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Uns voraus geht das Zeitalter des Bürger- tums, der Erfindungen und der Klubsessel : ein unfroher Epikuräismus, wie Tempe- ramentlosigkeit sich euphemistisch benamste. Sein Schicksal war, daß es nicht litt, daß es nicht unglücklich war, da es vergaß, sich selbst zu suchen, und glücklich sein konnte, ohne sich gefunden zu haben. Man ver- wechselte äußeres Elend mit Leid, Hunger mit Schmerz, Kot mit Hölle: Naturalismus, der zwar Tieferes ahnte, ohne es je zu fassen. Denn er empfand es als seine Aufgabe, das Sentimentalische früherer Perioden auszu- rotten, beging aber dabei einen Fehlmord

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IN MEMORIAM

KASPAR DAVID REGELE

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Tribüne der Kunst und Zeit

Eine Schriftensammlung

Herausgegeben von

Kasimir Edschmid

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Die drei guten Geister

Frankreichs

Berlin

Erich Reiß Verlag

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Die drei guten Geister Frankreichs

von

Iwan Goll

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Berlin

Erich Reiß Verlag I 9 I 9

Spamersche Buchdruckerei in Leipzig

Geschrieben Oktober-November 19 18

I.

Der Geist Diderots

Die Welt fängt im Menschen an**, ist immer wieder die neue Weisheit großer Jahrhunderte. Sie führt von den Extremen zurück zur einfachsten Formel, zur Eins: Mensch. Sie führt zurück vom erstarrten Kirchengott zur rauschenden Religion des Uranfangs und stellt befreiendes Gesetz über die perverse Barbarie allzu emanzipierter Ge- nerationen.

Genügsame und selbstgefällige Epochen sogenannten Fortschritts ignorieren sie im- mer: da gibt die ,,Welt*' soviel Rätsel und Wunder an sich zu lösen : die Erde-Natur muß ausgebeutet werden. Die philosophi- schen Erkenntnisse werden mathematisch bewiesen. Das Land Utopia, eine technische

Die drei guten Geister Frankreichs

Konstruktion, läßt sich plötzlich entdecken. Die Zeit wird zum Gefängnis, ein Kalender regelt alle Ewigkeit. Ikarus-Äronauten er- obern den Südpol-Himmel : der Mensch hält sich für so klein, daß er Riesenpanoramen braucht, um sich vor sich selber zu entschul- digen. Weltausstellungen und Weltbox- kämpfe heucheln Gigantentum vor. Nur um die innere, leise Stimme totzuschlagen!

Uns voraus geht das Zeitalter des Bürger- tums, der Erfindungen und der Klubsessel : ein unfroher Epikuräismus, wie Tempe- ramentlosigkeit sich euphemistisch benamste. Sein Schicksal war, daß es nicht litt, daß es nicht unglücklich war, da es vergaß, sich selbst zu suchen, und glücklich sein konnte, ohne sich gefunden zu haben. Man ver- wechselte äußeres Elend mit Leid, Hunger mit Schmerz, Kot mit Hölle: Naturalismus, der zwar Tieferes ahnte, ohne es je zu fassen. Denn er empfand es als seine Aufgabe, das Sentimentalische früherer Perioden auszu- rotten, beging aber dabei einen Fehlmord

Die drei guten Geister Frankreichs

und tötete statt des Sentimentalischen dessen Doppelgänger: das Gefühl! Gleiches ge- schah auf allen Gebieten, in der Kunst wie in der Politik.

Der Impressionismus war Langeweile und Leere des Herzens. Die Menschen saßen in den Theaterlogen als beate Genießer ; mittel- mäßiges Erleben träumte über Lagunen hin. Wußte Manets Olympia mehr, als daß sie schön war und eine laszive Stellung mög- lichst naiv einnahm? Die Menschen waren kampflos und ruhten doch nicht, sie standen herum im dolce farniente und waren doch nicht kontemplativ. Sich selbst im Weg, glaubten sie sich zu entfliehen, wenn sie eine Tarnkappe von Luft und Farbe über sich zogen. Sie dachten poetisch zu sein, indem sie träumten. Sie waren ganz unproblema- tisch, untief, unreligiös.

In der Politik folgte gleichfalls auf romantische unbefriedigende Revolutions- putsche eine graue Phase marxistisch-dog- matischen Realsozialismus, der all die ge-

10 Die drei guten Geister Frankreichs

nialischen Leistungen der französischen Re- volution verwässern half. Ein ganzes Jahr- hundert machte sich daran zu schaffen, die glühenden Errungenschaften der paar Jahre neuer Zeitrechnung für den allgemeinen bür- gerlichen Geschmack zurechtzudrechseln. Die soziale Frage eine Sorge des Bauchs und der Buchführung, ein mathematisches Pro- blem, eine Umkalkulation (für statistische Ämter und Kammerreden) des menschlichen Elends in Arbeitsstunden, Lohntarife und Er- nährungstafeln. Der Fanatismus der Zahl ging so weit, daß Lohngesetz zu einem Welt- gesetz gestempelt wurde.

Aber zuletzt büßte Europa seine gottlosen Jahre mit schmerzlichem Blut. Nach der Passion des Menschen kam die der ganzen Menschheit. Alles stürzte ein. Ideallos stand der Blinde und der Krüppel auf den rauchen- den Schlachtfeldern. Es war nichts mehr wahr! Die Fahne von'gestern ein Schmach- lappen. Leere gähnte. Staub wirbelte auf. Die Sozialdemokratie aller Länder war er-

Die drei guten Geister Frankreichs II

ledigt: der Menschheitssozialismus zuckte neu in den Gehirnen empor.

Fängt die Welt im Menschen an, wo hört sie auf? Der Mensch ist keine Parabel, die aus der Erde aufschießt, um im Weltenraum, im Kosmischen, gesetzlos und frei herum- zulodern. Der Mensch endet nicht in diesem i| leichten Wort : Gott, in dem sich so para-|/ diesisch ruhen ließe. Der Mensch ist ein/ Regenbogen, ein Halbkreis, nicht endend in Wolke und All, sondern fest an die Erde stoßend, jenseits, am andern Ufer, wo wieder Erde und Mensch steht.

Der Mensch kehre zum Menschen zurück, zum einfachen, nackten, wahrhaftigen Bru- der. Nachdem er die Weltteile durchrast, die Lichte erobert und die Erdminen mit Grausen empfunden, wendet er sich langsam, ver- schämt und verschmäht, dem Nebenmen- schen zu, den er im dauernden, brausenden

12 Die drei j^uten Geister Frankreichs

Kampf nie sah, von dem er nichts wußte, und dessen bittende Stimme unterging vor dem donnernden Schall: Staat, Fortschritt, Eroberung der Erde.

Dies zu erkennen und zu erfassen ist unsere neue Weisheit. Zu solchem Ziel weise der Künstler zuerst, der Prophet der Zeiten, und schreibe übers Tor des zwanzigsten Jahr- hunderts, das aus roter Erde aufschäumt, das goldene Wort: Menschlichkeit. Ein weltenaltes Wort, funkelneu geschlagen in der Schmiede des allgemeinen Welt-Leids. Ein Wort, das bekannt klingt und doch ganz merkwürdigen Sinn hat. Ein Wort, ein neues Lebenselement.

Die Weltgeschichte ist keine kontinuier- liche Landstraße, sie ist eine Brücke, die in steilen Bogen, auf wenige Pfeiler gestützt, über die grünen Moräste hinschwebt. Jahr- hunderte überspringen einander, um sich zu

Die drei guten Geister Frankreichs 13

finden. Paarweise, übers Kreuz, vermählen sich das siebzehnte und das neunzehnte Jahr- hundert, das achtzehnte und das unsrige. Der Roi Soleil, die Marquis, Abbes, Kurti- sanen und Gartenarchitekten mußten ein Jahrhundert lang von geistigen Sanskulotten und lächelnden Pessimisten sich verhöhnen lassen, eh sie verschwanden. Eine ähnliche Aufgabe obliegt denen, die den Kapitalisten mit dem diamantenfunkelnden Finger, Bür- gerzeitung, Elektrotechnik und Jugendstil zu überwinden haben: die Besitzer und Schma- rotzer aus dem Tempel des zwanzigsten Jahr- hunderts zu vertreiben.

Und der Bogen der Tradition leitet zu Frankreich hin.

Aus buntem Parkett der Perücken ragt ein menschliches Haupt, fast unbekannt von der Literaturgeschichte: Pierre Bayle, der schon sämtliche Schlagworte von heute zu Eigen- tum hatte: Humanismus, Individualismus, Primitivismus. Nichtsahnend legte er, fast anderthalb Jahrhunderte zuvor, die erste

I^ Die drei guten Geister Frankreichs

Lunte der französischen Revolution. Mit ihm, die gleiche Idee schöpfend und aus- tragend, jene Universalgeister, die den ganzen Umfang ihres Genies nur in mächtigen Dic- tionnaires zu fassen vermochten: die um Diderot und Voltaire. Ihr Vermächtnis, der Extrakt ihres Lebenswerks liegt abseits ihrer dickleibigen gesammelten Werke, in denen sich manches schlimme Sonett und Römerdrama birgt. Nie schrieben sie Ap- pells, Manifeste und Proklamationen, son- dern sie waren Sammler, Kleinarbeiter und Bureaukraten der Idee, die später als strah- lende Erkenntnis des Jahrhunderts empfun- den wurde. Auf Bestellung Diderots und dessen Mitarbeiter d'Alembert verfaßten sie zusammen jene neue Septuaginta, jeder in die Zelle seines Herzens eingeschlossen, und doch alle an einem Ganzen, an einer einheit- lichen Idee schaffend, die zur Bibel der kom- menden Menschheit wurde. Und nach Moses, Aristoteles und Jesus sollte man Diderot nennen, den gewaltigen Titan seines Jahr-

Die drei guten Geister Frankreichs 15

Hunderts, wie polynym auch seine Monu- mental-Enzyklopädie erscheinen mag.

Die Enzyklopädisten schmiedeten die Idee. Keine Tat ohne vorhergegangene Idee. Kein Dolch ohne das zuckende Hirn. Der Königsmörder bereitet seine Tat monatelang vor, der .Revolutionär jahrhundertelang. Denn Revolution ist ein geistiges Natur- ereignis. Wenn sie das nicht ist, wenn sie nicht aus innerstem Notwendigkeitsbewußt- sein des Volkes und seiner Erde aufschießt, vorbereitet und fanatisch erglüht wie nur jede Geburt, ist nichts geschehn. Wenn nicht jeder der Beteiligten mit seinen Millionen Fibern dafür oder dagegen ist, ist nichts ge- schehn. Ein Putsch oder ein Streik, ge- mäßigte Reformen, langsame Ummodelung von Verfassungen sind nur ein halb ausge- zogener Zahn, der an seiner eigenen Karies fault.

l6 Die drei guten Geister Frankreichs

Heute schimpft man auf Literaten, die nach politischer Wirkung trachten. Wie soll ein geistiger Arbeiter wirken als durch gei- stige Aufstachelung ? Aber das Wort: geistig! Der Dichter bleibe beim Geist, er bereite die Zeit vor, die immer fünfzig Jahre nachhinkt. Er ackere Begriffe um. Er pflüge schwer Brachland. Er stülpe Berge auf. Er sage, er wage alles. Aber er sage es gut. Er sage es so, daß es gar nicht anders gesagt werden kann. Er sei nie zweideutig. Treibt er Volkskunst, so tue er es um des Volkes, nicht um der Kunst willen. Um des Men- schen, um des Urbegriffs willen. Immerhin wolle man nicht in seine Koffer mit den Ma- nuskripten der Freiheit noch rote Prokla- mationen aus Syndikatsdruckereien oder die Bomben der Geheimbündler schmuggeln. Wichtiger als die Tat ist die Idee. Sie ist der Gehalt der Zeiten.

Die drei guten Geister Frankreichs ly

Das Losungs-, das Erlösungswort von heute : Seid Menschen ! bedeutet gegenüber dem All- tagssatz, daß der Schlafende gut und ge- recht sei, im Gegenteil, daß nur der in der Gesellschaft schlecht und ein Hemmnis ist, der nicht wach ist, nicht da ist. Und dies sei die Forderung aller, die sich für gute Men- schen, Mitmenschen und Erzieher halten, daß sie die andern zum Wach-Sein führen. Erweckung, Auferstehung, Jüngster Tag: geschehen in jeder Minute der Ewigkeit. Das Da-Sein wird zur Religion, das Leben, das Ich und das Du! Der Mensch!

Und erster Schritt zu solcher Realisierung ist die Versenkung in. sich selbst, ist Arbeit und Kampf mit dem Irdischen im Ich, ist die Befreiung des Individuums. Daraus aber erwächst schon ein Doppelbegriff, konvex und konkav zugleich : Individualismus und Humanismus. Signal unserer Zeit, aus doppelgeflochtenem Docht aufflammend : Menschlichkeit!

Diderots Frage: Est-il bon? Est-il me-

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chant? Und Rousseaus Antwort: L'homme bon, les hommes mechants! scheinen das Problem schon ausgeschöpft zu haben. Di- derot: ,,Die allgemeine Moral steht zugleich über und unter den einzelnen persönlichen Begriffen von Moral ; darum darf sich der Mensch jederzeit darüber erheben. Der künstliche Mensch der Gesellschaft sitzt so fest in seiner Moral drin, daß es am besten ist, sie ganz zu verleugnen, auf daß sich jeder seine eigenen Gesetze neu schaffe.'* Ist das nicht glühender Auftakt zu letzter Revo- lution ?

Und Rousseaus Paradox, daß die Sozia- lität der Menschen der Urgrund aller Übel sei, ist es nicht, wie alle Paradoxe, treffender Beweis für das gegenteilige Dogma unserer Zeit, daß alles Heil in der sozialen Sendung des Individuums beruhe?

Also fangen auch die Erben des heutigen Frankreich den Ball der rollenden Idee auf. Gerade sie, gerade heute, weil die akute Qual des Weltdramas mit einemmal die

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Stechwunden lethargischer Gentlemens in Klubsesseln übersehen half. Aus der großen Hölle des Kriegs werden alle Engel blauer Zukunft gereinigt aufsteigen. Schon emp- fing das Volk in allen Staaten Bewußt- sein. Schon erstanden Extremisten, die er- kannten, daß nicht eine Theorie, sondern eine Menschheit zu verwirklichen sei. Und das angegriffene, das gedemütigte Frank- reich war es, das zuerst gegen das Menschen- schlachthaus an der Somme und an der Meuse protestierte. Ein Franzose war es, der, noch im Jahre 19 14, das Buch ,,Au-des- sus de la melee** schrieb. War es denn nicht auch Jaures, der lange vor dem Kriege ,,La Nouvelle Armee*' erdacht, nicht Bazalgette, der dem Weltmenschen Whitman das erste große biographische Denkm.al gesetzt, nicht Verhaeren, der als erster europäischer Dichter die Stimme erhoben hatte? In Frankreich mußte jener neue Glaube geboren werden, nachdem in Frankreich das überlebte Wort ,, International** der sozialistischen Kon-

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gresse und der Speisewagengesellschaften desavouiert worden war.

Kein anderes Volk schien so dazu vorbe- stimmt. Zwar schrillten in England einige Stimmen auf: Shaw und Bertrand Russell, die amerikanische Zeitschrift The Masses wurde verboten, ganz Neutralien schwor gegen den Krieg : und doch nirgends so schar- fer Protest gegen heiliges Blut wie gerade im zerrissenen Frankreich. In Deutschland am allerwenigsten. Das machte, daß der deut- sche Künstler, als Gegenpol der Realpolitik, noch immer der kosmische Träumer, der Idealist und Wolkenjäger geblieben war, nie verschmolzen mit der Welt, der er ent- keimte. Und gab es welche : nicht Büchner, nicht Börne hatten die zehn Seelen zusam- mengefunden, die mit gedrängter Stichflamme der Überzeugung ihre Zeit hätten aufpeit- schen wollen. Sie mußten immer über den Rhein fliehen, dessen Gold nur der Sehn- sucht des Traummädchens beschieden blieb.

Dem deutschen Dichter fehlte die Tra-

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dition. Und erst, als er sich von seiner ro- mantischen Muse und von den noch immer fernen Sternen betrogen sah, machte er Miene, sich in die Politik zu stürzen. Er lief Gefahr zu ertrinken. Er gründete eine Lite- ratengilde, statuierte von heut auf morgen ein ,,Zier*. Mit Inbrunst wollte er Kaserne und Universität niederreißen, mit Geist mör- teln den neuen Bau. So einfach, ohne Etappe, zum Ziel! Ohne jede Tradition zu neuem Priesteramt. Eine Kuppel erstrahlte schon im zerrissenen Himmel, zu dem alle abgetretenen Straßen emporführen sollten. Eine herrliche Zinne, wo aber waren die Treppen hinauf? Zwischen der Straße und dem Dom fehlte die Verbindung. Zwischen Dichter und Mob gähnte die Kluft, fremd, wo nicht feindlich. Wo sollte auch plötzlich ein Literat mit Politik wirken, der jahr- zehntelang sich in den Elfenbeinturm ein- geschlossen hatte! Es fehlte jede Plattform und jede Tribüne, auf die er sich stellte. Und daß er versuchte, seines Geistes ge-

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frorenen Kristall zu Licht zerfließen zu lassen, war schöner, jubelwerter Auftakt, aber nicht Tat!

Tat ist eine ganz irdische Angelegenheit. Tat ist der Hammer, Tat ist der Arm, den des Geistes Idee bewegt. Einmal, am Höhe- punkt, wird aus Tat und Idee eine Fackel und reißt des Volkes ganzes Erleben zu einem Brand empor. Aber die Tat kommt immer von ganz unten herauf, aus tiefstem Fun- dament, aus schwerduftendem Humus, aus leidendem Volk. Von unten herauf befreit sich der politische Mensch, indem er erst sich selbst zersetzt und die um ihn, einen um den andern, bis die kleine Schar zur Lawine schwillt. Eine Revolution wächst vegetativ, nach Naturgesetzen, langsam aus tiefster Qual und wird nicht als Ziel von hohem Kuppelturm herabprojiziert.

Drum irrte sich der deutsche Literat. Er irrte sich, weil er nicht ganz von vorne an- fangen wollte, weil er den Mut nicht hatte, seine Kunst ganz zu verleugnen und mit

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Zeitungskitsch in die Volksversammlung zu steigen, und weil er die Geduld nicht hatte, wie die Enzyklopädisten nur Denker, nur Ideenverwalter zu sein, der langsam, ab- seits, die Frucht reifen läßt. Auch besaß er nicht die einheitliche Idee, die nur drei Men- schen verbunden hätte. Jeder war des andern Feind, weil jeder, nach deutscher Art, selbst die Wahrheit gefunden haben wollte und An- spruch auf Anerkennung machte : Literatur. Der Franzose hat keinen ,, Willen zum Geist' ^ Ihn treibt ein notwendiges Muß zu Volk und Menschheit. Er ist von Geburt öffentlicher Mensch und bleibt es, selbst im Zeitalter des egoistischen L'art pour l'art: Chateaubriand, Dichter des Rene und Atala und Napoleons Minister in Rom, Minister- präsident unter den Bourbonen ; Lamartine, der elegischste Romantiker und einen Augen- blick der gefürchtete Rivale Napoleons III. bei seiner Präsidentenkandidatur; Victor Hugo, der riesige Pathetiker, der nach neun- zehn Jahren Verbannung eklatanten Volks-

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Triumphzug in Paris feiert; Zola, der die Dreyfußschmach zur seinen machte und mit seinem menschlichen Schrei ,,De la lumiereT* alle Advokaten Europas zum Teufel jagte. Dafür besitzt der französische Geistesheld sein Pantheon, und zu seinem ewig-offenen Sarg wallfahrtet ein ganzes gläubiges Volk.

Drum wird auch der gallische Mensch bald die europäisch-politische Erkenntnis recht- fertigen. Er fing schon an, ehe die Nachbarn auferweckt schienen, und daß diese ihm plötzlich mit tatsächlicher Revolution zu- vorkamen, bedeutet nicht, daß sie alleinige Träger der Idee sind. Wer das größte äußere Leid bestand, mußte zuerst bersten, und Siege sind manchmal ruhmloser als Nieder- lagen. Aber als er begann, schmetterte der Franzose nicht in Trompeten, berief noch keine Massenaktionen, denn seine Arbeit sollte die demütigste der Welt sein. Auf-

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rufung nicht der Massen, sondern des ein- zelnen, bescheidenen Individuums, nicht zum Sturz eintägiger Regimes, sondern zur Er- hebung der Persönlichkeit im General wie im Lastträger. Das war die Arbeit einer Mi- norität, Kleinarbeit, Handlangerarbeit. Es bildeten sich, mitten im Krieg, ein bis zwei Dutzend ganz bescheidene Zeitschriften, fast heimlich, in allen Ecken von Paris und der Provinz. Junge Menschen, ohne Namen und Ruhmsucht, nichts als Menschen, die sagten, was sie litten. Keine Literatur, kein Ge- schäft, kein Schachern mit Metapher und Theorie, kein Liebäugeln mit extravagantem Ausdruck. Nichts als die einfache, die schlich- te Menschensprache. Nichts als das Streben zum wahrhaftigen Ideal. Nichts als ehr- licher Kampf. Kampf gegen wen? Fragt die Enzyklopädisten: Kampf gegen die ab- gestandene • Moral und staatlich diplomierte Dilettantenakademien. Gegen die Snobgesell- schaft der Premieren und ihre Monokel- dichter. Gegen die Kriegsgreise und die

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hugolatrischen Rhythmen alter Gardisten- gesänge. Kampf gegen den zynischen Börsen- kursleser. Gegen die Siegeszeitung und gegen die Hurrarevue. Kampf gegen den ge- mästeten Krieg.

Kampf für den Menschen!

Und dieser Kampf bereitet die unabwend- bare Bruderstunde vor. Warme und herz- liche Rufe vom andern Ufer. Keine Lehren, kein Glaube : nichts als Gefühl und brodelnde Wallung. Aufruf zum Leben und zur Re- alität : das sagen die Titel der Organe schon : Vivre, Les Humbles, La Seve, Soi-Meme, Demain, Les Tablettes, L'Aube, La Forge, La Caravane. Jedes könnte Jaures Wort zum Motto haben : La Poesie, c'est-a-dire la Verite, und jedes bewußt, vielleicht nur eins, vielleicht auch Millionen Menschen- leben auf seine wahre Formel zu bringen.

Ehe Versammlung geheischt wird, tut Sammlung in sich selber not. Erneuerung der Menschheit, die nicht mit den Phrasen des neunzehnten Jahrhunderts mehr zu-

Die drei guten Geister Frankreichs 27

frieden sein wird, die gleichzeitig mit dem Aufmarsch der Massen zur Züchtung des Ich, der ersten Zelle, schreitet; und fast heidnischer Glaube ans Leben, Verschmähung des Todes in jeder Form, des bureaukrati- schen Selbstmordes wie des kriegerischen Massenmordes: das ist der Trieb neuer Ge- meinschaft.

Ihr fehlt nur eins, was den Ahnen des achtzehnten Jahrhunderts die Sache so leicht machte, die überlegene Ironie, die lächelnde Skepsis. Der heutige Jüngling hat eine dunkle, bittere Stirn. Die Stigmata des Krieges klaffen in seinem Leib. Ihm fällt es nicht leicht, sich wieder aufzuraffen, aber darum ist er unerbittlicher in seiner Forde- rung, zäher und absoluter in seinem Grimm. Es krachen die goldenen Stufen und Leitern in ganz Europa, und es wird kein Ende sein, bis der ganze Waffenplatz geräumt ist, und für jeden die gleiche Stelle im Leben frei.

Doch die erste zusammenfassende Kund- gebung des neuen Gedankens ist nicht ein

28 Die drei guten Geister Frankreichs

Manifest, nicht Programm oder Appell, son- dern nur ein leichter Händedruck an der Straßenecke, eine leise, dringende Stimme im Vorübergehn, die jeden Passanten wie einen heimlichen Bruder anruft, ist nichts als ein ,, Brief an einige Freunde über den Neo-Individualismus'', den der Lyriker Marcel Martinet in einer jener Zeitschriften ,,Les Cahiers Idealistes Frangais*' (März 1918) veröffentlicht. Der lautet aber:

,,...Das Individuum ist alles. Alles muß auf ihm und in seinem Interesse aufgebaut werden. Seine Bedeutung kann nie über- schätzt werden.

Das Individuum ist unser einziger Aus- gangspunkt, unser einziges Ziel. Und alle sogenannten höheren, reicheren, edleren, fruchtbareren, ja auch die reelleren Werte, für die man es opfern will : Rasse, Religion, Staat sind für uns nur noch schreckliche, mörderische Götzen, die den menschlichen Geist vernichten, indem sie seine erhabene Gelassenheit ausbeuten. Sie sind Parasiten

Die drei guten Geister Frankreichs 29

und die ewigen Feinde des Individuums, und wenn sie es ersticken wollen, tun sie es mit der List und Schmeichelei, was im Grund seine Königlichkeit nur besser beweist.

Ja, g^gen die Dogmen von Autorität und Unterwerfung, gegen Kirche und Staat, sind wir aufrechte Individualisten. Das Indi- viduum ist die einzige Realität. Außer ihm ist nichts als Phrase und Lüge. Gefährlich alles, was es verkleinern und vernichten will.

Der erste und^ entscheidend^jGirind für unsere antikrieg^erische^ Gesinnung ist djg^ Erkenntnis, daß der Krieg, in mancher Hinr ^icfai, aus der Verleugnung der i^enschlichen Persönlichkeit entsprangr^Vie wir uns be- rechtigt fühlen, die glänzenden Erfolge deut- scher Organisation zu verachten, weil sie, wie alles, was auf autoritärem Prinzip be- ruht, die Erniedrigung und Verkleinerung des Individuums voraussetzt, so verwerfen wir auch den staatlichen Sozialismus, der seine Getreuen (oder Ungetreuen) auf jeg- liche Verzichtleistung vorbereitet.

oo Die drei guten Geister Frankreichs

Aber weiter, was das Individuum betrifft: Es bedingt zunächst den Respekt der mensch- lichen Persönlichkeit. Einen ganz tiefen Respekt, der sich in jeder Hinsicht, ganz ma- teriell, elementar und notwendig äußern muß, von der rein körperlichen Existenz bis zur zartesten Entfaltung einzelner Erschei- nungen: da aber hören aller ,, Fortschritt**, alle ,, Eroberungen** der Zivilisation auf, auf die der Bürger so angeregt pocht. Und ge- rade in diesem Sinn bedeutet der Krieg den Ruin der Zivilisation .... Für uns, die wir nur Menschen sind und sein wollen, ist die menschliche Persönlichkeit der einzig acht- bare Wert. Nicht nur als Ziel, sondern schon als einfaches Prinzip: da zu sein, ist sie für uns der größte Wert. Das Individuum ist die einzige wahre Kraftquelle: auch das hat der Krieg nur zu sehr bewiesen. Alle po- litischen, sozialen und religiösen Anstalten, die dem Frieden unter den Völkern dienten und nur für ihn existierten, brachen überall schmählich zusammen ....

Die drei guten Geister Frankreichs 3j

Das gibt es nicht mehr: ein Individuum im Gegensatz zu den anderen Menschen, es gibt nicht mehr: ,, andere Menschen*', denn das ergäbe einen notwendig pessimistischen und misanthropen Individualismus, der die Wege der Liebe verloren hat und zum Ver- nichter der Gesellschaft wurde: solcher In- dividualismus ist sogar Selbstmord und führt zur Verelendung seiner selbst. Wehe dem einsamen Menschen, der alle Bande mit seinesgleichen abschnitt: solcher Rückzug und berauschender Selbstbetrug bringt kaltes Erwachen. Da kommt das Irren in der Wild- nis, Schweifen auf abgelegener Straße, und man weiß nicht, daß man nur eines sucht : den Menschen. Das Herz verdorrt. Alle Horizonte verdüstern sich . . .

Ja, das Individuum ist der einzige reine Wert. Drum laßt uns starke Persönlich- keiten züchten. Doch eine nur, die unsere nur, wäre zu wenig. Wir wollen sie in jedem Menschen respektieren und zu unserer eige- nen Vervollkommnung das ersehnen wir

32 Die drei guten Geister Frankreichs

sie ganz emanzipieren. Unsere Freiheit, mitten in einem Sklavenstaat, ist bitter und unvollständig. In einer ungerechten Gesell- schaft leidet die Persönlichkeit in uns. Wir brauchen, wir, für uns alle, für unsere Größe, unsere Freude und unsere Entfaltung, eine Gemeinschaft von gleichen und freien Men- schen.

Das unser Individualismus. Anders als der Eure, der entnervte. Er ist ganz Tat- bewußtsein. Er hatte schon viele Profile. Er hieß Rabelais, Luther, Erasmus, Prou- dhon und Bakunin. Er ist unvergänglich. Er ist der Geist der Revolution.

Überall ist er. Verachtung kennt er nicht. Auf, Kameraden, tauchet ein in diese Masse, die ihr verachtet. Überall werdet ihr unsern revolutionären Geist finden, in jeder Seele dieser Masse, im Reaktionär wie im Revo- lutionär, im Bedrückten wie im Tyrannen . . .

Das sei Eure Wirklichkeit. Alle die phy- sische Umgebung wie die erschwebende Form der Seele : das alles ist ewig und ist das Leben

Die drei guten Geister Frankreichs 33

selbst. Die Realität ist der einzige Boden für die Kunst, ohne sie zerfasern ihre Wur- zeln. Aber sie ist nicht das, was euch ,, rea- listische'* Zuschneider in trübsamer Parodie vorgaukeln. Alle große Kunst hat mit sicherem Instinkt nur nach ihr gegriffen und daraus die heimliche Seele des Menschen hervorgeholt. Darin bestand das Genie der Großen, darum wurden sie Vorbild ihres Volks.

Letzten Endes handelt es sich nicht um Demagogie, nicht um Tendenzkunst und aufs Butterbrot aufgestrichene Theorie. Der so- ziale Beruf des Künstlers, seine mensch- liche Sendung und das innere Wesen des Kunstwerks selbst erfordern: Leben!

Solchem Überschwang, solcher Fülle des Lebens stellen manche den Geist entgegen und wollen sie vor ihm erniedrigen. Wozu aber Gedanken, wenn sie abseits vom Leben stehen, und was ist ohne sie: Leben! Leben ist Vermengung aller Lebensgüter, Ver- schwendung, Geben und Nehmen, das Leben

24 Die drei guten Geister Frankreichs

mit allen Sinnen, mit ganzem Herzen klopfen hören, mit allen seinen Fähigkeiten erfassen : daraus entspringe das Werk. Die reale Dich- tung wird nicht danach fragen, ob sie zeit- gemäß ist oder nicht, und wird sich nicht einmal darum kümmern, ob sie individu- alistisch ist. Aus tiefem Urgrund kündet sich die neue Epoche des Aufbaus an. Ein großes Schicksal, eine große Renaissance eröffnet sich der „tätigen Kunst**, der ,, brüderlichen Kunst".

Das ist der neue gallische Mensch, der Freund, der Bruder. Von unten herauf. Von vorne will er anfangen, mit jedem einzelnen. Der Künstler aber sei ganz Demut, ganz inniges Aufgehn im realen Alltag, ganz Hin- gabe an den wirklichen Moment, der wert- voller ist als alle ungelebte Ewigkeit. Jeder beginne gerade da, wo er steht. Drum ist ein anderer schon aufrecht neben Martinet, der fordert Erneuerung der Sprache, jenes

Die drei guten Geister Frankreichs 35

heiligsten Attributs des Menschen seit Moses und Goethe. Jenes Instrument aller Lüge und Falschheit, die Sprache der Morgen- zeitung und des Kaffeetisches, ist das schäd- lichste Gift des Menschenherzens, ein herum- gereichter Becher, an dem alle die Miasmen und Bazillen des Tagesgebrauches sich an- setzten. Reinigung und Stabilierung unserer Umgangsformeln versucht Gerard de La- caze-Duthiers in einem ,, Petit Dictionnaire Idealiste'*, den er regelmäßig seit 19 17 in der Zeitschrift ,,Soi-Meme*' führt, als echter Erbe der Umwälzer, die die ,,Encyclopedie'* und den ,, Dictionnaire Philosophique^* schufen.

Zu reinem Symbol wird da jede Vokabel im Dienst der neuen Idee erhoben. Vom Strahl freien Geistes beleuchtet, wie ein Diamant zugeschliffen und bis in den inner- sten Nerv ziseliert, wird jedes Wort zum funkelnden und aufrührerischen Manifest, zur beißenden Geißel und schmerzlichen Sa- tire der Gegenwart. Überall der herbe Mahn-

^6 Die drei guten Geister Frankreichs

ruf : Seid da ! Seid wach ! Viel Bitterkeit und doch immer irgendwo die feinversteckte Ironie sind dieses Werkes gallische Physiognomie.

Ist nicht schon das erste Wort da Revo- lution :

,,Action: ,Am Anfang war die Tat', sagte Goethe. Sie unterscheidet die Lebenden von den Toten. Nicht handeln ist: Selbstmord. Handeln bedeutet : Denken, schöpferisch sein. Die wirkliche Tat ist tief, sie übersieht das Künstliche. Sie schweigt über ihr Dasein. Die kleinsten, niedrigsten Handlungen sind oft die schönsten. Ein Tatmensch, will heißen: ein energischer Mensch, der die Wahrheit so liebt, daß er ihr zum Sieg ver- helfen will. Tatmenschen sind selten. Viele werden für solche gehalten und sind nicht einmal ,, Menschen", aber leblose Steine auf der Landstraße.

,,Action d'art: Selbstloses, triebhaftes Han- deln, das nicht nur in der Erschaffung von eigentlichen Kunstwerken besteht, sondern in der Betätigung des Schönen in allen Le-

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benshandlungen, durch die Unabhängigkeit des Individuums in jeglicher Gesellschaft. Künstlerisches Tun ist Protest und Revolte, nützlich und keinesv^egs nutzbringend, menschlich und keineswegs nur human. Jede Herzenstat ist eine künstlerische Tat. (Das Gegenteil : politische, moralische, soziale, kriegerische Handlungen!)

,,Action directe : Nicht jene, mittels der die Revolutionäre ihre Forderungen zu erreichen meinen und die niemals praktische Erfolge zeitigte. Eine andere ,, direkte Tat'*, die wahre, ist die, die in der inneren Evolution des Individuums besteht, in der Gewalt, mit der er sich selbst zersetzt, in der Anstrengung, über sich selbst hinauszukommen und sich zu verschönen, im Kampf gegen seine Leiden- schaften, im täglichen Sieg über seine eigene Häßlichkeit. Die Erfolge sind auch positiv. Durch Kunst, Gedenken und Bücherlesen / gelangt das Individuum zur Entdeckung ^ semes Ich. Dort kann es sich spiegeln. Von dfortausgeht ein ,, direkter** Einfluß auf sein

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Gewissen und Bewußtsein, das geändert und gekräftigt wird.**

* *

Intoleranz gegen alles Zweideutige und Doppelzüngige ist dieser Generation erstes Merkmal. Intolerant muß alle minoritäre Jugend sein, denn sie hat Jahrtausend alte, chinesisch dicke Mauern zu durchbrechen: angespannteste Kraft tut not. Intoleranz ist ihre einzige Waffe gegen die scheele Schie- berei und die Kompromisse, mit denen sich die abbröckelnden Väter zu halten glauben, die einzige Abwehr gegen geneigtes Lächeln der Herren Minister und das Schulterklöpfeln von Kriegslieferanten. Drei Republiken gaben in Frankreich schon Kunde von dessen junger Intoleranz und Intransigenz. Und wird nicht vielleicht ein neuer Dictionnaire die Urform eines neuen Verfassungsgesetzes sein ? Die Vertreter der Güte und der Menschlich- keit werden bald siegen, auch wenn sie noch

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SO verfolgt werden, wie unter dem Monarchis- mus dereinst Diderot, der vor Gericht geladen wurde, weil die Vokabel ,,äme*' in seiner Encyclopedie nach Aussage der Jesuiten ,,zu materialistisch** behandelt worden war. Weh und wichtig ist es denen, die im Na- men aller sprechen. Das Individuum fühlt sich verantwortlich für die ganze Gemein- schaft. Es sagt nicht : Demokratie, um seine Schuld zu verbergen. Aber keiner weiß so gut von seinem Nebenmenschen wie der, der sich zuvor selber zerriß. Der betet wahrhaft, der zuvor am lautesten schrie. So gebiert des Kriegs gigantisches Leid die Freiheit. Sie lodert in Werken auf, die alle Kanonen dieses Jahrhunderts überdröhnen. Dichter, denen die Zeit gab, zu sagen, was sie litten, schrieben den Anklageakt gegen die Schul- digen am europäischen Mord. Und da ward nicht einer und nicht ein Volk, es ward die ganze unmenschliche Menschheit, die ganze Zeit 'des Kapitals und des Klubsessels vor Gottes Grimm gezerrt, die niedere, die ver-

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achtbare Welt der Scheinbildung und der Scheinheiligkeit.

Eine neue Welt ersteht : Glaube, Vernunft, Verbrüderung. Zurück zum ersten, ein- fachsten Gebot: wie Rousseau. Hin zur ganzen, zur auferstandenen Menschheit in jedem Menschen: wie Whitman. Denn das Schicksals tiefe Gebärde will es, daß vor den Armeen Wilsons längst Amerikas größter Mensch des Franzosen wirkliche Seele er- kauft hatte. Die kleine europäische Provinz mit der Hauptstadt Paris empfing die Welt- umarmung, sie wird nicht die letzte sein, die in die gelockerte Erde der Schlachtfelder kniet. Wozu wären ihr sonst Barbusse, Romain Rolland, Duhamel, Martinet, um nur die ersten Künster zu nennen, beschieden worden, wozu gerade Frankreich?

Überall auf dem Erdball, mit der Besiegung des Kriegs und der Kriege, erfüllt sich das Motto : Die Welt fängt im Menschen an. Es füllt sich auch und schließt sich der Regenbogenhalbkreis, mündet jenseits, in

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feindlichem Ausland, und ergießt sein sieben- farbiges Licht über die siebenfach gespaltenen Völker. Ein Schimmer, ein inneres Be- wußtsein glüht, empor. Die Welt endet im Menschen. Drum sollen sie alle einander lieben.

II. Der Geist C6zannes

Jehova war der erste Künstler, der größte aller Zeiten. Er hatte die Inspiration und den Geist. Das Kunstwerk seiner sieben Tage war letzte wissenschaftliche Erkenntnis und gerührteste Liebeskraft zugleich. Er war Vater und Sohn, Ruhe und Sturm, Kosmos und Molekül, der Einzige und der Allgemeine.

In uns lodert und arbeitet es an diesem Weltbau immer weiter. Jehova, das All, zersetzt sich in die verschiedenen Substanzen der Erde, in uns, und lebt und stirbt immerzu in jedem seiner Geschöpfe. Wir sind sein Ebenbild, der Künstler aber, die höchste Potenz der Schöpfung, ist sein Bruder.

Unser täglicher Kampf ist eine Ausein- andersetzung mit dem Himmel. Unsere

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Sendung, Erde und Himmel in uns zu ver- einen. Und das ist Ziel der Religion, die Geheimnisse und Wunder, die das ,, Leben** ausmachen, irdisch verständlich zu ge- stalten. Die Sprache aber, deren die Religion sich bedient, ist die Kunst. So ist die Le- gende von der Erschaffung der Welt das mosaische Epos, das erste Kunstwerk der Welt. Nichts Tanszendentales, nichts Illu- sionäres : die einfache, sachliche Erklärung formgebundener Gesetze. Oder die lapidar gemeißelten Götzen und Könige der Ägypter : immer nur die eine, eindringliche Wieder- holung eines frommen Gestus, immer neu belebende Erinnerung an die Erkenntnis des Menschen.

Letzten Endes ist Kunst nur dazu berufen : Symbole zu schaffen, dem armen, suchenden, sehnenden Geist in sinnlichen bunten Ge- bilden die vorübergehende Befriedigung zu geben, die er zum Leben braucht, bis er selbst Gott erkannt hat. Der Erkennende, der Gläubige selbst braucht sie nicht mehr, der

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Hohepriester und der Mönch v/ohnen in den nackten, entlegenen Zellen. Kunst ist Er- zieherin des Volks. Kunst ist niemals Selbst- zweck, sondern heilige Sendung.

Die Symbole wandeln sich mit den Zeit- altern. Der ursprüngliche und primitive Mensch erfindet sie ganz aus sich selber heraus: alles ringsum, die makellose Natur bietet ihren großen Reichtum dar. Die spä- teren, die ärmeren, weil schon durch Ge- wohnheit verdorbenen Geschlechter halten sich an das Eine nur, wie das Mittelalter an das Kreuz, und versuchen, es abzuwandeln. Und auch solche Abwandlung ist schöpf erisch, sofern ein neues Individuum sich ganz mit einem Symbol vereinigt wie Giotto.

Ungleich schwerer hat es unser heutiges, gottloses Jahrhundert, sein Symbol zu finden. Alle Elemente hat es gegen sich entbunden, und nun steigen sie drohend, die Zauber- maschinen, und betören den Geist, der sie weckte. Es irrt der Mensch vom Gaurisankar hinab in die Täler, und beschwört den Wurm,

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ihm Bruder zu sein : aber Gebirge geistiger Exkremente trennen ihn von aller Erde, ohne die er doch zugrunde geht. Und so gibt er sich teils stumpfem, ideallos genießen- dem Materialismus hin, wie die letzten Im- pressionisten, oder er stürzt ohne Besinnung hinaus in den weglosen Kosmos und wird Expressionist, sucht nach Extrakt und Extrem und findet nicht Gott denn Gott ist fern: auf der himmlischen Erde. Altklug und gewitzt durch die Errungenschaften fortschrittlicher Väter, ist ihm, dem jungen, übermütigen Kapitalisten, die Gnade der Qual und des Kampfes versagt. Er kann, der Erbe, nicht mehr demütig sein, und das ist sein Schicksal. Mit allen Formen der Welt geht er um wie mit Spielzeug und Puppen, der verwöhnte Prinz, der sie nacheinander zerbricht, um zu sehen, was darin ist, und Sägespäne statt Ewigkeit findet. Auch sei man ihm nicht zu böse, wenn er skeptisch geworden ist und an nichts glaubt, weil er an zuviel glauben wollte.

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Der Expressionismus von heute ist die geradlinige Weiterführung und Tradition von Novalis und Hölderlin her. Heute wie zur Romantik: Kniefall vor dem Unfaß- baren, Auflösung des Ich, weil es durch wissenschaftliche Erkenntnis zu konkret und zu irdisch geworden. Die naturgemäße Flucht ins Extrem, da ringsherum der ge- harnischte Weltstaat sich breitmachte.

Expressionismus, dieser Name für einen unsicheren Begriff, diese noch immer un- geklärte Formel, für die noch kein großer Führer sich fand, die noch nach äußerlichen Kennzeichen hascht ; Expressionismus ist ein urdeutsches Wort. Man könnte ihn definieren : Entäußerung des Immanenten, sei es Verirdi- schung des Seelischen, sei es Entirdischung der Materie. Expressionismus = Auflösung bringt noch keine Erlösung. Er weiß, daß Chaos existiert, er rüstet sich klirrend zum Kampfj aber mit ungenügendem Glauben. Und solche Krisis macht seit November 191 8 das ganze deutsche Erlebnis durch. Man will

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Freiheit und Befreiung, aber ohne Opferung und ohne Demut. Man will Gleichsetzung mit allen Völkern, aber ohne von seiner Eigenheit, die Schuld und Fehl ist, zu lassen.

Im Moment, wo uns nottut, neue Wahr- heiten aus neuer Wirklichkeit zu schöpfen, neues Symbol aus neuem Gesetz aufzubauen, ist es des Expressionisten Sucht, Erkennt- nis wie Empfindung, alles zu leugnen, und jede Erfahrung, weil allzu tyrannisch, ab- zuschütteln. Nichts mehr ist wahr, nichts an ein Gesetz mehr gebunden. Das ermög- licht große Malerei und inspirierte Dichtung, wie wir sie seit Hölderlin und Holbein nicht mehr kannten, aber das führt zu keinem Weltsymbol. Das hat auch nicht den An- spruch, uns religiös zu machen. Und wir bedürfen dessen so sehr!

Einen Künstler verlangt die Zeit, der ein Bejaher und ein Wahrsager sei, ein Künder und Verkünder. Und das kann nur einer sein, der fest auf der Erde steht, ein Wisser und ein Heiliger, ein Demütiger und ein Ge-

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strenger. Es muß ein Formalist sein und ein Architekt. Es muß ein Gesetzgeber sein.

Ein solcher war Cezanne.

Keiner glaubt so an die Form wie der Lateiner. Der weiß von der Wohlbegründet- heit der irdischen Erscheinungen und maßt sich nicht an, es besser machen zu wollen als Gott. Er ist immer mit der Erde, seiner Erde, verwachsen und dient ihr. Seine nächste Pflicht ist der Nebenmensch: den muß er erhöhen. Vielleicht, daß er mit Sternekstasen nicht spielen kann wie der germanische Faust? Aber vor allem an- deren sind Rabelais, Cervantes und Balzac Menschen und dem Leben die Nächsten: solche, die an der Schlichtheit der Erden- dinge, an ihren Schwächen und Kleinheiten, die sie kurieren, groß werden, gütige Pre- diger, die Wunden heilen. Erbauer der Menschheit im doppelten Sinn des Wortes. Konstrukteure. Und aus demselben Ge- schlecht, das Descartes und Rousseau gebar, stammt auch Cezanne: Deuter der neuen

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Zeit, ein mathematischer, ein wissender Künstler.

Bis zu vierzig Jahren der anerkannte Maler des Scheins in der Welt, ,,wie wir sie sehen**, ein sehr guter Impressionist, wie mußte er mit sich kämpfen, wie mußte er sich stemmen gegen seine eigene Tradition, als ihm offenbar ward, daß Kunst nicht Nachahmung, sondern Schöpfung, daß das Weltleben nicht aus Anekdoten, sondern aus harten Wahrheiten besteht, aus Gesetzen. Und das oberste Gesetz aller Kunst wie allen Lebens ist die Einheit, die Harmonie. Ein Werk der Kunst darf nicht Ausschnitt sein eines Stückes Welt: es soll ein Ganzes in sich, mit eigener vegetativer Triebkraft, mit eigenen Regeln sein. Wie die Sonnenbahn der Erde ihre Gesetze von Licht und Nacht gibt, so zwingen die vier Kanten des Rah- mens das eingesichtete Erlebnis in neue eigene Formen.

Forderung war also: Neugestaltung, Um- gestaltung der Welt in ihrer künstlerischen

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Bildfunktion. Forderung und Pflicht, abzu- rechnen mit allen gestrigen und vorgestrigen Normen, sich selbst und den eigenen hei- ligen Boden zu zerwühlen, Schlünde auf- reißen und neue donnernde Gebirge türmen.

Cezanne wurde zum Gesetzgeber, aber nicht als Theoretiker (es gibt wohl nur fünf bis sechs Aussprüche von ihm, die auf die neue Kunst Bezug haben), sondern wie alle Großen, als göttlicher Bildner und Schöpfer. Aus dem gewirkten Bau strahlen die Form- gerüste. Überall, in jeder Leinwand, ver- kündet sich das bis in seine Tiefen erkannte Gesetz vom doppelten Rhythmus.

Auch in Cezanne ist viel kosmisches Ge- fühl und höchstes Empfinden: aber da er zu Menschen redet und nicht zu Engeln, kann ihm erst die Verbindung von Erde und Himmel das freiere Schweben und das stabile Verbleiben zwischen den Welten ermöglichen.

Doppelter Rhythmus: das ist die Ent- deckung jenes alltäglichen Geheimnisses im Weltgeschehen: vom Ja und vom Nein, von

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Männlich und Weiblich, von Tag und von Nacht. Indessen die Kunst hat die Aufgabe, mehr als Erkennerin, Deuterin zu sein und Erlöserin aus dieser Zweiheit zur göttlichen Einheit und Verschmelzung. Sie soll den Ausgleich finden zwischen Seele und Schwere, zwischen Physik und Metaphysik, Ver- quickung der Gegensätze, Verbindung und Verbrüderung des Größten und des Klein- sten, auf daß ein einziger Klang entstehe, ein Rauschen von unten nach oben und wieder hinab, eine Jakobsleiter, die die Geister der Menschen auf zu Gott und wieder zurück zur Erde leitet.

Solches hat Cezanne in seinem Werk er- strebt. Er hat ein Gesetz statuiert, das über- haupt aller modernen Weltanschauung zu- grunde liegt, nicht nur in der Kunst. Die Flamme der Einheit braust über die Mensch- heit. Aber zur Einigung und Vereinigung ist vorher Befreiung der Dinge an sich ge- geben, auf daß sich jedes einzelne besser ins Ganze schmiege. Neben der Sozialisierung

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der Menschen die Sozialisierung der Dinge. Ein gleicher Gedanke überall : Erlösung des Individuums zur endlichen Beglückung der Gemeinschaft. Notwendigkeit des Ineinander- f Heßens aller Einzelheiten in jenen doppelten Rhythmus, der sie aufrauschend in die eine ganze Welle weltlicher Harmonie empor- trägt. Kommunismus der Dinge. Freiheit aus sich selbst heraus.

Doch auch Cezanne erreichte nicht Letztes. Zur selbstlosesten Einfachheit, zu der gleich- zeitig hinabzusteigen war, konnte nicht er, der Greise, zurückfinden^ Auch er, der zwar sehend die Hand ausstreckte nach dem ge- lobten Land, betrat es nicht. Und so gab er der Welt ihre Bewegung, indem er es den anderen überließ, sich danach ihr Symbol zu schaffen. Das Gesetz fand er : mochten die Menschen nun danach leben! Die große, moderne, pantheistisch-panmenschliche Liebe, die alles und auch das Geringste und auch das Tote an ihr warmes Herz drückt, predigte er : Apostel sollten seine Idee verwirklichen lernen.

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Apostelschaft leistete ihm die ganze fol- gende Generation. Seines Geistes Werk war ein schwerer Fels ; es galt, ihn abzubröckeln, um daraus den neuen Dom der Mensch- heitskunst zu errichten. Und jeder seiner Jünger begann an einer anderen Seite. Jeder baute sich seine eigene kleine Kapelle und proklamierte sich als den Wundertuer. Denn die eine Wahrheit, die das ganze Leben be- deutet, ist vielfältig wie jenes. Jeder nahm das, was ihm lag, und machte daraus sein Wohnhaus. Momentlang erschien eine Idee wichtig und bedeutend, aber schon ver- kündigte ein anderer daneben eine ebenso schöne Wahrheit und ward erhört. Das meiste blieb Versuch, Umarbeitung statt Ver- arbeitung, Teilung statt Synthese und Kon- struktion. Da war der Futurismus, der Si- multaneismus, der Passeismus, der Kubis- mus, der Orphismus : alles Kapellen, Portale, Säulen, Türme der Kirche der Zukunft. Apostel, Heilige, Märtyrer und Revolutio- näre, in denen des Meisters Liebe glomm :

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aber brauchten nicht auch die gotischen Dome Jahrhunderte, bis sie fertig waren? Oder ist überhaupt einer je ganz vollendet worden ?

Da ist Andre Derain, der Gallier, vom formalistischen Dogma bezaubert, Künstler im höchsten Maß, der das Walten der ganzen Schöpfung in sich fühlt, Aristokrat des Den- kens und Verwalter der peinlichsten Ordnung : und doch selbst kein Opferer, nicht Schöpfer genug, um mit der Lanze die Wolken des Himmels zu durchstechen, doch nicht fähig, alles in einer Liebe zu umarmen. Fehlt ihm ein Stück Seele oder hat er deren zuviel und versteckt sie im Kerker der Gesetze? Wie sein Chevalier X., der sich hochernst-sati- risch über alles Gesellschaftliche hinweg- setzen will und nach der Transzendenz strebt, wagt er doch nicht, den gutsitzenden Cutaway auszuziehen und traditionelles Schauen letzt- hin zu verlassen. Alles schreit in ihm nach Erlösung: es bleibt beim Schrei.

Pablo Picasso und Georges Braque wissen

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eher, welche Entsagungen die neue Religion fordert. Sie sind wie jene Heiligen des Mittel- alters, die, nach den äußeren, menschlichen Triumphen des Christentums, voll Ekel und Scham vor irdischer Uberhebung, über das Gebet: die Demut, über die Liebe: die Hingabe setzten. Sie zogen wie Franz ihr letztes Hemd aus und gaben ihr letztes Brot hin, am eige- nen Leib das Leiden der Dinge zu erfahren. Sie vernichteten die bisherigen Formen, die mühsam errichteten Klöster, in denen von Farbsymbolik und perspektivischen Regeln gepredigt wurde, sie gingen hinaus auf die einsame Landstraße fern aller Brüder, um den Vöglein und Blümlein des Alltags sich zu vermischen. Vor den kleinsten, unschein- barsten Objekten beugten sie sich und rich- teten an diese ihre Gebete. Was der moderne Mensch der Städte so liebt wie die Vögel und die Wälder: die Mandoline, ein Plakat oder eine Zeitung, verdiente ihre allertiefste Ach- tung: so unaussprechliche Hingabe, daß sie sie ganz in ihrem eigensten Wesen und Sein,

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WO es anging, in das Bildwerk hinüber- nahmen, ein Stück Tapete oder den Deckel einer Sardinenbüchse einfach ins Bild klebten. Kunst wurde für Picasso und Braque, deren Forderung mehr als Bildmalerei und Lebensuntersuchung, mehr als Objekt- wiederholung oder gar Subjektivierung der Objekte war : Kunst ist für sie elementarstes Schöpfen : geradezu Objekterzeugung. Da- durch, o ganz unscheinbar, greifen sie am tiefsten ins Kosmische hinein, indem sie das Niedrigste und Allergeringfügigste Gottes wert erachten. Ihnen liegt nicht daran, wie der Expressionist hymnische Gewölbe, ins Unermeßliche geschwungene Kurven zu for- men, in die man wolkig-schwebend seligste Promethenträume hinaussegeln läßt : sie sind handfeste Handwerker im allerniedrigsten Staube der Erde. Sie streben nicht wie jene, philosophische Ewigkeitswerte ins Zeitliche hinabzuzerren : sie gelangen zur göttlichen Offenbarung, indem sie die sterbende Se- kunde, das haltlose Molekül, das bettelnde

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Irdische in ewige Klarheit versetzen, ihm einen stabilen Halt in dieser unserer mensch- lichen Begriffswelt verleihen.

Auch sind sie freier und ungehemmter als der in die ,, Natur*' noch verstrickte Meister Cezanne. Sie entkleideten sich ja ganz. Sie zerstampften den Boden, aus dem sie ge- wachsen: ihre Bilder haben keinen ,, Hinter- grund*^ und ihre Lichter und Schatten kehren sich an keine gesetzmäßige Quelle (man kann nie sagen, woher sie fallen). Das Bild, das neu erschaffene Schöpfungswerk hat seine eigenen, persönlichen, immanenten Gesetze; sämtliche Außenwelt, von der es höchstens einen Namen annimmt, geht es nichts mehr an. Hier waltet Cezanne. Aber selbst der seine Generation in allem weit überflügelnde Picasso bewältigte noch nicht die restlose Pflicht der Gesetze. Selbst er kam nicht zur allein seligmachenden Harmonie. Einheit fehlt auch ihm. Die Dinge ,,sind da**, aber nicht, wonach wir so bitter verlangen, nicht das Symbol, die Form, in die jeder sein

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Erlebnis hineinsteigere, das Kreuz, an das sich jeder ohne Überlegung schlagen ließe. Immerhin bleiben bis jetzt Picasso und Braque die zwei höchsten Türme im werden- den Dom der neuen Kunst. Andere Figuren und Heilige stehen noch in den abgelegenen Kapellen und Nischen; sie schmücken das Gewölbe, ohne es zu tragen. Henri Matisse, der in entirdischtem Raum seine irdischen Gestalten engelhaft tanzen und schweben läßt. Robert Delaunay, ein wahrhafter Go- tiker, der mit verzückten Gesten und wirrem Gebet, wirr wie die Melodien der Eisen- brücken und Autobusse, alles verwandelnd, alles, doch nur für den Augenblick, er- schütternd, aus der unwahren Wirklichkeit aufzuckt. Metzinger, in dessen Stimme Ozeane rauschen und die vom Menschen eroberte ge- schlagene Welt. Marie Laurencin, schwebende Orchideengestalt, lächelnde, gütige Frau und Freundin : Verkündigung, daß auch dem Stein und dem Geist Frühlinge und duftende Tänze bestimmt sind.

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Aber irgendwo in einer Einsiedelei, im ärmlichen Mietszimmer der Pariser Banlieue, da war der ergebenste der menschlichen Liebe, da schuf der demütigste Bruder Frank- reichs, fern dem großen Neubau, das herr- lichste, das heiligste Werk im Sinne des Herrn. Henri Rousseau, der ehemalige Zoll- beamte, dieser Mann des Volkes mit der para- diesischen Seele fand in dem fast photo- graphischen Antlitz der Wirklichkeit, des kleinen bürgerlichen Erlebens jenes Etwas, das das Geheimnis Jehovas war: grenzen- lose Inbrunst in jeglichem Augenblick mit jeglichem Individuum. Diese Güte, die nur das Kind und das Volk kennt, dieser fabel- hafte Glaube an die Schönheit des Seins und an seine gesetzliche Wahrhaftigkeit, die be- wirken konnten, daß dieser einsamste, ver- lassenste und verkannteste Mann seines Jahr- hunderts die Märchenlandschaft des ,,Reve'* mit Palmen, Lianen und Kolibris, oder die unerhört ewige Langeweile und Sehnsucht von Fortifikationen bis in Schöpfungstiefen

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erfaßte, stellen diesen simplen und naiven Menschen über alle Theorie der Geistigen. Seit Giotto bekam das Volk kein größeres Geschenk. Und daß der Kniefall und die Demut, die wir in bildlichem Sinn an Picasso und Braque liebten, sich so restlos verwirk- lichen können, daß Rousseaus moderne und ewige Gemälde ungeniert und mit ebensoviel Zweck über der Schlafstelle des Tagarbeiters wie im Louvre ihren Platz ausfüllen, das erklärt zum erstenmal wieder, was Volks- kunst ist.

Natürlich arbeitet indessen die offizielle Kunst- Kirche an starrer Gesetzgebung weiter. Der Weg ist markiert. Es gibt kein Abirren. Päpste werden regieren, bis in fernste Alter hinein. Die Neue Kunst ist formal geworden, das bedeutet, sie bindet sich äußerlich, um wirklich freier zu werden von der tyranni- schen, bisher alles bannenden ,, Natur". Es gibt Revolutionen, aber es gibt keine rest- losen Freiheiten. Es gibt freie Geister, die den Unterdrücker stürzen, aber auch sie

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müssen ihre Macht in Gesetze kleiden. Und das Gesetz ist irdische Form. Die französische Kunst hat wieder einmal für Europa die Bahnen gebrochen. Die Linie geht über Picasso weiter. Sie senkt sich immer tiefer in die Erde, sie sucht die Ekstase tief drunten im Reich der einfältigsten Wirklichkeit. Sie wird vielleicht zunächst sehr streng und banal, allem Seelischen fremd, ihre Gram- matik erfinden, eh sie die großen Epen dichtet. Das bedeutet aber, daß es ihr ernst ist. Sie wird lange Zeit, eh sie mit Schlangen und Engeln Zwiesprache hält, mit der Horizontalen als solche kokettieren, das freudige Rot als Farbfleck für das Lächeln des Kosmos halten. Das wird nötig sein. Und der Gläubige wird gedulden und an diese Lehre glauben, um so ruhiger, wenn Versprengte wie Rousseau den Zwischenakt mit göttlicher Wahrsagung ausfüllen.

IIL

Der Geist Mallarm^s

Eine neue Ästhetik der Kunst, Häutung des Herzens wie der Epidermis, Ände- rung des Sinnes und der Formen des Lebens gehören zu den erschütternden Krisen der Menschheit. Krieg ist ein passives Mittel des Schicksals. Revolution allzuoft nur eine Magensache. Aber neuer Symbole, neuen Geistes Entfaltung sind wie der Donner heranrauschender Wahrheitsflut.

Der moderne Franzose erlebt das, ohne es zu wissen. Er schnarcht noch im antiken Rhythmus der ,,Sambre et Meuse*/ und kann darüber das Rauschen der Sterne nicht hören. Ein Feind will ihm an die Kehle : die Wahr- heit, und dagegen wehrt er sich mit seiner täglichen Waffe, der Zeitung, und mit der

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pathetischen Geste der Alltagsphrasen. Und die Dichter dieses Bürgers lassen gelinde solchen Mord geschehen. Die Academie Frangaise sanktioniert das Gebaren und verteilt Preise dafür.

Noch unvergessen ist das romantische Jahrhundert. Noch weht der emphatische Mantel Hugos, noch promeniert man in den ornamentalen Landschaften der Parnassiens, und selbst die einst so revolutionär tuenden Symbolisten und Verslibristen haben die Rampen des klatschenden Publikums er- klettert. Dies aber, in der Bilanz des neun- zehnten Jahrhunderts, ist schon alles Re- quisit und Kulisse geworden: die exotische Sehnsucht Mussets nach blauen Lagunen und schmachtendem Grenada, die stürmische Pracht der ,, Orientales''. Tenöre, die sich die Träne aus dem melancholischen Auge zupfen. L^art pour l'art : eine kapitalistische Anlage. Und späteren Dichtern ist die Metapher und die Musik wichtig. Innerstes Wesen der Kunst: Weltverwandtschaft wird ganz übersehen.

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Nur wenige Geister leiten die Linie la- teinischer Klassizität über das neunzehnte Jahrhundert hinweg: Flaubert und Daumier. Ihre erdgeborene, erdgebundene Geistigkeit hat keinerlei Kontakt mit ihrer Umgebung, und ihre Werke sind überzeitlich und passen in kein Cenakel. Das macht, daß sie von der großen Tradition sind, daß sie nicht die Knechte der Manier geworden. Beide lieben innerlich die Materie, aus der sie schaffen, um ihrer selbst willen, wie man einen Men- schen um seiner selbst willen lieben soll. Beide wissen noch : Kunst ist Ausdruck des Lebens, und nicht Umkleidung mit Formeln. Ihre Kunst weiß, daß nichts Ewigeres ist als die materielle Wirklichkeit, und dieser dienen sie, nicht als Sklaven, sondern als Priester.

Ihnen zu Nachfolgern gibt man den Na- turalismus und Realismus. Welche Ver- wechslung! Während jene Großkünstler ge- banntes Leben: Symbole, aus den kleinen Leiden der Langeweile und des Alltags schufen, nicht ohne das gallische sarkastische

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Lächeln des Allesverstehens um die Lippen, gaben die Naturalisten wohl gute Dokumen- tation und führten weise Polemik: sie dienten der Zeit, aber nicht der Kunst. Ihr Schaffen war fast genau so Selbstzweck wie Tart pour Tart. Und sind uns heute ihre asphaltenen Hinterhöfe und Kokottenbars nicht genau so sentimentalische, unerträg- liche Kulisse geworden wie der Romantiker Lindenbaum und Postillon? Ihre Wirklich- keit war nicht mit Herz und Seele gestanzte Wahrheit geworden.

Verfehlt wäre gewiß ebenso, die heutige neue Kunst unmittelbar mit einer Epoche zu verknüpfen. Gleich sei es gesagt, sie hat viel mehr Verwandte im siebzehnten oder im dreizehnten Jahrhundert als in den letzten. Aber sie hat das mit Daumier und Flaubert gemeinsam, daß sie in der Aufrichtigkeit spekulationslosen Daseins ihr Schöpfertum erfüllt.

Die Sprache des neunzehnten Jahrhunderts ist schlaff und durch allzu großen Verbrauch

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wertlos geworden. Die einzelnen Worte haben ihren intimsten Gehalt verloren, wie die Münzen, die auf dem Markt herum- gereicht wurden. Wer ist noch so müßig, am Duft einer fallenden Silbe Gefallen zu finden, wer so begnadet, aus dem Klang: Gold oder Or maurische Tempel oder die Sonne von Kolorado erstehen zu lassen? Am wenigsten die Dichter, die sich gerade an solchen Delikatessen die Seele gründlich verdarben. Wer, der heute ,, Stern** sagt, und gar noch im Reim, vergegenwärtigt sich das erschütternde Geheimnis, das millionenfach, und über den niedersten Kehrichthaufen ge- wölbt, ein Nachthimmel in sich birgt? Das Wort verlor seinen Geschmack, und ihm diesen zurückzugeben, wurde die Aufgabe des neuen Dichters, bevor er sein neues Er- leben gestaltete. Das wurde das Problem, an das jener mit heiligem Bewußtsein heran- ging, der zum Erzieher der kommenden Ge- neration ward: Mal lärme, der Cezanne der Dichtung.

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Das Wort wurde seine Urmaterie, der Keim seiner Welten. Ihm galt die ganze Aufmerksamkeit seiner Tage : wie einen ge- liebten Stein ließ er es funkeln, einen Fa- cettenspiegel, in dem er die fliegende Sternen- seele einfangen sollte. Jedes Wort, so wichtig wie die ganze Idee eines Gedichts, da es ihre Verkörperung galt, mußte um und um durch- schaut und erkannt sein. Das Wort bedeutete für das Gedicht dasselbe wie das Individuum für die Gemeinschaft des Volkes. Auf also entlegenem Pfad trifft sich Mallarme mit den Neo-Individualisten der Zeit. Das Wort wurde zur eigenen Persönlichkeit erhoben, mit eigenem Gesetz ausgestattet, und gleich- sam zum Aristokraten erzogen (Aristokrat im Sinne Montesquieus, als Quintessenz und Sublimierung der Masse) ; das Wort wurde vollwertig und an seinem Platze un- ersetzlich (was ebenfalls das demokratische Prinzip ist gegenüber der Sklaventheorie, daß niemand unersetzlich sei) . Es sollte vibrieren als der Grundklang der allgemeinen Melodie,

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und mit ganz eigener Lebensbestimmung, jedes in sich, Träger des Orchesters sein (was die endgültige Auflehnung ist gegen ein so engherzig-oligarchisches Prinzip wie das des allein wertgeltenden wagnerischen Leit- motivs).

Die ganze Liebe Mallarmes galt dem Wort, wie der Maler sich immer mehr der Linie als Persönlichkeit zuwendet. Erst in dessen vollendeter Befreiung sah er die Möglich- keit zu neuem Aufbau : ohne das befriedigte Einzelgeschöpf konnte es keine glückliche Einheit geben. Ja, mehr, dem allzu be- schwerten Wort zuliebe verlor der Vers an Schwung, das Gedicht an Impuls. Nimmt man irgend ein Sonett von ihm: da stehen die Worte, starre, leuchtende Karyatiden, und tragen des Schicksal-Poems unabwend- bare Konstruktion : und man muß jedes ein- zelne wieder aus sich selbst befreien, bis in der Gesamtidee tieflaufenden Portikus Ein- blick erzielt wird.

Mallarmes Wort, und das ist des Kunst-

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lers namentliche Errungenschaft, stellt sich nicht mehr dar als nur Klang und Artiku- lation, das Wort, das Kunst gebiert und Kunst ist, wird zu einem realen Neuwert, der Dichter erschafft ein Gebilde, das vor ihm in keiner Weise da war. Das Wort wird Substanz. Es ist nicht mehr da, als Mittel zum Zweck, um Begebenheiten, Gegeben- heiten der Natur nachzuahmen, zu schil- dern, zu kopieren, wie landläufige Literatur es versteht, als Tauschmittel zwischen den seelenstummen Menschen das Wort des Dichters wird. Es entsteht wirklich Schöp- fung. Etwas, das noch nie da war, schreit zum erstenmal in der Welt. Etwas ganz anderes, als die gewohnte Staubhülle alles schillernden irdischen Seins. Der Dichter nimmt das Wort aus seiner Muttersprache; es ist wohl Sprache, Materie, aber die Kunst verarbeitet diesen Urstoff in ein göttliches Gebild ; ganz wie der Sand, aus dem der Glasbläser durchsichtigen Kristall formt, durch den die Sterne schimmern können.

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Der Dichter wird zum Narziß, der über die Welle sich beugt, und dort in der Ekstase nicht seine Augen, sondern den wandernden Himmel darin erschaut.

Er hat einige Aussprüche ,,Uber den Vers** getan, die seinen Willen zu solchem be- stätigen :

,,Ich sage: Blume!, und schon ersteigt, fern allem Vergessen, in das meine Stimme alles Tatsächliche senkt, als etwas ganz anderes als die bekannten Samenbecher, in musikalischer Wesenheit, vollblütige Idee in sich, etwas allen Blumensträußen Enthobenes.

,,Der Vers, der aus mehreren Vokabeln einen ganz neuen, der Sprache unbekannten und wie durch Zauberformel entstandenen Ausdruck schafft, erfüllt die Einmaligkeit des Wortes : mit einer unwiderstehlichen Gebärde streift er von den Ausdrücken alles Zufällige ab, das ihnen trotz der in Sinn und Ton- fall zuteil gewordenen Umformung haften geblieben ist; er überrascht uns damit, daß wir wähnen, einen derartigen Wortgebrauch

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nie vernommen zu haben; und gleichzeitig sehen wir das betreffende Ding wie von einer neuen Atmosphäre umgeben.

,, . . .So kommt es, daß das Prinzip an sich, also der ,Vers' durch seine eigenwillige, nur auf sich bedachte Ausstrahlung die tausend Wesenheiten der Schönheit nur einen Moment strahlen sie und sterben schon in einer rapiden Blume, in ätherhafte Durch- sichtigkeit gebadet vereint und erlöst und zwingt, ihm zu dienen und sich in ihren höchsten Wertmöglichkeiten zu entfalten. Das bedeutet (trotz dem Abgrund geistiger Unmöglichkeiten), daß €S etwas jeglichem Ding zugängliches Göttliches gibt, einen heiligen Zähler für unsere Apotheose. Daß der ,Vers* letzten Endes nicht da ist als Formmodell für die seienden Dinge, sondern von diesen, um das Nichts, das er ist, zu be- leben, alles Verstreute, Verkannte und Zer- flatternde, je nach seinem Gehalt, gebraucht und sich zurecht schmiedet. . . .**

Es mußte eine neue Jugend kommen, die

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alles zu verlieren und alles hinzugeben hatte, um sich so reiner Kunst wie die Mallarmes zu verschreiben. Das durfte kein impressio- nistisch-verwässertes Zeitalter sein wie jenes, dem Mallarme sich, wie Cezanne, zu ent- winden hatte, und das übrigens zu den seichtesten des französischen Esprit gehört.

Der Dichter mußte wieder ein geistiger Mensch sein, verantwortlicher Priester seiner Gemeinde, von einer Sendung erfüllt; an Stelle der Inspiration trat die Emotion, nicht subjektive Empfindung, sondern das Wissen um das empfindsame Objekt als Teil und Immanenz Gottes, der im All sich bewegt. Guillaume Apollinaire gelang wieder dies Unerhörte : aus Substanzen der Wirklichkeit Essenzen der Ewigkeit zu keltern.

Weitergreifend als Mallarme sah er den Vers statt des Wortes als Einheit an und machte sich so auch gleich verständlicher. Jede Zeile bei Apollinaire ist ein Leben für sich, abgerundet und abgeschlossen, eine Straße, ein Mensch, eine Landschaft: aus

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solchen Gefügen ballt sich dann ein Gedicht und weitet sich zu einer Welt, einem Kosmos, wie wir sie ja ,,im Leben** gewöhnt sind. Was sich uns bietet : Hafen, Fabrik oder Interieur, besteht aus Tausenden von Leben und Per- sönlichkeiten. Der Künstler soll nicht min- der einseitig bleiben. Man wird einmal die Geschichte der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts von der Dichtung ,,Z6ne", Apollinaires Meisterstück, datieren. Und man wird den Sänger unserer Zeit nicht mehr anders nennen, als den ,,Musicien de Saint- Merry**, wie der Dichter selbst sich besang. Bisher war der Vers Verschönerung, illu- sionistische Umschreibung, Nachahmung der Welt: aber der neue Dichter sieht ein, daß die Kunst eine andere Aufgabe hat, als ,, schön*' zu sein, nämlich : zur außerordentlichen Wahr- heit zu führen. Apollinaire nicht allein, eine große Schar mit ihm versucht einen neuen Standpunkt zu gewinnen, und in verschie- denen Zeitschriften (Les Soirees de Paris, Nord-Sud, Sic) wird eifrig nach der Zauber-

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formel gefahndet. Max Jacob, Blaise, Cen- drars, Vincent Huidobro und einige mehr gehen hinter das Leben, um es zu finden. Sie überschreiten die Wirklichkeit, um sie besser zu übersehen. So kommt es, daß ihr Führer Apollinaire sich den Namen ,, Über- realismus'* erfand. Das Kunstwerk soll die Realität überrealisieren, das ist erst Poesie, was er auch von der Unwirklichkeit zu sagen weiß, die über allem Ding schwebt.

,,L*art doit etre une creation et non une representation.**

,,L*art commence ou finit Timitation.*'

,,Jusqu'a nous l'art etait un parasite de la realite : le poeme doit etre lui-meme son suj et. * *

So lautet die Poetik dieser jungen Franzosen, die mit unermüdlicher und selbst bwußter Ener- gie die Brücken hinter sich verbrennen und aus dem großen, gesetzlosen Chaos des Lebens ihre eigenen Kunstregeln holen. Es handelt sich für sie nicht mehr darum: ,, gebundene Rede**, ,, Verse*' zu schreiben nach grammati- kalischer und boileauscher Handwerkerkunst ;

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ihre Technik besteht darin, das Leben an sich, in substanzia, zu versinnbildlichen, so ehrlich und einfach wie möglich. Äußerlich erscheinen daher oft die Gedichte wie ein Chaos von Trivia- litäten, seltsamen Vergleichen und Gefühls- überschwängen; keine ganzen, fortlaufenden Sätze, manchmal nur Silben, abgerissene Bil- der : aber wenn es möglich wäre, täten sie wie ihre Brüder, die Kubisten, und würden am lieb- sten Zeitungsausschnitte oder Postkartenland- schaften in ihr Buch kleben. Apollinaire hat diesem Trieb sogar so weit nachgegeben, daß er in seinem letzten Versband ,,Calligrammes'* durch Über-, Unter- oder Nebeneinander- reihung von Wort und Silbe einen Spring- brunnen, einen Eisenbahnzug oder sogar Regentropfen auch bildlich-typographisch zu vergegenwärtigen sucht.

Jedes Gedicht folgt so seinem eigenen Ge- setz wie Cezannes Bild ,,Le poeme doit etre lui-meme son sujet^'. Hier werden nicht mehr Sätze und Metaphern geformt, sondern Dinge aus Worten, Leben aus Klang. Der Mensch

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im Drama äußert nicht nur das, was er will, was er im Umgang sagt, sondern alles, was hinter seiner Stirnmaske steckt, auch alles, was ihm selbst nicht bewußt wird. Der Dich- ter ist dazu da, zu künden, v/as nicht im Wirklichen liegt, das Überreale.

Der neue Mensch baut neue Gesetze. Und dies sind weit wichtigere als die von den zwölf Silben und dem Hiatus im Alexan- driner. Aber sie bereiten auch besser die geist- frohe Zukunft vor als jene gesetzlosen Rich- tungen: vager Expressionismus, anarchisti- scher Dadaismus. Mit oder ohne Interpunk- tion, mit oder ohne große Anfangsbuchstaben, mit oder ohne Publikum: diese Kunst, die sich zur Aufgabe macht, die halbe, die illu- sionistische, anekdotische und nur doku- mentierende Literatur, die der physiologi- schen und sozialen Romane und der abend- füllenden Dramen und Sittenkomödien zu stürzen, diese Kunst, die das Zeitliche mit dem Überzeitlichen, Mensch mit Gott zu verbrüdern sucht, die ist die unsere.

Tribüne

der

Kunst und Zeit

Eine Schriftensammlung

Herausgegeben von

Kasimir Edschmid

Berlin Erich Reiß Verlag

Daß schon vor Jahren Ansätze bestanden zu einer Bewegung, die auf neues Welt- gefühl aus ist in den Künsten, das ist be- kannt. Daß die Bewegung durchdrang, weiß jeder. Es wäre Albernheit, hier noch Fanfaren zu blasen. Dringlicher erscheint es heute, wo jeder Greis ,, Stellung nimmt**, jeder Jüng- ling Unerträgliches schwärmt, den ganzen Komplex zu überschauen: woher das Neue kam, wohin es will keine Schlagworte zu prägen, sondern besonnen das Eigentliche zu sagen nicht rückwärts zu referieren, nicht zu wiederholen und auf keinen Fall zur Theorie zu kommen . . . sondern auszusagen, zu bekennen, darzustellen, zu wünschen und zu postulieren und so bei aller Weit- heit des Rahmens dennoch zur Rundheit zu kommen. Nie stand der Künstler so mitten in der Welt wie heute. Nie lief in so un- geheurer Tragödie die Veranwortung so bin- dend zwischen ihm und der Zeit. Vom Künstler aus gesehen, mit der Kunst als Zentralproblem, wird jede Darstellung heu- tiger Ziele eine Darstellung der Zeit: Poli-

tisches, Religiöses, Forderunghaftes mischen sich, kaum zu trennen, ja unlösbar mit den Fragen der Kunst. Künstler mit ihrer Kon- fession, Gelehrte, die Sachliches dichterisch zu sagen wissen, Essayisten, die nicht spie- lerisch ,, zerfasern", sondern produktiv im eigentlichen Sinn der Kritik aufbauen, schrei- ben hier an einer kleinen Geschichte unserer Kunst und unserer Zeit.

Bisher sind erschienen:

Kasimir Edschmid: über den Expressio- nismus in der Literatur und die neue Dichtung

Wilhelm Hausenstein : über Expressio- nismus in der Malerei

Theodor Däubler: im Kampf um die mo- derne Kunst

Walter Müller- Wulckow: Neue Archi- tektur

Paul Bekker: Neue Musik

Max Krell: über neue Prosa

Iwan GoU: Die drei guten Geister Frankreichs

In rascher Folge werden u. a. erscheinen:

Kurt Pinthus: Das neue Theater

Kurt Hiller: Aufruf an junge europäische

Genies Friedrich Markus Hübner: Philosophi- sche u. moralische Grundlagen neuer Kunst Alfred Wolfenstein: Neue Lyrik Willi Wolfradt: Heutige Plastik Gustav Hartlaub: Neue Graphik Fritz von Unruh: Das neue Drama Rudolf Leonhard: Gespräche über heutige Jugend und Kunst

Subskriptionen und Bestellungen

nimmt jede Buchhandlung oder der

Verlag entgegen

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