachten. Die Erinnerung an Fische wird in uns nur durch einige fur das Wasserleben notwendige Formcharaktere der Kaulquappeu wach- gerufen, aber das siud allgemeine Ahnlichkeiten ohne phylogenetischen Wert. Es fallt niemandem ein, eiuen Wai oder Delfin wegen Die Ausnahmen des biogenetischen Grundgesetzes. 223 ihrer wunderbaren Anpassung an das Wasserleben als direkten Abkommling der Fische zu bezeichnen. Noch weniger 1st der Gedanke liir die Ente oder den Sckwan gestattet. Das sind ver- scbiedenartig gebaute Tiere, verschiedene Lebewesen, deren Auf- enthalt iibereiustimmt und die inan deshalb in die unrichtig ge- bildete Gruppe der Wassertiere einreiheu kann. Ob Sie die Naupliuslarven der Krebse oder die freiscbwirnmeuden Larven der Stacbelbiiuter oder die Larven der Froscbe und Salamander priifen, inimer ergiebt sich dasselbe Resultat. Icb fiibre das nicht an vieleu Beispielen aus, weil es zu langweilig wiirde. Wenn Sie irgend ein Lebrbucb der Entwickelungsgescbicbte bernebmen, lesen Sie die unbestrittene Angabe gedruckt, dass die Larvenformen derjenigen Tiere, welcbe eine Metamorpbose durcbmacben, nie und nimmer- mebr sicbere stamraesgescbicbtlicbe Riickscbliisse gestatten konneu. Dabei ist es gleicbgiiltig, ob die Metamorpbose an einem selbst- standig lebeuden Jndividuum. wie in den bisberigen Beispielen Keimscheibe GefiiCbof L.1LI1RARY)- Dotter Fig. 106. Hubnerei, 46. Stuude der Bebrutuug. erfolgt , oder ob wir Tiere studieren, deren Yerwandlung wabrend des Eilebens d. b. vor der Geburt sicb abspielt. Nacb deni Ge- dankengange des biogenetiscben Grundgesetzes sollen sicb aus den Embryonalformeu eines Keimes innerbalb der Eiscbale, z. B. eines Yogels Eiickscbliisse auf die Vorfabren der gauzen Klasse, auf Eeptilien, Fiscbe und sogar AViirmer zieben lassen. Beobacbten wir zunacbst die Tbatsacben. An einem frisch ge- legten und kurz bebriiteten Hiibnereie (Fig. 106) seben wir auf dern gelben Dotter innerbalb der EiweiBscbicbten eine kleine Scbeibe, die Keimscbeibe als erste An! age des kiiuftigen Vogelinclividuums liegen. In den nacbsten Bebriitungsstunden wilcbst die Scbeibe, und es treten die primitiven Organanlagen auf. Da erscbeinen jedocb nicbt, wie man yielleicht erwarten konnte, die auBeren Formziige des Leibes: der 224 Yierzehntes Kapitel. Kopf, die Beine, odcr Feclern, sondern zunachst werden die wichtigen innereu Organe, das Centralnervensystem, die Aulage der Wirbelsiiule, die Leibesboble, das Herz, die GefaBe, der Darm gebildet und viel spiiter eifolgt die Modellierung des Hautreliefs. Die Keimscbeibe setzt sicb tins zwei flacb streicbenden Zell- scbicbten zusammen, die untere Scbicht, das inuere Keimblatt oder Entoderm, beriibrt den gelben Dotter, dariiber ist eine auBcre Zcll- schicht, das Ektoderm, gelagert. Friih erscbeint auf der Oberflache der Keimscbeibe (Fig, 107) eine kurze, seicbte Rhine, die Primitivrinne; Fig 107. Fig. 108. Fig. 109. Fig. 110. Fig. 1(17. Km bry onal aulage aii s eine in etwa 18 Stunden bebriiteteii Hiibnerei. RuckenaDsicht uachHis. Fig. 108. H iih n e re m bry o vom Knde des ersten I>ruttages. Riickenansicht iiacli His. Fig. 109. Htihner embr y o am zweiten Bruttage. Riickenansicht uach His. Fig. 110. Hii hner embryo zwischen d e in zweiteu und d r i 1 1 e u Bruttage. Riicken- ansicht nach Hi s. sie deutet die Zone einer starken Produktion von Zellen an, welcbe sicb als sog. mittlere Zellmassen, Mesoderm, zwiscben die primaren Keimb latter, das Ekto- und Entoderm, einscbiebeu und die Anlagen fiir den groBten Toil der Korpersubstanz : die Muskeln, Knocben und Bindegewebe bilden. Die Primitivrinne bildct sicb allmablicb zuriick. Bald nacb clem Auftreten der Primitivrinue folgt vor ibr in der Bichtung gegen das Kopfende der Keimanlage eine neue, viel weitere Riune (Fig. ] 08), recbts uud links von vorspringenden Langs- falten begrenzt. Die Falten erbeben sich gegen die Mittellinie, stoBeu (Fig. 109) endlicb zusammen und verwacbsen zu einem gescblossenen Diu Ausnahmen des biogenetischen Grundgesetzos. 225 Rohre, das die Anlage dcs Centralnervensy stems, des Riickenmarkes uncl Gehirues repriisentiert Indem sich sein Vorderende (Fig. 110) zu drei Blasen erweitert, wird die Anlage des Gehirnes sichtbar. Uugefahr gleichzeitig mit cler Riickenrnarksrinne ist unterhalb derselben im Entoderm ein ebenfalls in der Langsachse der Keirnscheibe streichen- der Strang, die Chorda dorsalis, die erste Anlage der Wirbelsiiule, entstanden. Wenn Sie die Abbildung dieses Stadiums (Fig. 108), das in seiner allgemeinen Anlage auch den Typus der bei Siiugetieren und demMenschenspielenden Vorgauge illustriert, genauer betrachten, so sehen Sie ein, class dasselbe mit einem Tiere, und sei es noch so einfacb organisiert, iiberhaupt uicbt zu vergleichen ist. Haeckel behauptet freilicb, wir miissen darin die Rekapitulation der Wurni- vorfabren der Wirbeltiere erkennen. (Vergleiche S. 210 Tbese 3.) Ech kann jedoch seiner AufTassung unmoglich beipflichteu, denn die eben oberflachlich beschriebene Embryonalscheibe ist eiu unselbstandiger, unfertiger, der weiteren Entwickelung bediirftiger Keim, die flachen- artig in der Ebene ausgebreitete Anlage des kiinftigen Vogelkorpers auf clem gelben Dotter des Eies. Sie wird sicb spiiter nacb unten kriimmen, die Randzonen cler Keimscbeiben werden mit einander verwacbseu. Auf cliese Weise wircl die flache Anlage zurn walzen- formigeu Embryonalkorper (Fig. Ill, 112) gescblossen. Auf cler von mir ins Auge gefassten Stufe entspricbt sie keinem Tierkorper und giebt uns kein Recbt, ibre Abnlicbkeit mit einem ausgebildeten Artindividuum eines niedrigen Qrganisationstypus, ebeu ernes Wurmes, ZLI bebaupten. Dagegen spricbt in scbiirfster Tonart das Yorkommen des centralen Nervenrobres uud der Chorda dorsalis, beides Organe, welche nur im Typus der Wirbeltiere erscheinen und in anderen Organisationskreisen niemals auftreten. Hire Anwesenheit priigt dem jungen Hiihnerkeime ganz bestimmt den Wirbeltiercbarakter auf uud die Bedeutung dieser Kennzeichen wird nicht dadurch geschmalert, class die anderen Merkmale der Wirbeltiere noch kaum kenntlich sind: die einfache Thatsache zerstreut Haeckel's dritte These (vergl. Seite 210) vollkommen in Nichtigkeit. Von cler Re- kapitulatiou eines Wurmstacliums kann keine Rede sein, weil bei den Gliederwiirmern niemals ein centrales Nervenrohr noch eine Chorda gebildet wird. Wiircle das biogenetische Gruuclgesetz wirklich der in cler Xatur herrschenden Regel entsprechen, so konnte die junge Keini- scheibe nur etwas tiber ihre Wirbeltiervorfahren aussageu, etwa liber die Beschaffenheit cler einfachsten Urfische, welche noch zum anatomischen Typus cler Vertebrateu gehort haben. Man kann sich Fleischmann, Descenclenztheorie. 15 226 Vierzehntes Kapitel. jedocb schwer vorstellen, dass das scheibenformige Stadium des keimendcn Vogelleibes Zustande wiederspiegelt, welche friilier wabrend des freien selbstandigen Lebens der Urahnen bestanden. Nieinand wird annebmen, dass der Weicbkorper der Yorfahren nur das nervose Centralrohr und die Cborda umschloss und des Darnikanals, der Verdaimngsdriisen, des Herzens entbebrte. Selbstredend bebauptet Haeckel und seine Scbule eine solcbe Ungereimtheit aucli nicbt. Icb will Sie nur atif die Widerspriicbe aufmerksam macben, in welcbe wir verwickelt werdeu, wenn wir den "Wortlaut des biogenetiscben G-rundgesetzes bedinguugslos auf den speziellen Fall auweudeu. Sie werdeu bald begreifeu, dass die vieleu Widersprticbe der exakteu Tbatsacben uus heutzutage be- stimmen miisseu, das gauze Gesetz als falscn aufzugeben. Durcb Kriininiuug nacb der Baucbseite gebt allmablicb die flacbe Keinianlage in die Gestalt eines cyliudriscbeu Korpers (Fig. Ill, 112) iiber, an welcnem Kopf-, Rurupf- uud Scbwanzregiou und die Leibesboble erkennbar sind. Der Embryo bebt sicb zugleicb voni Dotter ab als ein irnnier selbstiindiger werdendes Gebilde, wabrend die gelbe Dottermasse, uunniebr von einer blutgefaBreicbeu Membran umscblosseu, als ein Anbang desselbeu Dottersack erscbeint. Dabei wird der kiiuftige Darmkaual zuerst als Rinne des Entodermes (Fig. 112) augelegt und zu eiuem bliudeu Robr ge- scblosseu. In der Kopfgegend gewiuuen die Hirublaseu euorme Entfaltung.J Das Verstauduis des verwickelten Details wiirde eiugebendes Studium erfordern ; icb greife desbalb uur die Bildungsvorgiinge des Darmes und die rascbe Hirnentwickelung beraus, urn daran das biogenetiscbe Gesetz rnit Ibuen zu priifen, wobei icb bemerke, dass die vom Hiibncben abgebildeten Zustande in iibulicber Weise auch bei Siiugetieren und dern Meuscben auftreteu. Der Hiibnerernbryo des vierten Bruttages (Fig. 112) ist nocb nicbt gescblosseu und seiu Fig. 111. Fig. 112. Fig. 111. H iihn er em bryo am dritten Bruttage. Bauchansicht nach His. Fig. 112. Huhnerembry o am vierten Bruttage. Bauchansicht nach His. Die Ausnahmen des biogenetischen Grundgesetzes. 227 Darm stellt eine stark zusanimengedriickte, etwas buclitig verlaufende Rinne dar. Weim die Rauder derselben verwachsen, entsteht eiu im Leibe eingeschlossenes Blindrohr einfachster Gestalt, das vom Kopfe bis zur Schwanzwurzel den Korper durchzieht. Mund und After fehlen. Bald senkt sich aber sowohl am Kopfe, wie nahe der Scbwanzwurzel je eine kleine Tasche des ausseren Keimblattes, die Mund- und Afterbucht eiu, wa'chst gegen das vordere und hintere Blindende des Darmrohres, lagert sich demselben an und indem bernacb die trennenden Membranen reiBen, wird die Darmhohle durch ibre normaleu Pforteu, den Mund uud After zugauglich. Zu jener Zeit ist der Darm ein ganz diinnwandiges, minimal enges Rohr ohne Muskelbiille fiir die peristaltischen Bewegungen, oKne Verdauuugsdriisen. Jsackenbeuge Gehorblascben Unterkiefer Oberkiefer Schlundbogenwulst Nasengrube Urwirbel Chorionzotten — Fig. 113. Menschlicher Embryo, ungefahr 4 Wochen alt. Xacb- His. Konneu Sie sicb nun vorstellen, class es Abnen der koheren Wirbeltiere gegeben hat, welche des Mundes und Afters oder der anderen oben genannten Teile beraubt waren und mit dieser Organi- sation ein freies Leben fiihrten? So wiirde ungefahr eine Konse- quenz lauten, wenn die iudividueJle Keimesgeschichte dem bioge- netischen Grundgesetze zuliebe wirkliche Vorfahrenstaclien wieder- holen wiirde. Der Nonsens ist zu groB, als dass ich ihn ausfiihrlich kritisieren sollte. Kein Auhauger des Haeckelschen Gesetzes hat ihn jemals ausgesprochen. Bevor ich darlege, auf welche Weise der Ausweg aus dem Dilemma versucht wurcle, will ich andere Beispiele besprechen. Wenn Sie den Hiihnerembryo (Fig. 112) oder die Abbilduugen 15* L'L'S Vierzehntes Kapitel. irgond wrlrher Eiubryoneu von Wirbeltieren, z. B. eincs mensch- lichen Embryos der vierten Woclie (Fig. 113) ansehon, fill It Ihnen a ut', dass das Kopfende derselben machtig ausgebildet 1st uncl dnrch seiu Volimieu in einem schreieucleu Missverhaltnis zu dein ubrigen Ko'rper steht. Noch an neugeborenen Saugetieren und Menschcn tritt die gleiche Thatsache hervor. Sie ist dadurch verursacht, dass das Gehirn und Riickenmark viel rascher ausgebildet werden als audere Orgaue und (lurch ihr Volumen die Masse der auderen lauge iibertreffen, bis allmahlich die nornialeu Proportionen sichtbar werdeu. Wollteu wir im Sinne des biogeuetischeu Grundgesetzes dogmatisch urteilen, so miissteu wir folgern, als Vorfahren existierten Tiere, ausgeriistet mit eiuem rnachtigeu Hirne und Ruckenmark, wahrend andere Organe, wie z. B. der Darni, die Bewegungsorgane u. s. w. uuglaublich schwach entwickelt waren. Das ist jedoch wieder solch eiue unfassbare Konsequenz, dass sie niemand ziehen mag. Em anderes Beispiel ! Sie wissen alle, dass die Zahne, die Zerkleineruugswerkzeuge der Nahruug den neugeborenen Kindern fehlen. Sie liegen tief in den Kieferkuochen verborgen, bediirfen langer Zeit, um in die Mundhohle durchzubrecheu und ihre Thatigkeit zu beginueu. Vor dem Durchbruche sind sie sogar von eiuer besondereu Hiille, dem Schnielz- organe, gleich einer uegativen Formmatrize um- schlossen. Mochteu Sie (lurch das biogenetische Gesetz verleitet daraus schlieBen, es habe eiust- nials Tiere gegeben, welche echte Zahne besaBen, aber sie in den Kieferknochen verborgen hielten und sie uicht zum Ergreifen und zum Zerkaueu der Nahrung verwendeteu? Sie wlirdeu sicher alle eine derartige Deutung der stammesgeschichtlicheu Urkunde veiiachen. Zu ahnlichen Unmoglichkeiten leitet die historische Deutung anderer Vorgiiuge in der Enibryonalentwicklung der hohereu Wirbel- tiere, welche ich wieder am Hiihuereie charakterisiereu will. Wenn in dem von EiweiB und gelbem Dotter erfiillten B,aum (Fig. 106) des kalkschaligen Vogeleies ein kleiues Kuchlein reifeu soil, muss durch Resorptiou des Eiinhaltes Platz fur den keinienden Embryo ge- schaffen werden. Zu dieseni Zwecke wachseu zwei' Schichteu der Keinischeibe mit reichlicheu BlutgefaBnetzen (Fig. 115) iiber den gelben Dotter als eine sackartige Hiille uncl fiihren (lessen langsani geloste Masse in den Embryonalleib als Nahrmaterial, zugleich wird Fig. 114. Schematiscke Skizze einer irn Ki e- fer verborgenen /. a h n a n 1 a g e , w e 1 c h e von dein Schmelz- orgaiie (weii!) um- liiillt ist. auch das EiweiB laugsam resorbiert. Die abuehmende Dotternieuge Die Ausnahmen des biogenetischen Grundgesetzes. 229 liegt also spater in einem Dottersack und dieser steht durcli deii Dottergang mit cleni Darm des Embryos in Verbindung. Ausserdem hat sich ein besonderer, diinuer Hullsack, das Am- nion (Fig. 115, 117) um den Embryo selbst entwickelt und letzeren Chorion Allantois Amnion GefaChof des Dottersackes Dotter Fig. 115. Hiihnerei am Ende des ftinften Bruttages. Xach Milne Marshall. ganz umschlosseu. Encllich ist an der ventraleu Wand des End- darmes eine blasenformige Ausstiilpung, die Allantois (Fig. 135) entstandeu, welche aus dem Korper in der Nabelgegend heraus- wachst, um sich auBerhalb des Amnionsackes an die Eischale Allantois punktiert Luftkammer des Eies Aiunion Dottersack Rest des Eiweifies Fig. 116. Huhnerei am Ende des neuuten Bruttages. anzulegeu (Fig. 116) und als enibryouales Atemorgau zu dienen. So wird der Embryo aller hoheren Wirbeltiere, der Eeptilieu, Vogel und Saugetiere mit einer auBeren, sackforrnigen Hiille, dern Aniuiou, und zwei Anhaugssacken, dem Dottersack und der Allantois versehen. 230 Vierzehntes Kapitel. Dieselben daueru bis zum Verlassen der Eiscliale bezw. biszur Geburt, wo sie zerrissen und abgeworfen werdeu. Die beiden niederen Klassen der Wirbeltiere, die Ainphibien uud Fische entwickeln sich ohne Eihiillen. Also bedingt deren regelrnaBiges Vor- kommen bei den drei hoheren Klassen ein recht bedeutendes Trenuuugsmerknial iunerhalb des Typus der Wirbeltiere. Wiirden wir nun nach der Vorschrift des biogenetischen Grundgesetzes in den embryonalen Hilfsorganen der Reptilien, Vogel und Siiugetiere die Amnion Allantois Wand des zer- schnittenen Dottersackes ' Dottervenen Dotterarterie ' Grenzstamm der ' Dottergefafie Fig. 117. Embryo einea Opossums, Didelphys virginiana, init den Eihauten. Wiederholung eines Besitztumes ihrer Vorfahreu suchen, so kamen wir zu der Vorstelluug, die Alinen seien wahrend ihres Lebeus in diinne Membrane geniillt gewesen. Icb babe Ihneu mehrere dieser lacheiiichen Konsequenzen aus didaktischen Griiudeu vorgefiibrt, urn Ihnen klar zu machen? dass das biogenetische Grundgesetz nicbt eine so durcbgreifende Geltung besitzt, wie der Laie durch die lakonisch bestimmte Fassung desselben anzunehmeu verleitet wird. Es ware gauz uugehorig, wiirde ich nicht zugleich erklareu, dass die Anbiinger des biogene- tischen Dogmas dieser Schwierigkeiten sich wohl bewusst waren Die Ausnahmen des biogenetischen Grundgesetzea. 231 uud einen helfeuden Ausweg ersannen, urn trotz des Widerspruches der Thatsachen ihre Verallgemeinerung aufrecht zu erhalten. Haeckel1) hat eine recht bestechende Ausrede gefunden, indeni er sagt. niir sind die Falle, in welchen das biogenetische Grund- gesetz nicht ganz stimmen will, leicht erklarlich. Die Natur strebt dauach, mit der Eientwickelung nicht allzu viel Zeit zu vertrodelu, sie will den individuellen Korper moglichst rasch vollenden uud lasst sich keiue MuBe, die Vorfahrenstadien sarntlich zu re- kapituliereu. So schlug sie im Laufe von Jahrrnilliouen einen immer mehr geraden ~Weg vom Eie zum fertigen Tiere ein, indem sie etliche Stadien aus der Urkuude der Vorfahrenentwickelung strich imd die Reihe der phylogenetischen Jugendzustande abkiirzte. Der outoge- netische Prozess erscheint infolge dessen gewohnlich bedeutend ein- facher, kiirzer und schneller als sein stamrnesgeschichtliches Vorbild. Er kaun sich aber von letzterem dadurch noch weiter ent- ferneu, class im Laufe der Zeit neue Prozesse eingeschoben werden (Metamorphose, Bildung von provisorischen Organen, Bildung von Embryonalhiillen). Die neuen Charaktere wurdeu von dern Organismus allmahlich erworbeu und trateu deshalb am Ende der eutwickeluugsgeschichtlichen Reihe hinzu. Dann zog sich die Reihe im Anfaug zusammen, einzelne der altesten Glieder schwandeu vollig daraus, einzelne Zwischenstadien unterlagen einer mehr oder weuiger weit gehenden Verauderung. Diese Neubildungen haben natiirlich gar keiueu phylogenetischen Wert, sondern nur ganz beschrankte Bedeutung. Die iudividuelle Keiniesgeschichte fiihrt uns also nicht eine klare. leicht verstaudliche Urkunde vor. Wir sind nicht berechtigt, aus der stufenweisen Umbilduug des Embryos unmittelbar auf die phylogenetische Umbildung einer entsprechenden Ahnenreihe zu schlieBen, weil die Natur die Urkunde abkiirzt uud falscht. Es bedarf vielmehr eines besonderen Studiurns und scharfer Kritik, um die Falschung von den wahrheitsgetreuen Berichten zu scheideu. Die Thatsachen zwaugen also Haeckel, den Ausdruck ..Rekapitulation der Stammesgeschichte" abzuschwachen in ,,Auszug der Stammesgeschichte" uud diese Bezeichming wiederum einzuschranken durch den Zusatz: ..gedrangter und ab- gekiirzter Auszug." Darnit sinkt nach meinern Urteile das Gruud- gesetz auf die Stufe einer allgemeinen Phrase ohne wirklichen Inhalt herab. Denn wenn die eutwickelungsgeschichtliche Urkunde nicht so vollstandig ist, wie es der kurze AVortlaut des biogenetischen J) E. Haeckel, Die Gastraatheorie. Jenaische Zeitschr. 1874, p. 8. 232 Vierzehntes Kapitel. Gesetzes erwarten lilsst, wenn die Natur solbst, als Falscberin arbeiteud, viele Bildungsvorgiinge, die alte Verbaltnisse wiederbolen (sie wurden vonHaeckel paliugeuetiscbe Bildungeugenannt), aus cloin Flusse der Korperentwickelung jetzt lebender Arten gestrichen und neue den Existeuzbedinguugeu der Einbryonen besser forderlicbe canogenetiscbe Bildungen, vvie z. B. die Embryonalbiillen der boberen Wirbeltiere eingescbobeu bat, so steigern sicb die Scbwierig- keiten ins Ungemessene, um die gefalscbte Urkunde zu entziffern und trotz der Lligen der Natur die Gescbicbte und das Ausseben langst vermoderter Abnen ricbtig zu rekoDstruieren. Die Keirnesentwickelung jeder lebendeu Tierart stellt uacb dieser Interpretation eine Miscbuug von palingenetlscbeu und caenogeuetiscbeu Formen dar. Z. B. uuter den Wirbeltieren sind zwei Klassen, die Eeptilien und die Vogel durcb groBe. dotterreicbe , pergament- oder kalkscbalige Eier und die Bildung der Embryoualblillen (Fig. 106) wabrend der Eieutwickelung aus- gezeicbnet. Die uiedereu Klassen, die Anrpbibien und Fiscbe, legen kleine Eier und entwickeln keine Hiillen. Infolgedessen muB der Descendenztbeoretiker annebmen, die Eirnerkmale der Reptilieu und Vogel seien erst von den Ubergaugsformen der Urampbibien zu dey Urreptilieu (beide siud nie beobacbtete Tiergruppen) erworben worden. Der neue Besitz aber batte so storend auf die damals giiltige, uns wieder vollkornnien unbekanute Eutwickelung eingewirkt, dass die Natur gar uicbt wusste, wie sie die wirklich palingenetiscben Eekapitulationsstadien, welcbe teils die wirbellosen Abnen, teils die Urfiscb- und Urampbibienorganisation wiederspiegelten , deutlicb ausbilden sollte. Mit rascbem Entscblusse stricb sie dieselben aus der damals gewobnteu Entwickeluugsreibe, scbob die neuen Embryonal- biilleu eiu und bruskierte die nioderuen Forscber, indern sie ibnen eine total canogenetiscb gefalscbte Urkuude vorlegte. Im gleicbeu Siuue ist die bescbleunigte Entwickelung des Gebirnes, der zeitweilige Mangel des Mundes uud Afters, das lange Yerweilen der Zabne in den Kieferkuocben zu deuten. Das sincl alles canogeuetiscb gefalscbte Erscbeinungeu, nur dazu augetban, den descendenztbeoretiscben Forscber in arge Verlegenbeit zu bringen. Die bisberige Darstelluug kennzeicbnet eiue Etappe in der Gescbicbte der pbylogenetiscben Forscbung, welcbe ungefabr um das Jabr 1875 beganu und bis beute wabrt. In dieser Zeit sucbte man die paliugeuetiscbeu und canogenetiscben Vorgauge wabreud der Eientwickeluug imrner deutlicber zu scbeiden, mit Beriicksicbtiguug des Umstandes, dass Haeckel zwei Uuterarten der cauogenetiscben Falscbung aufgestellt hatte, namlicb Die Ausnahmen des biogenetischen Grundgesetzes. 233 1. die Heterocbronie der Entwickehing, d. h. die Organe konnen ontweder friiher oder spater in der Keimesentwickelung auftreten, als es in der Stammesgescbicbte der Fall war. z. B. das Gebiru, das Herz, die Augeu; 2. die Heterotopie der Entwickelung, d. b. Orgaue konnen im Embryonalleibe eine andere Lage eiuuebrneu, als sie im Korper der Urahuen besaBeu. Durcb die eiugehende Analyse vieler spezieller Beispiele wurde in den letztvergangeneu zwei Jabrzebnten festgestellt, class in der Eientwickelung samtlicber Tiertypen viel mebr Heterocbronien und Heterotopien, d. b. viel mebr cauogeuetiscbe Prozesse, als wabre Rekapitulation der friiber berrscbenden Zustande vorkornmen. Desbalb messen maucbe Forscber der Entwickeluugsgescbicbte uicbt mebr den groBen. aufklareuden Wert bei, welcbeu ibr Haeckel und seine Scbule friiber zngesprocben batte. Icb will meine Bebauptung durch einen Aussprucb YOU C. Gegenbaur1) belegen: ..In der Ontogenese besitzt die vergieicbende Anatomic eines der wicbtigsten Hilfsmittel , insoferu die Paliugeuese Zeuguis bietet fiir die Vorgescbicbte der Orgauismen. Die Organe treten uns in jener in dern Sonderungsgange entgegen, und wir vermogeu aucb fiir mancbe uus nicbt mebr lebend erbaltene Zustande Schliisse zu ziebeu. Fiir die aus der Ver- gleicbuug ausgebildeter Orgauisuieu gewouneneu Erfabruugen bietet die Outogeuese nicbt nur Bestatiguug, sondern aucb Ergauzuug. Dieser "Wert der Outogeuie ist jedocb keiu absoluter. Die mit der Palingenese vermiscbte Canogenie in ibren niannigfacbeu Erscbeinuugen bescbriiukt jenen "Wert und lasst ibn nur als relativeu auerkeuueu. Bei der Ver- wertung der Outogenese zu pbylogenetiscbeu Folgerungen bedarf es daber vor allem der kritiscbeu Sicbtuug, der scbarfen Sonderung der palingenetiscben und der canogenetiscben Instanzen. Wer die Ontogeuese mit alien ibren Erscbeinuugeu fiir palingenetiscbe Scbliisse in Ansprucb nimmt, gerat auf Irrwege, wie wir sie allerdiugs vielfacb betreteu fiudeu. Die Notwendigkeit kritiscben Verbaltens muss klar werden, sobald man der Tbatsacbe Beacbtuug scbenkt, dass selbst eiu und dasselbe Organ uicbt bloss bei YOU eiuander entfernten Fornien, sondern bei einander nacbst verwandten Gliedern kleiuerer Ab- teilungen einen differeuten Entwickelungsmodus besitzt. Jedes derselben verweist scbeiubar auf eiuen andereu zu Grande J) Carl Gegenbaur, Yergleichende Anatomic der Wirbeltiere. I. Bd., p. 17. Leipzig 1898. 234 Vierzehntes Kapitel. liegenden Zustand und doch kann nur ein einziger vorhanden gewesen seiu ! • Okne jenes kritische Yerfahren liefert die Ontogenese nur eiu verworreues palingenetisches Bild." Die Worte eines hervorragenden Meisters der anatomischen Forschuug sagen Ihuen, mit welchen Schwierigkeiten die Deutuug der entwickeluDgsgeschichtlicheu Vorgauge im Siune der Descendenz- theorie zu kampfen hat. Jm Geiste eines andereu Manues klingt die Ansicht in etwas anderer Fassung; deshalb fiige ich noch die Meinung Steinmanu's an, welcher die gleiche TJberzeuguug bestatigt ; ,,Es gibt ein biogenetisches Grundgesetz in dem beschrankten Sinue, dass manche Stufen der Stammesentwickelung in rohen Ziigeu auch noch von den spaten Nachkomnien wiederholt werdeu, aber die Rekapitulation erweist sich als viel zu unvollstandig und zu stark verschoben, als dass sie bei der Ermittelung der Stamnibaume im Vorclergruud stehen cliirfte; ja sie kann, wie wir wissen, gerade den falschen Weg weisen." Das biogeuetische Grundgesetz besitzt also entgegen mauch anderer Erkeuutnis vom regelmaBigeu Auftreteu gemeinsamer Eigeu- schafteu bei Naturvorgaugen , welche man gewohnlich Naturgesetz nennt, nicht die Eigenschaft, dass es in jeclem speziellen Falle zutrifft. Es bedarf vielmehr fur die meisten Falle einer Reihe von Ausnahmeklauseln und besondereu logischeu Operationeu, um seine Gliltigkeit scheinbar aufrecht zu erhalten, kurz es kanu nur durch eineu Euphemisinus ., Grundgesetz" der orgauischen Natur geuanut werdeu. l) Dr. Steinmann, Ein Facit aus den Fortscbritten der Erdgeschichts- furschung- walirend der letzten vier Jahrzehnte, Prorektoratsrede, Freiburg i. Br. 10. Mai 1899, p. 49. Fiinfzehntes Kapitel. Der Zusammenbruch der Haeckel'schen Doctrin. Das Urteil liber den theoretischen AVert der Entwickelungs- geschichte hat iinneunzebnten Jahrhundert mannigfache Veranderungen erfahren. In der ersten Hiilfte herrschten gerade entgegengesetzte Anschaimngen von denen, welcbe heutzutage verbreitet sind. Zum Beweise dessen will ich Ihnen aus den Vortragen iiber vergleichende Anatomie von Heinrich Rathke1), einem hervorragenden Forscber, dessen Urteil immer noch Bedeutung beanspruchen darf, eine Stelle vorlesen : ,,Nachdem seit dem Anfange des siebzehnten Jahrhunderts mehrere Gelehrte bemiiht gewesen waren, durch anatomische Untersuchungen an erwachsenen Tieren eine Einsicht in den Ban derselben zu gewinnen, anch einige von ihnen schon For- schungen iiber die Entwickelung der Tiere unternommen batten, glaubte man vor einigen Decennien dahin gelangt zu sein, iiber die Yerwandtscbaftsverhaltnisse imd iiber die individuelle Ent- wickelung der Tiere auf sicherem Grunde folgende Ansicbten aufstellen zu konnen: 1, Alle Tierarten setzen eine einzige fortlaufende Reibe zu- sammen, in der jedes Glied korperlich etwas bober entwickelt ist als das zuniichst vorbergebende. 2. Die urspriingliche Form aller Tiere ist eine und dieselbe und aus dieser einen Grundform entwickeln sicb alle, die bocbsten wie die niedrigsten. Dieses aber gescbiebt, indem die hobereu wiib- rend ibrer iudividuelleu Entwickelung von ibrem ersten Ent- steben bis zur vollendeten Ausbildung die bleibendeu Formen aller niedriger stebenden durcblaufeu, d. b. zu verscbiedenen Zeiten ibres Lebens die bleibenden Formen der verscbiedenen tiefer stebenden Tierarten im wesentlicben aucb an sicb er- kennen lassen. (Das ist die Anscbauung, welcbe Haeckel das biogenetiscbe Grundgesetz genannt bat.) J) Hcinr. Rathke, Vortrage zur vergleich. Anatomie der Wirbeltiere. Leipzig 1862. p. 1. 236 Fiinfzehntes Kapitel. ,,Beide Ansichten hub en aber vb'llig aufgegeben werden mils sen • die zweite Ansicht ist durch v. Baer voll- stiindig beseitigt worden. Uberzeugend hat derselbe insbesondere nachgewiesen: 1. Dass einTier bei seiner Entwickelung nicht aus einem der vier Gruudtypen des Tierreiches in einen anderen ubergeht, soudern immer in den Grenzen des einen von ihnen verbleibt, und 2. dasssichbei den verscbiedenen Tieren, welche zueiner und derselben Gruppe gehoren, wahrend der Zeit ibrer Entwickelung zuerst der Gmndtypus bemerkbar macht. nacbber aber, wabrend der Embryo einen immer hoheren Grad der Ausbildung erlangt. sicb aus diesem Gmndtypus immer mebr untergeordnete Yariationen desselben oder, mit anderen Worten, immer mebr spezielle Typen bervorbildeu." InscbarfenGegensatz dazustellte sicb dieMeinungHaeckels1), die icb nacb einem seiner Aufsiitze in der Jenaiscben Zeitscbrift citiere: ,,Ziele und Wege der organiscben Entwickelungsgescbicbte werden nacb meiner festen Ijberzeugung durch das biogenetische Grundgesetz endgiiltig festgestellt, die Ziele klar enthiillt, die Wege bestimmt bezeicbnet. Alle Arbeiten im Gebiete der Ent- wickelungsgescbicbte, welcbe nicbt bloB die empiriscbe Kenntnis, sondern das kausale Verstandnia der genetiscben Phauomene anstreben, werden genotigt sein, dasselbe zu beriicksicbtigen, entweder bejabend oder verneiuend. Die Gegner der Descen- denztbeorie werden notwendig das biogenetiscbe Grundgesetz entscbieden bekampfen; His und Gotte, sowie viele andere Gegner babeu das auch bereits ganz folgericbtig gethan. Die Anbiinger der Abstammungslebre werden umgekebrt in diesem wahren ,,Gruudgesetze der organiscben Entwickelung"' den Scbliissel finden, mittelst desseu sie aus den offenkundigen Tbat- sacben der gegenwartigen Keirnesgescbicbte uuter geboriger Beriicksicbtigung der vergleicbeuden Anatomic die wichtigsten Schliisse auf die liingst vergangene Stammesgescbicbte zieben konnen." Die selbstbewrusste Lobrede auf das sogenannte „ Grundgesetz" wurde vor 10 — 20 Jabren von einer groBen Gemeinde unter den Naturforschern beifallig aufgeuommen. Unterdessen aber bat die niichterne Kritik den scbonen Scheiu wiederum zerstort, und ich konute Ihnen viele Beispiele dafiir anfuhren, dass die Thatsachen dieses Eigenlob nicbt unterstutzen. Denn die scbroffe Fassung des ') E. Haeckel, Zicle und Wege der lieutigen Entwicklungsgeschichte. Jena 1875, p. 77. Dor Zusammenbruch der Haeckel'schen Doctrin. 237 biogenetischen Grundgesetzes bereitet bei ihrer Auwendung auf dea speziellen Fall recht groBe Scbwierigkeiten und 1st nicbt als Aus- druck der Tbatsacben, sondern als frommer "Wunsch der Descendenz- tbeoretiker auzuseben. Zu gunsten desselben wurde friiher gerne die unleugbare Thatsacbe angefiibrt, class die siimtlicben Arten der Wirbeltiere oder eines aaderen Organisatioustypus, deren gescblecbtsreife Yer- treter nach den denkbar verscbiedensten Forniricbtungen aus- gebildet sind, auf jungen ernbryonalen Stufen eine gewisse Abn- licbkeit offenbarcn. Gemeinsanie in der individuellen Keirnes- gescbicbte jedes Wirbeltieres auftretende Formcbaraktere, wie z. B. das Vorkandensein von seitlicbeu Tascben des Yorderdarmes, welcbe an der Haut mit kleinen Spalteu, den Scbkmdspalten mlmden, boten der pbylogenetiscben Spekulation Anlass, dieselben als sicbere Zeug- nisse fiir die Blutsverwandtscbaft zu proklamieren , und allge- meiner Beifall wurde dieser Bebauptung gespcndet. Die Scblund- spalten sind am Begiune des Jahrbunderts bei den Embryonen der Reptilien uud Yogel entdeckt worden, spater gelaug der Nacbweis des gleicben Vorkommens bei den Embryonen der Saugetiere und des Menscben. Als die neu reformierte Abstammuugslebre in den secb- ziger Jabreu das wissenscbaftlicbe Denken auf beklagenswerte Irr- wege fiihrte, standen die Scblunclspalten immer nocb im Yorder- grunde des allgemeiuen Interesses, und alle Welt glaubte ein tieferes Yerstandnis der souderbaren Einricbtung gewonnen zu baben durcb die desceudenztbeoretiscbe Bebauptung, class die Scblundspalteu ein alter, von den Fiscben ber ererbter Cbarakterzug seien; indem die Larven der Ampbibien und die Embryonen der Reptilien, Yogel und Sauger solcbe IScblundspalten aufzeigen, wiederbolen sie erne bei den Fiscben bestebende Einricbtung, iind rekapituliereu das kiemeuatmende Stadium der fiscbabnlicben Abneu. Die Scbluncl- spalten warden also als eine palingenetiscbe Bildung gedeutet, welcbe in der Keimesgescbicbte der hoberen Wirbeltiere getreu er- balten ware. Betracbten wir die Thatsachen selbst. Die Figur 118 zeigt Ibnen eiu Stadium aus der Entwickelungsgescbicbte eines Haifiscbes des Mittelmeeres, des Torpedo ocellata. An der Seiteuwand des Kopfes fallen uns je fiiuf Scbkmdspalten auf. Das sind die iiuBeren Offuungen von paarigen Querkanalen, den Scblundtascbeu, welcbe vom Vorderdarme seitlicb gegen die Haut zieben und binter der Mundboble Seitenwege bilden, auf denen alle darcb deu'Mand in den Yorderdarm eiugesogene Fliissigkeit ablaufen kauu. Die Schlundtascheu entsteben am jungen Embryo als seitlicbe blinde Aus- sackungen des Yorderdarmes, wacbsen gegen die Haut und brecbeu 238 Fiinfzehntes Kapitel. endlich an den Beriihrungsstellen in ilulieren Spalten clurch. Die Figur 119 zeigt Ihnen das Vorkomraen der Schlundtaschen am Vorderdarme beim Embryo eines Menschen. Die embryologischen Untersuchungen haben erwiesen, dass bei samtlicben Wirbeltieren der Darmkanal friihzeitig die seitlicben Schlundtaschen gegen die Haut treibt. Ihr Schicksal ist jedoch mannigfach verschieden. Entweder bleiben sie wahrend des ganzen Lebens erhalten und spielen eine wichtige physiologische Rolle als Atemorgaue das ist bei Fig. 118. Fig. 119. Fig. 118. Embryo des Zitterro chens , Torpedo ocellata. Nach Ziegler. fig. 119. Schnitt durch das Vorderende einea me nsc hlichen Embryos, welcher viel jiinger ist als das in Figur 113 abgebildete Stadium. Der Schnitt ist uugefahr in der Bichtung des Krklarungsstriches zum \Vorte: Schlundbogemvulst (Fig. 113) gefiihrt. Oben liegt der Querschnitt des Gehirns, darunter die Hoble des Vorderdarmes mit den kleinen Schlundtaschen, hinten die Hohle der beiden li'.mgenanlagen. den Fischen der Fall, oder sie bleiben unscheinbar, unterliegen bald einer Umbilduug und schwinden meistens vor der Geschlechtsreife — das ist die Regel fiir die Amphibien, Reptilien, Vogel, Saugetiere. Bei den Fischen erfahren die Schlundtaschen eine ungeniein hohe Ausbildung zu miichtigen, halbmondformigen Siicken, welche weit iiber die Seitenfliiche des Vorderdarmes vorspringen. An ihrer Yorder- und Hinterwand entstehen die Wasserateniorgane, die Kiemen- platten, in Gestalt von feinen, dicht neben einander gelagerten Facherfaltchen, in denen reichliche BlutgefiiBnetze entwickelt sind, so dass der Gasaustausch des Blutes an diesen Stellen sich leicht vollzieht. Um neue Wassermengen an die Kiemenplatten zu schaffen, machen die Fische fortwiihrend Atenibewegungen (30 — 50 in der Minute) d. h. sie saugen mit dem Munde "Wasser eiu, leiten dasselbe in die Schlundtaschen und lassen es aus den Schlundspalten wieder abflieBen. Der Zusammenbruch der Haeckel'schen Doctrin. 239 Die groBen und zahlreichen Schlundtaschen beanspruchen am Kopfe vieler Fischarten einen so bedeutenden Raum, dass die Kopf- region von der Schnauze gegen die Brustflossen bedeutend anschwillt und z. B. bei den Karpfen wie ein nach hinten kegelartig ver- breiterter Korperabschuitt ohne Grenze in den hoheu Runipf iibergeht. Die bei den Hai- fischen engen und niedrigen Schluudspalten der Haut dehnen sich bei den Knochenfischen iiber die ganze Seitenwand des Kopfes, langen sabelformig ge- kriimmteu Schlitzen gleichend. AuBerhalb der Fischklasse wird eine ahnliche Entfaltung der Schlundtaschen nicht niehr beobachtet. Schon bei den Amphibien bleiben sie sehrklein und kurz, und dienen nicht mehr als Aternorgane. Sie erinnern sich ja von friiher (S. 221), dass die Amphibienlarven mit Kiemen ganz auderer Struk- tur, mit den verzweigten, frei iiber die Kopfwand ragenden Hautkiemen (Fig. 121), be- gabt sind. Bei den Reptilien Vogeln und Silugetieren kornmen die Schlundtaschen uiemals aus der Kleiiiheit embryonaler Dimensionen heraus. Die winzigen Taschchen werden bei alien lungenatmenden Wirbeltieren bald zuriickgebildet und die iiuBeren Schluudspalten schlieBeu sich. Nur ein Paar, niimlich die erste Schlundtasche dauert \vahrend des ganzen Lebens, doch ge- winnt sie eine neue physiologische Bedeutung, dadurch dass sie vom Trommelfelle nach auBen abgeschlosseu und ihr die schallleitenden Gehor- Knochelchen eingelagert werden. Sie wird spater Paukeuhohle uud Eustachi'sche Tronipete genannt. Somit beobachten wir in der Reihe der Wirbeltiere folgendes Fig. 120. Kopfgegend des Dornhaies, Acanthias vulgaris. Aus der linken Kopfwand ist ein Keil ausgeschnitten, uin die sechs Schlund- taschen sichtbar zu machen, \velclie als dunkel schattierte Querraume gegen die Hatit ziehen. An der rechten Kopfseite sind die gefalteteii Kiemenplatten der fiinf hinteren Schluudtaschen freigelegt. •Fig. 121. Embryo eines Am- phibium, Epicrium glutinosuin, mit aufie- ren Kiemen. Nach. Sa r asin. Fiinfzehntes Kapitcl. Schicksal cler Scklundtaschen. tlberall werden sie als winzig klciue Seitenriiume des Vorderdarmes angelegt, was wegen der niedlichen Verhiiltuisse des embryoualen Lcibes wohl verstandlich 1st. Aber bald trcten die Unterschiede ein; bei vier Klassen iiberschreiten sie niemals das miuimale GroBenmaB, bei den Fischen hingegen werden sie machtig entfaltet imd mit Atemplatten begabt. Viele Descend enztbeoretiker glaubten, die ebon besprocheneu Thatsachen bezeugen folgenden Verlauf der Stammesgescbichte : Einst- mals war das Meer nur von fischartigen Wirbeltieren bevolkert, dereu Scblundtascben machtig ausgebildet wurden. Spater ent- wickelten sich in einer noch gauzlich unbekannten Weise die lungen- atmeuden Wirbeltiere, zunachst von der Orgauisationshohe der Lurche. Je mehr die Lungenatmung die Oberhaud gewann. desto schwacher wurden die Sckhmdtaschen nebst den Kiemen entwickelt. Aber die Natur vermochte das allnuihlich iiberfliissige Organsystem nicbt vollstiiudig aus dem Korper zu entfernen, denn es war fiir Milliouen und Milliarden friiber verstorbeuer Arten zu wicbtig gewesen und das pietatvolle Gesetz der Vererbung befahl, dass die Ampbibienlarven sogar eiu im Wasser zu absolvierendes Jugend- stadium, freilicb mit einem neuen Kiementypus bis auf den beutigen Tag beibebalten sollten. Wiihrend der Umbildung der Amphibien zu den Urreptilien, Vogeln und Saugeru fand die Naiur zum tiefsten Scbmerze des Vererbungsgesetzes eine besondere Freude an der Fiilschung der Eutwickelungsgescbicbte. Sie strich unverantwort- licher Weise das Wasserleben ganz aus dem individuellen Lebens- rabmen der Arten, bildete aucb keine Kiernenplatten mehr aus; in Anwaudluug einer konservativen Lauiie behielt siejedoch die winzigen Anlagen der Schhmdtaschen bei, die jetzt keinen physiologischen Wert besitzeu und hochstens den Zweck haben, die Stanimes- geschichte skizzenhaft anzudeuteu. Dem schonen Eomane, welchen ich mir in etwas satirischer Fiirbuug zu erziihlen erlaubte, kann ich entgegen dem Urteile vieler tiichtiger Forscher keineu Wert zusprecheu, weil die ganze Erziihlung der Umbildung in der Luft steht. Thatsache ist nur, dass bei den Embryonen samtlicher Wirbeltiere Seitentaschen des Schlundes zunachst in winziger GroBe angelegt werden. Bei den Fischcu wachsen sie zu rnachtigeu Siickchen heran, um als Atemorgane zu dienen, bei alien iibrigen Arten bleiben sie klein und verkiinimern (ausgenommen das erste Paar). So groB auch die Fonniihnlichkeit der Schlundtascheu eines kleinenmenschlichen Embryos mit der entsprechen- den Anlage eines Haifisches sein mag, jedenfalls gesellt sich ihr der Unterschied, dass die erstereu nicht, die letzteren wohl ins GroBe wachsen. Ich sehe da nicht ein, inwiefern man exakt beweisen Dcr Zusammenbruch der Haeckel'schen Doctrin. 241 konnte, class die imnier klein bleibenden und endlich verkiimmernden Schlundtaschen der hoheren Wirbeltiere einstmals die Fiihigkeit besaBen, zu Kiementaschen auszuwachsen! Die niichternen Thatsaclien lehren uns fiir diese Frage bloB, dass die Kiemen der Fische nicht eine alleinstehende Einrichtung besonderer Art darstellen, sondern dass sie durch starkere Aus- gestaltung und feinere Modellierung einer alien Wirbeltieren zu- kommenden Tascbenreihe entstehen. Mit anderen Worten: das entwickelungsgescbicbtlicbe Stuclium hat die morphologisclie t^ber- einstimmung der Wirbeltiere fiir Organe nachgewiesen, welche friiher ganz isoliert erschienen, wie wir in den ersten Stunden einmal das Fliigelskelett der Vogel als Modifikation des allgemeinen Typus des Extremitatenskelettes der hoheren Wirbeltiere begreifen lernten. Solcher allgemeiner Ahnlichkeiten der Wirbeltiere giebt es eine gauze Menge. Fische und Meuschen sind charakterisiert durch den gemeinsamen Besitz des Riickenniarkes, der Gehimblasen, des Hirnschadels, des gleichmaBig in Kammer und Vorkammer ge- teilten Herzens, eines geschlossenen BlutgefaBsystemes mit typischer Lagerung der Hauptstamme , durch den Besitz der Leber, der Bauchspeicheldriise, den Ban der Seh- und Gehororgane und durch die Bildung der Schlundtaschen. Jedes Lehrbuch hilft Ihnen, die grofie Zahl der gerneinsanien Merkmale aller einem einheit- lichen Organisationstypus zugehorigen Arten zu vervollstandigen. Die gemeinsamen Grundziige des Korperbaues treten friihzeitig wahrend der individuellen Keimesgeschichte an dem winzig kleinen Korper der Embryouen auf. Sie scheinen in den kleinen Dimen- sionen einander in hoherern Grade ahnlich, weil die Modellierung an kleinen Objektcn stets geriugfiigiger ist als an monumentalen GroBen und wenn Unahnlichkeiten trotzdem yorhanden sind, die- selben nicht so leicht gesehen werden. Die gemeiusamen anatomischen Eigenschaften entfalten sich aber verschieden. Die Gehirnblasen z. B. erreichen ihr groBtes Volumen in der Siiugetiergruppe , wahrend sie bei den Fischen unscheinbar bleiben uud sich geracle umgekehrt wie die Schlundtaschen verhalteu. Der Dannkanal der Fische ist kurz und in wenig Win dun gen gelegt, bei den Saugetieren wiichst er zu einem langen, vielfach gewundenen und verschieden weiten Schlauch aus. Die Schwanzregion dient den Fischeu als wichtiges Bewegungs- werkzeug durch ihre kolossal entwickelte Muskulatur, wahrend bei den Vogeln der Schwanz ganz verkiirnmert. Diese Beispiele solleii Ihnen nur erlautern, dass die alien Wirbeltieren gemeinsamen anatomischen Charaktere in verschiedenen Klassen auf verschiedene Art entfaltet sind, ohne dass wir einen Fleischmann, Descendeuztheorie. 16 242 Fiinfzehntes Kapitel. stichhaltigcu Gruud dafiir nennen konnen. Das Vorkommen von Schlundtaschen und deren wechselnde Ausbildungbei den niederen und hoheren Wirbeltieren gewahrt uns darum nach rneiner Ansicht ebenso wenig einen Einblick in die Stammesgeschichte als die Beobachtuug der verschiedenen Abarten des Herzens, Gehirnes, Skelettes u. s. w. Um noch ein anderes Organ zu besprechen, will ich die zu groBer theoretischer Bedeutuug gelangte Chorda dorsalis hervorheben. Sie wissen nieist nur, dass die Wirbeltiere als Stiitze ihres Korpers eine Wirbelsaule besitzen. Vom Anatomen erfahren Sie, dass durcli die Reihe der Wirbel ein feiuer Strang von weichlicher Konsistenz. die Riickensaite, Chorda dorsalis (Fig. 122), hindurchzieht. Dornfortsatz Kiickenmark Bindesewebe ^r*— " — -* / Oberer Wirbelbogen Querfortsatz - Rippe Chorda dorsalis - Aorta Fig. 122. Querschnitt durch die Gegend der "Wirbelsaule eines jungen Karpfen. Nach Sch e el. Alle Wirbelkorper dnrchbohrend liisst sie sich von der Kopfregion bis zur Schwanzspitze verfolgeu und tritt auBerordentlich friihe ini Embryonalleben unterhalb des Riickenmarkrohres bei den Fischen, Amphibien, Reptilien, Vogelu und Siiugetiereu auf. Die Descendenztheoretiker fiihren das Vorkommen der Chorda gerne als einen Beweis fur die Abstammung der hoheren Wirbel- tiere von den Fischen an, wiederum ohne Recht; denn die Riickensaite ist ein alien Wirbeltieren zukommender Besitz, der in verschiedenen Klassen verschiedengradig eutfaltet wird. Bei den Fischen imponiert sie als miichtiger, durch die Wirbelkorper teilweise eiugeschuiirter iStraug. Bei deu hoheren Wirbeltieren ist sie schon auf den jiingsten Stadieu der Korperentwickelung schwach angelegt und erfahrt keine Verstarkimg ihres Kalibers, ja allmahlich schwindet sie bis auf unbedeutende Reste ohne lebenswichtige Bedeutung. Besser als das anatomische Studiumdes ausgebildetenTierkorpers enthiillt die Entwickelungsgeschichte das Vorkommen gemeinsamer Der Zusammenbruch der Haeckel'schen Doctrin. 243 Charaktere der Wirbeltiere. Es liegt jedoch kein zwingender Grund vor, den wabrend der Embryonalzeit auffallenden Abnlichkeiten, welcbe durch die Schlundtaschen, die Chorda etc. gekennzeicbnet werden, einen groBeren phylogenetischen Wert zuzusprecben als den zabl- reichen wabrend des ganzen Lebens dauernden gemeinsamen Eigen- schaften. Auch die descendenztheoretiscbe Schule kann fiir diese Bevorzugung keinen anderen Grund als die einfache Bebauptung anfiibren und dem kritiscben Blicke ibre Obnmacbt nicbt verbergen. Gegen meiue niicbterne Auffassung werden Sie leicbt ablebnend gesiunt, sobald ein Anbanger der Entwickelungstheorie Ibnen sagt, die Scbluncltaschen und die Cborda dorsalis miissten als wichtige stammesgeschichtliche Zeugnisse gedeutet werden, soust konne man nicbt einseheu, warum die nutzlosen Einrichtuugen iiber- baupt bei den Embryonen der Reptilian, Yogel und Saugetiere vorkommeu ; die Frage beiscbe notweudig eine Antwort und diese miisse im descendenztbeoretiscben Sinne gegeben werden. Nacbclem icb scbon bei einer friiberen Gelegenbeit (S. 118) Sie auf die Fehler bingewiesen babe, welcbe in der Scblussfolge verborgen sind, mocbte icb Sie beute nocbnials vor dem verflibreriscben Klange dieser ganzlicb uulogiscben Praktik warnen. Jedermaun wird nacb Kenntnis- nabnie der beideu eben besprocbenen Beispiele fiir sicb die Frage stellen, warum die Xatur so streng an der Bildung der Cborda und Scblimdtascben festbalt. Aber diese Frage darf bier nicbt als Ausfluss des Causalitiitsdranges unseres Denkeus gelten , sonclern als eine falscbe, wenugleicb durcb den gewobnlicben Spracbgebraucb ent- scbuldbare Stilisierung fiir das Gefiibl der Cberrascbung, welcbes das embryouale Gescbebeu in uns erweckt. AVir finden es sonderbar und auffallend, dass die Natur gerade so und nicbt anders verfabrt, wir batten eineu viel eiu- facberen Modus der Entwickelung erwartet und bezeicbnen unsere Verwunderung kurz durcb den spracblicben Ausdruck: warum wird die Cborda gebildet, warum treten die Scbluudtascben auf? AVer geuau iiber die reellen Tbatsacben nacbdenkt, wird allniablicb einseben, dass es fiir die als Frage stilisierten Gedanken iiberbaupt keine Autwort giebt. Ein anderes Beispiel wird Ibnen yielleicbt deutlicber sagen, was icb rneiue. Nebmen Sie an, wir batten iiber den Ban des Men- scben, iiber seine Fabigkeiteu, seine kulturellen Fortscbritte lange nacbgedacbt und die Uberlegenbeit unseres AATesens durcb den Ver- gleicb mit anderen Tieren recbt empfuudeu, so freuen wir uns iiber die A7orziige uuseres Gescblecbtes und konnen diese Eeihe von Gedauken aucb in die stilistiscbe Fassung bringen: wie ist es mog- licb, dass gerade wir vor alien Gescbopfen der Erde so ausgezeicbuet 16* 244 Funfzehntes Kapitel. sind oder in anderer syntaktiscberForrn: warum besitzen wir Menscheu die bocbsteu geistigen Eigenschaften? Sie wissen alle, class das eine sog. Frage 1st (in Wirklicbkeit ist sie ja nur eiu in Frageform ge- kleideter Ausdruck der Verwunderung), welcbe das Nachdenken eiues ernsthaften Mannes nicht lobnt. Unsere menschliche Natur u ud die Eigeuart aller iudividuelleu Aulagen und Fiihigkeiten muss der Deuker als gegebene Thatsachen biuuebmen, ohne eine Ur- sacbe dafiir zu ergriinden. AVaruni ich fiiuf Finger babe, waruni icb uur acbt bis zebn Stundeu des Tages marscbiereu kauu u. s. w. kann icb nicbt erklaren. Icb kann nur koustatieren, dass es so ist, und dass viele glaubeu, iuteressanter zu sprecben, wenn sie die alltaglicbe Tbatsacbe in das Gewand einer Frage kleiden. Die Desceudenztbeoretiker versucben dieselbe Unnioglicbkeit, indem sie sicb den Anscbein geben, als wollten sie wirklicb nacb der Ursacbe des Vorkommens der Cborda, der Scbluudtascbeu u. s. w. fragen. In der Absicbt, dern Laieupublikum das biogeuetiscbe Grund- gesetz recbt einleucbtend vorzutragen, liebt es Haeckel, die Au- gabe zu wiederbolen, dass die Embryonen aller Wirbeltiere in den ersten Eutwicklungsstadieu einen sebr boben Grad von Abnlicbkeit sowobl irn auBeren Habitus, als aucb irn ana- tomiscben Aufbaue offeiibaren. Er setzt erklareud binzu, das ware uicbt mogiicb, wenn nicbt die Tiere blutsverwandt wareu und kraft des Vererbungsgesetzes die gemeiusamen Formziige von ibren gemeinsameu Abuen aufgepra'gt erbalten batten. In seiuem letzteu popularen Werke, die „ Weltratsel1) " spricbt er die Ausicbt ganz bestimnit aus: ,,Die weseutlicbe Ubereiustimmung in der a'uBeren Korper- form und dem iuneren Ban. welcbe die Embryonen des Menscbeu und der iibrigen Vertebraten (Wirbeltiere) in dieser friibeu Bilduugsperiode zeigeu, ist eine embryologiscbe Tbatsacbe ersten Ranges. ,,Wenu wir seben, dass in einem bestimmten Stadium die Keirne des Menscben und des Aft'en, des Huudes uud des Kanincbens, des Scbweines und des Scbafes zwar als bobere Wirbeltiere erkennbar, aber sonst nicbt zu uuterscbeideu sind, so kami diese Tbatsacbe eben nur durcb gerneinsame Abstanirnung erklart werden." Jeder, der dieseu Satz liest, muss glaubeu, dass wirklicb eine unbescbreiblicbe Abnlicbkeit zwiscbeu den Wirbeltierembryonen be- stiinde ; ja, er wird die Angabe um so rnebr fiir ricbtig balten, als sie von dein Yerfasser der nattirlicben Scbopfungsgescbicbte seit E. Haeckel, Die Weltratsel. Bonn 1899. p. 75. Der Zusammenbruch der Haeckel'schen Doctrin. 245 30 Jahren wiederholt wird. Yon wissenschaftlicher Seito wurde derselben aber gleich im ersten Moniente ihrer Publikation sekr scharf opponiert. W. His1) hat ihre Unrichtigkeit schon im Jahre 1874 durch Wort und Bild gezeigt. Haeckel kouute damals bloB in der friiher (S. 10) citierten, verlegenen Weise antworten. Die Fortschritte der entwickehmgsgeschichtlicken Forschuug haben seither die Ansicht von His bestatigt, die Behauptung Haeckel' s aber als fehlerhaft er- wiesen. Als Haeckel die Lehre yon der iiberraschenden Ahnlich- keit der Embryonen aussprach, war sein Irrtum zu eutschuldigen ; denn das Studium der Eutwickelungs- geschichte steckte darnals in den Kinderschuheu. Weuig Tierarten waren genauer untersucht, von den meisteu uur eiuzelue Ent- wickluugsstufeu bekannt. Es konnte eiuem tiichtigen Manne leicht das gleiche Missgeschick passieren, vie dem Meister der entwicklungs- geschichtlicheuUntersuchuug,Karl Ernst von Baer2), welcher einst einige EmbryonenglaseT seiner etikettieren halbeu Sanimlung zu vergaB Fig. 123. und nach einem Jahre Keimanlage eines Opossums, Didelphys virginiana. Isack Selenka. nicht mehr unterscheideu konnte, ob er Ernbryoneu von Eidechseu, Vogelu oder Sa'ugetiereu anfge- hoben hatte. Seit jener Zeit aber sind unsere Keuntuisse der embryonalen Formen an Unifaug und Tiefe gewachsen uud derartige Verwechseluugen sind heute fiirden geiibten Forscher ausgeschlossen. Ich glaube nicht, dass von samtlichen Gelehrten, welche dem Studium der tierischen Eutwickeluugsgeschichte ihr Lebeu weihen, auch uur eiu Einziger den oben citierten Satz Haeckel's unterschreibt. Durch die genaue Bearbeitung der Eientwicklung von zahlreicheu AYirbel- tieren ist ebeu die Erkenntnis gesichert worden, daB die spezinschen Merkmale der Tierarteu an den allerjliugsten Ernbryouen mit derselben Deutlichkeit ausgepragt siud, wie die Eier der Yogelarten fur den Kenuer sich unterscheiden. Ich bitte Sie zum Beweise den Embryo des Zitterrocheus (Fig. 118) mit dem Huhuembryo (Fig. 112), feruer die Keim- J) W. His, Unsere Korperform, Leipzig, F. C. W. Vogel 1871. -) K. E. von Baer, Entwicklungsgeschichte der Tiere 1828. I. Teil. S. 221. 246 Fiinfzclmtes Kapitel. scheibe des Opossums (Fig. 123) mit der Embryonalanlage des Hiihnchens (Fig. 110) oder den Embryo eines Sckweines (Fig. 124) mit clem menscklicken Embryo (Fig. 113) zu vergleicken. AVer sick viel mit dem Sammeln und dem Studium von Eni- bryonen abgegeben kat, verrnag sckou an eiuer gauz winzig kleiueu Keirnsckeibe sickerlick die Klasse und die Gattuug der Tiere zu be- stimmen, zu welcker das Eistadium gekort. In vielen Spezialabkand- lungen und in den neuereu Lekr- biickern siud iibrigeus sekr viele Abbilduugen der versckiedensteu Enibryoneu entkalteu, dass der Ferner- stekeude durck deren Betracktuug leickt eine A^orstelluug von den spezifiscken Uutersckieden gewiuneu kann. Es verloknt darum nickt der Miike, nock weitlaufiger die Unkalt- barkeit der Haeckel'scken Augabe darzulegen . Bei einem Manne , welcker die embryologiscke Litteratur niit so groBer Aufmerksamkeit verfolgt, wie das Haeckel tkut, ist auck nickt zu vermuten, dass er etwa selbst die Untersckiede der juugen Embryonalstadien iiberseken koiinte. Ick kalte irn Gegenteile dafiir. er wiirde es als eine grobe Beleidigung bezeickuen, wollte eiuer etwa bekaupten, Haeckel sei uickt ini staiide , eineu juugeu menscklicken Keirn vom Embryo eines Hundes, Sckweiues oder A'ogels zu untersckeiden — eine Aufgabe, welcke jeder einigermaBeu erfakrene Embryologe okue Sckwierigkeiteu lost. Die Untersckiede waren sckon vor 20 Jakren so allgemeiu bekannt, dass der Got- tinger Anatom AV. Krau.se1) arg bloBgestellt wurde, weil er 1875 eiuen von einem ekemaligen Zukorer unter falscker Bezeicknung eiugesaudteu Hlikuerembryo kritiklos als ein friikes menscklickes Eutwickeluugsstadium besckrieb. Wollte ick jetzt freilick Sie vor die Aufgabe stellen, ein Dutzend von Saugetierenibryonen artweise aus einander zu klauben, so wiirden Sie sick vergeblick abrniikenj weil Ikneu die ATertrautkeit mit embryoualen Formen und die tibung des Blickes niaugelt. Ikre Unbekilflickkeit wird Sie jedock nickt zu der Ansickt fiikreu, dass die Untersckiede Fig. 124. Embryo des Schw eines, 21Tage alt. Nach Keibel. !) W. His, Zur Kritik jiingerer mcnschlicher Embryonen, Sendschreiben an H. Prof. W. Krause in Gottingen, Archiv f. Anat. und Entwicklungs- gescb. 1880. S. 407. Der Zusammenbruch der Haeckel'schen Doctrin. 247 \virklich fehlen. Sie werden, wie ich denke, dem Urteile des Fack- gelehrten vertrauen, welcher als Resultat eingehender Untersuchung mitteilt, dass die Natur den jiingsten tierischen Keimen ebenso scharfe, mit der weiteren Modellierung des Korpers sick steigernde Unterscliiede aufgepragt hat, wie es von den Samenkornern und Keim- blattern der Pflanzen jedermann bekaunt ist. An skizzenhaften Beispielen babe icb Ibnen bisber die von der wisseuschaftlichen Welt vorgenornmene Priifung des biogenetiscben Grundgesetzes zur Geniige erlautert, urn zum Scblusse eilen zu diirfen. Meine Beispiele waren zwar drastiscb ausgewahlt, aber sie illustrieren , wie mir scheint, klar die spriugenden Fragepunkte und sind dem Ungeiibten einigermaJBen verstaudlicb. Denn Sie diirfen nicbt vergessen, dass das eingebendste praktiscbe Studium der Ent- wickeluugsgeschichte fiir alle diejenigen notwendig ist, welcbe iiber den Wert des Haeckel'schen Dogmas ein maBgebendes Urteil fallen wollen. Meine Absicbt zielte aucb nicbt dahin, Sie als Eicbter in dieser Frage aufzurufeu, sondern icb wollte Sie den Gegensatz zwiscben einer falscben Tbeorie und den niicbternen Tbatsacben erkenneu lassen. Das vergleicbende Studium zweier Ordnungen der Saugetiere, namlicb der Raubtiere und der Nagetiere bat micb vor ueun Jabren zuerst daran zweifeln lasseu, ob das biogenetiscbe Grundgesetz wirk- licb der praguaute spracblicbe Ausdruck fur das Gescbeben der Eient- wickelung sei, nacbdem icb zebn Jabre laug ein treuer Anbanger des- selben gewesen war und jeden arg gescbolten batte, welcber deui sog. Gesetz nicbt ebenso groBen Glauben scbenkte. Indem icb nieiue skeptiscben Bedenken an den natiirlicben Tbatsacben weiter priifte, gelangte icb zu der Uberzeugung, dass das Grundgesetz wobl einen verlockenden Klaug, aberkeinen positivenlnbalt besitzt. Andere meiner Facbkollegeu bat unabbangiges Nacbdenken zu der gleicben Ausicbt gefiibrt. Icb zitiere zunacbst zwei Manner, welcbe em- bryologiscbe Studien zu dem Zwecke beganneu, neue Tbatsacben fiir die uubedingte Geltuug des biogenetiscben Gesetzes zu fmden. Prof. Dr. A. Oppel1) cbarakterisierte seinen Standpunkt im Jabre 1892 wie folgt: ,,Er stand zu Beginn seiner Untersuchung iiber Vergleicbung des Entwickelungsgrades der Organe zu verschiedenen Ent- wickelungszeiten bei Wirbeltieren auf dem Boden des biogene- tischen Gesetzes und glaubte, dass ein solches in modifizierter Form Geltung babe. Wahrend der Untersuchung fand er je- docb, dass das Gesetz nicbt aufrecbt erhalten werden konne, *) Jahresbericht iiber die Fortschritte der Anatomie und Physiologie, her- ausgegeb. von Hermann und Schwalbe, 20. Bd. 1892. S. 683. Funfzehntes Kapitel. da die Modifikationen schlieBlich dazu fiihren, dass das Ge- setz nicht bestebe. Gestiitzt auf seine Uutersucbungen kommt Yerfasser zu dem Scblusse : Die Ontogenie ist nicbt die Wiederbolung der Pbylogenie." Prof. Dr. Fr. Keibel1) in Freiburg hat das Studium der Ent- wickelung des Scbweines beniitzt, urn das biogenetiscbe Gesetz zu priifen. Er iiberzeugte sicb gleicbfalls von dessen Unricbtigkeit: ,,Die zeitlicben Yerscbiebungen (d. b. Heterocbronie, vergl. S. 233) baben bei den Saugern eine solcbe Hohe erreicbt, dass die Organe, welcbe sonst geeignet erscbeinen mogen, die ver- scbiedenen Stadien zu cbarakterisieren, durcb einander gescboben sind. Bei Saugern kann man, wenn man den gegenseitigen Entwickelungsgrad der Orgaue im Organismus ins Auge faBt, von einer Wiederbolung der Pbylogenie in der Ontogenie durcbaus nicbt sprecben; das ,,biogenetiscbe Grundgesetz" \vird bier, weun man so sagen darf, nur durcb Ausnabmeu bestatigt, d. b. mit einem Worte von einer Geltung des biogene- tischen Grundgesetzes kann fiir die Sauger in der angedeuteten Hinsicbt iiberbaupt nicbt die Rede sein." Neuerdings bat einer unserer ersten Anatomeu, Oskar Hert- wig2) in Berlin, seine Wertscbatzuug des biogeuetiscben Gesetzes folgendermaBen formuliert : ,,Die Tbeorie der Biogenesis macbt an der von Haeckel gegebenen Fassung des biogenetiscben Grundgesetzes einige Ab- anderungen und erlauternde Zusatze uotwendig, durcb welche sicb der oben bervorgebobene Widersprucb beseitigen liiBt. Wir mlissen den Ausdruck: „ Wiederbolung von Formen aus- gestorbener Yorfabren" fallen lassen und dafiir setzen: Wiederbolung von Formen, welcbe fiir die organiscbe Entwickelung gesetzmaBig sind und vom Einfacben zum Komplizierteren fortscbreiten. Wir miissen den Scbwerpunkt darauf legen, dass in den embryonalen Formen ebenso wie in den ausgebildeten Tierformen allgemeine Gesetze der Entwickelung der organisierten Leibessubstanz zum Aus- druck kommeu." ,,Nebmen wir, um unsern Gedankengang klarer zu macbeu, die Eizelle. Indem jetzt die Entwickelung eines jeden Organismus mit ibr beginnt, wird keineswegs der alte Urzustand rekapituliert aus der Zeit, wo vielleicbt nur einzellige Amoben 1) Fr. Keibel, Stadien zur Entwicklungsgeschichte des Schweines. Mor- pholog. Arbeiten, herausgeg. von Sclrwalbe. Bd. Ill, 1893. 2) Oskar Hertwig, Die Zelle u. die Gewebe. II. Buch. Jena 1898, p. 273. Der Zusammenbrnch der HaeckcTschen Doctrin. 249 auf unserem Planeten existierten. Denn nach unserer Theorie ist die Eizelle zum Beispiel eines jetzt lebenden Siiugetieres keiu einfaches und indifferentes, bestimmungsloses Gebilde, als welches sie zuweilen hiugestellt wird; wir erblicken in ihr ja das auBerordentlich komplizierte Endprodukt eines sekr langen bistoriscken Entwickelungsprozesses , welchen die organisierte Substanz seit jener bypotbetiscben Epoche der Einzelligen durch- gemacbt bat." ,,Wenn schon die Eier eines Siiugetieres von denen eines Reptils und eines Amphibiums sehr wesentlicb verscbieden sind, weil sie ibrer gauzen Organisation nacb uur die Aulagen fiir ein Saugetier, wie diese fiir ein Eeptil oder ein Ampbibium repriisentieren, nm wie viel mebr uiiissen sie verscbieden sein von jeneu hypotbetischen einzelligen Arnoben, die nocb keinen auderen Erwerb aufzuweisen batten, als nur wieder Amoben ibrer Art zu erzeugen!" • (Vergleicbe dagegen Haeckels Auffassung, zitiert auf S. 211.) ,,Allerdings bestebt in gewissem Sinne, wie anzuerkennen ist, eine Parellele zwiscben der pbylogenetiscben und der onto- genetiscben Entwickelung. Von dem Boden der allgemeinen Entwickelungsbypotbese aus, auf welcbem wir steben, werdeu Formzustande, welcbe in der Kette der Yorfabren Endpunkte ibrer individuellen Eutwickelung waren, von ibren Nacbkommen jetzt als Embryonalstadien durcblaufen und so gewissermalien rekapituliert. Aucb sebeu wir. da?s tmbryonale Zustande boberer Tiergruppen mit den ausgebildeten Forrnen verwandter, aber irn System tiefer stebendcr Tiergruppen mancberlei Ver- gleicbspunkte darbieteu.1' ..Indessen siud bei eineni tieferen Eindriugeu in den Gegen- stand iiber der zu Tage tretenden Ahnlicbkeit aucb nicbt die sebr wesentlicben Verscbiedenbeiten zu iiberseben, welcbe in mebrereu Beziebungen besteben." ,,AuBere und innere Faktoren wirken auf jede Stufe der Ontogenese wobl nocb in boberem Grade umgestaltend ein, als auf den ausgebildeten Organismus. Jede kleinste A^erande- rung, welcbe auf diese Weise am Begiun der Ontogenese neu bewirkt worden ist, kann der AnstoB sein fiir immer augen- falligere Form wan dluugen auf spiiteren Stufen." ,.So konnen in der Outogenese ganz neue Gestalttmgen ge- wissermaBen neu eingescboben werden (Canogenese von Haeckel), Gestaltungen, welcbe in der Vorfabrenkette als ausgebildete Zustande nicbt existiert baben und ibrer Natur nacb nicbt baben existieren konnen." 250 Funfzehntes Kapitel. ,,"0berhaupt ist bei der Vergleichung ontogenetischer mit vorausgegangenen phylogenetischen Entwickelungsstufen immer im Auge zu behalten, dass infolge der mannichfachsten Ein- wirkungen auBerer und innerer Faktoren das ontogenetische System in bestandiger Veranderung begriffen ist, und zwar sich irn allgemeinen in fortscbreitender Richtung veriindert, dass daher in Wirklichkeit ein spaterer Zustand niemals mehr einem vorausgegangenen entsprecben kann." ,,0ntogenetiscbe Stadien geben uns daher nur stark ab- geanderte Abbilder von phylogenetischen Stadien, wie sie in der Vorzeit einmal existiert haben konnen, entsprechen ihnen aber nicht ihrem eigentlichen Inhalte nach." ..Dass gewisse Formzuslande in der Entwickelung der Tiere mit so groBer Konstanz und in prinzipiell iibereinstimmender Weise wiederkehren, liegt hauptsachlich daran, dass sie uuter alien Verhiiltnissen die notwendigen Vorbedingungen liefern, uuter denen sich allein die folgende hohere Stufe der Ontogeuese hervorbilden kann." • — ..So fiihrt uns die Vergleichung der ontogenetischen Stadien der verschiedenen Tiere teils unter einander, teils mit den ausgebildeten Fornien niederer Tier- gruppen zur Erkenntnis allgenieiner Gesetze, von welchen der EutwickelungsprozeB der organischen Materie beherrscht wird. Bestimmte Formen werden trotz aller bestandig einwirkenden umiindernden Faktoren im EntwickelungsprozeB mit Ziihigkeit festgehalten, weil nur durch ihre Vermittelung das komplizierte, Endstadiuin auf dem einfachsteu Wege uud in artgemaBer Weise erreicht werden kann." Hertwigs Darstellung erscheint mir und manch anderem Manne, z. B. dem Prof. Keibel, als das verbliimte Eingestaudnis, dass die Eekapitulatioustheorie haltlos geworden ist. Da 0. Hert- wig ein Schiller und Freund von E. Haeckel ist, so ist es begreif- lich, dass er, um den Redakteur des Gesetzes durch offene Verwerfung desselben nicht zu beleidigen, sich einer iingstlich riicksichtsvollen Ausdrucksweise zur Bekanntgabe seiner inneren iQberzeugung bedient, dass die Formenreihe der Keimesgeschichte keine wirklichen Vor- fahrenstadien wiederhole. Da alle Wirbeltiere durch eine groBe Zahl genieinsamer Merk- male eiue gut geschlossene systematische Gruppe bilden, durchlaufen sie auch wahrend des Aufbaues ihres Korpers gewisse iibereinstim- mende Entwickelungstufen, gleich wie ein Gebaude, mag es ein Palast oder eine Hiitte sein, gewisse Stufeu der Bauentwickelung passieren muBte : Zuerst die Aushebung und das Legen des Funda- mentes, dann die Anhaufung des Rohmateriales, die Auftiihrung der Der Zusammenbruch der Haeckel'schen Doctrin. 251 Umfassimgsmauern, das Einziehen des Gebalkes und die Aufsetzung des Dachstuhles. Oline Bezug auf Ahnenformen folgen die Ei- stadien in formaler und physiologischer Correlation auf einander und bestatigen dadurch fiir die Embryonalzeit die Herrschaft gemein- samer Stilregeln im Wirbeltierkreise. Jedenfalls sind es heutzu- tage nicht wenige Forscher, welche den Riickschluss aus den Em- bryonalformen auf die hypothetisch erdacbte Vorfabrenreibe ver- ponen. AuBer den eben genanuten Namen haben nocb Beard, Hen sen, Emery, Driescb sicb gegen die Giltigkeit des biogeue- tiscben Grundgesetzes ausgesprocben. Die Zabl der offenen Gegner \vird sicb steigern, sobald der Terrorismus der pbylogenetiscben Scbule nocb niebr gebrochen ist. Fast vierzig Jabre sind verflossen und eine sebr groBe Zabl von Abbandlungen muBte gescbrieben werden, bis das Resultat gezeitigt wurde, dass das natiirlicbe Ge- scbeben in der Keimesentwickelung der Tiere nicbt der Regel folgt, welche Ernst Haeckel sicb einmal ausgedacbt batte, um seiner Privatansicbt iiber die Welt und deren Entstebung die JEerrschaft zu erringen. Die Sacblage wendet sicb fiir die Anbanger der Descendenz- tbeorie hochst ungiinstig! Woran soil nun die Stammesgeschichte abgelesen werden, wenn die Eientwickelung als aufklarende Urkunde versagt? AVir baben die verscbiedenen Wege gepriift, auf welcben man die liingst verscbollenen Abnenreiben der beutigeu Tierarten aufzuspuren boffte, obne ein positives Ergebnis zu fiuden. Das Studium der vergleicbenden Anatomic bat die scbarfen Grenzlinien zwiscben den groBen Organisationsgruppen des Tierreicbes (der Wirbeltiere, Gliedertiere, Weicbtiere, Stacbelbiiuter. Pflanzentiere, Ur- tiere) aufgedeckt, In keinem Falle gelang es, die tbeoretiscb gefor- derten Cbergangsformen nacbzuweisen. Als wir unsere Wiinscbe niedriger scbraubten und inuerhalb eines Typus die Zwiscbenstufen der Klassen sucbten, hat das Beispiel der Wirbeltiere uns gezeigt, dass niemand sagen kann, wie sicb die Fiscbe in Ampbibien und diese in Reptilien umgebildet baben. Niemand kann JRecbenscbaft geben, "wober die Vogel, woher die Saugetiere stammen. Fiir andere Typen berrscbt dieselbe UngewiBbeit. Den Erkenntniswert der Palaontologie babe ich mit den eigenen Worten Haeckels und der Palaontologen beleucbtet. Die versteinerten Tierreste sind Triimmer von Lebewesen und stumm liber die nicbt fossilisierten Korper- teile. Heute haben Sie durcb das Versagen des entwickelungs- gescbichtlichen Zeugnisses eine neue Enttiiuschung erfahren. Damit ist die praktiscbe Moglicbkeit, etwas iiber die Urgescbichte des Tierreicbes zu ergriinden, vollstandig erscbopft und die Hoffnung fiir alle Zukunft zerstort. Wir 252 Fiinfzehntes Kapitcl. erhaltcn ein Resultat gerade umgekchrt von clem, was man er- warteu sollte. Anstatt class die Fachgelehrten im stande waren, eine von Jahr zu Jahr wachsende Fiille von Beweiseu fiir die Richtigkeit der Abstammungslehre vorzufiihren, ist der Mangel derselbeu uud die Unmoglichkeit der Vervollstandigung heute offen- kundig. Diesen Zustand nenne ich den Zusammenbruch der Ab- stammungslehre, zunachst einen Zusammenbruch im Rahmen der engen Fachwissenschaft; clenn ich deuke nicht an die Tausende von Anhangern der Lehre unter den Gebildeten, an die Mediziner, Naturwissenschaftler, Juristen, Philologen, und Historiker, welche nicht in der Lage sind, sich clurch eigene Auschauung ein Urteil zu bilclen. Ich spreche also nicht von eineni Zusammenbruch der Lehre in den Kreisen derjenigen, welchen die Urteilsfahigkeit fiir dicse Frage abgeht. Unter ihnen wird die Idee noch lange herrschen uud viele Kopfe verwirren, da sie nicht gezwungen sind, die exakte Berechtigung eines schonen Marchens so streng zu priifen wie der Fachgelehrte, welcher seine Wissenschaft auf genau beobachtete Thatsachen griinden muss. Die Anzeichen rnehren sich, daB man der leereu Spekulation allrnahlich iiberdriissig wird. Vielleicht werclen wir es noch erleben, daB die biologischen Forscher von der aussichtsloseu Arbeit sich ganz abwenden und liber die stammes- geschichtliche Spielerei der Gebildeten zur Tagesorduung iibergehen. Sechzelmtes Kapitel. Der Entwicklungsgedanke und die logisclien Gesetze. Wenn ich bisher den Ideengang der Descendenztkeorie als eiu ernstlick cliskutierbares Problem behandelt kabe, so entsprang meiu Verhalteu lediglich koflickeu Kiicksickten. Ich selbst betra elite den Entwickelungsgedanken fiir die Zoologie als venverflick, als so fehlerhaft, dass ein auf ernste Arbeit gerichteter Sinn sick gar nicht mit ihm besckaftigen soil, weil er dadurck uur zu Wakngebilden und Pkantastereien verflihrt wird ; clenn nioderne Stammesgesckickte besteht aus leeren, kaltlosen Vermutungen. Bis zu eiuem gewissen Grade deckt sick meine Ansickt mit Ha e eke Is Auffassung, wenn man folgende Stelleu1) aus seineu letzten Werken in's Auge fast. ,,Zur Zeit sind die einzelnen Teile unserer Stammesgesckickte dock nock zu ungleickmaBigbearbeitet, und die Hypotkesen der einzelnen Gesckicktsforscker nock zu widersprucksvoll, um eine ausgefiikrte und einigermaBen abgerundete Darstellung derselben in Form eiues Lekrbuckes geben zu konnen. Yielmekr tragt mein ,,Entwurf" nock durckweg den Ckarakter eines subjektiven Gesckicktsbildes, \velckesinknappemRakmen einen Uberblick iiber das Gesamtgebiet der orgauiscken Stammes- gesckickte nack meiner personlicken Auffassung geben soil." — ,,Selbstverstandlick ist und bleibt uusere Stammes- gesckickte ein Hypotkesen-Gebaude, gerade so wie ikre Sckwester, die kistoriscke Geologie. Denn sie suckt eine zusammenkaugende Einsickt in den Gang und die Ursacken von liingst verflossenen Ereignissen zu gewinuen, deren unmittelbare Erforsckung uus unmoglick ist. Weder Beobacktung nock Experiment vermogen uns direkte Aufsckliisse iiber die zakllosen Umbildungsproze sse zu !) E. Haeckel, Systemat. Phylogenie. III. Bd. 1895. Vorwort, p. VIII. und I. Bd. 1894. Vorwort, p. VI. 254 Sechzehntes Kapitel. gewahren, durch welche die heutigen Tier- und Pflanzenformen aus langen Ahnenreihen hervorgegaugen sind. Nur ein kleiner Teil cler Erzeugnisse, welche jene phylogenetischen Trans- formationen hervorgebracht haben, liegt uns in greifbarer Form vor Augen; der weitaus groBere Teil bleibt uns fiir immer verschlossen. Denn die empirischen Urkunden unserer Stammesgeschichte werden inimer in hohem MaBe liickenhaft bleiben, wie sehr sick auch im Eiuzelnen ihr Er- kenntnisgebiet durch fortgesetzte Entdeckungeu erweitern mag." Leider liisst Hacckel das konsequente Festhalten an diesem bescheidenen uud nicht zu beanstandenden Urteile iiber den Wert der Stammesgeschichte oft vermissen. Sobald er einen offentlicheii Vortrag1) halt oder populare Schriften verfasst, auBert er sich in anderer Weise : ,,Wir wissen nun bestimnit, dass die organische Welt auf unserer Erde sich ebenso continuierlich ent- wickelt hat, wie es Lyell schon 1830 fiir den auorganischen Erdkorper selbst nachgewiesen hatte; wir wissen, dass die zahllosen verschiedeuen Tier- und Pflanzenarten, welche im Laufe von Jahrmillionen unseru Planeten bevolkert haben, alle nur Zweige eines einzigen Stammbaumes sind; wir wissen, dass das Menschengeschlecht selbst nur einen der jiingsten, hochsten und vollkommensten Sprossen am Stammbaume der Wirbeltiere bildet." ,,An der sicheren Hand der drei groBen empirischen Schopfungsurkunden, der Palaoutologie, der vergleichendeu Anatornie und Outogeuie, fiihrt uns die Stammesgeschichte von den altesten Metazoen, den einfachsten vielzelligen Tieren, Schritt fiir Schritt bis zum Meuschen hinauf." ,,Die Anthropogenie enthiillt die lange Kette von Vertebratenahnen, welche der spaten Entstehung des hochst entwickelten Menschensprosses vorangegangen sind." ,.Die unermessliche Bedeutung des Lichtes, welches diese Aufschliisse der Abstammungslehre auf das Gesanitgebiet der menschlichen Naturerkenntnis werfen, liegt klar vor aller Augen ; sie werden jedes Jahr rnehr ihreu umgestaltenden Eiufluss auf alle Wissensgebiete auBern, je mehr sich die Uberzeuguug von ihrer unerschiitterlichen Wahrheit Bahn bricht. Nur Unkundige oder beschrankte Geister konnen heute J) E. Haeckel, Der Monismus als Band zwischen Religion u. Wissenschaft. Glaubensbekenntnis eines Naturforschers, vorgetragen am 9. Oktober 1892 in Altenburg. Bonn 1892, p. 18. Der Entwicklungsgedanke und die logischen Gesetze. 255 noch an ihrer Wahrheit zweifeln. Weun ja noch hie und da ein alterer Naturforscher ihre Begriindung bestreitet oder nach maugelnden Beweisen fragt, so beweist er damit uur, dass ihm die erstaimlichen Fortschritte der neueren Biologic und vor allem der Anthropogenic fremd geblieben sind." Resigniertes Urteil iiber den wirklichen Wert der Stamines- geschichte und der Wuusch, seinem Lebeuswerke unbedingte An- erkenuung zu sichern, vermengeu sich bei Haeckel1) auf sonder- bare Art, dass er oft Gedanken, welche schroffe Gegensatze be- deuteu, in ein und deniselbeu Atemzuge ausspricht: ,,Wenn wir den heutigen Stand der Anthropogenie vom allgemeiusten Gesichtspunkt aus betrachten und alle empirischen Argumente derselbeu zusammeufassen, dann diirfen wir heute mit vollem Rechte sagen: die Abstammung des Menschen von einer ausgestorbenen tertiiiren Primaten-Kette (Affen- kette) ist keine vage Hypothese mehr, sondern sie ist eine historische Thatsache. Natiirlich lasst sich diese Thatsache nicht exakt beweisen; wir konnen nicht alle die unzahligen, physikalischen und chemischen Prozesse nach- weisen, welche im Laufe von mehr als huudert Jahrinillionen allmahlich vom eiufachsten Monere und von der eiuzelligen Urforni bis zum Gorilla und zum Menschen hinauf gefiihrt habeu." Ich kann Haeckels Verhalten nicht billigen, denu die zuerst citierten Stellen zeigeu, dass er die Uuzulanglichkeit der phylo- genetischen Kombiuation in der nach exakten Prinzipien betriebenen zoologischen Wisseuschaft ganz richtig beurteilt. Bei anderer Gelegenheit vergiBt er aber anscheineud, dass die moderne Eut- wickelungsschule, wie friiher einmal Oken, das gesunde Verhaltuis von empirischer und spekulativer Betrachtung auf den Kopf gestellt hat, und trotzdem sie es in Worten stets ableugnet , vielleicht sich selbst ehrlich vortauscht, an die Stelle der empirischen Erfahrung die theoretische Konstruktion geriickt hat. Indem sie die Liicken des zoologischen Systemes mit leblosen Phantasieprodukten zu gunsten der Abstammuugslehre ausfiillte, wahlte sie den verkehrtesten Weg, die Blutsverwandtschaft der Tiere zu beweisen. Alle die Ahnen der Tiergeschlechter sind Fiktionen unbekanuter Lebewesen und tauschen uus iiber die klaffenden Liicken uuseres Wisseus hinweg. Man kanu iiber die Berechtigung solcher Fiktiouen streiten, J) E. Haeckel, Ober unsere gegenwiirtige Kenntnis vom Ursprunge des Menschen. Vortrag gehalten auf dem 4. internationalen Zoologen-KongreC in Cambridge. Bonn 1898. 256 Sechzehntes Kapitel. vielo der heutigen Forscher halten sie sogar fiir ein Zeichen hoher Wissenschaftlichkeit. Jedenfalls eutspriugen sie dem Bedlirfnisse des menschlicheu Geistes, welcher allzu gerne die unbekannteu Glieder seiner Kenntnis vertuscht. Sie schaden auch dem selbst- thatigen Fachgelelirten nicht viel, weil derselbe fiir jede kleiue Spezialfrage das scliier unbegrenzte Material von Einzeltliatsacheu und Deutuugsversucheu kenut, deren historisches Resultat die Formu- lierung eiuer bestimmteu hypothetischen Ansicht war. Sobald er den AViderspruch der Tbatsacheu gegen eine bisher giltige Hypotliese gewahrt, wircl er sie rasch aufgeben. Aber der Laie verwechselt leicht eiue scbone bestechende Hypothese mit wohlbekannten That- sachen, nachdern gerade Haeckels dogmatiscke Darstellung die Grenzen zwischen sicherer Erkenntnis und unsicherer Vernmtung uach Moglichkeit uusicher gemacht habeu. Dies ist um so niehr zu be- dauern, als Haeckel kraft der Yorzlige seiner Stelluug als Universitatsprofessor mehr denu jeder audere berufen war, die Uu- klarheit des Denkens beini Publikum zu bekampfen, sowie die Laien iiber die positiven und uegativen Seiteii der Wissenschaft zu uuter- richteu. Die stammesgeschiclitliche Schule hat uiclit nur, wie ich bisher gezeigt habe, die Regeln der exakten Naturbeobachtuug, sondern auch die logischen Denkgesetze in beklageuswerter Weise vernach- lassigt. Wir wollen die Fehler zuuilchst durch eine geschichtliche Betrachtung aufdecken. In jedeni denkendeu Geiste regt sich eiii- mal der Gedanke von der Einheit der Natur ini allgemeinen und der Lebewelt im besouderen; denn wir alle suchen den Zusammen- hang im Getrennten, das Beharrende im Wechsel, das ewig Bleibende ini Werden uud Untergeheu, die Eiuheit in der Mannigfaltigkeit. In unserer Frage wircl die Einheit ,,Blutsverwandtschaft" oder ,,Stammesentwickelung aus eiufachen Urforrnen" genannt. Hat man den Gedanken eiumal gefasst, so kehrt er beim geringsten Anlasse wieder uud verdichtet sich allniahlich zur unerschiitteiiichen tjberzeuguug. Altere Forscher suchten deshalb ein eiuziges Urmodell fiir samtliche Tiere und stellteu sich das Tierreich als eine Stufeuleiter vor, welche zur Krone der Schopfung, dem Men- schen, fiihrt. Heute vergleicht man die Tierwelt uicht mit einer einfach geradeu, sondern mit einer verzweigteu Leiter, d. h. einem Stammbaume. (Vergl. Seite 4.) Der Vergleich kaun Menschen der verschiedensten Sinnesart gefallen. Im Mittelalter war er theologisch gefarbt, heute nach Anderung seines auBeren Aufputzes beanspruchen ihn die Freidenker als notwendiges Glied ihrer allge- meinen Vorstellungen voni Kosnaos. Der Entwicklungsgedanke und die logischen Gesetze. 257 Jm vorigen Jahrhundert besaB cler Eutwickelungsgedanke rein tbeologiscbe Bedeutung. Herder's Buch1) liefert dafiir einleuchtenden Beleg. So sehr seine Ausdrucksweise mit den Scblagwortern der modernen Entwickeluugstbeorie ubereinzustimmen scbeint, zeigt doch die genaue Priifung seines Ideenganges, dass die Ahnlichkeit nur im Gleicbklange der gebrauchten Worte, nicht aber in deren begrifflichem Inhalte besteht. Die Ausdriicke: ich sehe die Form der Organisation steigen • - die niannigfaltigen Wesen folgen auf einander • • die Natur schreitet von groBen Gestalten ins Zusammen- gesetztere, Kiinstlicbe, Feine fort, was kurzweg Progression der Scbopfuug heiBt die Natur scbritt inimer bober, fand neue Proportionen oder die mebr poetiscbe Fassung: die ^bnlicbkeit zweier Arten erscbeint wie ein Reflex von Licbtstrablen, bobere Formen mit vielen Eigeuscbaften erscbeinen als Kompendium der Ziige vieler niederer Gattungen, und der Menscb 1st geformt durcb Zusammendrangung aller Gestalten (p. 104), welcbe lebbaft an die Rekapitulationstbeorie erinnert, scblieBen bei Herder innner den Gedanken an den Scbcipfer ein. Denn er nennt die ganze Welt ein Vorratsbaus gottlicber Erfindung, ein Hauptbild seiner Kuust und Weisbeit (p. 59), und in der Einleitung spricbt er von dem "Wege Gottes in der Natur, von den Gedanken, die der Ewige uus in der Reibe seiner Werke tbiitlicb niedergelegt bat. Die Annabme direkter Blutsverwandtscbaft lag Herder ganz feme. Aucb dem Pbilosopben Scbelliug erscbien die Stufenfolge der Orgauismen nicbt durcb reelle Entwicklung entstanden. MDie Hoffuung2) mebrerer Naturforscber, den Ursprung aller Organisationen als successive und zwar als allniablicbe Entwickelung ein und derselben urspriinglicben Organisation vorstellen zu konnen, ver- scbwindet durcb unsere Ansicbt." - - ,,DieBebauptung3), dasswirklicb die verscbiedenen Orgauisationen durcb allmablicbe Entwickelung aus einander sicb gebildet baben, ist MiBverstandnis einer Idee." Die tbeologiscbe Deutung wird nicbt mebr erwabnt. Docb denkt er immer nocb an eine einfacbe Reibe. ,,Man wird versucbt4), zu glauben, dass bei alien verscbiedenen Gestaltungen der scbopferiscben Natur ein gemeinscbaftlicbes Ideal vorgescbwebt bat, dem das Produkt allmablicb sicb annabert. Die verscbiedenen Formen, in die es sicb begiebt, werden nur als verscbiedene Stufen der Entwickelung einer und derselben Organisation erscbeinen." ') J. C. Herder, Ideen zur Philosophic der Geschichte der Menschheit. 3. Aufl. Leipzig 1828. I. Bd. 2) Schelling, samtliclie Werke. III. Bd. Erster Entwurf eines Systems der Natnrphilosophie. 1857, p. 62. 3) Schelling, IIL Bd., 1857, p. 63. *) Schelling, IIL Bd., p. 33. Fleischmann, Descendenztheorie. 17 258 Sechzehntes Kapitel. Da iin acbtzebnten Jahrhuudert das Interesse an pbysiologi- schen Untersuchungen die vergleichend anatomischen Ergebnisse in den Hintergruntl drangte, dachten die Naturforscher und, von diesen beeinflusst, aucb Scbellingmebr iiber die Entwickelung derLebens- funktionen nach. Sie legten das Hauptgewicht auf die Uberein- stimmung derselben , d. h. auf das gemeinsame Vorkommen der Reizbarkeit, Bewegung, Erniibrung, Fortpflanzung bei alien Lebe- wesen, und nannteu die Gemeiusanikeit der fundamentalen organiscben Eigenschafteu die Eiuheit der Natur oder kurzweg die Organisation. Die daneben berrscbende Verscbiedenbeit der Tiergattungen und Tierarten wurde durcb den Ausdruck beriicksicbtigt : innerbalb der Einbeit der Organisation sei eine Verscbiedenbeit der Stufen zu beobacbten, weil die organiscbe Kraft auf den verscbiedenen Stufeu der Erscbeinungen gebenimt werde. ,,Die Kontinuitat1) der organiscbeu Natur wird nicbt in den Ubergangen der Gestalt und des organiscben Baues, sondern in den Ubergangen der Fuuktionen in einander gesucbt." ,,Statt der Einbeit des Produktes2) baben wir eine Einbeit der Kraft der Hervor- bringung durcb die gauze organiscbe Natur. Es ist nicbt eiu Product, aber docb eine Kraft, die wir nur auf verscbiedenen Stufen der Erscbeinung gebenarnt erblicken. So ware es Zeit, in der organiscben Natur jene Stufenfolge aufzuzeigen und zu recbtfertigen, dass Sensibilitiit, Irritabilitat, Bilduugstrieb uur Zweige einer Kraft seien." Scbelling meint also eine Kontinuitat aller Naturursacben, nicbt einen reellen Umbildungsprozess, und die Kontinuitat ist ibm ein bloBer Gedanke, ein ideelles Verbaltnis, ein kurzer spracblicber Ausdruck dafiir, dass die Tierarten in eine aufsteigende Reibe georduet werden konueu. Hegel vertritt die gleicbe Ansicbt. ,,Die Natur ist als ein System von Stufen zu betracbten, deren eine aus der anderen not- wendig bervorgebt und die nacbste Wabrbeit derjenigen ist, aus welcber sie resultiert: aber nicbt so, dass die eine aus der anderen naturlicb erzeugt wurde, sondern in der inneren, den Grund der Natur ausmacbenden Idee. Die Metamorphose komrnt nur dem Begriffe als solcbem zu, da dessen Verauderung alleiu Entwickelung ist". ,,Solcber nebuloser, im Grunde sinulicber (wir wiirden jetzt sagen: eine falscbe Siunlicbkeit erstrebender) Yorstellungen, wie iusbesoudere das sogenannte Hervorgeben z. B. der Pflanzen uud >) Scbelling, III. Bd., p. 195. Anm. 2) Schelling, III. Bd., p. 207. 3) Hegel, Werke, VII. Abt. I. § 249. S. 32, 33, Zus. 33—36. Der Entwicklungsgedanke und die logischen Gesetze. 259 Tiere aus clem Wasser, wie dann das Hervorgehen der ent- wickelteren Tierorganisationen aus den niedrigeren u. s. f. 1st, muss sich die denkende Betrachtung entschlagen". Die Naturforscher, welche in ihrer beschreibenden Arbeit den Gebrauch allgemeiner, umfassender Begriffe weniger iiben und des- halb auch den Wert einer scharfen Definition der letzteren weniger schatzen, wurden durch den Doppelsinn des Wortes: ,,Entwickelung" um die Wende des achtzehnten Jahrhunderts und noch spaterhin auf Irrwege geleitet. Statt in der ihm von den Philosopheu bei- gelegten Bedeutung fassten sie Entwickelung im naturwisseuschaft- licb exakten Sinne. Die Bedeutung: Stufenfolge wurde umgedreht in Umbildungsfolge und einer iibereilten, dem ruhigen Historiker fast unverstandlichen Spekulation Thiir und Thor geoffnet. Die Philosophen gebraucben das Wort Entwickelung zur Be- zeicbnung einer bestimmten Folgereihe von Begriffen d. b. einer logiscbeu Ordnung oder Disposition derselben, wie aucb einen Gedanken entwickeln heisst, die einzelnen logiscben Glieder oder die einzelnen von ihm gemeinten objektiven Tbatsachen in einer einfacben und desbalb leicbt verstandlichen Weise nacb einander besprecben, um dadurcb ibre allgemeine Zusanimenfassung in das Kleid eines kurzen Satzes begreiflich zu macben. Die reihenweise Fiigung der Begriffsglieder nacb dem Prinzipe, vom Einfacben zum Koniplicierteu fortzuschreiten, wird Entwickelung oder Evolution im Gegensatze zu Emanation, dem Hervorgeben des Niederen aus dem Hoberen, geuannt. Die Pbilosopben wollen mit Eutwickelung nicbt mebr und nicbt weniger sagen, als dass die natiirlicben Tbatsacben bezw. die fur die lebenclen tieriscben Individuen gebildeten Begriffe sicb iibersicbtlicb orduen lassen. Sie sprecben das Resultat der Linncscben Systematik nur mit anderen Worten aus; wir Zoologen reden von der systematischen Einteilung des Tierreicbes, in welcber den einfacben Gruppen bobere folgen, die Pbilosopben nennen diese Auordnung ,,Eutwickeluug". Dann kamen viele Gelehrte, aber logiscb nicbt scbarf definiereude Manner, welche die ganz richtige und unbestreitbare Idee der Philosophen durch den naturwissenschaftlichen Schiller des Wortes Entwickelung auf das schwankende Gebiet unklarer Spekulation verschoben. Statt Entwickelung im Sinne der eiufachen logischen Reihung der Begriffe setzten sie in ihrer Gedankenarbeit umbildende oder fortschreitende Entwickelung, wie sie dieselbe in der individuellen Keimesgeschichte und der Entwickelung bis zum geschlechtsreifen Stadium di-r Tiere beobachteten. So entstand als leitendes Priuzip fur die zoologiscben Studien der moderne Fortschrittswahn, dessen weitere Verbreitnng dadurch unterstiitzt 17* 260 Scchzehntes Kapitel. wurde, class man lange schon das Emporsteigen des Menschen zu einer hoheren Stufe der Kultur, den Aufschwung der Wissenschaften, Kiinste und Gewerbe, kurz den Fortschritt aller menschlichen Thatig- keit mit spiessbiirgerlicher Genugthuung gepriesen hatte. Obwohl in den Naturwissenschaften eine durch logisches Miss- verstandnis gewounene Vorstellung nicht lange die Herrschaft be- kauptet, weil das Gewicht der Thatsachen holier angeschlagen wird, als einleuchtende theoretische Kombinationen, hat der verfiihrerische Reiz der Entwicklungslehre viele tiichtige Manner verhindert, die exakte Priifung wirklich saclilich zu fiihren und die falsche Lebre blieb bis beute in grossem Ansehen. Als sich spater denen, welche den Irrtum verschuldet batten oder von neuem begingen, die Umnoglickkeit des exakten Nachweises der Stammesentwicklung offeubarte, die icb in den vorhergebenden Stunden an speziellen Bei- spielen erlauterte, verfielen sie in den Febler des Rationalismus des 17. Jahrbimderts. Der Rationalismus ist das Gegenteil des Empirismus. Die Erfahrung spielt bei ibm eine untergeordnete Rolle und wird nur nacbtriiglicb zur Bestatigung der Spekulation berbeigezogen. Das naturliche Licbt der Vernunffc soil obne thatsachliche Erfabrung iiber die natiirlichen Dinge Aufscbluss geben. In einem gewissen Sinne ist jeder von ims Rationalist, sogar der niichternste, allein auf die Sammlung von realen Tbatsacben ausgebende Forscber, weil wir alle die Neigung baben, das, was wir nicbt wissen, nacb den Scbliissen der Vernunft zu konstruieren. Mancbe sind sogar auBer Stande, sicb von der rationalistiscben Grundlebre zu befreien, dass alle klare Gedankenkombination der nienscblicben Vernunft wabr oder wenigstens moglicli sein miisse. Trotz ibrer Zugeborigkeit zur Zunft der exakten Naturforscber begen Darwin, Haeckel, Huxley, Wallace und samtlicbe An- biinger den gleicben Gedanken, wie Descartes, Spinoza und Leibniz, welche die Unfehlbarkeit der Vernunft lehrten. Sie vertraten die Abstarnmungslehre deshalb, weil wir uus nur die Alternative, entweder gottliche Schopfung oder naturliche niecbanische Entwickelung denken konnten und die Schopfung als unwissenschaft- lichc Ansicht ablehnen miissen. Im Vertrauen auf diese ausgezeichnete Idee, der gar keine bessere an die Seite zu stellen sei, erkannten sie der Descendenz fast den Wert eines unfehlbaren Dogmas1) zu. Der ganze uns bisher beschaftigende Streit dreht sich also eigentlich urn die Berechtigung rationalistischen Deukens in der beschreibenden Naturwissenschaft, um die Frage, ob eine Idee durch Vergleiche Weismann 1. c. p. 5 — 9. Der Entwicklangsgedanke und die logischen Gesetze. 261 die einleuchtende Kraft ihrer Anschaulicbkeit als begrlindet gelten, oder ob ihrer Anerkennung die Vorfiihrung zwingender reeller Grundlagen vorangeben soil. Sie diirfen mit mir die Zuversicht teilen, dass gegeniiber alien rationalistischen Lebrmeimmgen die niicbterne Empirie stets ibr Recbt bebaupten \vird. In jedem pbylogenetiscben Problem wuchert der Rational ismus in iippiger Weise. AVer mir sagt, die Tbatsacben der vergleicbenden Anatomic, Palaontologie mid Entwickelungsgeschichte veranlassen meine Vernunft zu dem Gedanken, class die Urlurcbfiscbe die Stamm- viiter der Ampbibien wurden, indem sicb ibre vielstrabligen Fisch- flossen in fiinfzebige KriecbfiiBe verwandelten, kann den bestimmten Vorgang gar uicbt nacbdenken. Er kennt nicbt die einzelnen Phasen, welche notwendig gewesen sein konnten, nm einen Fiscb auf die Stufe des Urampbibiimis zu beben. Wenn er sagt, icb kaun rnir den Vorgang denkeu, so bedeutet das eigentlicb nur, icb wiinsche und boffe, dass es so gewesen sei. Soil icb den Fachmann erst daran erinnern, wie viele Jabre eingehender Special- untersuchung erforderlicb waren, um die Umwandlung einer Raupe in den Scbnietterling oder irgend eines anderen Larven stadiums in das gescblecbtsreife Tier zu versteben und wirklieh nacbdenken zu lernen, welch grosse Missverstanclnisse zu beseitigen waren, ebe die Metamorphose irgend einer niederen Tierart exakt bekannt geworden 1st? Dabei sprecbe ich von Aufgaben, welche der Losung durcb geduldige Analyse zugiinglich sind, weil der Vorgang an Tauseuden von jetzt lebenden Individuen spielt. Wie ganz unmoglicb aber ist der Versucb liber die liingst abgelaufeue Umwandlung der Tier- arten eine Keuntnis zu erwerben, wo jede Gelegenheit des direkten Augenscheines mangelt! Die rationalistische Neigung flihrte weiter zu der falschen Konsequeuz, dass die bescbreibende Naturwissenschaft durcb das De- scendenzpbantom in eine geschichtliche Wissenscbaft umgebildet worden sei. Denn die leeren Phautastereien der Stammesgeschichte lassen sicb mit der bistoriscben Forschung gar uicht vergleichen. A\"ie Wind elb and kurz uud ricbtig darlegte, ,,sucht der Historiker irgend ein Gebilde der Vergaugenheit in seiner ganz en indi- viduellen Auspriiguug zu ideeller Gegenwiirtigkeit neu zu beleben, er bat an demjenigen, was wirklicb war, eine abnliche Aufgabe zu erflillen, wie der Kiinstler, der das Bildnis eines beriihmten Mannes malt oder modelliert. Fiir die Historic ist trotz der kritischen Verarbeitung der Uberlieferung die letzte Aufgabe, aus der Masse l] Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft. Roktoratsredo, StraG- burg 1894. p. 31. 262 Sccbzehntcs Kapitel. des Stoffes die wabre Gestalt des Vergangenen zu lebensv oiler Deutlichkeit herauszuarbeiten. Die Historie liefert Bilder von Menscben und Menschenleben, mit dem ganzen Reichtum ibrer eigeuartigen Ausgestaltung, aufbewahrt in ibrer vollen individuellen Lebendigkeit." Sie baben genug Gelegenbeit gebabt, die Art der pbylogenetiscben Gescbicbtsschreibung kennen zu lernen und meine Aussetzungen liber die mangelnde Anschaulicbkeit ibrer sog. bistoriscben Aufkliirung zu boren, dass icb sie nicbt nocbinals von Neuem darzulegen braucbe. In welcbem Falle ist denn der stamrnesgescbichtlicbe Forscber im Stande gewesen, uns, gleicb dem Historiker, die Entstebung der Vogel, der Saugetiere, derlnsekten, der Mollusken, der Ecbinodermen u. s. w., in ibrem individuellen Verlaufe nacherleben zu lassen? Durcb die Bebauptung, die jetzt lebenden Tierarten seien das Produkt eines stammesgescbicbtlicben Processes, ist docb die be- scbreibende Zoologie der bistoriscben Wissenscbaft nicbt enger ver- bunden worden. Die dramatiscbe Wiederbolung dieses Satzes ver- mocbte wobl den unkritiscben Sinn der groBen Menge zu tauscben, aber zum Range einer positiven Tbatsacbe ist er nicbt aufgestiegen. Wenn man iiberbaupt vom bistoriscben Cbarakter der zoologi- schen Arbeit redeu darf, so sind nur die ontogenetiscben Dar- stellungen mit einigem Recbte als bistoriscbe Bericbte anzuseben, weil sie die an einer befrucbteten Eizelle einander zeitlicb folgenden Umbildungen samt allem kleiulichen Detail scbildern. Die ver- gleicbende Anatomie, die Palaontologie, ja selbst die vergleicbende Entwickelungsgescbicbte sind und bleiben jedocb zurn Spotte der modernen rationalistiscben Hoffnung beschreibende Wissenscbaften, freilicb bescbreibeude Wissenscbaften, welcbe durcb die Analyse der Einzelfalle gemeinsame Merkmale zur Aufstellung von Gattungs- begriffen ableiten. Jede Bescbreibung bat den Vergleicb zur Vorbedinguug. Aucb auf der allerrobesten Stufe der Kindbeit setzt der Gebraucb der alltaglicben Worte die vergleicbende Operation voraus, ob z. B. das Wort ,,Beiu" der Bezeicbuung des einem menscblicbeu Beine so uuabnlicben VorderfuBes der Katze oder des Pferdes dienen darf. Niemaud kanii etwas obne den fortwabrenden Vergleicb be- scbreiben. Die VergleicbiiDg in der Zoologie wird von geistig reifeu uud gut begabteu Manuern ausgeiibt, infolge dessen stebt sie bober als die simple Bescbreibung eines Laien, aber nur dem Grade, nicbt ibrem Wesen uacb. Sie ist ferner in besouderer Ricbtung tbatig, weil sie die Abulicbkeiten der verscbiedeuen Objekte niebr ber- vorbebt als die Uuterscbiede. Durcb den Vergleicb wird zugleicb eine Ordnung der Keuut- Der Entwicklungsgedankc und die logischen Gesctzc. 263 nisse geschaffen. Er zeigt den Grad der tbereinstimmung mit anderen bereits bekannten Tierarten oder Orgauformen etc. an und ruft naturgemaB die Zusammenfassung der verglichenen Objekte in Gruppen von geringerer oder groBerer Konsonanz, der tierisclien Individuen in Arteu, Gattungen, Familien, Orclnungeu, Klassen hervor. Bei der Aufstellung der Gruppen kommt jedoch nicht der ganze Reichtum eigeuartiger Ausgestaltung der Tierindividuen in Betracht, sondern nur einzelne ihrer Eigenschaften, denn ich kaun z. B. ein Pferd, ein Nashorn und eineu Tapir nur unter der Bedingung in die gemeinsame Gruppe der Unpaarhufer stellen, wenn ich die Unterschiede des auBeren Habitus der genannten Arten weniger betone und das Hauptgewicht auf die bei alien Arten beobachtete Eigenschaft lege, dass der Mittel- finger an Hand und FuB iuimer kraftiger, als die iibrigen Finger entfaltet ist, welche teils vorhauden, (z. B. beim Tapir), teils un- scheinbar siud (z. B. beini heutigen Pferde). Schon der Artbegriff z. B. ,,Mensch" ignoriert die ungeheureu individuellen Verschieden- heiten der einzelnen Menschenkinder, welche Gegenstand eines be- sonderen, die ganze Lebenszeit erforderndeu Studiums sind und durch die bloBe Mitteilung des Artbegriffes uns nie bekannt werden. Im Gegenteile verleitet der Gebrauch des Artbegriffs unser Denken jederzeit, die iudividuelleu Fiille desselben mehr gleichartig au- zusehen, als sie in Wirklichkeit sind. Die Gattungsbegriffe, sowie die noch weiteren Kategorieu des Systems abstrahieren aus den Merkmalen der Artbegriffe eine be- schrankte Zahl von Eigenschaften. Infolgedessen sind sie nicht bloB dem Aufanger in irgeud einer Wissenschaft wegen ihrer scheiu- baren Leerheit schwer verstandlich, sondern es gehort auch die vertiefende Arbeit des Fachgelehrten dazu, um sie mit dem ganzeu Reichtum ihrer natiirlichen Auschaulichkeit zu erftillen. Es ist gauz gleichgiiltig, ob ich auf zoologischem Gebiete oder dem einer anderen Wissenschaft exemplifiziere ; die Thatsache ist jedem denken- den Meuschen bekannt. Der Gattungsbegriff MKatze" oder der Gattungsbegriff ,,gotische Hallenkirche" ist arm an Inhalt fiir jeder- maun, der nicht sehr viele Katzenarten, d. s. Lowen, Tiger, Panther, Leopard, Serval, Luchs u. s. w. oder der nicht die wichtigsten in der gotischen Periode erbauten Kirchen Europas oftmals und eingeheud studiert hat. Am allerschwierigsten aber ist es, die allgemeinsten Begriffe z. B. Wirbeltier, AVeichtier, Stachelhauter oder Stilperiode des Rokoko mit anschaulichen Vorstellungen zu erfiillen. Sie werden jetzt einsehen, dass die naturwissenschaftliche, iiber- haupt die beschreibende Arbeit voni besonderen Individuellen zur 264 Sechzchntes Kapitel. Auffassung allgcmeiner Abnlicbkeiteu fortscbreitet , indem sie eine Auswahl von Merkmalen zum Zwecke cler groBeren Abstraktiou trifft. ,,In echt platouiscbem Sinne1) la'sst sie das einzelne Sinnen- ding iu wesenlosem Scheine hinter sich und strebt zur Erkenntnis der gesetzlicheu Notwendigkeiten auf, die in zeitloser Unwandelbar- keit iiber allem Geschehen berrscben." Aus der bunten Welt der reellen Mannigfaltigkeit baut das zoologiscbe Denken ein System von Art- und Gattungsbegriffen auf, eine begrifflicbe Welt von formalen Beziebungen, eine Auswahl von topograpbiscben und morpbologiscben Eigenscbaften des Tierkorpers, leb- und empfindungslos, obne Fleiscb und Farbe, frei von jedeni Erdgerucbe — ein Tierreicb logiscber Beziebungen. Daruni baben die Pbanomenologen unrecbt, welcbe meinen, die Natur darstellen zu konnen, obne irgeudwie iiber die Erfabrung binauszugeben. Das System gebt stets iiber die Erfabrung binaus und stellt diese in ideeller Fassung dar, weil sie ein gedrangtes Bild der Beobacbtuug geben will, welcbes sebr viele Einzelerfabrungen umfasst und darum nicbt die Erfabrung selbst ist. Unsere Begriffe sind aus eiuzeluen, in Ansebuug der ungeziiblten Ziige der lebeuden Wesen verbaltuismiiBig wenigen Merkmalen aufgebaut, sind also aus den natiirlicben Dingen abgeleitet und entsprecben nicbt voll- kommen der Wirklicbkeit. Desbalb geraten sie mit den Tbatsacben fortwabrend in Kon- flikt, Sie sind nieist zu eng fiir die Manuigfaltigkeit der Tbatsacben und zwingen uns, dort Grenzen zu zieben, wo die Wirklicbkeit eine Menge von Erscbeinungen vorfiibrt, die sicb scbwer in den festeu Rabrnen eines bestimmten Gattungsbegriffes eiureiben lassen. Den Gattuugsbegriffeu alsProdukten der menscblicben Yerstandes- tbatigkeit baften die alien menscblicben Leistungen zukommen- den Mangel an, sie geniigen immer uur bis zu einern gewissen Grade und entbebren der absoluten Vollkommenbeit. Eiu nacb den Regeln der neuesten Tecbuik und mit der denkbar gi-oBten Sorgfalt bergestellter Wasserdamm bricbt einmal unter clem macb- tigen Andrauge der Fluten ; das scbarfste Messer, aus dem vortreff- licbsten Stable in der Werkstatte eines tiicbtigen Meisters gearbeitet, wird einmal stumpf; der edelste Trieb menscblicben Empfiudens, die Mutterliebe, kann ein Verbrecbeu veranlassen. Ebenso konnen Gattungsbegriffe, welcbe in recbt vielen Fallen die klare Erkenntnis der nattirlicben Dinge unterstiitzen, bei anderen Gelegenbeiteu uuser Denken auf Abwege leiten. Die Welt ist rnannigfaltiger, als uusere Begriffe zugeben wolleu. Selbst die allgemeinsten Gattungsbegriffe, z. B. Vogel, Fiscb sind J) Windelband, Rektoratsrede StraDburg 1894, p. 32. Der Entwicklungsgedanke und die logischen Gesetze. 265 immer noch zu eng flir den Umfang der natiirlicken Thatsachen und ihre schulmaBige Definition enthalt wahrscheinlich zu keiner Zeit samtliche wichtigeu Merkmale der clinch sie bezeichneten Ob- jekte, weil immer neue Spezies entdeckt werden. Solange die Archaeopteryx und die Lungenfische uicht bekannt waren, konnten die iibergeordneten Gattungsbegriffe als richtig und bestimmt gelten. Nachher wnrde dieWissenschaft vor dieFragegestellt, wie sie die Definition der Begriffe: Vogel und Fisch der Wirklichkeit anpassen wolle. Soil man die Archaopteryx nicbt als Vogel gelten lassen, weil sie einen eidechsenahnlichen , zweizeilig befiederten Schwanz besitzt, wahrend samtliche lebenden Vogelarten das Merkmal einer verklimmerten Schwanzregion der Wirbelsaule und der facher- artigen Stellung der Schwanzfedern zeigen? Oder soil man den Begriff,,Vogel" erweitern, indem man die Merkmale der Schwanzregion als weniger bedeutend binstellt und die beiden Falle: a) lange, b) verkiirzte Schwanzwirbelsaule in die Definition mit einbezieht. In diesem und tausend abnlich gelagerten Fallen (vergl. S. 117) retten wir uns durch einen Kompromiss. Wir orduen die neuen unerwarteten Thatsachen einem iilteren durch die Gewohuung lieb gewordenen Begriffe ein und nennen die Archaopteryx einen Yogel, trotzdem sie viele typische Merkmale der ungeheuren Zahl der lebenden Vogelarten gar uicht aufweist. Damit ist in den Begriff ein Aus- nahrnefall aufgenommen worden, der in der kurzen Schuldefinition gar nicht beriicksichtigt wird und durch Erfahrung erst besonders gelernt werden muss, um den Eegriif auch richtig zu deuken. Wenn Sie ihre eigenen Begriffe durchpriifen, werden Sie zahllose Beispiele gleicher Art finden. Indem auf solche Weise der Inhalt und die Bedeutung der Begriffe geandert wird, treten leicht Missverstandnisse auf dadurch, dass einer das Wort ,,Vogel'' im Siune der Definition vor Entdeckung des fiederschwauzigen Juravogels, ein anderer das Wort Vogel ini modernen zoologischen Sinne oder, dass ein und derselbe Kopf beicle Bedeutungeu promiscue gebraucht. Die Schwankungen des von verschiedenen Mannern einem be- stimmten Wortklange beigemessenen Begriffsumfauges hat gewisse Annebmlichkeiten fiir die geistige Arbeit selbst und fiir den Unter- richt im Gefolge. Man kann dem Schiiler den Begriff des Vogels besser erlautern, wenn man einen jetzt lebenden Vogel als anschauliches Beispiel der Schilderung wahlt. Man kann ferner die mannigfachen tFbereinstimmungen zwischen den Vogelu und den Eeptilien besser hervorheben, wenn man die Aufmerksamkeit mehr auf die Archao- pteryx leitet. Ich kann aber auch die Begriffsmerkmale absichtlich veritndern, um einem Anfiinger das Wesen von zwei durchaus verschiedenen 266 Sechzchntes Kapitel. Begriffen klar zu inachen, z. B. der Begriffe: Affe und Mensch, indem ich sage: denken Sie sich den Schwanz des Affen verkiimmert, seine gebeugte Haltung in den aufrechten Gang gewandelt, seinen Kehlkopf mit der Fiihigkeit der Sprache begabt und sein Gehirn mit hoheren geistigen Fiihigkeiten ausgeriistet, so hat sich durch diese Anderung der Merkrnale der Begriff Affe in den Be griff Mensch umgewandelt. Bei alien Fragen nach den Vermittelungs- gliedern zwischen den groBeren Abteilungen des Tierreiches gebraucht Haeckel die gleiche Methode (vergl. S. 55.) Die platte Flosse der Lungenfische entwickelt sich nach feiner Meinung zum Hebel- apparat des GangfuBes, ,,indem die Flossen zum Fortschieben auf dem festeu Lande verwendet, transversal gegliedert, fester mit dem Rurnpfskelette verbuuden, die Knorpelstabe in Knochen mit Gelenken verwandelt wurden." Aber auf diese Weise ist bloss der Begriff der Fischflosse in den Begriff der funffingerigen GliedmaBe iiber- geflihrt worden. Jedermann weiB aus eigener Erfahrung, welch' ausgezeichnetes Mittel die abstrakte Vergleichung fiir den Unterricht bietet und wie sie die auffallenden Merkmale irgend eines Begriffes hervortreten laBt. Der rnatheniatische Unterricht erlautert in gleicher Weise, wie der Begriff eines Zwolfeckes durch leichte Modifikation einiger Merkmale, d. h. durch die Vorstelluug, die Seiten des Zwolfeckes seien vermehrt worden, bis ein Vieleck mit unbegrenzter Seiteuzahl eutsteht, in den Begriff eines Kreises iibergefuhrt werden kann. Kein Mensch meint hernach, class ein Kreis gerade so einstmals phylogenetisch entstanden sei. Ich selbst wiederhole nur, was Hegel in dem obenstehenden Citate durch den Satz aussprach : ,,Die Veranderuug des Begriffes allein ist Entwickelung", wenn ich behaupte, die logische Umwandlung des Begriffes Affe in den Begriff Mensch ist kein stammesgeschichtlicherProzess. Die phylogenetische Schule ist leider in den fundamentalen Fehler verfallen, die an vielen logischen Begriffen leicht zu bewerkstelligende Metamorphose mit rationalistischer Sicherheit als einen reellen, an den natiirlichen Objekten selbst verlaufenden Geschichtsvorgang zu be- trachten und eine ganz abstrakte Operation, welche bloB an wesen- losen Gebilden unseres Geistes ausgefiihrt werden kann, mit der niichternen Wirklichkeit zu verwechseln. Als ich Sie in den vorhergehenden Kapiteln auf die mangelnde Anschaulichkeit der stammesgeschichtlichen Schilderungen hinwies, habe ich an speziellen Beispielen immer wieder diesen einen prin- zipiellen Irrtum gegeiBelt. Jetzt, wo er mit diirren Worten aufge- deckt ist, laBt sich kaum begreifen, wie Darwin, Haeckel und hundert andere die fundamentalen Regeln unseres Denkens und Der Entwicklungsgodanke und die logischen Gesetze. 267 unserer Sprache, welche die Philosophen liingst abgeleitet batten, so arg vernachlassigen uud trotzdem allgemeinen Beifall finden konnten. Indem Darwin lehrte, weil der Begriff der Art und alle boberen Gruppenbegriffe des zoologiscben Systems schwankend seien, weil keiner der Naturforscber eiiie bestimmte und fiir jeden Fall giiltige Definition des Begriifes der Art geben konne, miiBten die Arten selbst in standigem Flusse und niedere Ordnungen des Tierreiches in bohere umgebildet worden sein, hat cr die Ursache der ibm auffallenden Unsicberbeit niissverstanden, welcbe teils im Wieder- stande der objektiven Tbatsachen gegen die logiscbe Registrierung, teils in der Engheit unserer Begriffe und in der Bescbranktbeit der spracblicben Ausdrucksmittel liegt. Durcb modernen Autbropomor- pbismus bat er dann fiir eine nacbteilige Konsequenz der zusammen- fassenden Tbatigkeit unseres Yerstandes die natiirlicben Objekte verantwortlich gemacbt. Die Begriinduug eines Begriffssystemes der zoologiscbeu Tbat- sacben liegt in dem verscbiedenen Grade von Abnlicbkeit, welcben die Naturobjekte offenbaren. Er gestattet uns, Reiben oder Gruppen konformer Dinge zu bilden und durcb die ordnenden BegrifFe, deren definierende Merkmale die Abnlicbkeit betoneu, in dem logiscben Abbilde die Zusammengeborigkeit verschiedener Arten unter einer Gattungs- oder Ordnungsgruppe scbarfer auszudriicken, als sie in Wirklicbkeit beobacbtet wird. Die Gruppen selbst wieder konnen unter einauder verglicben werden und einen boberen oder geringeren Grad von Abnlicbkeit besitzen, z. B. die Artgruppen der Katze, des Lowen, Tigers etc. Die Armut unserer Spracbe veranlaBt uns, solcbe Gruppen nabestebend, benacbbart oder verwandt zu nennen. Der Systematiker denkt dabei eine rein gedanklicbe A^erwandtscbaft, wie man aucb in anderen wissenscbaftlicben Gebieten z. B. Religionen verwandt oder eine Tbat dem Betruge verwandt nennt. Wir sprecben von verwandten Stilformen der Kiinstler, von verwandten Mineralien. Wenn wir bei Insekten und Yogeln Fliigel beobacbten, so sind das venvandte Einricbtungen fiir die Flugbewegung, verwandt, weil sie zu demselben spracblicben Begriffe: ,,Fliigel" geboren. So giebt es aucb eine Yerwandtscbaft der Tiere, ausgedriickt in dem natiirlicben Systeme, d. h. einem System von Begriffen, welcbes mit breitester Beriicksicbtigung der natiirlichen Tbatsacben gebildet wurde und nicbt bloB auf wenigen Merkmalen beruht, wie es zu jener Zeit war, als Linne den Plan desselben zum erstenmale auszufuhren sucbte. Die Descendenzscbule aber bat die formal logiscbe Bedeutung des Wortes ,,verwandt" mit dem naturwissenscbaftlicben Begriffe ,,blutsverwaudt" oder ,,stammesverwandt" vertauscbt und dort, wo es ibrem rationalistiscben Denken gerade paBte, obne weiteres das 268 Sechzehntcs Kapitol. die gedanldicke Beziehung kennzeichnende "Wort abgesetzt. So ist eine heillose Verwirrung im Gedankenleben vieler Menschen ange- richtet worden. Wenn ich von der Verwandtschaft der Formen eines Kry stall systemes spreche, fallt es niemand ein, an die gene- tische Verwandtschaft zu denkeu. Wenn ich aber iiber systematisch verwandte Tiere, z. B. das Schnabeltier und die iibrigen Sauger, rede, so wird bei den meisten die Erinnerung an das Faktum, dass jedes Lebewesen einen Kreis von Blutsverwandten besitzt zura An- lasse, an wahre Blutsverwandtschaft zu denken. Die unbegriindete Verwechselung beider Begriffe geschieht so allgeniein, dass es jeder- rnann schwer fallen wird, sich von dem Irrtum zu befreien. Von Lamarck und Darwin begaugen wird er, fiirchte ich, noch lange das wissenschaftliche Denken in verderblicher Weise beeinflussen und durch seine ebenso fehlerhaften Konsequenzen den Fortschritt der Wissenschaft aufhalten. Bis heute ist die Stammesverwaudtschaft aller systematischen Gruppen eine leere Redensart geblieben, denn das genealogische Register eines Kirchenbuches, aus welchem die Blutsverwandtschaft so vieler rnenschlicher Geschlechter mit positiver Sicherheit zu ersehen ist, wurde fiir das Tierreich niemals geflihrt. Wenn wir von den Aufzeichnungen der Tierziichter absehen, sind fiir kein einziges Individuum der heute frei lebenden und meist durch Zufall gefangenen Tierarten, also z. B. fiir einen importierten Konigstiger irgend einer Menagerie, dessen Schonheit und Eleganz uusere Bewunderung erregt, Vater und GroBvater, Mutter und GroBmutter, noch weuiger die Geschwister und Schwager bekannt. Noch iiltere Ahnenreihen entziehen sich natiirlich eutsprechend der Zeitdistauz vom heutigen Tage ab unserer Kenntnis. In dieser Frage geraten exakte Wissenschaft und generalisierende Erfahrung in unangenehmen Widerstreit. Da man beobachtet, dass ein Piirchen des Kouigstigers die geschlechtliche Zeugung vollzieht und eine Zahl von blutsverwandten Jungen hervorbringt, welche sich auf die gleiche Weise vermehren, so hindert kein Grund, die an den menschlichen Individuen alltaglich wahrgenommenen Erscheiriungen der Entstehung blutsverwandter Faniilien (im engeren Sinue) unver- andert auf die Gattung Tiger und Tausende andere Tiergattungen zu iibertragen. Eine groBe Zahl der heute lebenden Tiger steht ebenso in Blutsbande, wie die Glieder irgend einer weit verzweigten Men- schenfamilie. Wenn wir jedoch der jedem exakten Forscher auf genealogischem Gebiete auferlegten Verpflichtung nachkommen wollen, das verwandtschaftliche Verhaltnis von etwa zwanzig wild gefangenen Tigern zueruieren, sind wir an die Grenzen der positiven Wissen- schaft gelangt. Soweit die Tiere unter uuseren Augen gezeugt wer- Der Entwicklungsgedanke und die logischen Gesetze. 269 den und aufwachsen, um nenerdings Nachkommen zu zeugen, kanii ihre Verwandtschaft festgestellt werden. Jenseits dieser Bedingung rnangelt die Moglichkeit, die Verwandtschaft mit derjenigen positiveu Genauigkeit zu verfolgen, welche die Starke der beschreibenden Naturwissenschaft ausmacht. Ich will damit nicht sagen, dass die Ansicht von der Blutsverwandtschaft der Artindividuen unrichtig sei, sondern Ihnen nur darlegen, dass solch eine einfache, uns selbst- verstandlich erscheinende Regel durch positive Beobachtung bloB an verhaltnismaBig wenig Einzelfallen bewiesen werden kann. Em weiterer Schritt verdammt uns zu ganzlicher Entsagung. Ohne breite Darstellnng weiB jedermann, dass es keinem Anhanger der Descendenztheorie gelungen ist, die Blutsverwandtscbaft zweier systematisch verwaudter Arten, z. B. der Pferdearten, mit derjenigen Griindlicbkeit1) aufzubellen, fiir welcbe der historiscb genealogische Nacbweis, z. B. der Verwandtschaft irgend eines europiiischen Eegentenhauses als Vorbild dient. Nicht einmal fiir die Haustiere haben Darwin und seine Nachfolger ein greifbares Resultat ge- funden. Weil der direkte Weg der Beobachtung verschlossen ist, hoffte die Desceudenzschule auf einem Umwege ihr Ziel zu erreichen. Leider vergaB sie in ihrern rationalistischen Drange die Regeln der niichternen Forschung von neuem. Blutsverwandtschaft der Art- individuen ist meist mit einer hochgradigen Obereinstimmung der Form und Thatigkeit aller Kb'rperteile gepaart. Das Vorkommen der an zweiter Stelle genannten Merkmale kann daher als ein An- zeichen der Blutsbande fiir den praktischen Bedarf des Alltags- lebens betrachtet werden, wo eine umstandliche wissenschaftliche Untersuchung sich von selbst verbietet. Als aber die Descendenz- theoretiker das in vielen Fallen ausreichende Erkenntnismittel fiir die schwierigsten Untersuchungen der Phylogenie verwendeten, indem sie jegliches Vorkommen von iibereinstimmenden Merkmalen bei systematisch weniger benachbarten Tierarten, z. B. den Arten der Dinosaurier und der Vogel als einen Beweis fiir die Bluts- verwaudtschaft deuteten, haben sie die Aufgabe der exakten Analyse treulos verlassen. Ein einfaches Beispiel soil den Fehler ans Licht stellen. Jedermann kennt die Richtigkeit folgender Satze : Die Individuen von sechs unter meiner Kontrolle gezeugten Wiirfen meiner Hauskatze sind blutsverwandt. Alle Individuen dieser Generationen besitzen Tausende gemeinsamer Eigenschaften, von welchen ich wegeii der Einfachheit nur eine herausgreife. Alle Vergl. 0. Lorenz, Lehrbuch der Genealogie. Berlin 1898. 270 Sechzehntes Kapitel. besitzen je sechs Scbneidezabne, je vier Eckzabne und je vier- zebn Backenzabne von ganz cbarakteristiscber Form. Die beiden Satze bilden Erfabrungen des Lebens, welcbe ge- sondert erworben werden und durch die RegelniaBigkeit der Be- obacbtung absolut sicber erscbeinen. Icb kann nun die Umstand- licbkeit der Ausdrucksweise abkiirzen dureb die Fassung : Alle bluts- verwandten Katzen besitzen secbs Scbneidezabne etc. Filr tauseud andere Tierarten ist die gleicbe Erfabrung gesammelt. Es ware allzu umstandlicb , einem Scbiiler die einscblagigen Erfabruugstbatsacbeu aus dem ganzen Tierreicbe in so umstandlicber Weise vorzuflibreu und z. B. zu lebren: Alle blutsverwandteu Geier tragen scbarfspitzige Krallen an den Fusszeben, alle blutsverwandten Rebe sincl mit einem Geweib gescbmiickt. Wir kiirzen die spracblicbe Mitteilung wieder ab durcb den Satz: Alle blutsverwandten Tiere besitzen gemeinsame anatomiscbe Eigenscbaften und gewinnen den Vorteil, unzablige auf Beobacbtung gegriindete Erfabruugstbatsacben durcb sieben Worte auszusprecben. Icb kann dem Satze eine andere stilistiscbe Fassung gebeu und die Definition bilden : Bluts- verwandt sind solcbe Tiere, welcbe gemeiusame anatomiscbe Eigen- scbaften besitzen. Die Definition laBt sicb nocbmals stilistiscb uui- formen: Wenn mebrere Tiere gemeinsame anatomiscbe Eigen- scbafteu besitzen, so miisseu sie blutsverwandt sein. Mit der syntakticben Umbidung begiuueu die Missverstanduisse. "Wer diese Satze von seiuena Lebrer lernt, obne spaterbiu liber die bistoriscbe Eutstebung derselben nacbzudenken, vergisst, class sie streng genommeu sicb nur auf die wirklicb beobacbteten Falle bezieben und keine Geltuug fiir die nicbt gepriifteu Spezial- falle beansprucben. Debnt er trotzdem ibre Giiltigkeit auf uocb unbekaunte Erscbeiuungeu aus, so verlasst er das sicber begrimdete empiriscbe Gebiet und arbeitet mit eiuer bloBen Verniutung, niit einer uns alien gewiss sebr einleucbtenden Verallgemeinerung eines bescbraukten Erfabrungssatzes. So gerne wir aucb in unserer Gedaukenarbeit den Scbritt vom Bekauuten ins Unbekaunte macben, dem niicbterueu Empiriker muB er so lauge unbegriindet und geriugwertig gelten, bis seine tbat- siicblicbe Wabrbeit am Objekte selbst erwiesen ist. Weit entfernt davon, eiue sicbere Gewabr zu bieten, legt der Scbritt dem Natur- forscber die Pflicbt einer ueuen Untersucbung auf. Nacbdem er bei den Lungenfiscben und Ampbibieu einige gemeinsame Eigen- scbafteu entdeckt bat, kann er das spezielle Beispiel in den allge- meinen Satz der Blutsverwaudtscbaft einfiigen (wobei er die geriuge Zabl der ubereiustimrnenden Merkmale der Lungenfiscbe und Ampbibien als nebensacblicb und nicbt gegen den Sinn des Satzes Der Entwicklungsgedanke und die logischen Gesetze. 271 verstoBend beurteilen muB, und in theoretischer Generalisation denken, die Arten beider systematischer Gruppen seien in der That blutsverwandt. Diese begriffliche Siibsumption hat aber die Frage nicht gelost, sie hat bloB eine neue Frage aufgeworfen, die jetzt durch direkte Beobachtung zum Entscheid zu bringen ist. Demi die bisherigen logischeu Operationen haben nur die sprach- liche Moglichkeit erwiesen, den Begriff blutsverwandt auf systematise!! verwandte Tiergruppeu anzuweudeu, wahrend der Naturforscher sich nicht mit dem Nachweis einiger, oftmals mit Blutsverwandtschaft gepaarter, anatomischer Ahulichkeiten begniigen, sondern a lie intimen Merkmale uud samtliche Phasen des blutbindenden Zeuguugsprozesses durch sinnliche Beobachtung feststellen soil. Die griindliche Forschung unterscheidet sich ja gerade dadurch vom Kaisonnement der Alltagsmenschen, dass sie in die Tiefe dringt und das breite Fundament fur viele generalisierende Schlussfolgerungen schafft, welche eiu kluger Kopf ohne gelehrten Apparat in einer Minute zieht. "Wie Sie durch die vorhergehende Analyse spezieller phylo- genetischer Fragen gelernt haben, kann aber in den nieisten Fallen, welche die Desceudenzschule kurzweg durch logische, nach dem obigen Schema vollzogene Operationen gelost erkliirt, das Problem der Stammesverwandtschaft mittels einer exakten Untersuchung gar nicht angepackt werden, weil niemand dem Zeugungsvor- gange friiher verstorbener Tiergeschlechter beigewohnt hat. Obwohl die Darwinistisch gesiunten Jiinger der exakten Biologie sich durch das unverbriichliche Vertrauen auf die ratioualistische Denkweise lauge Jahrzehute liber die eben erlauterten Schwierigkeiten hinweg- gesetzt haben, glaube ich nicht, dass ihre Selbsttauschung noch lange wahren wird. Denn es gelingt stets nur fiir eiue geraume Zeit die scheinbare Ubereinstimrnung zwischen der theoretischen Kombinatlon der abstrakten Begriffe und den Thatsachen aufrecht zu erhalten. Einmal revoltiert der rniBhaudelte Yerstand gegen die falschen logischen Fesseln und erzwingt die Korrektur unhaltbarer Vorstelluugen nach den unabauderlicheu Thatsachen. Wenn ich die vieleu Irrtiimer der uaturwisseuschaftlichen Rationalistik bisher schonungslos aufdeckte, wollte ich ihr nicht jeglichen Wert absprechen, und noch weniger Sie verfiihren, dieselbe ganzlich zu verabschieden. Abgesehen davon, dass mein Vorschlag niemals ausgefiihrt wiirde , glaube ich in meiner Darstellung ge- biihrend betont zu haben, welche starke Neigung zum rationalistischen Denkeu alien Menschen ohne Unterschied inne wohnt. Operationen rnit logischeu Begriffen uud unbedingtes Vertrauen auf deren Resultate lebeu im reflektiereuden Verstande als absolut notwendige 272 Sechzehntes Kapitel. Erscheinungen und konnen vom exakten Uutersuclier ebenso wenig als vom Philosophen entbehrt werden. ich wollte nur gegeu eino allzu hohe Wertschatzung der rationalistischen Produkte protestieren. Wie eiue Cigarre nicht niihrt, sondern dem Raucher einen ange- nehmen Anreiz bereitet, so regt das aus den jeweiligen Erfahrungs- satzen auf die unbekannten Fa'lle generalisierende Denken neue Untersuchungen au; um zu priifen, ob das Resultat der begrifflichen Arbeit wirklich mit den noch nicht genau studierteu Thatsachen iibereinstimmt. Meine schroffe Ablehnuug der Descendenztheorie ist also nicht Ausfluss der Abneigung gegen Hypotheseu iiberhaupt. Wer auf wissenschaftlichem Gebiete thatig ist, hat ihreu Wert so stark empfunden, dass er sie nicht verwerfen will. Ich oppouiere bloB gegen die jetzt allgemein verbreitete Uberschatzung ihrer Bedeutung. Eiue ansehnliche Zahl der Gelehrten betrachtet sie als hochste Bliite der Wissenschaft, wahrend ich sie als ein groBes, wenn auch notwendiges Ubel erachte, das jeder in seinem Denken duldeu ruuB, urn Anregung zu neuen Arbeiten, oder wie man treffend sagt, um neue Ideen zu produzieren. Als unumgangliche Hilfsmittel der Forschung gehoren sie in die Arbeitsstube des Gelehrten oder in die allerengste Fachdiskussion wissenschaftlicher Abhandlungen, nicht auf den Marktplatz des Lebeus. Der niichterne Forscher muB ferner verhiiten, dass nicht die Hypothesen in seinem Denken iiber- rnaBige Gewalt erlaugen und ihm die objektive Priifung theoretischer Kombinationen iiberfliissig erscheiueu lasseu, wie es den Anhangern der Descendenzlehre zum eigeuen Schaden geschah. Denn im Gegensatz zum Laien und zum doktriuaren Theoretiker, welch beide der logischen Methode zu viel vertrauen, soil der Naturforscher die Hypothese als ausgezeichnetes Hilfsmittel neben der sinnlichen Erfahrung ge- brauchen, welche unter alien Umstanden hoher steht und ihm den kritischen MaBstab fiir die Theorie liefert. Nach ihrer Aufstelluug unterliegen die Hypothesen der Priifung und werden achtlos bei Seite geworfeu in dem Momente, da die sichere Beobachtuug genaacht ist. Der Vorgang vollzieht sich taglich unter unseren Augen ohue viel Aufhebens; denu jede neue Eutdeckung lehrt uns, was man friiher ungereirnt gedacht hat. Nur wird nach Feststellung des wahren Verhiiltnisses aus menschlicher Eitelkeit nicht viel von dem friiheren theoretischen Irrtum geredet. Die Descendenzhypothese wird das gleiche Schicksal erfahren, da sich ihre Unvereinbarkeit mit der einfachen Beobachtung deutlich zeigt. Zur Zeit ihres neuen Auftretens vor vierzig Jahren hat sie eine fordernde Wirkung auf den wissenschaftlichen Fortschritt geiibt und eine groBe Zahl fahiger Kopfe angeregt, sich mit anatomischen, Der Entwicklungsgedanke und die logischeii Gesetze. 273 palaontologischen uud eutwickeluugsgeschiclitlicheu Aufgaben zu beschaftigen. Aber unterdessen ist die Hypothese im Vergleicb xu dem machtig anwachseuden, thatsachlicheu Stoff alt gewordeu und die fleiBige Arbeit ibrer Anbauger zeigt dem imcbternen Kritiker, dass es Zeit ist, dieselbe ad acta zu legen. Am Schlusse unserer Betrachtungen werden Sie geriugere Be- friedigung empfinden, als Sie am Anfange vielleicht erwartet batten. Wir begannen unsere Arbeit rnit einer scbeinbar ganz einfachen Frage und enden mit einer ungebeuren Summe von Problemen. Sie haben es erlebt. wie die Fragen sicb mebrten, jc genauer wir die Untersucbung eindringen lieBen. Mit der Zuuabrne unserer that- sachlichenKenntnisse verier die allgemeine Idee der tierischenStammes- gescbichte an Gewissheit. Endlich treiben wir nicbt bloB auf einem Oceane von unbeantworteten Fragen. sondern baben zugleicb das Licht verloren. Der Steuermann des Scbiffes kann wohl seine Kenntnisse aufbieten und seine bei klarem Wetter zuverliissigen Instrumente berbeibolen, urn den Kampf mit der Nebelmauer auf- zunebmen; ob er aber Erfolg baben wird, ist zweifelhaft. Er kann uur seinem Empfinden, seinem auf unsicbere Beobacbtungen, Erwagungen. Voraussetzungen gegriindeten Urteile folgen und muss abwarten, ob ihn das Gescbick in die recbte Strafie oder auf Sand und Klippen treiben wird. Das ist der Zustand der modernen Zoologie, nacbdem sie an die Losung der groBten menschlicben Batselfrage ging: woher stammen die Gescblechter der Tiere? Alle techniscben Arbeits- methoden, bis aufs auBerste angespannt. babeu keine Aufklarung gebracht. Was die Zukuuft scbenken wird, entziebt sicb beute unserem Ermessen, Viele von Ibnen werden mir ziirnen, dass ich kein anderes Resultat dargeboten babe. Dagegen ist zu bemerken, dass icb nur scbildern kann, wie der moderne Stand der Zoologie beschaffen ist, wie die Licht- und Scbattenseiten verteilt sind. Die momentane Lage der Wissenscbaft kann ich weder andern noch beeinflussen. Sie ist das Ergebuis einer anderthalb Jahrhuuderte wahrenden Ent- wickelung der geistigen Arbeit uud hat uns mit historischer Notwendig- keit die Grenzen der Forschung besser aufgezeigt, als unseren \ratern und GroBvatern. Sie zwingt die Epigonen, bescbeidenere Hoffuungen zu hegen. Der Zusammenbrucb aller descendenztheoretischen Beweis- versucbe ist auch nicbt geeignet, eine neue Hypotbese an die Stelle der iiberlebten Fiktion zu setzen. Hatte ich das beabsichtigt, so Fl eischmann, Descendenztheorie. 18 274 Sechzelmt,«s Kapitel. wiirde ich nur statt eines haltlosen Phantasiegebiiiides ein anderes, ebenso haltloses Phantom haben aufrichtcn konnen, weil es sich um die Beantwortung einer Frage handelt, welche nach meiner Meinung jenseits des naturwissenschaftlichen Arbeitsgebietes liegt. Wie ich mich durch diese Auffassung von vielen nieiner nachsten Fachkollegen prinzipiell scheide, so dissentiere ich von ihnen in einem anderen Punkte, indeni ich es als Gebot dringendster Notwendigkeit erachte, den unbefriedigenden Zustand uuserer Erkenntnis und die Schranken derselben offentlich zu bekennen. Denu nach meiner Meinung haben diejenigen vollauf Unrecht, welche sagen, das Gestandnis unserer Unwissenheit an der Wende des neun- zehnten Jahrhunderts miisse den Wert der Wissenschaft und uns selbst in den Augen der Welt herabsetzen, Nur die Hochmiitigen und Beschrankten sehen das Eingestandnis der uns mangelnden Allwissenheit als BloBstellung an; der ernstlich vorwarts strebende Mann aber bedarf dieser Selbstkritik, um den Schwierigkeiten klaren Auges gegeniiberzutreten und wirkliche Fortschritte zu machen. Deshalb hielt ich es fur meine Pflicht, Sie auf die geheimen Schwachen des Entwickelungsgedankens hinzuweisen, welche es ver- bieten, der Abstammungslehre beizupflichten; denn Sie. treten bald in die Reihen der Mitarbeiter zur Aufsuchung der Wahrheit als wahre Kommilitonen ein. Ihnen wird es vielleicht beschieden sein, die Grenzen un seres Wissens da und dort ein kleines Stuck weiter vorzuschieben. Sie werden gute Friichte ernten, wenn Sie aufrichtig und streng kritisch zu Werke gehen. tFber das bescheidene Resultat aller menschlichen Arbeit mag uns der Gedanke trosten, welchen Goethe kaum ein Jahr vor seinem Tode gegen Eckermann aussprach: ,,Es geht doch nichts iiber die Freude, die uns das Studiuni der Natur gewahrt. Ihre Geheimnisse sind von einer unergriindlichen Tiefe; aber es ist uns Menschen erlaubt und gegeben, immer weitere Blicke hineinzuthun. Und gerade, dass sie am Ende doch uner- griindlich bleibt, hat fur uns einen ewigen Reiz, immer wieder heranzugehen und immer wieder neue Einblicke und neue Ent- deckungen zu versuchen."