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Die Erlöſerin.
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Zweiter Band.
Die Erlöferin,
Roman
Fanny Cewald.
Zweiter Band.
Das Recht der Ueberſetzung iſt vorbehalten.
Berlin, 1873. Druck und Verlag von Otto Janke.
Erſtes Capitel.
Emanuel hatte ſich bei ſeiner Reiſe nur die un⸗ abweisliche Ruhe gegönnt, und doch war an den glück⸗ lichen Ufern des Genferſees der Frühling ſchon im Erblühen, als er ſein dortiges Landhaus wiederſah, denn die Beförderungsmittel waren auch für den Be— güterten, der mit Extrapoſt nach eigenem Ermeſſen reiſte, noch ſehr unvollkommen. Aber ſelbſt der er⸗ freuliche Abſtand zwiſchen der eiſigen Starrheit des nordiſchen Winters und dem lieblichen Erwachen einer ſüdlicheren Natur vermochte diesmal nicht, ihm das Herz zu löſen und den umdüſterten Sinn zu erheitern.
Er hatte es vermieden, die Gräfin wiederzuſehen, ſondern ihr nur angezeigt, daß er das Schloß verlaſſe, und ſich dabei mit ſchwerer Anklage gegen ihre un⸗ berufenen Eingriffe in ſeine Verhältniſſe und Plane ausgeſprochen. Sie hatte darauf ihre Handlungsweiſe zu rechtfertigen, eine Ausgleichung und Verſtändigung herbeizuführen verſucht, Emanuel war jedoch für eine ſolche Ueberredung in jenem Augenblicke noch nicht
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 1
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zugänglich geweſen, und des Pfarrers Abſicht, den Frieden und die Eintracht in der gräflichen und der freiherrlichen Familie auf Koſten ſeines Kindes zu er— halten, war damit mißglückt.
Das Opfer, welches er der Tochter auferlegt, hatte Niemandem gedient, als nur der Gräfin, der es ge— lungen war, ihre Abſichten in jeder Hinſicht durch— zuſetzen. Nicht nur die Verbindung ihres Bruders
mit der Pfarrerstochter war verhindert, ſondern auch Miß Kenney und Hulda waren, wie die Gräfin es gewünſcht hatte, für die nächſte Zeit zu einander ge⸗ führt und an einander gebunden worden, ohne daß die Gräfin nöthig gehabt hätte, darauf mit beſonderer Beſtimmung einzuwirken. Miß Kenney hatte aus eigenem Antriebe erklärt, daß ſie unter den obwalten⸗ den Umſtänden Hulda nicht ſich ſelber überlaſſen könne, daß ſie es vielmehr als eine Pflicht erachte, in des ihr theuren Mädchens Nähe zu verweilen, bis es ſich ge— faßt und in ſich ſelbſt zurechtgefunden haben werde. | Es war aber ein ſtilles und freudenarmes Leben, das Hulda nach ihrer Geneſung in der Pfarre führte. Das Frühjahr war wiedergekommen, die Kirſchbäume blühten wieder ſo wie ſonſt, indeß Hulda's weißes Kleid flatterte nicht ſo luſtig als im verwichenen Jahre zwiſchen den blühenden Bäumen auf der ſtraffgeſpannten Leine, und man rüſtete ſich nicht mehr auf den Feſt⸗ beſuch der Gäſte aus dem Amte, die ſonſt in jedem Jahre gekommen waren. Hulda ſaß ſtill und einſam in ihrer Trauerkleidung bei der Arbeit, und wenn ihre Wangen ſich auch wieder gerundet und geröthet hatten,
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jo blickten ihre Augen doch nicht mehr mit der hoff— nungsvollen Neugier der Kindheit und der friſchen Jugend in die Zukunft. Das Gewicht ihrer Erinne⸗ rungen hielt ihre Gedanken an der Vergangenheit feſt, und kein Tag verging, an dem ſie ſich nicht fragte: „Habe ich das Alles denn erlebt? und wenn ich es erlebte, wie konnte es vorübergehen gleich einem Traume? Wie kann er ferne von mir bleiben, da mein Herz ihn ruft zu jeder Stunde, da ſein Ring es mir ſagt und immer ſagt: „Halt feſte, wie der Baum die Aeſte, wie der Ring den Demant, Dich und mich trennt Niemand.“
Das Pfingſtfeſt ſtand wieder vor der Thüre, aber weder Hulda noch der Vater hatten daran denken mögen, Mamſell Ulrike zu beſonderem Beſuche auf⸗ zufordern. Sie hatte immer, wenn ſie gekommen war, dem Pfarrer ſowohl als Hulda wehe gethan mit ihren Andeutungen wie mit ihren Fragen, mit ihrem Bemit⸗ leiden wie mit ihrem Tröſten.
Nur der Amtmann ſprach wie früher mit ver— trauensvoller Freundſchaft in der Pfarre vor, wenn ſeine Geſchäfte ihn des Weges führten, und Miß Kenney, welche nach Hulda's Geneſung ihre Wohnung in dem Gartenflügel des Schloſſes wieder bezogen hatte, kam zum Oefteren zu ihren Freunden, da der Amtmann ihr auf Anordnung der Gräfin ein kleines bequemes Fuhrwerk zur freien Verfügung hatte ſtellen müſſen. ö
Hulda ging niemals nach dem Schloſſe, wenn ihre alte Freundin ſie nicht ausdrücklich dahin beſchied.
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Sie mochte den Vater nicht verlaſſen, mochte Mam— ſell Ulrike nicht unnöthig begegnen, und die Stätten, an denen alle ihre Erinnerungen hafteten, ſtanden ohnehin immerfort vor ihrer Seele. Wenn nicht eine Liebespflicht ſie in das Dorf rief, kam ſie oft die ganze Woche hindurch nicht über den Bereich ihres Gärtchens hinaus. Sie hatte draußen Nichts zu ſuchen, ſie hatte auch gar Nichts zu erwarten. Und doch wartete ſie und wartete von Tag zu Tag, und wie lang ihr die einzelne Stunde auch wurde, die Tage ſchwanden in ihrer unterſchiedsloſen Eintönigkeit ihr ſo raſch dahin, daß es ſie verwunderte, wenn die Kirchenglocken wieder den Sonntag einläuteten, und wieder eine Woche um war, ohne daß eine Kunde zu ihr gekommen war von ihm, der ihr die Welt war, ihre ganze Welt.
Die Gräfin hatte dem Pfarrer nach der Herſtellung ſeiner Tochter noch einmal geſchrieben, ihn wiederholt für die verſtändige Selbſterkenntniß und Selbſtbeſchrän⸗ kung zu beloben, mit denen er in dieſem Falle ge⸗ handelt, und ſie hatte ihn dabei verſichert, daß er und ſeine Tochter in allen Fällen auf ſie und auf den Beiſtand der beiderſeitigen Familien rechnen könnten. Wenn Hulda etwa Plane und Wünſche für ihre Zu— kunft hegen ſollte, für welche ſie einer Förderung be— dürfe, ſo brauche ſie dies nur auszuſprechen, um der Gewährung ſicher zu ſein. Indeß Hulda hatte keine Pläne, keine Wünſche außer dem einen, dem Niemand mehr als eben die Gräfin entgegen war. Ihre Auf- gabe lag eng begrenzt vor ihren Augen. Selbſt die leidenſchaftliche Sehnſucht, die ſie gerade in Augen⸗
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blicken der tiefſten Entmuthigung hinausziehen wollte in das Leben und in die Welt, in welcher der Geliebte lebte, in welcher ein Zufall ihn ihr entgegenführen konnte, hatte ſie in ſich wie eine Sünde zu unter⸗ drücken. Denn Befreiung aus den Banden, welche ſie an dieſe Stelle feſſelten, konnte ihr nur der Tod des Vaters bringen — und ſie erſchrak vor ſich ſelber, wenn ſie ſich mit ihrem hoffenden Gedanken unwillkürlich auf dem Wege antraf, der jenſeits ſeines Grabes für ſie anfing.
Arbeit, fleißige Arbeit, das war die Stütze, an welche ſie ſich jetzt allein zu halten hatte, und das tüchtige Wiſſen ihres Vaters wie der Schatz von Sprach— kenntniſſen, welchen ihre alte Freundin ſich angeeignet hatte, kamen ihr weſentlich dabei zu Hilfe. Die Ar⸗ beit bewahrte ſie vor dem Verſinken, aber ſie konnte ihr doch die Flügel nicht verleihen, ſich in fröhlichem Aufſchwunge zu jenem unabſehbaren Hoffen zu erheben, wie die Jugend es bedarf, und wie das Leben in wei— ten wechſelnden Bereichen es ſelbſt Demjenigen er⸗ möglicht, der ſich die Kraft dazu verloren glaubte.
Zweiles Gapitel.
Konradine war glücklicher daran als Hulda.
Sie hatte bei ihrer Ankunft in der Reſidenz die Ernennung zur Stiftsdame bereits ausgefertigt vor⸗ gefunden und ſich augenblicklich zur Abreiſe in das Stift angeſchickt, um, wie das Ordensgeſetz es heiſchte, die erſten ſechs Monate nach der Ernennung in der Stille deſſelben zuzubringen.
Es war ihr ſonderbar zu Muthe geweſen und ſie hatte in gezwungener Faſſung die Zähne aufeinander⸗ gepreßt, als ſie zum erſtenmale verſuchsweiſe das ſchwarze wollene Kleid mit der dicken Gürtelſchnur und den weiten Aermeln, das weiße Buſentuch, die dichte, vielfaltige Haube mit dem ſchwarzen Schleier angelegt, und das Ordenskreuz auf ihrer Bruſt bes feſtigt, welche ſie während der Monate zu tragen hatte, die ſie in jedem Jahr in dem Stifte verweilen mußte. Aber ihr eigenes Bild überraſchte ſie, wie es ihr aus dem Spiegel dann entgegentrat. Die Regelmäßigkeit ihrer Geſtalt und ihrer Züge erſchien ernſter und rei⸗ ner in der ſtrengen dunklen Tracht; für ihre hellen,
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klaren Farben, für ihr röthlich ſchimmerndes Haar bildete der ſchwarze Schleier einen unvergleichlichen Hintergrund; und weil ſie fi in der Kleidung wohl- gefiel, welche ſie von der Gewohnheit ihrer bisherigen Geſellſchaft abſchied, gab ſie ſich der Hoffnung hin, daß auch die zeitweilige Abgeſchiedenheit von dieſer Geſell⸗ ſchaft ſelbſt, ihr wohlthun, und ſie in der Einſamkeit des Kloſters Sammlung und Befriedigung in ruhigem Selbſtgenießen finden werde.
Die Trennung von der Mutter fiel ihr dabei nicht ſchwer. Sie hatten Beide das Bedürfniß, nur den eigenen Neigungen zu leben. Konradine betrat alſo ihre neue Heimat mit jener Zuverſicht, welche man ſonſt nur gegenüber von freigewählten 1 zu empfinden pflegte.
Das Stift war ſchön gelegen. Es war ein ſtatt licher Bau, den die einzelnen Wohnungen der Stifts- damen mit ihren Gärten freundlich umgaben, und der Empfang, den man Konradinen bereitete, war dazu angethan, ihrer Selbſtſchätzung durchaus zu genügen.
Es hatte natürlich in der Gemeinſchaft der Stifts— damen kein Geheimniß bleiben können, durch welches Schickſal ihnen die neue Genoſſin zugeführt worden war, und ihr Antheil an Konradine hatte ſich dadurch geſteigert. Manche unter den älteren Damen, welche, wie die gräfliche Aebtiſſin, auf eigene ſchwere Lebens⸗ wege zurückzuſehen, oder Herzenskränkungen zu beklagen hatten, waren gern bereit, mit der Verlaſſenen, falls ſie danach verlangte, über die Treuloſigkeit und den Leichtſinn der Männer erbarmungslos den Stab zu
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brechen, während die jungen, durch die Bedeutung ihrer einflußreichen Familien zu den Präbenden ge— langten Fräulein, ſich Konradinen mit jenem Antheil näherten, den romantiſche Erlebniſſe der Jugend immer einzuflößen pflegen. Im Grunde hatte Jede von ihnen nicht übel Luſt, wie die neue Stiftsdame von einem fürſtlichen Manne geliebt zu werden, beſonders weil Jede ſich es zutraute, ihn beſſer feſſeln und feſt—
halten und ihr Lebenslos glücklicher geſtalten zu kön-
nen, als es Konradine vermocht zu haben ſchien. Indeß weder zu dem Anſchluß an die Einen noch an die Anderen fühlte dieſe ſich geneigt, wenn ſchon ihre neue Lebenslage ihr bald nicht mehr mißfiel. Die Sorge für die Herſtellung ihres eigenen Haus— haltes, die dem Menſchen angeborene Freude an dem eigenen Beſitz und Heerde, beſchäftigten ſie angenehm. Die Möglichkeit, ſich, wenn ſie danach verlangte, völlig abzuſchließen, war ihr in hohem Grade erwünſcht, und ihr ſcharfer Verſtand fand ſich von der Beob— achtung des anſehnlichen Frauenkreiſes unterhalten, auf den ſie zunächſt angewieſen war, während ihm durch mannigfache Gäſte und einen lebhaften Verkehr, mit den in der Provinz angeſeſſenen vornehmen Fa⸗ milien, auch die Abwechslung nicht fehlte. Weil Konradine durch die unruhige Reiſeluſt ihrer Mutter von Kindheit an ein unſtätes Wander⸗ leben geführt hatte, that es ihr wohl, in dem Stifte jetzt nach eigenem Ermeſſen ungeſtört verweilen zu können, und da ſie es aus richtigem Selbſtgefühle vorſichtig vermied, der Theilnahme und der Neugier
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ihrer Gefährtinnen durch irgendwelche Mittheilungen über ſich ſelbſt zu entſprechen, obgleich ſie mit ihrer ſicheren Weltgewandheit und natürlichen Gefälligkeit Allen eine heitere Stirne zu zeigen und freundlich zu begegnen wußte, rühmten die Aebtiſſin und die älteren Stiftsdamen ihr bald nach, daß ſie ſich mit würdigem Stolze zu beſcheiden und zu tröſten vermocht habe, und wie ihre Faſſung und Haltung einen Seelenadel und eine Charakterſtärke bekundeten, denen man die höchſte Achtung nicht verſagen könne. Dieſe An⸗ erkennung wurde Konradinen für den Augenblick zu einer ſie erhebenden Kraft. Sie war an Beachtung, an Bewunderung gewöhnt, aber dieſelben hatten ſie immer nur gefreut, wenn ſie ſich hatte ſagen dürfen, ihre Schönheit, ihr Geiſt, oder welche ihrer anderen Eigenſchaften eben dabei in Betracht gekommen waren, verdienten die gute Meinung, die man von ihr hegte. Denn während eine leicht zu befriedigende Eitelkeit durch Huldigungen zu feiernder Selbſtgenügſamkeit verleitet wird, ſo reizten dieſelben in dieſem wie in allen früheren Fällen nur den Ehrgeiz Konradinens auf, und ſie fand es ihrer Würde angemeſſener, ein Schickſal wie das ihre mit Faſſung zu ertragen, als der Welt das Schauſpiel einer untröſtlichen Verlaſſenen zu geben.
Es war ihr eine Beruhigung, daß Niemand in ihrer jetzigen Umgebung die Einzelheiten dieſes Schick— ſals kannte, Niemand ſie, wie die Mutter es in guter Abſicht oft gethan hatte, darauf anſah, ob ſie ge— ſchlafen oder ob ſie in zornigen Thränen die ſchleichen—
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den Stunden der Nacht gezählt habe; und es währte denn auch nicht lange, bis ſie es zu bereuen anfing, daß ſie Emanuel ſo tief in ihrem Herzen hatte leſen laſſen. — Was hatte es ihr gefrommt? Was konnte es ihr frommen? Sie hätte ihn jetzt gern vergeſſen machen mögen, was ſie ihm im Schloſſe in leiden— ſchaftlicher Erregung unaufgefordert anvertraut hatte. Sie verſtand ſich jetzt ſelbſt nicht mehr in jenem heftigen Verlangen nach Theilnahme, das fie damals ihm gegenüber gefühlt hatte, und da ſie ſich in ihrer neuen Umgebung als einen Gegenſtand der Verehrung behandelt fand, fing die Vorſtellung, daß ein Anderer, daß eben Emanuel ſie bemitleide und fie für beflagens- werth halte, ſie zu drücken und zu peinigen an.
Sie waren nicht beſonders übereingekommen, daß ſie einander ſchreiben würden. Es hatte ſich, da ſie ſich ſo nahe getreten waren, ganz von ſelbſt verſtanden, und Beide hatten eine Erleichterung darin gefunden, ſich in den Briefen frei und völlig auszuſprechen. Emanuel, der in der Stille ſeines einſamen Land⸗ hauſes ganz auf ſich und ſeine Erinnerungen und Betrachtungen angewieſen war, empfand die Zerſtörung der Hoffnungen, in denen er ſich eine Zeit hindurch gefallen hatte, je länger um jo ſchwerer; und wie er ſich auch anfangs dagegen ſträuben mochte, es tauchte allmälig ein Schuldbewußtſein in ihm auf, das ihm das Herz beſchwerte.
Wenn er in melancholiſchem Sinnen auf der Terraſſe ſeines Gartens umherging und es ſich aus— malte, wie er Hulda in dem Schatten dieſer Laurus⸗
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gänge umherzuführen, wie er ihrem ſtaunenden Blicke die Herrlichkeit dieſer ſo lieblichen und zugleich ſo er— habenen Natur zu zeigen gehofft hatte, und wenn es ihm dann wehe that, auf dieſe erwartete Freude ver— zichten zu müſſen, ſo konnte er den Ausruf nicht unterdrücken: „Und ſie, wie mag ſie meiner, wie mag ſie hieher denken!“ Gerade in ſolchen Stunden aber, in denen ſeine Erinnerungen ſich mit erhöhter Zärt— lichkeit zu dem geliebten Mädchen zurückwendeten, konnte er es am wenigſten verſchmerzen, daß Hulda's Liebe nicht ſtark genug geweſen war, ihr töchterliches Pflichtgefühl zu überwinden. Wenn er in dem einen Augenblicke ſich ſagte, an ihm, an dem unabhängigen, lebenserfahrenen Manne, wäre es geweſen, das junge Mädchen über alle Bedenken fortzuheben, es mit allen Mitteln, auch gegen des Vaters Willen, zu der Heirath mit ihm zu überreden, da der Vater nachträglich über dem Glücke ſeines Kiudes wohl ſeine Einwendungen vergeſſen haben würde, ſo trat gleich daneben ſein altes Mißtrauen gegen ſich ſelber feindlich wider jene gute Stimmung auf, und ſelbſt der Stolz des alten Edelmannes machte ſich dabei geltend. Er fragte ſich, ob Hulda's Kindesliebe entſchieden haben würde, wie ſie es gethan, hätte ein ſchönerer Mann vor ihr ge— ſtanden? Nun er ſie nicht mehr vor ſich ſah, der zärtliche Blick ihres Auges, die ſchmerzliche Angſt und der verzweifelnde Ton ihrer Stimme ihn nicht mehr berührten, konnte er bisweilen an ihr zweifeln. Er konnte ſich ſagen, daß es ihm am Ende doch auch nicht zugeſtanden habe, um die Hand eines Mädchens
zu betteln, dem er jo große Opfer zu bringen, dem er einen Namen zu bieten bereit geweſen war, welchen zu tragen die Tochter der edelſten Geſchlechter des Landes ſtolz ſein durften. Sehnſucht nach der Ent— fernten und der Vorſatz, ſie zu vergeſſen, wechſelten dann oft in raſcher Folge in ihm ab, bis er in ſeiner Einſamkeit wieder heimiſch wurde und der lebhafte briefliche Verkehr mit Konradinen ihm dieſelbe weniger fühlbar zu machen begann. 8
Es verfloß keine Woche, in welcher er nicht Nachricht von ſeiner Freundin und Vertrauten aus dem Stift erhielt, und jeder ihrer Briefe wiederholte es ihm, daß ſie in ihren jetzigen Verhältniſſen einer Befriedigung genieße, die ſie vorher nicht gekannt, ja die ſie für eine Natur wie die ihre nicht erreichbar geglaubt habe. Sie ſprach ihm von ihrer Leidenſchaft für den Prinzen, von ihrer erſten Verzweiflung über deſſen Untreue mit einer ſo klaren Ruhe, als wären es Ereigniſſe, welche nicht ſie ſelber, ſondern eine Andere in lang vergangenen Tagen betroffen hätten; und weil ſie für dieſe Selbſtüberwindung auch die Bewunderung ihres Freundes erntete, kam ſie dahin, ſich immer mehr in dieſem neuen Standpunkte feſt⸗ zuſetzen, bis ſie ſich endlich dazu emporſchwang, die Handlungsweiſe des Prinzen durch die Vorſtellungen und Anſchauungen erklärlich zu nennen und zu ent— ſchuldigen, in denen er erzogen worden war. Sie erkannte es gegen Emanuel ganz ausdrücklich an, daß der Prinz wohl eine Pflichterfüllung in einer Hand- lungsweiſe habe erblicken können, die jedem anderen,
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nicht an den Stufen eines Thrones geborenen Manne zur Unehre und Schande gereicht haben würde. Daß es ihrem ſtolzen Herzen leichter dünkte, der unab— weislichen Nothwendigkeit geopfert, als leichthin auf— gegeben worden zu ſein, das ſprach ſie dem Freunde allerdings nicht aus; aber ſie verſicherte ihm, daß es ihr wohlthue, jetzt ohne Zorn und Widerwillen Des— jenigen gedenken zu können, den ſie ſo ſehr geliebt habe; und, fügte ſie hinzu, gerade darin werde es ihr klar, daß nicht in der erwiderten Liebe, ſondern in dem Lieben, und vor Allem in dem Beruhen auf ſich ſelbſt, das höchſte Glück des Menſchen liege.
Wie viel ſie davon anfangs als eine Wahrheit n ſich ſelbſt empfand, das zu beſtimmen möchte ſchwierig ſein; aber die Anſchauungsweiſe, in welche ſie ſich ſo lebhaft hineindachte, und die ſie eben des— halb auf alle ihre Verhältniſſe zur Anwendung brachte, übte allmälig ihren Einfluß auf ſie aus. Sie ward endlich Herr und Meiſter über fie, und was im Be ginne vielleicht nur ein freiwilliger Selbſtbetrug ge— weſen war, das bildete ſich im Verlauf der Tage in ihr zu einer Gemüthsverfaſſung aus, die errungen zu haben, die behaupten zu können, ſie mit Genugthuung erfüllte. Es that ihr wohl, ſich, wie ſie es nannte, wieder gefunden zu haben, wieder die alte Konradine geworden zu ſein. Sie verſicherte, ihr Stiftskleid mit wahrem Stolze zu tragen, weil es, ohne die Freiheit ihrer ſpäteren Entſchließungen im mindeſten zu beein⸗ trächtigen, doch eine Art von äußerlicher Schranke auf⸗
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richte zwiſchen ihr und jenen anderen unvermählten Frauenzimmern, denen erſt durch die Ehe ein Rang und jene Selbſtſtändigkeit der Stellung gegeben werde, deren ihr weltliches Ordenskreuz ſie jetzt theilhaftig machen würde, auch wenn ſie ſie nicht durch ihr eigenes Bewußtſein ohnehin beſäße.
Da ſie die Vorzüge einer adeligen Geburt ſehr hochhielt, war fie, eben jo wie ihre Mutter, von der erſten Stunde an in ihrem Innern dem bürgerlichen Heirathsplane ihres Freundes abgeneigt geweſen. Hulda's eiferſüchtiges Gebahren gegen ſie hatte ſie gegen Die ſelbe perſönlich eingenommen, und wenn ſie ſich in ihrer damaligen Stimmung auch nicht entſchieden gegen die Abſichten des Freundes ausgelaſſen hatte, weil ſie ſelber der Gewalt von Standesrückſichten zum Opfer gefallen war, ſo legte ſie ſich jetzt in der Beziehung keinen Zwang mehr auf.
Sie machte in ihren Briefen an Emanuel keinen Hehl daraus, daß ſie die Sorge und das Bedauern, mit denen er an Hulda denke, übertrieben finde. Sie habe, ſchrieb ſie ihm, nie ein beſonderes Gewicht auf die ſogenannte erſte Liebe zu legen vermocht. Liebe ſei die höchſte Kraftäußerung eines vollent⸗ wickelten Herzens, und auch das Herz müſſe ſeine Kraft erſt üben und erproben lernen, ehe es jener großen Liebe fähig werde, die das ganze Weſen eines Menſchen ſo hinnehme, daß ihr, wenn ſie eine Täuſchung erleide, keine andere mehr folgen könne. Er möge ſich einmal ehrlich fragen, ob er das junge,
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kaum der K Kindheit entwachſene Mädchen einer ſolchen Liebe fähig glaube? ob er wähne, daß Hulda's Leben nicht auch ohne ihn, eine ſie völlig befriedigende und vielleicht ihren Anlagen noch gemäßere Geſtaltung ges winnen könne? und ob er wirklich glaube, daß ein ſolches junges Kind den blöden, ſchüchternen Traum ſeines Frühlingsmorgens nicht vergeſſen, daß es un— tröſtlich ſein und bleiben könne, wenn ſelbſt eine reife Frau wie ſie, Ruhe und Frieden wieder gefunden habe, nachdem ein höchſtes, frei erwähltes und ihr bereits zu eigen geweſenes Glück ihr entriſſen und zertrümmert worden ſei?
Emanuel blieb ihr, und wohl auch ſich, die be— ſtimmte Antwort auf dieſe Frage ſchuldig. Es war nach der Kenntniß, die er von Hulda's Eigenartigkeit beſaß, ein Etwas in ihr, was fie von anderen Mäd— chen unterſchied. Die ſpröde, tiefe Innerlichkeit ihres völlig unentweihten Herzens verbot ihm, den gewöhn⸗ lichen Maßſtab an ſie zu legen. Was für hundert Andere richtig ſein konnte, fand keine Anwendung auf fie und ihre glaubens⸗ und vertrauensvolle Weltfremd⸗ heit. — Aber er ſtand mit Konradine in einem un⸗ ausgeſetzten lebhaften Verkehr, und Hulda war ihm ganz entrückt.
Einen Brief, den er bald nach ſeinem Fortgehen von dem Schloſſe an ſie gerichtet, hatte der Pfarrer ihm mit der Bitte zurückgeſendet, er möge ſeine Tochter ſchonen; und Miß Kenney, an die er ſich ſpäter ge— wendet, um Nachricht von Hulda zu erhalten, hatte
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ihm betheuert, daß dieſelbe ſich mit jedem Tag erhole, daß die Kraft und Lebensluſt der Jugend ſich auch an ihr heilbringend bewähren. Sie erwähnte, daß Hulda ſie bei einer kleinen Reiſe nach der Stadt begleitet habe, daß ſie acht Tage dort verweilt und ihre junge Freundin durch die Eindrücke, welche ſie dort empfan— gen, namentlich durch die erſten theatraliſchen und muſikaliſchen Aufführungen, denen ſie beigewohnt habe, im höchſten Grade ergriffen, ja völlig von ſich ſelber abgezogen worden ſei. Dem Baron werde alſo der— einſt die Genugthuung gewiß nicht fehlen, das Mäd— chen, dem er ſo viel Antheil zugewendet, heiter und dem Leben wiedergegeben zu ſehen. Es werde bei an— gemeſſener Zerſtreuung und Behandlung ſicherlich ge— lingen, Hulda die Hoffnungen vergeſſen zu machen, in denen ihre Jugend ſich eine kurze Spanne Zeit hin⸗ durch gewiegt habe; nur Ruhe zu innerer Sammlung müſſe man ihr gönnen, und Emanuel möge ihr die— ſelbe durch erneute Annäherung nicht unmöglich machen.
Er las das, las es wieder, es machte ihn allmälig ungewiß in ſeiner Neigung, beſonders, da der Amt- mann, der ihm im Hochſommer eine geſchäftliche Mel- dung zu machen hatte, ſich in gleichem Sinne äußerte. Er berichtete am Ende ſeines Briefes ganz unaufge— fordert, im Pfarrhauſe ſtehe Alles wohl und ſeine Pathe blühe wieder wie eine Roſe. — Der Amtmann hatte genau gewußt, weshalb er dieſe Nachricht gab. Er hielt Etwas auf Hulda, er gönnte alſo dem Baron den Glauben nicht, daß ſich das Mädchen ſeinetwegen härme und verzehre. |
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Man hatte eben nicht viel Mühe, Emanuel die Anſicht aufzudringen, daß ein ſchönes junges Mädchen ihn vergeſſen, ſeine Liebe verſchmerzen könne. Wehe that es ihm — aber es enthob ihn einer großen Sorge, einer ernſten Reue — es befreite ſein Ge⸗ wiſſen.
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 5 2
Drittes Capitel.
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Darüber ging der Sommer hin. Als die Ernte⸗ zeit vorüber und der Herbſt im Anzuge war, fing Miß Kenney davon zu ſprechen an, daß ſie bei ihren vor⸗ gerückten Jahren und ihrer ſchwankenden Geſundheit, welche ihr doch öfters den Rath eines Arztes wünſchens⸗ werth mache, unmöglich daran denken könne, noch einen zweiten Winter in dem entlegenen Schloſſe zuzubringen. Die Gräfin, welche ſich eben damals auf dem Schloſſe der Fürſtin befand, deren erſter Niederkunft man ent⸗ gegenſah, machte alſo ihrer alten Freundin augenblicks den Vorſchlag, ſich vorläufig in dem Hauſe nieder⸗ zulaſſen, welches die gräfliche Familie in der Haupt⸗ ſtadt der Provinz beſaß, und dort abzuwarten, wie die Gräfin nach der Entbindung und Geneſung ihrer Tochter, ſich über die Wahl des eigenen Winteraufent⸗ haltes entſchieden haben würde.
Miß Kenney zeigte ſich damit einverſtanden. Als ſie in der Pfarre von ihrem Entſchluſſe Kunde gab, nahmen ihn nicht nur der Pfarrer, ſondern auch Hulda als etwas Selbſtverſtändliches mit Ruhe hin. Sie
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hatten nicht erwarten können, die Freundin der Gräfin dauernd in ihrer Nähe zu behalten, der Pfarrer war an Einſamkeit gewöhnt, und Hulda meinte Alles ent⸗ behren, jeden Verluſt ertragen zu können, nachdem ſie an ſich erfahren hatte, daß ſie zu leben vermochte ohne den Mann, an welchem ihre Seele hing und auf den alle ihre Gedanken gerichtet waren. Dazu war ſie von einer anderen Sorge ſchwer bedrängt.
Die Geſundheit ihres Vaters war ins Schwanken gekommen. Es zeigte ſich mit einer allgemeinen Schwäche eine Abnahme des Augenlichtes, die bedenklich wurde, und der herbeigerufene Arzt hatte den Ausſpruch ge— than, daß der Pfarrer womöglich nach der Hauptſtadt gehen müſſe, um ſich dort der nachhaltigen Behand- lung eines Augenarztes zu bedienen. Das war aber nicht ohne weiteres möglich. Der Pfarrer bedurfte dazu eines Urlaubes von der ihm vorgeſetzten Behörde, es war nöthig, einen Stellvertreter für ihn anzuſtellen, und bei ſeiner Mittelloſigkeit kamen in erſter Reihe auch die Ausgaben in Betracht, welche ein mehrmonat⸗ licher Aufenthalt in der Hauptſtadt in ſeinem Gefolge haben mußte. Ueber dieſe letzte Sorge half jedoch die theilnehmende Gunſt der Gräfin fort, ſobald ſie durch Miß Kenney Nachricht davon erhielt.
Sie rieth dem Pfarrer, ſich zugleich mit ihrer alten Freundin nach der Stadt zu begeben und Hulda natürlich mit ſich zu nehmeu. Dort in ihrem Stadt⸗ hauſe, das er ja als Erzieher ihres verklärten Gatten, in ſeinen jungen Jahren lange genug bewohnt habe, | 95
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möge er ſich in den ihm vertrauten und lieben Zim⸗ mern einrichten, und als ihr Gaſt ſo lange verweilen, als es ihm erwünſcht und nöthig ſei. Daß ſie den Stellvertreter beſolde, den man ihm geben werde, daß ſie alle die Koſten decke, welche die Kur und der Aufenthalt in der Stadt erfordern würden, be— zeichnete ſie als etwas Selbſtverſtändliches, da es ſich ja darum handle, ihren Gütern den treuen Seelſorger, ihrem Hauſe den vielbewährten Freund in erneuter Rüſtigkeit noch ferner zu erhalten.
Das hob ſchnell alle Schwierigkeiten, und der ſchlichte Sinn des Greiſes an die Abhängigkeit von der gräflichen Familie von jeher gewöhnt, fand ſich durch den Gedanken beruhigt und erfreut, daß ihm der Bei⸗ ſtand dieſes edlen Hauſes auch jetzt nicht fehle, und daß er alſo auf denſelben auch über ſeinen Tod hinaus für ſeine Tochter rechnen dürfe. Anders aber wirkte dieſe Gunſt der Gräfin auf das junge Mädchen.
Hulda konnte keinen Zweifel darüber hegen, daß man das Anerbieten der Gräfin als ein Glück zu be⸗ trachten und es dankbar anzunehmen habe. Indeß wie ſie ſich dies auch vorhielt, wie redlich ſie ſich's ſagte, daß es hier auf Nichts ankomme als auf die Möglich⸗ keit, das Augenlicht und das Leben ihres Vaters zu erhalten, es war in ihrem Innern ein unüberwind⸗ liches Widerſtreben dagegen, das Haus der Gräfin zu betreten, ihrer Großmuth irgend Etwas zu verdanken. Schon während der wenigen Tage, welche ſie im Som⸗ mer mit Miß Kenney in der Stadt verlebt hatte, war es ihr beſtändig geweſen, als wolle eine geheime Ge⸗
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walt fie nicht in jenen ernſten, Schönen Räumen dul⸗ den, und ſelbſt die Ausſicht auf das Neue jener Ge⸗ nüſſe, theilhaftig zu werden, an welche auch nur zu denken, etwas Berauſcheudes für fie hatte, konnte das gekränkte Ehrgefühl in ihr nicht zum Schweigen brin⸗ gen, ſo oft ſie ſich's auch im Gebete als einen falſchen Stolz und einen Mangel an Kindesliebe, ja als eine Auflehnung gegen die Wege Gottes zum Vorwurfe machte.
Der Herbſt brach früh herein, Miß Kenney und der Pfarrer wünſchten, nun die Angelegenheiten ein⸗ mal geordnet waren, die Ueberſiedelung nach der Stadt ſo viel als möglich zu beſchleunigen; und das Laub war noch nicht von den Bäumen abgefallen, als der Pfarrer wieder, wie vor langen Jahren, aus dem Fenſter ſeines einſtigen Wohnzimmers in den Garten des gräflichen Stadthauſes hinausſah, in deſſen grad⸗ linigen Alleen Miß Kenney, von Hulda begleitet, ihren täglichen Spaziergang machte.
Es war das erſte Mal, daß der Pfarrer feine Kirche für längere Zeit verließ, daß er ſeiner Amtsthätigkeit nicht obzuliegen hatte, und die volle Muße dünkte dem müden Manne ſüß, da der Ausſpruch des Arztes, daß er ſich dieſelbe nothwendig zu vergönnen habe, ſein Gewiſſen beruhigt. Er kam ſich wie verjüngt vor, wenn er in dem Bücherſaale umherging, deſſen Bücher er einſt geordnet hatte. Er nahm den Katalog zur Hand, den er in doppelten Exemplaren ausgeführt, und freute ſich, daß feine Handſchrift trotz ſeiner vor⸗ gerückten Jahre noch nicht weſentlich verändert war.
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Daß ihm unter ſeinen Amtsbrüdern und in manchen anderen Aemtern noch hie und da einer der Freunde lebte, mit denen er dereinſt ſtudirt und die ihn nicht vergeſſen hatten, obſchon er ſie inzwiſchen nur ſelten und immer nur in flüchtigem Beſuche wiedergeſehen, das erhöhte ſein Behagen.
Auch Miß Kenney fühlte ſich in der Stadt zu⸗ frieden. Sie liebte den Verkehr mit Menſchen, ſie war heimiſch und ſehr geſchätzt in den adeligen Fa⸗ milien, mit welchen die Gräfin befreundet und ver- wandt war, und die Freigebigkeit der Letzteren legte es ihrer alten Freundin förmlich als eine Pflicht auf, für ſich und den Pfarrer die Einrichtungen ſo zu treffen, als ob ſie in ihrem eigenen Hauſe wären, und zu ſchalten und zu walten wie in einem ſolchen. Es kamen auf dieſe Weiſe häufig Beſuche zu Miß Kenney, auch der Pfarrer entbehrte der Geſellſchaft nicht, und Hulda wurde bisweilen von ihrer Beſchützerin, die eine große Theaterfreundin war, zu den beſten daun in das Theater mitgenommen.
Das waren denn für Hulda Stunden, tu welchem ſie Alles zu vergeſſen vermochte: die Gefahr, die ihrem Vater drohte, und ihr eigenes Herzeleid. Sie ward ſich ſelbſt entrückt. Sie ſtand im Geiſte ſelber an der Stelle der Schauspielerin, deren Rolle fie am mäch⸗ tigſten ergriff. Sie durchlebte und durchlitt, was ſie auf der Bühne erleben und erleiden ſah; und wenn es Liebesworte, Liebesklagen waren, neidete ſie es den Künſtlerinnen, daß fie ſagen, daß fie ausſprechen durf⸗ ten, was ſie ſelber ſtill in ſich verſchließen mußte.
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Sie mußte lächeln, wenn fie fi) dieſes Gedankens
einmal bewußt ward, konnte ſich es aber dennoch nicht verſagen, dem Vater, dem ſie vorzuleſen hatte, die Monologe und die Scenen nachahmend zu wiederholen, welche ihr am mächtigſten in's Herz gedrungen waren. Der Pfarrer ließ ſich das gerne gefallen. Er freute ſich der Wärme, mit welcher das Schöne und Erhabene auf die Tochter wirkte; und ſie, wenn auch nur für Stunden, von ſich und von ihren trüben Erinnerungen abgezogen, ſie heiter und erhoben zu ſehen, machte ihn ſelber froh und glücklich.
Man war ſchon ſeit ein paar Monaten in der Stadt, als die Nachricht von der bevorſtehenden An- kunft einer der größten Bühnenkünſtlerinnen jener Tage, die Theaterfreunde in eine geſpannte Erwartung ver⸗ ſetzte. Wer Gelegenheit gehabt hatte, die berühmte Gabriele früher einmal ſpielen zu ſehen, erinnerte ſich deſſen als eines wahrhaften Genuſſes. Nicht nur in tragiſchen Rollen nannte man ſie unvergleichlich, auch das Muntere und Scherzhafte ſollte ihr in demſelben Maße gelingen, denn ſie war immer noch jung und ſchön zu nennen. Vor Allem aber konnten Diejenigen, welche ihr perſönlich in der Geſellſchaft begegnet waren, ſich nicht genug thun in der Schilderung ihrer natür⸗ lichen Anmuth, ihrer ſelbſtgewiſſen Freimüthigkeit, ihres edlen Künſtlerſtolzes; und allen dieſen Ausſagen ſtimmte Miß Kenney bei. Sie hatte die Künſtlerin zuerſt auf der Bühne in der Reſidenz bewundert und ſie danach in Italien wiedergeſehen, als dieſelbe bei einer ihrer Erholungsreiſen im Haufe der Gräfin faft täglich em⸗
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pfangen worden war. Seitdem waren allerdings meh- rere Jahre verfloſſen.
Man berechnete, daß Gabriele wohl die erſte Hälfte der Dreißig überſchritten haben müſſe, und wie man eines Abends in dem kleinen Zimmer von Miß Kenney wieder einmal auf die Erwartete zu ſprechen kam, that eine der anweſenden Perſonen der Gerüchte Erwähnung, welche über die Künſtlerin im Schwange waren. |
Man erzählte, daß fie die ausgezeichneteſten Män⸗ ner, Künſtler, Schriftſteller und Fürſten zu ihren Füßen geſehen, und wie ein junger, begabter Schauſpieler ſich aus Liebe zu ihr das Leben genommen habe. Dann wieder hieß es, ſie habe für einen berühmten Muſiker, dem ſie ihre Neigung zugewendet, große Opfer aller Art gebracht und ſei von ihm leichtſinnig auf⸗ gegeben und verlaſſen worden; nnd nachdem man ihr noch dieſe und jene vorübergehenden Herzensangelegen⸗ heiten nachgeſagt hatte, behauptete man ſchließlich auf; das Beſtimmteſte, daß ſie ſeit einigen Jahren heimlich einem regierenden Fürſten vermält ſei, und daß dieſe morganatiſch geſchloſſene Ehe nur deshalb verheimlicht werde, weil Gabriele vor allem Anderen Künſtlerin ſei und es ſich ausdrücklich vorbehalten habe, auf der Bühne bleiben zu dürfen, ſo lange ſie dazu den An⸗ trieb in ſich fühle.
Wohlwollen und jene Abgeneigtheit, welche die regelrechte Mittelmäßigkeit allem Außerordentlichen gegenüber naturgemäß empfindet, welterfahrene Duld⸗ ſamkeit und unnachſichtige Sittenſtrenge machten ſich
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auch in dieſem kleinen Kreiſe in der Beurtheilung der berühmten Künſtlerin geltend. Darin aber ſtimmte man überein, ihre großen Eigenſchaften des Geiſtes und des Herzens anzuerkennen. Nur eine alte entfernte Verwandte der Gräfin blieb hartnäckig bei ihrem Tadel. Sie behauptete, man dürfe über die mancherlei Ver⸗ irrungen und über die Verſtöße gegen das Herkommen nicht hinwegſehen, welche Gabriele ſich habe zu Schul- den kommen laſſen; denn die Nachſicht, welche man in dieſem Betracht gegen weibliche Berühmtheiten, nament⸗ lich gegen Bühnenkünſtlerinnen übe, ſei überhaupt nicht zu verantworten.
Die Heftigkeit, mit welcher fie ihre Meinung vers trat, reizte die duldſamen Verehrer der Künſtlerin zu lebhafter Entgegnung, und da man, auf dieſen Weg gelangt, einander raſch zu den äußerſten Grenzen der Meinungsverſchiedenheiten hindrängte, ſo ſtand die alte Dame bald nicht an, es unumwenden auszuſprechen, daß in ihren Augen eigentlich jedes Frauenzimmer, welches die Bühne betrete, das Anrecht verliere, von der guten Geſellſchaft und von geſitteten Frauen als ihresgleichen behandelt zu werden. Sie für ihre Perſon habe ſich niemals entſchließen können, mit einer Frau Verkehr zu halten, welcher der Erſtebeſte öffentlich ſein Mißfallen bezeigen könne, wenn er das Geld an ſein Eintrittsbillet einmal gewendet habe. Natürlich rief das eben ſo heftige Entgegnungen hervor und die Unterhaltung war nahe daran, gegen die gute Gewohn⸗ heit des Kreiſes, eine perſönlich verletzende Wendung zu nehmen, als der Pfarrer ſich in das Mittel legte.
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Er hatte den Erörterungen, hinter ſeinem Licht⸗ ſchirm ſitzend, bis dahin mit ſchweigender Aufmerkſam⸗ keit zugehört, denn das bevorſtehende Gaſtſpiel Ga⸗ brielens intereſſirte ihn, obſchon ſein Zuſtand ihm den Beſuch des Theaters unterſagte. Er hatte aber in ſeinen jungen Jahren das Theater ſehr geliebt und die Eindrücke, welche er dort empfangen, nie vergeſſen. Wie er in ſeiner langjährigen Einſamkeit Frau und Tochter an den Werken unſerer großen Dichter heran⸗ gebildet und erhoben, hatte er ihnen an manchem langen Winterabende davon geſprochen, in welcher Weiſe die Dichtungen, die er beſonders liebte, von den großen Bühnenkünſtlern, die er noch geſehen, von einem Eckhoff, einem Schröder, einem Iffland auf⸗ gefaßt worden waren. Er hatte ſeine achtſam Zu⸗ hörenden damit entzückt, als würden ſie der Genüſſe ſelber theilhaft, die er ihnen zu ſchildern verſuchte. Seiner verſtändigen Bildung wie ſeinem milden Sinne mißfiel deshalb die Herbigkeit, mit welcher jene Frau ſich gegen die abweſende Bühnenkünſtlerin zu äußern für nöthig hielt.
„Ich brauche es wohl nicht erſt beſonders hervor— zuheben,“ ſagte er endlich, „daß ich die Bedenken gegen alles öffentliche Auftreten von Frauen theile, und daß ich ein ſolches für Frauen, die mir angehören, nicht gutheißen würde. Gott hat die Frau ihrer Natur nach zur Gefährtin eines Mannes, zur Mutter Einer Fa⸗ milie, zur Mitbegründerin Eines Hauſes beſtimmt, und die Frau, welche dieſe Schranke überſchreitet, ver⸗ läßt damit die Grenze des Bereiches, für welches ſie
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Gott erſchaffen hat, wofern es nicht Liebespflichten und Werke der Barmherzigkeit ſind, welche ſie zu einem Heraustreten aus ihrem natürlichſten Wirkungskreiſe veranlaſſen. Sie iſt innerhalb der Familie fraglos vor allem Irren und Fehlen, vor allen Anfechtungen und verleitenden Leidenſchaften am ſicherſten behütet.“ Die Dame, welche ſich gegen Gabriele ausge⸗ ſprochen hatte, glaubte damit gewonnenes Spiel zu haben. Sie ſtimmte alſo dem Pfarrer lebhaft bei, bis dieſer noch einmal das Wort nahm. „Vielleicht,“ meinte er, „hat man das eigentliche Weſen der Frauen in jenen Zeiten richtiger gewürdigt, in denen man ihnen das Auftreten vor allem Volk verwehrte, und ſelbſt die Frauenrollen von Jünglingen und Knaben zur Darſtellnng bringen ließ, wie dies, unbeſchadet ihrer Wirkung auf die Menge, bei den Alten und bis weit hinein in unſere Zeit bei den größten dramatiſchen Werken geſchehen iſt. Aber da wir die Welt und die Zuſtände in ihr doch in der Entwickelung anzuerkennen haben, welche ſie ohne Zulaſſung der Vorſehung nicht genommen haben könnten, ſo dürfen wir denjenigen Frauen, welche ihre Lebensaufgabe außerhalb der ſchö— nen Schranken einer Häuslichkeit zu erfüllen haben, keine zu ſtrengen Richter ſein. Wer in der Darſtellung großer Leidenſchaften und gewaltiger Seelenkämpfe ſeine Gedanken immer mit hochgeſpannten Empfin⸗ dungen zu erfüllen hat, wer ſich gewöhut, ſie in dem Augenblicke des Darſtellens als die ſeinen vor aller Welt Ohren auszuſprechen, wer als Schauſpielerin ſich mit ſeiner Perſon dem Blicke und dem Urtheil von
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Tauſenden von Männern immer auf das Neue preis— zugeben und ihren Beifall auf jede Weiſe zu erringen nöthig hat, deſſen Gefühlsleben muß mit der Zeit nothwendig durch ſolche gewaltige Anſpannung über⸗ ſpannt werden, der muß eine gewiſſe Zartheit und Keuſchheit des Empfindens einbüßen, und allmählich das rechte Maß für die Grenze der Sitte, die rechte Würdigung für die ſchlichte Erhabenheit verlieren, mit welcher ein gottergebenes Gemüth ſich in engſter Be⸗ ſchränkung und Zurückgezogenheit ſchweigend in ſtiller ** zu beſcheiden und ſich glücklich zu fühlen vermag.“ | „Ich ſehe nicht, Her Pfarrer,“ meinte die Sitten⸗ richterin, „daß Sie meiner Anſicht widerſprechen. Sie beſtätigen nur für die Allgemeinheit, was ich von einer beſtimmten Perſon behauptete, und Sie verurtheilen die Schauſpielerinnen im Grunde härter noch als ich.“ „Nein!“ entgegnete der Greis; „ich bin weit da⸗ von entfernt, die Frauen zu verdammen, die wir zu beklagen haben, weil ihnen mit der zarten Scheu der ſich achtenden Weiblichkeit, die ſie in ihrer Lebenslage ſchwer bewahren können, die ſchönſte Zierde und die ſicherſte Schutzwehr ihres Geſchlechtes nothwendig ver- loren gehen muß. Gerade deshalb hat man aber es mit doppelter Anerkennung zu betrachten, wenn eine Frau, die ſich den großen Prüfungen und Verſuchungen einer Schauſpielerin ausſetzt, ſich im Leben Achtung und die Freundſchaft edler Menſchen zu erwerben weiß, wie ich es hier von der Künſtlerin, die Sie erwarten, doch vielfach habe ausſagen hören.“
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Die Unterhaltung blieb darauf noch eine geraume Zeit mit dem Theater und mit den verſchiedenen Schauſpielern beſchäftigt, aber Hulda beachtete kaum noch, was man von ihnen ſagte. Sie konnte ihres Vaters Ausſpruch nicht vergeſſen. Er hatte begütigen ſollen und kam ihr härter vor als Alles, was man Anklagendes geäußert hatte. Sie vermochte nicht zu glauben, daß man das Große, das Schöne darſtellen könne, ohne ſelbſt davon erhoben zu werden. Ueber⸗ lief es ſie doch jedesmal mit einem heiligen Schauer, wenn ihre Lippen die Worte unſerer Dichter ſprachen; und wenn ſie von der Bühne aus ihr Ohr berührten, war es ihr feierlich wie in der Kirche. Bei aller Demuth, welche ſie vor dem Urtheile ihres Vaters hegte, ſträubte ſich ihr Gefühl gegen feine ſoeben ge⸗ äußerte Meinung, und der Glaube, daß er, in dieſem Falle von einem Vorurtheile befangen, den Schau⸗ ſpielerinnen Unrecht thue, daß es Ausnahmen auch unter ihnen gebe, viele Ausnahmen geben müſſe und daß Gabriele zu dieſen zähle, befeſtigte ſich in ihr.
Sie hatte Gabrielens Bild ſeit Wochen an den Fen⸗ ſtern der Kunſthandlungen aushängen ſehen, und der Adel ihrer ſchönen Züge hatte ſie mächtig angezogen. Dieſe reine Stirne konnte nichts Unedles denken. Die großen Augen ſahen ſo ſicher in die Welt, als kennten ſie dieſelbe und wüßten ſie zu überwinden. Selbſt das Lächeln auf ihren Lippen war ſtolz bei aller Freund⸗ lichkeit, die ganze Haltung des Bildes hatte etwas Majeſtätiſches. Hulda meinte, ſo könne nur eine
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Frau den Kopf erheben, die auf ſich ſelbſt vertrauen dürfe und ein gut Gewiſſen habe.
Sie hatte ſich mit der raſch zu belebenden Be⸗ geiſterungsfähigkeit der Jugend ein Ideal aus der Künſtlerin gemacht, und da man es anzutaſten, es von ſeiner Höhe herabzuziehen wagte, ſchloß ſie es nur noch feſter in ihr Herz. So jung, jo ohne Welt kenntniß ſie ſich wußte, meinte ſie es doch ſchon nach eigener Erfahrung ermeſſen zu können, daß man unverſchuldet Uebelwollen gegen ſic erregen, und wie Neid und böſer Wille dem Rufe einer 1755 zu nahe treten könnten.
Alles, was man an dem Theetiſche für und gegen Gabriele vorgebracht, trug nur dazu bei, die Spannung zu erhöhen, mit welcher ſie der Ankunft derſelben entgegenſah, und mit einer Freude, wie ſie ſie ſo lange nicht mehr gefühlt hatte, vernahm ſie die Zuſage, daß ſie Miß Kenney bei dem erſten Auftreten der Künſtlerin, zu welchem dieſelbe die Prin⸗ zeſſin in Göthe's „Taſſo“ gewählt hatte, in das a begleiten ſolle.
Viertes Capitel.
— —
Es war ein finſterer, kalter Winterabend, an dem die beiden Frauenzimmer, tief in ihre Mäntel und pelzverbrämten Kappen eingehüllt, den Weg nach dem Theater einſchlugen. Der Schnee kniſterte unter den Füßen des Dieners, der ihnen die Stocklaterne durch die menſchenleeren Straßen vortrug. Nur vor dem Schauſpielhauſe war Leben und Bewegung. Wagen um Wagen fuhren in raſcher Folge auf. Männer und Frauen ſchritten durch die engen Vorhallen und Treppen. Aus der Konditorei drang der Geruch heißer geiſtiger Getränke heraus, mit denen einzelne der an⸗ gekommenen Männer ſich ſtehenden Fußes zu erwär⸗ men ſuchten. Aber Alles eilte, Alles haſtete, als er⸗ warte man etwas ganz Ungewohntes; und die erſten mächtigen Töne der Ouvertüre drangen ſchon an ihr Ohr, als die beiden Frauen in das Theater traten.
Der Raum war von Menſchen überfüllt, alle Blicke hingen an dem Vorhang. Er rauſchte empor, eine italieniſche Landſchaft breitete ſich vor dem Auge aus, helles Sonnenlicht beſtrahlte die Kronen der
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Pinien, die Gipfel der Cypreſſen. Es glänzte wider von der Marmor⸗-Baluſtrade der Terraſſe, auf der die beiden Leonoren, Kränze windend, dageſeſſen hatten, und nun ſich erhebend und zwiſchen den Hermen Vir⸗ gil's und Arioſto's aus dem Hintergrunde langſam vorwärtsſchreitend, trat Gabriele, welche die Prinzeſſin darſtellte, von ihrer Mitſpielerin begleitet, ruhig und gemeſſenen Schrittes in den Vordergrund. |
Ein Beifallsſturm empfing ſie. Ihr bloßes Er⸗ ſcheinen entſprach der Erwartung, mit der man ihr entgegengeſehen hatte. Ihr ſchönes Auge überflog die
Verſammlung, aber ſie hatte Geſchmack genug, ihre
Darſtellung nicht durch jene Zeichen des Dankes zu unterbrechen, mit welchen die Maſſe der Schauſpieler in ſolchen Fällen ſich nicht ſcheut, aus ihrer Rolle herauszutreten und die Phantaſie der Zuhörer zu be⸗ leidigen; und in freundlicher Gelaſſenheit u die Frage von ihren Lippen:
Du ſiehſt mich lächelnd an, Eleonore,
Und ſiehſt Dich ſelber an und lächelſt wieder.
Was haſt Du? Laß es eine Freundin wiſſen,
Du ſcheinſt bedenklich, doch Du ſcheinſt vergnügt.
Es war, als ob ein Zauber mit den Worten ausgeſprochen worden wäre. Man fühlte ſich dem Leben, daß man zu leben gewohnt war, wie entrückt. Man athmete in einer anderen Luft, man empfand mit Sinnen, von denen der Druck des mühevollen Ringens, des arbeitſamen Tages, von denen alles
Sorgen und Wünſchen fortgenommen war, und gab
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ſich in feiernder Betrachtung dem Augenblicke und dem Genuſſe der Schönheit hin.
Selbſt Diejenigen unter den Zuhörern, welche ſich ſagen durften, daß ſie vollauf mit dem Geiſte des Gedichtes vertraut wären, daß jedes Wort deſſelben in ihnen lebendig ſei, mußten ſich eingeſtehen, daß ſie es bis zu dieſer Stunde nicht in ſeiner ganzen Schön- heit gewürdigt hatten, weil heute zum erſtenmale eine Prinzeſſin Leonore vor ihnen ſtand, wie ſie dem Dichter vorgeſchwebt haben mußte in dem ſcheuen Liebebedürf⸗ niß ihrer zu entſagender Abgeſchloſſenheit herangebil⸗ deten Natur. Die Künſtlerin beherrſchte und rührte durch ihre ſchlichte Erhabenheit. Man ward fo fehr von der maßvollen Schönheit ihrer Bewegung, ihrer Stimme und Sprache ergriffen, daß ſelbſt der be⸗ geiſterte Beifall, den ſie erntete, in ſeinem Ausdrucke durch eine Art von Ehrfurcht gemäßigt wurde. Und jenes Zutrauen, das Hulda ihr entgegengebracht hatte, noch ehe ſie Gabriele geſehen, ſteigerte ſich zu einer liebenden Hingebung an die ſeltene Erſcheinung.
Das Herz ſchlug ihr ſeit der Trennung von Emanuel zum erſtenmale leicht und frei, zum erſten⸗ male fühlte ſie wieder ein lebhaftes Verlangen, das ſich nicht auf ihn bezog. Sie wollte Gabriele ſprechen. Was ſie davon erwartete, das hätte ſie nicht jagen können. Es war ein reines Bedürf⸗ niß, zu verehren, und jene unbeſtimmte Hoffnung in ihr, die den Gläubigen ſich vor einem wun⸗ derthätigen Bilde neigen machen, und es erſchien ihr
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 3
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deshalb wie die ſichere Anwartſchaft auf ein großes Glück, als Miß Kenney, ebenfalls ergriffen durch die Darſtellung, die Abſicht kundgab, Gabrielen für den gehabten Genuß brieflich zu danken, ſie an ihr frühe⸗ res Zuſammentreffen zu erinnern und daran den Wunſch eines Wiederſehens anzuknüpfen.
Das Briefchen wurde denn auch gleich an dem
nächſten Tage geſchrieben und abgeſendet, und erhielt ſofortigen und freundlichen Beſcheid. Gabriele lehnte es ab, den Beſuch der alten Dame zu empfangen, da ſie über ihre Zeit nicht Herr und in ihrem Gaſthofe wenig ſich ſelbſt überlaſſen ſei; aber ſie verhieß zu kommen, ſobald ihr eine freie Stunde bleibe, und ſie drückte da⸗ neben die Erwartung aus, Miß Kenney werde auch ihren ferneren Darſtellungen mit gleichem Antheil folgen.
Das verſtand ſich für die alte Theaterfreundin ganz von ſelbſt. Wer es nur irgend erſchwingen und ſich eines Platzes verſichern konnte, verſäumte in dieſen Tagen das Theater nicht, und jede neue Rolle, in welcher Gabriele erſchien, wurde zu einem neuen Triumphe für ſie. Heute entzückte ſie die Zuſchauer als Mirandolina, morgen bewunderte man ſie als Julia, und worin immer man ſie ſah, meinte man, ſie in ihrer beſten Rolle geſehen zu haben. Sie machte faſt den einzigen Gegenſtand der Unterhaltung aus, und mit jedemmale, daß man von ihr im Beiſein Hulda's ſprach, bedauerte dieſe es lebhafter, daß ſie keine Ausſicht hatte, Gabriele noch einmal auf der Bühne zu ſehen. Bald wollte ſie den Vater, bald
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Miß Kenney darum bitten, ihr die Freude noch ein⸗ mal zu bereiten, aber ſie hatte in beiden Fällen Be⸗ denken, es zu fordern. Wenn ihr dann dazwiſchen der Einfall kam, an Gabriele zu ſchreiben, ihr zu ſagen, wie glücklich ſie ſie machen könne, ſo wies ſie ſolchen Gedanken ſchon im nächſten Augenblicke wieder von ſich, und ſchalt ſich für die thörichte Vermeſſenheit, aus welcher er entſprungen war.
Darüber vergingen die Tage, welche für Gabrielens Gaſtſpiel beſtimmt waren. Sie war zum zweitenmale als Julia aufgetreten, weil man ſie eben in dieſer Rolle noch einmal zu ſehen gewünſcht hatte, und ſo mächtig war der Eindruck geweſen, daß Miß Kenney trotz ihrer Jahre durch ihn in eine völlige Aufregung verſetzt worden war. Noch in den ſpäten Abendſtunden wurde ſie nicht müde, dem Pfarrer und ſeiner Tochter mit ſolcher Lebhaftigkeit davon zu ſprechen, daß ſie dadurch endlich ſelbſt in dem Greiſe den Wunſch an⸗ regte, des erhebenden Genuſſes auch einmal theilhaftig geworden zu ſein.
Am folgenden Tage ſpielte Gabriele nicht. Der Pfarrer und Hulda waren alſo Abends, wie gewöhn⸗ lich, in Miß Kenney's Zimmer gegangen, um ein paar Stunden mit gemeinſamem Leſen auszufüllen, als ein Wagen in den ſtillen Vorhof des Hauſes ein⸗ fuhr, und Gabriele ſich melden ließ. Gleich darauf und noch ehe Hulda, wie ihr befohlen, die Lichter auf dem Seitentiſche zum Empfange des erſehnten Gaſtes hatte anzünden können, trat die Gefeierte ſchon bei
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ihnen ein, jo freundlich und jo ſtrahlend, daß man meinte, ſie bringe das Licht mit ſich, welches das Zim⸗ mer jetzt erhellte.
„Sie haben wohl an mir zu zweifeln angefangen, weil ich mich gar ſo lange habe erwarten laſſen,“ ſagte ſie, indem ſie raſch auf Miß Kenney zuſchritt und mit anmuthiger Bewegung ihrer alten Bekannten die beiden Hände reichte, „aber bei ſolchen Kunſtreiſen gehört man ſich ja nicht, und thut am ſeltenſten Das⸗ jenige, was man eben thun möchte, denn: „Schau zu ſpielen iſt ja unſer Fall!“ Ich habe mir die Stunde bei Ihnen, liebe Freundin, auch nur dadurch frei machen können, daß ich mich früh zu dem Balle bei dem Gouverneur ankleiden ließ, auf welchem ich mich heute Abends von nahebei anſehen und ausfragen zu laſſen habe. Dafür will ich mich aber hier im voraus ſchad⸗ los halten. Sie ſollen mir eine Taſſe Thee geben und mir erzählen, wo die Gräfin iſt, wie ſie lebt, wie Clariſſe und der junge Graf ſich entwickelt haben, und wie es zugeht, daß ich Sie hier ohne die gräfliche Familie finde.“
Sie hatte das Alles ſchnell wie eine Fürſtin ge⸗
ſprochen, die es weiß, daß man ſich glücklich ſchätzt, fie reden zu hören, und daß man ſich durch die Theil⸗ nahme, welche ſie erweiſt, geehrt fühlt. Nun wendete ſie ſich gegen den Paſtor und deſſen Tochter, ſagte, ſie freue ſich, daß ihre alte Freundin nicht allein zu leben ſcheine, und erkundigte ſich bei der⸗
ſelben, ob es Verwandte wären, welche ſie hier bei
ſich hätte.
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Miß Kenney ſtellte ihr die Beiden vor, gab Aus⸗ kunft auf alle Fragen ihres Gaſtes und während der Pfarrer ſich mit Sicherheit, wie es ſich eben ſchickte, in die Unterhaltung miſchte, ſah Hulda, welche den Thee bereitete, mit ſtummer Freude unverwandt zu Gabriele hin. Sie erſchien ihr jünger und ſchöner noch als auf der Bühne, aber ſie konnte ſich nicht darin finden, daß dieſe nach der letzten Mode mit Blumen und mit Edelſteinen reichgeſchmückte Frau, Taſſo's Prinzeſſin Leonore ſei, daß ſie lache und ſcherze, daß ſie zum Balle gehen und tanzen werde. Sie meinte eine Enttäuſchung zu erleiden, und doch entzückte Gabriele ſie, denn Alles an ihr war ſchön und ausgebildet. Ihre Stimme, ihre Sprache, ihre Ausdrucksweiſe und jede ihrer Mienen, waren im Ein⸗ klang mit einander, daß ſie bei aller Natürlichkeit wie ein Kunſtwerk wirkte und erfreute.
Als Hulda herantrat ihr den Thee zu reichen, ſchien ſie erſt achtſam auf das junge Mädchen zu wer⸗ den. Sie ſah Hulda mit Ueberraſchung an, und rief, indem ſie dieſelbe feſt ins Auge faßte: „Sonderbar! aber ich glaube, ſo muß ich einmal ausgeſehen haben!“ — und ſich zu Miß Kenney wendend, während Hulda's Wangen ſich in dunkler Röthe färbten, fragte ſie: „Sie haben mich ja gekannt, als ich zehn, zwölf Jahre jünger war; finden Sie nicht, daß dieſes Mädchen mir ſehr ähnlich ſieht?“
Miß Kenney wollte das nicht gelten laſſen. Eine gewiſſe Gleichheit der Farben, ſagte ſie, ſei wohl vor⸗ handen, eine wirkliche Aehnlichkeit der Züge könne ſie
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nicht auffinden. Indeß Gabriele war nicht gewohnt, daß man ihr Unrecht gab, und ſich raſch erhebend, nahm ſie Hulda bei der Hand, trat mit ihr an den Spiegel heran, und mit prüfendem Blicke über die beiden Köpfe hingleitend, wiederholte ſie: „Aber ganz auffallend gleichen Sie mir, liebes Mädchen! Nur ſchlagen Sie die Augen nicht ſo nieder und machen Sie kein ſo ängſtliches Geſtcht, denn zum Erſchrecken
iſt es doch wirklich nicht, daß Sie mir ähnlich ſehen.
Sie bog ſich dabei freundlich zu Hulda hinüber, küßte ſie auf die Stirne und ſagte: „Nun darf ich nicht einmal mehr ſagen, daß Sie mir gefallen, und Sie haben alſo doch gleich einen Nachtheil durch die ſchlimme Aehnlichkeit mit mir!“
Sie ging darauf an den Theetiſch zurück, fragte
den Pfarrer, dem die Freude, welche die berühmte Frau an ſeinem Kinde hatte, gar wohl that, wie er ſich innerlich wegen dieſer Eitelkeit auch tadelte, ob er die Tochter auf dem Lande erzogen habe, und weil Miß Kenney, die vor allem Anderen immer Gouvernante und Erzieherin war und blieb, die große Beachtung nicht für angemeſſen hielt, welche Gabriele auf Hulda wendete, meinte ſie, die Frage der Künſtlerin plötzlich unterbrechend, das Beſte an Hulda's Erziehung ſei, daß ſie ihr Empfindung für das Große und das Schöne gegeben habe. Hulda ſei ſehr glücklich ge⸗ weſen, Gabriele neulich als Leonore zu bewundern. „Und in welchen Rollen haben Sie mich ſonſt geſehen?“ fragte die Künſtlerin. Hulda ſagte, daß ſie nur das eine Mal im Theater geweſen ſei, obſchon ſie
— Aa
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ſehnlich gewünscht habe, fie als Julia ſehen zu können. Selbſt der Pfarrer drückte ihr ſein Bedauern aus, daß ihm dieſe Freude verſagt worden ſei, und Miß Kenney erwärmte ſich auf das Neue, als ſie es Gabrielen ausſprach, wie einzelne ihrer Worte und Bewegungen ſie ergriffen hätten.
Die Künſtlerin hörte es mit der heiteren Ge— nugthuung an, welche jede ehrliche und warm⸗ herzige Anerkennung auch dem Vielgefeierten bereitet. Dann ſich zu Hulda wendend, an welcher ſie ein unverkennbares Wohlgefallen zu haben ſchien, ſagte ſie: „Die Julia ſpiele ich hier nicht wieder, dazu kann ich Sie leider nicht mehr einladen, aber ich halte ſie ſelbſt für eine meiner beſten Rollen und freue mich immer, wenn die Leute das ebenfalls finden. Indeß — da Sie ſo ſehr gewünſcht haben, mich als Julia zu ſehen, ſo muß man verſuchen, wie man Ihnen, ſoweit als möglich, einen Erſatz dafür bietet, und zugleich den Herrn Pfarrer für dieſe Stunde entſchädigt, in der Sie ſonſt ſeine Vorleſerin machen. Sie zog die Uhr aus dem Gürtel ihres Kleides, ſah nach der Zeit und meinte dann: „Eine halbe Stunde habe ich noch vor mir. Haben Sie einen Shakeſpeare hier im Haufe, fo will ich Ihnen ein paar Scenen leſen, wenn Sie mir die Gegenparte halten wollen.“
„Ich? Ihnen? Ach, das kann ich nicht!“ rief Hulda, der immer unwahrſcheinlicher wurde, was ſie eben jetzt erlebte.
„Probiren Sie es nur, es koſtet nicht das Leben,“
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ſcherzte Gabriele, „und nun ſchnell das Buch herbei, denn wir dürfen keine Zeit verlieren!“
Das Trauerſpiel war gleich zur Hand. Hulda hatte es in den Tagen geleſen, da es ihr nicht ver— gönnt geweſen war, der Aufführung beizuwohnen. Gabriele ſchlug die erſte Scene zwiſchen Romeo und Julie auf und wies Hulda an, den Romeo zu leſen, während ſie ihre Rolle aus dem Gedächtniß ſprach. Sie war in allerbeſter Stimmung. Sie begann mit der Ballſcene, ließ die Zwieſprache vom Balkone darauf folgen und reihte daran die Scene, in welcher Julia,
Kunde von Romeo erwartend, den Tod Tybalt's
erfährt. Dann ging ſie zu dem Abſchiede der Liebenden bei Tagesanbruch über, und ſo in geſchickter Wahl von Scene zu Scenee bis an das Ende der Dichtung fortſchreitend, ſpann ſie ihre drei Zuhörer mit jedem Worte feſter in die Täuſchung ein, welche ſonſt nur der Anblick der Darſtellung gewährt. Sie hatte die Liebesſcenen und das Selbſtgeſpräch, bevor ſie den Schlaftrunk nimmt, mit einer ſo überwältigen⸗ den Wahrheit geſprochen, daß den beiden Alten die Thränen in die Augen gekommen waren. Was Hulda jedoch dabei empfand, das ging weit hinaus über eine ſolche Rührung. | |
Das Herz hatte ihr laut geſchlagen, als ſie die erſten Worte der Dichtung vor Gabrielen hatte ausſprechen müſſen, aber je weiter ſie geleſen hatte, um ſo mehr hatte ſie ſich ſelbſt vergeſſen, um ſo freier war ihre Seele in der Bewunderung Gabrielens geworden. Wie man im Traume Dinge erlebt und vollbringt, die man,
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während man ſie thut, mit feinem eigentlichen Bewußt⸗ ſein für unmöglich hält, ſo hatte ſie ſich ganz an die Dichtung und an die Darſtellerin hingegeben. Sie hatte fort und fort geleſen und zuletzt in beglücktem Staunen dageſeſſen, als die Künſtlerin ihren letzten Monolog mit den Worten
„O willkommener Dolch!
Dies werde deine Scheide. Roſte da
Und laß mich ſterben!“ beſchloß.
Gabriele erhob ſich danach raſch, warf, aufathmend und lächelnd, die reichen Locken des ſchönen Hauptes zurück, die ihr über die Stirne gefallen waren, und ſagte, weil die Macht des Eindruckes ihre Hörer ver⸗ ſtummen ließ, ſich zu Hulda wendend, indem ſie ihr die Hand reichte: „Nun, habe ich es gut gemacht? Sind Sie mit mir zufrieden liebes Mädchen?“
„Ja!“ ſagte Hulda; und ſelbſt das Eine Wort zu ſprechen fiel ihr ſchwer, aber ſie neigte ſich, während der Vater und Miß Kenney der Meiſterin mit Wärme dankten, küßte Gabrielens Hand und blieb dann ſtehen und ſah ſie an. Die Thränen floſſen ihr vor Begei⸗ ſterung über die Wangen nieder.
„Wie lebhaft Sie empfinden!“ ſagte Gabriele, der die ſtille, leidenſchaftliche Huldigung des jungen Mädchens wohlgefiel. „Ihre Tochter lieſt ſehr gut, Herr Paſtor!“ fügte ſie hinzu, „wirklich ungewöhnlich gut. Sie hat mich durch keinen falſchen Ton geſtört, bisweilen ſogar überraſcht. Dafür ſoll Sie mich nun auch noch als Donna Diana in meiner Abſchiedsrolle
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ſehen. Sie find ja ein Kind vom Lande,“ ſcherzte te gegen Hulda, „alſo wohl früh auf. Kommen Sie morgen um neun Uhr zu mir, dann ſollen Sie Eintritts⸗ karten für Sie und für Miß Kenney haben, und nun muß ich machen, daß ich fortkomme, denn ich mag nicht auf mich warten laſſen!“
Damit wickelte ſie ſich in die Zobelpalatine ein, die ſie bei ihrem Eintritte umgehabt hatte und ver⸗ ließ die dankbar ihr Folgenden mit der Verſicherung, daß ſie ebenſo viel Freude an ihrem Beifall ge⸗ habt, als hätte ſie vor dem größten Publikum geſpielt. 5 |
Fünftes Capitel.
Die Sonne war noch nicht über die hohen Giebel⸗ dächer der alten Häuſer in den ſchmalen Straßen emporgeſtiegen, und es war bitterkalt, als Hulda nach damaliger Landesſitte in ihrem feſtanliegenden Pelz- rock, mit dunklem Wollenzeuge überzogen, die kleine, das Geſicht umſchließende Sammetkappe auf dem Kopfe, ſich am Morgen auf den Weg zu Gabrielen machte.
Zwei mit Poſtpferden beſpannte Wagen ſtanden vor dem Gaſthof. Unten in dem Hausflur brannten die Lichter noch, denn es wird im Winter in jenen Gegenden ſpät Tag. Der Hauswart, an welchen ſich Hulda, die noch nie allein in ein Gaſthaus eingetreten war, mit verlegener Frage wendete, ſagte ihr, daß Mademoiſelle ſchon aufgeſtanden ſei und Befehl ge⸗ geben habe, wenn ein junges Mädchen käme, es bei ihr vorzulaſſen. Man mochte ſie als eine Hilfeſuchende betrachten.
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Gabriele ſaß in einem dunkelen ſeidenen Morgen— rocke mit hellen Aufſchlägen an ihrem Frühſtückstiſche. Das Feuer flackerte mit luſtigem Scheine in dem Ofen, ſilberne Armleuchter erhellten den Tiſch. Trotz der befrorenen Scheiben ſtanden blühende Blumen in Töpfen an den Fenſtern und blühende Sträuße in den Vaſen auf den Tiſchen. Bücher, Zeitungen, Briefe und eine Menge von Kleinigkeiten aller Art nahmen den Schreibtiſch ein. Die Kammerfrau trug ein Koſtüm von rothem, goldgeſticktem Sammet durch das Zimmer.
Hulda hatte in dem Schloſſe wohl Aehnliches ge⸗ ſehen, es hatte jedoch hier, wie ſie meinte, Alles einen anderen Anſtrich. Es ſah Alles hier weit freier, zu— fälliger, romantiſcher aus. Es gefiel ihr beſſer, ohne daß ſie ſich während des flüchtigen Blickes Rechenſchaft darüber geben konnte, denn Gabriele rief ihr freundlich „Guten Morgen!“ zu. Sie ſagte, nach ſolchem Gange durch den kalten Morgen habe Hulda gleich eine Erwärmung nöthig. Sie befahl alſo noch eine Taſſe zu bringen, und hieß Hulda den Pelz und die Kappe ablegen, um mit ihr zu frühſtücken.
Sie ſelber rückte ihr den Stuhl heran, ſchenkte ihr die Chokolade ein, und wie ſie Hulda dann noch einmal anſah, meinte ſie: „Jetzt, da Sie mit den friſchen rothen Farben von der Straße kommen, ſehe ich erſt recht, wie jung ſie ſind. Geſtern täuſchte mich Ihre ſtattliche Figur darüber. Wie alt ſind Sie eigent⸗ lich, mein liebes Kind?“
Hulda ſagte, ſie ſtehe im achtzehnten Jahre.
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„And Sie waren immer auf dem Lande? — Sie haben, wie Ihr Vater mir geſtern ſagte, Ihr Vaterhaus nicht viel verlaſſen. Dafür haben Sie merkwürdige Töne in Ihrer Stimme, und in Ihrer Bruſt — Töne, die man in der Kinderſtube doch nicht zu erlernen pflegt. Wo haben Sie die her?“
Hulda ſah ſie an, als verſtehe ſie die Frage nicht recht. „Ich meine, ob Sie ſonſt ſchon ähnliche Verſuche wie den geſtrigen gemacht, ob Sie ſchon öfters Dramen mit vertheilten Rollen geleſen haben?“
Hulda bejahte das. „Man hat mich im verwichenen Winter bisweilen in das Schloß hinüberkommen laſſen,“ ſagte ſie, „um bei dem Leſen auszuhelfen.“
„Da alſo haben Sie es gelernt? Mit wem haben Sie denn dort geleſen?“
„Es war oft größere Geſellſchaft beiſammen, bis⸗ weilen aber waren es nur Comteſſe Clariſſe und der Fürſt und“ — ſie ſtockte — „und der Herr Baron.“
„Was für ein Herr Baron?“
„Baron Emanuel!“ ſagte Hulda, während eine dunkle Röthe ihr Geſicht übergoß und ſie die Augen nicht aufzuheben vermochte, weil ſie fühlte, daß ſie ſich verrieth.
„Ja ſo! nun verſteh' ich's! Nun verſtehe ich es, mein Kind! wo Du den tiefen, weichen Ton der Klage her haſt, den man nicht vom Hörenſagen lernt — am wenigſten mit fiebzehn Jahren!“ rief Gabriele aus, und wie ſie dabei dem jungen Mädchen mit ihrem klugen, klaren Blick die Hand reichte, da hielt ſich Hulda länger nicht.
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Alles, was fie das ganze Jahr hindurch ſtill und klaglos in ſich verſchloſſen hatte, all das ſchöne Hoffen, das ihr mit einem harten Schlage zertrümmert worden war und das neu aufzubauen ſie ſich verbieten mußte, die ganze troſtloſe Entmuthigung, die ſelbſt das Vor⸗ wärtsblicken in die Zukunft ſcheute, und das nicht zu ertödtende Verlangen nach einem nahe geglaubten Glück, das Alles ſtürmte mit einemmale und ſo gewaltig auf ſie ein, daß ſie, hingeriſſen von dem freundlichen Ent⸗ gegenkommen der Frau, in der ſie ein höheres Weſen verehrte, ſich unwillkürlich zu Gabrielens Füßen warf und, das Geſicht auf deren Knieen bergend, unter ſtürzenden Thränen die Worte hervorſtieß: „Ach ver- geben Sie mir! ich kann nicht anders! ich bin ſo un⸗ glücklich.“ | |
„Steh' auf, Kind! liebes armes Kind! ſo ſteh' doch auf!“ rief Gabriele, indem ſie die Weinende em⸗ porhob und in ihre Arme ſchloß, die, beſchämt über ihr leidenſchaftliches Thun, ihre Augen trocknete und ſich zu faſſen ſuchte. Aber Gabrielens Theilnahme, die zuerſt durch jene Aehnlichkeit erregt worden war, welche Hulda wirklich mit derſelben beſaß, zeigte ſich auch jetzt. Sie hatte Mitleid mit dem Zwange, den das junge Mädchen ſich auferlegte.
„Quäle Dich nicht!“ ſprach ſie, „weine Dich nur aus. Es giebt Thränen, die Vater und Mutter nicht ſehen dürfen, die aber doch geweint ſein wollen und ſanfter fließen, wenn ein Anderer es ſieht, der es gut mit uns meint — und ich meine es gut mit Ihnen! Sehr, ſehr gut! Alſo reden Sie, weinen Sie ſich nur
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aus! Was iſt Ihnen denn geſchehen? Erzählen Sie mir Alles! Ich werde es verſtehen! Denn ich habe auch vielerlei, gar vielerlei erleben und erleiden müſſen! Mir dürfen Sie Alles ſagen, Alles!“ |
Und Hulda erzählte Alles, Alles! mit all ihrer Wahrhaftigkeit. Es war ihr wie eine wirkliche Erlö⸗ ſung, daß ſie endlich einmal ſprechen konnte, daß endlich über ihre Lippen kam, was keines Menſchen Ohr von ihr vernommen, was ſie dem Geliebten nie zu ſagen vermocht und was ihr faſt das Herz zerſprengt hatte, weil ſie es allein in ſich getragen hatte, bis auf dieſe Stunde.
Draußen war es völlig Tag geworden. Die Sonne ſchien hell durch die beeiſten Scheiben, die Kerzen brannten noch immer auf dem Tiſche, aber keine der beiden Frauen bemerkte es, keine dachte daran ſie aus⸗ zulöſchen. Erſt als Hulda mit einem ſtillen Seufzer ihre einfache Erzählung ſchloß, und Gabriele auf ihre Erkundigung, was denn nach der Entfernung des Barons und nach Hulda's Geneſung noch geſchehen ſei, die Antwort erhalten hatte, fragte ſie: „Und was erwarten Sie nun ferner? Was denken Sie zu thun?“
Hulda hob die Augen traurig zu ihr empor. „Was kann ich thun, als meine Pflicht erfüllen! Muß ich doch Gott danken, daß er mir die Möglichkeit dazu noch gönnt!“ entgegnete ſie mit leiſer Stimme.
„Ja!“ verſetzte Gabriele, „ich fühle Ihnen das wohl nach, Sie müſſen jetzt bei ihrem Vater bleiben. Aber ich hätte nicht alſo gehandelt, und der Baron rechnet Ihnen Ihre Kindesliebe ſicher nicht als Tugend
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an. Ich kenne ihn ſeit Jahren!“ — Sie ſah, wie das Geſicht des Mädchens bei den Worten von einer ſchnell aufzuckenden Freude leuchtete. „Ich kenne Baron Emanuel genau und gut, fügte ſie danach hinzu, ihn und ſein ſchwärmeriſches, weiches Herz, und ich kann begreifen, daß Sie ihn lieben, wie daß er Sie liebte. Aber er iſt ein Mann, und eben ein ſchwärmeriſcher Mann, und er hat die ganze empfindungsvolle und mißtrauiſche Selbſtſucht eines ſolchen. Ein Mann, wie Baron Emanuel, fordert andere Liebesproben, als Sie ihm geboten haben; der anerkennt keinen Anſpruch, als nur denjenigen, welchen ſein Herz und ſeine Liebe an Sie zu machen hatten. Er wollte ein Opfer bringen für Sie, ſo waren Sie ihm auch ein Opfer ſchuldig. Er hat ſich ganz gewiß geſagt, die rechte Liebe kennt Nichts als ſich ſelbſt, die rechte Liebe muß, wie es ja auch in der Bibel heißt, Vater und Mutter verlaſſen und dem Manne folgen! Sie haben ihn in dieſen Erwartungen getäuſcht. Wie ſoll er an Ihre Liebe glauben, da Ihr kindlicher Gehorſam ſtärker ge- weſen iſt, als Ihre Liebe für den Geliebten Ihres Herzens?“ |
Hulda hatte eine ſolche Antwort nicht erwartet, ſie that ihr deshalb wehe. „Konnte ich denn gegen meines Vaters Willen handeln?“ fragte ſie. „Konnte 5 3
Gabriele ließ ſie nicht vollenden. „Freilich konnten Sie das, freilich mußten Sie das! Und auf
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Händen hätte Sie der Baron dafür getragen — denn gerade er hatte eines ſolchen Liebeszeichens nöthig. Aber Ihr leſet und lernet Euere Dichter und beherziget ſie nicht! — Sie haben es gewiß Thon oftmals ausge- ſprochen das tiefſinnige: „Und ſehnt' ich mich nach un⸗ gemeinen Schätzen, ich muß das Ungemeine daran ſetzen!“ — und jenes ewig wahre: „Was du von der Minute ausgeſchlagen, bringt keine Ewigkeit zurück!“ — Haben Sie danach gehandelt?“
Hulda verſtummte davor. Gabriele ergriff ihre Hand. „Ich will Ihnen nicht wehe thun, Kind!“ ſagte ſie ſanft. „Im Gegentheile! Ich möchte Ihnen nur beweiſen, daß Ihnen Nichts widerfahren iſt, was Sie nicht ſelbſt veranlaßt haben; denn ich finde, man wird immer ruhig, wenn man ſich einer vernünftigen Folgerichtigkeit der Dinge gegenüber weiß. Deshalb halte ich Sie aber keineswegs für ſchuldig. Man erzieht Euch ja in den ſogenannten guten Bürgerfamilien in einer Anſchauungsweiſe, die Euch den Muth Euerer Meinung nimmt. Man erzieht Euch für den Haus⸗ gebrauch, und nur Wenige kommen darüber hinaus. Auch Sie, mein Kind, haben das nicht vermocht. Sie trauten ſich zu, den Bann zu brechen, der über Ihrem Geliebten lag, und konnten ſich ſelbſt nicht losmachen von den Banden, die Sie für heilige hielten, und die ein Jeder bis zu einem gewiſſen Punkte auch zu ehren hat. Das werden Viele loben und bewundern. Ich freilich lobe und bewundere es nicht. Es iſt Jeder von uns um ſeiner ſelber willen auf der Welt, und wenn
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die Liebe die ſtärkſte Kraft des Frauenherzens iſt, To iſt der Muth der Liebe in meinen Augen des Weibes höchſte Tugend.“ Sie machte eine kleine Pauſe, ſah Hulda, die ſprachlos und überwältigt an ihrer Seite ſaß, eine kleine Weile an und ſagte danach: „Sie haben den Romeo ſo gut geleſen und die Julia ſo ſchlecht verſtanden! — Trotzdem — es iſt Etwas in Ihnen, das mich an meine Jugend mahnt!“
„Sie mußten alſo Ihr Vaterhaus und Ihre Eltern auch verlaſſen?“ fragte Hulda ſchüchtern.
„Ich? — Ich habe keine Eltern und kein Vater⸗ haus gekannt. Was ich geworden, das bin ich durch mich ſelbſt geworden!“ ſagte Gabriele, indem ſie ernſt und ſtolz den Kopf erhob. Meiner früh verſtorbenen Mutter Schweſter, eine Tänzerin wie ſie, hat mich aufgenommen; erzogen hat mich Niemand. Ich bin herangewachſen — das war Alles. Wie eine junge Ente in das Waſſer, bin ich, wie in das mir ange borene Element, in das Leben hineingegangen — und es iſt nicht immer ein helles, klares Waſſer geweſen, das vor mir gelegen hat. Alles habe ich mir erſchaffen und erobern müſſen, ſogar mein Pflichtbewußtſein und die Achtung vor mir ſelbſt. Was ich gewonnen und verloren habe, gewann, verlor ich mir allein, bis auch mir die Stunde der Erlöfung — der Erlöſung durch den großen, erhabenen Glauben eines Einzelnen an mich, einmal gekommen iſt, die mich neu geboren hat; und ſolch eine Stunde, ſolch eine erlöſende Schickſals⸗ gunſt fehlt kaum einem Menſchenleben. Sie kommt in wechſelnder Geſtalt — nur daß wir fie jo oft ver—
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träumen, daß wir ſie nicht feſtzuhalten und uns in und an ihr nicht emporzuheben wiſſen.“ Sie unterbrach ſich, über ihre Hingebung verwundert, und ſagte dann: „Aber das hat mit Ihrer Lage im Grunde Nichts zu ſchaffen. Sie ſagen mir, daß Sie die Hoffnung auf⸗ gegeben haben, Baron Emanuel zu Ihnen zurückkehren zu ſehen, da er Ihnen ſeit ſo lange kein Zeichen der Theilnahme mehr gegeben hat, und ich glaube, daran thun Sie wohl, denn ſolches zuwartende Hoffen bricht die Kraft entzwei. Aber haben Sie Jemanden, zu dem Sie ſich wenden können, der für Sie ſorgen würde? Oder was denken Sie zu thun, wenn Ihr Vater, der ja betagt und nicht der Stärkſte mehr zu ſein ſcheint, die Augen einmal ſchließen wird?“
Kaum ein Tag war vergangen, an welchem ſich Hulda dieſe Frage nicht vorgehalten, und ſeit Monaten hatte ſie ſich geſagt, daß ſie auch nicht die entfernteſte Hoffnung auf eine Wiedervereinigung mit Emanuel zu bauen habe, daß ſie beſtimmt ſei, ihren Weg im Leben einmal ſelbſt zu ſuchen und ihr Brot zu ernten, wie ſie können würde. Jetzt, da ſie dieſes vor Ga— brielen auszuſprechen hatte, fühlte ſie, wie ſie nicht glaubte, was ſie ſagen wollte, wie all ihr Hoffen an dem Entfernten hing; und unfähig, es zu unterdrücken, rief ſie: „Er kann mich ja nicht vergeſſen haben!“
Der Ton, mit dem ſie dieſes ſagte, entzückte Ga⸗ briele durch ſeine Naturwahrheit und erhöhte ihre Theilnahme und ihr Mitgefühl für Hulda.
„Vergeſſen?“ wiederholte ſie. „Wer kann ver⸗ geſſen? Was vergißt man denn? Aber auch Unver⸗
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vergeßliches wird aufgegeben, muß oft aufgegeben, werden, und dann je eher, um ſo beſſer, gutes Kind!“ |
Ihre Dienerin unterbrach ſie mit einer Meldung. Der Direktor eines größeren Theaters in der benach— barten Provinz war in der Frühe angelangt und wünſchte vorgelaſſen zu werden. Er hatte Gabrielen den An⸗ trag gemacht, zwei oder drei Vorſtellungen auf ſeinem Theater zu geben, und war, da ſie es nicht bewilligen zu können glaubte, nun ſelbſt gekommen, um ſie wo⸗ möglich dazu zu beſtimmen. Da ſie ſich bereit erklärte, ihn zu empfangen, wollte Hulda ſich entfernen, aber Gabriele hieß ſie bleiben, denn man hatte ihr die Eintrittskarten noch nicht gebracht, welche ſie den beiden Frauen geben wollte.
Der Direktor war ein großer und noch ſehr ſtattlicher Mann, obſchon er den Sechzigern nicht ferne ſein mochte. Hulda hatte von ihrem Vater ſeinen Na⸗ men ſchon als Kind vernommen, denn erz gehörte einer altbekannten Schauſpieler-Familie an, die in früherer Zeit das Theater in der Hauptſtadt in Pacht gehabt, und der Pfarrer hatte damals Gelegenheit gefunden, ihn als jugendlichen Liebhaber mehrfach zu bewundern. Auch ſchien der Direktor ſich in der Rolle eines ſolchen noch immer zu gefallen. Er war modiſch und mit einer Sorgfalt gekleidet und friſirt, die an Uebertreibung grenzte. Sein Ton, ſeine Haltung waren zuverſichtlich und auf eine beſondere Wirkung berechnet. Man merkte es ſofort, er konnte gar Nichts anders als Ko— mödie ſpielen, jeder Naturlaut war ihm abhanden ge⸗
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kommen. Er ſpielte ſogar ſich ſelber; und auch der Enthuſiasmus und die Vertraulichkeit, mit denen er ſich Gabrielen nahte, waren berechnet und gemacht.
„Ich hoffe, Unvergleichlichſte,“ rief er, als fie ihm ſagte, ſie ſei überraſcht, ihn hier zu ſehen, „Sie glauben nicht, was Sie mir ſagen. Hielten Sie mich denn für „ſo ſehr aus der Art geſchlagen,“ daß ich Sie ſo nahe wiſſen konnte, ohne Ihnen die ſchöne Hand zu küſſen, und hätte ich meinen Weg nicht nur durch die Schneefelder, ſondern „durch eine Welt von Plagen“ machen ſollen!“ — Er zog dabei den Hand⸗ ſchuh ab, drückte mit einer gefliſſentlichen Uebertreibung Gabrielens Hand an ſeine Lippen, und als ſie darüber lachend den Kopf ſchüttelte und ihm einen leiſen Schlag gab, rief er: „Immer dieſelbe bezaubernde Anmuth! das unwiderſtehliche Lachen aus den „Erziehungs-Re⸗ ſultaten!“ — Weinen — weinen, das kann der ganze große Troß! Aber wer kann lachen wie Gabriele? Wer hat je gelacht wie Sie? — Nur Sie wieder einmal lachen zu hören — das wäre ſchon die Reiſe werth!“ |
Sie lachte wieder, denn es beluſtigte fie, zu be⸗ merken, wie er ſich in den Jahren, während deren ſie ihn nicht geſehen hatte, gleich geblieben war, und auf ſeinen Ton eingehend, verſetzte ſie: „Damit alſo könnten Sie denn wieder gehen, Wertheſter! Und noch jenſeits meiner Thüre, ſollten Sie mich lachen hören über die phantaſtiſche Laune, die Sie hieher gebracht hat. Aber, Scherz bei Seite — was führt Sie eigentlich hieher, da ich Ihnen ja geſchrieben habe,
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daß ich gegenwärtig nicht bei Ihnen ſpielen könne, wenn ich es auch wollte?“
„Was mich hieherführt? Wollen Sie, daß ich es Ihnen ſage, und wollen Sie mir nicht darüber grollen? — Es iſt meine Kenntniß von den Frauen und mein Glaube, daß Sie keine Ausnahme von der Regel machen würden. Ein Nein zu ſchreiben, fällt den Frauen leicht. Dem Hoffenden, dem Bittenden,“ er betonte dieſes Wort pathetiſch und begleitete es mit der entſprechenden Miene, „dem Bittenden ein Nein zu ſagen, wird dem weichen Herzen ſchwer. Und,“ fügte er ſchnell hinzu, „Sie können Ihre Bedingungen machen, wie Sie wollen, ich geſtehe Ihnen jede im Voraus mit tauſend Freuden zu. Die Hälfte, drei Viertel des Reinertrages! Man will Sie ſehen um jeden Preis; zu verdoppelten Preiſen bin ich ſicher, auszuverkaufen bis auf den letzten Platz. Ich ſtelle Ihnen Extrapoſt, ich beſorge Ihnen die Wohnung, wie Sie dieſelbe wollen. Sie beſtimmen Ihre Rolle, aber — ich muß nach Hauſe kommen und ſagen können: „Die Gabriele kommt!“ Ich muß die Er⸗ innerung behalten: „Gabriele hat bei mir geſpielt!“ — Wie wäre es mit der Eboli? — Erinnern Sie ſich, welchen Beifall wir errungen haben, als ich den Carlos noch mit Ihnen ſpielte? Oder wählen Sie die Thekla! Sie werden mit dem Max zufrieden ſein! Ein großes, vielverſprechendes Talent, ſchöne Geſtalt, vortreffliches Organ, bequemer Partner. Ent- ſcheiden Sie, Verehrteſte!“
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Gabriele hatte ihn feine Rede ruhig zu Ende führen laſſen. Da er endlich innehielt, ſagte ſie: „Es thut mir in der That ſehr leid, verehrter Freund, daß die unabweisliche Nothwendigkeit mich zwingt, Ihre Kenntniß des Frauenherzens Lügen zu ſtrafen. Mich bindet mein Kontrakt, und wenn Sie mir auch goldene Brücken bauen und mir einen Cherub zum Partner bieten, ich muß auch mündlich bei dem Nein ver⸗ harren, daß ich Ihnen ſchrieb. Ich bin ermüdet, darf mir bei der Kälte keine ſo großen Anſtrengungen auferlegen, und die Reiſe, die ich vor mir habe, iſt lang und ſchwer.“
Der Direktor wollte ſich damit noch nicht ab—⸗ weiſen laſſen. Bald als bewundernder Verehrer, bald als eifriger Geſchäftsmann redend, ſchmeichelnd, ſcherzend, Gewinn verſprechend, verſuchte er das Mögliche. Gabriele ging je länger, je mehr auf ſeine Scherze ein und ließ vor ihm endlich die Hoffnung durchblicken, daß ſie nicht zu ſehr angegriffen haben ſollte, bei der Rück⸗ kehr zwei oder drei Vorſtellungen auf ſeiner Bühne geben wolle. Er war ganz Freude bei der Ausſicht. Man traf für dieſen Fall die mündlichen Verab⸗ redungen, man ſprach auch von ſeinem Perſonale. Es kam dabei in freiem Tone Manches aus dem Privat- leben deſſelben und aus dem Privatleben gemeinſamer Bekannter auf das Tapet, das dem Ohre des zu— hörenden jungen Mädchens befremdlich und faſt er— ſchreckend klang; und nicht bevor der Theaterdiener eintrat, der Gabrielen die Billete brachte, erhob ſie
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ſich, um den Direktor zu entlaſſen. Da erſt wurde der Letztere auf Hulda achtſam, die ſich zurückgezogen hatte und an einem der Seitentiſche ſaß.
Er trat an ſie heran, betrachtete ſie, daß ihr das Blut zu Kopfe ſtieg, und fragte dann: „Eine junge Kollegin? eine Anverwandte? hat Aehnlichkeit mit Ihnen. Vortheilhafte Erſcheinung! Würde mit dem ſchönen Haar, wie Sie zu Ihrer Zeit, ein reizendes Käthchen von Heilbronn geben! Ein Käthchen, wie's im Buche ſteht!“
Hulda vermochte die Augen nicht aufzuſchlagen, aber ihre Verlegenheit und ihr Erröthen ließen ſie nur ſchöner erſcheinen. Gabrielens Blicke ruhten mit jenem Wohlgefallen auf ihr, das ſie von der erſten Minute, da Hulda vor ſie hingetreten war, für ſie gefühlt hatte.
„Nichts da von Kollegin!“ ſagte ſie, „Mademoiſelle iſt eines Landgeiſtlichen, eines Pfarrers Tochter! Aber Sie finden alſo auch, daß ſie mir ähnlich ſieht? Es hat mich geſtern überraſcht, und Sie haben Recht, ſie würde ein hübſches Käthchen machen. Sie iſt, wie ich glaube, auch nicht ohne ein gewiſſes Talent. Wir haben geſtern mit einander geleſen, und ſie hat ihre Sache ganz artig, ganz geſchickt gemacht.“
Sie reichte Hulda dabei die Hand und das war gut, denn es war derſelben, als brenne, als wanke der Boden ihr unter den Füßen. Der Direktor hatte die Brille aufgeſetzt und ſah ſie unverwandten Blickes an. „Das iſt ein Lob, auf das Sie ſtolz ſein können,
ſcademoiſelle! ein Lob, nach dem Erprobte geizen
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würden. Sie haben wahrſcheinlich Luft, zur Bühne zu gehen? Haben Sie Verſuche dafür gemacht?“
„Ich?“ rief Hulda, und es war ihr unmöglich, ein weiteres Wort zu finden, ſo daß Gabriele dem Direktor die Erklärung gab, durch welche zufällige Veranlaſſung das Mädchen zu ihr geführt und wie ſie mit demſelben bekannt geworden ſei.
Das ſchien jedoch den Direktor in ſeinem Plane nicht im geringſten zu beirren. „Es heißt im „Fauſt“, ſagte er: „Ein Komödiant könnt' einen Pfarrer lehren! — aber es iſt auch ſchon Mancher aus dem Bereich des Pfarrhauſes, ja Mancher, der für die Kanzel be- ſtimmt geweſen, auf die Bühne gegangen; denn zur Bühne wie nach Rom führen alle Wege. Der Weg dahin iſt aus einem Pfarrdorfe nicht weiter wie aus jedem anderen Orte. Wenn Sie meinen, daß Ma⸗ demoiſelle Talent hat, und wenn Mademoiſelle in ſich Beruf verſpürte —“
„So und ſo weiter!“ fiel ihm Gabriele in das Wort — „und damit laſſen Sie es auf ſich beruhen, mein Beſter! Sie ſehen, Sie ängſtigen, Sie ver⸗ wirren das arme Kind. Man muß mit ſolchem Scherz nicht Ernfſt machen. Nicht wahr, liebe Hulda? Es wird Ihnen bange unter uns Komödianten — und ganz Unrecht haben Sie damit nicht. — Glücklicher⸗ weiſe ſind die Billete jetzt auch da!“
Sie ging an den Seitentiſch, gab ihr die beiden Karten, trug ihr Grüße an ihren Vater und an Miß Kenney auf, ſagte, ſie möchte ſich ihrer erinnern, möchte
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denken, daß fie eine gute Freundin an ihr habe, möchte ſich zuverſichtlich an ſie wenden, wenn ſie glaube, daß ſie ihr einmal nützlich ſein könne, und entließ ſie dann, um ſich ankleiden zu laſſen und zur Probe zu gehen, wohin der Direktor ſie mit ihrer Erlaubniß begleiten wollte.
Zehntes Capitel.
Wie Hulda nach Hauſe gekommen war, wie der Tag ihr vergangen, was ſie am Abende im Theater gedacht, gefühlt hatte, das wußte ſie nach wenig Tagen ſchon nicht mehr. Nur daß der Direktor aus der Proſceniums⸗Loge, in der er ſich befunden, fie durch die Brille mit ſeinen großen, hervortretenden Augen immer wieder angeſehen, daß er ſie mit einer Ver⸗ traulichkeit begrüßt hatte, als ob er ein alter Bekannter von ihr wäre, deſſen erinnerte ſie ſich genau, und es war ihr beruhigend, daß Miß Kenney es nicht geſehen hatte. Die Achtſamkeit, welche der Direktor auf ſie gerichtet, hatte ſie förmlich befangen und gepeinigt. Das Spiel Gabrielens war ihr darüber zum Theil verloren gegangen. Sie hatte von dem Direktor jo- gar in der Nacht geträumt. Es war plötzlich ein ganz neues, ihr unheimliches Element in ihr Leben gekommen, eine Angſt, eine Unruhe, über die ſie nicht Herr zu werden vermochte. Sie wagte es weder dem Vater noch ihrer alten Freundin zu erzählen, was ſich an dem Morgen bei Gabrielen zugetragen, was ſie
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dort erlebt und an welche Möglichkeiten man für ſie gedacht hatte; und doch lag ihr jener Morgen immer⸗ fort im Sinne, doch ſagte ſie ſich unaufhörlich: wenn Er, wenn Emanuel es wüßte, daß man ſie Gabrielen ſo ſehr ähnlich fand, daß man die Laufbahn einer Schauſpielerin als eine ihr angemeſſene erachte!
Die Tage und Wochen und die Jahreszeit nahmen inzwiſchen ihren ſtill gewohnten Lauf. Hulda that an jedem Tage, was ihr oblag, ſie pflegte den Vater, leiſtete ihrer Beſchützerin die kleinen häuslichen Dienſte,
deren ſie bedurfte, und wenn man ſie daneben oft⸗ mals noch ſtill und in ſich verſunken ſah, ſo ließ man
ſie gewähren, denn man war gewiß, ſie bei der Geſundheit ihrer Natur getroſt ſich ſelber überlaſſen zu dürfen. Man hoffte, die Zeit würde die Wunde ihres Herzens heilen und vernarben machen, beſonders da Emanuel Nichts weiter von ſich hören ließ und Niemand in ihrer jetzigen Umgebung einen Zuſammen⸗ hang zwiſchen Hulda und dem Baron auch nur ver⸗ muthete.
Der Pfarrer freute ſich, daß Hulda's Luſt, ſich zu unterrichten, ihre Vorliebe für die claſſiſche Literatur mit jedem Tage zunahmen, daß ſie ihr Gedächtniß mit den ſchönſten Stellen deutſcher Dichtkunſt füllte. Er und Miß Kenney bemerkten es mit Wohlgefallen, welch einen Einfluß auf Hulda's Vortrag die flüchtige Begegnung mit Gabriele ausgeübt hatte. Mit der Blindheit, welche man faſt immer für das Seelen— leben ſeiner Nächſten hat, ahnte es keiner von den Beiden, was in des jungen Mädchens Seele vorging,
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und wie gerade in den Stunden, in welchen fie am ſchmerzlichſten um die verlorene Liebe trauerte, eine Hoffnung und ein Verlangen vor Hulda aufſtiegen, von deren blendendem Glanze ſie wie vor einer gefähr⸗ lichen Verlockung noch ihr Auge ſchloß, beſonders da eben jetzt die geſteigerte Sorge um den a ſie von ſich ſelber abzog.
Das Augenleiden des Pfarrers hatte ſich trotz der Sorgfalt und Kunſt des Arztes nicht gebeſſert. Eine Operation, auf die man ſich vertröſtet, ſtellte ſich als nicht ausführbar heraus. Man hatte alſo im beſten Falle zu erwarten, daß des Greiſes Augenlicht nicht ganz erlöſchen, daß er noch fähig bleiben werde, ſeinen Amtsgeſchäften unter Beiſtand des Adjunkten, den man ihm gegeben hatte, theilweiſe vorzuſtehen; aber zu einem fortgeſetzten Aufenthalte in der Stadt, war nach ſolchem Ausſpruch des Arztes für den Pfarrer keine Nothwendigkeit mehr vorhanden. Der Greis, für den der verhältnißmäßig lebhafte Menſchenverkehr, deſſen er durch die Ueberſiedelung in die Stadt theil⸗ haftig geworden, am Anfange erfreulich und belebend geweſen war, fing an, ſich nach ſeinem Dorfe, nach ſeinen Pfarrkindern, nach ſeiner ihm noch möglichen Thätigkeit zu ſehnen. Der Gedanke, daß wachſende Erblindung ihn behindern könne, die Stätten und Plätze, an denen ſeine ganze Seele hing, noch ein⸗ mal mit leiblichen Augen zu ſchauen, lag ihm be⸗ ſtändig im Sinne, und trieb ihn noch mehr dazu an, auf die Rückkehr in die Heimat mit einer ihm ſonſt fremden Haſt zu dringen.
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Miß Kenney hatte zuerſt Einwendungen dagegen
gemacht. Sie war an Hulda als Geſellſchafterin, als
Vorleſerin gewöhnt, ſie behagte ſich als Herrin des Hauſes, in welchem ſie den Winter mit ihren Freunden zugebracht hatte. Die Unabhängigkeit, in der ſie zum erſtenmale ausſchließlich nach ihrem eigenen Gefallen hatte leben können, war ihr, da das Bequemlichkeits⸗ Bedürfniß des Alters ſich endlich auch bei ihr ein⸗ geſtellt, wohlthuend geworden, und ſie hatte ſich alſo ganz allmälig in die Ausſicht hineingelebt, die Jahre,
welche noch vor ihr liegen mochten, abwechſelnd auf
dem Schloſſe und in dem gräfllichen Hauſe in der Stadt zuzubringen, wobei ſie die Geſellſchaft Hulda's als etwas ſich von ſelbſt Verſtehendes in Rechnung gebracht hatte. Sie wünſchte deshalb auch Hulda, und mit ihr den Vater, deſſen Amtsthätigfeit doch keine nachhaltige mehr ſein konnte, bei ſich in der Stadt zu behalten, bis es ihr ſelber paſſen würde, auf das Land hinauszugehen, und die Gräfin durfte ſich, ſo weit es ihre Plane für ihre alte Erzieherin betraf, wieder einmal der Scharfſicht und Vorausſicht rühmen, mit denen ſie das derſelben Angemeſſene er⸗ kannt und für ſie vorbereitet hatte. Trotzdem be— ſtimmten Umſtände, welche völlig außerhalb ihrer Be⸗ rechnung gelegen, die Gräfin, über die greiſe Dienerin und Freundin noch einmal in anderer Weiſe zu verfügen.
Ihr Schwiegerſohn wünſchte, durch Familien⸗ Angelegenheiten dazu veranlaßt, nach Paris zu gehen und ſeine Frau mit ſich zu nehmen. Die Gräfin war
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geneigt, ſich ihnen anzuschließen, aber die junge Fürſtin konnte es nicht über ſich gewinnen, ihren nur wenige Monate alten Erſtgeborenen mit der Dienerſchaft allein zurückzulaſſen, und den Knaben bei der immer noch winterlichen Jahreszeit den Zufällen einer ſo weiten und langwährenden Reiſe auszuſetzen, trug der Vater Bedenken. Die Gräfin ſchlug alſo vor, die Kenney herbeizurufen, um dem fürſtlichen jungen Paare über alle Beſorgniſſe hinwegzuhelfen. Damit war man augenblicklich einverſtanden. Die Anweiſung, ſich auf den Weg zu machen, wurde der Vielbewährten in der⸗ ſelben Stunde noch ertheilt, die Zeit, in welcher der Brief in ihre Hände gelangen mußte, der Abgang der nächſten ſchicklichen Poſtgelegenheit waren dabei genau berechnet. Die Gräfin ſchrieb ihr, wann ſie auf der Station einzutreffen habe, auf welcher das Fuhrwerk des Fürſten ihrer warten würde; und weder in dem Gedankenkreis der an unbedingten Gehorſam gegen ihre Anordnungen gewöhnten Herrin, noch in dem Bereiche deſſen, was die unbedingte Unterordnung von Miß Kenney für möglich hielt, lag die Vorausſetzung, daß irgend etwas Anderes als ſchwere Krankheit ſie behindern könne, der empfangenen Weiſung ſofort pünktlich nachzukommen. Aber der zögernde Pulsſchlag des Alters ſteht mit raſchen Entſchließungen, mit plötz⸗ licher Umgeſtaltung ſeiner Plane im Widerſpruche, und wie das Vertrauen, das man in ſie ſetzte, und die Ausſicht, das Kind ihrer Clariſſe zu ſehen und zu behüten, die Greiſin auch erfreuen mochten, die Noth⸗ wendigkeit, innerhalb der nächſten vierundzwanzig
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Stunden aufzubrechen, um, nur von einer Magd be gleitet, eine längere Poſtreiſe anzutreten, erſchreckte ſie und vermehrte in ihr die Unbehilflichkeit des Alters.
Sie wollte bald dies, bald das, und wollte vor Allem doch gehorchen. Hätte die Gräfin ſie in ſolcher Rathloſigkeit geſehen, es hätte ſie die Auskunft be⸗ reuen machen müſſen, die ſie für ihr Enkelkind ge⸗ troffen hatte. Sie gab Hulda und dem Dienſtmädchen Befehle, die ſich widerſprachen, und es blieb der Erſteren denn endlich auch nichts Anderes übrig, als nach eigenem Ermeſſen einzugreifen und für ihre Beſchützerin vor— zuſorgen, wie ſie es für ihren Vater ſchon ſeit lange thun mußte.
Der Tag verging in raſtloſer Geſchäftigkeit, es war viel des nächſten Nothwendigen zu beſorgen, zu bedenken; es mußte Abrede getroffen werden für die Heimkehr des Pfarrers und Abrede auch auf den Fall, daß Miß Kenney, wie ſie es für wahrſcheinlich hielt, für längere Zeit bei dem jungen Prinzen zu bleiben haben ſollte. Man kam wenig zur Ruhe, weniger noch zu einem geſammelten Geſpräche. Der Abend war da, ehe man ſich deß verſah. Auf ein ſo plötz⸗ liches Scheiden hatte man nicht gerechnet, aber die Gottergebenheit des Pfarrers und das Pflichtgefühl der Greiſin gaben Beiden Faſſung, als ſie ſich vor Nacht um die gewohnte Stunde trennten.
„Verlaſſen Sie meine Tochter nicht!“ ſagte der Pfarrer, das war Alles. Miß Kenney drückte ihm die Hand. „Hulda weiß es,“ entgegnete ſie ihm, „wie
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ſie auf uns Alle zählen kann. Sie wird nie verlaſſen ſein, wenn fie ſich getreu bleibt wie bisher.“ Damit trennten ſich die Beiden.
Die Poſt ging in den frühen Morgenſtunden fort. Hulda hatte ſich ſehr zeitig erhoben, um der Reiſenden den Aufbruch zu erleichtern. Sie fand dieſelbe ebenfalls ſchon angekleidet, und beſchäftigt, ver⸗ ſchiedene Beſorgungen aufzuſchreiben, welche Hulda im Schloſſe für ſie ausrichten ſollte. Wie ſie ihr dieſelben mit jener ängſtlichen Genauigkeit des Alters eingeſchärft hatte, welches von der eigenen Schwäche und Unzulänglichkeit auf die der Anderen zu ſchließen liebt, ſagte ſie, während ſie noch die letzten Stücke in ihre Reiſetaſche ſteckte: „Ich mache mir einen Vor⸗ wurf daraus, daß ich mich mit Dir nicht längſt ein⸗ mal über Deine Zukunft ausgeſprochen habe; indeß ich hatte nicht erwartet, ſo bald und ſo plötzlich von Dir gehen zu müſſen. Nun drängt der Augenblick und ſolche Dinge machen ſich mündlich doch immer leichter ab als ſchriftlich. Der Arzt hat mir geſagt, daß Deines Vaters ganzer Zuſtand beſorgnißerregend iſt. Sein Augenleiden iſt Folge einer allgemeinen Erſchöpfung, die bei ſeinen Jahren keine Hoffnung auf neue Belebung der Kräfte zuläßt. Ich habe Dir dies bisher verſchwiegen, weil ich mit Euch zu bleiben und Dir im Nothfall, in der entſcheidenden Stunde, zur Seite zu ſtehen hoffte; das kann nun anders kommen. Du wirſt vorausſichtlich auf Dich und Deine eigene Kraft und Faſſung angewieſen ſein, 555 ich denke,
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II.
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Du wirft Dich zu bewähren und das Zutrauen zu rechtfertigen wiſſen, das wir in Dich geſetzt haben. Glücklicherweiſe iſt ja auch der Adjunktus draußen, der ein wackerer und gemüthvoller Mann zu ſein ſcheint. Indeſſen eben ſeine Anweſenheit wird Dich in betreffendem Falle nöthigen, die Pfarre ſobald als möglich zu verlaſſen, und Du wirſt dann am beſten thun, wenn Du zu dem Amtmanne gehſt, der Dir wohlgefinnt iſt, bis ſich eine Stelle für Dich gefunden haben wird, die wir natürlich ſo bald und ſo wünſchens⸗ werth als möglich für Dich zu ermitteln ſuchen werden.“
Sie packte während deſſen die warmen Schuhe ein, die ſie im Poſtwagen anzuziehen dachte, unter⸗ ſuchte die Stöpſel und Korke an ihren Aether⸗ und Riechfläſchchen, ſah, ob die Bonbons ihr leicht zur Hand wären, und ſie hätte noch lange fortſprechen und noch lange unter ihren Sachen kramen können, ohne daß Hulda ſie unterbrochen haben würde.
Es war nicht lange her, daß Gabriele die ſchmerzende Frage an ſie gerichtet hatte, was ſie zu thun denke, wenn ihr Vater einmal die Augen ſchließen werde? Aber wie traurig dieſe Frage fie auch ge⸗ macht, ſie hatte nicht die niederwerfende, die völlig entmuthigende Wirkung auf ſie hervorgebracht, wie Miß Kenney's eben gehörte Worte. Gabriele hatte doch nicht voll ermeſſen können, welch ein Sonnen⸗ ſchein einmal über Hulda's Leben aufgegangen war, wie hell die Zukunft ein paar kurze Tage hindurch ſich vor ihr ausgebreitet hatte, und wie unglaublich es ſie deshalb dünken mußte, daß all die Liebe und Hoffnung,
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und all die Freude und all das Glück nicht dageweſen ſein ſollten; daß ihre heiße, treue Liebe, ihr Glaube und ihre Zuverſicht zu dem Manne, in dem ſie das Urbild allen Seelenadels verehrt hatte, ſie betrogen haben könnten. Miß Kenney wußte dieſes Alles — und benahm ihr trotzdem jede Hoffnung, jede! Miß Kenney hatte es ihr ſo häufig wiederholt, welch mütterliche Zärtlichkeit ſie für ſie hege und konnte an ihr Riechſalz und an die kleinſte ihrer Bequemlich⸗ keiten denken, während ſie über das Schickſal eines armen treuen Herzens den Stab in kühler Seelen⸗ ruhe brach. | Es war vergebens, daß Hulda mit ſich rang, vergebens, daß ſie ſich es vorhielt, wie viel ſie ihrer alten Beſchützerin an Unterricht und Pflege, an Unter⸗ weiſung und Erziehung, an tragender und ſtützender Geduld und Güte ſchuldig geworden ſei. Der Gedanke: ſie nimmt Dir alle Hoffnung, ſie findet es in der Ordnung, was Dir geſchehen iſt und was Du leideſt, und daß Dein Leben wie eine öde Haide weit und grau und farblos vor Dir liegt, preßte ihr das Herz zuſammen und ſchnürte ihr die Kehle zu. Hätte ſie ſprechen wollen, ſie hätte ihre Lippen nur mit einem Aufſchrei öffnen können. Die Bitterkeit, welche ſie in ihrem Schweigen zum erſtenmale in ſich aufſteigen fühlte, ſteigerte ihre Pein, und machte ihr auch das kleinſte Wort des Dankes zur Unmöglichkeit. Glücklicherweiſe war die gute Kenney viel zu ſehr mit ſich beſchäftigt, um Hulda's ſtarres Verſtummen 5 *
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ſonderlich zu merken. Die Anftrengungen und Un⸗ bequemlichkeiten, welche ihre Rückkehr zu der gräflichen Familie ihr auferlegte, machten ſie alles Andere ver⸗ geſſen. Hätte ſie es nicht als ihre Aufgabe erachtet, ihre Pflicht auf jedem Platze, auf den ſie das Geſchick geſtellt, bis auf das Letzte gewiſſenhaft zu erfüllen, jo hätte ſie vielleicht in der Spannung und Aufregung, in welche der plötzliche Befehl der Gräfin ſie verſetzt hatte, überhaupt kaum noch daran gedacht, Hulda in ſolcher Weiſe vorausſichtig zu berathen.
Aber fie war beruhigt, daß fie es doch noch ge- than hatte, ehe der Wagen vorfuhr, der ſie nach der Poſt zu bringen hatte. Sie forderte Hulda noch in aller Eile auf, ihre muſikaliſchen Uebungen und ihre Sprachſtudien fleißig fortzuſetzen, weil man dieſe an einer Gouvernante am meiſten ſuche und bezahle. Sie rieth ihr, auch das Zeichnen nicht zu vernachläſſigen, in welchem ſie unter ihrer Leitung gute Fortſchritte gemacht hätte; ſie verſicherte, daß ſie der Gräfin und der Fürſtin über Hulda's verſtändiges Verhalten das Allerbeſte jagen werde, und daß dieſe ſicher ſein könne, nie des Schutzes und des Beiſtandes der Herrſchaften entbehren zu müſſen, durch deren empfehlende Ver⸗ wendung ein Unterkommen für ſie, ſich gewiß leicht finden werde, ſobald es einmal erforderlich ſein ſollte. Darauf küßte ſie Hulda ganz gerührt, drückte ſie mit wirklicher Zärtlichkeit an ihr Herz, als Hulda ihr in den Wagen half, rief ihr noch zu, ſie möge den Vater grüßen und möge es ihr gleich ſchreiben, wenn Etwas vorkommen ſollte, und Hulda ſah, wie ſie ſich die
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Augen trocknete, als ihre Dienerin der Morgenfälte wegen das Wagenfenſter ſchloß.
Hulda ſtand unter dem Portale und ſchaute dem Wagen nach. — „Sie wird den Baron gewiß bald wieder⸗ ſehen,“ dachte ſie, „ſie wird ihm ſagen, daß ich mich getröſtet habe!“ fügte ſie hinzu, und die verhaltenen Thränen, die ihr bis dahin das Herz belaſtet hatten, ſtürzten ihr aus den Augen.
Hiebentes Capitel.
Ein paar Tage Später, gerade als der Adjunktus des Pfarrers wieder einmal in das Schloß gekommen war, den Amtmann und Mamſell Ulrike zu beſuchen, traf ein Brief von Hulda ein. Sie ſchrieb dem Amt⸗ mann im Auftrage von Miß Kenney, daß dieſe zu der jungen Fürſtin hinbeſchieden ſei, theilte danach dem alten Freunde das Urtheil mit, welches der Arzt über den Zuſtand ihres Vaters ausgeſprochen hatte, und bat ihn im Namen des Letzteren, er möge ihnen, ſo bald es ſein könne, für die Heimkehr ein Fuhr⸗ werk in die Stadt ſenden, da der Vater ſich danach ſehne, in ſein Haus und in ſeine Heimat zurückzu⸗ kehren.
Der Amtmann, der mit unerbittlicher Strenge darauf hielt und darauf zu halten Urſache hatte, daß die Schweſter keinen Brief in die Hände bekam, der an ihn gerichtet war, wie unverfänglich ſein Inhalt auch immer ſein mochte, faltete das Blatt, nachdem er es geleſen hatte, mit Genauigkeit zuſammen, ſteckte es in die Bruſttaſche ſeines Flausrockes und fuhr ruhig
zu rauchen und mit dem Kandidaten weiter zu con⸗ verſiren fort. |
„Sie werden's nicht durchſetzen, Herr Adjunktus! das mit Ihrer Sabathfeier!“ ſagte er. „Wir ſind hierlands nicht Engländer und auch nicht Juden. Sehen Sie ſich vor. Die Leute beharren hier auf ihrem Kopf, auf den Gütern ſo gut wie in der Kate. Es geht hier nicht wie in der Stadt. Wir haben ſammt und ſonders an manchem Sonntag alle Hände nöthig, um den Segen nicht zu Schanden werden zu laſſen, den unſer Herrgott uns gegeben hat; und wer ſechs Tage in der Woche bei der Arbeit gekeucht hat und geſchwitzt, der will am ſiebenten Tage vor Ver⸗ gnügen keuchen und zum Vergnügen ſchwitzen. Sehen Sie ſich vor! Was man durchzuführen nicht gewiß iſt, das muß man mit den Leuten gar nicht exit pro= biren. Ein Pferd, das Ihnen vor dem Graben Kehrt gemacht hat, über den Sie es ſpringen laſſen wollten, das haben Sie nie wieder ſicher in der Hand. Und damit ich Ihnen nackt die ganze Wahrheit ſage, an mir haben Sie mit dieſer Sache keinen Rückhalt und an unſerem Herrn Paſtor auch nicht.“
Der Adjunktus ſchwieg. Es war ihm Ernſt mit ſeinem Amte, Ernſt auch mit der Heilighaltung des Sonntags, wie man ſie einzuführen ſtrebte, ſeit ſich die frömmelnde Richtung in der proteſtantiſchen Kirche geltend machte. Er war guter Leute Kind, ein hübſcher junger Mann von reinen Sitten und von gutem Herzen, kurz ein Mann, gegen den der Amtmann ſonſt
Nichts einzuwenden hatte, als daß er ihm zu welt⸗
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fremd und zu fromm war, und daß er nicht rauchte. Aber er dachte bei ſich: das Rauchen lernt er wohl aus langer Weile noch, und die übergroße Frömmig— keit, die wird ſich auf dem Lande legen, wenn er ſie nicht mehr mit Seinesgleichen in bequemer Geſellig— keit, ſondern ganz für ſich alleine zu betreiben hat.
Auch die Mamſell war ganz für den Adjunktus. Sie ſah es gerne, daß er faſt in jeder Woche einmal in das Amt kam, ſie ließ ſich's gerne gefallen, wenn er zu ihr von ſeiner Mutter ſprach, die ihn nach des Vaters frühem Tode mit Opfern aller Art erzogen hatte, bis auch ſie geſtorben war. Sie nannte ihn ein dankbares Gemüth, einen wohl zu leidenden ſanften Menſchen, und der Amtmann lachte, wenn ſie in des Adjunktus Beiſein ihre Stimme dämpfte und ihrer Rede Gewalt anthat, als beſorgte ſie, ihn zu erſchrecken oder zu verſcheuchen.
„Sie wird ſich aus Narrheit noch auf die Sanft⸗ muth und Frömmigkeit verlegen, denn die Pfarr- Adjunkten ſind einmal ihre Leidenſchaft!“ ſagte er im Scherze zu ſeinem alten Freund, dem königlichen Ober⸗ förſter. Auch heute wieder, ſo ſchwer ihr's ankam, ihre Neugierde zu zügeln, denn ſie hatte die Hand— ſchrift auf dem Briefe erkannt, ging die Mamſell auf des jungen Mannes Unterhaltung ein, und ſtellte ſich auf ſeine Seite, weil ſich der Bruder gegen ihn erklärte.
„Nein, weiß Gott, nicht!“ ſagte ſie ſo ſanft und leiſe, als ſie konnte. „An dem Bruder finden Sie Ihren Rückhalt nicht, Herr Adjunkt! Der kennt Nichts
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als Arbeit, immer Arbeit, am Sonntage wie am Wochentage und ſich im Stillen freuen hat er nie gekonnt.“
Der Amtmann ſchlug ſein hellſtes Lachen auf. „Nein!“ rief er, „nein, da hat ſie Recht, und zu dem Vergnügen, das Sie mir heute bereiten, nicht zu lachen, da müßte ich nicht mehr ich ſelber ſein. Aber nun iſt Alles möglich! Das iſt ja mehr als bloß Be— kehrung, das iſt die reine Hexerei. Die Schweſter, die ſich auf die Sonntagsruhe und auf die Heiligkeit verlegt! Das iſt ein Mirakel, Herr Adjunkt! Wenn Sie mir Die zur Sanftmuth, wenn Sie mir Die zur Stille und zum Schweigen bringen, ſo ſollen Sie mein Mann ſein, mehr noch als bisher.“
Ulrike wurde feuerroth. „Statt den Herrn Adjunktus zu verhöhnen und mich zu verſpotten, weil ich mich noch nicht zu alt erachte, meine Fehler abzu⸗ legen, wenn man ſie mir durch gutes Beiſpiel deut⸗ lich macht, ſollteſt Du —“ fie brach plötzlich ab und biß ſich auf die ſchmalen Lippen.
Dem guten Sinne des jungen Geiſtlichen waren dieſe Vorgänge zwiſchen dem Amtmann und der Schweſter ſehr zuwider. Er war klug und verſtändig genug, die rechtſchaffene Tüchtigkeit des Amtmannes trotz ſeiner gelegentlichen Derbheiten zu achten und zu ſchätzen, und doch noch unerfahren genug, ſich einzu- bilden, daß es ihm wohl gelingen könnte, in Mamſell Ulrike, die ſich immer ſeiner Anſicht zeigte, ſo oft der Amtmann derſelben widerſprach, eine Sinnesänderung und vielleicht, wie er es in ſeiner Weiſe nannte, eine
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Bekehrung und Erhebung zu bewirken. Es war ihm bis⸗ weilen auch geglückt, Ulrike zu beſänftigen, ſo daß er ſich die Ueberwindung, mit welcher ſie in dieſem Augen⸗ blicke innehielt, als ſein Verdienſt anrechnete und ihr zu Hilfe kommen wollte, als der Amtmann ihm dieſe Möglichkeit mit der an die Schweſter gerichteten Frage abſchnitt: „Na, komm' nur damit heraus! Was er ich denn?“
„Du ſollteſt,“ fuhr Ulrike, ihrer ſelbſt jetzt ih länger mächtig, fort, „Du ſollteſt wiſſen, daß ich es nun einmal für den Tod nicht leiden kann, wenn Du ſo die Briefe von der Hulda für Dich allein behältſt und wegſteckſt, als ob die heiligen zehn Gebote oder die heilige Offenbarung darin ſtänden, die unſer Herr⸗
gott“ — der Verkehr mit dem Adjunkten hatte ihre
Gedanken auf den Bereich der Bibel hingelenkt — „die unſer lieber Herrgott denn doch nicht bloß für einen Einzigen in die Welt geſchickt hat.“
„Stehen auch gar keine Geheimniſſe in dem Briefe,“ entgegnete der Amtmann, dem es Spaß zu machen ſchien, daß ſeine Schweſter die ihr neue Rolle der Gehaltenheit und Mäßigung bei jedem Anlaſſe wie ein läſtig Kleidungsſtück von ihren Schultern warf, und der das Necken nicht leicht laſſen konnte. „Steht Nichts darin, was ich Dir nicht hätte ſofort jagen können, hätte ich nicht befürchtet, Dir und dem werthen Herrn Adjunktus damit Bedenken zu erregen, daß ich das Fuhrwerk für den Paſtor am Sonntag abgehen laſſen will.“
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: „Wozu das Fuhrwerk?“ fragte die Mamſell auf- horchend.
Der Amtmann ließ ſich mit der Antwort Zeit. Seine Pfeife hatte ſich verſtopft, er mußte ſie in Ordnung bringen. Ulrike klopfte mit den ſpitzen Fingern ungeduldig auf den Tiſch. Der Amtmann ſchien das gar nicht zu bemerken. „Die Frau Gräfin“, ſagte er endlich, „die Frau Gräfin hat die Kenney zur Frau Fürſtin hingerufen, ſie iſt vor einigen Tagen abgereiſt —“
„Und das ſagſt Du mir erſt jetzt, und als ob das gar Nichts wäre?“ fiel die Schweiter dem Amt⸗ mann mit freudeſtrahlendem Triumphe in die Rede. „Das iſt ja ein wahres Glück! Die alſo wäre man doch nun wieder los! Und das leiſe Kommandiren und all das beſcheidene Hofmeiſtern und Beſſerwiſſen hat doch wieder auch einmal ſein Ende. Ich wollte nur, ſie holten —“
Aber ſie beſann ſich eines Beſſeren. Sie ſprach nicht aus, was ſie erwünſchte, und fragte ſtatt deſſen nur, was denn ſonſt noch Gutes in dem Briefe ſtände.
„Nicht viel Gutes,“ verſetzte der Amtmann. „Ich hatte es aber bald gedacht, daß keine Hilfe mehr für unſeren guten Paſtor ſein würde. Er weiß das jetzt auch ſelbſt; das arme Kind, die Hulda aber, weiß noch mehr, als der Doktor ihm zu ſagen für gut befunden hat. Der kranke Mann ſehnt ſich nun nach Hauſe, und die Hulda bittet mich, ihnen ein Fuhrwerk in die
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Stadt zu ſchicken, was ich denn gleich übermorgen thun will, ehe die Wege vollends grundlos werden.“ „Da ſie ſo lange weggeblieben ſind,“ meinte die Mamſell Ulrike, „ſo könnten ſie nun ſchon bleiben, bis —“ „Bis die Wege vollends grundlos werden,“ fiel der Amtmann ein, „oder bis der arme Mann die
Heimat, in die er wiederkehrt, gar nicht mehr ſehen
kann? Nein, das Mädchen hat ganz Recht. Sie müſſen je eher je lieber in ihr Haus zurück, wo der Pfarrer Alles an ſeinem Flecke kennt und findet, und wo er, wie die Hulda es mir ſchreibt, ſelbſt dasjenige noch zu ſehen glauben wird, 155 er 1 nicht mehr genau erkennt.“
Der Amtmann war gegen ſeine Gewohnheit ganz
gerührt über dieſe Vorſtellung und über ſeines alten
Freundes trauriges Geſchick. „Für Sie, Herr Ad— junktus,“ ſagte er, „wird es auch recht gut ſein, wenn die Beiden erſt wieder in dem Hauſe ſein werden. Der Pfarrer iſt hier geboren, er kennt die Leute hier und wird Ihnen noch beſſer als ich ſelber jagen kön⸗ nen, was hier geht und nicht geht; Und die Tochter — nun, Sie haben ſie ja geſehen, die drei Tage, die Sie in der Pfarre vor des Paſtors Abreiſe noch zu— ſammen geweſen find. — Ich halte große Stücke von dem Mädchen. Es iſt brav und gut!“ und als wolle er die Empfehlung Hulda's, die er mit Gefliſſenheit ausgeſprochen hatte, doch nicht gar zu merklich machen, fügte er hinzu: „Auch die Mutter war eine brave Frau, die mit ihrem Wenigen gut hauszuhalten wußte.“
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Ulrike hatte Hulda's Lob nur mit Ueberwindung angehört; ſeit ſie aber in dem Verkehr mit dem Ad⸗ junktus angefangen hatte, ſich der Milde und der chriſtlichen Liebe zu befleißigen, hatte ſie die ſelige Paſtorin in den Kreis derjenigen ihr ungefährlichen Perſonen aufgenommen, von denen ſie nichts Uebles ſagte und auf die ſie auch Nichts kommen ließ. „Ja!“ verſetzte ſie, „die ſelige Simonene war eine gute Frau und hatte auch bei uns mancherlei Gutes angenom⸗ men in der Wirthſchaft und im Hauſe. Sie und ich haben es auch nicht fehlen laſſen an der Hulda! Aber, was dem Mädchen mangelt, das läßt ſich nicht erlernen und nicht geben; das muß aus dem Herzen kommen, das muß angeboren ſein.“
„Und was mangelt denn der Hulda?“ fragte der Amtmann, der ſeiner Schweſter nie recht traute, wenn ſie, wie er ſich ausdrückte, wie ein Igel, der für ſich Gefahr merkt, ihre Stacheln einzog.
„Demuth! Demuth mangelt ihr;“ und halblaut, wie zu ſich ſelber ſprechend, ſetzte ſie hinzu: „unter einem Baron thut es die Hulda einmal nicht!“
Der Amtmann zog die Augenbrauen in die Höhe und gab der Schweſter einen Wink, den ſie nicht über- ſehen und nicht mißverſtehen konnte. Sie ſtand auf und ging, mit den Schlüſſeln an ihrem Bunde klap⸗ pernd, raſch hinaus. Der Amtmann ſchritt im Zimmer auf und nieder. Es ging ihm Etwas im Kopfe herum, er konnte nur nicht mit ſich einig werden. Mit einemmale blieb er vor dem Gaſte ſtehen.
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„Ich müßte die Menſchen hier herum, und ich müßte meine Schweſter nicht kennen,“ hub er ohne alles Weitere an, „oder Sie haben ſchon allerlei von dem Gerede zu hören bekommen, das die Schweſter Ihnen da eben wieder als ein rechtes Zeichen ihrer Art von Nächſtenliebe aufzutiſchen dachte. Glauben
Sie davon kein Wort, es iſt Alles Lüge und Ver⸗
leumdung, Alles! Alles! Das arme Kind iſt zu be⸗ klagen, und einem freundlichen Geſicht im Hauſe zu begegnen, wird dem Mädchen gut thun. Denken Sie daran.“ 8 Es lag ſo viel redliche Güte in ſeinen Worten und in ſeinen Mienen, daß ſie den graden Sinn des jungen Mannes überwältigte und ihm das Herz erſchloß.
„Es iſt wahr,“ entgegnete er, „und es iſt mir
befremdlich aufgefallen, daß man auf den bei uns ein⸗ gepfarrten Gütern, und auch daß Mamſell Ulrike der Tochter des Herrn Paſtors nicht geneigt iſt. Soweit ich ſie aber in den paar Tagen kennen lernte, die ich mit ihr verlebt habe, kam ſie mir ſanft und gut und ſchlicht vor, und die geringen Leute hängen ihr in Liebe an. Man hat auch Nichts offen gegen ſie aus⸗ geſagt —“
„Weil man Nichts auszuſagen hat! Weil ſelbſt der Neid, der hier im Spiele iſt, Nichts vorzubringen hat!“ rief der Amtmann, der ſich zu erhitzen anfing.
„Setzen Sie bei allen Weibern, bei den jungen wie
bei den alten, und bei meiner Schweſter obenan, nur immer einen rechten gründlichen Neid voraus, wenn ſie von einem ſchönen braven Mädchen reden, und eine
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heimliche Schadenfreude, wenn ihm etwas Uebles wider- fährt, und Sie werden ſolch armen Mädchen wie der Hulda, dann gerecht ſein.“
Der Adjunkt hörte das mit Freude. Man hatte ihm Hulda gleich bei den Antrittsbeſuchen, die er zu machen hatte, als eitel, als gefallſüchtig und intrigant geſchildert. Man hatte argliſtig gelächelt, wenn er aus⸗ geſprochen, daß ſie ihm nicht alſo erſchienen ſei, und hatte angedeutet, der ſchöne Sekretär des Fürſten, und Seine Durchlaucht ſelber, und der Bruder der Frau Gräfin wüßten von der ſchlichten Unſchuld mehr zu jagen. Er hatte von ſolchen Bemerkungen gleich ab⸗ gelenkt, hatte mit richtigem Empfinden auch von Nie⸗ mandem Auskunft über die Tochter ſeines vorgeſetzten Amtsbruders verlangen wollen; aber die Ausſicht, mit einem Mädchen, deſſen Ruf ſo ſchwer geſchädigt ſchien, in täglichem und engem Verkehr zu leben, war ihm bei ſeiner ſtrengen Sittlichkeit und in ſeiner amtlichen Stellung gleich widerwärtig erſchienen, und des Amt⸗ manns Worte, das Lob, das derſelbe der Pfarrers— tochter mit ſolcher Liebe ſpendete, erfreuten deshalb den wackeren jungen Mann. Zum erſtenmal erlaubte er ſich nun die Frage, was denn Anlaß geboten habe zu den Gerüchten, die über Hulda umliefen, und der Amtmann, dem das Verhalten des Adjunkten in dieſer Angelegenheit ſehr wohl gefiel, gab ihm offenen und völligen Beſcheid.
Darüber wurde das Eſſen in der Nebenſtube auf⸗ getragen, Mamſell Ulrike rief zu Tiſch. Der Amt⸗ mann ſagte während der Mahlzeit dem älteſten Inſpektor,
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daß Sonntag in der Frühe der Reiſeknecht mit dem halbverdeckten Holſteiner in die Stadt zu fahren habe, um den Herrn Paſtor und Mamſell Hulda herauszu⸗ holen, und es war danach die Rede weiter nicht von ihnen.
Nur als der Adjunktus ſich empfahl und Mam⸗ ſell Ulriken zum Abſchiede die Hand gab, drückte ſie ihm dieſelbe leiſe und ſagte flüſternd: „Sie werden Ihr Wunder erleben, Herr Adjunkt! Aber für Sie ib mir nicht bange!“
Er that, als hörte oder verſtände er es nicht Ulrike war ihm plötzlich ſehr zuwider. Er kam ernſt und mit ſich unzufrieden in der Pfarre an. Sein Mangel an Welt⸗ und Menſchenkenntniß drückte ihn. „Man ſollte uns nicht in ſo jungen Jahren ſolche Aemter anvertrauen,“ dachte er in ängſtlicher Ge⸗ wiſſenhaftigkeit, und mit dem Geloͤbniß, böſer Rede nie ſein Ohr zu leihen, ſchloß er an dem Abend ſein Gebet.
Achtes Capitel.
Des Amtmanns Reiſeknecht hatte den Befehl er⸗ halten, die Pferde in dem Stalle des gräflichen Hauſes vierundzwanzig Stunden ruhen zu laſſen. Den Tag danach führte der alte Wagen, den der Amtmann ihnen zu dem Zwecke in die Stadt geſchickt, den Pfarrer und ſeine Tochter wieder in das Dorf zurück.
Es war die ſchlimmſte Zeit für eine ſolche Fahrt. Das Thauwetter war früher als gewöhnlich eingetreten; die Wege hielten nicht und brachen nicht, es war nicht von der Stelle zu kommen. Obſchon man am Morgen mit der Abfahrt nicht gezögert hatte, dämmerte der Abend bereits herein, als man an dem Schloſſe vor⸗ überfuhr, deſſen hohe, breite Mauern ſich ſchwer und maſſig gegen den weißlich⸗grauen Himmel abzeichneten, von dem zerſchmelzender Schnee dicht und leiſe auf die Erde niederrieſelte.
Die Fahrt in dem halbverdeckten Wagen kam dem kränkelnden Greiſe bei dem naßkalten Wetter recht hart an, aber nach ſeiner geduldigen Weiſe ließ er
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 6
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kein Wort der Klage hören. Er drückte nur von Zeit zu Zeit freundlich ſeine Zufriedenheit darüber aus, daß er nun bald in ſeinem Hauſe, in ſeiner Gemeinde ſein werde. Er rühmte es zu verſchiedenenmalen mit dankbarer Genugthuung, daß er ſelbſt im Dämmer⸗ lichte die Gegenſtände noch immer unterſcheiden, daß er ſeine Heimat wirklich noch wiederſehen könne; und wie man dann an dem Schloſſe vorüberfuhr, verweilte er mit freundlicher Erinnerung bei all dem Guten, das ihm durch der Gräfin Großmuth in der Stadt zu Theil geworden war, wie bei der tröſtlichen Ausſicht, welche ihm ebenfalls die Gunſt der Gräfin für ſeine fernere Amtsführung durch die Anweſenheit ſeines jungen Gehilfen bereitet hatte.
Seine Ergebung, ſeine Geduld und Dankbarkeit rührten und beſchämten Hulda, aber ſie konnte bei dem beſten Willen ihr Herz nicht dazu bringen, ſie zu theilen. Sie konnte die Mauern des Schloſſes nicht vor ſich aufſteigen ſehen, ohne ſich daran zu erinnern, was ſie dort erlebt hatte, und wie es dunkler und dunkler wurde, überwältigte ſie die Erinnerung an jene ſturmdurchtobte Herbſtnacht, in welcher ſie dieſes Weges auch gefahren war, in des Geliebten Arm, den Kopf an ſeiner Bruſt, in berauſchenden Glückesträu⸗ men, aus denen das Entſetzen über der Mutter Tod ſie aufgeſchreckt hatte. Alles, was ſie ſeitdem erlebt, erlitten, was in den letzten Tagen in der Stadt er⸗ hebend, aufregend und beunruhigend an ſie heran⸗ getreten war, zog wie Wolkengebilde, die der Sturm⸗ wind jagt, deutlich und doch raſtlos durch ihren Sinn.
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Ihr Sollen und Müſſen, ihr Wünſchen und Wollen ſtanden wider einander. Das nahm ihr den Glauben an das Gute in ihrem Herzen. Sie fühlte ſich zer⸗ riſſen und verwirrt, unzufrieden mit ſich ſelbſt, ver⸗ zweifelnd an ſich ſelbſt, und ohne einen Strahl von Hoffnung, von Befürchtungen aller Art bedrängt. Das iſt ſonſt nur des Alters Stimmung, wenn es ſich zu beſcheiden nicht vermag, und Hulda kam ſich auch mit ihren achtzehn Jahren alt, und fertig mit dem Leben vor, nach deſſen Glück ſie doch ſo ſehr verlangte.
Es war ſchon völlig dunkel, als der Wagen durch das ſtille Dorf fuhr. Nur die Hunde ſchlugen an wie in jener wilden Herbſtnacht des verwichenen Jahres. Vor den Fenſtern waren die Strohmatten nieder⸗ gelaſſen, wo man ſolche hatte, die Läden geſchloſſen. Der Schulz des Dorfes trat, wie er den Wagen kom⸗ men hörte, an die halbgeöffnete Thüre und rief dem Paſtor ſein treuherziges Willkommen durch die Nacht zu.
Durch die kleinen Scheiben des Pfarrhauſes ſchim⸗ merte ihnen das Licht entgegen, als der Kutſcher vor dem Gitter des Gärtchens ſtille hielt. Der Küſter, der ſeinen Herrn Pfarrer ſchon den ganzen Nachmittag erwartet hatte, war der Erſte an dem Wagen, der Adjunktus folgte ihm auf dem Fuße. Ernſt und be⸗ ſcheiden, wie es ſeine Art war, bot er Hulda die Hand. Er half dem Pfarrer behutſam aus dem Wagen, er ging vorſichtig neben ihm her, auch ſein Willkomm kam vom Herzen.
Auf dem Tiſche brannten die beiden Lichter, das Feuer kniſterte in dem alten grünen Kachelofen. Die
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Wärme that dem Pfarrer und auch Hulda nach der langen kalten Tagfahrt wohl, und der Pfarrer fetzte ſich mit Behagen in den Lehnſtuhl, den der Küſter ihm an den Ofen herangerückt hatte. Der Thüre gegenüber hing der Schattenriß der Mutter ſo wie ſonſt. Der Adjunktus hatte einen ſchönen Kranz von friſchem Moos und Tannengrün darum gewunden. Man ſah, hier hatte guter Wille den Empfang be⸗ reitet, und es erſchreckte Hulda, daß es ſie nicht mehr erfreute. Ihr hatte vor dem nahen Zuſammenleben mit dem fremden jungen Manne gebangt, nun kam er ihnen ſo gutwillig entgegen, und doch laſtete eine wahre Angſt auf ihr. Das Haus war ihr nie ſo klein, die Stube nie ſo eng und niedrig vorgekom⸗ men, als heute, da ſie dieſelbe durch mehrere Monate nicht geſehen und betreten hatte. Es umfing ſie wie die Mauern eines Kerkers. Sie hätte fort mögen, hinaus, zurück in Nacht und Dunkel, den Weg zurück, zurück und hin zu ihm, von dem ſie nicht abzulaſſen vermochte, wie fern er ihr auch war, wie wenig ſie ihm galt.
Es war gut, daß die häuslichen Verrichtungen ſie zwangen, raſch das Zimmer zu verlaſſen, daß ſie ihre Augen ungeſehen trocknen konnte, und daß die Einrichtung des ins Stocken gerathenen Haushaltes ſie an dieſem Abende und durch viele Tage ganz in Anſpruch nahm. Die heilende Gewohnheit konnte ſich während deſſen wieder beſänftigend über die Wunde legen, die bei jedem neuen Anlaß blutend aufſprang, Hulda konnte wieder lernen, ihr Geſchick gelaſſen zu
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ertragen. Nur ſich aufzurichten war ſie nicht im Stande.
Das Beiſammenleben mit dem Adjunktus ge⸗ ſtaltete ſich inzwiſchen gut und leicht. Weil er in ſeiner Gewiſſenhaftigkeit es ſich zum Vorwurf machte, daß er auf üble Nachrede hin ungünſtig von Hulda gedacht hatte, kam er ihr mit erhöhter Achtſamkeit ent⸗ gegen. Er fand ſie ernſt und ſtill, er ſah ſie dienſt⸗ fertig und fleißig, ihre vorſorgende Hingebung für ihren Vater blieb ſich immer gleich; und da ſie ihrer⸗ ſeits bemerkte, daß der Pfarrer die Hilfe und die Ge⸗ ſellſchaft des jungen Mannes als ein Glück erachtete, war ſie bemüht, demſelben durch Freundlichkeit zu ver⸗ gelten, was er dem Vater war und leiſtete. Selbſt der Zuſchuß, den die Gräfin dem Paſtor um des Ad- junktus wegen in ſeinen Einnahmen und in den ihm zuſtehenden Lieferungen bewilligt hatte, kam der haus⸗ haltenden Tochter wohl zu ſtatten, und beide Männer erkannten es ihr dankbar an, wie ſie mit Wenigem viel zu ſchaffen, wie ſie durch Anmuth allem Gelei⸗ ſteten und Geſchafften höheren Werth zu geben wußte.
Der Adjunktus, den ſeine geringen Mittel immer zur Zurückgezogenheit genöthigt, hatte wenig unter Menſchen gelebt, noch weniger Verkehr mit jungen Frauenzimmern gehabt. Die ruhige Sicherheit, die völlige Unbefangenheit, mit welcher Hulda ihm begegnete, hatten deshalb für ihn einen fremdartigen Zauber. Die gute Schulung, welche ihren natürlichen Anlagen in der Geſellſchaft des Schloſſes und durch die Kenney zu Theil geworden war, ihre Kenntniſſe und ihre
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Bildung hoben ſie weit hinaus über die wenigen jungen Frauenzimmer, welche er bisher gekannt, über die Töchter der Geiſtlichen und Gutsbeſitzer, denen er nach Uebernahme ſeiner jetzigen Stellung ſeine Aufwartung zu machen gehabt hatte. Und da er ohne Schweſter in ſeinem Elternhaus erwachſen war, gingen ihm in dem täglichen Beiſammenſein mit Hulda neue Freuden⸗ en uf, 235 Alles was ſie that und wie ſie's that, Alles, was
er mit ihr gemeinſam unternehmen konnte, ward ihm zum Genuß. Es freute ihn, wenn er den Vorleſer des Pfarrers machen durfte, denn Hulda ſaß an ihrer Näharbeit ihm gegenüber. Es machte ihn glücklich, wenn er neben dem Greiſe am Sonntag in die Kirche und zur Kanzel ging, denn Hulda ging mit ihnen. Es erhob ihn, wenn er ſtatt des Pfarrers die Sonn⸗ tagspredigt halten konnte, denn Hulda's Augen hingen in andächtigem Sinnen an den ſeinen, und liehen ihm Worte und gaben ihm Bilder und eine Wärme, die er früher nicht beſeſſen hatte, und von denen er nicht ſagen konnte, woher ſie ihm gekommen waren. — Gott iſt mit mir! dachte er, wenn Der und Jener ihm zu hören gab, daß er gut gepredigt habe und daß man den Herrn Paſtor gar nicht mehr vermiſſe, wenn der Adjunktus auf der Kanzel ſtehe. Nur Mamſell Ulrike hatte ihm dies nie geſagt, und ſie kam auch nicht mehr ſo oft zur Kirche als im Winter, obſchon die Kälte und die Näſſe nachgelaſſen hatten und die Sonne ſchon an manchen Tagen ſo warm hernieder⸗ ſchien, daß der Schnee und das Eis davor geſchmolzen
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waren. Bisweilen krümelten wohl noch weiße Stera⸗ chen nieder, aber der Himmel war doch ſchon wieder blau, und man freute ſich an dem ſonnendurchleuch⸗ teten Geglitzer in der Luft.
Die Oſtern waren da, man wußte in der Pfarre ſelbſt nicht wie. Die Tage waren leiſe dahingeſchwun⸗ den, es war für Hulda an ihnen nichts Beſonderes zu verzeichnen geweſen, einer hatte dem anderen geglichen. Wo aber die Tage ſich nicht von einander unterſchei⸗ den, da iſt der Rückblick in die Vergangenheit und das Zeitmaß für dieſelbe ungewiß und ſchwankend. Sie konnte es bisweilen gar nicht faſſen, daß noch nicht zwei Jahre vergangen waren, ſeit ſie Emanuels Bild zuerſt erblickt, noch nicht fünfzehn Monate, ſeit ſie ihn zuletzt geſehen hatte. Oftmals mußte ſie ſich fragen, wie lange es denn her ſei, daß ſie bei Gabrielen geweſen war? Sie hatte Mühe, ſich daran zu erinnern, daß es eine Zeit gegeben, in der ſie nicht an Emanuel gedacht, in der ſie ſeinen Ring nicht an der Hand getragen hatte. Weil ihre Liebe ihr Alles war, ſchien ſie ihr ohne Anfang wie das All, und fühlte ſie die⸗ ſelbe in ſich ohne Ende wie die Ewigkeit. Was konnten daneben die Tage und Wochen für ſie noch bedeuten? Sie liebte — und die Tage floſſen ſtill an ihr vorüber.
Am Oſterſonntag wollte der Pfarrer ſelbſt die Kanzel beſteigen, denn je mehr ſeine Kräfte nachließen, umſomehr hielt er darauf, an den großen Feiertagen noch ſelber zu der Gemeinde zu ſprechen, weil er doch nicht wiſſen konnte, ob es ihm in dem nächſten Jahre noch gegönnt ſein werde. Die Taufe aber ſollte nach⸗
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her der Adjunkt abhalten, denn es waren alle die Kinder aus den eingepfarrten Dörfern in die chriſtliche Gemeinde aufzunehmen, welche während der kälteſten Zeit geboren worden waren, und die man eben des⸗ halb nicht hatte zur Kirche tragen können.
Eine halbe Stunde vor dem erſten Läuten, wäh⸗ rend der Vater in ſeiner Stube noch ſeine Predigt im Geiſte wiederholte, trat Hulda vor die Thüre hinaus, um die Blumenſtöcke, die ſie ſeit langer Zeit zum erſtenmale wieder hatte hinaus 1 5 und in der freien Luft begießen können, in das Zimmer und auf das Fenſterbrett zurückzutragen, wo ſie hübſch ausſahen zwiſchen den friſch gewaſchenen Gardinen.
Der Adjunktus ging langſam in den kleinen Wegen hin und her; bald bückte er ſich zur Erde und ſuchte Etwas auf den Beeten, dann muſterte er die erreichbaren Aeſte der vier Tannen und die Sträuche in dem Garten. Er hielt ein paar Schneeglöckchen und einige Weidenzweige in der Hand, an denen die erſten ſilbergrauen Blüthenkätzchen ſchimmerten, die das Land⸗ volk in der Gegend Palmen nennt. Als er Hulda vor die Thüre kommen ſah, trat er an ſie heran.
„Es iſt heute ein rechtes Auferſtehungswetter,“ ſagte er. „Die erſten Palmen ſind heraus, in dem e e regt es ſich, und ſogar ein paar Schneeglöckchen ſind ſchon hervorgekommen.“ Er reichte ihr die Zweige und die Blumen hin, ſie ſprach ihre Freude daran aus und ſtrich leiſe, wie ein ſpie⸗ lend Kind, mit den weichen Weidenkätzchen über ihre Wangen.
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„Ich trug Bedenken,“ meinte er darauf, „die Blümchen abzubrechen und Ihnen die Luſt des Fin⸗ dens zu entziehen; aber ich habe meiner Mutter immer am Oſtertage einen wenn auch noch ſo kleinen Strauß geſucht, und ſo wollte ich auch Ihnen einen bringen. Es hat ſie immer ſo gefreut!“
„Oh, es freut mich auch, und ich danke Ihnen; es freut mich wirklich ſehr!“ entgegnete ſie ihm.
„Sie ſehen ſo ſelten aus, als ob Sie Etwas freute!“ ſagte er.
„Hab' ich denn zu immer neuer Sorge nicht täglich neuen Grund?“ verſetzte ſie. „Mein Vater iſt ſo ſchwach!“
„Aber Gott iſt mächtig und gnädig!“ gab er ihr zur Antwort.
„Ach, für den S geſchehen keine un mehr, der hat zu tragen, hat ſich zu beſcheiden —
„Und zu vertrauen und zu hoffen!“ fügte er hinzu.
Sie ſchüttelte das Haupt. „Was mich bedroht, das weiß ich. Und hoffen? —“ Sie brach in ihrer Rede ab. Er ſtand verlegen vor ihr, nicht wiſſend, ob er reden oder ſchweigen ſolle. Er hätte ihr ſagen mögen, daß er durch den Amtmann von ihren Er⸗ lebniſſen unterrichtet ſei, aber er ſelber dachte ſo un⸗ gerne an dieſelben und mit ſolcher Abneigung an Baron Emanuel, daß er ſie vollends nicht an ihn erinnern mochte.
„Ich glaube,“ hub er endlich an, „Ihnen fehlt die feſte, zuverſichtliche Ergebung in den Willen Gottes,
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die mir Ihren Vater ſo verehrungswürdig und zu einem ſo erhebenden Beiſpiele macht.“
Das war es aber gar nicht geweſen, was er ihr hatte ſagen wollen, und es ſchien ihr auch nicht zu gefallen, denn ſie entgegnete ihm mit einem gewiſſen Trotze gegen ſeine Mahnung: „Gott hat dieſe Er⸗ gebung nun einmal nicht in mein Herz gelegt!“
Der Ausruf erſchreckte ihn, denn er wähnte, daß ſie ſeine Gläubigkeit damit verſpotten wolle, und ohne die ruhige Ueberlegung, die ihm ſonſt nicht fehlte, rief er: „Ach, hätten Sie Ihr Vaterhaus doch nie verlaſſen!“ | |
Der Wunſch kam ſo voll aus feinem Herzen, die Lebhaftigkeit, mit welcher er ihn ausſprach, wich durch⸗ aus von ſeiner ſonſtigen gehaltenen Weiſe ab. Hulda ſah ihn befremdet an. Wie ihr Blick aber den ſeinen traf, konnte er es nicht ertragen, und in einer Ver⸗ wirrung, die ihm das Blut zu Kopfe trieb, ſagte er:
„Vergeben Sie mir die Anmaßung!“
Aber auch Hulda wurde verwirrt und roth, denn ſo wie der Adjunkt jetzt vor ihr ſtand, ſo hatte auch ſie einſt faſſungslos und ihrer ſelbſt nicht mächtig da⸗ geſtanden vor Emanuel, und ſie wußte, was das zu bedeuten hatte. Eine ganze Menge kleiner Vorgänge zwiſchen ihr und dem Adjunktus: Worte, Mienen, die in all den letzten Wochen an ihr unbeachtet vorüber⸗ gegangen waren, drängten ſich nun plötzlich wie die kleinen Theilchen in einem Kaleidoſkop mit einemmale zu einer feſten, beſtimmten Geſtaltung zuſammen, die ſie nicht mißkennen konnte und vor der ſie wie vor
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einer heiligen Enthüllung demüthig das Auge ſenkte. Indeß ihre Wahrhaftigkeit ließ ihr keine Wahl, und mit raſcher Selbſtüberwindung fragte ſie: „Was ſoll ich Ihnen verzeihen? Daß Sie Theil an mir und meinem Schickſale nehmen, oder daß auch Sie er⸗ fahren haben, was hier in der Gegend gewiß vielfach beſprochen worden iſt?“ Sie ſtockte, weil es ihr hart ankam, vor einem Anderen laut werden zu laſſen, was ſie ſich ſelber an jedem Tage wiederholte, aber die Bewegung, die ſie in den Zügen des Adjunktus las, trieb ſie vorwärts und half ihr über ihre mäadchen- hafte Schüchternheit hinweg.
„Es iſt wahr,“ ſagte ſie, „ich bin nicht glücklich, und vielleicht haben Sie recht, daß es mir beſſer ge⸗ weſen wäre, ich hätte unſer Pfarrhaus nie verlaſſen. Aber glauben Sie mir“ — und ihre Sprache zitterte in ſchönem, vollem Klange und ihre Stimme wurde belebt wie fie das ſagte — „es gibt ein Unglück, das doch beglückender als manches Glück iſt, ein Unglück, das man mit allen ſeinen Schmerzen liebt. Ja! wenn ich ſelbſt mir ein anderes, ſogenanntes ruhiges Geſchick durch Vergeſſen meines Leids erkaufen könnte, ich müßte wie der ritterliche König ſagen: „Mieux aime mon martyre!“ denn es iſt mein Leben und mein Sein!“
Sie wendete ſich raſch von ihm und ging in das Haus zurück. Sie mochte nicht, daß er es ge- wahrte wie ihre Augen ſich mit Thränen füllten, noch weniger mochte ſie ihn anſehen. Er blieb geſenkten Hauptes ſtehen wie angebannt. Wäre ſein Ebenbild,
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ſein Doppelgänger vor ihm emporgeſtiegen, er ſelbſt und doch nicht er ſelbſt, und ihm ſo fremd, wie er ſich in ſeinem ganzen Empfinden in dieſem Augen⸗ blicke war, ſo fremd wie Alles um ihn her ihm jetzt mit einemmale erſchien — es würde ihn nicht mehr erſchüttert haben als der Blick, den er in ſein Herz und in Hulda's Herz gethan hatte.
Die Kirchenglocke ſchreckte ihn empor. Sie klang ihm mißtönig und dumpf, als wäre ſie geborſten, und er hatte ſie doch ſonſt ſo gern gehört. Er konnte es nicht aushalten in der freien Natur. Der Tag und die Sonne, Baum und Strauch, es ſah ihn Alles mit klaren Augen klug und forſchend an. Es war nicht zum Ertragen. Es drängte ihn in die Enge, in die Einſamkeit zurück, er mußte allein ſein und ſich ſam⸗ meln. Wie ſollte er die Taufe heute vollziehen? wie konnte er vor der Gemeinde von der heiligen Gemein⸗ ſchaft der ganzen Chriſtenheit in einer Stunde ſpre⸗ chen, in der er ſich wie ausgeſtoßen und von Gott verlaſſen fühlte. Er eilte in ſeine Stube, er wollte nachdenken, was eigentlich geſchehen war, er wollte ſich ſammeln, er faltete in ſeiner Pein die Hände zum Gebet, aber es war Alles vergebens. Er konnte den Weg nicht finden, auf dem er ſonſt dem Herrn ge naht war, die Himmelsthüre war ihm wie verſchloſſen, und wie er auch mit ſich rang und ſich aufzuraffen und emporzuſchwingen ſtrebte, wie er es verſuchte, ſich zu demüthigen und zu beſcheiden, es gelang ihm nicht. Die unſeligen Worte: „Mieux aime mon martyre!“ ſchwirrten ihm mit ihrem fremden Klange unheimlich
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vor dem Ohr. Er hörte, er ſah ſie, ſie ſtanden wie mit Flammenſchrift in ſeinem Innern, ſie verſengten ihm Bruft und Hirn, daß ſelbſt die Thränen ihm davor verſiegten, daß er nicht weinen konnte — und er hatte doch ſolches Mitleid mit ihr und auch mit ſich!
Darüber ward es Zeit, zur Kirche zu gehen. Er hatte den Pfarrer ſeit deſſen Rückkehr immer hin⸗ geleitet, er mochte ihm auch heute nicht fehlen. Der Vater in der Mitte, Hulda an ſeiner Rechten, der Adjunkt zu feiner Linken, ſo ſchritten fie durch das Gärtchen und über die Dorfgaſſe und den Kirchhof, durch die Kirche bis in die Sakriſtei. So war es alle die Sonntage geweſen, ſo war's auch diesmal anzu⸗ ſehen, und doch ſo anders.
Hulda ſprach von dem ſchönen Wetter, und wie gut es dem Vater thun werde, und wie gut es für die Täuflinge ſei. Der Adjunkt hörte es und hörte es nicht. Es lag eine Welt zwiſchen ihm und ihr, der er doch zu eigen war mit ſeiner ganzen Seele.
„Kann ich hier bleiben? Darf ich hier bleiben? und wie wär es denn möglich, daß ich ginge, fort- ginge von ihr?“ — Das waren die einzigen Gedanken, die er feſtzuhalten vermochte.
Er hörte es, wie der Pfarrer von der Kreuzigung ſprach, die Jeder in ſeinem Innern an ſeinen böſen Neigungen vollziehen müſſe zu ſeiner eigenen Erlöſung, um dann ſeine Auferſtehung und neue Menſchwerdung unter dem Beiſtande Deſſen zu feiern, der ſich an das Kreuz ſchlagen laſſen zur Erlöſung der Menſch⸗ heit. Bisher hatte der Adjunkt, wie er glaubte, redlich
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an ſich gearbeitet. Er hatte ſeine Seele rein erhalten, ſein Gewiſſen frei bewahrt und nichts Höheres gekannt, als lehrend in ſeinem Amte ſeinen Glauben zu be— kennen. Was ihn davon hätte abziehen können, würde er als Sünde erachtet und niederzukämpfen geſtrebt haben. Aber heute war es ihm unmöglich, ihr Bild aus ſeiner Seele zu verſcheuchen, das ihn von der andächtigen Theilnahme an dem Gottesdienſte abzog.
Er liebte ſie, wie ſie ihr Leiden liebte, er verſtand ſie bis in ihr tiefſtes Herz, ſeine Augen hingen an ihr,
und während der Küſter von der Orgel die feierlichen Klänge des Schlußliedes herniederſchallen machte,
während das troſtreiche Lied: „Auferſteh'n, ja auf⸗ erſtehen wirſt du mein Leib nach kurzer Ruh'! Un⸗ ſterblich Leben wird der dich ſchuf dir geben!“ mit ſeinem Hallelujah, von gläubigen Herzen geſungen, durch die kleine Kirche ſchallte, ſtimmten nur die Lippen des jungen Geiſtlichen in den verheißungs⸗ vollen Hymnus ein, denn Hulda's: „Mieux aime mon martyre!“ hatte ſein ganzes Weſen hingenommen.
Zerſtreut und mit ſich ſelbſt zerfallen, trat er nach der beendeten Oſterfeier vor den Altar, um die Taufhandlung zu vollziehen. Es waren anſehnliche Familien um den Altar verſammelt, denn auch der Amtsrath, der die benachbarte königliche Domäne ver⸗ waltete, ließ ſeine Zwillingsknaben taufen, die ſchon zwei Monate alt waren, und die Eltern waren alſo Beide mit zur Kirche gekommen. Der Amtmann und Mamſell Ulrike ſtanden bei ihnen Gevatter, ein paar hübſche Gutsbeſitzers⸗Töchter hielten die Knaben über
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die Taufe; und auch für die minder vornehmen Täuf⸗ linge mangelte es nicht an anſehnlichen Pathen, denn der Aermſte und Geringſte will ſeinem Kinde, dem er vielleicht ſonſt Nichts zu bieten hat, doch gerne einen angeſehenen Pathen und einen ſchönen Namen für den Weg durch's Leben zugute kommen laſſen. Hulda fehlte unter den Taufzeugen natürlich auch heute nicht, denn die Armen im Dorfe wußten, was ſie an ihr hatten. Aber ihre Anweſenheit machte dem Adjunktus ſeinen Zuſtand vollends unerträglich.
Weil er ſie nicht anſehen wollte und ſeine Blicke ſich doch immer zu ihr wendeten, erſchien er unruhig. Seine Sprache war haſtig und abgebrochen, er ver⸗ wirrte ſich in ſeiner Rede. Es war nicht allein Mamſell Ulrike, welche die Bemerkung machte, daß der Adjunktus heute völlig wie verwandelt ſei, und daß man noch keine ſo ſchlechte Rede und keinen ſolchen ſchlechten Vortrag von ihm vernommen habe; aber es war allein Ulrike, die ſeinen Blicken gefolgt war, und die mit der ſcharfen Beobachtungskraft der Abneigung die Urſache ſeiner Faſſungsloſigkeit vermuthete.
Der kalte Schweiß ſtand ihm auf der Stirne. Es überlief ihn, als er von dem Altare in die Sakriſtei kam, während der Amtsrath mit der Frau zu ihm hereintrat. Sie wollten, wie üblich, ſich bei ihm bedanken und ihm ſagen, daß der Wagen gleich vor der Pfarre vorfahren werde, um ihn abzuholen, denn es war große Taufgeſellſchaft in dem Domänen⸗ Amtshauſe und der Adjunktus hatte die Einladung zu derſelben angenommen, während der Pfarrer um ſeiner
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Geſundheit willen ſie für ſich und ſeine Tochter ab⸗
gelehnt hatte. Man trug nach der Anweſenheit der Letzteren auch kein beſonderes Verlangen, weder die
Amtsräthin, noch ihre beiden Nichten, die Gutsbeſitzers⸗
Töchter. Um ſo erſtaunter war man jedoch, als auch
der Adjunktus ſich entſchuldigte, und auf ihn nicht zu
rechnen bat. Er ſei nicht wohl und könne alſo leider nicht dabei ſein, erklärte er. Dagegen war Nichts zu ſagen und auch Nichts zu machen. Man bedauerte es, man gab ihm guten Rath, denn er ſah wirklich übel aus. Dann ſtieg man in die Wagen und fuhr davon.
Mamſell Ulrike und die beiden Mädchen fuhren
mit der Amtsräthin. „Es kann mir leid thun,“ ſagte dieſe, „daß der Adjunktus krank iſt, aber auf der anderen Seite iſt es doch beruhigend. Denn ſolch eine Rede! Es war wirklich als hätte er nur Fiſcher und Einlieger vor ſich gehabt und nicht gebildete Menſchen, die eine gute Predigt werth ſind und zu ſchätzen wiſſen, und die ſich von ſolch feierlichem Tage doch auch für das Gemüth Etwas zur Erinnerung mit⸗ zunehmen wünſchen. Ich habe mir von allen meinen Kindern aus den Taufreden etwas aufgeſchrieben und es oft recht mit Erbauung durchgeleſen — aber heute! Es war nicht aus, nicht ein! Der Adjunktus ſah auch gleich von Anfang ſehr erbärmlich aus. Wenn ihm nur nicht das Fieber in den Gliedern ſteckt, es iſt die Jahreszeit dazu.“
Mamſell Ulrike lächelte. Die Amtsräthin fragte, was das bedeuten ſolle.
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„In den Gliedern wird ihm wohl Nichts ſtecken,“ warf Ulrike hin, „aber was ihm im Sinne ſteckt und was ihn heute ſo zerſtreut hat, darüber bin ich nicht im Zweifel. Ich habe geſehen, wo ſeine Augen hin⸗ gegangen find, und da werden feine Gedanken ver⸗ muthlich auch geweſen fein. Es iſt immer wieder daſſelbe alte Lied!“
Die drei Anderen verſtanden ſie nicht gleich und wurden neugierig; die Mamſell wich aus. Das machte die Anderen dringlicher. Sie ſpielte die Zurückhaltende. „Was iſt denn darüber viel zu ſagen,“ meinte ſie endlich, „es iſt ja immer die nämliche Geſchichte. So⸗ wie nur ein junger Mann in ihre Nähe kommt, wirft ſie ihre Netze aus, und es gelingt ihr jedesmal. Man ſollte wirklich ſagen, daß es nicht mit rechten Dingen zugeht.“ Sie hatte keinen Namen ausgeſprochen, aber jetzt wußten die Amtsräthin und auch die Mädchen nur zu gut, was und wen Ulrike meinte.
„Der Adjunkt iſt ſchon der Vierte!“ ſagte ſie
„Der Vierte?“ fragte die jüngſte der beiden Schweſtern. | Freilich,“ bekräftigte Ulrike, „mit dem Bruder unſerer Frau Gräfin hat es angefangen, dann kam Seine Durchlaucht an die Reihe, und dann Seiner Durchlaucht Sekretär, ein anſtändiger und hübſcher junger Menſch. Und ſelbſt den armen Herrn Adjunktus, der gewiß an Nichts weniger gedacht hat, als an Frauenzimmer ihrer Art, hat ſie nun auch ſchon in ihr Garn gelockt. Es iſt nur zu hoffen, daß er ſich
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 7
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herauszieht wie der Herr Baron und daß ſie wieder einmal das Nachſehen hat.“
„Es iſt ſchrecklich,“ meinte die Amtsräthin, „wirk— lich eine Schande, und obenein für eine Pfarrers⸗ tochter und ſo braver Leute Kind!“
„Was ſie nur dabei denken muß?“ ſagte die eine Schweſter.
„Und was ſoll denn aus ihr werden, wenn ihr Vater einmal ſtirbt?“ warf die Andere ein.
„Hier kann ſie natürlich nicht mehr bleiben,“ be⸗
merkte die Amtsräthin, „hier iſt viel zu viel von ihr
geſprochen worden!“
„Oh, man wird noch mehr zu ſprechen haben und noch mancherlei erleben. Mir iſt es nur um den armen jungen Menſchen leid, den ſie um ſein An⸗ ſehen und um die Stelle bringen wird!“ verſicherte Mamſell Ulrike, und brach plötzlich ab, da man auf dem halben Wege eine kleine Weile anhielt, die Pferde verſchnaufen zu laſſen.
Der Amtsrath und der Amtmann traten an den Schlag heran, zu ſehen, wie die vier Frauenzimmer ſich die Zeit vertrieben. Sie fanden ſie alle Viere munter und vergnügt; und ſie hatten doch ſo eben über eine Abweſende, die ſich nicht vertheidigen konnte, er⸗ barmungslos Gericht gehalten und eine moraliſche Hinrichtung vollzogen.
Sie fuhren in aller Seelenruhe weiter, von Hulda war nicht mehr die Rede. Wer hatte denn an ſolchen ſchönen, vergnügten Feſt⸗ und Feiertagen auch Luſt und
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Zeit, ſich mit ſo unangenehmen Dingen und Ver⸗ hältniſſen noch einmal zu befaſſen?
Mochten ſie in der Pfarre zuſehen, wie ſie ſelber mit ſich fertig wurden, und mochte dann der Ad— junktus die Erfahrung machen, wer es redlicher mit ihm gemeint hatte, die alte treue Freundin, der ſeine Zukunft ſo am Herzen lag, oder Hulda, die nur daran dachte, ſich einen Mann zu ſchaffen und ſich zu ver⸗ ſorgen.
Neunkes Capitel.
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Redlich meinen! Wer hat ſich nicht ſchon im
Leben einmal auf ſeine redliche Meinung geſtützt, wenn
er, um ſeinen Willen durchzuſetzen, einem Anderen Gewalt angethan hatte? Wer hat ſich nicht einmal mit ſeiner redlichen Meinung beruhigt, wenn er durch den unberechtigten Eingriff in fremde Verhältniſſe ein Unheil angerichtet, das leichter heraufzubeſchwören als wieder gut zu machen war?
Auch die Gräfin berief ſich auf ihre redliche Meinung, als die Entfernung, in welcher der Bruder ſich von ihr hielt, ihr zu lange währte und zu ſchmerz⸗ lich wurde; es wollte ihr jedoch nicht recht gelingen, ihn dadurch zu verſöhnen. Emanuel beantwortete ihre Briefe Anfangs gar nicht. Er vermißte offenbar den Zuſammenhang mit ſeiner Schweſter nicht, der Brief⸗ wechſel mit Konradine ſchien ihn ſchadlos dafür zu halten.
„Wenn ich nur nicht mehr von den ſogenannten guten Abſichten, von redlicher Meinung und ehrlichem Rathe, von reiferer Einſicht und von ruhigerer Be⸗
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trachtung reden hören müßte; von all jenen faden- ſcheinigen Mäntelchen, in welche die Selbſtſucht ſich verhüllt, wenn es ihr darum zu thun iſt, fremden Willen zu unterdrücken, um den ihren durchzuſetzen,“ ſchrieb er einmal ſeiner Freundin, die unausgeſetzt in ihrem Stift verweilte. „Aber wir verhalten uns ſolcher ſeeliſchen Verkleidung gegenüber wie zu den Vermummungen auf einer Familien⸗Maskerade. Wir wiſſen, wer hinter dieſen Masken ſteckt, wir wiſſen, wie wir das Geſagte zu nehmen und zu deuten haben; wir ſind indeß viel zu wohlerzogen, um in Zweifel zu ziehen, was man uns glauben machen will, und geſell⸗ ſchaftlich zu gut geſchult, um Diejenigen zu erkennen, die ſich in ihrer Verkleidung wohlgefallen. Darüber geht nur leider der Abend, geht uns das Leben hin! Wir ſtreifen an einander vorüber, ohne eigentlichen in⸗ neren Erwerb, und müſſen ſchließlich froh ſein, wenn wir ohne peinliche Berührung bleiben, wenn wir nicht in aller Eile erfahren haben, was nicht erfahren zu haben, was vergeſſen zu können, wir ſehnlich wünſchen müſſen.“
Er ſchrieb Konradinen nicht, worauf oder auf wen ſich dieſe Betrachtung eigentlich beziehe, und Konradine ihrerſeits übte mit feinem Verſtändniſſe aus, was er über die Wohlerzogenheit geäußert hatte, die in ſolchen Fällen nicht erräth, was man nicht ausdrücklich errathen haben will. Sie nahm den Satz ſo allgemein, wie er ihn hingeſtellt hatte, um aber der Erörterung doch näher zu kommen, bezog ſie ihn auf ſich, auf ihr perſönliches Geſchick und ihre
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Handlungsweiſe, und fie wußte es am beften, wie viel Grund ſie dazu hatte.
„Es muthet mich eigenartig an,“ gab ſie ihm zur Antwort, „von Ihnen ſo deutlich ausgeſprochen und wiederholt zu ſehen, was ich an mir ſelbſt erleidend und ausübend erfahren habe. Ich ziehe mir daraus den Schluß, daß Herrſchſucht und Gewaltthätigkeit nebſt dem Glauben jedes Einzelnen an ſeine ganz beſondere Weisheit zu den Angeborenheiten des Menſchen ge— hören, gegen die er ſelbſt ſich zu wehren hat, und gegen welche auch die Anderen ſich zu verwahren haben, da des Menſchen Wohlgefallen an ſich ſelbſt ihn doch meiſt behindert, ordentliche, wirklich durchgreifende Er⸗ ziehungsverſuche mit ſich vorzunehmen. Mit welchen Maſſen von reiferer Einſicht und ruhigerer Erwägung bin ich überhäuft worden, als man mich glauben machen wollte, daß mir nichts allzu Ungerechtes, nichts Grau⸗ ſames widerfahren ſei. Man wollte vermuthlich mit der Aſche der Weisheit, die man über mich zu ſchütten für angemeſſen hielt, das Feuer erſticken, das in meiner Seele brannte, und das doch nicht eher ſich zu be— ruhigen begann, bis es die eigentliche Lebenskraft ver⸗ zehrt hatte, aus der es ſeine Nahrung zog. Und doch! — Kaum hatte ich die Erfahrung gemacht, mit welcher leichtfertigen Selbſtgewißheit man es unternommen, über meine Empfindungen und über die meiner Natur nothwendigen Glücksbedingungen munter abzuurtheilen, ſo that ich Ihnen gegenüber ganz genau daſſelbe. Ich habe es Ihnen nicht verborgen, daß ich jene Verbindung, an welche Sie damals dachten, für Sie als eine Un⸗
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möglichkeit betrachtete. Auch heute noch glaube ich, daß wir Alle, ich und meine Mutter und die Gräfin, die wir damals mit ſo viel Sorge auf die Entwicklung blickten, welche Ihre Herzens-Idylle nehmen würde, Sie und Ihr wahres Weſen und Ihr Bedürfen richtiger beurtheilt haben, als Sie ſelbſt. Wenn Sie alſo nicht auch mich mit den Anderen ſammt und ſonders zu den unheilbar Verblendeten und Unverbeſſerlichen zählen, und mit denſelben verwerfen und verdammen wollen, fo müſſen Sie ſich entſchließen, falls Sie mir ver⸗ zeihen, dies auch bis zu einem gewiſſen Grade gegen die Anderen, und gegen die Menſchen im Allgemeinen in Ausübung zu bringen. Sie müſſen es über ſich gewinnen mit und unter der unvollkommenen großen Menge weiter fortzuleben, wie es eben geht, und wie ich es auch in meinen jetzigen Verhältniſſen zu thun nöthig habe. Dabei aber mache ich zu meinem Er⸗ ſtaunen die Erfahrung, wie leicht man Herrſchaft ge⸗ winnen kann, wenn man ſich mit der Maſſe auf die gleiche Stufe ſtellt, ſtatt ſie von der Höhe aus leiten zu wollen, auf die man ſich erhoben hat oder erhoben zu haben glaubt.“
Sie erwähnte dann noch flüchtig, daß die Ge⸗ ſundheit der Aebtiſſin ſich nicht beſſere, daß dieſelbe fie in ihr beſonderes Vertrauen gezogen habe, ihr manche Theile der Verwaltung und der Verhandlungen zu ordnen überlaſſe, in denen fie mit den Behörden viel- fach zu verkehren habe, und daß dieſe Art von ge⸗ ſchäftlicher Thätigkeit ſie, als ein ihr Neues, unterhalte und auch unterrichte. „Aber auch in allem dieſem
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Thun,“ ſo ſchloß ſie ihren Brief, „liegt wiederum die Freude an dem Einfluſſe, an der Macht, mit einem Worte die Freude an der Herrſchaft verbunden. Da es mir nicht zu Theil ward, eines geliebten Mannes und eines Fürſten Frau zu werden, ſo male ich es mir jetzt mit wachſender Vorliebe immer beſtimmter aus, wie es mich kleiden würde, als Aebtiſſin ein ſolches weibliches Gemeinweſen zu beherrſchen und zu regieren; denn aus dem Grabe der Liebe feht nur zu oft der Ehrgeiz ſiegreich auf.“
Für Emanuel waren die Tage, an welchen er die Briefe ſeiner Freundin erwarten durfte, eigentliche Feſttage. a kühne Freimuth, mit welchem ſie ſich ſelber preisgab, ihre Fähigkeit ſich unparteiiſch zu be⸗ trachten, flößten ihm Achtung ein; und was er am meiſten an ihr bewunderte, das war die Entſchloſſen⸗ heit, mit welcher ſie ſich über ihre getäuſchte Hoffnung zu erheben und mit ihrem Herzen fertig zu werden trachtete. Das war mehr, als er jelber vermochte. Konradine gefiel ihm aus der Ferne faſt noch mehr, als wenn er ſich in ihrer Geſellſchaft befand. Denn wenn ſie vor ihm ihre Anſichten mündlich ausſprach, trat ſie damit häufig der Vorſtellung zu nahe, welche er von dem Weſen ſchöner Weiblichkeit als Ideal in ſeinem Herzen trug, während er, wenn ſie ihm ſchrieb, ſich rein und voll an ihrer Eigenartigkeit zu erfreuen vermochte. Er wurde es nicht müde, es ſich und ihr zu wiederholen, daß er in ihr gefunden habe und be⸗ ſitze, was er ſtets erſehnt und was für ihn auch ſicher das Angemeſſene ſei: einen verſtändnißvollen Freund
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mit einem Frauenherzen; die tieffte Zufammengehörtgfeit,
ohne daß man auf dieſelbe Anſprüche an eine Aus⸗ ſchließlichkeit begründe, welche zu erfüllen beſchwerlich fallen könnte, und endlich einen Vertrauten, deſſen man ſich vollkommen ſicher wiſſe.
Auch waren ſeine Offenheit und ſein Vertrauen zu ihr ganz unbegrenzt. Weil ſie bei jedem Anlaſſe ihre Karten rückhaltlos auf den Tiſch warf, hielt er es bei ſeiner Geradheit für unmöglich, daß ſie — mit jener Taſchenſpielerkunſt, in welcher alle Herrſchſüchtigen und insbeſondere ein großer Theil der Frauen Meiſter ſind — die letzte entſcheidende Karte in der Hand für ſich zurück behielt. Konradine hatte ihm unumwunden ausgeſprochen, daß auch fie ſchon zum öfteren ge⸗ nöthigt geweſen ſei, ſich über ihre Handlungen mit ihrer redlichen Abſicht und mit ihrer guten Meinung zu beruhigen; indeß ſie hatte es doch nicht für an— gemeſſen gehalten, ihm mitzutheilen, in welch innige Verbindung ſie mit ſeiner Schweſter getreten war, ſeit er ſich von derſelben ferne hielt.
Die Gräfin hatte Konradinen, als dieſe ihr für die gaſtliche Aufnahme in ihrem Schloſſe Dank ge⸗ ſagt, lebhafte Theilnahme an ihrem Schickſale aus⸗ geſprochen und ihr dann aus freiem Antriebe aber⸗ mals geſchrieben, nachdem Konradine in das Stift eingetreten war. Bis zu jenem Zeitpunkte hatte kein brieflicher Verkehr zwiſchen ihnen Beiden ſtattgefunden, der von Konradinens Seite über einen gelegentlichen Glückwunſch, von Seiten der Gräfin über einen freundlichen Dank hinausgegangen wäre. Das be=
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fliffene Entgegenkommen der jo bedeutend älteren und einflußreichen Frau hatte Konradine in ihrer damaligen Gemüthsverfaſſung angenehm berührt, wenn ſchon ſie es ſofort auf ſeine richtigen Beweggründe zurückzu⸗ führen verſtanden hatte. Aber ſie hatte in jenen Tagen einer Beſchäftigung und neuer Antriebe bedurft, und die Verbindung mit der Gräfin hatte ihr ſolche dargeboten. Anfangs hatte die Gräfin nur nebenher bemerkt, daß ſie ſeit einiger Zeit ohne direkte Nach⸗ richten von ihrem Bruder ſei, dann hatte ſie an⸗ gedeutet, daß eine Spannung zwiſchen ihnen obwalte, über deren Gründe Konradine ſich nicht im Unklaren befinden könne, da ſie eben in den Tagen, in welchen das Zerwürfniß zwiſchen der Gräfin und ihrem Bruder platzgegriffen, ſich in der Geſellſchaft des Letzteren be⸗ funden, und, wie die Gräfin von der Baronin zu ihrer beſonderen Genugthuung vernommen, eine wirkliche Freundſchaft für denſelben gewonnen habe.
So war man raſchen und leichten Schrittes von bei⸗ den Seiten vorwärts gegangen, bis Konradine, die der Gräfin fortdauernd ihr Wohlgefallen an ihren neuen Lebensverhältniſſen ausgeſprochen hatte, ſich endlich dazu erboten, den Freund unmerklich und allmälig zu einer Ausſöhnung mit der Schweſter hinzuführen. Daß eine ſolche nur zu ermöglichen ſei, wenn man Emanuel überzeugen könne, daß er Hulda überſchätzt habe, daß ihre vermeintliche Liebe für ihn nur eine flüchtige, leicht von ihr verſchmerzte Aufwallung, und ſie durch⸗ aus nicht im Stande geweſen ſei, ſeine wirkliche Be⸗ deutung zu ermeſſen, darüber waren beide Frauen
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einig, ohne daß darüber eine Silbe zwiſchen ihnen gewechſelt worden war. Sie handelten dabei, die Eine wie die Andere, in der redlichſten Meinung, nach der beſten Abſicht; nur daß Jede von Ihnen noch Vorausſichten und Plane hegte, welche über den nächſten Zweck, über die Ausſöhnung der Entzweiten hinaus⸗ ging, und eben in dieſen Planen wichen die beiden neu befreundeten Frauen weit von einander ab.
Die Gräfin, welche ihren Bruder in ſeinem tiefſten Weſen kannte, wußte es, daß er den ſpäten, zerſtörten Jugendtraum von Liebe, nicht leicht vergeſſen werde. Er hatte es vor Konradinen auch nicht Hehl, daß ſein Herz noch blute, und daß es ihn ewig ſchmerzen werde, ſich eben in dieſem Mädchen getäuſcht zu haben, an deſſen Liebe er mit einer fataliſtiſchen Zuverſicht geglaubt. Von ſeiner Schweſter ſprach er in den Briefen an Konradine nur ſehr ſelten. Die Stifts⸗ dame hingegen erwähnte der Gräfin, ſo oft ſich ein ſchicklicher Anlaß dazu darbot und ſie that es immer mit warmer Anerkennung ihrer großen und ſeltenen Eigenſchaften, die es dem Bruder doch beklagenswerth machen müßten, von der bewährten und älteſten Freun⸗ din nun getrennt zu ſein. Sie machte dieſe Bemer⸗ kung niemals, ohne dabei hervorzuheben, wie uneigen⸗ nützig ſie in dem Wunſche ſei, die Geſchwiſter ausgeſöhnt zu wiſſen, da ſie fraglos eine Einbuße dadurch erleiden werde, und weil Emanuel dadurch genöthigt wird ſich über den Charakter ſeiner Schweſter und über die Beſchwerden, welche er gegen ſie hatte, auszulaſſen gewöhnte er ſich allmälig wieder daran, ſich wenigſtens
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in feinen Briefen wieder mit der Schweſter zu be— ſchäftigen. Wenn er ſie anklagte, vertheidigte Konradine ſie, aber ſie hob dabei Fehler an ihr hervor, welche die Gräfin nicht beſaß, ſo daß der Bruder es als ſeine Pflicht erachtete, dieſelbe dagegen in Schutz zu nehmen; und war er dabei aus alter Gewohnheit und in wirk— licher Schätzung ihrer Verdienſte, wider ſeinen Willen ihr Lobredner geworden, ſo begrüßte die Freundin dies mit ſolcher Herzlichkeit als ein gutes Zeichen, daß Emanuel dadurch veranlaßt ward, nur um ſo größer von Konradinens edler Uneigennützigkeit zu denken. Mehr als anderthalb Jahre hatte dieſer Brief- wechſel zu beiderſeitiger Befriedigung bereits gewährt und er war mit der Länge der Zeit nur immer inniger geworden. Aber das geſchriebene Wort hat, um richtig zu wirken, oft einer Verſtärkung, ja einer gewiſſen Uebertreibung nöthig, damit erſetzt und ausgeglichen werde, was Ton und Blick, Stimme und Geberde dem lebendigen Worte zugute kommen laſſen. Jeder Brief⸗ wechſel führt deshalb, wenn er lange und ohne erneute perſönliche Berührung fortgeſetzt wird, die Gefahr einer Ueberſpannung mit ſich, und wird daneben leicht abſtrakt, beſonders wenn die Schreibenden, in Zurückgezogen—
heit lebend, wenig Wechſelndes und Aeußerliches zu
berichten, alſo nur von ihrem Denken und Empfinden, von ihren Studien und Betrachtungen zu melden haben.
Emanuel bemerkte dieſes vornehmlich, ſo weit es ihn betraf, und ward ſich dadurch ſeiner Abgeſchieden⸗ heit als eines Nachtheiles bewußt. Freilich hatte er
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auch vordem immer einen großen Theil des Jahres in der Schweiz auf ſeinem Landſitze zugebracht, aber ſein Aufenthalt am ee war ihm durch die Anweſen⸗ heit der Schweſter und ihrer Familie belebt und ver⸗ ſchönt worden, und er hatte ſie dann wieder in ihrer jeweiligen Heimath aufgeſucht, oder man war einmal an drittem Orte nach Verabredung zuſammengetroffen, wenn Emanuel ſich von ſeiner Reiſeluſt weiter hatte in die Ferne locken laſſen. Jetzt fehlte ihm zum Reiſen aller Antrieb.
Er hatte die Welt geſehen, ſoweit ſie ihm für ſeine Intereſſen Anziehendes 1 er hatte die Länder und die Orte, welche ihm lieb geworden waren, zum großen Theile wiederholt beſucht. Die Schweſter und die Nichte aufzuſuchen, fühlte er ſich nicht geſtimmt; anmuthigen Erlebniſſen zu begegnen, wie die Jugend ſie bei dem Antritte jeder Reiſe ihrer wartend glaubt, hatte er niemals erwartet, kam ihm jetzt noch weniger als früher in den Sinn; und weil er ſich das Liebesglück, das ihm ein paar Stunden
lang geleuchtet, aus Mangel an Entſchloſſenheit und an Vertrauen nicht dauernd anzueignen verſtanden hatte, hielt er ſich vom Geſchicke verabſäumt und für ebenſo unglücklich, als er es Hulda hatte werden machen. Gericht und Strafe erwuchſen in ſeiner Bruſt ihm aus der eigenen Natur, und mitten in ſeiner Liebebedürftig⸗ keit und Liebefähigkeit war er ſich nicht bewußt, wie viel Eitelkeit und Selbſtſucht ſich verbargen in ſeinem Zweifel an ſich ſelbſt, wie in este Zweifel an Hulda's Liebe.
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Schon während des Winters, als Konradinens Mutter, bei ihrem Wanderleben zu einem längeren Verweilen an den Genfer See gekommen war, hatte er gegen Konradine in ſeinen Briefen zum öfteren den Wunſch geäußert, ſie möge dieſen Anlaß benützen, um ihm die Gunſt eines Wiederſehens zu gewähren. Auch die Mutter hatte ſich ſeinem Vorſchlage an⸗ geſchloſſen, aber Konradine hatte zu kommen abgelehnt. Der kurze Beſuch, den die Mutter ihr einmal im Stifte abgeſtattet, hatte es Konradinen klar bewieſen, daß die Baronin in ihrem Lebensgenuſſe durch die Ab⸗ weſenheit der Tochter eher gefördert als beeinträchtigt werde, und Konradinen war inzwiſchen ihre Unab- hängigkeit ſo ſehr zur Gewohnheit und zu einem Be—
dürfniſſe geworden, daß ſie es ſich nicht mehr auf⸗
erlegen mochte, ſich in die wechſelvollen Stimmungen und Einfälle der Mutter einzupaſſen, oder es ſich mit
jener ſogenannten Freiheit genügen zu laſſen, welche
ihr zu gewähren die Mutter ſich immer gerne ge⸗ rühmt hatte.
Daneben hielt auch in der That ihr Ehrgeiz,
über den ſie zu ſcherzen und zu ſpotten liebte, weil ſie ihn dadurch am leichteſten der tadelnden Beobachtung entzog, ſie in dem Stifte feſt. Die Zeit, welche ſie in demſelben zugebracht, und das Ende ihres dreißig— ſten Jahres waren bei ihrer Eigenartigkeit zu einem beſonderen Lebensabſchnitte geworden, weil ſie ſich darin gefiel, es als einen ſolchen zu betrachten. Ihr leb⸗ hafter Geiſt hatte ſich mit derſelben Entſchiedenheit
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und Sicherheit in die neue Laufbahn hineinbegeben, mit welcher ſie ſich auf der verlaſſenen bewegt hatte.
Sehr frühzeitig in die Geſellſchaft eingetreten, lebhaft umworben, hatte ſie, nach Frauenweiſe, die glänzende und bevorzugte Stellung, zu welcher ſie ſich berechtigt gefühlt, aus der Hand eines geliebten Man⸗ nes zu empfangen erwartet. Aber was ihr der Eine dargeboten, hatte ihrem heißen Herzen nicht genügt, die Verhältniſſe des Anderen hatten ihrem Ehrgeize nicht entſprochen, bis ihr dann in des Prinzen Liebe jenes Glück gewinkt hatte, das ſie in ihren kühnſten Hoffnungen für ſich erſehnt. Als dieſe Hoffnung ſie betrogen und der erſte wilde Sturm ſchmerzlicher Leidenſchaft ſich in der Tage Lauf geſänftigt, da hatte ſie, wie Einer, dem eine Feuersbrunſt ſein Haus zer⸗ ſtört, ruhig zu überſchauen getrachtet, was ihr aus dem Untergange zu retten gelungen, und was damit noch zu beginnen ſei. Liebesglück und Leid waren in wildem Andrange raſch wie ein Flammenſtrom über fie dahingerollt und hatten in ihrem Herzen viel zer⸗ ſtört. Nur der Zorn über des Prinzen Untreue war unvermindert noch in ihr lebendig, wie ſehr ſie es auch verſtand, nach außen hin die Handlungsweiſe des Treuloſen erklärend zu rechtfertigen, um die Beleidigung, welche ſie erfahren hatte, weniger groß erſcheinen zu laſſen.
Indeß eben an der Stärke und Gleichmäßigkeit dieſes Zornes konnte ſie es für und für ermeſſen, wie ſtark ihre Liebe und was der Prinz ihr geweſen ſei, und wie wenig ſie ihn vergeſſen habe. All ihr
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Thun und Treiben bezog ſich nach wie vor auf ihn. Sie wollte ſich faſſen, damit er ſie nicht untröſtlich über ſeinen Treubruch glaube. Sie wünſchte ſich eine bevorzugte Stellung zu erwerben, um ihm zu beweiſen, daß es nicht der Glanz einer ſolchen geweſen ſei, um deſſen willen ſie ihn geliebt habe; und wenn ſte, wie ſie es jetzt im Sinne hatte, ehelos verblieb, ſo konnte ſie keine Lebenslage für ſich finden, die ausgezeichneter und ihrer Selbſtſtändigkeit nach bedeutender geweſen wäre, als die der Aebtiſſin des reichſten Fräuleinſtiftes im Lande, eine Stellung, welche einzunehmen ſelbſt Töchter des regierenden Hauſes nicht unter ihrer Würde erachtet hatten.
Die Aebtiſſin des Stiftes war betagt und kränkelte, aber ſie war in jedem Betrachte eine ausgezeichnete Frau und hatte von der erſten Stunde an, die geiſtige Bedeutung Konradinens zu würdigen, den Umgang mit ihr zu ſchätzen gewußt. Ihre Thätigkeit, ihre Klugheit und Ueberredungsgabe zeigten ſich der viel⸗ erfahrenen Aebtiſſin ebenfalls als brauchbar, und ſie hatte nach Art der Herrſchenden, auch dieſe Eigen⸗ ſchaften Konradinens für ſich nützlich zu machen und praktiſch zu entwickeln verſtanden; ſo daß ſie in ihren vertrauten Mittheilungen an die Behörden auf das Fräulein von Wildenau als auf die geeigneteſte Nach⸗ folgerin für ſich hingewieſen, und die Ermächtigung erlangt hatte, Konradinen während der Badereiſe, welche die Aebtiſſin zu machen genöthigt war, mit ihrer Stellvertretung zu betrauen. Das hatte den Bedürf⸗ niſſen Konradinens ganz und gar entſprochen. Es hatte
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fie beſchäftigt, hatte fie zerſtreut und von ſich ſelber ab⸗ gezogen. Es hatte ſie den Reiz der Herrſchaft und der Macht auch in beſchränktem Maßſtabe empfinden, und ſie inne werden laſſen, was es mit dem alten Aus⸗ ſpruche auf ſich habe, daß es befriedigender ſei, im engeren Kreiſe der Erſte, als der Zweite in einem weiteren zu ſein. Ihr Ehrgeiz hatte damit ein ganz beſtimmtes Ziel gewonnen, und ſie hielt es vor ſich ſelber aufrecht, daß ſie nach dieſem Ziele zu ſtreben habe, daß ſie es erreichen könne und erreichen müſſe. Gegen alles Erwarten war jedoch die Aebtiſſin von ihrer Reiſe ſehr gekräftigt in das Stift zurück⸗ gekehrt und hatte die Fäden der Verwaltung wieder in die eigenen Hände genommen. Konradine fand ſich dadurch, trotz des fortdauernden Vertrauens ihrer älteren Freundin zu einer verhältnißmäßigen Unthätigkeit verdammt, und die Tage des ſinken⸗ den Sommers erſchienen ihr ſehr lang und leer und öde. Sie war nun über zwei Jahre nicht aus dem Stifte fortgekommen, die ſämmtlichen Damen hatten es während dieſes Zeitraumes zu verſchiedenen⸗ malen auf längere oder kürzere Zeit verlaſſen. Kon⸗ radine ging alſo mit ſich zu Rathe, ob es nicht an⸗
gemeſſen für fie ſei, es durch eine zeitweilige Entfernung
der Aebtiſſin recht fühlbar zu machen, welche Geſell—
ſchaft und welche Stütze ſie in ihrer jüngeren Freun⸗
din beſitze; während es ebenſo zweckmäßig erſchien,
wenn Konradine ſich wieder einmal mit denjenigen
ihr geneigten Perſonen in lebendigen Verkehr brachte, Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 8
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deren Einfluß für fie im betreffenden Falle wichtig und von Entſcheidung ſein konnte. Sie hatte es auch keineswegs nöthig, fi) aus der Welt, in der fie ge— glänzt hatte und gefeiert worden war, zurückzuziehen. Ihr Stiftskreuz verlieh ihr den Titel und die Unab⸗ hängigkeit einer verheiratheten Frau, es ermächtigte ſie zu einer Freiheit des Handelns und Bewegens, welche ſie ohne dasſelbe in ihren Lebenskreiſen nicht beſeſſen hatte, ſo lange ſie ſich unvermählt unter dem Schutze ihrer Mutter befunden. Dazu durfte ſie mit ziem⸗ licher Gewißheit darauf rechnen, weder in Deutſchland,
noch am Genferſee eben jetzt mit dem Prinzen zu⸗ ſammenzutreffen, den der ſehr bedenkliche Geſundheits⸗
zuſtand ſeiner jungen Gattin auf deren italieniſcher Beſitzung feſthielt; und während Emanuel's Bitten ſich erneuerten, brachte endlich der Vorſatz der Gräfin, ihren Bruder ohneweiters aufzuſuchen, um ſo die Ausſöhnung herbeizuführen, die ſie in jedem Betrachte wünſchte, Konradine zu dem Entſchluſſe, das Stift für eine Weile wieder mit dem Leben in der Welt zu vertauſchen. |
Zehntes Capitel.
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In noch weit größerer Unentſchloſſenheit als die mit allen Mitteln zu freier Entſcheidung ausgeſtattete Stiftsdame hatte der arme Adjunktus den Sommer hingebracht. Sein Gemüth war ſeit dem Oſtermor⸗ gen, an welchem ihm ſo unerwartet die Erkenntniß gekommen war, daß er Hulda liebe, nicht mehr zu dem Frieden gelangt, in welchem er bis dahin ſich glücklich gefühlt und eine Gnade Gottes zu erkennen geglaubt hatte. Das war nun Alles, Alles mit einem⸗ male hin, und Alles anders.
Er hatte ſeit jenem Tage ſeine ganze Amts⸗ führung, die ihm doch ein Heiligthum und eine Herzens⸗ ſache war, nur noch wie eine mechaniſche Aufgabe zu erfüllen vermocht. Wenn er von der Kanzel oder dem Altar zu der Gemeinde ſprach, ſuchten ſeine Augen Hulda, hing ſein Blick an ihr. Er hielt es ſich ver⸗ gebens vor, daß er nicht würdig ſei, mit ſo getheiltem Sinne das Wort des Herrn zu verkünden. Er ſagte ſich, daß er nicht an dieſer Stätte bleiben, an ihr nicht
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erfolgreich als Seelſorger wirken könne, wenn es ihm nicht gelinge, Hulda's Neigung und ihre Hand zu ge⸗
winnen, und jo die verlorene innere Einheit und den
Frieden ſeiner Seele wieder herzuſtellen. Aber wenn er einmal am Abende im ernſten Sinnen und Ge⸗ bet die Kraft errungen zu haben glaubte, deren er be⸗ durfte, um ſich von Hulda loszureißen, ſo machte am Morgen ſein erſtes Zuſammentreffen mit ihr, alle f ſeine guten Vorſätze zunichte.
Wenn ſie ihm in ihrer ruhigen Freundlichkeit wie jedem Anderen den „guten Tag“ bot, wenn er die Genauigkeit bemerkte, mit der ſie auch auf ſeine geringen Bedürfniſſe Bedacht nahm, und vollends wenn er mit ihr für den hinſterbenden Vater Sorge tragen, ihn pflegen, ihm das Schwinden des Augen⸗ lichtes minder fühlbar machen und ſich dafür Hulda's warmer Dankbarkeit erfreuen durfte, kam ihm ſein Fortgehen ganz unmöglich, kam es ihm undenkbar vor, daß keine Hoffnung für ihn vorhanden ſein, daß ſeine
treue Hingebung Hulda's Freundſchaft nicht verdienen, b
ſeine reine Liebe von der ihren nicht endlich erwidert werden ſollte.
Er ſchalt ſich ungeduldig, wenn er ſich ent⸗ muthigt und hoffnungslos fühlte, er wollte um ſie dienen ſieben Jahre und länger. Er ſagte ſich, daß Gottes Fügung ihn ja eben auf dieſen Platz geführt, und daß es alſo Gottes Zulaſſung ſei, wenn er ſich hier erproben müſſe. Er hielt es für ſeine Pflicht, neben dem Greiſe auszuharren, dem man ihn zum Beiſtande gegeben, und zu dem er jetzt in ein herz⸗
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liches Verhältniß getreten war. Dann wieder, wenn der Gedanke des Fortgehens durch einen neuen An⸗ laß wieder in ihm lebendig wurde, überlegte er, wie er dem Pfarrer für ſein Scheiden doch unmöglich die wahren Gründe angeben könne, wie dasſelbe dem kranken Greiſe ſchwer fallen, wie das Zuſammenleben mit einem neuen fremden Gehilfen demſelben pein⸗ lich werden würde. Und wenn all dieſe Rückſichts⸗ nahmen ihm doch nicht ausreichend genug erſchienen, ſein Bewußtſein zu beſchwichtigen, wenn er ſich es eingeſtehen mußte, wie er ſich nicht die volle Wahr— heit ſage, ſo hielt er denn auch vor ſich ſelber ſchließ⸗
lich mit dem Bekenntniſſe nicht zurück, daß er Hulda
nicht allein zu laſſen vermöge in der ſchweren Stunde, die immer näher an ſie heranrückte, daß er bleiben
müſſe um ihretwillen, damit doch Jemand in ihrer
Nähe ſei, der ſie liebe, der ſie würdige, wie ſie es
verdiene, der ſie beſchützen könne gegen das neidiſche Uebelwollen, von dem er ſie, und nicht allein durch Mamſell Ulrikens gefliſſentliche Andeutungen, umgeben und verunglimpft wußte.
In ſolchen Augenblicken fühlte er ſich glücklich, fühlte er ſich wie verwandelt, und er war dies auch, mehr als er's ſelber glaubte. Die Amtsführung hatte ſein Selbſtgefühl gehoben, die Nothwendigkeit, Andere auch in den Angelegenheiten zu berathen, in denen ihre weltlichen Intereſſen betheiligt waren, hatte unter des Amtmannes Anleitung ſeinen Blick zu erweitern angefangen. Er durfte ſich nicht mehr ſo wie früher ausſchließlich mit ſeinem Seelenheile befaſſen, er hat
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ſeiner inneren Demüthigung wie feiner äußeren De⸗ muth eine Grenze zu ſetzen, weil er in der Lage war, Anerkennung und Verehrung für ſich fordern zu müſſen; und was ſein Amt an ihm begonnen hatte, den Bann jener frömmelnden Kirchlichkeit zu durch⸗ brechen, in welchem er nach der in gewiſſen Regionen herrſchenden Strömung von ſeinen Lehrern und Vor⸗ bildern gehalten worden war, das war die Liebe nahe daran, zu vollenden, die ſein Mannesgefühl erweckte und es in die Schranken rief.
So war man bis in die Zeit der Roggen⸗Ernte hingekommen, als eine geſchäftliche Anfrage den Ad⸗ junktus in das Amt zu gehen nöthigte. Es war ſchon gegen den Abend hin, doch ſtand die Sonne noch hoch am Himmel, denn die Sommertage ſind lang in jenen Gegenden, und es war noch immer drückend heiß. Nur der feuchte Hauch, der vom Meere kam, erfriſchte die Luft, und das ſanfte, gleichmäßige Anſchlagen der breiten Wellen wirkte angenehm auf die Einbil⸗ dungskraft.
Dem Adjunktus, der immer in den engen Straßen der alten Stadt gelebt und das Meer nicht gekannt hatte, bis er in dieſes Pfarrhaus gekommen, war der Eindruck immer noch ein überwältigender. Er blieb deshalb auch, als er das Haus verlaſſen wollte, unter der Thüre ſtehen, auf das in goldigem Feuer fluthende Meer hinausſchauend, bis er, von dem funkelnden und flimmernden Glanze geblendet, die Augen mit der Hand bedecken mußte. Wie er dann emporblickte, ſah er Hulda auf der Bank unter dem Hollunderbuſche
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ſitzen, von welcher ſie durch das niedrige Fenſter das Zimmer ihres Vaters überblicken konnte. Der Pfarrer ruhte ſchlummernd in dem alten Lehnſtuhle, es regte ſich kein Blatt. Nur die Käfer hörte man ſummen und die Bienen, die von des Küſters Stöcken in das Pfarrgärtchen herüberflogen.
Um nicht mit einer lauten Anfrage die Ruhe des Schlafenden zu ſtören, ging der Adjunkt zu Hulda in den Garten. Er erkundigte ſich, ob ſie im Amte Et⸗ was zu beſtellen habe. Sie verneinte das, bat ihn aber, dem Amtmann ihre Grüße auszurichten, wobei ſie be⸗ merkte, er werde einen angenehmen Spaziergang und beſonders einen ſchönen Rückweg haben. a
„Es iſt heute recht ein Tag, wie er im Liede be⸗ ſchrieben wird, ſagte ſie:
Sommer iſt es, ſonnig iſt es,
In der Welt wie wonnig iſt es, Trägt die Erd' ihr Feierkleid!
Grün iſt Alles weit und breit;
Mit Gezwitſcher und mit Jubel Schwingt ſich in die Luft die Lerche; Fichte ſchwankt und Birke wiegt ſich, Auf der Wieſe duften Kräuter, Früchte prangen im Gezweig!
Nur die Zeit des Vogelſanges iſt ſchon vorüber, und trotz der Wärme werden die Sonnen⸗Untergänge ſchon herbſtlich. Sie ſind dann aber gerade bei uns ſo majeſtätiſch, daß ſie nirgends herrlicher ſein können. Sie müſſen nicht zu lange im Amte verweilen, wenn Sie das Schauſpiel recht genießen wollen!“
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Trotz dieſer Mahnung blieb er zögernd neben ihr ſtehen. Er brauche nicht eben heute nach dem Schloſſe zu gehen, ſagte er.
„Dann würden Sie ſich um den Anblick des Sonnen⸗Unterganges bringen,“ bedeutete ſie ihm, „denn er ſieht ſich, wenn man von dem Schloſſe hinunter⸗ kommt, weit ſchöner an, als hier von unſerm Hauſe!“
War das guter Wille für ihn oder eine Weiſung ſich zu entfernen? Er wußte es nicht. Sie hatte ſeit dem Oſtertage jedes längere Alleinſein mit ihm vor⸗
ſichtig gemieden, aber der ſchöne, heiße Sommertag, der die Blumen auf den beiden Beeten und Hulda's
beide Roſenſtöcke ihren ganzen Duft ausſtrömen machte, ſchloß auch ihm das Herz auf. Er ſehnte ſich danach mit ihr zu ſprechen und ein freundlich Wort von ihr zu hö⸗
ren, und weil ihm nicht gleich einfiel, was er jagen -
könne, wollte er wiſſen, von wem die Verſe wären, die ſie angeführt habe.
„Wer weiß das?“ entgegnete Hulda, „das müſſen Sie die Sonne und die Luft und die Wellen fragen.
Das Lied iſt hier irgendwo irgendeinmal an der See
zuſammen mit ſeiner Melodie entſtanden und hat wie der Kiefernſamen, den die Luft verſtreut, irgendwo Wurzel geſchlagen und ſich erhalten, bis dann Andere gekommen find und gemerkt haben, daß da ein hüb⸗ ſches Bäumchen ſtehe. Es iſt eines unſerer Volkslieder, wie wir deren viele haben!“
„Der Herr Pfarrer hat mir, als er einmal von der hieſigen Volkspoeſie mit mir geſprochen, angedeu⸗ tet, daß er für den Bruder der Frau Gräfin viele
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dieſer Lieder zuſammengeſtellt und überſetzt habe, und
daß Ihre verſtorbene Frau Mutter und auch Sie die
Lieder früher viel geſungen haben!“
„Ja früher!“
„Und Sie ſingen ſie jetzt nicht mehr?“ fragte er mit einem Tone, der den Wunſch, ſie zu hören, in ſich ſchloß.
„Sie ſind meiſt traurig,“ gab ſie ihm zur Ant⸗ wort, „aber mein Vater liebte ſie früher ſehr, und ich liebte ſie auch, denn wir hatten ſie von der Mutter. Jetzt verlangt mein Vater nicht mehr nach ihnen, und für mich iſt das recht gut.“
Er ſchwieg, denn er errieth, daß ſich Erinnerun⸗ gen an jene Lieder für ſie knüpfen mußten, die ſie viel⸗ leicht im Beiſein Dritter nicht aufzuwecken wünſchte. Hulda ſtand auf und mahnte ihn an das Fortgehen. Sie folgte ihm an die Pforte des Gitters, von der man weit hinaus ſah über das Meer, und wie ſie es in feiner Herrlichkeit vor Augen hatte, ſagte ſie, die Luft mit Wonne einathmend: „Der Abend iſt wirklich
von einer ſeltenen Herrlichkeit.“ Dabei flog ein Aus⸗
druck des Entzückens und der Freude über ihr eben noch ſo ſchwermüthiges Antlitz, daß der junge Mann ſie noch niemals ſo ſchön geſehen zu haben glaubte, und weil es ihn danach verlangte, ſie noch länger in dieſer hei— teren Schönheit vor ſich zu ſehen, bat er: „Gehen Sie eine Strecke mit mir, oder“, fügte er, ſich beſinnend, raſch hinzu, „gehen Sie ſpazieren und laſſen Sie mich bei dem Herrn Pfarrer bleiben, denn daß Sie ſich
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freuen, daß Sie heiter find, iſt ja viel mehr werth, als der ſchönſte Sonnen⸗ Untergang.“
Seine Empfindung hatte ihn fortgeriſſen, Hulda war davon gerührt. „Sie ſind ſehr gut!“ ſagte ſie, „ſehr gut! Könnte ich Ihnen danken, wie ſie es ver⸗ dienen!“
Aber wie ſie ihn anſah, wie ſie die beglückte Ueberraſchung wahrnahm, die aus ſeinen Augen leuch⸗ tete, bereute ſie die ſoeben geſprochenen Worte, und ſich nach dem Hauſe wendend, ſagte ſie, daß ſie nach dem Vater ſehen müſſe und daß es für ihn ſelber die höchſte
Zeit zum Gehen ſei. Sie brachte jedoch die Hoffnung, die in ſeinem Herzen aufgeflammt war, damit nicht
zum Erlöſchen. Er blieb ſtehen und ſah ihr zärtlich nach. Mit einemmale konnte er ſich nicht länger halten. Er folgte ihr mit raſchen Schritten, und ihre Hand ergreifend, ſagte er in einem Tone, in dem ſein gan⸗ zes Wünſchen hörbar war: „Ach gewiß, Sie werden
die Lieder ſchon noch einmal ſingen!“ und ihre Hand
ſchüchtern an ſeine Lippen drückend, eilte er von dan⸗ nen, ehe ſie ihm die Antwort geben konnte. — Was hätte ſie ihm auch ſagen ſollen? Wie hätte ſie ihm wehe thun ſollen in dieſem Augenblicke? Sie dachte gut von ihm, ſie hatte ihn ſchätzen gelernt und er that ihr leid. Aber was konnte ihm das helfen und was half es ihr?
Er ging während deſſen rüſtig und gehobenen Sin⸗ nes ſeines Weges. Er konnte den Hut nicht auf dem Haupte dulden, er mußte den Rock aufknöpfen, den er anſtandshalber ſonſt ſtets geſchloſſen zu tragen pflegte.
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Sein Herz war ihm ſo voll, fo weit, er athmete fo viel mächtiger und freier, er war noch nie ſo glücklich geweſen. Die Welt, in die ſein Schöpfer ihn hinein⸗ geſetzt, war ihm nie herrlicher, und ſein und ihr Schöpfer ihm nie größer, mächtiger, anbetungswerther erſchienen, als in dieſer Stunde, in der er zum erſtenmale voll zu empfinden glaubte, wie viel Glück der Herr dem Menſchen zu genießen vergönne. Er beſann ſich mit Freude auf Alles, was heute zwiſchen ihm und Hulda ſich ereignet hatte. Er erinnerte ſich jedes Wortes, das ſie und er geſagt; er war entzückt von dem, was er in ſeinen Gedanken ihr Vertrauen und ihre Güte nannte, und er war auch ſehr zufrieden mit feiner eigenen ra⸗ ſchen Kühnheit, die er ſich nicht zugetraut hatte. Er war im Schloßhofe und im Amte, ehe er es gedacht.
Eilftes Capitel.
Die Ernte war im vollem Gange, die ſchwerbe— ladenen Wagen ſchwankten langſam zu dem einen Thore des weiten Hofes hinein, während man noch dabei war, andere die abgeſchirrt vor den Scheunen ſtanden, ab⸗ zuladen, und leere Wagen raſch durch das entgegenge- a ſetzte Hofthor ſchon wieder nach dem Felde fuhren. Denn der ganze Roggen ſollte heute noch herein. Man . wollte die lange Helligkeit benützen, damit nicht etwa ein Gewitterregen, deſſen man in dieſer Jahreszeit und bei ſolcher Hitze wohl gewärtig ſein mußte, die reiche Gottesgabe ſchädige. Deshalb brach man auch die ſonſtige feſte Tageseintheilung. Der Amtmann ließ auf ſeine Koſten um die gewohnte Feierſtunde einen Imbiß unter die Leute austheilen, und es ſollte da= nach fortgearbeitet werden, bis man mit dem Einbrin⸗ gen ganz und gar zu Stande wäre.
Wie der Amtmann den jungen Geiſtlichen ſo hei⸗ teren Schrittes und baarhäuptig über den Hof und nach der Rampe kommen ſah, auf der er ſelber unter
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dem Schatten der Linden ſeine vorläufige Mahlzeit ein⸗ nahm, rief er ihn freundlich an. „Wahrhaftig, Herr Adjunktus!“ ſagte er, indem er ihm treuherzig die Hand ſchüttelte und ihn zum Sitzen nöthigte, „wahrhaftig, Herr Adjunktus! Sie gehen hier auf wie Weizenteig. Die Luft hier bei uns an der See ſchlägt Ihnen an. Sie ſind gar nicht mehr derſelbe. Sie ſehen aus, daß man Ihnen gleich ein Pferd unter den Leib geben und einen rechtſchaffe⸗ nen Landwirth aus Ihnen machen könnte. So ſind Sie mein Mann! Und nun ſetzen Sie ſich und laſſen es ſich mit uns ſchmecken. Geſtern haben wir auch Be⸗ ſuch gehabt. Aber Sie ſehen“ — er wies auf die
herankommenden Wagen hin — „im nächſten Winter
verhungern wir noch nicht, wenn auch noch ein gut Theil Gäſte kommen.“
Der Adjunkt ließ ſich nicht nöthigen, und es gab kein Lob und keine Anerkennung in der Welt, die ihm in ſeiner gegenwärtigen Stimmung hätten willkommener fein können, als das Zugeſtändniß, daß er ein Mann ſei, der ſich neben Anderen ſehen laſſen dürfe. Auch die Mamſell, die inzwiſchen herausgekommen war, rühmte ſein gutes Ausſehen, erwähnte ebenfalls des geſtrigen unerwarteten Beſuches, aber da der Amtmann ſich er⸗ kundigte, was den Adjunktus zu ihm geführt habe, begann dieſer von ſeinem Anſuchen zu berichten, und die Mamſell konnte mit ihrer Erzählung nicht ſofort heraus. Wie man nun bei Speiſe und Trank die kleine Geſchäftsangelegenheit raſch abgefertigt hatte — denn gegenüber dem reichen Gottesſegen, den man ein⸗
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brachte, bewilligte der Amtmann ohne Zaudern die kleinen Ausbeſſerungen an der Kirche und an dem Pfarrhauſe, welche der Adjunkt im Auftrage des Paſtors zu fordern gekommen war — ſo erkundigte ſich der
Amtmann denn auch nach dem Pfarrer und nach Hulda.
Der Adjunkt gab ihm Beſcheid. Er ſagte, daß es ſich mit dem Pfarrer offenbar zu Ende neige, daß die Tochter von einer unermüdlichen Beharrlichkeit in ſeiner Pflege ſei. Als er aber im beſten Zuge war, nach ſeiner innerſten Meinung und ſeines Herzens Be— dürfniß ihr Lob weiter auszuſprechen, ſtieg ihm das
Blut in das Geſicht. Ulrike wendete das Auge nicht
von ihm, das machte ihn verwirrt, und zu ſeinem Un⸗ glück wurde der Amtmann eben abgerufen. Das kam Ulriken eben recht.
Denn der Bruder hatte die Rampe noch nicht ver⸗
laſſen, als Ulrike ſich des Worts bemächtigte. Es freue
ſie, ſprach fie, daß es ihm hier Orts gefalle und daß ihm ſeine Stelle nicht zu ſchlecht ſei. Sie könne ihn auch verſichern, daß die Gemeinde ihn gern zum Nach⸗ folger des Paſtors haben möchte. Bei der Oſtertaufe hätten die Leute, hätten die Amtsräthin und auch ſie ſelber ſich allerdings nicht recht aus ſeiner Predigt ver⸗
nehmen können, aber die Einſegnung und die Pfingſt⸗
predigten, die wären ihnen wieder ſehr zu Herzen gegangen und, ſie wären Alle überzeugt, wenn er ein⸗ mal völlig freie Hand haben und ſonſt auch, wie es ihm zukäme, freigeſtellt und Herr auf der Kanzel und im Pfarrhauſe ſein würde, ſo würde Alles noch viel
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beſſer werden. Die Leute würden dann auch weiter Nichts zu reden und zu ſagen haben.
Der Adjunkt entgegnete, er ſchätze ſich glücklich, wenn es ihm gelinge, dem geiſtigen Bedürfen der Ge- meinde zu entſprechen, und weit entfernt, mit ſeiner gegenwärtigen Lage unzufrieden zu ſein, wünſche er ſehnlich, Gott möge dem Pfarrer ſeine Lebenszeit noch länger friſten, als man es zu hoffen wage.
„Ach!“ rief Ulrike, „um den Pfarrer iſt es ja auch nicht, gegen den Herren Pfarrer hat man Nichts ein⸗ zuwenden. Ich ſagte das auch geſtern der Frau Ba⸗ ronin. Ihr Gehalt iſt nur zu gering für einen jungen Mann wie Sie, und überhaupt iſt unſere Pfarre keine von den guten hierzulande. Cin paar Meilen weiter hinein ſehen die Pfarrhäuſer ganz anders aus, und auch die Einkünfte ſind anders, und die Pfarrerstöch— ter rechtſchaffen und gut erzogen.“
Der Amtmann, der inzwiſchen zurückgekommen war, hatte nur die letzten Worte noch gehört. Aber er merkte an dem Geſichte des jungen Mannes, mehr noch an der Schweſter plötzlichem Abbrechen, daß ſie Etwas vorgehabt habe, was fortzuſetzen ihr in ſeinem Beiſein nicht gerathen ſchien. Er fragte alſo, wovon die Rede geweſen ſei. Ulrike ſagte, ſie hätten davon geſprochen, daß die Pfarre viel zu ſchlecht bezahlt ſei, als daß ein junger Mann in jetzigen Zeiten daran den⸗ ken könnte, ſein Leben in derſelben zuzubringen.
„Wobei ich mir aber zu bemerken erlauben muß,“ fiel der Adjunkt ihr in das Wort, „daß es die Mamſell Schweſter geweſen iſt, die das behauptet hat, nicht ich.“
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Ulrike fuhr auf. Es lag die offenbarſte widerſetz⸗ liche Anklage in ſeinem Tone. Das hatte er früher me gewagt. Die Sache ſtand alſo ſchlimmer, als ſie bis dahin geglaubt, war weiter gediehen, als ſie bis dahin gewußt hatte. Indeſſen der Bruder ließ ihr nicht die Zeit, die Bosheit auszuſprechen, die ihr auf den Lippen ſchwebte, denn er ſagte mit ſeiner ruhigen Wahrhaftig⸗ keit: „Das iſt mir lieb, mein werther Herr Adjunkt! Und ſo wie die Frau Gräfin die Stelle um Ihres Eintretens willen neuerdings dotirt hat, und auch wenn unſer armer Paſtor das Zeitliche geſegnet haben wird, dotirt laſſen wird —
Ja!“ rief Ulrike, ihrer ſelbſt nicht länger mächtig, 5
9 0 in die Rede fallend, „wenn die Hulda in der Pfarre bleibt. Aber der Herr Adjunkt ſieht mir nicht aus wie Einer, der ſich, wie das früher die Herrſchaf— ten ſo im Brauch hatten, verſorgen laſſen wird, weil man ein Frauenzimmer abfinden oder aus dem Wege haben will!“
„Reitet Dich denn wieder einmal heut der Teufel!“ rief der Amtmann, indem er zornig mit der Hand auf den Tiſch ſchlug, daß die Teller und die Gläſer klirrten. „Das einzige Frauenzimmer, das hier im Wege iſt—“
Der Adjunkt ließ ihn nicht in ſeinem Zorne zu Ende ſprechen. Es war ihm heiß und kalt geworden bei den Worten der Mamſell, aber der gehobene und befreite Sinn, den er ſchon dieſen ganzen Nachmittag in
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ſich gefühlt hatte, gab ihm auch jetzt die Kraft, feine
ſonſtige zaghafte Schüchternheit zu überwinden, und mit
einer Sicherheit, die in ſeiner Liebe und ſeinem Ver⸗ trauen zu der Reinheit des von ihm geliebten Mäd⸗ chens ihren Urſprung hatte, ſagte er: „Zürnen Sie der Mamſell Schweſter nicht, Herr Amtmann! Sie hat ganz Recht. Ich würde gewiß der Letzte ſein, unter Bedingungen, die ſie vorausſetzt, ein Amt zu übernehmen — auch das einträglichſte und allerhöchſte nicht; aber wenn die Frau Gräfin mir in dem Falle, der denn ein⸗ mal doch eintreten muß, die Pfarre anvertrauen wollte, würde ich es als ein großes Glück für mich erachten,
eine Frau zu finden, ſo gut und ſo von Herzen brav wie
Mamſell Hulda.“
Ulrike ſtand wie vom Donner gerührt, ihre Lip⸗ pen waren weiß geworden und zitterten, daß ſie nicht ſprechen konnte. Der Adjunkt ſchlug im Schrecken über ſeine ihm bis dahin fremde männliche Entſchloſſenheit die Augen nieder, ſie waren ihm ganz feucht geworden. Der Amtmann jedoch reichte ihm die kräftige Hand hinüber und rief mit voller Stimme: „Bravo, Herr Adjunkt! Schlagen Sie ein; es ſoll ein Wort ſein! Denn es war ein Wort, wie es ſich für einen honet⸗ ten Menſchen gegenüber ſolchem Altenweiber⸗Gewäſche ziemt. Kommen Sie! Ich muß fort, und ein Stück Weges gehen wir noch zuſammen. Unterdeſſen hat die Alte Zeit, ſich auszutoben und, wenn ſie will, auch auszuweinen und Gott und die Menſchheit wieder ein⸗ mal zu verwünſchen.“
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 9
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Er ſtand damit auf, nahm die langſchirmige Mütze und den ſchweren Stock zur Hand und, ſich auf den Arm des jungen Mannes ſtützend — was ein großes Zeichen ſeiner Freundſchaft war — machte er ſich mit ihm auf den Weg.
Dicht vor dem Hofthore trafen ſie den Knecht, der zweimal in der Woche die Briefe und die Zeitungen von der Poſt zu holen hatte. Der Amtmann blieb ſtehen und ließ ſich die Poſttaſche vom Pferde herunter⸗ reichen, zu der er den Schlüſſel an ſeinem Bunde trug. Er ſchloß ſie auf, ſah den Eingang nach, ſchickte die Taſche in das Amt hinauf und behielt, nur einen der Briefe bei ſich, deſſen Aufſchrift die Hand der jungen Fürſtin zeigte. Den nahm er mit ſich und brach ihn gleich im Gehen auf. Aber kaum hatte er die erſten Zeilen geleſen, als er ſtehen blieb, um ihn mit einer ſichtlichen Bewegung zu Ende zu leſen.
„Wie das manchmal doch im Leben kommt,“ ſagte er, als er das Schreiben durchgeleſen hatte und in die Taſche ſteckte, „man ſollte manchmal ſagen, die alten Sprichworte hätten einen prophetiſchen Verſtand. Es. iſt wirklich, als könnte ein Unglück nicht allein kom⸗ men.“ Er ſchüttelte nachdenklich den Kopf. — „Sp geht Einer nach dem Andern hin. Sie hat uns na⸗ mentlich in jungen Jahren manchmal mit ihrem ſüß⸗ lichen Gequengel hier unſere liebe Noth gemacht, aber eine anſtändige und rechtſchaffene Perſon iſt ſie 5 ſen. Der Frau Gräfin wird es nahe gehen —
Der Adjunktus mußte ihn unterbrechen, er 1 nicht, von wem der Amtmann ſprach.
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„Ja ſo,“ rief dieſer, „ich dachte, ich hätte es Ih⸗ nen geſagt. Die engliſche Miß, die alte Kenney iſt auf dem Schloſſe des Fürſten geſtorben, und die Frau Fürſtin ſchreibt's mir ſelber mit der Anweiſung, es in der Pfarre mitzutheilen. Sie iſt nur ein paar Tage krank geweſen und hat ein ſanftes Ende gehabt. Das lernt man als ein Glück betrachten, wenn man ſelber nicht mehr weit davon iſt. Sie war ein hübſches Frauenzimmer, als ſie jung war, und zuerſt hierherkam.“
Der Amtmann war offenbar mehr ergriffen, als er es zu zeigen für angemeſſen fand, denn die Natur ſtand wieder einmal als die unerbittliche Gläubigerin vor ihm, die Keinem ſeine Zahlung an ſie ſchenkt, wenn fie fie dem Einzelnen auch mitunter länger ſtun-⸗ det. Der Adjunkt bemerkte, dieſer Todesfall werde in der Pfarre, namentlich bei Hulda, viel Betrübniß erregen.
„Das glaube ich wohl,“ verſetzte kurzweg der Amtmann, der ohnehin bei traurigen Gedanken nicht zu verweilen liebte, „aber dagegen iſt nun einmal Nichts zu machen, und wer weiß, wozu es für ſie gut iſt.“
Der Adjunkt fragte, ob der Amtmann von Hulda ſpreche und wie er das verſtehe.
„Ich meine, gut für das Mädchen ee auch für Sie, mein Beſter!“ entgegnete der Amtmann, „denn wie ich heute Sie und Ihre Abſichten, die mir ſehr wohl gefallen, habe kennen lernen, dürfen und müſſen wir einander reinen Wein einſchenken. Sie wiſſen es
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vermuthlich, daß mich der Paſtor gebeten hat, die Vormundſchaft über das Mädchen zu übernehmen, wenn er die Augen ſchließen wird.“
Der Adjunkt verneinte das.
„Die Sache verſtand ſich im Grunde von ſelbſt,“ fuhr der Amtmann fort, „ſie haben ja ſonſt Niemand. Von des Paſtors Seite ſind keine Blutsverwandte da, und wenn von der Mutter Seite etwa Jemand leben ſollte, ſo ſind das arme Leute auf den freiherrlichen Gütern, von denen weiter nicht die Rede ſein kann. Auf die Engländerin aber wird ſich Hulda wohl ver⸗
laſſen haben, denn nachdem ſich der Handel mit dem. Baron zerſchlagen — dem ich nie vergeben werde, wie
er ſich gegen das Mädchen gehen laſſen, das zu heirathen er ernſtlich wohl nie gedacht hat — ſeitdem hat die Miß, Gott habe ſie ſelig, der armen Hulda allerhand Zeug in den Kopf geſetzt, daß ſie nach England gehen ſolle, wie die Miß ihrerzeit nach Deutſchland gegangen ſei, daß die Miß dort für ſie ein Unterkommen ſuchen wolle, und was derart noch mehr geweſen iſt.“ Er ſchwieg eine Weile, dann fuhr er fort: „Das hat dem Mädchen doch im Sinne herumgeſpukt, und meine Schweſter, die den Mund nun einmal nicht halten kann, hat mit ihren Erzählungen von all dem Geklat⸗ ſche, das leider über das arme Kind zumeiſt durch meiner Schweſter ewiges Gerede hier im Schwange iſt, das Uebrige gethan. Hulda hat es einmal unum⸗ wunden gegen mich geäußert, ſie wiſſe, daß ſie hier nicht bleiben könne und fie wolle auch nicht hier blei⸗
ben, ſondern wenn es einmal ſein müſſe, ſehen, wie
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und wo ſie fich anderweit in der Welt ihr Brod ver: dienen könne.“
Der Adjunkt hatte ernſthaft zugehört, die Mit⸗ theilung dünkte ihm entmuthigend, denn Hulda hatte nach derſelben nicht an ihn gedacht. Der Amtmann errieth, was in dem jungen Manne vorging, und ſchlug ihn auf die Schulter. „Munter, munter, Herr Adjunktus, und unverzagt! Was ſolch ein Mädchenkopf auf ſei⸗ nen Schultern denkt, das iſt ſo ernſthaft nicht zu neh⸗ men, das ändert ſich, wenn man ihn nach einer andern Seite hinlenkt, an welcher ihm etwas Beſſeres winkt. Und jetzt ſind wir ja unſerer Zwei zum Hinlenken, und zwei Männer!“ fügte er hinzu.
Sie waren unterdeſſen an den Platz gekommen, an welchem ihre Wege auseinandergingen. Zur Rech⸗ ten dehnte ſich die weite Fläche des neuen Stoppel⸗ feldes aus, auf dem die Arbeit noch in vollem Gange war, zur Linken ſtieg die ſtrahlende Sonne langſam in das blaue fluthende Meer ie Der Amtmann blieb ſtehen.
„Bringen Sie es denen in der Pfarre glimpflich vor, daß die arme Kenney todt iſt!“ ſagte er. „Der Paſtor hat ſie auch lange gekannt, und wie man ſich auch auf die Ewigkeit getröſten mag — ſehen Sie ſich einmal um — wenn es ſo ſchön iſt hienieden, da iſt das Fortmüſſen doch eine ganz verdammte Sache. Aber darum Nichts für ungut! Wenn es dazu kommt, wird's auch abzumachen ſein wie ein ander Stück Arbeit.“
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Der Adjunkt, gegen deſſen Anſchauungen ſolche Worte ſchwer verſtießen und den ſie ſehr verletzten, war heute nicht in der Verfaſſung, ſich dagegen auf— zulehnen. Er dachte nur daran, wie er Hulda die Trauerbotſchaft überbringen, wie ſie und der Vater dieſelbe aufnehmen würden, und weil er ſich heute vor Ulriken und dem Amtmanne über ſeine Wünſche und Abſichten ausgeſprochen und für dieſelben des Letztern Zuſtimmung erhalten hatte, fühlte er ſich nur noch mehr an Hulda gebunden, ihr gleichſam verlobt und für ſie zu ſorgen verpflichtet. Seine innere Freudig⸗
keit, ſein Vertrauen zu ſich ſogen daraus neue Nahrung — und er war noch in dem Alter, in welchem die Todes
fälle greiſer Menſchen ihn nicht eben tief berührten.
Als er ſich mit herzlichem Dankesworte von dem Amtmanne getrennt hatte, rief dieſer ihn noch einmal zurück. „Erzählen Sie doch in der Pfarre, daß geſtern die Frau von Wildenau bei uns geweſen iſt und bei uns gefrühſtückt hat!“ ſagte er. |
Der Adjunktus fragte, wer das ſei? — Das werde er zu Hauſe ſchon erfahren, entgegnete der Amtmann, der nun Eile hatte. „Sie ging nach Rußland,“ fügte er indeſſen doch hinzu, „weil ſie zum Oktober neue Pacht⸗Kontrakte abzuſchließen hat; und ſie beſtätigte, was ich ſchon auf dem Markte in der Stadt gehört hatte, daß es mit dem älteſten Bruder der Frau Gräfin, mit dem Majoratsherrn, wirklich ſchlecht ſteht. Das war denn Waſſer auf Ulrikens Mühle.“
Der Adjunktus wollte wiſſen, inwiefern?
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„Hat ſie Ihnen denn nie von dem ſogenannten Falkenhorſter Pergamente und von dem alten Aber⸗ glauben geredet, der ſich daran knüpft?
Der Adjunkt verneinte es. „Nun, da hat ſie ſich vor Ihnen eben in Acht genommen,“ meinte der Amt⸗ mann, „denn es iſt ſonſt eines von ihren Stecken⸗ pferden, die Geſchichte zu erzählen, daß die Falkenhorſt's von den Unterirdiſchen, von den kleinen Leuten verflucht ſind und ausſterben müſſen, wonach denn die Güter an unſere gräfliche Familie fallen würden.“
Die ganz harmloſe Bemerkung machte auf den jungen Geiſtlichen einen traurigen Eindruck. „Daß ich mit ſolchen Elementen hier zu kämpfen hätte,“ rief er, „daran habe ich nie gedacht.“ ae
„Sa,“ verſetzte der Amtmann, „das ſteckt hier jo dazwiſchen doch noch in den Köpfen, und ich rathe Ihnen, rühren Sie nicht an dem Aberglauben, da kommt die Narrheit am eheſten in's Vergeſſen. Aber mit dem Ausſterben der Freiherren von Falkenhorſt kann es Ernſt werden, wenn ſich der Baron nicht doch noch zu heirathen entſchließt. Es wird aber wohl nicht um⸗ ſonſt ſein, daß unſere Gräfin, wie geſtern die Frau Baronin uns erzählte, in den nächſten Wochen mit dem Fräulein Konradine zu Baron Emanuel in die Schweiz geht. Die Beiden hatten ſich hier im Schloſſe ſchon gern, und wer weiß, ob Sie, Herr Adjunkt, ſich nicht bei der ſchönen Stiftsdame dafür zu bedanken haben, wenn die Hulda, wie ich es wünſche, einmal Ihre Frau wird.“
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Er hatte den Kopf bei den Worten ſchon nach der andern Seite hingewendet, um dem auf dem Erntefelde befindlichen Wirthſchafter einen Wink zu geben, und während er mit ſeinem noch immer raſchen ſtampfen⸗ den Schritte in das Feld zurückkehrte, ging der junge Geiſtliche wie ein verwandelter Menſch dem ſtillen Pfarrdorfe zu. 8
Mit dem ausgeſprochenen Vorſatze, ſich zu ver— heirathen, war der Adjunkt in einen neuen Abſchnitt ſeines Lebens eingetreten. Er hatte wohl früher auch daran gedacht, aber es hatte Alles noch in weiter Ferne in ungewiſſem Lichte vor ihm gelegen, und deshalb keinen weſentlichen Einfluß auf ſeine Entwicklung aus⸗ geübt. Das Entfernte kann das Begehren wecken, die Richtung und das Beſtreben beſtimmen, den Ehrgeiz ſpornen, eine wirkliche Umgeſtaltung bringt es nicht hervor. Erſt das feſtgeſtaltete, nahegerückte Ziel, erſt ein beſtimmtes Vorhaben, das uns beſtimmte Pflichten und mit ihnen beſtimmte Sorgen auferlegt, zwingt den Jüngling das traumhafte Wünſchen von ſich abzuſchüt⸗ teln, mit entſchiedenem Schritte, mit wachem Auge in die Wirklichkeit einzutreten und den Platz in derſelben zu beſetzen und zu behaupten, in dem er Herr ſein, ſein Haus errichten, ſeine Familie begründen ſoll Der Vorſatz, ſich zu verheirathen, iſt für den ernſthaften Jüngling der plötzliche Uebergang in das Mannesalter, der eigentliche Eintritt in das bürgerliche Leben, der Anfang jener gefeſteten Geſittung, die ihn mit der Allgemeinheit, mit dem Staate, in eine für ihn ſelber
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nothwendige und dem Allgemeinen förderliche Verbin⸗ dung bringt.
Es waren völlig neue Gedanken und ganz ver⸗ änderte Empfindungen, mit denen der Adjunktus durch den Abend hinging. Er war ernſthafter, ſorgenvoller, als er ſich jemals gefühlt hatte, und trug doch eine Freudigkeit und eine Zuverſicht in ſich, die ihn beglück⸗ ten. Während er ſein Auge auf das Nächſte gerichtet hatte, blickte er darüber hinweg weit in ſeine Zukunft hinein. Er fühlte, daß er hier feſte Wurzeln in der Erdenwelt zu ſchlagen habe, daß er fortan mehr als zuvor nach dem Diesſeitigen zu trachten habe, und ſein Herz ward dadurch nur feſter in dem Glauben und Ver⸗ trauen auf die Güte und Allweisheit deſſen, deſſen Reich auf Erden zu verbreiten, die Aufgabe ſeines Lebens war. Mit einer Freude, die einer Anbetung des Schöpfers glich, genoß er die Herrlichkeit des Abends und des Sonnenunterganges, welche Hulda ihm vorausgeſagt. Er hätte fie jo gerne bei ſich gehabt, ihr ſchönes Ant— litz gern in der Verklärung dieſes Lichtes leuchten ſehen. Der Weg von dem Schloſſe nach der Pfarre, der ihm ſonſt nie weit erſchienen war, kam ihm heute gar zu lang vor. Er ſehnte ſich nach Hauſe zu kommen, und bangte doch davor, die Nachrichten die er mitzutheilen hatte, den Seinen — das Herz ſchwoll ihm auf, als er ſie innerlich ſo nannte — den Seinen zu über⸗ bringen: dem Mädchen, das er liebte, ſeiner künftigen Gattin, dem Greiſe, der nun auch ſein Vater werden ſollte. Er war an irdiſchem Beſitz noch ganz ſo arm als wie bisher, und kam ſich doch mit einemmale
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reich vor, weil er die beiden theuren Menſchen als ſein Eigenthum betrachtete, weil er beſchloſſen hatte, für ſie ſorgend einzuſtehen.
Es lag noch heller warmer Sonnenſchein über dem hohen Dache der niedern Kirche, als er an das Dorf kam, als er ſich dem kleinen Hauſe näherte, das er heute ſeine liebe Heimat nannte. Er ging haſtiger darauf zu, er fragte ſich, wie er es dort finden werde, und das Herz klopfte ihm freudig, als er das geliebte Mäd— chen noch in dem Garten ſitzen ſah.
Weil der Abend ſo ungewöhnlich ſchön war, hatte
man auf des Pfarrers Wunſch den Lehnſtuhl in das Gärtchen hinausgetragen und ſo hingeſtellt, daß der
Greis den Untergang der Sonne, ohne von dem Pur— purglanz des Meeres geblendet zu werden, in dem herrlichen farbenſchimmernden Gewölk genießen konnte. Aber da der Adjunkt ihn alſo vor ſich ſah, erſchien ihm das feine, ſchmale Geſicht des Greiſes noch blei— cher und durchſichtiger als ſonſt, und es bewegte ihn tief, als der Paſtor mit freundlichem Tone ſagte: „Nun Herr Adjunktus! heute haben fie es doch erfah— ren, wie ſchön es bei uns ſein kann? Da wir Staub⸗ geborene uns in unſerem kindlichen Glauben gar ſo wichtig vorkommen, meine ich bisweilen, unſer Herr- gott gönne uns dieſen wundervollen Sommer und ſolch ein fruchtreiches Jahr, damit ich noch einmal die rechte Freude daran haben könne.“ Er lächelte dabei ſtill
über ſich ſelber. Der Adjunkt und Hulda wollten im
beweiſen, daß er wohl noch manchen Sommer zu be⸗ grüßen habe, er aber wehrte ihnen mit der Hand, und
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fragte, ſich von dem Gedankengange abwendend, was der Adjunktus bei dem Amtmann ausgerichtet habe.
Der junge Mann gab die Auskunft, wie es ſich gebührte; der Pfarrer war damit wohl zufrieden. Er lobte den Amtmann, rühmte die Freigebigkeit, welche die Herrſchaften immer in ſolchen Fällen bewieſen hät⸗ ten, und meinte, es werde wahrſcheinlich nur auf ſei⸗ nen Nachfolger ankommen, ob ein neues Pfarrhaus errichtet werde oder nicht. Der Herr Graf habe ſchon vor langen Jahren einmal daran gedacht, die Frau Gräfin habe auch davon geſprochen, und ſo werde denn der junge Herr Graf wohl ebenfalls dazu geneigt ſein, der Kirche und der Pfarre dieſen Vortheil zuzuwenden.
Er für ſein Theil habe nicht danach verlangt, ihm ſei
das Haus zu lieb und als Erinnerungsſtätte auch zu heilig geweſen. „Für Sie“, ſchloß er, „der Sie ja wohl nach mir hier das Amt verwalten werden, wird das ein Anderes ſein. Ihnen wird ein beſſeres Pfarr- haus wohl erwünſcht dünken, und Hulda hat ſich ja eine Zeichnung von dieſem lieben alten Haufe gemacht, die ſie einmal mit ſich nehmen kann.“
Dem Adjunkten fuhr es heiß durch alle Glieder. „Ich hoffe . . . “rief er, und brach dann plötzlich ab. Er wagte nicht auszuſprechen, was er dachte, was er hoffte. Weil aber der Vater und die Tochter ihn bei ſeinem plötzlichen Verſtummen mit fragendem Blicke betrachteten, ſagte er: „Ich hoffe nur, daß die Bot- ſchaft, die ich noch außerdem zu melden habe, nicht den Werth der guten Nachricht vermindert, die ich bie- her aus dem Amte mitgebracht habe. Der Herr Amt⸗
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mann hat von der Frau Fürſtin Durchlaucht einen Brief erhalten, der eine Todesnachricht in ſich ſchloß. Die Erzieherin und Freundin der Frau Gräfin iſt geſtorben, iſt nach kurzer Krankheit ſanft entſchlafen.“
Hulda that einen leiſen Ausruf des ſchmerzlichen Erſchreckens, der Vater blieb anſcheinend unbewegt. „Es iſt Erntezeit,“ ſprach er, „und die Saat iſt reif; da ſammelt der himmliſche Schnitter in die Scheune,
was aufgehen ſoll als neues Leben und fortbeſtehen un⸗
wandelbar in Ewigkeit. — Wohl ihr, ſie hat über ſtanden! Er neigte das Haupt ein wenig, faltete die Hände
und blieb ſo ein paar Augenblicke in ſich verſunken ſitzen. Hulda war an ihn herangetreten und hatte ih⸗
ren Arm um ſeinen Hals gelegt, als wolle ſie ihn halten, ſo lange er ihr noch gelaſſen ward. Endlich richtete er ſich wieder auf und that ein paar Fragen. Der Adjunkt beantwortete ſie nach ſeinem beſten Wiſſen.
Die Frau Fürſtin hat den Todesfall gemeldet, wie ſie ſagen, bemerkte der Greis, „war denn die Frau Gräfin bei dem Tode unſerer alten Freundin nicht zugegen?
„Nein! Die Frau Gräfin iſt mit der Stiftsdame von Wildenau auf dem Wege zu ihrem Bruder nach der Schweiz,“ bedeutete der Adjunkt.
Mit der Stiftsdame von Wildenau? wiederholte Hulda, und fuhr unwillkürlich mit der Hand nach ih— rem Herzen, während ſie ihr Haupt ſenkte, um ihr Erſchrecken zu verbergen. Eine brennende Eiferſucht, ein leidenſchaftlicher Schmerz durchzuckte ihre Bruſt. Es war kein Zweifel, Emanuel ſollte ihr entriſſen wer⸗ den, und er hatte ſich ihr doch anverlobt, er hatte noch
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im Augenblick des Scheidens es ausgeſprochen, daß der Ring, der nie von ihrer Hand gekommen war, ihr ein Pfand des Wiederſehens ſein ſollte. Hatte Emanuel das vergeſſen? Hatte er Konradine gerufen? Denn ohne daß er es gefordert hatte, konnte ſie ja nicht zu ihm gehen? — Er verlangte alſo nach der⸗ ſelben, er liebte Konradine — und was war dann Huldas Loos? Was hatte dann der Ring an ihrem Finger ihr noch zu bedeuten?
Der Schmerz, die Eiferſucht erſtickten ihre Stimme. Sie hätte gerne ſprechen, gerne Etwas ſagen mö— gen, ſie wußte nur nicht was. Sie ſah es, daß der Vater ſie mit zärtlicher Sorge betrachtete, daß der Adjunktus, welchem ihre tiefe Erſchütterung nicht ent⸗ gehen konnte, verlegen vor ihr ſtand, aber es fiel ihr gar Nichts ein, gar Nichts — und ſagen mußte ſie doch Etwas.
„Es freut mich,“ brachte ſie endlich mit leiſer und ſtockender Stimme heraus, „es freut mich, daß die Frau Gräfin nach ſo langer Trennung mit ihrem Bruder zuſammenkommen und vermuthlich längere Zeit bei ihm verweilen wird.“ Sie hatte im Sinne hinzuzufügen, daß Emanuel ſich auch an dem Wiederſehen mit Kon⸗ radine erfreuen werde; allein die Worte wollten ihr nicht über die Lippen. Sie ſtockte und fragte dann raſch: „Woher haben Sie dieſe Neuigkeit?“
Der Adjunkt erzählte, daß Frau von Wildenau auf der Durchreiſe nach Rußland bei dem Amtmanne gefrühſtückt und ihm von der Reiſe Konradinens Mit⸗ theilung gemacht habe.
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Hulda überlief es kalt. „Es wird kühl Vater,“ rief ſie aus, „wollen wir nicht in das Haus gehen?“ |
Der Greis ſtützte ſich auf die Lehne feines Stuh— les, und ſich langſam erhebend, ſprach er: „Ja mein
Kind, es will Abend werden. Und wenn die Tage
des Lebens dem Vergehen zuneigen, vermag man ſelbſt den ſchönſten Abend, den die Natur uns ſchenkt, nicht bis zu ſeinem Erlöſchen zu genießen. Aber bleiben Sie noch draußen, junger Freund! Erlaben Sie ſich an den letzten Strahlen der Sonne, wie ich in jünge⸗
ren Jahren an ſolchen Abenden dieſen Platz niemals zu verlaſſen pflegte, bis der letzte goldene Streifen an
dem Firmamente von dem lichten Rande, der die See für unſer Auge begrenzt, nicht mehr zu unterſchei⸗ den war.“ |
Hulda ergriff den Arm ihres Vaters und führte ihn langſam in die dunkle Stube zu dem alten So⸗ pha, auf welchem er ſo oft an der Seite der Mutter geſeſſen und ihr vorgeleſen hatte. Wie in den Tagen ihrer Kindheit ſetzte ſie ſich auf den Schemel zu ihres Vaters Füßen nieder, ſeine Hand ſtrich, wie damals auch, ſanft und leicht über ihr weiches Haar. Sie ſchwiegen Beide, es war dunkel geworden und ſtill in dem Gemach.
Plötzlich ergriff Hulda des Vaters Hand, küßte fie mit Inbrunſt, und eilte raſch hinaus. Der Greis ſeufzte leiſe; ſeiner Tochter ſchwere heißen Thränen waren auf ſeine Hand gefallen.
Zwölftes Capitel.
Konradine hatte das Stift ſehr wohlgemuth ver- laſſen, um mit der Gräfin verabredeter Maßen auf ihrem Wege nach der Schweiz zuſammen zu treffen.
Die Frauen hatten einander ſeit mehr als drei Jahren nicht geſehen, und dieſe Jahre hatten an ihnen viel gewandelt, hatten ſie durch ihre Erlebniſſe ein⸗ ander näher gerückt, als der bloße Verlauf der Zeit es vermocht haben würde. Die ſchöne, in ſich ſelbſt beruhende Stiftsdame von Wildenau war nicht mehr jene in übermüthiger Heiterkeit ſtrahlende Konradine, die ſich ſo gefällig zu den Sylveſterſcherzen hergegeben, welche ihre Mutter in Turin in Scene zu ſetzen be⸗ liebt hatte; und von dem Leben der Gräfin war durch die Hand des Todes der ſtolze Freudenſchimmer abge— ſtreift. Beide hatten, Jede auf ihre Weiſe, ſchwere Leiden durchlebt, Beide neue Stellung im Leben nehmen müſſen, und wie bevorzugt die Gräfin an Einfluß, Rang und Reichthum ſich neben der Stiftsdame auch noch fühlen durfte, Eines hatte dieſe doch vor ihr voraus, der Lebensweg vor ihr war länger. Ihrem
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Hoffen war ein weiteres Ziel geſteckt, es konnte ihr mehr Unerwartetes, mehr ſie ſelbſt Beglückendes begeg— nen als der Gräfin, deren perſönliches Hoffen abge— ſchnitten war, ſoferne ſie es nicht auf ihre Kinder oder auf das Beſtehen und Gedeihen der Geſchlechter richtete, denen ſie angehörte. Ihr Herz aber war nicht dazu gemacht, ſich mit ſolchem Hoffen für An⸗ dere, mit Glück aus zweiter Hand wahrhaft befriedigen zu können, wenn ſchon es ihr ein Bedürfniß war, für die Ihrigen zu ſorgen und das Anſehen ihres Hauſes zu befeſtigen. Dafür aber fand ſie in ihren Kindern nicht die Theilnahme, welche fie erſehnte. Der junge Graf, welcher der Geſandtſchaft in London beigegeben war, überließ ihr vertrauensvoll die Zügel des Regimentes. Er wußte die Verwaltung des Vermögens in der Mutter Händen wohl geborgen und war zufrieden, wenn er ſich dem Genuſſe feiner Jugend überlaſſen durfte. Er war leichtherzig, ohne eigentlich leichtſinnig zu ſein. Ihm wie ſeiner Schweſter hatte das Glück ſeit ihrem erſten Athemzuge gelächelt; Beſitzesfreude hatte als ſolche noch keinen Reiz für ihn. Der Ehrgeiz war noch nicht in ihm lebendig, das Vergnügen verlockte ihn noch ganz ausſchließlich, und in gewiſſem Sinne war es mit der Fürſtin ebenſo. Ihr Liebes- und Eheglück, die Freude an ihrem Kinde füllten ihr ganzes Weſen und Verlangen aus, und der Reichthum des fürſtlichen Hauſes, in das ſie als Gattin des einzigen Erben eingetreten war, machte fie für das Erſte noch gleichgiltig gegen eine Vermeh⸗ rung deſſelben, wie gegen das Beſtehen der Geſchlechter,
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deren Namen ſie nicht mehr trug. Ihr fehlte der ſtolze Sinn der Mutter, der eigentlich auf das Er⸗ halten des Beſtehenden gerichtete Sinn. Sie nannte ſich, mit dem Uebermuthe, den erwachſene und ſelbſt⸗ ſtändig gewordene Kinder, oft mit einer wahrhaft kin⸗ diſchen Genugthuung ihren Eltern gegenüber an den Tag zu legen lieben, im Gegenſatz zu ihrer Mutter gerne liberal. Sie hatte es der Gräfin wiederholt verſichert, daß ſie die Verbindung ihres Oheims mit der ſchönen Pfarrerstochter gern geſehen, und dieſe ro⸗ mantiſche Heirath als eine anmuthige Bereicherung ihrer ohnehin ſagenreichen, mütterlichen Familien⸗ geſchichte, und keineswegs als ein Unglück erachtet ha⸗ ben würde. g ö
Mit Konradinen war das anders. Sie war um zehn Jahre älter als die junge Fürſtin, hatte unter der ſogenannten Führung ihrer Mutter es von Früh auf nöthig gehabt, für ſich ſelber zu denken und zu handeln, und auf die äußern Verhältniſſe ſelber Acht zu haben. Sie hatte daher deren Bedeutung zeitig er⸗ meſſen und würdigen gelernt. Die Gräfin wußte, daß die Stiftsdame die Vorzüge der Geburt um der Vorrechte willen, welche ſie verleihen, ſehr hoch an— ſchlage, und daß ſie ſelber ſich eben deshalb auch in Bezug auf Emanuel und Hulda mit Konradinen von Anfang an in vollſtändiger Uebereinſtimmung befunden habe.
Man war daher auch nicht lange bei einander, ohne von Emanuel zu ſprechen. Die Gräfin fragte,
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 10
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ob Konradine dem Baron Nachricht davon gegeben habe, daß ſie in dem Bade zuſammentreffen, und ihre Reiſe von demſelben gemeinſam fortſetzen würden.
Konradine verneinte es.
„Aber er weiß, daß Sie kommen? er erwartet uns?“ fragte die Gräfin weiter.
„Er weiß, daß ich komme, und er erwartet mich!“ entgegnete Konradine. „Er weiß auch, daß ich einmal an Sie geſchrieben, eine Antwort von Ihnen erhalten, und daß Sie in derſelben ein tiefes Bedauern über Ihre Trennung von ihm und die Sehnſucht nach baldigſter Verſtändigung mit ihm, ausgeſprochen haben. Ihn mehr wiſſen zu laſſen, habe ich nicht gewagt.“
„Und weshalb nicht?“ fragte die Gräfin mit einem Anflug von Unzufriedenheit, denn Konradine hatte dieſer Zurückhaltung in ihren Briefen nie erwähnt.
„Er hätte nicht mehr an die Unabhängigkeit meines Urtheiles glauben können, hätte er mich unter Ihrem Einfluſſe vermuthet!“ erwiderte Konradine mit einer ſo verbindlichen Beſcheidenheit, daß die Gräfin nichts dagegen einzuwenden vermochte. „Ich wollte ſogar,“ fügte die Stiftsdame hinzu, „wenn es Ihnen jo ge= nehm iſt, dem Baron erſt wenn wir von hier aufge⸗
brochen ſein werden, die Mittheilung machen, daß wir
auf der Reiſe zufällig zuſammengetroffen wären, daß ich Ihren Wunſch, ihn wiederzuſehen, lebhafter als je gefunden hätte, und daß ich es um der Freundſchaft willen, die ihn und mich verbindet, von ihm fordere, mir das Glück zu gönnen, in dieſem Werk der Liebe und des Friedens die Vermittlerin zu machen.
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Dieſem Briefe folgen wir dann auf dem Fuße, und wenn auf dieſe Weiſe unſerem Freunde nicht die Zeit
gelaſſen wird, ſich grübelnd die Reihe der von ihm
durchlebten peinlichen und ſchmerzlichen Empfindungen zu wiederholen, wird das Wiederſehen, wird Ihre Gegenwart ihn klar erkennen laſſen, was er dieſe Jahre hindurch entbehrt hat, und daß er dafür auch in der verläßlichſten Freundſchaft den vollen Erſatz un⸗ möglich finden könne.“
Die Gräfin hatte ihr 1 zugehört und zögerte zu antworten. Konradine hatte in der Auf⸗ faſſung der Verhältniſſe wie in der Anlage des Planes mit voller Kenntniß des Barons gehandelt. Sie hatte das Mißtrauen, welches Emanuel gegen die ältere Schweſter und gegen deren Neigung, ihren Willen durchzuſetzen, ſtets gehegt hatte, richtig in Be⸗ tracht gezogen, und es ebenſo richtig erwogen, daß man ſeinem Hange zu trüber Grübelei nicht Spielraum laſſen dürfe. Dieſe Klugheit Konradinens gefiel der Gräfin wohl. Sie fand ſich in derſelben bis zu einem gewiſſen Grade wieder, aber eben dieſes wollte ihr nicht in gleichem Grade gefallen.
Es machte ſie ſtutzig, daß die Stiftsdame die Leitung der Verhältniſſe auf ſolche Weiſe ſelbſt⸗ ſtändig in die Hand genommen hatte. Daß Kon⸗ radine ſie daneben jetzt ſo vorſichtig zu ſchonen trachtete, daß ſie ſich, während ſie nach dem eigenen Ermeſſen gehandelt hatte, jetzt den Anſchein gab, ſich
der Gräfin in jedem Betrachte unterzuordnen, das
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verrieth eine Menſchenkenntniß und Selbſtbeherrſchung, denen eben in der Freundin ihres Bruders zu begeg— nen der Gräfin nicht recht erwünſcht war. Sie hatte nach ihrer früheren Vorſtellung von Konradine, wie nach der Freimüthigkeit, mit welcher dieſelbe ſich in ihren Briefen kundgegeben, in ihr eine leicht beſtimm⸗ bare Gefährtin zu finden erwartet; jetzt ſah ſie plötzlich ein, daß ſie es hier mit einer ſelbſtſtändigen, ihr eben⸗ bürtigen Kraft zu thun habe, und ihr Entſchluß war ſchnell gefaßt.
„Ich erfahre hier wieder einmal,“ ſagte ſie, „daß
das Auge des Fremden, weil ſein Herz nicht ſo lebhaft dabei betheiligt iſt, richtiger ſieht, und daß es alſo beſſer
entſcheidet, als das der nächſten Angehörigen; und ich danke Ihnen, daß Sie mir den Weg zu meinem Bruder ſo behutſam vorbereitet haben. Emanuel hat ſich nun lange genug in ſeine Einſamkeit vergraben, dem Be⸗ dauern lange genug darüber nachgehängt, daß ſich liebliche Träume nicht feſthalten und in Wirklichkeit verwandeln laſſen. Aber darf man, oder möchte man ihn anders wollen, wenn man ſich, wie Sie und ich, ſeiner ſo weichen und ſo anſchmiegenden Neigung zu erfreuen hat?“
Konradine meinte, die Gräfin thue ſich und ihrem Bruder Unrecht, wenn ſie die Freundſchaft, welche der Baron ihr gönne, mit der tiefen Zuſammengehörig⸗ keit vergleiche, die ihn an die Schweſter binde.
Die Gräfin zuckte die Schultern. „Eine Schweſter, die dem Matronenalter entgegengeht, und eine Freundin, jung und ſchön wie Sie!“ ſagte ſie lächelnd. „Fra⸗
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gen Sie ſich ſelber, liebe Konradine, wie zwiſchen dieſen
Beiden die Entſcheidung fallen wird — beſonders, da
Sie Nichts von ihm verlangen“
„Ich von ihm? — Nein, gewiß Nichts!“ rief Konradine betheuernd und mit feſter Ueberzeugung aus.
„Ich hingegen,“ fügte die Gräfin hinzu, „muß beſtimmte Forderungen an ihn ſtellen. Ich will und muß ihn an ſeine Pflichten gegen die Familie mahnen, und werde ihm den falſchen Glauben ſelbſt durch Thatſachen nicht leicht benehmen können, daß ihn Niemand je geliebt hat, außer jener Pfarrerstochter, und daß wir ihn durch unſeren Einfluß auf den Vater und das Mädchen, um ſein ſogenanntes Glück betrogen haben. Ich werde Ihrer freundlichen Vermittelung neben ihm, mehr als ſie glauben, nöthig haben, denn das Gedächtniß ſeines Herzens hält Neigungen und Abneigung in gleichem Maße feſt. Sie ſehen alſo,
wie ſehr Sie gegen mich im Vortheile ſind.“
Konradine fand es nicht für angemeſſen, dabei zu verweilen. „Ich habe,“ ſagte ſie, „mich bisweilen ſelbſt befragt, ob die Erinnerung an Hulda wirklich noch ſehr lebhaft in ihm iſt? Ob er nach des Pfarrers Tode, doch noch daran denken könnte, ſie zu ſeiner Frau zu machen? Denn das allein hätte man im Grunde zu befürchten.“
„Ich habe dieſelbe Frage auch erwogen,“ meinte die Gräfin, „aber über dieſe Beſorgniß hebt mich ein Brief hinweg, den ich geſtern von unſerer alten Haus⸗ hälterin empfangen habe. Sie wird Ihnen in ihrer grilligen Wunderlichkeit wohl auch noch erinnerlich ſein.
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Ich hatte unſeren Amtmann nach dem letzten Willen meiner guten Kenney angewieſen, das kleine Vermögen, das ſie bei uns erworben, und das der Amtmann ihr verwaltet hat, ihrem in Schottland lebenden Neffen und Erben zu übermachen, und Hulda ein Legat von einigen hundert Thalern, das die Gute dem Mädchen zuzuwenden gewünſcht, ſofort auszuzahlen. Vorige Woche nun meldete mir der Amtmann, daß er dieſe Aufträge vollzogen habe, und er erwähnt daneben, wie das kleine Kapital vielleicht in nicht zu ferner Zeit für Hulda doppelt nützlich werden könne. Er berichtet
dann noch über den Zuſtand des Pfarrers, rühmt den Stellvertreter, welchen ich ihm halte, und fragt endlich bei
mir an, ob ich geneigt ſein würde, den jungen Mann, der das Vertrauen der Gemeinde gewonnen habe, nach des Pfarrers Tode in dem Amte zu beſtätigen, und die Gehaltsaufbeſſerung, welche ich dem Pfarrer zugeſtanden,
auch ſeinem Nachfolger zu gewähren, wenn dieſer ſich
zu verheirathen wünſchen ſollte.“ Und Sie vermuthen, daß es Hulda iſt, auf welche der Kandidat ſein Augenmerk gerichtet hat?“ „Es war mir wahrſcheinlich nach des Amtmanns Mittheilungen. Geſtern aber ſchrieb ſeine Schweſter an mich wegen einiger Effecten, die meine gute alte Kenney in dem Schloſſe zurück gelaſſen hat, und die bös⸗ willige Geſchwätzigkeit der alten Mamſell, der ich ſonſt nicht eben Glauben ſchenke, ſetzt jene angedeutete That⸗ ſache außer allen Zweifel. Im Grunde verſtand ſich dieſe Sache ſehr von ſelbſt. Eine unglückliche Liebe für einen Edelmann und eine ſchließliche Heirath mit
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des Vaters Adjunktus, das iſt ſo der gewöhnliche
Hergang in einem Pfarrershauſe auf dem Lande —
und es iſt vielleicht ebenſoviel, vielleicht mehr Poeſie und Glück in ſolchem engbegrenzten Daſein, als in unſerm vielbewegten Leben.“
Sie hatte die letzte Bemerkung leicht hingeſprochen, Konradine nahm ſie ebenſo achtlos auf. Es war eine der herkömmlichen Betrachtungen, mit welchen die Reichen und Bevorzugten ſich über das Schickſal ihrer weniger vom Glück begünſtigten Mitmenſchen abzufinden wiſſen. Konradine beſchäftigte nur die Nachricht, die ſie eben erhalten hatte.
„Das iſt ein günſtiges Ereigniß,“ meinte fie. „Es wird die feinfühlige Gewiſſenhaftigkeit des Barons beruhigen.“ b
„Würde ich der Sache ſonſt erwähnen? warf die Gräfin ein. „Vor allen Dingen wird es ihn er⸗ nüchtern, und das iſt um ſo nöthiger, als nach meiner feſten. Ueberzeugung die Phantaſie meines Bruders in jener Angelegenheit mehr als ſein Herz bethei⸗
ligt war.“
„Ich habe das Mädchen nur einmal und nur flüchtig auf dem Krankenlager geſehen, aber ſeine Schönheit war wirklich ungewöhnlich!“ ſagte Konradine.
„Es war, wie ich glaube, nicht einmal des Mäpd- chens Schönheit, die Emanuel ſo einnahm, obſchon ſie ihn gleich Anfangs überraſchte,“ entgegnete die Gräfin. „Aber Hulda iſt recht eigentlich, was Göthe mit dem Worte „eine Natur“ bezeichnet hat; und wie eine Naturkraft hat ſie — ich habe ſie beobachtet,
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weil ich ſie in unſeren Dienſt zu ziehen dachte — etwas Ergreifendes, etwas Fortreißendes. Zum Dienen war ſie alſo nicht gemacht. Es iſt in ihr nichts Ueber⸗ legtes. Alles kommt unwillkürlich, man möchte ſagen ſtoßweiſe und gewaltſam zur Erſcheinung, und das reizt und feſſelt. Ich hatte Mühe, es zu hindern, daß meine Tochter ſie in ihren Haushalt aufnahm. Sie und der Fürſt waren ebenſo wie mein Bruder von Hulda eigenommen, und ſelbſt die auch Ihnen wohl⸗ bekannte Gabriele, die ſie im verwichenen Winter in unſerem Hauſe in der Stadt geſehen hat, fühlte ſich
von ihr angezogen. Sie hat ſogar mit ihr einmal geleſen, wie die Kenney ſchrieb. Zu derlei hatte Hulda
unverkennbares Geſchick. Wir hatten damals, als das Abenteuer mit Emanuel ſich in dem Schloſſe entſpann, merkwürdig genug, auch ein wirkliches dramatiſches Talent in unſeren Dienſten. Es war des Fürſten Kammerdiener, der zur Bühne gegangen iſt, weil der Fürſt ſich genöthigt fand, ihn zu entlaſſen. Man ſagt, er ſolle auf dem Wege ſein, ein bedeutender Charakter⸗ ſpieler zu werden. Bei uns in dem Schloſſe hat er ſeine Rolle freilich ſchlecht genug geſpielt. Aber es iſt nicht Jeder ein guter Diener, der dafür erzogen 1 iſt; man muß dazu geboren ſein.“ Die Unterhaltung war damit von ihrem 110 lichen Urſprung abgekommen und gerieth einen Augen⸗ blick ins Stocken, bis Konradine die Bemerkung machte,
empfindlich werde die Nachricht dem Baron zuerſt
doch ſein.
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„Da er ein Mann iſt, ganz gewiß!“ entgegnete die Gräfin. Aber man tröſtet ſich über den Verluſt einer Geliebten, die ſich mit einem Geringeren zu befriedigen vermag. Ein unbedeutender Nebenbuhler iſt für die Eitelkeit nie ſchmeichelhaft, am wenigſten, wenn er begünſtigt wird.“
„Wollen Sie wirklich das ſchmerzliche Mißtrauen, welches Baron Emanuel leider gegen ſich ſelber hegt, als die gewöhnliche männliche Eitelkeit bezeichnen?“ fragte Konradine im Tone ſanften Vorwurfes.
Die Gräfin ſah ſie forſchend an. Sie hatte die Bemerkung gegen die Eitelkeit der Männer als eines jener Stichworte hingeworfen, mit denen die Frauen aller Stände, wenn auch auf den verſchiedenſten Wegen und in den verſchiedenſten Formen, ein Verſtändniß anzuknüpfen, ein engeres perſönliches Vertrauen ein⸗ zuleiten lieben. Sie hatte dabei erwartet, daß ihre jüngere Gefährtin ſich durch dieſes Vertrauen, welches ſich nicht ſcheute, die Schwäche des nächſten Angehö— rigen einzugeſtehen, geſchmeichelt finden, und daß ſie ſich, nach den Erfahrungen, welche der Prinz ſie hatte machen laſſen, veranlaßt fühlen würde, die Anſicht der Gräfin zu beſtätigen, und bei der Gelegenheit auch von ſich ſelbſt zu ſprechen. Indeß nicht das Eine, nicht das Andere traf zu, und die Gräfin mußte ſich ein⸗ geſtehen, daß ſie Konradine nach einem anderen als dem gewöhnlichen Maßſtabe zu ſchätzen habe. Trotz⸗ dem war ſie ſich über die Beweggründe, aus welchen Jene handelte, nicht recht klar. War es Vorſicht gegen ſie? oder war die Freundſchaft der jungen Stiftsdame
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für den Baron wirklich To lebhaft, daß ihr der leichte Tadel nicht gefiel, welchen die Schweſter gefliſſentlich gegen ihn ausgeſprochen hatte? Unmöglich war das nicht.
Emanuel hatte den Frauen ſtets gefallen, er hatte ſtets ihr Vertrauen und ihre warme Theilnahme gewonnen, weil er nie Etwas für ſich zu fordern ge— ſchienen hatte. Es war daher leicht denkbar, daß Emanuel ſeiner ſchönen Freundin werther war, als ſie es ſelber wußte, daß er einen Theil der Lücke aus⸗ füllte, welche die Trennung von dem Fürſten in Kon⸗
radinens Herzen offen gelaſſen hatte. Sie waren Beide geiſtreich, hatten Beide eben erſt ein Liebesleid
erfahren, als ſie einander nahe getreten waren, und ein Briefwechſel iſt immer verführeriſch. Schön war Konradine! Sie dünkte der Gräfin ſogar ſchöner, als in jenen Tagen, da ſie dieſelbe zuletzt geſehen hatte. Ihr Ausdruck war ernſter, ihre Haltung ruhiger, ihre ganze Erſcheinung dadurch edler und bedeutender ge— worden. Das Geſchlecht, dem ſie entſtammte, war eines der älteſten deutſchen Geſchlechter, ihr perſön— liches Vermögen war bedeutend, von dem ihrer Mutter abgeſehen. Sie war am Hofe wohlgelitten, die Mutter war nachgerade auch über die Zeit hinaus, in welcher man irgend eine verdrießliche Thorheit von ihr zu befürchten hatte, und klug war Konradine, ungewöhn⸗ lich klug. Das aber war nach der Gräfin Meinung und Erfahrung eine der unerläßlichſten Eigenſchaften für eine Frau, die, hochgeſtellt, ſich auf einem beach⸗ teten Platze zu bewegen, zu behaupten hatte. Eine
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Schwiegertochter von Konradinens Selbſtgefühl wünſchte ſich die Gräfin nicht, eine ſolche Schwägerin konnte jedoch unter Verhältniſſen dem Intereſſe der Familie weſentlich von Nutzen ſein. In jedem Falle aber mußte und durfte man fie für das Erſte ihrem eige- nen Ermeſſen überlaſſen, denn daß ihr an der Gräfin Theilnahme gelegen war, das ſah und fühlte dieſe deutlich.
Konradine hatte den prüfenden Blick der Gräfin ruhig auf ſich weilen laſſen, nun reichte dieſe ihr die Hand. „Verzeihen Sie mir, Beſte!“ ſagte ſie, „daß ich Sie auch nur einen Augenblick lang nicht ſchätzte, wie ich mußte, daß ich Sie zu jenen Naturen zu zäh⸗ len vermochte, die das Leiden herb macht. Sie hat es erhoben, und darin beſteht ja der wahre Adelsbrief des Menſchen, darin vor Allem verräth ſich die Groß— artigkeit eines Frauenherzens. Laſſen Sie ſich mit dem Bekenntniſſe genügen, daß ich gelernt habe, Sie hoch zu halten, und daß es mir viel werth iſt, Sie zu kennen, wie ich es jetzt thue.“
„Sie machen mich ſtolz, Frau Gräfin, und bes ſorgt zugleich. Ich würde untröſtlich ſein, Ihre gute Meinung einzubüßen. Das bürgt Ihnen dafür, wie ſehr ich danach trachten werde, ſie mir zu erhalten,“ erwiderte ihr Konradine.
Die Frauen drückten einander die Hände, ſie waren Beide mit ſich und miteinander wohl zufrieden, man ſprach von anderen Dingen. Erſt mehrere Stun⸗ den ſpäter fragte die Gräfin, ob Konradine dem Baron vielleicht den Tag ihrer bevorſtehenden Ankunft ſchon
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gemeldet habe. Sie entgegnete, fie habe dies nicht gewagt, um der Gräfin die Entſcheidung freizulaſſen.
„Würden Sie Etwas dagegen haben, ihm heute noch zu ſchreiben? Wären Sie bereit, dem Briefe dann, wie Sie es vorgeſchlagen haben, bald zu folgen, und morgen oder übermorgen mit mir in kurzen Tage⸗ reiſen von hier fortzug ehen?“
Konradine ſtellte ſich ihr völlig zur Verfügung. „Erfreuendes erlangen kann man ja nicht ſchnell ge— nug!“ ſagte ſie, „und es würde mich ſo glücklich machen, Sie und den Baron einander wieder gegeben
zu ſehen. Ich ſchreibe unſerem Freunde noch in dieſer Stunde, und will ihn dabei wiſſen laſſen, was ich
eben heute durch Sie erfahren habe.“
Dreizehntes Capitel.
Es ließ Hulda keine Ruhe, nicht Tag, nicht Nacht. Die glühende Eiferſucht, die ſchnell und gewaltig wie ihre Liebe in ihr aufgelodert war, als ſie Konradine mit dem erſten flüchtigen Blicke geſehen, und die ge⸗ ſchlummert hatte, jo lange fie dieſelbe in dem Stifte vermuthet, war bei der Nachricht, daß Konradine ihr Stift verlaſſen habe, um mit Emanuel zuſammenzu⸗ treffen, neu entbrannt.
Wo ſie ging und ſtand, ſah ſie Konradine vor ſich, wie ſie an jenem Wintertage ſtrahlend in friſcher Schönheit an ihr Krankenbett herangetreten war. Da⸗ mals hatte ihr Unglück angefangen, an dem Tage war Emanuel zum erſtenmale mit ihr unzufrieden geweſen, an dem Tage war der Gedanke in ihr aufgeſtiegen, daß er eine Andere, daß er Konradine einmal mehr. lieben könnte als ſie, denn ohne dieſen Gedanken würde ſie nicht darein gewilligt haben, auf Emanuel zu verzichten, und ihn ſcheiden zu laſſen, wie ſie es gethan hatte. |
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Hundert: und aber hundertmale hatte fie im Laufe der Jahre ſich jenen Abſchied und die Stunden und Tage, welche ihm vorangegangen waren, und jene ungezählten anderen, die ihm gefolgt waren, in das Gedächtniß zurückgerufen. Sein Verhalten und das ihre hatte ſie immer auf das Neue erwogen und ab— gewogen, und je weiter ſie ſich von dem Zeitpunkte entfernte, um ſo feſter war in ihr die Ueberzeugung geworden, daß nicht Emanuel die Schuld an ihrer Trennung trage, ſondern daß fie und fie allein die⸗ jelbe herbeigeführt habe, daß fie allein die Schul- dige ſei. 5
gemahnt, die Seine zu bleiben, er hatte den Ring nicht angenommen, mit dem er ſich ihr anverlobt, und den ſie ihm hatte wieder geben wollen — er trug die Schuld an ihrem Unglück nicht. Es war ihr ſtets ein Troſt geweſen, ſich ſagen zu können: es haftet keine Schuld an ihm! Und wenn ihr dann das Herz doch allzu ſchwer geworden war bei der Vorſtellung, daß ſie allein alſo die Schuldige ſei, daß ſie das Glück geſtört habe, welches er ihr und ſich zu bereiten ge— hofft hatte, daß ſie ihn nicht erlöſt habe aus der Ver⸗ einſamung, zu der er ſich verdammt geglaubt, ſo hatte ſie ſich an der Vorſtellung aufgerichtet, daß ſie, ohne ihre Pflicht gegen den Vater zu verletzen, nicht anders
Er hatte ſie mit fo dringendem Liebesworte daran g
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habe handeln dürfen. Mit dem Troſte der Gläubigen,
Gott habe es anders nicht gewollt, Gott habe ihr dies Opfer auferlegt, hatte ſie ſich beſchwichtigt, ſo gut es gehen wollte.
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Jetzt aber, da Konradine plötzlich wieder zwiſchen fie und den Geliebten trat, ſtürzte vor ihrer flam⸗ menden Eiferſucht der ganze Bau ihrer religiöſen Er⸗ gebung und Entſagung raſch zuſammen, und wie vom Sturme getrieben, zogen Entſchlüſſe und Vorſätze wild durch ihren Sinn. Bald wollte ſie ihm ſchreiben und ihm ſagen, daß ſie nie aufgehört habe, ihn zu lieben, auf ihn zu hoffen, an ihn zu glauben — denn der Ring an ihrem Finger hielt noch feſt, und der Türkis hatte ſein ſanftes Blau noch nicht geändert, wie er es, der Sage nach, doch thun ſollte, wenn des Gebers Treue wankt. Und er hatte ihr ja den Ring als Pfand ge— laſſen. Aber wenn ſie nun ſchrieb? ihm, der in all den Jahren ihr kein Lebenszeichen mehr gegeben — und einen Gruß, ein Wort hätte er doch zu ihr ge= langen laſſen können, wenn er ihrer noch gedachte, wenn er ſie noch liebte — wenn ſie ihm ſchrieb und ihr Brief erſchreckte ihn, ſtatt ihn zu erfreuen? Wie dann? — Was konnte und ſollte ſie ihm auch ſagen? — Sollte ſie ihm von ihrer Liebe ſprechen vielleicht in dem Augenblicke, da er ſich mit Konradine zu ver⸗ binden dachte? — Sollte ſie ihn bitten, auf ſie zu warten, bis — — ö
Sie fuhr ſich angſtvoll mit den Händen nach dem Kopfe. Nein! Sie hatte ihm Nichts mehr zu ſagen, es war zu ſpät, es war Alles vorbei, lang vor⸗ bei. Es war ihr geſchehen, wie der Dichter es geſagt, wie Gabriele es an jenem unvergeßlichen Morgen ausgeſprochen hatte:
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Was du von der Minute ausgeſchlagen, Bringt keine Ewigkeit zurück.
Es war nicht anders — ſie mußte vergeſſen. Alles vergeſſen, ihn vergeſſen. Aber konnte ſie das?
Sie trug ja ſeinen Ring am Finger. Sie wachte in der Nacht auf und fühlte, ob er noch an ſeiner Stelle ſei. Sie zündete das Licht an, um zu ſehen, ob ſein Blau noch freundlich ſchimmere. Sie war in einer fortwährenden Unruhe, ſie war gepeinigt, wie ſeit lange nicht. Es ging ihr wie dem deutſchen Kaiſer mit dem Ringe der Geliebten, mit Faſtradens Ring. Sie konnte nicht von Emanuel laſſen, ſie konnte ihn nicht vergeſſen, ſo lange ſie den Ring an ihrem Finger trug. — Und was ſollte aus ihr werden, wenn Sie Emanuel nicht vergeſſen konnte, auch jetzt immer u ihn nicht vergeſſen konnte?
Es litt ſie nicht in ihrer Kammer, es litt ſie nicht im Hauſe, ſie ging hinaus, hinab ans Meer und ſetzte ſich auf die Bank am Strande, welche die Fiſcher dort für ihre Frauen aufgeſchlagen hatten. Aber das Kommen und Gehen der Wellen ſteigerte ihre Qual — ſie kamen nicht von dorther, wo er weilte, und keine, keine ging zu ihm. Sie ſtiegen empor und fielen nieder und zerſchellten, und floſſen dahin — ungehört und ungeſehen von ihm — wie ihr Schmerz und ihre Klage und ihr ganzes, ganzes Leben, das gegenwärtige und das künftige. Sie hätte aufſchreien mögen in ihrer Pein und Angſt. Sie rief endlich nach ihm mit ſeinem Namen, aber der Wellenſchlag verſchlang den Ruf. Nicht einmal der Widerhall gab
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Antwot, und wie ſie ihn dennoch rief und wieder rief, kam ein Grauen über ſie. Es war, als fühlte ſie, wie die leiſen Schwingen des Wahnſinns ſich ihrem Haupte nahten und näher und näher ſie umdrängten.
So konnte es nicht bleiben, ſo konnte ſie nicht weiter leben. Es mußte Etwas geſchehen, ſie mußte Etwas thun, ſie mußte ſich helfen, ſich erretten oder untergehen; und den Ring von ihrem Finger ſtrei⸗ fend, wollte ſie ihn von ſich ſchleudern, weit hinaus in das Meer. Aber wie ſie an das Waſſer trat und die Hand erhob, ging es über ihre Kräfte. Sie ſetzte ſich nieder und weinte bitterlich.
Als ſie ſich aufrichtete, ſtand der Adjunkt an ihrer Seite. Das Rauſchen der Wellen hatte ſein Heran⸗ kommen auf dem weichen Sande vollends unhörbar gemacht. Da er ſie in Thränen vor ſich ſah, wußte er nicht, was er ihr ſagen ſollte. Er wollte es ent⸗ ſchuldigen, daß er ſie ſtöre, und brachte endlich Nichts als die Worte heraus: „Sie haben geweint!“ — aber das Mitleid, das aus ſeinen Mienen ſprach, er⸗ gänzte, was er dabei dachte.
Hulda hatte ſich ſo verlaſſen gefühlt, daß der An⸗ blick eines Menſchen, der Ton einer menſchlichen Stimme ihr eine Wohlthat waren, und fortgeriſſen von den ſie überwältigenden Gedanken, ſagte ſie, ebenſo wie er ihr ganzes Empfinden in einen Satz zuſammen drängend: „Ich wollte ein Ende machen!“
Er fuhr erſchrocken auf. „Wie darf ein ſolches Wort von Ihrem Munde kommen!“ rief er, ſeinem
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 11
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Ohre nicht trauend, mit ſittlicher und zorniger Ent- rüſtung.
Das brachte ſie zu ſich ſelber und zu einer Faſſung; und weil ſie fühlte, daß ſie ſolchem Zweifel nicht Raum in ſeiner Seele laſſen durfte, und weil ihr das Herz auch gar ſo ſchwer war und ſo voll, daß es ſie zum Sprechen drängte, ſagte ſie: „Ich hatte nichts Sündhaftes im Sinne. Ich wollte nur ein e machen mit mir ſelbſt für alle Zeit.“
Sie wußte nicht, daß ſie in ihrer inneren Ber⸗ wirrung nur die Worte wiederholte, die ſie vorhin
ausgeſprochen hatte, und das machte ihm ihren Zuſtand
nur noch unheimlicher.
„Ich verſtehe Sie nicht!“ ſagte er, „und möchte Sie doch nicht mißverſtehen, nicht zweifeln müſſen an Ihnen.“
Die Innigkeit ſeines Tones entging Hulda ſelbſt in ihrer gegenwärtigen Verſtörtheit nicht, aber ſie ver⸗ mochte mit der Eigenſucht des Schmerzes an Nichts zu denken, als allein an ſich, und plötzlich von einer neuen Vorſtellung ergriffen, ſagte ſie: „Nein! Sie ſollen auch nicht an mir zweifeln müſſen. Ich will offen gegen Sie ſein, wenn Sie mir verſprechen, daß Sie mir helfen, daß Sie thun wollen, was ich von Ihnen fordern werde.“
Er wollte ihr die Zuſage leiſten, er reichte ihr die Hand, aber ſeine Gewiſſenhaftigkeit war ſtärker als ſelbſt die Liebe zu ihr, und er hielt zögernd die Hand zurück. „Was verlangen Sie?“ fragte er.
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Sein Zögern mißfiel der Aufgeregten, und raſcher
und heftiger, als er ſie jemals hatte ſprechen hören,
ſtieß ſie die Worte hervor: „Ich muß ein Ende machen mit mir und meiner Liebe! Ich muß den Ring von mir thun, der mich an ihn bindet! Heute noch ſende ich ihn zurück; denn es iſt um mich geſchehen, wenn ich es nicht thue. Beſorgen Sie den Ring zur Poſt, und heute noch!“
Die Lippen bebten ihr, als ſie das Wort aus⸗ ſprach, und ſelbſt ihre Stimme klang herb und rauh; aber der Adjunkt ergriff ihre Hände, und fie feſthal⸗ tend, während er ihr voll Liebe in das Antlitz blickte, rief er: „Ja, das will ich! Und Gott ſei Dank, daß er Ihnen zu dem Entſchluſſe verholfen hat! Gott ſei Dank dafür!“
Er wollte noch Etwas ſagen, aber er überwand ſich und drängte es in ſein Herz zurück. Wie hätte er von ſeinem Hoffen ſprechen mögen, da ſie das ihrige begraben mußte? Aber er hing an ihr mit jedem Tage mehr, er ſorgte ſich um ſie mehr, als er je um ſich ſelbſt geſorgt, und der Glaube, daß Gott ihn eben hiehergeſendet habe, um dieſer Einſamen, Verlaſſenen nach des Vaters Tode ein Troſt und eine Stütze zu
werden, machte, daß er ſich begnadigt vorkam durch
die Sorge und die Liebe, die er in ſich wachſen fühlte. Ohne miteinander mehr zu ſprechen, kamen ſie
nach Hauſe. Vor der Thüre blieb der Adjunktus
ſtehen. „Wann wollen Sie, daß ich gehe?“ erkun⸗ digte er ſich. | 1
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„Kann es heut' noch ſein?“ fragte Hulda, die ſich nicht ſicher fühlte, morgen noch zu vermögen, was ſie ſich heute abgewonnen hatte.
Der Adjunkt zog die Uhr hervor, die er an einem ſchlichten ſchwarzen Bändchen trug. „Haben Sie den Brief bereits geſchrieben?“
„Ich habe meinem Vater zugeſagt, es nie zu thun!“ gab ſie kurz zur Antwort. 8
„So will ich warten, bis der Ring verpackt iſt!“ ſagte der Adjunkt, und ſie gingen Beide in das Haus; er, um ſich für den Weg zum Poſtamt anzuſchicken,
ſie, um den Goldreif einzuſiegeln, an dem ihr Herz
und, wie ſie fühlte, auch ihr Schickſal hing.
Sie hielt das Päckchen in der Hand, als ſie wieder vor die Thüre hinaustrat. Sie hatte den Ring in ein Käſtchen hineingethan, das ihr noch von der Mutter kam. Was ſie dabei empfunden, wie ſie gezweifelt und geſchwankt, wie ſie gezaudert hatte und dann in die Knie geſunken war, um das Käſtchen zum letzten⸗ male noch an die Lippen zu drücken, das konnte der Adjunkt nicht wiſſen; aber er las in ihrem bleichen Antlitze den Kampf, den ſie gekämpft hatte, und er wagte es doch nicht, ſie mit ermuthigendem Worte auf die Zukunft zu verweiſen, weil er ſeine Hoffnung auf dieſelbe baute.
„Verlieren Sie es nicht!“ ſagte Hulda mit jener Zerſtreutheit, mit welcher man in den ſchmerzlichſten Augenblicken oftmals gerade das Gleichgiltigſte ſagt, und ausſpricht, was man nicht gedacht hat.
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„Verlaſſen Sie ſich auf mich!“ entgegnete er, ihre Hand ergreifend und zum erſtenmale küſſend; dann ging er bewegten Herzens raſch davon.
Sie hatte ſeine Worte und ſeine Huldigung kaum beachtet. Sie ſtand und ſah ihm nach, und mußte ſich halten, daß ſie ihm nicht folgte, daß ſie ihn nicht zurückrief. Der Gedanke, daß ſie jetzt freiwillig über ihr Geſchick entſchieden, daß ſie es ſei, die das letzte Band zerriſſen habe, welches ſie mit dem geliebten Manne noch zuſammengehalten bis auf dieſe Stunde, ſtürmte beängſtigend auf ſie ein. Sie wußte ſich nicht zu ſagen, ob ſie recht, ob unrecht damit gethan, ob ſie an ſich, an ihm damit geſündigt habe, nur daß ſie unglücklich, und daß nun Alles für immerdar zu Ende ſei, dieſes Bewußtſein lag über ihr und drückte ſie darnieder.
Als ſie in das Haus zurückkam rief der Vater ſie zu ſich. Sie half ihm von dem Lager, auf dem er ausgeruht, nach dem alten Lehnſtuhl, und ſetzte ſich, wie ſie es gewohnt war, auf dem kleinen Schemel zu ſeinen Füßen nieder. Seit er ſich nicht mehr ſelbſt beſchäftigen konnte, war ihr Geſpräch und ihr Ge⸗
plauder ihm Bedürfniß, wenn ſie ihm nicht vorlas,
und ihre Liebe hatte, wie eng ihr Lebenskreis auch war, doch immer Eines oder das Andere gefunden, ihn zu. unterhalten. Heute fiel ihr Nichts, nicht das Geringſte ein; ſelbſt ihre Näharbeit zur Hand zu nehmen, war ſie nicht im Stande. Sie ſaß an ſeiner Seite und hielt ſeine Hand in der ihrigen. Ihr Schweigen fiel ihm auf. ;
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„Du biſt fo Still mein Kind,“ ſagte er.
Und wie vorhin das Kommen des Adjunktus, ſo löſte jetzt die Stimme ihres Vaters den eiſernen Reif, der ihr das Herz zuſammenpreßte, denn unfähig eines anderen Gedankens als des Einen, rief ſie: „Jetzt hab' ich auf der Welt Nichts mehr als Dich! Nichts, Nichts mehr, Vater! Ich habe ihm den Ring, ich habe Emanuel feinen Ring zurückgeſchickt.“
„Da ſei Gott gelobt!“ rief der Greis, und erfaßte ihre beiden Hände und zog die Tochter an ſein Herz. Er legte ihr von Thränen überſtrömtes Antlitz an das
ſeine, wie man es mit einem Kinde thut, das man beſchwichtigen will. — „Komm! komm! mein Kind!
weine Dich aus und ſchäme Dich der Thränen nicht, da unſer Herr und Meiſter ſie ſich gegönnt hat in der Stunde der Entmuthigung; aber wie er den Kelch des Schmerzes geleert in gläubigem Vertrauen auf ſeines Vaters Beiſtand und auf ſeine Auferſtehung, ſo ſoll es Jeder von uns thun, ſo thue Du es auch. Denn auch Du wirſt neu erſtehen nach dieſem Kampf und Sieg.“
„Ich kann nicht, Vater! ich kann es nicht!“ weh⸗ klagte ſie an ſeinem Herzen.
„Auch nicht, wenn Dir Dein Vater ſagt, daß Du ihm damit ſein müdes Herz erleichterſt, weil Du das Wort eingelöſt haſt, das er für Dich verpfändet hatte?“
Sein milder Zuſpruch machte ſie verſtummen. Er ließ ihr eine Weile Zeit. Sie kniete immer noch an ſeiner Seite, er hielt ihre Hände in den ſeinen feſt.
Pi #7 Wr 1, Ahr 8 or 1
167 Als das heftige Schlagen ihres Herzens nachließ, als er fühlte, daß ihre Thränen ſanfter floſſen, hub er noch einmal zu ſprechen an. „Du haſt gut gethan, gut und recht, mein Kind, daß Du den Ring zurück⸗ geſendet haſt, ehe der Baron genöthigt war, ihn von Dir zu begehren, was über kurz oder lang hätte ge- ſchehen müſſen. Denn das bevorſtehende Ende ſeines Bruders legt ihm Pflichten auf, denen er ſich nicht entziehen darf; und ich glaube, wie Du es wohl auch geglaubt haſt, daß er ſeine Wahl getroffen hat. Der Entſchluß, den Du heute unter Gottes Beiſtand gefaßt und ausgeführt haſt, nimmt mir die letzte ſchwere Sorge von der Seele. Es hätte mir im Grabe nicht
Ruhe gelaſſen, mein Kind als Ueberläſtige zurüd-
gewieſen zu denken.“
Er hielt inne, Hulda regte ſich nicht. „Der Sommer iſt zu Ende, der Herbſt kommt heran,“ ſprach er, „und ſeine fallenden Blätter werden mich bedecken; aber meine letzten Tage ſind von Gott geſegnet. Deine Liebe, die Ergebenheit unſeres wackeren jungen Freun⸗ des, des Amtmanns feſte Treue und die immer gleiche Gunſt unſerer Frau Gräfin erhellen ſie mir und machen fie mir ſchön. Und auch Du wirft nicht verlaſſen fein! Der Amtmann hat mir zugeſagt, Dir eine Heimat bei ſich zu gewähren; auch die Frau Gräfin iſt bereit, ſich Deiner anzunehmen, Du darfſt ihres Schutzes jetzt mehr noch als bisher verſichert ſein. Und wer will und kann es vorausſehen, ob es dem Herrn nicht gefällt, noch anders über Deine Zukunft zu verfügen, ob es Dir nicht beſtimmt iſt, in Frieden da weiter zu
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verweilen, wo ich und Deine Mutter unfer ſtilles Lebens⸗ glück gefunden haben. Alſo getroſt, mein Kind! Auch wenn ich von Dir gehe! Dein himmliſcher Vater geht nicht von Dir und ſeine Hand führt Dich und ſein Auge leuchtet Dir, wenn ſich das meine ſchließt.“
Er hatte ſeine Hände ſegnend auf ihr Haupt ge⸗ legt, ſie weinte ſtill in ſchweigender Ergebung, ſie hatte nur Einen Wunſch — dem Ende ihres Lebens wie ihr Vater nahe zu ſein, und von dannen gehen zu können, ſo wie er. — Was ſollte ſie noch auf der Welt?
Draußen neigte die Sonne ſich in das Meer, in der niederen Stube ward's ſchon dunkel, aber Vater und Tochter ſaßen noch beiſammen und ſchwiegen alle Beide. Es war Nichts mehr zu ſagen, nur hinzu⸗ nehmen in Ergebung, was bevorſtand, früher oder ſpäter. |
Wie es von dem alten Thurme ſieben Uhr ſchlug und der Abendſegen eingeläutet ward, richtete der Vater fih empor.
„Es wird ſpät werden,“ ſagte er, „ehe der Ad— junkt nach Hauſe kommen kann, und er wird müde ſein. Denke daran, ihn zu erquicken. Du biſt ihm heute das doppelt ſchuldig, denn der Weg iſt weit und er macht ihn Dir zu Liebe. Weiß er, was Du ihm zur Beſorgung übergeben haſt?“
„Ja! Ich hab' es ihm geſagt,“ entgegnete ſie leiſe und ging hinaus an ihre Arbeit.
Aber wie ſie nun da ſtand an demſelben Platze, an welchem ſie an jedem Abende am Herde ſtehend für den Vater und für den Adjunkt die Abendſuppe
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kochte, war es ihr unbegreiflich, daß ſie es that, daß ſie es gethan hatte all' die Zeit, und daß ſie es thun ſollte fort und fort, auch über ihres Vaters Tod hinaus. Denn jetzt, als ſie darüber nachſann, wie der Adjunkt vorhin von ihr geſchieden war, und was ihr Vater ihr geſagt hatte, konnte ſie nicht mehr darüber im Unklaren ſein, was ihr Vater hoffte, was der Ad- junktus wünſchte. Die Röthe der Scham ſtieg ihr in das Geſicht, als es ihr einfiel, wie dieſer ſich es aus⸗ gedeutet haben konnte, daß ſie eben ihn zum Ver⸗ trauten und zum Träger ihrer heutigen Sendung aus⸗ erſehen hatte, und doch war es nicht ihr Wille, nicht ihre Abſicht geweſen es zu thun! Ihre Eiferſucht, ein wilder Zug ihres Herzens, ein ihr ſelber unerklärliches Gefühl des Müſſens, des Nichtanderskönnens, hatten ſie zu dem Entſchluſſe getrieben, für den ihr Vater ſie belobte, und den gefaßt zu haben, ſie jetzt völlig muth⸗ und rathlos machte.
Es war weit über die gewohnte Zeit des Nacht⸗ eſſens hinaus. Der Vater hatte ſeine Mahlzeit ein⸗ genommen und ſich zur Ruhe begeben. Sie hatte ihm, wie an jedem Abend, ſeit ſein Augenlicht ver⸗ ſagte, das Capitel aus der Bibel vorgeleſen, das er ihr bezeichnete, und mit einem Worte der ſegnenden Liebe hatte er ſie entlaſſen. Nun ſaß ſie in der klei⸗ nen Stube und wartete auf den Adjunktus, denn lange konnte er nicht mehr von Hauſe ferne bleiben.
In dem Stübchen war es warm und ſtill. Die Fenſterladen waren offen wie immer, wenn Einer aus dem Hauſe am Abende noch auswärts weilte. Die
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Uhr, die hier ſeit Menſchenaltern auf demſelben Flecke
ſtand, rückte mit ruhigem Pendelſchlage Sekunde um Sekunde vorwärts. Auf dem uralten Meſſingleuchter brannte ſtill das Licht, wie es ſeit Menſchenaltern hier gebrannt hatte, und draußen fielen die Wellen mit dumpfem Schlage wie ſeit Jahrtauſenden auf das Ufer nieder. Es war hier Alles alt, Alles ſich gleich— geblieben, es war ein todtes Leben, ein lebendiger Tod; und in dieſes immer gleiche Daſein hatte auch ſie unterzutauchen, hatte ſie Alles zu begraben, was ſie gehofft und erſehnt. Sie mußte Alles vergeſſen,
was durch eine kurze Spanne Zeit hellleuchtend an ihrem Horizonte vorübergezogen war. Sterben, wie
hier Alles geſtorben war, mußte hier auch ſie mit ihrem heißen Herzen. — Und lebte ſie denn wirk⸗ lich noch? HR |
Sie hatte das Licht in die Hand genommen und ging, ein paar Beſorgungen zu machen, aus der Stube in die Kammer, aus der Kammer in die Küche. — Es ſah ſie Niemand, denn die Magd war hinaus⸗ gegangen in den Stall, es hörte ſie Niemand und ſie ſelber hörte ſich nicht. Sie kam ſich wie Einer der kleinen Leute vor, von denen die Mamſell zu ſprechen liebte, wie Einer der Unterirdiſchen, die in den alten Häuſern ihr ſtilles Weſen treiben, ſpukhaft und ge⸗ ſpenſtiſch.
Es war ihr unheimlich in dem Hauſe, ſie war ſich es ſelbſt. Ein kalter Windhauch ſtrich durch das offene Kammerfenſter über ſie hin, ſie ſchauerte zu⸗ ſammen. — „Das iſt der Todesengel!“ rief es in ihr,
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und in dem nächſten Augenblicke ſtand ſie an des Vaters Bett. Aber er lag ruhig da, ſein warmer Athem berührte ſie, wie ſie ſich zu ihm niederbeugte, und ſich zuſammennehmend, verließ ſie ihn, und ſetzte ſich an ihre Arbeit.
Sie hatte ihr Strickzeug vorgeholt, ein Buch zur Hand genommen. Die Hände verrichteten mechaniſch ihren Dienſt, die Augen glitten über die Zeilen und Seiten hinweg, ſie wendete die Blätter um, und wußte nicht, was ſie geleſen hatte, denn ſie zählte innerlich die Tage, die es währen würde, bis der Ring in die Hände des Barons gelangte. Sie zermarterte ihr Herz und ihr Gehirn mit der Frage, wo und wie er ihn empfangen, ob er ihn behalten, was er damit machen, was er dabei empfinden, ob er zufrieden, ob er traurig ſein, ob und wie er ihrer dabei denken würde? Ihre armen Gedanken wirbelten in haltloſem Treiben durch⸗ einander, bis ſie wie durch einen Zauber mit einem⸗ male Konradine vor ſich ſah, die den Ring aus ſeinen Händen nahm und ihn an ihren Finger ſteckte.
Sie ſprang empor. Hätte fie jetzt Allmacht beſeſſen, hätte es einen Zauber gegeben, ſicher, fernhin treffend, wie des kleinen Geiſterkönigs Fluch — ſie mochte nicht ausdenken, was durch ihr Gehirn ging. Sie ſtarrte in das Licht, bis die Augen ihr übergingen und ein weiter vielfarbiger Bogen das kleine Licht umgab. Wie ſie die Augen trocknete und näher hinſah, hingen in vielgewundenem Gekräuſel die Hobelſpäne an der Kerze nieder, die nach des Volkes Glauben eine Leiche in dem Hauſe künden; und wieder kam, wie ſie ſich auch
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dagegen wehrte, das Bangen über fie, das Grauen vor ihrer Einſamkeit. Sie war unfähig es länger zu er⸗ tragen, ſie nahm das Licht und ging mit haſtigem Schritte hinaus, die Magd zu ſuchen. In dem Augen⸗ blicke trat der Adjunktus in das Haus.
„Ach! Sie ſind es! Das iſt gut!“ rief ſie ihm entgegen; aber wie der Klang der Worte ihr Ohr be⸗ rührte, wünſchte ſie dieſelben nicht geſprochen zu haben, denn weil das Kommen des jungen Mannes dem un⸗ heimlichen Alleinſein nun ein Ende machte, hörte ihr Anruf ſich warm und freudig an, und ſie ſah, wie er
ihn unwillkürlich in ganz anderem Sinne erfaßte und
auf ſich bezog.
„Ihr Auftrag iſt beſorgt,“ ſagte er, indem er die Mütze und den Ueberrock an den Nagel hing, wäh⸗ rend Hulda mit dem Lichte in der Hand ihm in dem kleinen dunkeln Vorſaale leuchtete. Die Hausthüre ſtand offen, es hatte während der letzten Stunde zu regnen angefangen, der Wind trieb die warme feuchte Luft vom Meere in das Haus. Die Kleider und das Haar des jungen Mannes waren naß, und ſich mit dem Tuche die Stirne trocknend, ſagte er: „Die Luft iſt noch ſehr warm und ich bin raſch gegangen. Ich wollte Sie und den Herrn Pfarrer nicht auf mich warten laſſen. Nun komme ich doch zu ſpät.“
Sein guter, freundlicher Wille war ganz unver⸗ kennbar, Hulda dankte ihm und ſagte, der Vater habe ſich ſchon zur Ruhe begeben. Der Adjunkt fragte, ob er ſich denn ſchlecht befunden habe? — „Nicht übler als ſonſt,“ entgegnete ſie ihm und brach dann ab.
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So kamen ſie in die Stube. Der Tiſch ſtand für zwei Perſonen gedeckt, die Magd trug die Suppe auf. Als der Adjunkt das Tiſchgebet ſprach, das ſonſt der Vater ſagte, als ſie ſich niederſetzten einander gegenüber und allein, das Licht mit ſeinem ſtillen Scheine zwiſchen ihnen und Alles um ſie her ſo ſtill, fiel ihr Alleinſein Beiden auf. Sie konnten das rechte Wort für einander nicht finden, denn ſie hatten die alte Unbefangenheit nicht mehr.
Der Adjunkt blickte ein um das anderemal nach Hulda's Hand, an der ſie den goldenen Reif getragen hatte, den er ſo oft mit ſtillem Schmerz betrachtet, und Hulda griff, ohne es zu wiſſen, immer und immer wieder nach der Stelle, an welcher der Ring ihr fehlte. Ihre Gedanken trafen auf die Art zuſammen und gingen doch weit von einander. Denn ſein Sinn war feſter als je zuvor an dieſen Platz gebannt, all ſein Wünſchen war an ihn geknüpft; ſie aber dachte, während ſie ihm die kleinen, ihr obliegenden Dienſte der Hausfrau freundlich leiſtete, mit ſchwerem Herzen in die Ferne, und mit noch bangerer Seele an die Stunde, in der ſie von hier ſcheiden würde für immer⸗ dar; denn bleiben konnte ſie hier nicht. Und dem Schluſſe einer langen Gedankenreihe plötzlich Worte gebend, fragte ſie den Adjunktus, ob er an Ahnungen glaube.
Er wollte wiſſen, wie ſie das verſtehe, was ſie zu der Frage bringe.
„ Mein Vater hat Abſchied von mir genommen,“ jagte ſie kurz und mit jener ſtillen Gewaltſamkeit, mit der ſich zu bemeiſtern ihr eigenthümlich war. „Glauben
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Sie, daß es eine Ahnung feines Endes ift, die ihn dazu beſtimmt hat?“
„Daß beſonders geſammelten Gemüthern ein Vor⸗
empfinden ihres Heimganges vergönnt tft, hat die Er⸗ fahrung uns an Beiſpielen bethätigt!“ entgegnete ihr der Adjunkt. „Daß Andere eine ſolche Ahnung thei⸗ len, glaube ich nicht.“
„Nicht?“ wiederholte Hulda. — „Da irren Sie!
Ich habe meiner Mutter Tod empfunden fern von ihr, und ſie hat mich gerufen, einmal, zweimal, daß ich aufgeſprungen bin von meinem Sitze. Aber heute? — Mein Vater ſchläft ſo ruhig! Ich habe an ſeinem Bette geſtanden, ſeine Athemzüge ſtill gezählt. — Ich kann es mir nicht denken, kann es nicht glauben, daß ich ihn ſchon jetzt verlieren ſoll, jo lange die Befürch⸗ tung auch vor mir ſteht. Und nun ich nicht mehr ganz allein bin, nun Sie da ſind, ſchweigt meine Angſt auch wieder, und mein Herz iſt ſtill, und ohne unheilvolles Vorgefühl. Er wird mir noch erhalten bleiben. Glauben Sie es nicht?“
Sie ſtand von dem Tiſche auf und trat horchend an die Thüre. Ein paar Minuten blieben ſie ſchwei⸗ gend nebeneinander ſtehen. Es regte ſich in der Kam⸗ mer Nichts. Hulda ging vorſichtig hinein und beugte ſich zu dem Vater nieder. Sie hörte Nichts. Es fuhr ein Schrecken durch ihr Herz. Sie neigte ſich, legte ihre Wange an die ſeine und ſank mit einem Schrei zuſammen.
Der Pfarrer hatte ſtill geendet. Sanft wie ſein Leben war ſein Tod geweſen.
Vierzehntes Capitel.
Emanuel hatte die Ankunft ſeiner ſchönen Freundin ſchon ſeit einigen Tagen erwartet, als ihr Brief in ſeine Hände gelangte. Ihre Mittheilung, daß ſie mit der Gräfin zufällig zuſammengetroffen ſei, überraſchte ihn, ohne ihm jedoch irgend ein Mißtrauen einzu⸗ flößen. Wie ſollte es auch? — Man war auf den verſchiedenen Reiſen oft genug in gleicher unvorberei⸗ teter Weiſe zuſammengekommen, und da ein heimliches Planen, wie die beiden Frauen es betrieben, ſeiner offenen Seele fern lag, kam der Gedanke, daß man ihn, wenn auch in beſter Abſicht, täuſche, gar nicht in ihm auf. Ebenſowenig aber konnte es ihn unter den obwaltenden Verhältniſſen befremden, daß die Gräfin ſich gegen Konradi ne über ihr Zerwürfniß mit dem Bruder ausgeſprochen hatte.
Der Wunſch ſeiner Schweſter, ihn wieder zu ſehen, ihm die Hand zu reichen, war ſehr natürlich. Sie konnten ja, wer mochte ſagen in wie naher Zeit? einander an dem Sterbebette ihres Bruders egenüberſtehen, und dieſer ſelber hatte Emanuel mit
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dringender Bitte zu einer Ausſöhnung mit der Gräfin angetrieben, als er gekommen war, den Kranken zu beſuchen. Er hatte es Emanuel zu bedenken gegeben,
wie dieſer und die Schweſter bald die letzten direkten |
Abkömmlinge ihres edeln Geſchlechtes ſein würden, und wie er es eben deshalb dem Andenken ſeiner Eltern und ſeiner Vorfahren ſchuldig ſei, durch Eingehung einer ebenbürtigen Ehe womöglich den Namen des alten Geſchlechtes fortzupflanzen, und die Güter bei den direkten Nachkommen Derjenigen zu erhalten, von denen ſie durch frühe Heldenthaten unter den Fahnen
des Deutſchen Ordens erworben und gegründet worden
waren.
Es lag in dieſen Erwägungen Vieles, was Emanuel ſich wohl ſelber vorgehalten hatte. Er war in den Anſchauungen ſeines Standes hergekommen, er war welterfahren und verſtändig genug, die Vortheile eines großen Beſitzes und Vermögens nach Gebühr zu ſchätzen. Aber Hulda's Leidenſchaft hatte ihn über⸗ raſcht und ſo gewaltig ergriffen, daß vor ihr alle ſeine Bedenken und Erwägungen überwunden worden waren. Getrennt von ihr, hatten dieſelben ſich jedoch in dem Mißmuthe und der Niedergeſchlagenheit ſeines Sinnes bald wieder geltend gemacht. Die Ermahnungen ſeines Bruders waren hinzugekommen; indeß weil ihm vor der Begegnung mit Hulda der Gedanke an die Ehe nicht geläufig geweſen war, war es immer ihr Bild, das ihm vor der Seele ſchwebte, wenn er an eine Gattin für ſich dachte, während doch eben eine Ver⸗ bindung mit ihr den Plänen ſeiner Familie und dem
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Bortheile feines Stammes entgegen war. Dazu kam, ſein Unbehagen noch zu erhöhen, das Zerwürfniß mit der Gräfin und die Scheu des an lange und völlige Ungebundenheit gewöhnten Mannes vor einer Ent⸗ ſcheidung, die ſeiner freien Entſchließung ein für alle⸗ mal ein Ende machen und ihm, der bisher nur ſich und ſeinem jeweiligen Belieben nachgekommen war, Pflichten gegen Andere auferlegen ſollte, denen er ſich dann nicht mehr entziehen durfte; Pflichten, vor denen ſein perſönliches Wollen und Wünſchen künftig bis zu einem gewiſſen Grad zu ſchweigen hatte. Er wurde es mit Erſtaunen inne, daß trotz der Liebe und Hin⸗ gebung, deren er ſich fähig wußte, wenn ein augen⸗ blicklicher Anreiz ſie in ihm erregte, das ſelbſtſüchtige Verlangen der Hageſtolzen nach völliger Unabhängig⸗ keit mächtiger in ihm geworden war, als er es ſelber geglaubt; und daß die Vorſtellung, immer noch Herr über ſeine Entſchließung zu ſein, ihm die Trennung von Hulda weniger hart erſcheinen machte, beſonders da er ſich in ſeines Herzens Tiefe überzeugt hielt, Hulda liebe ihn und könne ihm nicht fehlen, wenn er früher oder ſpäter, ihr mit erneuter Werbung nahen wolle.
Ohne daß er ſich Rechenſchaft darüber gab, ge- fiel es ihm ſich zwiſchen Hulda's Liebe und der Freund⸗ ſchaft Konradinen's immer noch in voller Freiheit be⸗ wegen, und dieſer warmen Freundſchaft genießen zu können, ohne daß dadurch der Sehnſucht Abbruch ge⸗ ſchah, die ihn in einzelnen Stunden mit ſüßem poeti⸗ ſchem Erinnern zu Hulda zog. Die geiſtige Genuß⸗
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ſucht, die geiftige Schwelgerei, zu denen feine Kränk⸗ lichkeit ihn früher lange Jahre hindurch verleitet hatte, machten ſich jetzt bedenklich geltend; ſie ließen ihn in Zuſtänden ſchwankend verharren, welche ihm je nach ſeiner Stimmung trübe und beklagenswerth oder be= haglich und begehrenswürdig däuchten.
Er hatte mit Freuden Konradinen's Brief em⸗ pfangen. Der friſche, herzliche Ton deſſelben, die Nachrichten, welche ſie ihm über die Gemüthsverfaſſung ſeiner Schweſter gab, waren ihm erfreulich und er⸗ wünſcht. Ihre unverkennbare Heiterkeit wirkte an⸗ genehm auf ihn zurück, und die unumwundene Weiſe, in welcher ſie ihm von der Nothwendigkeit ſeiner Ver⸗ heirathung ſprach, ihm, deſſen Mißtrauen in das Wohl⸗ gefallen, welches er etwa erregen könne, zu einem Grundzug ſeines Weſens geworden war, der immer wieder zum Vorſchein kam, ſobald er an die Mög⸗ lichkeit dachte, als ein Bewerber um Frauengunſt auf⸗ zutreten, verſetzte ihn in die allerbeſte Stimmung.
„Ich weiß Alles,“ ſchrieb ſie ihm, „was Sie mir dagegen einzuwenden für nöthig halten werden, aber treten Ihre eigenen Erlebniſſe und Erfahrungen nicht als Beweiſe gegen Ihre melancholiſchen und ſelbſt⸗ quäleriſchen Zweifel auf? Sind Ihnen Liebe und Freundſchaft nicht in dieſen letzten Jahren von Frauen entgegengebracht worden, ohne daß Sie dieſelben auch nur ſuchten? Haben Sie ſich bemüht um Hulda's Liebe? Haben Sie meine Freundſchaft auch nur be⸗ gehrt? Nein! Beide ſind Ihnen, wie reife Früchte dem harmlos Vorübergehenden, ſo zu ſagen in die Hand
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gefallen, und es hat allein in Ihrem Belieben ge⸗ legen, die Hand zu ſchließen und ſie Sich anzueignen, oder ſie als unerwünſchte Gunſt des Zufalls unbeachtet auf den Boden gleiten zu laſſen. Daß Sie in meinem Falle zugegriffen haben, iſt mir ein Glück geworden, welches ich Ihnen gerne vergelten möchte. Ich habe durch Ihre Freundſchaft die Kraft gewonnen, ruhig in meine einſame Zukunft zu blicken, und das Leben über mich zu nehmen, wie es eben kommen mag. Ihnen jedoch, dem Manne, dem das Wählen frei ſteht, der ſein Geſchick nicht hinzunehmen, ſondern es nach ſeinem Bedürfen frei zu geſtalten hat, Ihnen iſt mehr ver⸗ gönnt als nur die Möglichkeit, ſich mit dem Leben ab⸗ zufinden. Sie können, ja ich hoffe es, Sie werden glücklich werden; und damit kein ſchmerzliches, kein ſorgendes Rückwärtsdenken Ihr Gewiſſen beunruhige und Ihre Entſchließungen hindere, muß ich Sie wie⸗ der einmal daran erinnern, daß die erſte Jugend anders empfindet als Sie und ich. Die Jugend will vor Allem ſich ihres Daſeins freuen und das kommt ihr zu. Dieſes Verlangen iſt ihr Recht, denn in dem⸗ ſelben beruht jene Kraft, die, alles Leiden überwindend, ſich immer wieder in ein geſundes Gleichgewicht zu⸗ rückbringt. Dieſe Herſtellung hat ſich — und ich ſage zu Ihrem Glück, mein theurer Freund! nun auch an dem jungen Mädchen vollſtändig vollzogen, deſſen An⸗ denken Ihnen immer noch jo werth iſt. Die Einfam⸗ keit wird dazu gekommen ſein, die Wandlung zu be⸗ ſchleunigen, und das zur Liebe einmal erregte Herz verſteht nicht zu darben, ſo lange es jung iſt.“ 12*
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Emanuel hielt inne. Er vermuthete, was dieſer Einleitung jetzt folgen mußte. Aber es widerſtrebte ihm, es zu erfahren, und die Hand, in welcher er das Blatt hielt, bebte leiſe, als er die Worte las: „Der Amtmann hat an die Gräfin geſchrieben, um von ihr eine feſte Zuſage wegen der Erhöhung der Pfarr⸗ einkünfte auch nach des Paſtors Tode, den man dem⸗ nächſt erwarten muß, zu fordern. Er berichtet gleich⸗ zeitig über ein kleines Vermächtniß, welches Miß Kenney Ihrer jungen Freundin hinterlaſſen hat, und fügt hinzu, daß dieſes Letztere für Hulda doppelt ge⸗ legen komme, da ihre Verheirathung mit dem jungen Pfarr⸗Adjunktus, dem er beiläufig das ehrenvollſte Zeugniß ausſtellt, nicht lange auf ſich warten laſſen werde. Er nennt dies eine günſtige Schickſalswen⸗ dung, und mich dünkt, mein Freund! wir Alle haben es ſo zu nennen; denn über ein Kurzes wird die junge ſchöne Pfarrersfrau, und werden auch Sie, an das kleine Abenteuer jener Tage ſich nur noch wie an einen ſchönen Traum erinnern, dem Dauer nicht zu wünſchen geweſen wäre!“
Er las das Alles — es klang ſo einfach, war ſo natürlich, ſo erklärlich, ſo berechtigt! — Er las es wieder, es blieb ganz daſſelbe! Und doch glaubte er es nicht, konnte er's nicht glauben, obſchon er es allein verſchuldet hatte, was er eben jetzt erlebte und erlitt.
Er ſetzte ſich nieder und ſtützte das Haupt auf die Hand. Die ganzen Tage und Monate von jenem ſonnigen Sommerabende, da er ſie zuerſt erblickt, bis hin zu der ſchmerzlichen Stunde, in der er ſie zuletzt
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geſehen hatte, zogen an ſeinem Geiſte vorüber. Sie
war ſich immer gleich geblieben, immer dem Drange ihres Herzens ohne weitere Rückſicht folgend. Wie hatte er es ihr verargen können, wenn dies kindlich wahre Herz fie antrieb, den erſten und natürlichſten der Pflichten, der Kindesliebe und dem Gehorſam gegen ihren Vater nachzukommen? Wie hätte er trachten ſollen, ſie dieſen Pflichten zu entziehen und ſie in Widerſpruch mit ſich ſelbſt zu bringen, da doch gerade die ſchöne Einheit ihres ganzen Weſens ihn zu ihr gezogen hatte. Er durfte ſich auch nicht darüber wundern, daß ein jüngerer Bewerber, der in dem engſten täglichen Beiſammenſein mit ihr verkehrte,
über ihn, den Entfernten, den Sieg davongetragen
hatte. War es ihm doch wie ein unerwartet Glück erſchienen, daß ſie ſich ihm zugewendet, eben ihm!
Er hielt ſich Alles vor: des Vaters Wunſch, das Verlangen der Tochter, dem Sterbenden zu willfahren, der Freunde Ueberredung, der Gewohnheit Macht — und dennoch, dennoch konnte er es nicht glauben. Eine Zuverſicht in ſeinem Herzen lehnte ſich gegen alle Ueberlegungen ſeines Verſtandes auf. Wie er ſich es auch vorhielt, daß er kein Recht habe, nach ſo langem Schweigen mit einer Anfrage vielleicht ſtörend in den mühſam errungenen Frieden ihres Herzens einzugreifen; es war ihm nicht möglich, es einem Anderen als Hulda ſelbſt zu glauben, daß ſie ihn vergeſſen habe, ihn, der ihrer noch mit ſolcher Zärtlichkeit gedachte. Nie mehr als jetzt in dieſer Stunde beklagte er es, kein Bild von ihr zu beſitzen, denn zum erſtenmale
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konnte er in feiner Erinnerung ihr ſchönes Antlitz, ihre herrliche Geſtalt nicht finden, wie er danach auch rang; und als müſſe er ſeinem gedrückten Herzen in lautem Ausdruck eine Befreiung ſchaffen, rief er: „Selbſt ihr Bild entzieht ſich mir!“
Eine geraume Zeit blieb er an ſeinem Arbeits⸗ tiſche ſitzen. Er hatte angefangen, ihr zu ſchreiben und das Blatt zerriſſen. Er hatte Konradinen's Brief zu Ende leſen wollen und ihn unmuthig wieder auf die Seite gelegt. Er mochte nicht erfahren, was ſie ihm etwa noch zu melden hatte — es war daran genug! Aber er mußte es ihr danken, daß ſie es über ſich genommen hatte, ihm die Mittheilung zu machen, denn ſie von der Gräfin zu erhalten, würde ihm härter noch geweſen ſein.
Er war ſehr bewegt, ſehr aufgeregt. Er ſchwankte von einem Vorſatze zu dem anderen. Er beneidete Diejenigen, deren Leidenſchaften ſie gewaltig und ohne allen Rückhalt vorwärtstreiben; und doch war die Em⸗ pfindung, die ihn an Hul da kettete, fo tief, jo wahr! Doch war es Liebe! — Nur daß ſein unſeliger Zweifel an ſich ſelbſt und frühe Reflexion die Kraft des raſchen friſchen Wollens, die Macht der Leidenſchaft in ihm gebrochen hatten.
In dem Augenblicke aber, in welchem er ſich dieſes vorhielt, zuckte eine leidenſchaftliche Sehnſucht nach der Fernen, ein leidenſchaftlicher Schmerz um die ihm Verlorene durch ſeine Bruſt. „Hulda! Hulda! Es iſt ja gar nicht möglich!“ rief er und ſprang empor, denn er fühlte es, er mußte ſie wiederſehen, er mußte ſie
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und ſich erlöſen, koſte es, was es immer wolle. Noch in dieſer Stunde mußte er ihr ſchreiben, daß er kommen, daß er ſeinem Briefe auf dem Fuße folgen werde, daß ſie keine Entſcheidung über ihre und damit über ſeine Zukunft treffen dürfe, ehe er ſie nicht ge⸗ ſehen habe.
Mit raſcher Hand, mit leidenſchaftlicher Bewegung warf er die Zeilen auf das Papier. Er ſagte ihr Alles, was er in dieſer Stunde fühlte. Er beſchwor ſie, nach ſo langem traurigem Entſagen jetzt auf Nichts mehr zu hören, als auf ihr Herz und ihre Liebe; an Nichts mehr zu denken als an ſein Glück und an das ihre. Er wendete ſich auch an ihren Vater und hielt ihm vor, wie hart es geweſen ſei, die Tochter zu dem Verzichte zu drängen. Er ſchrieb ihm, weil ihm Alles daran gelegen war, die Zuſtimmung des Pfarrers zu gewinnen, daß er die Gräfin erwarte, daß er auf dem Punkte ſtehe, ſich mit ihr auszuſöhnen, daß er zu Gunſten ihres Sohnes ſchon jetzt auf das Anrecht des Majorates verzichten wolle. Er that Alles, was er in ſo manchen Stunden thun wollen, und zögernd unter⸗ laſſen hatte. Er meldete, daß er gleich nach der Ent— fernung ſeiner Schweſter aufbrechen werde, um die Geliebte wiederzuſehen, und obſchon er wußte, daß die Poſt erſt am nächſten Abende nach Norden gehe, trug er dem Diener auf, den Brief augenblicklich zu be⸗ ſorgen.
Alles, was ihn vorher beſchäftigt hatte, trat davor zurück. Er dachte an die ihm bevorſtehende Begeg⸗ nung mit der Gräfin, die nach ſo langer Trennung
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immerhin etwas Peinliches haben mußte, an die An⸗ kunft ſeiner Freundin, auf die er ſich die ganze Zeit hindurch gefreut hatte. Aber er dachte daran, nur um es zu berechnen, wie lange dieſe Beſuche etwa währen, und wann er im Stande ſein würde, ſeine Reiſe in die Heimat anzutreten. Er verſtand ſich ſelber nicht in dem trüben Hinbrüten, in welchem er die ganze Zeit hindurch gelebt hatte; und weil er redlichen Sinnes zu vergüten wünſchte, wo er ſich einer Schuld bewußt war, konnte er nicht glauben, daß ihm dieſes nicht gelingen, daß er nicht ſollte durch erhöhte Liebe ſich und Hulda für die verlorene Zeit entſchädigen können.
Sich ſchließlich mit der Gräfin zu verſtändigen, ſah er, da ſie ihm ja entgegenkam, nicht als eben ſchwer an. Wenn ſie auch lebhaft gewünſcht hatte, das Erbe ihres Hauſes bei ihren Brüdern und durch dieſe der Familie erhalten zu ſehen, ſo ſtand doch eben jetzt ihr Sohn auf dem Punkte, ſich zu verheirathen. Ema⸗ nuel, welchem neben dem ihm in jedem Falle zu⸗ ſtehenden beträchtlichen Allodial⸗Vermögen der Familie, der Erwerb jener im Norden gelegenen Majoratsgüter keine Lebensfrage, und der Aufenthalt auf denſelben Nichts weniger als erwünſcht war, glaubte alſo auf keine Abneigung bei ſeinen Geſchwiſtern zu ſtoßen, wenn er ihnen den Vorſchlag machte, den Beſitz des Majorates gar nicht anzutreten, ſondern es ſofort an den jungen Grafen übergehen zu laſſen, dem des Königs Gnade es ſicherlich nicht verweigern konnte, daß er in dieſem Falle neben ſeinem Namen fortan
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auch den Namen Derer von Falkenhorſt führte, und in ſeinem Hauſe fortvererbte.
Er war in dieſen Erwägungen raſchen Schrittes auf der Teraſſe vor ſeinem Arbeitszimmer umher⸗ gegangen. Als es ſchon zu dunkeln begann, kehrte der Diener von der Poſt zurück. Er meldete, wie er in dem Poſtbureau ein Päckchen vorgefunden habe, das eben mit der Packpoſt für den Herrn Baron an⸗ gekommen ſei, und daß der Poſtmeiſter ihm daſſelbe der Bequemlichkeit wegen gleich mitgegeben habe.
Emanuel nahm es ihm ab. Der Wiederſchein von den Bergen gab eben noch Licht genug, das Poſt⸗ zeichen und die kleine, feine Handſchrift zu erkennen. Er hatte dieſe zierlichen Lettern oft genug geſehen, wenn er die Volkslieder zur Hand genommen, die ſie in jenen erſten ahnungsloſen Tagen für ihn abge⸗ ſchrieben. Die Sonderbarkeit der Zufalles überraſchte ihn. In dem nämlichen Augenblicke, in welchem er ſich ihr wieder mit voller entſchloſſener Hingebung genähert hatte, kam ihm die erſte Kunde von ihr ſelbſt. Das Wahrſcheinlichſte vorausſetzend, glaubte er durch ſie die Nachricht von dem Tode ihres Vaters zu erhalten, den Konradine ihm als bevorſtehend gemeldet hatte, und der Hulda zur Herrin über ihre Zukunft machen mußte.
Mit raſcher Hand brach er die Siegel auf, zerriß er die Umwicklung des Päckchens, deſſen geringen Um⸗
fang er ſich nicht erklären konnte, bis er, das Schäch⸗
telchen eröffnend. den Ring in Händen hielt.
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Er traute ſeinen Augen, feinen Sinnen nicht. Mit beklommener Haſt wendete er die Blättchen um, in welche ſie das Kleinod eingewickelt hatte. Vorſichtig nahm er ſie auseinander, jedes einzelne darauf an⸗ ſehend, ob nicht ein Wort darauf verzeichnet wäre, ihm zu erklären, was ihm im Grunde nicht unerklärlich ſein konnte, und was zu verſtehen ihm deshalb doch nicht weniger ſchwer ankam. Anklagen konnte er ſie nicht. Er ganz allein trug alle Schuld. Er allein hatte ſich durch ſeine Schwäche um das Glück gebracht, deſſen Größe er wie immer, erſt recht zu würdigen glaubte, da es für ihn verloren war. Aber wie er auch ſann und grübelte, wie er ſich auch auflehnte gegen das Ertragen deſſen, das wie ein ſchwerer harter Schlag auf ihn herniedergefallen war, er kam nicht hinaus über jenes armſelige: „Alſo doch!“ — über jenes niederbeugende: „Zu ſpät!“ — die einmal mit Zorn gegen ſich ſelber, mit widerwilliger Entſagung auszuſprechen, kaum einem Erdgeborenen erſpart bleibt.
Er ſtand noch immer auf der Terraſſe und ſah in die Dämmerung hinaus. Er kannte jeden Punkt der Landſchaft, die eben noch tagerhellt ſich vor ihm ausgebreitet hatte, und doch vermochte er die Gegen⸗ ſtände nicht mehr zu erkennen. So ging es ihm mit Hulda. Ihre Seele hatte hell und licht vor ihm ge⸗ legen, er hatte in ihr geleſen wie in einem offenen Buche, nun fand er ſich nicht mehr in ihr zurecht. Ihr gerade hatte er eine Treue ohne Wanken zugetraut! Daß ſie vergeſſen könne, hatte er nicht für möglich gehalten. Darauf hin hatte er vertraut, und in ver⸗
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meſſenem Vertrauen geſündigt an ihr, an ſich. Und jetzt hintreten mit erneuter Werbung, da ſie freien Entſchluſſes über ſich ſelbſt entſchieden hatte, da ſie vorausſichtlich in der Liebe zu einem gleichalterigen Manne glücklich war, vielleicht glücklicher, als ſie mit ihm geworden ſein würde — ſollte er das thun? Durfte er es thun, da ſie ihm mit ihrem Schweigen den Weg anwies, den fie eingehalten zu haben wünſchte?
Er rief ſeinen Diener und hieß ihn augenblicklich den Brief zurückholen, den er vorhin zur Poſt be⸗ fördert hatte; aber es war mit dieſem Entſchluß für ſeine innere Beruhigung noch Nichts geſchehen. Sein Sinn war bedrückt, ſeine Gedanken und Em⸗ pfindungen wollten ſich nicht klären. Er konnte es nicht faſſen, daß ſie keine Zeile für ihn geſchrieben, daß ſie kein Wort mehr für ihn gehabt hatte. Warum ſagte ſie es ihm nicht, daß ſie ſich über ihr Gefühl für ihn getäuſcht habe, daß ſie einen Anderen liebe?
Sie beſſer als irgend ein Anderer wußte es, wie wenig er daran geglaubt hatte, Liebe erwecken zu können, und ſie wußte es doch auch, wie theuer ſie ihm ge⸗ weſen war, wie herzlich er ſich um ſie geſorgt, ehe er im entfernteſten daran gedacht hatte, daß ſie ihn lieben, daß er ſie die Seine nennen könnte.
Er ſah den Wolken zu, die ſchwer und langſam vom anderen Ufer emporzuſteigen begannen, und hier einen hellen Stern verhüllten und dort wieder Einen, bis ſie den ganzen Horizont bedeckten und die Nacht ſich ſtill und ſchwül und lichtlos über See und Land
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verbreitete. Es kam ihm endlich vor, als warte er auf einen Stern; aber wie er ſein Auge auch nach der Stelle richtete, an welcher der letzte helle Stern verſchwunden war, er wollte nicht wiederkehren. Es blieb Alles dunkel.
Er fuhr ſich über die Augen; es war damit vor⸗ bei. „Möchten Dir glücklichere Sterne leuchten!“ rief er, indem er den kleinen Reif an ſeinen Finger ſteckte.
Er wollte ihn tragen zur Erinnerung an ſie, die ihn geliebt hatte, an ſie, um die er trauerte, wie man um die Jugend trauert, die nicht wiederkehren kann. Und mit der ſchlimmſten aller Qualen, mit dem Be⸗ wußtſein ſich ſelber um ſein Glück gebracht zu haben, durchwachte er die ſtille, ſchwüle Nacht.
Fünfzehntes Capitel.
Die Ankunft der beiden Frauen war Emanuel in dieſem Augenblicke durchaus willkommen. Er war lange einſam geweſen, und hatte eben in ſeiner gegen⸗ wärtigen Stimmung keinen angenehmen Geſellſchafter an ſich ſelbſt.
Die Gräfin, deren Neigung, auf Andere beſtim⸗ mend einzuwirken, ihm bisher oftmals unbequem ge⸗ weſen war, ſagte ſich, daß er ihr, nach ſeiner Anſicht, Manches zu verzeihen, habe und hielt ſich deshalb vor⸗ ſichtig in ihren Schranken. Sie fragte ihn um Nichts, was von ſich auszuſagen er nicht für angemeſſen fand, aber fie ſprach ihm freimüthig und ohne allen Rück⸗ halt von ſich ſelbſt, von Clariſſens Glück, von dem Guten, das ſie von ihres Sohnes Heirath für den⸗ ſelben hoffte. Als Emanuel bei dieſem Anlaſſe ihr ſeine Abſicht kundgab, zu Gunſten des jungen Grafen auf das Majorat zu verzichten, wenn es durch den Tod des Bruders an ihn fallen würde, wies ſie dieſe Ge⸗ danken zwar von ſich, jedoch ohne dabei auf ihre frü⸗ heren Plane für ihn zurückzukommen. Sie meinte
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nur, es mache ihr immer bange, wenn fie Menſchen in nicht abzuändernder Weiſe über ihre Zukunft ent⸗ ſcheiden ſehe, ſolange dieſelben ſich noch in einem Lebensalter befänden, das neue Ausſichten vor ihnen, neue Gedanken in ihnen entwickeln könne. Beſonders ſolle man nicht derartige Beſchlüſſe faſſen, wenn keine zwingende Nothwendigkeit es erfordere. Vollends in ſolchen Fällen aber, wo von dem Erhalten oder Auf⸗ geben von Hab und Gut, oder gar von dem Ver⸗ zichten auf Rechte die Rede ſei, die noch mehr werth wären als Hab und Gut, da ſei das alte Bauernwort an ſeinem Platze: Es ſolle Niemand ſeine Stiefel ausziehen, ehe er ſich niederlege.
Sie ſagte das mit einer heiteren Leichtigkeit, die ihr doppelt wohl anſtand, weil ſie nur ſelten an ihr zur Erſcheinung kam. Sie erwähnte dann noch, daß es bei der ſorgloſen Lebensluſt ihres Sohnes ſogar Gefahren für ihn haben könne, wenn ſein ohnehin reichlicher Beſitz in ſolcher Weiſe und ſo viel früher, als er es irgend zu erwarten berechtigt geweſen wäre, verdoppelt würde, und ſie gab Emanuel auch zu be⸗ denken, daß er wohl der Mann ſei, große Mittel in großartiger Weiſe für würdige, ſeinem und des Hauſes Namen Ehre machende Zwecke, zu verwenden. Es lag etwas Schönes, etwas durchaus Uneigennütziges in den Erwägungen und Rathſchlägen der Gräfin, das auf Emanuel ſeine Wirkung nicht verfehlte. Auch er mußte ihr darin beipflichten, daß, wie die Verhältniſſe jetzt lagen, kein Grund zu der Entſagung vorhanden war, zu welcher er ſich um Hulda's willen vor wenigen
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Tagen geneigt gefunden hatte. Hulda's oder der Pfarrerfamilie gedachte die Gräfin nicht mit einem Worte. Auch Emanuel ſprach nicht von ihnen, weder mit der Schweſter noch mit ſeiner Freundin, und Konradine ihrerſeits war herzenskundig genug, fein Schweigen zu ehren und es ſich zu deuten.
Emanuel wußte ihr das Dank. Ihre ganze Art, ihr ganzes Weſen waren ihm erfreulich. Daß ſie nicht in ſeinem Haufe wohnte, ſondern ſich mit ihrer Be- dienung in einer der am See gelegenen Penſionen eingerichtet hatte, deren Anzahl in jenen Tagen im Vergleiche zu heute noch gering war, das erhöhte durch das jeweilige Entbehren deſſelben den Reiz, welchen das Beiſammenſein mit ihr ſchon in dem Schloſſe ſeiner Schweſter für ihn gehabt hatte. Aber der Ver⸗ kehr mit ihr war ihm jetzt noch angenehmer als vor⸗ dem, denn ihr Beruhen in ſich ſelbſt war jetzt voll⸗ kommen, und ihre Stimmung von einer Gleichmäßig⸗ keit, die beruhigend und vertrauengebend wirkte. Selbſt die edle Einfachheit ihrer Kleidung, der geringe Werth, den ſie auf alle jene Aeußerlichkeiten und Kleinigkeiten legte, von denen das Wohl und Wehe der Frauen ſonſt ſo vielfach abzuhängen ſcheint, die Sicherheit, mit welcher ſie ſich das Recht zuſprach, nach eigenem Ermeſſen zu handeln und ſich ſo frei zu zeigen, als ſie ſich mit ihrem tüchtigen Bewußtſein fühlen durfte, machten es Emanuel im Verkehre mit ihr bisweilen ganz vergeſſen, daß ſie noch jung, und daß ſie ſchön ſei, während das Wohlgefühl, das er in ihrer Nähe fühlte, doch durch eben dieſe Eigenſchaften weſentlich
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geſteigert ward. Dazu wieſen die Lebensgewohnheiten der Gräfin, ihn und die ſchöne Stiftsdame noch be— ſonders auf einander an.
Die Gräfin hatte ſich während ihres langen Auf⸗ enthalts in Italien von jeder körperlichen Bewegung faſt völlig entwöhnt. Sie kannte keinen Naturgenuß, als denjenigen, deſſen ſie von der Terraſſe eines Gar⸗ tens oder in den Polſtern ihres Wagens theilhaftig werden konnte, und vollends ſich der Stunden des Morgens zu erfreuen, trug ſie kein Verlangen, wäh⸗ rend das Wachen in der Nacht ihr zu einer Gewohn⸗
heit geworden war. Emanuel hingegen konnte nicht
leben ohne Naturgenuß.
Durch ſeine ganze Jugend hin, in welcher ihn Rückſicht auf ſeine damals ſehr ſchwankende Geſund⸗ heit, und der auch noch nicht überwundene Schmerz über die Entſtellung ſeiner Wohlgeſtalt von den Sälen der Geſellſchaft fern gehalten hatten, war die Natur ihm eine Zuflucht, und die Quelle geweſen, aus der er Freude geſchöpft, in der er ſeine Kräfte geſtählt und durch immer neue Uebung erprobt hatte, bis er ſich im Er⸗ tragen von körperlichen Anſtrengungen mit den Ge⸗ ſunden meſſen durfte. Er genoß ſich ſelber und ſein Daſein nie in volleren Zügen, als wenn er auf raſchem Pferde durch die Thäler hinflog, mit ſicherem, rüſti⸗ gem Fuße die Höhen der Berge überſchritt, oder mit kräftigem Arme die Wellen des Waſſers überwand.
Einſam in der Natur dachte er nie daran, daß er nicht ſchön, daß er nicht mehr dazu gemacht ſei, die Blicke der Menſchen wie früher freundlich auf ſich zu ziehen und
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an ſich zu feſſeln. Die Sonne ſchien auf ſein blatter⸗ narbiges Geſicht jo freundlich nieder wie auf die jelt- ſam zerriſſene Rinde des Baumes; die Luft umfächelte und nährte ihn ſo friſch, wie ſie die Stämme um⸗ ſpielte, die auch nicht alle gerade in die Höhe wuchſen und an deren Laub und Schatten man ſich doch er⸗ freute; und das Landvolk, mit dem er bei ſeinem Herum⸗ ſtreifen zuſammentraf, legte nicht den Werth auf die äußere Wohlgeſtalt des Menſchen, wie die Geſellſchaft, in welcher er hergekommen war, und wie ſeine eigene Mutter, deren Bedauern über die Entſtellung des einſt ſo ſchönen Sohnes damals den Stachel der verletzten Selbſtgefälligkeit, der Emanuel ohnehin empfindlich genug war, immer tiefer in das weiche Herz des Jüng⸗
lings gedrückt hatte.
Er liebte und verſtand die Natur in allen ihren Aeußerungen. Er hatte in der Natur auch die Men⸗ ſchen verſtehen gelernt, die ihr noch nahe ſtanden, und es traf ſich gut, daß Konradine ſeine Freude an der⸗ ſelben theilte, daß ſie rüſtig war wie er. Das Wander⸗ leben, welches ſie an ihrer Mutter Seite von Kindheit an geführt, hatte ſie frei von allen hemmenden Ge⸗ wohnheiten werden laſſen. Sie war körperlichen An⸗ ſtrengungen ebenſo wie Emanuel gewachſen, und für den Augenblick hatte das verhältnißmäßige Stillleben, das ſie im Stift geführt, ihr Wechſel und Bewegung doppelt erwünſcht gemacht.
Wie früh man die Morgenſtunde auch feſtgeſetzt hatte, in welcher Emanuel und ſie zu Pferde ihre
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Streifzüge in das Land unternehmen wollten, er fand ſie immer fertig, immer ſeiner wartend, und in Friſche
ſtrahlend, daß ſie hm wie die Verkörperung des Mor⸗
gens ſelbſt erſchien. Feſt wie in ihrem Sattel, war ſie in allen Sätteln gerecht und überall an ihrem Platze.
Wenn man das Frühſtück in den Sälen eines Gaſt⸗ hofes oder in dem erſten beſten Bauernhauſe einnahm, wenn man es Wanderburſchen gleich, auf grünem Raſen unter Bäumen am Quellenrande verzehrte, es ſchien jedesmal, als ſei dies gerade die Lage, in welche ſie hineingehöre, in der ſie ihre anmuthige Selbſtbeſtimmt⸗ heit am vortheilhafteſten entfalten könne. Jeder zu⸗ fälligen Begegnung mit anderen Reiſenden wußte ſie eine gute Seite und jedem Menſchen das Beſte abzu⸗ gewinnen, das an ihm ſein mochte. Die Bauerfrau und das Kind am Wege wendeten ſich ihr vertraulich aufgeſchloſſen zu, weil ſie natürlich und ohne jene kin⸗ diſche Herablaſſung mit ihnen zu verkehren wußte, hinter welcher die Eitelkeit und der Hochmuth der ſogenannten Vornehmen und Reichen, ſich ländliche Feſte zu bereiten lieben, bei denen ſie erſt recht in ihrer ganzen Lächerlichkeit erſcheinen; und ohne daß fie be⸗ ſonders darauf aus war, oder daß man es bemerkte, hatte ſie hier einen guten Rath ertheilt, dort eine Lehre in ſo knapper und beſtimmter Form gegeben, daß ſie Ausſicht hatte, ſchnell verſtanden und nicht leicht ver⸗ geſſen zu werden.
Als ihr Emanuel einmal ſeine Verwunderung über dieſe praktiſche Gewandtheit ausſprach, die ſie zum
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„Handeln und Befehlen wie wenig Andere befähige, räumte ſie ihm ein, daß ſie dieſelbe allerdings beſitze. „Aber,“ ſagte ſie lachend, „es iſt nicht mein Verdienſt, daß dieſe Anlage ſich in mir ſo ausgebildet hat. Sie hat ſich an den entgegengeſetzten Eigenſchaften meiner Mutter nothwendig entwickeln müſſen. Ich lernte von Kindesbeinen an, wie die Wilden, meine Umſicht üben, nich zurechtfinden und mir helfen — und nicht nur mir allein, denn wir lebten damals immer in einer Art von Wildniß. Noch ehe ich leſen und ſchreiben konnte, mußte ich im Gedächtniß behalten, was uns nöthig war, und in der Heimatloſigkeit, zu welcher meine Mutter ſich freiwillig verdammte, alle paar Tage ein neues Zuhauſe für uns zu bereiten, war eine Noth⸗ wendigkeit für mich. Das geht denn ſo allmälig in des Menſchen Sein und Weſen über, und meine zigeu⸗ neriſche Praxis hat ſeitdem im Stifte mehr Form und Halt bekommen, ſo daß ich jetzt ſelber Luft an ihr ge⸗ wonnen habe. Ich überraſche mich bisweilen in dieſen Tagen darauf, wie ich mit Sorgen an die Verwal⸗ tungs⸗Angelegenheiten unſeres Stiftes denke, die unſere Aebtiſſin mir während ihrer Krankheit und Abweſen⸗ heit überlaſſen hatte. Und es war doch nicht einmal mein perſönliches Eigenthum, das ich verwalten half, und um deſſen Erhaltung und Vermehrung ich be= müht war.“
„Das ſcheint mir zu dem Wohlgefallen an ſolcher Thätigkeit auch keinesweges nothwendig zu ſein,“ meinte Emanuel, „fie iſt verlockend an ſich ſelbſt. Wir Alle
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find von Kindheit an mehr oder weniger darauf ger ſtellt, Etwas zu ſchaffen. Wir wollen Etwas hinſtellen, Etwas vor uns bringen, Etwas werden ſehen. Das Kind ſchon macht ſich im Garten ein Gärtchen für den Nachmittag zurecht, der Knabe macht ſich Samm⸗ lungen von Auszügen aus den Büchern, die doch ſein eigen ſind. Der Jüngling macht ſich ſeine eigenen Liebeslieder, obſchon unendlich ſchönere vorhanden ſind. Der Mann, der Herrſcher, dem ſchöne Beſitzungen, dem ſchöne Schlöſſer als Erbe zufallen, will augen⸗ blicklich in denſelben irgend einen Neubau, eine Aen⸗ derung machen, in denen er ſich ſelbſt und ſein eigenes Weſen bethätigt und ausſpricht. Er will Etwas hin- ſtellen, das er als von ihm geſchaffen vor ſich ſieht; und ich glaube, daß die ſogenannte Freude am Erwerb und Beſitz ebenſo viel von dieſer Luſt am Schaffen als am Beſitzen in ſich trägt.“
Konradine nannte das nach ihrem eigenen Erfahren richtig, aber ſie wollte wiſſen, wie er ſich ſelbſt dazu verhalte. |
Emanuel ward nachdenklich. „Es iſt das eine Frage,“ ſagte er, „die weit in das Leben zurückgreift, und ich habe leider, wenn ich das thue, nicht ſonder⸗ lich viel Gutes von mir zu ſagen, ſondern auf eine lange Reihe von Unterlaſſungsfünden, auf viel ver⸗ lorene Zeit, auf wenig oder eigentlich auf nichts Ge⸗ leiſtetes zurückzuſehen.“
„Sie thun ſich Unrecht,“ meinte Konradine, „denn ſeit ich Sie kenne, und wir ſind ja ſehr alte Be⸗
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* kannte,“ fügte fie mit ihrem reizendſten Lächeln hinzu,
„babe ich Sie immer beſchäftigt, immer mit... .”
„Mit mir und meiner Selbſtbefriedigung beſchäftigt geſehen,“ fiel er ihr in das Wort. „Wenn Sie offen gegen mich ſein wollen, werden Sie mir das nicht in Abrede ſtellen können. Die große Liebe meiner Mutter, der angeerbte Familienſinn, der die Erhaltung eben unſerer Familie als etwas Weſentliches anſah, hat auch auf meine Erhaltung, ſo viel Mühe, Opfer, Achtſam⸗ keit verwendet, daß ich ſchließlich mir ſelber um meiner ſelbſt willen wichtig vorgekommen bin. Und es iſt doch im Grunde ſo gar wenig daran gelegen, ob ein Menſch da iſt oder nicht, wenn er nicht etwas ganz Beſon⸗ deres zu werden verſpricht.“
„Oder wenn er nicht ſo glücklich iſt, daß er in ſeinem Glücke jenes vollendete Selbſtgenügen dar⸗ ſtellt, um deſſen willen es ſich verlohnt, zu ſein!“ rief Konradine im Rückblicke auf ſich ſelbſt.
„Bei mir,“ verſetzte Emanuel, „traf weder das Eine noch das Andere zu. Aber weil man mich ſo wichtig nahm, wurde ich mir wichtig, und weil man ſich ſo gar viel Mühe damit gab, mich zu befriedigen, gewöhnte ich mich daran zu glauben, daß ich den An⸗ ſpruch auf eine beſondere Befriedigung, auf ein beſon⸗
deres Glück zu machen hätte. Man erzog mich auf
dieſe Weiſe förmlich zum Egoiſten, und ich war doch von der Natur mit meinem weichen, liebebegehrenden Herzen nicht darauf angelegt. Es gelang deshalb nicht einmal, mich zu einem völligen Egoiſten heranzubil⸗ den. Nur unbrauchbar für mich ſelber hat man
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mich für lange Zeit gemacht. Man umgab mich mit einer Liebe und einem zuvorkommenden Wohlwollen, denen in der Welt zu begegnen, unter meinen Alters⸗ genoſſen zu begegnen, ich in meiner Lage nicht erwarten durfte. Von den Kreiſen der jungen Männer hielt meine damals üble Geſundheit mich zurück, die weib⸗ liche Jugend wendete ſich Männern von gefälligerem Aeußeren zu. Ich fand mich alſo einſam; und je weniger ich ſie in mir ſelbſt beſaß, um ſo ſehnſüchtiger begehrte ich nach Schönheit. Was mir das Leben nicht gleich bieten wollte, das begann ich in der Kunſt zu
ſuchen. Ich hatte Zeiten, in denen ich meinte, zu ihrer Ausübung als Maler, als Dichter berufen zu ſein;
aber ich wurde bald inne, daß die Fähigkeit, das Schöne zu erkennen und ſich an ihm zu freuen, kein Bürge iſt für die Kraft, es zu erzeugen. Alles, was ich leiſtete, ging über die Grenze des Dilettantismus nicht hinaus, und wenn es Andere hie und da auch freute, mich ſelber befriedigte, mich förderte es nicht. Mein Mißtrauen gegen mich, meine innere Unzufrieden⸗ heit ſteigerten ſich daran. Ich kam mir geiſtig ſo wenig begabt, ſo ungenügend wie leiblich vor, und weil ich dabei doch immer nur an mich ſelber dachte, verfiel ich nicht darauf, daß vielleicht dennoch Gaben und Anlagen in mir zu entwickeln wären, die für An⸗ dere nutzbar werden dürften, und deren Anwendung meinem Daſein in meinen eigenen Augen Werth ver⸗ leihen könne.“
„Und doch meine ich mich zu erinnern,“ bemerkte Konradine, „daß Sie mannigfache Studien getrieben,
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die, auf das praktiſche Leben, ſelbſt bei der Bewirth⸗ ſchaftung Ihrer Güter, angewendet, Ihnen und den Leuten auf denſelben, zu Gute kommen mußten.“
„Freilich!“ entgegnete er, „aber ich entſchloß mich nicht, Verwalter meiner Güter zu werden, weil ich das Leben in ſüdlicherem Klima vorzog, und weil der Beſitz der Güter für mich nur eine zeitweilige Bedeu⸗ tung hatte.“
Konradine wollte wiſſen, was er damit meine.
„Um am Beſitz und vollends an ſeiner Ver⸗ mehrung die eigentliche Beſitzesfreude zu finden, muß man entweder große koſtſpielige Bedürfniſſe, oder Men⸗ ſchen haben, denen man den Beſitz zu vererben wünſcht. Das Beides trifft bei mir nicht zu. Ich habe mehr, als ich für die Befriedigung meiner Gewohnheiten be- darf, und Vermögen aufzuhäufen, um mit demſelben das glänzende Fortbeſtehen eines beſtimmten Geſchlechtes oder, wie in unſerem Falle, vielleicht nur das Fort- beſtehen eines beſtimmten Namens, und für den Haupt⸗ träger dieſes Namens, die Aufrechterhaltung eines Vor⸗ urtheiles zu verewigen, welches die Freiheit ſeines Handelns beſchränkt, dazu bin ich nicht Ariſtokrat genug. Vielleicht bin ich auch ſogar dazu noch zu ſelbſtſüchtig geweſen.“
Er hielt eine Weile inne, Konradine ſchwieg. Es war das erſtemal, daß Emanuel ſich ſo offen und weitläufig über ſich ſelber ausließ, und ſie hütete ſich um ſo ſorglicher, ihn zu unterbrechen, als ſie es einſt ſelbſt erfahren hatte, wie wohlthuend es unter Ver⸗ hältniſſen ſein kann, einmal vor einem Theilnehmen⸗
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den dasjenige auszuſprechen, was man mit ſchmerz⸗ lichem Brüten lang in ſich verſchloſſen hatte.
„Ich glaube, das lange Alleinſein hier auf Ihrer Villa iſt Ihnen nicht gut geweſen, lieber Freund,“ ſagte ſie endlich, um ſeine Mittheilungen wieder in Fluß zu bringen. „Sie find dadurch in ſich ver— ſunken, und das hat für gewiſſenhafte Menſchen im⸗ mer ſein Bedenkliches. Man nimmt es in ſolcher Selbſtbetrachtung mit ſich und ſeinen Schwächen dann
meiſt zu genau. Durch das Mitkroſkop betrachtet, hat
Jeder Etwas von einem Ungeheuer an ſich. Muß doch
ſelbſt unſer Herrgott Gnade oft für Recht an uns ergehen laſſen, um uns aufnehmen zu können in
ſein Reich.“
„Sie ſcherzen, Konradine, das ſteht Ihnen ſehr wohl an,“ entgegnete er ihr, „und ich freue mich, daß Sie dazu wieder fähig ſind. Aber ſelbſt auf die Ge⸗ fahr hin, Ihnen in Ihrer heutigen Stimmung ſchwer⸗ fällig zu ſcheinen, kann ich heut' nicht ſcherzen.“
Sie fühlte den Fehler, den ſie gemacht hatte, lenkte ſofort wieder ein, und Emanuel ließ ſich das gefallen. „Ich finde im Gegentheil,“ hub er danach an, „daß Jeder von uns es nöthig hat, bisweilen mit ſich ſelber allein zu ſein, um, wie die Schrift es nennt, in ſich zu gehen, und Abrechnung, mit ſich zu halten. Ich habe das gerade in den Tagen vor Ihrer Ankunft zu thun Anlaß gehabt; und da ich mir auf die Weiſe klarer in meiner eigentlichen Weſenheit geworden bin, hoffe ich, fortan mein Leben zweckmäßiger zu geſtalten und zu nützen.“
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„Und was hat Ihnen eben jetzt den Anlaß ges boten zu ſolcher Selbſtbetrachtung?“ fragte ſie. | „Die Nachricht, welche ich zuerſt durch Sie erhalten habe und die ſich mir nachher als eine richtige be= ſtätigt hat!“ ſagte er, und machte eine neue Pauſe. Dann, als wünſche er darüber keine weitere Erörterung, fuhr er fort: „Auch eine Erwägung, die meine Schweſter mir vorgehalten, hat mich zu Betrachtungen veranlaßt, welche Einfluß auf die Geſtaltung meiner Zukunft haben werden. Ich habe bisher mich für un⸗ ſelbſtiſch gehalten, weil ich keinen beſonderen Werth auf Geld und Gut gelegt, weil ich keine Neigung ver⸗ ſpürt habe, den Beſitz des Majorates anzutreten, ſtatt mir zu ſagen, daß eben darin meine Luſt an hin⸗ träumendem, müßigem Selbſtgenügen ſich am ent⸗ ſchiedenſten kundgegeben hat. Der Beſitz hat aber nicht nur Bedeutung durch das, was er für unſere eigene Befriedigung möglich macht, ſondern auch durch jenes Andere, was wir mit demſelben für Andere, für Einzelne oder Viele leiſten können; und ich habe in dieſer Nacht, die mir in mannigfachem Sinnen hingegangen iſt, den Vorſatz gefaßt, wenn — wie es leider in naher Zeit vorauszuſetzen iſt — die Majorats⸗ güter an mich fallen, ſie nicht an den Sohn meiner Schweſter abzutreten, ſondern hinzugehen, ihre Ver⸗ waltung zu übernehmen, auf ihnen und an ihren Eingeſeſſenen zu fördern, was der Förderung bedürftig iſt, und ſomit zu verſuchen, ob ich nicht im Leiſten und Schaffen die Zeit einbringen kann, die ich in
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müßiger Sehnſucht nach einem für mich nicht zu erreichenden Glücke habe an mir vorübergehen laſſen.“
Konradine hatte nicht erwartet, daß feine Ge— danken und Entſchlüſſe eben dieſe Wendung nehmen könnten, aber ſie vermochte ſich zu erklären, wie er auf dieſen Weg gekommen war, und die ſchlichte ernſte Redlichkeit, mit welcher er ſich ſelbſt beurtheilte, flößte ihr eine erneute Achtung vor ihm ein. Es war darin Nichts von jener ſelbſtgefälligen Reue, die ſich ſchön⸗ redneriſch kundgiebt, um ſich mit der Verſicherung tröſten zu laſſen, daß ſie gar Nichts zu bereuen habe, ſondern daß ſie ſich bewundern und fremder Bewun⸗ derung ſicher ſein dürfe. Es war die einfache Erkenntniß eines begangenen Fehlers und der Vorſatz, ihn durch eine richtigere Handlungsweiſe auszugleichen. Dagegen war kein beſchönigender Einſpruch zu erheben, und Konradine dachte an einen ſolchen umſoweniger, als die Abſichten Emanuel's auf das Beſte mit den Wün⸗ ſchen der Gräfin zuſammenſtimmten. Nur ein Be⸗ denken hegte ſie, und dieſes bezog ſich auf die Geſund⸗ heit des Barons. Sie meinte, daß er dem nordiſchen Winter auf die Dauer nicht würde widerſtehen können.
Emanuel ließ das nicht gelten. „Sie haben es ja erlebt, wie gut ich ihn ertrug, als Sie mir dort erſchienen,“ ſagte er. „Meine Geſundheit iſt ſeit Jahren feſt genug und wird immer beſſer, je weniger ich Rückſicht auf ſie nehme. Was ich ertragen konnte, weil Liebe und Sorge für ein beſtimmtes Weſen mich achtlos auf mich ſelber machten, das werde ich ebenſo ertragen können, wenn die Zuneigung und die Sorge
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für eine ganze Gemeinſchaft mich an den Norden feſſeln. Wenn ich auch der Jugend und der Schön— heit auf die Dauer nicht eben liebenswerth erſcheinen kann, ſo meine ich, es ſolle mir gelingen, mir da oben unter den Leuten, die uns lange kennen, lange lieben, eine dauernde Zuneigung zu verdienen. — Im Grunde find wir ja Alle, Jeder nach feiner Weiſe auf Ent- ſagung angewieſen; und Sie felber lehren mich, wie man in derſelben wachſen und ſich erheben kann. Will des Frühlingstages ſchöne Sonne uns nicht leuchten und erwärmen, ſo muß ein tüchtiges Reiſig⸗ feuer uns am Abend ſchadlos halten. Und auch das kann ſchön ſein, kann zum Glücke werden,“ fügte er hinzu, „wenn Freunde wie Sie es nicht verſchmähen, ſich bisweilen an unſeren Heerd zu ſetzen und ſich mit uns an ſeiner Gluth zu freuen.“
Er hielt bei den Worten Konradinen ſeine Rechte hin, ſie ſchlug herzlich ein, ſie ſchüttelten einander die Hände recht als Freunde, und Konradine meinte die urſprüngliche Schönheit ſeines Antlitzes nie ſo klar erkannt zu haben als in dem Augenblicke, da ein ſchwermüthiges Lächeln ſanft über ſeine Züge glitt.
Hulda's erwähnte er mit keiner Sylbe weiter, auch die Frauen vermieden es. Aber ſie bemerkten Beide, daß er einen Ring, von dem alten Familien⸗ ringe nur durch die bedeutungsvolle Farbe des Steines unterſchieden, an ſeiner Hand trug, und ſie wußten ſich zu ſagen, was ihm dieſer Ring bedeute.
Sechszehntes Capitel
—
Man hatte den Greis zur Ruhe beſtattet. Die Kirchenglocken, die ihm ſo oft das Herz erhoben, wenn ſie ihn gerufen, des Herrn Wort vor der Gemeinde zu verkünden, tönten noch durch die Luft und gaben ihm das letzte irdiſche Geleite. Der Todtengräber ſchüttete die Erde über den ſchlichten Sarg, der Küſter und die Schuljugend, die Frauen und die Männer aus dem Dorfe gingen ſchweigend von dem Kirchhofe heim, und wo Zwei bei einander waren, ſprachen ſie von ihrem ſeligen Herrn Paſtor, der ihnen ein getreuer Hirt und Führer, ein treuer Berather und Seelſorger geweſen war, durch all' die langen Jahre und in mancher ſchweren Zeit. Es tröſtete ſie aber Alle, daß er doch in ſeinem Bette geſtorben war, daß er ein ſchönes chriſtliches Begräbniß bekommen habe, und nicht ſo elend umgekommen und zu Grunde gegangen ſei wie die arme ſelige Frau Paſtorin. Nun war Paſtor's Hulda ganz allein.
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Im Pfarrhauſe ftanden die Fenſter in der Kam⸗
mer offen. Das Zimmer, die Flur und die Schwelle,
bis hinaus durch das Gärtchen und hin bis an das Kirchhofsgitter, hatte man den Weg mit Sand und mit gehacktem Tannengrün beitreut. In der Wohnſtube
ſaß der Amtmann auf dem Sopha und ſprach ge—
dämpften Tones mit dem Pfarr-Adjunkten, der noch den Talar anhatte.
Mamſell Ulrike, die gleich herübergekommen war, als man im Amte die Todesnachricht erhalten, und die in der Pfarre geblieben war, weil man doch das Mädchen mit dem jungen Manne nicht allein dort laſſen konnte, Mamſell Ulrike hantierte mit Hilfe der Küſterin eifrig in der Kammer umher, aus welcher man den Greis hinweggetragen hatte. Sie war nun ſchon drei ganze Tage von ihrer Wirthſchaft fort und mußte ſorgen, daß man hier bald fertig ward, denn noch lange vom Hauſe wegzubleiben, hatte ſie nicht Zeit.
Hulda hörte nicht, was der Amtmann und der
Adjunkt beſprachen, ſie bemerkte es auch nicht, wie und
was Ulrike in der Kammer ſchaffte. Sie ſtand am Tenfter und ſah hinüber nach der Stelle, an der fie ihren Vater eingeſenkt hatten. So hatten ſie einſt dageſtanden, der Vater und die Mutter und auch ſie, als die Kunde von dem Tod des Grafen in das Dorf ge— kommen war, und damals war es geweſen, daß ſie zuerft der Nothwendigkeit gedacht hatte, einmal erleben zu müſſen, was ſie heute erlebte.
„Unſer Leben fährt dahin wie ein Traum und wie ein Rauch!“ hatte der Vater damals ausgerufen,
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und Schöne, erhebende Worte Hatte er daran geknüpft. Sie erinnerte ſich ihrer wohl. Er war ſchon damals matt und ſchwach geweſen. Sie wußte es noch ganz genau, wie die Mutter ihn ängſtlich angeſehen, wie ſie fie dann an ihre Bruſt gedrückt, und wie die Vorſtel⸗ lung ſie darauf ergriffen hatte, daß ſie einmal mit der Mutter werde von dem Hauſe ſcheiden müſſen, ſich eine neue Heimat aufzuſuchen. — Mit der Mutter! — Und jetzt war ſie allein, ganz verlaſſen und allein — verlaſſen auch von ihm!
„Wenn er es wüßte!“ rief es in ihrem Herzen und laut aufweinend wider ihren Willen, ſank fie auf. den Stuhl am Fenſter nieder und verbarg ihr Antlitz in den Händen.
Dem Amtmanne ging es nahe, wie er das ſah und hörte. Es war ihm überhaupt ſehr weich um's Herz, und der ſchwarze Anzug, den er nur bei großen Gelegenheiten trug und der ihm ſchon ſeit langen
Jahren viel zu eng geworden war, machte ſein ge⸗
rührtes Unbehagen noch weit ärger.
„Nimm Dich zuſammen, Kind,“ rief er Hulda freundlich zu, „komm' her, genieße Etwas, es hilft ja Nichts, in das Grab kannſt Du Dich doch nicht legen, und es blos zu denken iſt eine Sünde! Sieh nicht dort hinüber, komm' her! Ich bin hier und der Herr Adjunkt iſt hier; und er und ich, wir meinen es gut mit Dir! Komm' her, mein Kind!
„Ich fühl' das ja, lieber Onkel, und ich dank es Ihnen! Und auch Ihnen danke ich für alle die Güte, die Sie mir erwieſen haben, und — für die
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Thränen,“ fügte fie hinzu, indem fie dem Adjunktus
ihre Hand gab, „die Sie auf meines lieben Vaters
Grab geweint haben. Die werd' ich Ihnen nicht ver⸗ geſſen!“ |
„War er mir denn nicht ein Vater? Waren wir denn nicht verbunden durch die Liebe, die wir für ihn hegten, durch die Sorge, die wir um ihn trugen?“ ſagte der Adjunkt. „Ach, es wird auch für mich ſehr einſam ſein hier in dem Hauſe, und ſehr traurig, wenn Sie von hier gehen!“
Sie ſah ihn an, ſein ernſtes Auge ſprach noch mehr als zu ſagen dieſe Stunde zuließ; und ſcheu und ſchüchtern zog ſie ihre Hand zurück, während Ulrike, welche die letzten Worte auch vernommen hatte, g aus der Kammer in das Zimmer trat.
„Es iſt Rath für Alles! Es wird auch für Sie ſchon Rath ſein, Herr Adjunktus,“ meinte Ulrike und ſah mit ihren ſcharfen Augen um ſich her, als könne ſie auch mit den Augen noch in aller Eile Etwas ſchaffen oder thun. „Aber die Hauptſache iſt,“ fuhr ſie fort, „daß die Hulda von hier forkommt, und daß ich in meine Wirthſchaft komme, in der viel nachzu⸗ holen iſt und wo ſie mit Hand anlegen kann. Das wird ihr gut thun, ganz gewiß; das thut Jedem gut, denn leben hilft leben! Und wenn ſie nur erſt eine Nacht in ihrer alten Stube bei uns geſchlafen haben wird, ſo können wir ja ab und zu auch hier wieder nachſehen kommen, und dann wird es ſich ja ſpäter finden, wie es mit ihr wird und wo ſie hin ſoll.“
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Sie hatte das auf ihre Weiſe gut gemeint und ſich alle die Tage hindurch auch gutwillig gezeigt, denn große Unglücksfälle hatten auf ſie immer eine erhebende und für den Augenblick auch ihre Geſinnung reinigende Wirkung, nur daß die Erhebung und Veredlung nicht eben lange währten und daß ſelbſt ihrer Milde noch immer genug Schärfe und Herbigkeit innewohnten, um die Schmerzesäußerung zurückzudrängen und die Thränen gefrieren und verſiegen zu machen, die zu ſtillen ſie gekommen, und die zu trocknen ihr nicht ge⸗ geben war. Aber ſie wußte ſich damit Etwas und
rühmte es von ſich, daß man in ihrer Gegenwart ſich auf das Weinen und Klagen nicht verlege, weil ſie
herzhaft ſei und kräftig, und alſo die Menſchen auch gleich auf herzhafte und kräftige Gedanken bringe. Hulda hatte ſchon am Abende vorher das für ſie Nöthige zuſammenpacken müſſen. Die Trauerkleider, die ſie nach der Mutter Tod getragen, waren noch zur Hand geweſen, und mehr bedurfte ſie ja für das Erſte nicht. Des Amtmanns Wagen ſtand und war⸗ tete, die Pferde wurden ungeduldig. Mamſell Ulrike hing ſich das ſchwarze Tuch um, welches ſie immer umlegte, wenn ſie zu Leichen fuhr. Der Amtmann war auch aufgeſtanden, Hulda's kleines Köfferchen hatte der C hriſtian hinten feſt auf dem Wagen aufgeknebelt. „Nun können wir wohl fort!“ ſagte der Amt⸗ mann, indem er ſeine Uhr herauszog. Hulda ſetzte ihren Hut auf und nahm das Körb⸗ chen in die Hand, in das ſie noch die letzten Stücke eingepackt hatte. Ulrike ging an den Tiſch, auf dem
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die Kuchen und der Wein ftanden, die fie aus dem
Amte zum Begräbniß hatte kommen laſſen und ſah,
wie viel davon noch übrig war. „Verſchließen Sie das doch, Herr Adjunktus!“ rieth ſie, „auch den Kaffee und den Zucker. Im Uebrigen wird die Frau Küſterin ſchon für Sie ſorgen, ich hab' ihr Alles über⸗ geben und angewieſen; und wenn Sie dazwiſchen herüberkommen wollen, das Wetter iſt ja noch immer ſchön, ſo kommen Sie nur. Ein Platz am Tiſch iſt immer da.“
Der Adjunkt dankte ihr, aber ſeine Seele war nicht dabei. Er allein ermaß, was in dem armen Mädchen vorging. Auch er hatte einen Verluſt er⸗ litten in dem Greiſe, deſſen milde, menſchenfreund⸗ liche Geſinnung dem jüngeren Amtsgenoſſen aufklärend und erziehend zu Hilfe gekommen war, deſſen ſchlichte, tiefe Frömmigkeit ihn aus den Feſſeln einer überſtrengen Kirchlichkeit zu befreien und ihn dem Leben in werk⸗ thätiger Duldung zuzuwenden begonnen hatte; und auch er erlebte ein Scheiden in dieſer Stunde, das ihm durch das Herz ſchnitt. Er war es ſo gewohnt, Hulda zu ſehen, auf ihr Gehen und Kommen im Hauſe zu achten, wenn er in ſeinem Erkerſtübchen ſaß; ihre Stimme zu hören, wenn er in das Zimmer zu ebener Erde eintrat. Nun ſollte er das entbehren! Nun ſollte er ſie gehen laſſen und nicht wiſſen, ob ſie wiederkehren, zu ihm wiederkehren würde, um nicht wieder von ihm fortzugehen? Er ſtand neben ihr und ſah ſie an, und folgte ihrem ſchwermüthigen Blicke,
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 14
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der ſich im Scheiden zögernd noch an jeden Platz, an jede Ecke und an jedes Möbel heftete.
„Sie werden es ja nicht vergeſſen!“ ſagte er endlich. |
„Wie könnte ich?“ gab ſie ihm zur Antwort.
„Vergeſſen Sie auch mich nicht,“ bat er. „Den⸗ ken Sie bisweilen meiner, ich werde hier für Alles ſorgen!“ |
„Sie kommen auch wohl bald in das Amt hin= über!“ entgegnete ſie ihm, und er hörte an ihrem Tone, daß ſie darauf hoffte. Er war ja der Einzige, mit dem ſie von dem Vater reden konnte, wie es ihr um das Herz war. Er und er allein hatte mit ihr die Sorge um den Greis getheilt, ſeit ſie wieder in dem Pfarrhauſe weilten, und er allein wußte auch, daß für ſie nun Alles aus und zu Ende war, ſeit ſie den Ring zurückgeſendet hatte. Sie reichten einander und drückten einander die Hände. Ulrike ſaß ſchon feſt in ihrem Wagen, der Amtmann ſtand an dem Schlage. Der Adjunkt geleitete das von ihm geliebte Mädchen ſtill hinaus und half ihm einſteigen, denn die Augen Hulda's ſchwammen in Thränen.
Chriſtian, der auf dem Bocke ſaß, merkte davon Nichts. Er ſchwang die Peitſche in dem unvergleich- lichen, weithin ſchallenden Doppelſchlag, an dem ihn in der ganzen Gegend Jedermann erkannte, die Brau⸗ nen zogen luſtig an, weil es endlich nun nach Hauſe ging. Die Küſterin und die Magd weinten ihre bit⸗ teren Thränen. Im Dorfe traten die Leute unter die Thüre. Es trocknete ſich Mancher ſtill die Augen ab.
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Sie grüßten von rechts und grüßten von links, ſagen that Keiner Etwas.
Der Adjunkt konnte es nicht mit anſehen, daß ſie von dannen fuhr. Er ging in das Haus zurück und in ſein Erkerſtübchen. Da hatte er ſie nie geſehen, da konnte er verweilen ohne ſie. Er ſetzte ſich hin und ſah auf das Meer hinaus und überdachte, was er hier erlebt hatte. Und wie er ſaß und ſann, da fühlte er plötzlich, daß ſeine Gedanken wieder bei ihr waren, und mit Sehnſucht vorwärts blickend, rief er: „Möge ihr Eingang einſt geſegnet ſein, wenn der Herr, der mir gnädig geweſen iſt bis auf dieſe Stunde, ihr Herz alſo lenkt, daß ſie wiederkehrt in dieſes liebe Haus!“
Er blieb den ganzen Abend ſtill bei ſeinen Büchern ſitzen, und war zufrieden, daß ihn Niemand ſtörte, daß er traurig ſein durfte nach Herzensluſt.
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Hiebenzehntes Capitel.
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Das Stübchen, welches Hulda in dem Amte inne⸗ gehabt hatte, ehe man ſie zu Miß Kenney hinüber⸗ genommen, ward wieder für ſie aufgethan; man ſchaffte ihre Sachen ſchnell hinein. Sie ſollte ſich nur Alles gleich zurechte machen, ſagte die Mamſell, danach ſolle ſie dann zu ihr kommen, und ſie wollten weiter zuſehen. | Das Einrichten war bald beſorgt. Sie war leicht damit fertig, denn ſie war ſo unglücklich, daß ſie auf ihr äußeres Behagen keinen Werth legte und Nichts empfand, als daß ſie eben lebte und leben mußte. Dazu hatte Hulda ſeit der Mutter Tod allein ihr Haus verſorgt, und weil ſie in dieſem Augenblicke keinen eigenen Wunſch und kein Verlangen hatte, war ihr jede Arbeit recht und lieb, welche ihr dazu ver⸗ half, an jedem Tage die Stunden deſſelben zu über⸗ winden.
Mamſell Ulrike ſah das gern. Sie fand, daß dem Mädchen die Arbeit jetzt ganz anders als vordem von Händen gehe, nur daß Hulda gar ſo ſtill war,
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das gefiel ihr nicht und gefiel ihr mit jedem neuen Tage weniger. Sie mochte nun einmal keine Men⸗ ſchen um ſich haben, die nicht bei ihrer Arbeit redeten, ſie mißtraute Denen ſogar ein- für allemal, die ſo ſchweigend und in ſich verſunken herumgehen konnten, denn ſie wußte das aus eigener Erfahrung: gute, offenherzige Menſchen haben immer das Herz auf ihrer Zunge ſo wie ſie. Was hatte Hulda denn auch zu verſchweigen? Daß ſie traurig war, das ſah man, das konnte ſie auch einem Jeden ſagen. Sie war in⸗ deſſen, wer weiß wie lang, auf ihres Vaters Ende vor— bereitet geweſen, und es war ein großes Glück zu nennen, daß er endlich noch entſchlafen war, ehe ſein Augenlicht ihn ganz verlaſſen hatte. Um den Baron konnte ſie ſich jetzt doch auch nicht mehr ſo härmen, da er ſie vergeſſen hatte und auf dem Punkte ſtand, ſich eine Frau zu nehmen, wie ſie ihm gebührte. Hulda konnte es jetzt ja deutlich ſehen, daß es ihm nie Ernſt geweſen war mit ihr. Wenn ſie ſich aber etwa Hoffnungen auf den Herrn Adjunktus machen ſollte, ſo war das wieder einzig ihre Schuld. Der Adjunktus konnte doch unmöglich daran denken, ſie, über die hierorts und rundherum ſoviel geredet mor- den war, zur Frau zu nehmen. Das lag ja Alles auf der Hand, das mußte Jeder ſehen, wie Mamſell Ulrike meinte. Und weil ſie, wie ſie gleichfalls meinte, ein ganz redliches Gemüth war, ohne Falſch und ohne Hinterliſt, ſo brauchte ſie auch kein Blatt vor ihren Mund zu nehmen, und durfte unumwunden ſagen, was ſie dachte.
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Kein Tag verging deshalb, an welchem fie das Hulda nicht erklärte. Sie waren niemals bei einander, ohne daß die Mamſell ihr vorhielt, wie es nun genug
des Trauerns wäre, und wie ſie ſich tapfer aus dem
Sinne ſchlagen müſſe, was nicht zu ändern ſei. Ein trauriges Geſicht und einen ſtummen Menſchen um ſich und neben ſich zu haben, das gehe ihr gegen die Natur. Vorwärts! das ſei die richtige Parole für Alt und Jung, für Mann und Weib. Vorwärts mit Courage! damit komme man auch vorwärts. „Vorwärts! — Vorwärts!“ Hulda hörte das in einemfort, es war zuletzt das Einzige, was ſie von
Ulrikens Reden hörte, was ſie ſich ſelber ſagte und als
Nothwendigkeit erkannte. Denn dauernd in der quäle⸗ riſchen Nähe der ihr abgeneigten und raſtloſen Mamſell zu bleiben, daran konnte ſie ebenſowenig denken, als an eine Ehe mit dem Pfarr⸗Adjunkten, wenn ihr dieſer ſeine Hand antragen ſollte. Ihr Herz und ihr Ge— wiſſen lehnten ſich gleichmäßig dagegen auf.
„Aber was denn ſonſt?“ fragte ſie ſich oftmals. Was thun? Was beginnen in der Welt, die ihr ſo fremd und eben deshalb ſo troſtlos leer und weit erſchien.
Sie ging in mancher nächtlichen Stunde, die ſie bang durchwachte, alle ihre Möglichkeiten durch. Sie hatte mancherlei Kenntniſſe erworben; der Vater ſo⸗ wohl als Miß Kenney hatten ihr oftmals wiederholt, daß ſie im Stande ſei, als Lehrerin in guten Familien ihren Platz mit Ehren auszufüllen. Aber ſolch eine Stellung fand ſich ja nicht gleich, und — darüber hatte ſie ſich auf die Länge nicht verblenden können —
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hier in ihrer Heimat Stand ihr ein Vorurtheil im Wege, dem ſie nicht entgegenzutreten wußte. Man hatte ſie verdächtigt, ihr guter Name war angegriffen, und wenn ihr Bewußtſein ſie auch freiſprach, ſie hatte in den letzten Jahren durch die lächelnden Mienen, durch die thörichten Fragen und die unvernünftigen Anſpielungen der wenigen Frauenzimmer, mit denen ſie zuſammengekommen war, ſchon genug gelitten. Sie ahnte es ſeit lange, daß Ulrike ganz allein dieſe Zweifel an ihrer Sittlichkeit erregt haben konnte, und ſie mochte nicht in einer Umgebung bleiben, in wel⸗ cher ſie ſich gegen ein heimliches Uebelwollen unab⸗ weislich zu vertheidigen hatte. Aber wohin? an wen ſich wenden? von wem den Rath begehren, den Bei⸗ ſtand fordern, deren ſie ſo ſehr benöthigt war. Sie ſtand immer wieder vor derſelben bangen Frage.
Sie dachte daran, daß die Gräfin es zu ver⸗ ſchiedenenmalen den verſtorbenen Eltern zugeſagt hatte, ſich ihrer anzunehmen. Die Gräfin hatte es auch dem Amtmann, als dieſer ihr des Pfarrers Tod gemeldet, ausdrücklich wiederholt, daß ſie ihre Hand von Hulda nicht abzuziehen denke, daß dieſelbe ihre Wünſche nur auszuſprechen habe, und daß ſie gerne bereit ſei, ſich für ſie um ein Unterkommen zu bemühen, wenn Hulda vielleicht die verſtändige Abſicht hegen ſollte, im Aus⸗ lande als Gouvernante ſich eine Stellung zu erwerben. Aber in des armen Mädchens Seele erweckte dieſes Anerbieten Nichts als einen Mißton. Denn eben von der Gräfin irgend einen Beiſtand zu begehren, dazu hätte ſie in der größten Noth ſich kaum entſchloſſen.
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Sie wußte, was die Gräfin damit meinte, wenn ſie ſie auf das Ausland hin verwies, und doch durfte man ſich, wie Hulda meinte, wohl darauf ver- laſſen, daß ſie Ehrgefühl genug beſaß, ſich von dem Manne fern zu halten, der ihr zu begegnen nicht mehr wünſchen konnte. Sie hatte ihm ja unaufgefordert das Liebespfand zurückgeſendet, mit dem er ſich ihr einſtmals anverlobt.
Sie kannte ſich oft ſelbſt nicht wieder, wenn ſie in ihrer Einſamkeit mit ſich zu Rathe ging. Sie wußte nicht, weshalb ſie nicht mehr zu vertrauen, nicht mehr mit ſo gutem Glauben um ſich her zu blicken vermochte. Sie erſchrak vor ſich ſelbſt, wenn fie ge= wahrte, wie ſcheu ſie geworden war, ſeit ihres Vaters Haus und Anſehen ſie nicht mehr beſchützten. Sie er⸗ ſchien ſich hier unter den Menſchen, neben denen ſie herangewachſen war, wie verlaſſen, wie fremd und aus⸗ geſtoßen; und während dieſe Gefühle ſie ängſtigten und quälten, kam es ihr wie die einzige Rettung vor, von hier fortzugehen, an einen anderen Ort, an wel⸗ chem ſie zwar noch fremder, noch verlaſſener ſein mußte, aber an dem ſie nicht wie hier, immer nur an ſich zu den⸗ ken hatte, immer nur das Gleiche ſah und hörte, immer wieder in ſich ſelbſt zurückgewieſen ward. Glück, das gab es für ſie nirgends. Was alſo konnte ſie für ſich begehren, als ihr Unglück und womöglich Alles zu vergeſſen, was ihr Herz bedrückte, ihren Sinn ver⸗ düſterte. Aber — wohin? Und was beginnen und wem ſich anvertrauen? |
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Der Fürſt und die Fürſtin hatten fich ihr im Schloſſe vorzugsweiſe geneigt erwieſen. Clariſſe war überhaupt ihr Ideal. In den wenigen glücklichen Tagen, welche nach Hulda's Krankheit bis zu der Abreiſe des Barons vergangen waren, hatte die Geneſende ſich der Hoffnung hingegeben, die junge Fürſtin werde nicht, wie die Gräfin, ſich ihrer Verbindung mit Emanuel entgegenſtellen, ſie werde ihr es gönnen, von ihm ge⸗ liebt zu werden, ſie werde ihr helfen, ſich auf dem Platze zu behaupten, auf den er ſie zu ſtellen dachte. Ihr Vertrauen in Clariſſen's Herzensgüte war ſehr groß. Erfahren mußte die Fürſtin es jetzt durch ihre Mutter ohne Frage haben, daß der Pfarrer hingegan⸗ gen war, und doch hatte ſie Hulda kein Zeichen ihrer Theilnahme gegönnt. Freilich, der Fürſtin Leben war ſo bewegt und reich. Es gingen in dem beſtändigen Wechſel ihres Aufenthaltes ſo viele Menſchen raſch an ihr vorüber, und ſie war ſo glücklich. Sie konnte es ja nicht ermeſſen, welch ein Segen dem Einſamen, der ſich verlaſſen fühlt, ein Wort des Troſtes werden könne. Sie mochte der armen Pfarrerstochter vielleicht vergeſſen haben, ſie konnte auch, wie ſo mancher Andere, irre an ihr geworden ſein, wenn Etwas von den ver⸗ dächtigenden Gerüchten zu ihr gedrungen war, welche der gewiſſenloſe Michael im Schloſſe verbreitet hatte; und von Clariſſe zurückgewieſen, von der Schwelle fortgeſchickt zu werden, die ſie einſt als Angehörige des Hauſes frohen Herzens zu betreten gehofft hatte, vor dieſer bitteren Möglichkeit wollte ſie ſich wenigſtens bewahren. g
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Wie fie nun immer länger auf dieſen Vorſtel⸗ lungen verweilte, traten alle die kleinen Kränkungen, welche ſie in den beiden letzten Jahren von ihren wenigen Bekannten erfahren hatte, in ihrer Erinne— rung ſchärfer und deutlicher hervor, und jene Ver— zagtheit, welche faſt noch ſchlimmer iſt als das Unglück ſelbſt, bemächtigte ſich ihrer. Sie fing an, ſich ihres Unglückes zu ſchämen. Sie ſchämte ſich endlich ſogar ihrer Liebe und der Hoffnungen, welche ſie dereinſt auf ſie gebaut hatte. Sie konnte es nicht aushalten, wenn man ſie anſah, weil ſie meinte, man wolle ſich überzeugen, wie ſie ſich in die Zerſtörung aller ihrer Lebensausſichten zu ſchicken wiſſe. Sie mochte dem Adjunkten nicht mehr begegnen, ſo dankbar ſie ſich ihm verpflichtet fühlte, denn ſie konnte ihm nicht lohnen, wie er es wünſchte. Kurz Alles, was ſie ſah und hörte und was ſie hier umgab, ward ihr zur Pein, und das Verlangen, zu vergeſſen und vergeſſen zu werden, und an einen Ort zu kommen, an dem Nie⸗ mand von ihr wußte, wurde immer überwältigender in ihr.
Darüber ſchwanden die Wochen hin und im Amte fing es an, recht luſtig herzugehen. Da die Herr⸗ ſchaften wieder fort waren, hielt der Amtmann mit den Gutsbeſitzern und den Freunden aus der Nachbarſchaft die großen Jagden ab; nach einer Ernte, wie man ſie in dieſem Jahre hierzulande gehabt hatte, brauchte man nicht ängſtlich zu berechnen, ſondern konnte etwas daraufgehen laſſen. Es gab der Gäſte und der Arbeit viel im Hauſe, und es war eine Reihe
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von Tagen hingegangen, ehe Hulda an den Amtmann
die Bitte richten konnte, er möge mit ihr einmal nach
dem Pfarrhauſe hinüberfahren, wo ſie ſeit des Vaters Tode nicht wieder hingekommen war.
Der Amtmann, der ſie nach wie vor gern in ſeiner Nähe hatte, war an dem Morgen beſonders gut auf- gelegt, und wie er denn überhaupt mit ihr zu ſcherzen liebte, ſagte er: „Hält es die Woche über nicht mehr vor? Wir ſind heut' erſt am Donnerſtag und Sonn⸗ tags war ja der Herr Adjunktus hier. Aber mir iſt es nicht zuwider. Fuhrwerk iſt frei und ich hab' auch eben Zeit.“ Damit ſtand er auf, um den Kutſcher. herbeizuſchaffen. Hulda trat ihm in den Weg.
„Onkel,“ ſagte ſie verlegen, „Sie wiſſen es wohl, das habe ich nicht gemeint. Um den Adjunktus war mir es nicht, aber alle meine Sachen ſind noch in der Pfarre.“
„Und Du willſt nach dem Deinen ſehen! Das iſt recht, mein Schatz!“ fiel der Amtmann ihr in das Wort, „das wird dem Adjunktus wohl von Dir ge— fallen.“
„Ich dachte nicht an das Nachſehen, Onkel; ich wollte mir nur von dort herüberholen, was ich für die kalten Tage brauche, und vielleicht ein paar Bücher, und den Nähtiſch von der Mutter, wenn es ſein kann,“ entgegnete ſie ihm, um ihn abzulenken von dem Scherze, der nicht nach ihrem Sinne war. Aber hinter dieſem Scherze verbarg ſich bei dem treuen Freunde ſein voller, gutgemeinter Ernſt, und ihr auf die Schulter klopfend, ſagte er: „Deine Kleider und Deinen Mantel
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und die Bücher, Die wollen wir Dir holen, Schatz! Das Uebrige, das laß Du nur in Gottes Namen ſte⸗ hen. Das hat dageſtanden alle die Jahre lang und wird mit Gottes Hilfe auch die kommenden Jahre dorten ſtehen, wenn ich es auch nicht in Abrede ſtellen will, daß ich und Du — denn Du haſt ja jetzt Dein eigen Geld von Mamſell Kenney her — daß ich und Du nicht hie und da ein neues Stück, eine Wiege oder ſo Etwas, dazwiſchenſtellen werden. Ihr kommt von Vaters Seite aus dem Hauſe her, und es iſt gut und ſchön, daß ſich auch wieder Einer zu Dir gefun⸗
den hat, dem das alte Haus in das Herz gewachſen
iſt, und neben dem Du dort ſicher und in Frieden ſitzen wirft Dein Lebenlang, wie Dein Vater und Deine Mutter dort gewaltet und gelebt haben bis an ihr ſelig Ende.“
Er war, ohne ihr Zeit zu einer Antwort zu laſſen, nach dem Fenſter gegangen, um mit dem Eulenpfiff, den Jeder anf dem Gute kannte, das Zeichen zu geben, daß der Hofmann kommen ſollte, dem es oblag, den Leuten die Befehle des Amtmanns zu übermitteln. Wie er aber das Fenſter öffnen wollte, kam des Ober⸗ förſters Wagen in den Hof. Mamſell Ulrike rief nach Hulda; aus der Fahrt in das Pfarrhaus konnte heute nun Nichts werden, und dem Mädchen war das lieb und recht. Es mochte gar nicht daran denken.
Wie eine Laſt, unter der ſie ſich nicht regen konnte, wie eine ſchwere Angſt waren des Amtmanns gut⸗ gemeinte Worte: „Dort wirſt Du ſitzen Dein Leben⸗ lang“ auf Hulda herniedergefallen. Alle die langen,
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bangen Tage, alle die ſchweren Stunden, die fie im Pfarrhauſe in den letzten Jahren zu durchleben gehabt hatte, hingen für ihr Empfinden über demſelben wie der Deckſtein eines Grabgewölbes, der ſich nun auch über ſie herniederſenken ſollte. Die Ausſicht, ihr ganzes Leben lang immer und immer an dem kleinen Fenſter zu ſitzen, an dem ſie geſeſſen von früher Kindheit an, immer nur die Kirche vor Augen zu haben und den Kirchhof, und immer Nichts zu hören, als das Wogen und Rollen der Wellen und den ſchrillen Schrei der Möwe, die über die Ufer nach dem Meere eilt, das war ihr entſetzlich. Es ſchnürte ihr das Herz zuſam⸗ men. Es war ihr, als gäbe es hier nicht mehr den Frühling und nicht den ſommerlichen Sonnenſchein, an dem ſie ſich doch ſonſt erfreut hatte. Die unbe⸗ ſtimmte Sehnſucht, mit der ſie ſchon in früher Kind⸗ heit dem Fluge der weit hinwandernden Vögel nach⸗ geſehen, bemächtigte ſich ihrer mit neuer und ſtärkerer Gewalt. Es zog ſie förmlich in die Ferne hinaus aus der Enge und der Bewegungsloſigkeit, die fie hier in Feſſeln ſchlagen ſollten. Und das ſollte das Glück ſein, das größte Glück, auf welches zu rechnen für fie möglich war? Nimmermehr! Die Lebensluſt und Lebensfülle in ihrem Innern empörten ſich dagegen. Es ſtiegen ein Zorn, ein Trotz gegen ihr Schickſal in ihr auf, wie ſie ſie nie zuvor gefühlt hatte.
„Soll ich dazu jung und ſchön ſein,“ dachte ſie, und ihre Wangen erglühten vor Scham, wie ſie ſich Das eingeſtand, „dazu jung und ſchön ſein, um hier in grauer, träger, freud⸗ und hoffnungsloſer Einſamkeit
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ein Daſein zu vertrauern? Und ſoll ich Liebe heu— cheln, einen braven Mann betrügen, einen Meineid ſchwören, um mir dies traurige Geſchick erſt zu erkau— fen? — Nimmermehr!“
Sie wendete, ohne zu überlegen, was ſie that, ihr Antlitz nach dem Spiegel hin, es ſtrahlte ihr in dem hellen Scheine der Nachmittagsſonne leuchtend aus demſelben wider. Ihre blonden Flechten ſchim⸗ merten wie Gold. „Ein Käthchen, wie es im Buche ſteht!“ hatte der Theater⸗Direktor gejagt, al er ſie bei Gabriele angetroffen hatte.
Sie wußte nicht, wie grade dieſe Worte ihr eben jetzt mitten in ihrer Traurigkeit in den Sinn kamen, aber ſie klangen ſo deutlich in ihr wieder, als hätte ein Anderer ſie in ihrer Nähe ausgeſprochen, und Alles, was an jenem Morgen geſchehen war, an wel⸗ chem ſie dieſelben von des Direktors Mund vernom⸗ men, wurde mit einmal in ihr lebendig.
Sie ſah Gabriele wieder vor ſich auf der Bühne, in all ihrer Erhabenheit, getragen von der Bewunde⸗ rung jenes Publikums, das mit athemloſer Freude zu ihr emporblickte; ſie war wieder bei ihr in dem trau⸗ lichen Gemach, in welchem an dem kalten Winter⸗ morgen die ſchönſten Blumen ſie umgaben. Sie ſah Briefe ankommen von hier und dort, ſah wieder den Direktor mit einſchmeichelnder Huldigung als Bittenden vor der ſelbſtgewiſſen, heiteren Künſtlerin erſcheinen. Die prächtigen Koſtüme, welche die Kammerfrau durch das Zimmer trug, die werthvollen Schmuckſachen, die zierlichen Kleinigkeiten, die auf den Tiſchen umher⸗
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gelegen hatten: fie erinnerte ſich jedes einzelnen Stückes. Auch der Verhandlungen, welche zwiſchen dem Diref- tor und der Künſtlerin gepflogen worden waren, ent- ſann ſie ſich genau. Gleich damals hatten ihr die Hindeutung auf die Reiſen, auf den Ortswechſel, die Gabrielen bevorſtanden, das Herz vor Sehnſucht nach gleichem Glücke ſchlagen machen; und wie ſie nun wie⸗ der daran dachte, klang ihr des Amtmanns wohl- gemeintes: „Dort wirſt Du ſitzen Dein Lebenlang,“ immer in dem Pfarrhauſe, immer an derſelben Stelle, wie der härteſte Bann, der über eines Menſchen Daſein ausgeſprochen werden konnte, wie der böſe Fluch einer feindlichen Fee, der das Leben- dige in Stein verwandelt und zur Unbeweglichkeit verdammt.
Wer aber zwang ſie denn, ſich ſolchem Fluche ohne Widerſtand zu unterwerfen? Sie hatte ihrem Vater gehorſamt, ſo ſchwer ihr es angekommen war. Ihre Jugend, ihre Liebe, ihre Ausſichten auf das er— ſehnteſte und neidenswertheſte Glück hatte ſie ihm ſtill geopfert. Jahre des Schmerzes und der hoffnungsloſen Trauer hatte ſie durchlebt, von denen nur ſie es wußte, wie ſchwer die einzelnen Stunden auf ihr gelaſtet und wie langſam ſie ihr hingegangen waren. Jetzt hatte ſie nicht Vater und nicht Mutter, jetzt hatte ſie nicht die geringſte Hoffnung mehr, dem geliebten Manne zu gehören. Sie war ganz allein, es lebte Niemand, gegen den ſie Pflichten, der an ſie Rechte hatte. Wes⸗ halb ſollte ſie ſich freiwillig in ein Schickſal fügen,
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vor dem ihr graute wie vor einem langen, leidens— vollen Sterben? Nimmermehr!
Gabriele war das einzige Menſchenweſen, vor dem ſie von ſich und ihrer Liebe frei geſprochen, weil ihr warmes, verſtändnißvolles Auge ihr das Herz er— ſchloſſen, weil ihre Güte ihr dazu den Muth gemacht hatte. Sie hatte kein Wort vergeſſen von Allem, was die Künſtlerin ihr damals ernſt und wenig tröſtend zu bedenken gegeben hatte. Es war Alles gekommen, wie die Welterfahrene es vorausgeſehen. Hulda hatte jetzt ſelber ihren Weg zu ſuchen, und wie zu einer jener fernen Leuchten, zu denen der verirrte müde Wanderer ſeine Blicke wendet, richteten Hulda's Ge⸗ danken ſich auf die berühmte Frau.
Gabriele hatte ihr es ausdrücklich erlaubt, ſich an ſie zu wenden, wenn ſie jemals auf ihrem Lebenswege ſich ihres Rathes, ihres Beiſtandes bedürftig fühlen ſollte. Je länger, je feſter ſie ſich die Vorgänge jenes Morgens zu vergegenwärtigen ſtrebte, um ſo unwider⸗ ſtehlicher ſetzte ſich in ihr die Ueberzeugung feſt, an welchen Lebensweg die Künſtlerin für ſie gedacht, zu welchem Zwecke ſie ihr ihren Beiſtand angeboten hatte.
Auf das Theater gehen! Schauſpielerin werden! — Es fuhr blendend und erſchreckend wie ein jähes Licht durch den Sinn der Pfarrerstochter, und doch war ihr die Vorſtellung nicht neu. Tag und Nacht hatte dieſelbe ſie beſchäftigt, als ſie Gabriele geſehen, und vollends, nachdem fie mit ihr den Romeo ges leſen, und den unvergeflichen Morgen in ihrem Zim⸗
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mer zugebracht hatte. Ohne daß fie es gewollt, hatte ſie ſich danach in den langen, einſamen Tagen im Pfarrhauſe es ausgemalt, wie es ihr ſein würde, wenn ſie daſtünde vor den Augen eines ihr huldigenden Publikums. Mit heimlichem Wohlbehagen hatte ſie ſich der kleinen Erfolge erinnert, welche ſie bei den gelegentlichen Darſtellungen im Schloſſe errungen, und oft genug waren ihr die Worte des Direktors ein⸗ gefallen: „Auf das Theater führen alle Wege, wie nach Rom!“
Damals hatte der Direktor ihr mißfallen. Sein ganzes Behaben, die Dreiſtigkeit, mit welcher er ihr entgegentrat, hatten ſie verletzt; indeß, das war im Grunde ihre Schuld geweſen und nicht die ſeine. Was hatte er ihr denn gethan? Ihre Aehnlichkeit mit Ga⸗ briele war ihm aufgefallen. Weil er ſie bei Gabrielen fand, hatte er ſie für eine junge Schauſpielerin ge⸗ halten und ſie darauf angeſehen, welche Bedeutung und welchen Werth ſie für die Bühne haben mochte. Er hatte ihr Aeußeres, auf das ſo viel ankam, exa⸗ minirt, wie ihr Vater das geiſtige Vermögen der Kinder geprüft hatte, welche ihm zum Unterrichte im Chriſtenthume zugeführt worden waren; und ihres Aeußeren, ihrer Mittel hatte ſie ſich nicht zu ſchämen. Sie trat unwillkürlich wieder vor den Spiegel hin, hob das Haupt ſtolz empor, und das Antlitz, das ſie vor ſich hatte, ſtrahlte von einer ſiegreichen Selbſtgewißheit.
Ihre Gedanken gingen mit raſchem Fluge vor⸗ wärts, erhoben ſich zu weitgeſteckten, ruhmgekrönten Zielen, aber mit der Gewiſſenhaftigkeit, a der ſie er⸗
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II.
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zogen worden war, zwang fie fich, in ihren verlocken— den Träumen innezuhalten und, rückwärts blickend, ſich es vorzuſtellen, was jenen Ausſichten und Plänen entgegenſtand, in denen fie ſich mit freudiger Auf- regung zu wiegen angefangen hatte.
Sie wußte es, wie die Frauen, denen es be— ſchieden iſt, in guten, wohlumfriedeten Familienver⸗ hältniſſen ein ruhiges Daſein behaglich hinzubringen, geneigt ſind, über die dem allgemeinen Urtheile preis⸗ gegebene Bühnenkünſtlerin mit hochmüthiger und kurz⸗ ſichtiger Ungerechtigkeit zu urtheilen. Sie hatte gerade in Bezug auf Gabriele Härten ausſprechen hören, die ihr empörend geweſen waren und gegen welche ihr Vater Gabriele und die Künſtlerinnen im Allgemeinen in Schutz genommen hatte. Er war überhaupt keiner von jenen engherzigen Eiferern geweſen, welche das Theater verurtheilten; er hatte es vielmehr geliebt, und hatte es als berechtigt anerkannt, daß Frauen ſich der Bühne widmen, um jene Meiſterwerke darſtellen zu helfen, an deren Aufführung er ſich noch erfreute, als ſein Augenlicht erloſch und nur ſeines Geiſtes Auge noch klar und hell geblieben war.
Sie hatte an den beiden Abenden, an denen ſie Gabrielen ſpielen geſehen, lebhaft daran gedacht, mit welch prieſterlicher Freude es die herrliche Frau erfüllen müſſe, Tauſenden von Menſchen die Verkörperung und die Vermittlerin der großen Dichterwerke zu ſein. Sie hatte ſich oftmals im Geiſte die erſten Worte des Dialoges wiederholt, mit denen Gabriele in der Auf: führung des „Taſſo“ auf die Bühne getreten war.
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Jetzt zum erſtenmale ſprach fie dieſelben mit lauter, voller Stimme vor dem Spiegel für ſich ſelber aus, und wie der Klang ihr Ohr berührte, ergriff er ſie mit einer fortreißenden Gewalt und erſchütterte er ihr das eigene Herz.
„Ja! ſo dazuſtehen auf der hohen Bühne, die Blicke eines zuſtimmenden, bewundernden Publikums an ſich zu feſſeln, es zu empfinden, wie in Hunderten von Herzen das Schöne, das Erhabene, das die eigene Bruſt mit bebender Begeiſterung erfüllte, wiederklang,
das mußte ein Glück ſein, über das man Alles ver⸗
geſſen konnte — Alles — auch verſchmähte Liebe und gebrochene Treue. — Und wenn er dann daſäße unter den Hunderten, die ihr huldigten und Beifall klatſchten, wenn er ſich dann ſagen müßte: „Und Du haſt ſie verſchmäht und haſt ſie aufgegeben und vergeſſen, weil ſie ihre Pflicht gegen ihren armen alten Vater höher geachtet als ihr eigenes, ach, ſo heiß erſehntes Glück
Sie konnte nicht weiter, ſie ſchlug die Hände vor das Geſicht, es wollte ihr das Herz brechen und ſie mußte bitterlich weinen. Ihr Liebesleid, das ließ ſich nicht vergeſſen!
Draußen fing es inzwiſchen allgemach ſtill zu werden an. Der taktmäßige Schlag der Dreſchflegel verſtummte, und die Dreſcher gingen, mit den ſchweren Holzſchuhen auf dem Pflaſter des Hofes klappernd, noch an Hulda's Fenſtern vorüber nach dem Dorfe. Drüben machten der Hofmann und der Schäfer die Thüren der Scheunen und der Ställe zu, die Eggen
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wurden zuſammengeſtellt, die Wagen neben einander in gerader Linie aufrangirt. Am Brunnen ſcheuerten und ſpülten die Mägde die Gefäße, deren man in den Milchkammern bedurfte. Der Hofmann ging an ihnen vorüber, machte einen Scherz mit der Jüngſten und Derbſten unter ihnen, dann trat er in das Amt, die Schlüſſel in der Schreibſtube aufzuhängen. Oben über Hulda's Zimmer ſtimmte der Wirthſchafter ſeine Flöte, um wieder eine der Melodien zu verſuchen, die klar und rein herauszubringen ihm nun einmal nicht ge⸗ lingen wollte. Das war einen Tag ſo wie den an⸗ deren! Und ein Menſchenleben konnte doch lange Jahre währen und der Tage waren ſo viel in einem Jahre!
Sie lehnte hinträumend am Fenſter. Drüben in dem Schloſſe ſchimmerte nicht mehr der Kerzenſchein wie in jenen glücklichen Tagen, die nicht wiederkehren konnten. Aber durch die kleinen Scheiben ihres Fen⸗ ſters leuchtete das erſte Mondesviertel von dem hellen Himmel freundlich in ihr Stübchen, und ihm zur Seite ſchwamm der ſchöne Abendſtern ſanften Glanzes durch das leichte ſchimmernde Gewölk. Sie konnte ihre Augen nicht abwenden von den milden, tröſtlichen Geſtirnen. |
„Die find treu, die werden mit mir gehen!“ ſagte ſie zu ſich ſelbſt; und wie über ihrem Haupte das ſchwebende Gewölk, jo zogen in kaum merklichem Entſtehen und Vergehen ihr traumhaft die Gedanken durch den Sinn, bis der ſchrille Ton von Mamſell Ulrikens Wirthſchaftsglocke ſie aufſchreckte und an ihre Arbeit rief.
Achtzehntes Capitel.
Der Oberförſter hatte ſich bereden laſſen, die Nacht im Amte zuzubringen, weil ihn gerade Nichts nach Hauſe rief. Er war ein Mann noch in den beſten Jahren, nicht weit in die Fünfziger hinein, war kinderlos und hatte vor einigen Monaten ſeine Frau verloren, ſo daß er froh war, wenn er aus dem leeren Hauſe fort war, in welchem die Fran ihm an allen Ecken und Enden fehlte. Er liebte eine gute Schüſſel, ein gutes Glas, ein freundliches Geſicht; und wenn er dieſe drei Dinge vor ſich hatte, ging ihm leicht das Herz auf.
Der Amtmann und die Mamſell ſahen ihn Beide gern kommen. Er war überhaupt angeſehen in der Provinz, und da er häufig unterwegs und bald in dieſem, bald in jenem Hauſe war, wußte er immer Neues zu erzählen, und zwar von Dingen, von denen in der Zeitung und in dem Amtsblatte Nichts zu finden war. Er und der Amtmann waren gute Freunde von Alters her, er ſtand auch mit Mamſell Ulrike auf dem beſten Fuße. Er nannte ſie ein kluges,
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Icharffichtiges Frauenzimmer, und ihre Schrullen und Launen gingen ihn Nichts an, fie hielt ſich auch vor ihm in Schranken.
Da er ſeit dem Tode ſeiner Frau öfter in das Amt gekommen war, wußte Hulda, was für ihn zu beſchaffen war, und machte ſich daran, es zu beſorgen. Aber war es, daß die Mamſell heute eine andere Ein⸗ richtung im Sinne hatte oder hatte Hulda ihre Ge⸗ danken nicht genug beiſammen, kurz, ſie machte es Jener wieder einmal in keinem Punkte recht. Ulrike warf ihr vor, daß ſie keine Art von Hilfe von ihr
habe, daß ſie Alles ſelbſt bedenken, ſelber leiſten müſſe,
und wenn ſie erſt einmal in das Schelten kam, war ſie in ihrem Eifer nicht gewohnt, ihre Worte auf die Goldwage zu legen. Ihr Mißmuth und ihr Zorn miſchten ſich dann wie Hagel und Regen und fielen peinlich erkältend auf Jeden nieder, der in ihre Nähe kam. | Schon während des Abendeſſens hatte fie Hulda bald offen, bald verſteckt getadelt, und Hulda hatte ſchweigend zu verbeſſern geſucht, was der Erzürnten nicht genehm geweſen war; als aber der Inſpektor und die Wirthſchafter ſich entfernt hatten und die beiden Männer ſich auf dem Sopha zu einander ſetzten, um die Früchte und das Backwerk zu verzehren, die den Nachtiſch bildeten, und bei einer Bowle ihre Pfeife vor dem Schlafengehen zu rauchen, kam das Unwetter von Ulrikens übler Laune ganz zu ſeinem Ausbruche. Sie fand die Goldreinetten nicht blank genug geputzt, das Waſſer kochte nicht genug, die Citronenpreſſe war
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nicht ſauber, der Tabakskaſten und die Fidibus dem
Herrn Oberförſter nicht zur Hand geſtellt. Sie kam
aus dem Verweiſen, aus dem verächtlichen Achſel⸗ zucken, aus dem verzweifelnden Kopfſchütteln gar nicht mehr heraus. Es machte den Amtmann endlich un⸗ geduldig.
„So gib Dich doch zufrieden und laß ſie doch in Frieden!“ ſagte er endlich und hieß Hulda ſich mit ihrer Arbeit an dem Tiſche niederſetzen. Auch der Oberförſter meinte, es ſei ja Alles gut und recht, „und“, fügte er hinzu, „wenn Alles zu Allem kommt, iſt doch ein fröhliches Geſicht noch beſſer anzuſehen, als der allerſchönſte Apfel.“ Er erhob ſich bei den Worten, rückte für Hulda einen Stuhl heran, und zwar an ſeiner Seite, und machte ihr auf dem Tiſche Platz, damit ſie ihr Nähkörbchen unterbringen könnte. So aber hatte Ulrike es nicht gemeint.
„Beſtärken Sie ſie nur in dieſem Glauben, Herr Oberförſter!“ rief ſie höhniſch, „nachher hat Unſereiner es im Hauſe auszubaden. Unordnung läßt ſich nicht weglächeln, und freundliche Mienen und vornehme Manieren helfen in der Wirthſchaft nicht. Da muß man auf den Kern ſehen. — Ich muß doch wohl am Beſten wiſſen, was ich an ihr habe.“
„Aber Schweſter! Schweſter!“ zürnte der Amt⸗ mann, dem es verdrießlich war, daß ſie ſich in des Gaſtes Beiſein in ihrer üblen Weiſe gehen ließ. Hulda erhob ſich, um das Zimmer zu verlaſſen. Der Ober⸗ förſter hielt ſie bei der Hand zurück.
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Er wußte von dem Amtmann, wie es Hulda mit dem Baron ergangen war, er kannte auch das un— nütze Gerede, mit welchem man die Arme in der Um⸗ gegend verfolgte, und weil er ſah, daß Hulda bei Mamſell Ulrike keine guten Tage hatte, war es ihm ein Bedürfniß ihr freundlich zu begegnen. Die gute Art, mit welcher ſie ihre Obliegenheiten erfüllte, die Freundlichkeit, mit der ſie dem im Amte geehrten Gaſte ſtets entgegen kam, hatten ihm immer ein be⸗ ſonderes Vergnügen gemacht. Er fand dazu, wie die meiſten älteren Männer, große Freude an der Jugend,
und er hatte es Ulriken nie verborgen, daß er, ebenſo wie ihr Bruder, viel von Hulda halte und die beſte
Meinung von dem Mädchen habe.
Als nun an dem Abende die Mamſell des Ta⸗ delns und des Scheltens gar kein Ende finden konnte, als ſelbſt des Amtmanns Mahnung ſie nicht zu be⸗ ſchwichtigen vermochte, meinte der Oberförſter ſie mit einem Scherze zur Vernunft bringen zu können.
„Tante Ulrike! Tante Ulrike!“ warnte er, „ſehen Sie ſich vor! Heute dürfen Sie Mamſell Hulda nicht ſo ſchelten, denn heute hat ſie doppelten Suc⸗ curs!“
„Freilich!“ entgegnete Ulrike ſpitz, „darauf ver⸗ läßt ſie ſich ja auch!“
„Und daran thut ſie wohl!“ rief der Oberförſter, immer noch im wohlgemuthen Scherze. Wenn es die Tante Ihnen einmal gar zu arg macht, Mamſell Hulda! ſo gehen Sie ihr davon und kommen Sie zu
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mir. Solch einen guten Hausgeiſt könnte ich jult ge⸗ brauchen, und mir macht man es ſehr leicht zu Dank!“
Das freundliche Wort des wackeren Mannes war dem Mädchen nach Ulrikens beleidigender Härte eine Wohlthat, und die ſchönen ſchwermüthigen Augen auf ihn richtend, ſagte Hulda: „Man thut ja auch ſo herz⸗ lich gerne, was man kann!“
Der Amtmann, der vor ſeinem Freunde weder die Schweſter bloßgeben, noch Hulda Unrecht thun laſſen wollte, meinte: „Du ſollteſt ſie auch wohl ver⸗ miſſen, Schweſter!“
„Ich?“ fragte die Mamſell, in einem Tone und mit einer Miene, die bitterer und ſpöttiſcher nicht ſein konnten.
Des Oberförſters gutes Herz empörte ſich gegen dieſe Härte. Er konnte es nicht mit anſehen, daß man das Mädchen ohne Anlaß ſchlecht behandelte, und einem Einfalle, der ihm durch den Kopf ſchoß, raſch, ohne viel Bedenken Worte gebend, ſagte er: „Ich habe es im vollen Ernſte gemeint, Mamſell Hulda! Hier zu bleiben, das halten Sie auf die Länge ja nicht aus, und bei mir zu Hauſe brauche ich 5 Kommen Sie zu mir!“
Ulrike traute ihren Ohren nicht. Daß man ſich unterfangen wollte, ihrer Herrſchſucht und ihrem Ein⸗ fluß auf des Mädchens Schickſal ſo mit einemmale ein Ziel zu ſtecken, das ſchien ihr eine nicht zu er⸗ tragende Vermeſſenheit zu ſein, und von ihrer zor⸗ nigen Heftigkeit über jede Schicklichkeit und jede Rück⸗ ſicht fortgeriſſen, rief ſie: „Ja freilich, eine junge
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glatte Haushälterin, das iſt fo recht der Herren Ge— ſchmack!“
Der Amtmann fuhr haſtig empor, aber der Ober⸗ förſter trat gelaſſen zwiſchen ihn und ſeine Schweſter, und obſchon er bisher im entfernteſten nicht daran ge⸗ dacht hatte, nahm er Hulda's Hand in die ſeine und ſagte: „Es ſteht in der Bibel geſchrieben: fie ge- dachten es böſe mit mir zu machen, und ſiehe da, ſie haben es gut gemacht! So geht es Ihnen auch, Mamſell Ulrike! Es könnte ja noch Einer oder der Andere auf Gedanken wie die Ihren kommen, und ich
meine es ja gut mit Ihnen, liebe Hulda!“ — Er zog
an dem Kragen ſeines grünen Uniformrockes und knöpfte den Haken auf. Das, was er zu ſagen hatte, wollte ihm nicht gleich ſo kommen, wie er es wünſchte. Er war ja kein junger Mann mehr, und ſie konnte ſeine Tochter ſein; aber heraus mußte es nun doch. Das Mädchen, wie es ſo daſtand, that ihm leid und war ihm herzlich lieb. Endlich gab er ſich den nöthigen Stoß. „Allein bleiben kann ich nicht und will ich nicht,“ ſagte er, „das hab' ich mir von Anfang an ge⸗ ſagt. Ich brauche eine Frau für das Haus und auch für mich. Wollten Sie meine Frau werden, ſo ſollte mir es lieb ſein, und auf mein Wort, zu bereuen ſollten Sie es nicht haben.“
Er fuhr ſich mit der Hand über das ganze Ge⸗ ſicht, um es nicht merken zu laſſen, daß ihm die Augen feucht geworden waren; und weil Keiner der Anweſen⸗ den, ja er ſelber nicht, eine ſolche Erklärung vorausgeſehen hatte, wußten ſie im erſten Augenblicke ſich ſammt und
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ſonders nicht zu fallen. Der Amtmann ſchlug, ohne zu ſprechen, dem Freunde mit derbem Schlage auf die Schulter, als habe er an ſeinem männlich entſchloſſenen Vorgehen Freude. Ulrike war blaß geworden und preßte die ohnehin ſchmalen Lippen noch feſter auf⸗ einander, und Hulda, die im erſchreckten Staunen die Hände wie die Jungfrau auf den Bildern der Ver⸗ kündigung über die Bruſt gefaltet hatte, ſagte mit ge⸗ rührter Stimme leiſe Nichts weiter als: „Lieber Herr Oberförſter!“
Indeß die drei Worte brachten doch wieder Leben in ſie Alle, und der Oberförſter, dem das ſchöne Mädchen nie ſo ſchön wie eben jetzt erſchienen war, und dem ſein Wohlgefallen an demſelben das Herz raſcher und wärmer ſchlagen machte, als er es ſeit lange gewohnt war, rief, Hulda nachſprechend: „Lieber Herr Oberförſter! Lieber Herr Oberföriter! Was will das ſagen, Kind? Heißt das ja? Heißt das nein? Sag' es rund heraus!“ |
Hulda ſah ihn an, wollte ſprechen, ſchwieg aber dennoch und reichte ihm die Hand. Ihre Lippen bebten, man ſah, ſie rang einen ſchweren Kampf mit ſich. Ulrikens Blicke hingen lauernd an jeder ihrer Mienen. Die bloße Vorſtellung, daß ſie Hulda, des Pfarrers Tochter, Simonenen's Tochter, als Frau des Oberförſters vor ſich ſehen, daß ſie dieſem Mädchen, wo immer ſie es künftig treffen würde, in der Kirche oder bei Taufen und auf den Gütern in der Nach⸗ barſchaft, den Vortritt laſſen ſolle, brachte ſie ganz außer ſich.
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„Alſo ja?“ rief der Oberförſter, und ſchlang ſeine beiden kräftigen Hände um des Mädchens Rechte. Aber Hulda ſchüttelte leiſe das Haupt, und die Augen zu dem ſtattlichen Manne erhebend, ſagte ſie mit einer Stimme, deren Ton feſter wurde, während ſie ſprach, und deren Wahrhaftigkeit etwas Ueberwältigen⸗ des hatte: „Ich fühle es ja, wie gut Sie ſind; bis in das Herz geht es mir, wie gut Sie es mit mir meinen, und ich werde es Ihnen nie vergeſſen, aber ich kann nicht, ich kann es nicht, Herr Oberförſter!“
„Natürlich nicht!“ ſtieß Ulrike mit ſchlecht ver⸗
hehlter Genugthuung hervor. „Es iſt ja kein
Baron!“
Der Oberförſter hatte ihre Hand losgelaſſen.
„Das thut mir leid für Sie und mich!“ ſagte er feſt, aber man hörte es ihm an, daß er die raſch ent⸗ ſtandene Hoffnung ungern ſchwinden ſah und daß es ihm, dem älteren und angeſehenen Manne, ſehr em⸗ pfindlich war, ſich in ſeines Freundes und Ulrikens Beiſein alſo abgewieſen und verſchmäht zu ſehen. Der Amtmann fühlte ihm das nach. Er wollte begütigen, und da ihm das Anerbieten des Freundes in jedem Betrachte der Erwägung werth, ja, ſo weit es äußere Vortheile betraf, der Heirath mit dem künf⸗ tigen Paſtor noch vorziehbar erſchien, denn der Ober⸗ förſter hatte von Hauſe aus ein namhaftes Ver⸗ mögen, ſagte er: „Du haſt ſie überraſcht, mein alter Freund! Sie konnte ſich ja deſſen nicht verſehen. So Etwas will doch überlegt ſein, gönne ihr nur Zeit!“
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Der Oberförſter ſchüttelte abwehrend das Haupt. „Nein!“ entgegnete er, „laß es ſo gut ſein. So Etwas muß man ohne viel Beſinnen thun. Hätte ſie zu mir den Zug und das Vertrauen gehabt, wie ich zu ihr, ſo wäre es gegangen; ohne das geht es nicht, denn ich bin alt und ſie iſt jung. Sie muß das ſelber fühlen, und“ — Ulrikens boshaftes Wort hatte ihn getroffen und ſeine ſchlimme Wirkung nicht ver⸗ fehlt — „vielleicht findet ſich auch noch ein Beſſerer für ſie.“ — Er wendete ſich mit dieſen Worten ab, ſah nach der alten Steh⸗Uhr in der Ecke und meinte, es ſei ſpät, und Zeit zu Bette zu gehen, denn morgen müſſe er in aller Frühe fort.
Es war das freilich gegen die Abrede, indeß wie es nun gekommen war, konnte man ihn zum Bleiben nicht wohl überreden. Der Amtmann nahm den Leuchter, ſeinen Gaſt ſelbſt nach ſeinem Zimmer zu ge⸗ leiten, Ulrike nützte auf ihre Weiſe das Alleinſein mit dem Mädchen. Sie warf es Hulda vor, die älteſten Freunde des Hauſes durch ihre Gefallſucht dem Hauſe zu entfremden; ſie that und ſprach, als wären der An⸗ trag und die beabſichtigte Heirath durchaus nach ihrem Sinne geweſen. Sie fragte, worauf Hulda denn warte oder was ſie von ſich denke, und prägte es ihr mit ſchneidendem Spotte ein, wie ſie nun wieder ſich einen neuen Feind geſchaffen habe, wie der Ober— förſter ihr das ganz gewiß gedenken werde. Jetzt dürfe ſie nun vollends nicht mehr darauf rechnen, hier in dieſer Gegend Aufnahme in einer auch nur halb⸗ wegs angeſehenen Familie zu finden, und daß der
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Amtmann ſie jetzt nicht hier behalten könnte, wenn er es ſelbſt wollte, das ſei doch ſonnenklar.
Hulda vertheidigte ſich mit keinem Worte. Sie ging auf ihr Zimmer und ſchrieb die halbe Nacht. Dann ſteckte ſie den Brief in die Ledertaſche des Knechtes, die in der Schreibſtube hing und die der⸗ ſelbe am Morgen mitzunehmen hatte, wenn er bei Tagesanbruch zum Wochenmarkte in den nächſten Flecken fuhr.
Wie ſie ſich dann niederlegen wollte, waren die Sterne und der Mond, die ihr am Abende fo tröft- lich geweſen waren, lange ſchon am Horizont nieder⸗ geſunken, aber es waren dafür andere ihr ebenſo ver⸗ traute Sternbilder emporgekommen, und ſie ſagte ſich: „Die gehen ſeit aller Ewigkeit die ihnen von Gott be⸗ ſtimmte, immer gleiche Bahn, der Allweiſe wird auch mir die meine vorgezeichnet haben. Wenn die Ant⸗ wort auf mein Schreiben ausfällt, wie ich es erwarte, ſo ſoll mir das ein Zeichen ſein, daß ich auf dem rechten Wege bin, und ich will ihn dann, mein Ziel im Auge, in Gottes Namen freudigen Herzens gehen!“
Neun zehntes Capitel.
Der Aufenthalt in der Villa ihres Bruders ſagte der Gräfin mehr als früher zu. Seit dem Tode ihres Gatten hatte ihr Lebenskreis ſich doch mehr verengt, ſie kam allmälig auch in die Jahre, in denen das un⸗ ruhige Geſellſchaftstreiben der großen Welt ihren Reiz für ſie zu verlieren begann, beſonders weil ſie dort nichts Weſentliches mehr zu ſuchen oder zu fördern hatte, denn ihr Ehrgeiz war immer mehr auf ihre Familien⸗Angelegenheiten als auf eine große perſön⸗ liche Bedeutung gerichtet geweſen. Jetzt war Clariſſe glänzend verſorgt, ihres Sohnes Laufbahn auf dem beſten Wege, und ſeine bevorſtehende Heirath ihren Wünſchen in jeder Beziehung entſprechend. Ihre eigenen Vermögens ⸗ Angelegenheiten befanden ſich in beſter Ordnung, ſie hielt es ſich alſo mit Wohlgefallen vor, daß ſie jetzt keine zwingenden Verpflichtungen mehr habe und mit Behagen feiern dürfe. Indeß ihre nicht zur Beſchaulichkeit geneigte Natur ward durch Nichts ſchneller und leichter ermüdet als eben durch die Ruhe; ſie mußte, wenn ſie dieſelbe ertragen ſollte, mindeſtens
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einen Plan haben, deſſen Durchführung ihr nicht zweifellos erſchien, der ihr das Gefühl des Beſchäftigt— ſeins, und ſie damit in der Ausſicht auf einen bevor⸗ ſtehenden Erfolg erhielt. Das Alles aber bot ihr dies— mal das Beiſammenſein mit ihrem Bruder und mit Konradinen.
Sie fand in ihnen eine ihr in jedem Betrachte erfreuliche Geſellſchaft, und der Wunſch, dieſe Beiden mit einander zu verbinden, hielt ſie in einer ihr an⸗ genehmen Spannung. Er erheiterte ſie oder gab ihr ſorgend zu denken, je nachdem die Ausſicht, ihn erfüllt zu ſehen, ihr näherzurücken oder fernerzutreten ſchien.
Im Hinblicke auf dieſen Zweck waren ihr die Mittheilungen, welche ihr der Amtmann über Hulda's Ausſichten gemacht hatte, ſehr angenehm geweſen, und ſie hatte, da ſie nach einem Uebereinkommen mit ihrem Sohne, die Verwaltung jener preußiſchen Familien⸗ güter auch ferner in der Hand behielt, die Ernennung des Adjunkten zu dem Pfarramte unter den von ihm gewünſchten Bedingungen ſofort vollziehen wollen. Aber ihre Erfahrungen hatten ſie zurückhaltend ge⸗ macht.
Sie kannte die Menſchen ebenſogut als Kon⸗ radine; ſie wußte, wie man ſie behandeln müſſe, ſich ihres Dankes zu verſichern, und war es deshalb nicht gewohnt, durch zu raſches Handeln und eiliges Ge⸗ währen ihre Gunſtbezeigungen in den Augen Der⸗ jenigen herabzuſetzen, denen ſie zugute kommen ſollten.
Der Adjunktus war in jedem Falle verpflichtet, ſein Amt bis zu dem Ende des laufenden Halbjahres fortzu⸗
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führen, und feine feſte Berufung und Ernennung zu
demſelben gewannen bei ſeinen Heirathsplanen für ihn
offenbar an Werth, wenn er ſie einige Zeit lang für zweifelhaft gehalten und zu erwarten gehabt hatte.
Inzwiſchen wußte die Gräfin des Pfarrers Tochter, deren ſich anzunehmen ſie für ihre Pflicht erkannte, in des Amtmannes Haufe wohl geborgen; dem Ad⸗ junktus ging in der Pfarre auch Nichts ab, und ihre Guts⸗Inſaſſen waren nach des verſtorbenen Pfarrers wie nach des Amtmannes Anſicht durch den Adjunktus wohl verſorgt. Sie hatte deshalb, als ſie ihrem Sohne, den ſeine bevorſtehende Heirath in dieſem Augenblicke ganz gefangen nahm, einmal von der Angelegenheit des Pfarr⸗Adjunktus geſchrieben, ſcherzend hinzugefügt, ſie wolle den jungen Leuten das ſüße Hangen und Bangen in ſchwebender Pein, nicht allzu ſehr ver⸗ kürzen, da ja für ſolche Leute thatſächlich mit dem Ein⸗ tritte in die Ehe die Lebensmühe beginne und die Poeſie in der Regel ihr Ende finde.
Der junge Graf hatte die Angelegenheit in ſeinem Antwortſchreiben gar nicht der Erwähnung werth ge⸗ achtet. Er war ſeit ſeiner Kindheit nicht in Preußen und auf dem Schloſſe geweſen, des verſtorbenen Pfarrers erinnerte er ſich dunkel, von deſſen Tochter hatte er nur gehört, daß ſein Oheim nahe daran ge— weſen ſei, eine Mißheirath mit ihr einzugehen, jedoch noch rechtzeitig davon zurückgekommen ſei. Ihn küm⸗ merte alſo das Schickſal dieſes Mädchens ganz und gar nicht. Für die Beſetzung des Amtes nach beſtem
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Ermeſſen zu entſcheiden, war die Sache der Gräfin, und dieſe hatte keine Veranlaſſung, weder gegen Konra⸗ dinen noch gegen den Baron, der Vorgänge auf den Gütern beſonders zu gedenken. Kam man einmal zu⸗ fällig auf den letzten Aufenthalt zu ſprechen, den man im Schloſſe gemacht hatte, ſo ging man wie auf Ver⸗ abredung ſchnell darüber hinweg. Es hatte Jedes von den Dreien genug gelebt, um ſich zu ſagen, daß man nicht vorwärts ſchreiten könne, ohne immer und immer wieder einen Theil der Erinnerungen von ſich abwerfen zu müſſen, die uns niederbeugen und zurückhalten würden, wenn wir uns ihnen widerſtandslos über⸗ ließen; und vollends die Gräfin hielt es aufrecht, daß es ganz unmöglich ſei, allen den Menſchen gerecht zu werden, mit denen der Lebensweg den Einzelnen in Berührung bringe. Wie ſie ſich das Recht zuerkenne, Den und Jenen aufzugeben und zu vergeſſen, der ſeine Bedeutung für ſie verloren habe, ſo fechte es ſie ebenfalls keineswegs an, wenn ihr Gleiches wider⸗ fahre. Ja ſie behauptete, es immer als ein Zeichen von Engherzigkeit und von Mangel an Entwicklungs⸗ fähigkeit betrachtet zu haben, wenn Menſchen an einer ſogenannten unglücklichen Liebe oder an den erſten Ein⸗ drücken und Verbindungen ihrer Jugend haften ge⸗ blieben wären. Sich eines unveränderten Weſens, eines Gleichbleibens zu berühmen, heiße Nichts mehr und Nichts weniger, als ſich für eine gering angelegte Natur erklären. Jedes Wachſen eines Organismus bedinge ſchon ſeine Veränderung; je reicher er aber ſei, umſomehr ſei er der Entwickelung und Wandlung
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fähig, und dieſelbe ſei ein Bedingniß feines Fort⸗ beſtehens.
N „Sie ſprechen damit,“ ſagte Konradine, „die Ueberzeugung meiner Mutter aus, nur daß dieſe die Sache in ihrer Weiſe ausdrückte, wenn ſie behauptete, es gäbe gar keine Beharrlichkeit, und es könne keinen Menſchen geben, der verſprechen könne, ſich ſelber oder einem Anderen treu zu bleiben. Deshalb ſei der Eid der Treue, den zwei Menſchen einander vor dem Altare leiſteten, eine Vermeſſenheit und ein Frevel. Und wie ſie denn in ihrer Lebhaftigkeit leicht weiterzugehen pflegte, als ſie ſelber wollte, hat ſie mit den Schil⸗ derungen aller der Ehen, die in gutem Glauben an ein bevorſtehendes Glück geſchloſſen, dies Glück nicht gewährt, und zu Wortbruch und Untreue Veranlaſſung gegeben hatten, mir frühzeitig das Zutrauen zerſtört, mit dem die Jugend eigentlich an das Leben, an die Menſchen, an Glück und Liebe und an alles Gute und Beſtehende glauben muß, um ſich zu ihrem eigenen Heil und zu Anderer Freude harmoniſch zu entwickeln. Ich habe an der Liebe gezweifelt, ehe ich ſie kannte, und — vielleicht hat ſie ſich eben deshalb auch an mir gerächt!“ fügte ſie kurz hinzu.
Nach der geläuterten geſellſchaftlichen Sitte, deren die Freunde ſich zu rühmen hatten, nahm Keines von ihnen das hingeworfene Wort weiter auf. Emanuel jedoch meinte, indem er ſich gegen ſeine Schweſter wendete, er verſtehe ſie nicht in dem, ihrer ſonſtigen Geſinnung nach durchaus auffälligen Zugeſtändniß,
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welches ſie eben heute der Unbeſtändigkeit mache. Er ſei vielmehr gewiß, daß ſie trotz ihrer Verſicherung des Gegentheils höchlich betroffen ſein würde, wenn man ſich die Freiheit nehmen wollte, ihr gegenüber von dem Rechte der Wandelbarkeit, das ſie ſich ein= räume, den entſprechenden Gebrauch zu machen.
„Auf die Gefahr hin, Dir meine Beſte, dadurch wenig entwickelungsfähig zu ſcheinen,“ ſagte er endlich, „bekenne ich Dir, daß für mich, ſeit ich denken kann, in dieſer unaufhaltſamen Wandlung alles Beſtehenden etwas Schmerzliches, etwas Beängſtigendes gelegen
hat, gegen das ich mich nur mit dem Gedanken zu ſtählen vermochte, daß dieſe Wandlung, ſofern keine
Gewaltthätigkeit ihren folgerechten Lauf verhindert, oftmals eine Umgeſtaltung zum Beſſeren, ein Fort⸗ ſchritt auf gutem Wege iſt. Ich erinnere mich ſehr deutlich, wie mich als werdenden Jüngling Schiller's Wort, daß „Alles im ewigen Wechſel kreiſt“ ergriffen, und wie mich ſpäter bei reiferer eigener Erfahrung das Goethe'ſche: „Ach! und in demſelben Fluſſe ſchwimmſt du nicht zum zweitenmal“, gerührt hat. Frage ich mein geheimſtes Inneres, ſo trage ich in
demſelben ein tiefes Verlangen nach Dauer, nach Be⸗
ſtändigkeit deſſen, was mir einmal an Dingen, Men⸗ ſchen, Zuſtänden werth geworden iſt. Mit dieſer Em⸗ pfindung hängt denn auch meine Scheu zuſammen, Gegenden, in denen ich einmal ſehr glücklich geweſen bin, die mir alſo deshalb in einem idealiſchen Lichte vorſchweben, oder Perſonen, die ich als beſonders ſchön gekannt habe, nach längerer Trennung wiederzuſehen.
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Man verliert in ſolchen Fällen gar zu häufig eine Vorſtellung, an der man ſich in der Erinnerung erfreute, und wird in einer ſchmerzlichen Weiſe an die Wandelbarkeit und Vergänglichkeit gemahnt, mit deren Erkenntniß für uns auch nur inſofern Etwas ges wonnen iſt, als ſie uns antreibt, den Augenblick, der unſer iſt, werkthätiger zu benutzen.“
„Du bleibſt eben der liebenswürdige Schwärmer,“ meinte die Gräfin, „dem das Schickſal, wenn es ihm gerecht ſein wollte, die Gunſt ewiger Jugend zuerken⸗ nen müßte —“
„Ach,“ rief Konradine mit einer Wärme, die Emanuel ſehr wohl that, „beſitzt denn unſer Freund in ſeinem ſchönen, weichen Sinne nicht wirklich jene Jugend, die uns Anderen abhanden gekommen iſt?“
„Jung bleiben in einer Welt, in welcher Alles altert, was mit uns jung geweſen tft, das heißt ver⸗ einſamen und gefliſſentlich auf dasjenige verzichten, was die Jahre uns lehren und bringen!“ warf die Gräfin ein.
„Was lehren, was bringen ſie uns denn?“ ent⸗
gegnete Konradine. „Selbſt zugegeben, daß ſie uns klüger machen, was iſt denn damit für unſer Glück gewonnen? Wir werden durch die Klugheit, die ſie uns aufdringen, glaubenslos und mißtrauiſch, werden eng⸗ herziger und ſelbſtſüchtiger. Wir lernen rechnen und berechnen, wägen und erwägen, unſere Vortheile hoch⸗ halten, und kommen mit alledem doch zuletzt nicht weiter, als an jedem Tage die Befriedigung für dieſen
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Tag zu ſuchen und fie gelegentlich auch einmal au er⸗ langen.“
„Das iſt nicht eben wenig!“ gab die Gräfin zu ebenen, „das iſt viel, denn aus Tagen ſetzt das Leben ſich zuſammen.“
„Gewiß, es iſt nicht wenig,“ gab ihr Konradine zu, „indeß es iſt nichts Großes, Nichts, das uns er— freuen kann, ſobald des Tages Befriedigung vorüber iſt. Es iſt das materielle Wohlbefinden, das auf ſolche Art erſtrebt und auch erreicht wird. Aber iſt es denn nicht eine Freude, einmal mitten unter allen Denen,
die nach ſolchem billigen Wohlbefinden trachten, einem Herzen zu begegnen, das den glaubensvollen Traum
der Jugend in ſich feſtzuhalten wünſcht und ſtrebt? das ſich nach der unvergänglichen Dauer des von ihm geliebten Schönen ſehnt, und eine ideale Erinnerung höher hält und achtet, als das Mitgehen und Mitleben in einer nüchternen Alltäglichkeit? Ich wollte, ich ver⸗ möchte zu empfinden wie der Baron. Und ich verſichere Sie, mein Freund, daß ich es in Ihrer Nähe immer mit einer Art von Beſchämung und Rührung empfinde, um wie viel Sie jünger und um wie viel Sie eben deshalb auch vertrauensvoller und beſſer ſind, als ich.“
Emanuel dankte ihr für dieſes Zugeſtändniß, und die Gräfin erhob keinen Einwand dagegen, weil es ihr erwünſcht war, die Beiden auf dem Wege eines ſo guten Einvernehmens anzutreffen. Da ſie ſich je⸗ doch nicht leicht für überwunden zu erklären vermochte, warf ſie das Bedenken auf, ob ſich in dem gefliſſent⸗ lichen Feſthalten an dem ſchönen Scheine der Erinne⸗
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rungen nicht ein gewiſſer Selbſtbetrug, ein muthloſes Zurückſchrecken vor den Bedingungen der harten Wirk⸗ lichkeit verberge, und ob man ſich nicht eben durch jene Verklärung des nicht mehr Vorhandenen, des Ent⸗ fernten, ungerecht gegen das mehr oder weniger Gute und Schöne werden laſſe, welches der Augenblick und die Gegenwart uns zu bieten vermöchten.
„Sich durch die Vergangenheit um den Genuß und die Schaffensluſt in der Gegenwart, und um die Hoffnungen für die Zukunft berauben zu laſſen, wäre gewiß eine große Thorheit,“ entgegnete Emanuel. „Aber mich dünkt, daß man allem Gewöhnlichen und Alltäglichen ſehr gerecht ſein und es nach ſeinem Werthe und ſeiner Bedeutung fortdauernd würdigen kann, ohne darum die Heilighaltung eines Idealen aufzugeben. Man kann in dem Thale, in dem man ſeine Heimat gründet, ſehr zufrieden ſein, und ſchaffen, und ernten, ſelbſt wenn man auf den Gipfeln der Hoch⸗ gebirge reinere Luft geathmet und weiter hinausgeſchaut hat in die Herrlichkeit der Welt. Es iſt ein Unterſchied zwiſchen einem Idealiſten und einem müßig ſchwärme⸗
riſchen Träumer.“ | „Freilich, freilich,“ ſagte die Gräfin mit einem Anfluge von Ungeduld. Denn durchaus nur auf das Poſitive geſtellt, konnte ſie ſich nicht lange mit allge⸗ meinen Betrachtungen beſchäftigen, ohne daß ſie dieſes Allgemeine auf ein Beſonderes, auf ein Perſönliches bezog. Und ſo fügte ſie denn jenem raſchen, zuſtim⸗ menden Ausrufe auch ſofort die Bemerkung hinzu, daß trotz alledem der Idealismus ihr immer und vollends,
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wenn ſie an die Ehe denke, als etwas ſehr Gefähr— liches erſchienen ſei. Wie will denn ein Ehemann, es mit Gleichmuth — um nicht zu ſagen mit der nothwendigen liebenden Ergebung hinnehmen, daß ſeine Gattin altert, an ihrer Schönheit, an ihrer Fri— ſche, an ihrem jugendlichen Frohſinne allmälig Ein⸗ buße erleidet, während er in idealiſtiſcher Empfindung ſich ſelbſt noch immer jung fühlt? Wie könnte eine Frau es ertragen, wenn irgend eine Jugendliebe in ewig unwandelbarer Schönheit und Heiterkeit vor dem jungen Auge ihres Mannes ſchwebte? Und wie müßte es voll⸗ ends auf einen ſolchen Idealiſten wirken, wenn ein
unholder Zufall ihn einmal das einſt geliebte Ideal,
ſeinen Inbegriff der Jugend und der Schönheit, als eine ſehr alltägliche und gealterte Hausfrau wieder ſehen ließe?“ |
Sie hatte es damit auf eine leichte Beendigung der Unterhaltung abgeſehen, aber da es ihr ein- für allemal an jener Harmloſigkeit gebrach, welche einem Scherze ſeine Anmuth verleiht, ſo hatte ſich ihrer Phantaſie ſofort der beſondere Fall ihres Bruders auf⸗ gedrängt, und ſie hatte dies in einer Weiſe kundgegeben, die weder dieſem noch Konradinen einen Zweifel über ihre Meinung laſſen konnte. Sie bereuete das auch ſofort, denn gegen ihre Abſicht und gegen ihr Erwarten nahm der Baron ihre Andeutungen auf, und mit jener ſanften Gelaſſenheit, welche einen Grund⸗ zug ſeines Weſens machte, ſagte er: „Ich habe mich ſelbſt bisweilen gefragt, ob es, wie die Verhältniſſe ſich nun einmal entwickelt haben, mich freuen
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könnte, Hulda wieder zu ſehen, und ich habe mir das verneinen müſſen; nicht etwa, weil ich daran zweifle, daß ſie ſich gleich, ſich ſelbſt gleich bleiben werde, ſon⸗ dern weil ich dazu noch nicht unſelbſtiſch genug und noch über unſer und über mein Verſchulden gegen ſie, und über die Folgen deſſelben für ſie, nicht beru⸗ higt bin.“
„Unſer Verſchulden gegen ſie?“ rief die Gräfin; „ich bin mir keines ſolchen gegen ſie bewußt:“
„Das wundert mich,“ entgegnete ihr Emanuel, ohne ſich von ihrer Lebhaftigkeit beirren zu laſſen. „Ich für meinen Theil erinnere mich ſehr deutlich jenes Gewitterabendes, bald nach unſerer Ankunft auf dem Schloſſe, an welchem zwiſchen uns Beiden zum erſten⸗ male die Rede von der Pfarrerfamilie und von deren Tochter war. Ich hatte Hulda damals eben nur ge⸗ ſehen, aber ihre Schönheit und ihr ſanftes Inſich⸗ beruhen hatten mir die Ueberzeugung gegeben, daß man dieſes, unter eigenartigen Verhältniſſen eigenartig aufgewachſene Mädchen, ſeiner eigenen Entwickelung überlaſſen müſſe. Du aber hatteſt andere Plane für ſie, Plane, mit deren Ausführung es ſchließlich auf Deine und Clariſſen's ſpätere Bequemlichkeit hinaus⸗ lief, und denen gegenüber Du meiner warnenden Bitte, an dieſes Mädchens Daſein nicht zu rühren, dieſe holde Menſchenblume nicht in fremdes Erdreich zu verpflanzen, kein Gehör gabſt. Du wieſeſt meine Warnung mit der Bemerkung ab, daß in der Natur ein- für allemal das Geringere ſich dem Höheren unterordnen, ihm dienſtbar ſein müſſe; und ohne auch nur ein ſicheres
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Urtheil über die Begabung und Bedeutung dieſes Mäd- chens haben zu können, hielteſt Du Dich deshalb für berechtigt, den Eltern mit einer entſchiedenen Gewalt— thätigkeit das freie Selbſtbeſtimmungsrecht über ihre Tochter aus der Hand zu nehmen.“
Emanuel's Bemerkung erzürnte die Gräfin. „Du haſt dabei es nur vergeſſen,“ entgegnete ſie, „daß Du ſelber an jenem Tage mir ausdrücklich ſagteſt, des Mädchens Anweſenheit im Schloſſe würde Dich er— freuen. Auch Dir hatte ich ein Vergnügen durch die⸗ ſelbe bereiten wollen. Im Uebrigen hat Hulda bei uns wie bei der guten Kenney in jedem Betrachte För⸗ derung erfahren. Für ihre Zukunft iſt zudem jetzt ausreichend geſorgt, man kann in Erinnerung an ihren Vater auch weiterhin noch Etwas für ſie thun, und da Du auf das Selbſtbeſtimmungsrecht des Menſchen ſo viel Gewicht legſt, nun! ſo hat ſie ja durchweg nach ihrem eigenen Bedürfen über ſich entſchieden, ſowohl damals, als ſie gegen Deinen Wunſch bei ihrem Vater blieb, wie er es vollberechtigt von ihr fordern durfte, als jetzt, wo ſie nach eigenem Ermeſſen ihre Zu⸗ kunft feſtſtellt. Mein Gewiſſen iſt deshalb ſehr ruhig!“ |
„Ich wollte, ich könnte das auch von mir ſelber ſagen!“ rief Emanuel.
Die Gräfin zuckte ungeduldig mit den Schultern, und um der Unterhaltung kurz ein Ende zu machen, die ihr in Konradinens Beiſein peinlich war, ſagte ſie: „Du beſtärkſt mich mit Deinen reuevollen Sorgen nur in meiner Meinung von der Gefährlichkeit des
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Idealismus. Das Mädchen hat fih einem Manne ihres Standes jetzt verlobt; was konnte es Beſſeres
erwarten?“ Und ſich von ihrem Platze erhebend, meinte
ſie, ſich mit lächelnder Miene gegen Konradine wen⸗ dend: „Wie doch, ſelbſt ein von Eitelkeit ſonſt freier Mann, den Gedanken nicht zu faſſen vermag, daß ein Mädchen ihn vergeſſen und an der Seite eines An⸗ deren glücklich, wahrſcheinlich glücklicher als an der ſeinen werden könne.“
Emanuel hielt ſich an dieſe letzten Worte, und mit einem Ernſte, der gegen den leichten Ton der Gräfin faſt feierlich erklang, rief er: „Gib mir dieſe Gewißheit, Schweſter, und Du wirſt eine ſchwere Sorge von mir nehmen. Denn Du haſt Recht, ich habe mich einer unverzeihlichen, ſelbſtſüchtigen Eitel⸗ keit anzuklagen, wenn ſchon nicht in dem Sinne, in dem Du es vorausſetzeſt!“
Er ſchwieg einen Augenblick und fuhr dann mit dem Freimuthe innerſter Wahrhaftigkeit fort: „Mein Leben lang hatte ich mich nach einer Liebe geſehnt, wie ſie mir in Hulda, ohne all mein Zuthun, wider
all mein Hoffen entgegenkam, wie ich ſie reiner, ſchöner
gar nicht finden konnte. Aber ſtatt ſie zu hegen, zu pflegen, zu ſtützen und groß werden zu laſſen in meines Herzens Obhut, verlangte ich von ihr eine Probe, die zu beſtehen über ihre Kraft ging, überließ ich ſie einem Einfluſſe, der heilige, alte, angeborene Rechte auf ſie geltend machte, und — ich ſtehe nicht an, auch dieſes auszuſprechen — von Konradinens Anweſenheit und ihrem Antheil mehr beſchäftigt und
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geſchmeichelt, als mir zuſtand, von der gewaltigen Leidenſchaft unſerer Freundin falſche Rückſchlüſſe machend auf die Liebesſtärke und Charakterkraft des um ſo viel jüngeren und von ſchwerer Krankheit kaum geneſenen Mädchens, glaubte ich mich in verblendeter Eitelkeit nicht genug geliebt, meinte ich, Hulda ſolle in der Trennung fühlen lernen, was ſie an mir be⸗ ſeſſen habe, und ſich mir früher oder ſpäter in lie⸗ bender Erkenntniß wieder nahen. Daß ſie ſchwieg, daß ihr gekränktes Herz, ihr Ehrgefühl, und wer will ſagen, welcher Einfluß ihres in Abhängigkeit um ſeinen Mannesmuth gebrachten Vaters, ſie zu ſchweigen zwangen — das einzuſehen war ich aus Eitelkeit zu blind, zu eigenſinnig. Erſt, da ſie mirs wortlos den Ring zurückgeſendet hatte, kam mit der vollen Reue über mein Vergehen gegen ſie, die ganze ſchmerzende Erkenntniß des Verluſtes über mich, den ich mir ſelber zugezogen hatte; während doch der Zweifel, ob ſie wirklich vergeſſen konnte, und ob ſie wirklich glücklich iſt, mich bis auf dieſe Stunde nicht verläßt.“
„So lege ihr offen dieſe Frage vor!“ rief die Gräfin, der es immer und überall nur um die Be⸗ friedigung ihrer Angehörigen zu thun war.
„Soll er neue Unruhe, darf er Zwieſpalt in ihre Seele werfen,“ wendete Konradine ein, die mit tiefer Theilnahme dem Gange des Geſpräches gefolgt war, „wenn ſie vielleicht nicht ohne Kampf zum Frieden gekommen iſt? Oder ſoll er trübe Schatten an dem Heiligthume eines Glückes heraufbeſchwören, wenn ſich ihr junges Herz, wirklich geheilt, in froher Liebe einem
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anderen jungen Herzen zugewendet hat? Solche Frage nach ſo langem Schweigen kann gefährlich, kann min⸗
deſtens ſo unheimlich verwirrend und erſchreckend wir⸗
ken, wie die Erſcheinung eines Todtgeglaubten!“ „Das iſt es! Das iſt es, was ich mir ſage, und was mich hindert, ihr jene Frage vorzulegen!“ rief Emanuel mit lebhafter Bewegung aus. „Ich habe mein Recht an ſie verſcherzt, ich darf mir nicht er⸗ lauben, jetzt mit einer Frage vor ſie hinzutreten, die neuen Zwieſpalt in ihr Leben bringen könnte. Aber die Stunde, in welcher ich fie wiederſehen, fie glück⸗ lich auch an eines Anderen Seite wiederſehen würde, dieſe Stunde würde ein ſchmerzliches Gefühl der Reue von mir nehmen; und wenn dann auch an ihr der Lauf der Jahre nicht ohne Spur geblieben wäre, wenn ſie nicht ausgenommen wäre von dem Geſetze, dem wir Alle unterliegen — mir, ich ſchäme mich nicht, es auszuſprechen, mir wird ſie unverändert in der
Seele leben als die leuchtende Göttin der Aehren,
wie ich ſie zuerſt geſchaut, als ein Ideal der unent⸗ weihten, friſchen Jugend, und ich werde es ihr nicht
vergeſſen, daß ſie mich geliebt hat!“
Er ſtand mit dieſen Worten auf und verließ das Zimmer. Konradine ſah, daß er im Hinausgehen mit der Hand die Augen trocknete. Auch ihre Augen waren feucht geworden. Er war ihr nie werther geweſen, ſie hatte ihn nie höher gehalten und lieber gehabt, als in dieſem Augenblicke.
„Wie Wenige gibt es, die ihm gleichen!“ ſagte ſie zur Gräfin.
— — en
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„Ich wollte zu ſeinem Heil und zu dem unferen, daß er anders wäre!“ entgegnete ihr dieſe, unmuthig ſeufzend. „Er wird die Menſchen und die Welt nie kennen lernen wie ſie ſind, und eben dadurch nie zu jenem mäßigen, aber geſunden und dauernden Be⸗ hagen kommen, das die bedingten irdiſchen Zuſtände doch allein ermöglichen. Er an leiden und leiden machen, ſo lange er nach dem Idealen, Abſoluten ſtrebt; gleichviel ob er es für ſich, für einen An⸗ deren oder für das Allgemeine fordert.“
„Um ſo mehr hat er ſelbſtloſer Liebe, ſelbſtloſer
an nöthig, ihm Wirklichkeit und Ideal auge
gleichend zu vermitteln!“ meinte Konradine.
„So machen Sie ſich ihm zu der Vermittlerin,“ fiel ihr die Gräfin lebhaft ein, „und mein Herz, das mit weit mehr Liebe an ihm hängt, als Sie es viel⸗
leicht glauben, wird dankbar die Stunde ſegnen, in
der Sie ſich dazu entſchließen.“
Konradine blickte ihr feſt in das Auge. Sie ſah, daß die Gräfin ſehr bewegt war, und ernſt wie dieſe entgegnete ſie ihr: „Heute, eben in dieſer Stunde habe ich es gedacht, daß es ein Großes ſein müßte, mit einem Manne wie Emanuel in dem Aether jenes reinen Denkens und Empfindens zu leben, von dem uns im Getriebe des Alltagslebens kaum ein Hauch noch übrig bleibt. Aber mit allem meinem Selbſtge⸗ fühle — oder vielleicht um dieſes Selbſtgefühles willen, und weil ich die Elemente kenne, aus denen es ſich zuſammenſetzte, habe ich mir ſagen müſſen, dazu ge⸗ hört ein anderes Herz als meines, ein weniger ge⸗
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trübter Sinn, als der meine. Emanuel, wie ſeine Zukunft ſich auch geſtalten mag, Emanuel iſt, ſelbſt wo er irrt und fehlt, uns überlegen. Man muß ihn ſeine eigenen Wege gehen laſſen!“
„Und wohin werden ſie ihn führen?“ warf die Gräfin ein.
„Gewiß zu einem ihm gemäßen Ziele.“
„Es liegen jetzt ernſte Pflichten, es liegt gewie- ſene Arbeit vor ihm!“ erinnerte die Gräfin.
„Wenn er es ſich zutraut, ſie bewältigen zu können, wird er ſie ergreifen!“
„Und wenn nicht?“
„Nun, dann hat unter den Millionen, die ſich auf der Erde nach Erwerb begierig und nach Ehre durſtig, jagend drängen, einmal Jemand eine Aus⸗ nahme davon gemacht, weil ihn ſein Geſchick der Mühe des Erwerbes enthob, weil ihn frühe Krankheit von der allgemeinen Rennbahn fernhielt. Und wenn er unter dieſen beſonderen Bedingungen ſich zu einem Manne entwickelte, deſſen milder Sinn uns ſtets er⸗ freut, wenn er in ſich den Glauben an das Gute, an das Große, an das Schöne, das Vertrauen zu den Menſchen aufrechtzuerhalten wußte, die verloren zu haben wir Anderen als ein Unglück erkennen, ſollen wir ihn deshalb nicht als einen Glücklichen bezeichnen? Sollen wir uns nicht daran erfreuen, daß er iſt, wie er iſt, und daß wir von ihm beſſer denken dürfen als von uns?“
„Konradine,“ rief die Gräfin, „ſo ſeheriſch und ſo gerecht iſt nur die Liebe.“
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„Ja, die Liebe, die keinen Anſpruch irgend einer Art für ſich erhebt,“ ſetzte Konradine hinzu, ohne durch den Ausruf der Gräfin irgendwie beirrt zu werden, „und ich wollte, theure Frau, auch Sie ließen ihn gewähren, auch Sie verlangten, erwarteten von ihm Nichts für die Förderung Ihrer Zwecke. Um wie viel reiner und inniger würden Sie ſich zu einander finden!“ |
Die Gräfin umarmte fi. Es war ſchon dunkel geworden. Emanuel kam, wie es früher oder ſpäter an jedem Abende geſchah, die Freundin nach ihrer
Wohnung hinüber zu geleiten. Die Gräfin aber fer⸗
tigte noch in derſelben Stunde das Schreiben aus, das dem Adjunktus unter weſentlich verbeſſerten Be⸗ dingungen die frei gewordene Pfarrerſtelle zuſprach; und ſie ſchrieb daneben ihrem Amtmanne, daß ſie ſich der Verlobung Hulda's mit dem Pfarrer aufrichtig er⸗ freue, daß damit der Wunſch des verſtorbenen Pfarrers in Erfüllung gehe, daß man die Hochzeit je eher je lieber feiern möge, und daß eine nicht unbeträchtliche Summe, die zu zahlen fie den Amtmann anwies, als das Brautgeſchenk der Gräfin für Hulda's Einrichtung verwendet werden ſolle.
Zwanzigſtes Capitel.
Das offene Ausſprechen hatte gut gewirkt, denn es hatte fortan die ſcheue Vorſicht, welche Emanuel und die Gräfin ſeit ihrer Wiedervereinigung gegen einander beobachtet hatten, unnöthig gemacht. Ein Jeder wußte jetzt unwiderleglich, was und wie der Andere dachte, man konnte ſich alſo freier, rückhalt⸗ loſer gehen laſſen, und wie Konradinens Neigung für den Freund mit jedem Tage an Wärme und an Zärt⸗ lichkeit gewann, ſo hatte auch der Gräfin Antheil an Konradine ſich erhöht. Sie wußte Weichheit und Hin⸗ gebung in einem ſtarken Frauenherzen wohl zu wür⸗ digen, und da ſie ihren Bruder wirklich liebte, war es ihr eine Freude, ihn ſelbſt in jenen Eigenſchaften, welche ihr als Schwächen an ihm erſchienen, von der ſchönen Stiftsdame verſtanden und gewürdigt zu finden, die ſie jetzt mit Zuverſicht als ſeine künftige Gattin anzuſehen begann.
Es hatte ſich zwiſchen den Beiden auch ein ſchönes Vertrauen herausgebildet. Sie genoſſen mit Be⸗
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 17
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wußtſein eines freien, beſtändig wachſenden Einver⸗ ſtändniſſes, das eben, weil es zwiſchen Perſonen ver— ſchiedenen Geſchlechtes ſtattfand, einen erhöhten, be— lebenden Reiz gewann. Konradine hatte ſich in der Zurückgezogenheit des Stiftes ernſterem Leſen und dauernderem Nachdenken hingegeben, ſie fand daher Freude und zeigte Theilnahme an Emanuel's mannig⸗ fachen Studien, die hinwiederum zu erörternden Ge⸗ ſprächen reichen Anlaß gaben. Während man ſo in müheloſer Muße, in vornehmer Beſchaulichkeit, nur mit einander und mit den eigenen Gedanken und Empfindungen angenehm beſchäftigt, die ganze Herr⸗ lichkeit eines friſchen ſonnigen Spätherbſtes genoß, floſſen die Stunden unmerklich dahin. Die Zeit, welche für Konradinens Aufenthalt an dem See beſtimmt ge⸗ weſen war, nahte ihrem Ende, und ohne daß man es einander eingeſtand, begann man heimlich die Zahl der Tage nachzurechnen, während deren man ſich dieſes beglückenden Beiſammenſeins noch verſichert halten konnte. | |
Aber man meinte noch auf manche ſchöne Stunde hoffen zu dürfen, als ein Brief des jungen Arztes, der den Majoratsherrn und deſſen Gattin nach ihrem gegenwärtigen Aufenthalt im Süden geleitet und dort ſeine Pflege übernommen hatte, die Geſchwiſter des Kranken davon in Kenntniß ſetzte, daß ſie nicht ſäumen dürften, ſich zu demſelben zu verfügen, wenn ſie ihm das Wiederſehen, nach welchem er verlangte, noch be= reiten wollten.
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Man hatte dieſe Kunde an jedem Tage erwarten müſſen, der bevorſtehende Tod des Majoratsherrn hatte in allen Planen der Gräfin ſeinen Platz gehabt, man hatte im Voraus um den drohenden Verluſt des treff⸗ lichen Mannes, des geliebten Bruders oft gelitten und geklagt, es war Nichts in der Botſchaft, das beſtürzen oder irgend Jemanden überraſchen konnte. Aber das Leben ſchreckt immer zuſammen, wenn der Tod an daſſelbe herantritt, und ſo nothwendig iſt für Jeden der Glaube wenigſtens an eine verhältnißmäßige Dauer der Zuſtände, in denen zu exiſtiren ihm leben heißt, daß man Mühe hat, ihr Ende, mag es in langſamer Annäherung oder plötzlich über uns hereinbrechen, zu begreifen, zu ertragen. Die Gräfin war indeß noch ganz beſonders von der Kunde erſchüttert.
„Es ruht ein eigener Unſtern über den Hochzeits- feſten meiner Kinder,“ ſagte ſie zu Konradinen, als dieſe, von Emanuel benachrichtigt, aus ihrer Villa hinübergekommen war, den Freunden in ſolchem Augen⸗ blicke nicht zu fehlen. „Clariſſens Trauung, die wir im Kreiſe der ganzen beiderſeitigen Familien zu feiern gedacht hatten, mußte im Trauerjahre um ihren Vater, an dem Sterbebette ihres Schwiegervaters vollzogen werden; und ſelbſt wenn ich darauf verzichten wollte, der Ceremonie beizuwohnen, wird jetzt meines Sohnes Hochzeit nothwendig einen Aufſchub erleiden müſſen. Man kann es nicht darauf ankommen laſſen, daß er e eben in demſelben Augenblicke den Bund für das Leben ſchließt, in welchem wir den Bruder aus
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dem Leben ſcheiden ſehen. Bei der lebhaften Phan⸗ taſie ſeiner Braut, bei ihrem Zuge zu religiöſem My⸗ ſticismus könnte das leicht einen verwirrenden Ein⸗ druck in ihrem Gemüthe zurücklaſſen, und ſie würde bei all den mehr oder weniger unheilvollen Zufällen, von denen kein Menſchenſchickſal frei iſt, auf ihren Hochzeitstag zurückblickend, an eine üble Vorbedeutung glauben. Davor muß man ſie in jedem Falle be⸗ wahren.“ 5
„Clariſſens Beiſpiel könnte es ihr aber doch be— weiſen,“ meinte Emanuel, „wie wenig das Glück der Ehe von den Umſtänden abhängt, unter welchen ſie eingeſegnet wird.“
„Ja, wenn träumeriſch grübelnde Naturen, wie die ihre, mit Vernunftgründen zu überzeugen wären,“ entgegnete die Gräfin, „oder wenn mein Sohn und ſeine Braut einander im Denken und Empfinden ſo ähnlich wären als Clariſſe und der Fürſt. Aber da meines Sohnes raſche Lebensluſt, ſeine Gewohnheit, die Dinge leicht zu nehmen und das Unbequeme von ſich abzuweiſen, und die Inſichgekehrtheit ſeiner Braut, ihre Neigung zu fürchtenden Sorgen und bangem, ahnendem Verbinden des Zufälligen, ſich einander ſchroff entgegenſtehen, ſo erfordert es die Vorſicht, Alles zu vermeiden, was das Gemüth des lieben Mädchens beunruhigen könnte. Denn daß ich es nur geſtehe, trotz der ungewöhnlichen Gunſt aller äußeren Glücksbedingungen kann ich mich bisweilen der beun⸗ ruhigenden Frage nicht entſchlagen, wie ſo verſchieden geartete Naturen, wenn ſie ſich auch zu einander
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finden konnten, ſich dauernd in einander ſchicken werden.“
„Vielleicht müheloſer als Du es erwarteſt,“ ver⸗ ſetzte Emanuel, „ſofern ſich nur in Beiden Elemente finden, die einander ergänzen und ſich an einander entwickeln können. Wenn Deines Sohnes Frohſinn und Julia's zur Schwermuth neigendes Gemüth ſich mit einander in das Gleiche ſetzen, ſo würde daraus, wenn auch nicht das helle Licht, das über Clariſſens Haus leuchtet, ſo doch ein ruhiges Chiaroscuro ent⸗ ſtehen, in welchem es ſich wie in einer gemäßigten Zone behaglich leben läßt, beſonders wenn der Mann und die Frau, wie dies hier ſicher zu erwarten ſteht, doch Jedes noch ſeine eigene Welt für ſich in Anſpruch nehmen werden. Das gibt dann freilich nicht das allerhöchſte Glück, aber doch jenen mittleren Zuſtand, in welchem die Mehrzahl der Menſchen ſich ſehr wohl behagt.“
Die Gräfin, der ähnliche Sorgen nur ſelten zu kommen pflegten und die es gar nicht beſſer verlangte, als ſie verſcheucht zu ſehen, ſtimmte ihm ohneweiteres bei. Auch Konradine meinte, daß ihr völlige Gleich⸗ heit der Charaktere durchaus kein Erforderniß für das Glück der Ehe zu ſein ſcheine, vorausgeſetzt, daß nur eine Uebereinſtimmung in den ſittlichen An⸗ ſchauungen und in den Hauptforderungen vorhanden ſei, welche man an das Leben ſtelle.
„Und daß der Mann ein ganzer Mann, die Frau in 9 Hingebung ein echtes Weib ſei,“ fügte die Gräfin hinzu, der es aus Vorliebe für das Her⸗
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gebrachte gelegentlich wohl begegnen konnte, derartige Sätze auszusprechen, ſelbſt wenn fie und ihre Eigen— art als Beweis des Gegentheiles gelten durften. Denn Niemand beſaß jene ſogenannten echt weiblichen Eigen⸗ ſchaften, auf die ſie hinwies, weniger als gerade ſie, und doch hatte fie ihren verſtorbenen Gatten ſehr be= glückt und ihre Ehe hatte als ein Vorbild gelten dürfen. | | Auch konnten die beiden Anderen, da ihre Blicke
ſich bei der Gräfin Ausſpruch trafen, das flüchtige
Lächeln ihres Einverſtändniſſes nicht ganz verbergen, und Konradine bemerkte: „Es fällt mir auf, eben von Ihnen, theure Frau, den Glauben an die abſolute Geſchiedenheit der Eigenſchaften in den beiden Ge⸗ ſchlechtern ſo ſcharf hervorheben zu ſehen, da wir doch
fortdauernd von dem Gegentheile die Beiſpiele vor
Augen haben. Ich kenne Frauen, auf welche, neben jenen Eigenſchaften, die wir als die weiblichen zu be⸗ zeichnen gewohnt ſind, ſich unverkennbar ein großer Theil der väterlichen Begabung — und oft auch der väterlichen Züge — fortgeerbt hat. Und ebenſo be⸗ gegnet man ſehr tüchtigen, bedeutenden Männern, aus deren charaktervollem Antlitz uns ein paar Augen mit ſo mildem Glanze an ſehen, aus deren breiter Bruſt uns eine ſo weiche Stimme anſpricht, und in denen Kraft und Weichheit ſich ſo eigenartig miſchen, daß man durchaus behaupten darf, es ſei ein Gemüth, eine Hingebung, ein Liebesbedürfniß und auch eine Liebe⸗ fähigkeit in ihnen vorhanden, wie man ſie herge⸗ brachterweiſe nur den Frauen zuzuſchreiben pflegt.
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Warum ſollten derartig angelegte Menſchen ſich nicht zuſammenfinden, ſich nicht ineinander ſchicken und einander zu ihrem Heil ergänzen können, ohne daß auch nur Einer von Beiden jenes vollendete Bild der Männlichkeit oder Weiblichkeit in ſich darſtellt, das Sie mit den Worten: „ein ganzer Mann, ein echtes Weib“ vorhin bezeichnen wollten?“
Die Gräfin hatte ihr achtſam zugehört. Sie mochte dieſe Anſchauung in Konradinen nicht voraus⸗ geſetzt haben, aber ſie ließ ſie ohne Einwand gelten und verſetzte, dieſelbe nach der einen Seite bekräftigend: „Was Sie von der ungleichen Vererbung der Eigen- ſchaften auf die verſchiedenen Geſchlechter ſagen, an⸗ erkenne ich für meinen Theil unbedingt. Ich habe mehr von meines Vaters als von der Mutter Natur in mir. Auch bei Ihnen möchte man das Nämliche behaupten; während meine Kinder Beide ihrem Groß⸗ vater väterlicherſeits bis in ſeine kleinen Eigenheiten ähnlich ſind, und meinen Brüdern, vor Allen Emanuel, die Gemüthsanlagen und die Gemüthstiefe unſerer Mutter zu Theil geworden ſind. Das ſind Spiele der Natur, und glücklich genug, wenn ſie zu unſerem Heil ausſchlagen.“
Sie erhob ſich mit den Worten und verließ die beiden Anderen, da die Zeit vor der am nächſten Mittage bevorſtehenden Abreiſe noch von mancherlei Anforderungen hingenommen war. Konradine trat auf die Terraſſe hinaus, Emanuel folgte ihr dorthin.
Die Sonne ſtand hoch am Himmel, es war wie im Sommer hell und warm, nur daß die Luft ſich
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erquickender und leichter athmen ließ. Die Roſen blühten noch und hingen in reicher Fülle von den Zweigen des Laurus und von den Aeſten der Feigen⸗ bäume hinab, zu denen ſie emporgeklettert waren, und miſchten ſich dort oben mit der zweiten Fruchtreife. Auch aus dem dunkeln Grün der Cypreſſen, die ſich an den Seiten der Terraſſe hinzogen, ſahen die Roſen leuchtend hervor, und nach dieſen hinblickend, ſagte Emanuel: „Das iſt recht ein Bild der Zuſtände, in denen wir uns jetzt befinden, Roſen von Cypreſſen rings umgeben. Und es iſt doch ſchön, dieſes In— einanderranken von Trauer und Freude, eine die andere ſänftigend, Troſt verheißend und zur Beſcheidung mahnend.“
Konradine folgte ſeinem Blicke, und wie ihre Augen dabei weiterſchweifend die ſchimmernde Fläche des Sees betrachteten, den die ſchneebedeckten Berge in ſich umſchloſſen hielten, ſagte ſie: „Daß wir das Alles morgen nicht mehr ſehen, daß dieſe Schönheit ſchon nach wenigen Stunden für uns nicht mehr vor⸗ handen ſein wird! — Man kann es kaum glauben und man denkt es auch nicht gern.“
„Es waren ſanfte, ſchöne Tage, die wir hier verleb⸗ ten, die wir Ihnen hier verdankten,“ entgegnete Emanuel, „und es geht mir wie Ihnen. Auch ich habe Mühe mir vorzuſtellen, daß ſie nun vorüber ſind. Wir leben uns in das Gute, in das, was uns gemäß iſt, ſo leicht ein. Wie ſpielende Kinder überlaſſen wir uns immer auf das Neue dem Glauben, auf ſicherem Kahn in ruhigem Fluſſe immer weiter fortzugleiten; und plötz⸗
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lich von einer Stromſchnelle gewaltig fortgezogen, ſchrecken wir empor, weil wir uns weit ab von dem Ziele finden, dem wir zugeſtrebt haben, und weil wir wieder einmal die melancholiſche Erfahrung machen, wie wenig Sicherheit des Glücks es für uns giebt.“ „Das Bild, das Sie brauchen,“ verſetzte Kon⸗ radine, „iſt heute auch für mich und meinen Zuſtand ſehr bezeichnend. Ich habe am Morgen einen Brief von unſerer Aebtiſſin empfangen mit einer Nachricht, die meine innere Ruhe angetaſtet hat, und die meinen Planen für die Zukunft und meinen Erwartungen von derſelben wahrſcheinlich ein Ende machen wird.“ Emanuel fragte, was das heißen ſolle. „Sie wiſſen,“ gab ſie ihm zur Antwort, „daß vor einigen Wochen eine unſerer jüngeren Damen, die ſich verlobte, das Stift verlaſſen hat. Heute meldet mir die Aebtiſſin, daß man, Abſtand nehmend von der ganzen Reihe der eingeſchriebenen Aſpiran⸗ tinnen, jene Stelle der Prinzeſſin Marianne, der älteſten Schweſter des Prinzen Friedrich, zugeſprochen hat, und daß dieſe noch im Laufe des Herbſtes ihren erſten Aufenthalt bei uns zu nehmen gedenkt.“ „Und Sie ſcheuen die Begegnung mit ihr?“ „Eine Begegnung mit ihr würde ich leicht er⸗ tragen, aber die Ausſicht auf ein langes, dauerndes, unvermeidliches Zuſammenſein mit ihr, iſt mir nicht willkommen. Dazu unterliegt es keinem Zweifel, daß man ihr dieſe Stelle nur angewieſen hat, um ſie ſpäter zur Aebtiſſin zu ernennen, denn nur in dieſer Vorausſicht wird ſie dieſelbe angenommen haben.
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Sich mit uns Anderen dauernd auf gleiche Stufe hin⸗ zuſtellen, iſt ſie viel zu ſtolz und viel zu herriſch. Damit ſind denn nun die Schritte, welche die Aebtiſſin bei ihrer letzten Reiſe in meinem Intereſſe gethan hat, vergeblich geweſen, und die faſt bindenden Zuſagen, welche ihr höchſtenorts in dem Betracht gegeben worden ſind, natürlich aufgehoben. Man war ſo weit gegangen, mich ſchon im Beginne des nächſten Jahres zu ihrer officiellen Stellvertreterin bei Krankheits⸗ fällen oder ſonſtigen Störungen ernennen zu wollen, und ſie ſchreibt mir, dies zu thun, ſei man auch jetzt noch geſonnen. Natürlich! denn man will der Prinzeſſin für die Zukunft die Mühe und die Arbeit im voraus von den Schultern nehmen; man möchte mich ihr zu einem bequemen Beamten machen. Aber unter den obwaltenden Verhältniſſen paßt dieſe Auf⸗ gabe mir nicht mehr.“
„Haben Sie denn wirklich daran denken können,“ wendete Emanuel ein, „Ihre Zukunft ganz dem Stifte zu weihen, die Angelegenheiten dieſer kleinen Frauengemeinde als Ihre Lebensaufgabe über ſich zu nehmen?“
„Und warum nicht?“ entgegnete ſie ihm. „Ich habe in unſerem Stifte eine feſte Heimat und eine dauernde, zuſammenhängende Beſchäftigung gefunden, zwei Dinge, die ich bis dahin nicht gekannt habe, und die ich auf unſerem eſthländiſchen Gute nicht finden würde, ſo lange — und ich hoffe, es wird lange ſein — ſo lange meine Mutter lebt, die es ihrem Verwalter überantwortet hat, in den ſie mit Recht
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Vertrauen ſetzt. Dazu handelt es ſich, wie Sie willen, bei uns im Stifte nicht nur um die Einkünfte des⸗ ſelben. Es hängen Ortſchaften mit ihren Einwohnern von dem Stifte ab, es iſt eine kleine Herrſchaft, die man dort zu leiten hat, für deren Inſaſſen man ver⸗ antwortlich iſt. Ich habe viele von den Leuten, habe ihre Bedürfniſſe kennen gelernt, konnte perſönlich manche Hilfe leiſten, mancher Ungerechtigkeit begegnen. Ich war gerne in dem Stifte und dachte mit Zuver⸗ ſicht an meine Rückkehr in daſſelbe, an den mir lieb gewordenen Wirkungskreis.“
Sie brach ab, Emanuel ſchwieg ebenfalls; ſo blieben ſie, ihren Gedanken nachhängend, eine geraume Weile neben einander ſtehen, bis er leiſe ſeine Hand auf ihre legte, ihre Achtſamkeit auf ſich zu ziehen. Wie ſie ihn anſah, fiel ihr der Ausdruck ſeiner Mienen auf. Sie fragte ihn, was ihn bewege.
„Ich gehe mit mir zu Rathe, ob ich es wagen darf, Ihnen eine Frage vorzulegen, die ſich mir in dieſer Stunde aufdrängt!“ gab er ihr zur Antwort. Dann hielt er inne, und mit einer ſchüchternen Zu⸗ rückhaltung, die ihm bei ſeinem Ernſte ſehr wohl an⸗ ſtand, ſagte er: „Sie beſorgen, die Ihnen lieb ge- wordene Heimat, den Ihnen gemäßen Wirkungskreis im Stifte nicht unverändert wiederzufinden. Sie fürchten, auf dieſelben aus Gründen, die mir ein⸗ leuchten, vielleicht verzichten zu müſſen. Es ſcheint mir aber, als ob Sie keine weiteren beſonderen Plane für ſich hätten, als ob Sie nicht danach verlangten, in die Geſellſchaft der großen Welt zurückzukehren, in
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welcher Auszeichnungen aller Art Ihnen jetzt noch weniger als früher fehlen würden, und Sie haben es mir zu meiner großen Freude ausgeſprochen, daß unſer Beiſammenſein auch Ihnen lieb geweſen iſt, auch Ihnen wohl gethan hat.“
Er hielt zögernd inne, und mit einer Stimme, in welcher das Klopfen ſeines Herzens hörbar wieder: klang, ſagte er danach: „Ich bin nicht dazu gemacht, Konradine, einer Frau wie Sie, von Liebe zu ſprechen, und meine neueſten Erfahrungen würden mir das be— ſtätigt haben, hätte ich irgendwie im Zweifel darüber ſein können. Dazu haben Sie einen Mann geliebt, mit deſſen glänzenden, fortreißenden Eigenſchaften ich mich in keiner Rückſicht meſſen darf. Aber eine wür⸗ dige Heimat und einen ſegensreichen Wirkungskreis, die kann ich Ihnen bieten auf den Gütern, die mir zufallen, und die ich freudiger übernehmen würde, wenn Sie ſich entſchließen könnten, dort mit mir zu woh⸗ nen; wenn die Gewißheit, einem Manne, der Sie von Herzen hochhält und Ihren Werth mit liebender Bewunderung erkennt, das Leben lieb und zum Ge⸗ nuſſe zu machen, Sie ſchadlos halten könnte für jene Eigenſchaften, die mir fehlen; wenn Sie gewillt wären, wahr zu machen, was Sie heute ſo tief und richtig von den ſich ausgleichenden und einander er⸗ gänzenden Elementen in der Ehe ausgeſprochen haben.“
Konradine hatte Nichts weniger als das erwartet, aber ſeine ernſte Gefaßtheit ergriff ſie, und ihr er⸗ glühendes Antlitz in ihren Händen bergend, rief ſie:
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„Ach! warum haben Sie mir das gerade heute, gerade jetzt geſagt!“ | Er trat erſchreckend von ihr fort, aber ſich ges waltſam faſſend, ſprach er: „Verzeihen Sie es, wenn es Ihnen widerſtrebt. Es ſoll nicht ausgeſprochen ſein. Vergeſſen Sie es, wie ich vergeſſen will, daß ich mehr wünſchte und erſtrebte, als Sie mir ge⸗ währten.“ | „Soll ich Ihrem Mitleid ſchulden,“ rief fie, „was Sie mir ohne daſſelbe nicht zu bieten dachten?“
„Welch ein Wort iſt das! Wie mögen Sie fi und mir alſo wehe thun, wo Sie in ſo hohem Grade die Gewährende ſind? Nicht die Umſtände, welche Ihnen vielleicht die Entfernung aus dem Stifte wün⸗ ſchenswerth machen, es ſind die Gedanken, welche Sie heute als Ihre Ueberzeugung dargelegt, die mich er⸗ muthigt haben, Ihnen mein Wünſchen zu offenbaren, Ihnen meine Hand zu bieten. Nehmen Sie ſie an. Auch jenſeits der glänzenden Erwartungen, auf deren Verwirklichung das Herz der erſten Jugend hofft, iſt Glück vorhanden, wird es für uns, ich hoffe es voll Zubverſicht, vorhanden fein können.“
„Und ich ſollte Ihnen, ſollte der Gräfin den Glauben aufnöthigen, daß ich mit jenen Worten, die ich heut' Gott weiß wie arglos! ausgeſprochen habe, Ihrer oder meiner dachte?“
Emanuel fand in ſeiner Seele für dieſe Be⸗ denken weder Urſache noch Wiederhall, aber ſein altes Mißtrauen in ſich ſelbſt ward vor ihnen rege. Er beſorgte, Konradine ſuche Gründe für eine Weige⸗
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rung, und obſchon es ihm ſehr wehe that, ſagte er ſanft und ruhig: „Ich will Sie nicht bedrängen, will Ihnen nicht zurückgeben oder auf mich anwenden, was Sie von Mitleid ſprachen, und was in Ihrem Munde ſo unberechtigt war. Ueberlegen Sie in aller Ruhe. Nur das Eine laſſen Sie mich ſagen und das glauben Sie mir: Ihre Nähe iſt für mich ein großer Segen. Ihre Neigung gewinnen, zu Ihrer Zufriedenheit bei— tragen zu können, würde mich glücklich machen; und wenn Sie, wie ich hoffe, die Wa 1 Verwun⸗ derung der Unbetheiligten —“
Konradine ließ ihn nicht vollenden. „Nicht wei⸗ ter!“ rief ſie; „das hieße wirklich Ihnen zu nahe thun und mir,“ fuhr ſie fort; „aber ich habe das verdient mit meinem alten, falſchen Stolz. Laſſen Sie mich es nicht entgelten. Ich bin ſicher, Sie fühlen es, wie theuer Sie mir ſind, und was wir wünſchen und erſtreben, wiſſen wir. Mit voller Zu⸗ verſicht bin ich die Ihre!“ Sie reichte ihm beide Hände hin, er küßte ihr die Hand, er nannte ſie mit Zärtlichkeit die Seine, und bewegten Gemüthes, herz⸗ lich einander zugeneigt, voll guten Willens und voll guten Glaubens an die Zukunft, ſo ſchritten ſie Arm in Arm dem Hauſe zu, ſich der Gräfin als Verlobte vorzuſtellen.
Es geſchah der Gräfin ſelten, daß die Freude ſie überwältigte, wie in dieſer Stunde. Sie nannte Kon⸗ radine ihre Schweſter, ihre Tochter; ſie pries es als eine große Gunſt des Schickſals, daß der Sonnen⸗ ſchein dieſer freudigen Botſchaft noch die letzten Tage
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ihres ſterbenden Bruders erhelle, und von der her— gebrachten Sitte abſehend, ſobald es die Genugthuung eines der Ihren galt, ſprach ſie den Wunſch aus, daß die Verlobten Beide ſie auf der Reiſe, die man mor⸗ gen anzutreten hatte, begleiten möchten, um noch den Segen des Bruders zu empfangen, in deſſen Rechte Emanuel jetzt eintrat, in deſſen Stammſitz er und Konradine künftig walten ſollten. Aber Emanuel wehrte den Vorſchlag von ſich ab.
Seine vorſorgende Zärtlichkeit wünſchte der Braut die ſchweren Tage zu erſparen, denen er entgegen⸗ ging, und weil es ſeinem feinen Empfinden ohnehin widerſtrebte, dem hoffnungsloſen Bruder jo reich an eigenen Hoffnungen zu nahen, ſtimmte er Konradinen noch entſchiedener darin bei, daß ſie nicht als Verlobte aufträten, ehe man die Mutter benachrichtigt und ſich ihrer freilich zweifelloſen Zuſtimmung verſichert hätte. Auch hielt Konradine es für geboten, auf den von ihr feſtgeſetzten Tag im Stifte einzutreffen und der Aebtiſſin eben bei der Ankunft der Prinzeſſin nicht zu fehlen.
Man hatte alſo in den wenigen Stunden, deren man noch gemeinſam ſicher war, vollauf zu thun, und erſt am Abende kam man dazu, das nächſte Wieder⸗ ſehen und die nothwendigſten Verabredungen mit ein⸗ ander ſo weit als möglich feſtzuſetzen. Am nächſten Morgen brachen die Gräfin und der Bruder gen Süden auf. Vierundzwanzig Stunden ſpäter trat Konradine in dem Wagen ihres Bräutigams, unter dem Schutze ſeines Kammerdieners, den er ihr zurück⸗ gelaſſen hatte, ihre Reiſe in das Stift an.
Einundzwanzigſtes Capitel.
Während die Reiſenden ſich noch hellen Wetters und warmer Mittage erfreuten, wehte der Wind ſchon wieder rauh und eiſig von dem Meere über das Pfarr⸗ haus und das Schloß hinweg, und trieb unabläſſig neue Regenwolken über das Land, daß die Wege von der langen Näſſe bereits wieder faſt grundlos gewor⸗ den waren. Wen nicht eben Geſchäfte dazu nöthigten, der machte ſich nicht hinaus, um Wagen und Pferde nicht unnöthig zu ſtrapaziren, ſondern ſaß nach des Tages Arbeit ſtille in ſeiner warmen Stube an dem wohlgeheizten Ofen.
Auch der Amtmann kam nicht viel heraus. Die Kartoffeln waren eingebracht, die Felder neu beſtellt, und ſeine gewohnten wöchentlichen Fahrten nach der Oberförſterei hatte er in den letzten Zeiten eingeſtellt; denn, obſchon der Amtmann es unvernünftig nannte, war doch von Seiten des Oberförſters gegen ihn eine Verſtimmung eingetreten. Der Oberförſter ging dem alten Freunde gerne aus dem Wege, und wenn der Amtmann auch zu gerecht war, ſeinen Verdruß darüber
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Hulda zur Laſt zu legen, oder ihr, wie Ulrike es that, beſtändig vorzuwerfen, daß fie unverantwortlich ges handelt, als ſie den angeſehenen Mann, des Onkels Freund, zurückgewieſen habe, ſo ſehnte er doch nun auch ſeinerſeits den Tag herbei, an welchem die Gräfin dem Adjunktus die Pfarre verliehen haben würde, da⸗ mit die Sache mit dem Adjunktus und mit Hulda endlich in das Reine, Hulda aus dem Hauſe, und zwiſchen ihm und ſeinem Freunde der gewohnte be⸗ hagliche Verkehr wieder in das vernünftige alte Ge⸗ leiſe käme.
Inzwiſchen war es ihm ganz recht und lieb, daß der Adjunktus immer öfter in das Amt herüberkam. Er ließ ſich es ſogar bisweilen nicht verdrießen, Abends für den Rückweg den Einſpänner an ihn zu wenden, denn der Amtmann kam auch allmälig in die Jahre, in denen man gerne ſpricht, weil man das Leſen ſatt hat. Er kannte ſeine alten Lieblingsbücher von An⸗ fang bis zu Ende, die neuen Bücher machten ihm aber nicht halb ſo viel Vergnügen; und den ganzen Abend, ſo wie ſonſt, über den Zeitungen zu ſitzen, war ihm nicht mehr recht. Es war in denſelben ſo oft vom Volke die Rede, und von Rechten und von Freiheiten, mit denen nach ſeiner Meinung die Ord— nung nicht beſtehen konnte, und an die vordem kein Menſch auch nur gedacht hatte. Die Augen wurden ihm dabei nur müde, ſie fielen ihm gelegentlich ſogar zu, und das ärgerte ihn doppelt, wenn die Schweſter, in deren Unermüdlichkeit und eiſerner Feſtigkeit gar kein Vergang war, ihn lachend dabei anrief.
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 18
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Man hätte meinen können, daß Ulrike, wenn man ſie ſo ſah, ſich von den Kräften friſch erhielt, die fie die Anderen unnöthig verbrauchen machte; denn im Spätherbſt, wenn es im Haufe recht viel zu ſchaffen gab, wenn ſie Alles und Jeden in beſtändiger Bewegung erhielt, daß weder ſie noch ſonſt Jemand von Denen, welchen ſie zu befehlen hatte, zur Be⸗ finnung und zu Athen kam, war ſie immer am ge⸗ ſündeſten, und ſie ſagte es oft ſelber, daß ſie ſolches Arbeiten auf ein Jahr verjünge. Selbſt wenn ſie endlich einmal ſtille ſaß, mußte ſie noch immer Etwas thun, und wenn es nichts Anderes war, ſich noch die Karten legen, um zu wiſſen, was ihr am nächſten Tage glücken, was mißglücken werde, und ob Gutes oder Böſes an ihrem Horizonte ſtehe. Es focht ſie dabei nicht im geringſten an, daß der Bruder es Narrenspoſſen nannte, daß der Adjunkt ihr freundlich mahnend zu bedenken gab, wie dem Menſchen nach Gottes weiſem Rathſchluſſe kein Blick vergönnt ſei in die Zukunft. Sie ſagte, das ſei Alles gut und ſchön, aber der Menſch müſſe ja an ſo Vieles glauben, was auch nicht zu beweiſen und deshalb doch nicht minder wahr ſei. Was ſie wiſſe, das wiſſe ſie; und wenn auch das alte Kartenlegen ihr nicht immer ganz und gar zugetroffen ſei, die Patience, welche Monſieur Michael ſie gelehrt, die habe ſie noch nie im Stiche gelaſſen, wenn ſie mit Ja und Nein gefragt habe, und auf die lebe und ſterbe ſie. |
Der Adjunkt war gerade da, als fie wieder ein⸗ mal, ihre Karten legend, dieſe Behauptung ausſprach.
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Der Amtmann hatte ihn nach der Kirche mit in das Amt gebracht und ſich erboten, ihn nach Hauſe zu ſchicken. Es war nach dem Abendeſſen, und ſie machten ihre Schachpartie; aber weil des jungen Mannes Theil⸗ nahme auf Hulda gerichtet war, die mit ihrer Arbeit an Ulrikens Seite ſaß, hörte er auf Alles, was ſie an dem Tiſch am Ofen ſagten. Er hatte alſo die letzten Worte auch vernommen, und um auf dieſe Art wieder eine Unterhaltung mit den Frauen anzuknüpfen, in die er Hulda hineinzuziehen hoffte, fragte er, wer der Monſieur Michael geweſen ſei, dem ſie ihre ge⸗ heimnißvoll untrügliche Patience verdanke.
„Habe ich Ihnen denn nie von ihm erzählt? Ein ganz charmanter junger Menſch, der Geheim⸗Sekretär des Fürſten Severin.“
„Hat ſich was vom e ehrt: fiel der Amtmann ihr in die Rede; „er war des Fürſten Kam⸗ merdiener, ein eitler, geriebener, nichtsnutziger Geſell, den der Fürſt wegjagen mußte, wie ich Ihnen vordem einmal erzählte. Er iſt dann auch auf ſeinen rechten Weg gekommen, denn er ſoll unter die Komödianten gegangen ſein.“ | „Wer hat das gejagt?“ rief Ulrike, die bei ihrer Verachtung gegen Alles, was dem Theater angehörte, dieſe Anſchuldigung auf ihrem Günſtling nicht ſitzen laſſen wollte. 1
„Wer das geſagt hat? Des Poſthalters Sohn, der ihn hier geſehen hat, wenn Michael des Fürſten Briefe expedirte, hat es hergeſchrieben. Er hat ihn
ſelber ſpielen ſehen.“ 18*
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„Das iſt freilich ein trauriges Gewerbe und ein gefährlicher Beruf!“ meinte der Adjunkt. |
„Ich glaub's nicht! Es iſt nicht wahr, daß er beim Theater iſt!“ behauptete Ulrike.
„Lege Dir doch ſeine unfehlbare Patience darauf mit Ja und Nein, da wirſt Du's ja erfahren!“ meinte der Amtmann.
„Was nicht ſein kann, das frage ich nicht erſt!“ entgegnete ſie trotzig und legte ihre Karten fort.
„Es ſind ſchon ganz Andere auf die Bretter ge⸗ gangen!“ warf der Amtmann hin.
„Aber kein honneter Menſch!“ ſagte die Mamſell,
ohne daß der Bruder ihr eine Antwort darauf gab,
denn der Adjunktus bot ihm ſchon zum zweitenmale „ein Schach der Königin“, und er hatte nun an An⸗ deres zu denken als an die Freundſchaften und an die Grillen ſeiner Schweſter. Kaum aber bemerkte ſie, daß der Bruder nicht mehr auf ſie achtete, ſo hatte ſie die Karten wieder in der Hand und fing an ſie in langen Reihen neben und über einander zu ord⸗ nen: hier eine fortzunehmen, dort eine hinzulegen; und ſie ſchien es mit Erſtaunen zu gewahren, wie die ſonſt ſo ungefügen Blätter ſich heute leicht zuſammenbringen ließen, wie raſch die Aſſe oben lagen und die ganze Zahlenreihe neben einander ihr entgegenlachte. Sonſt war ihr das meiſt eine Genugthuung, heute legte ſie die Karten ſchnell wieder zuſammen, ſteckte ſie in die
Tiſchſchieblade und ging, ohne ein Wort zu ſprechen,
raſch hinaus. Auch die Anderen hatten ihre Partie beendet, der Amtmann hatte ſich danach entfernt, um ein paar
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Schriftſtücke zuſammenzuſuchen, die der Adjunktus für den Schulzen des Pfarrdorfes mit hinunternehmen ſollte. Hulda ſaß noch bei ihrer Näharbeit, die Er⸗ innerung an Michael, die ganze Unterhaltung war ihr auf das Herz gefallen. Der Adjunktus ſah ihr an, daß Etwas ſie bedrückte, als er an ſie herantrat und ſie die Augen zu ihm aufhob.
„Es muß Ihnen manchmal doch recht ſchwer fallen,“ ſagte der Adjunktus, „die Verkehrtheiten von Mamſell Ulrike zu ertragen, Sie ſind ſo ſtill gewor⸗ den und ſo abgeſchloſſen.“
Hulda entgegnete, ſie habe ſich wie ihre Mutter in Ulrike ſchicken lernen, und da dieſelbe gerne ſpreche, gewöhne man ſich ihr zuzuhören und zu ſchweigen.
„Sie glauben mir es wohl,“ hub er darauf wieder an, „wie ſehr ich hieher denke, wenn ich zu Hauſe in Ihre Stuben komme, Ihr Klavier benütze. Es kommt mir immer wie ein Unrecht, wie eine An⸗ maſſung vor, weil Sie das Alles und obenein die Ruhe, hier entbehren. In den erſten Wochen nach Ihrem Fortgehen mochte ich die leeren Räume nicht betreten, jetzt aber freut es mich, darin zu fein. Die guten Stunden, die herzerquickenden Geſpräche, die wir dort mit Ihrem Vater hatten, ſind mir dann in der Erinnerung ſo lebendig, ſo erhebend!“
Sie hatte ihm bis dahin eben nur das Uner⸗ läßliche geantwortet, denn das Alleinſein mit ihm war ihr mit jedem Beſuche, den er in dem Amte gemacht hatte, peinlicher geworden, und das Erlebniß mit dem Oberförſter hatte ſie noch ſcheuer und noch vorſichtiger
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werden laſſen; aber dieſe Erinnerung an ihren Vater traf ſie bei den Gedanken, mit denen ſie ſich heimlich trug, nur um ſo tiefer, und mit einem Seufzer rief ſie: „Glauben Sie, ich dächte nicht zurück?“
Die Worte belebten ihn, denn er deutete ſie ſich in ſeinem Sinne. „Ich weiß es, o, ich weiß es!“ rief er. „Ich meine manchmal, Sie müßten es em⸗ pfinden, wenn ich Sie dort ſuche, wo Sie mir ſo gegenwärtig ſind; es müßte Sie dorthin ziehen, wie den jungen Vogel zu dem heimiſchen Neſte —“
Seine Wärme, ſeine wachſende Lebhaftigkeit
machten ſie beſorgt, und ihn gefliſſentlich unter⸗ brechend, um ihn am Weiterſprechen zu verhindern,
ſagte ſie, ohne von ihrer Arbeit aufzuſehen: „Man merkt es, Sie ſind nicht auf dem Lande groß ge⸗ worden, Sie glauben an die Fabel! Kein flügger Vogel kehrt in das alte Neſt zurück, wenn Vater und Mutter es verlaſſen haben.“
„Mamſell Hulda!“ rief er ſchmerzlich, aber die Rückkehr des Amtmannes hinderte ihn mehr zu ſagen.
Er hatte die Papiere in Empfang zu nehmen, der Amtmann knüpfte ein paar Bemerkungen daran, die der Adjunkt ausrichten ſollte. Darüber kam auch die Mamſell zurück, und da ſie trotz ihrer Engherzigkeit gern Hilfe leiſtete und ſchenkte, weil ſie ſich dabei ihrer guten Lage und des Ueberfluſſes, deſſen ſie ſich zu erfreuen hatte, recht bewußt ward, ſo hatte ſie Back⸗ werk und Honig und einige von ihren ſchönſten Golp- Reinetten mit herbeigebracht, die ſie, an dem großen Tiſche ſtehend, dem Adjunktus für die nächſten Tage
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noch zuſammenpacken wollte. Wie ſie dabei nach dem Lichte hinüberſah, fiel ihr ein blaues Flämmchen auf, das an beſonderem Faden an dem Dochte zitterte. „Aber Herr Adjunktus,“ rief ſie, „Herr Adjunktus, Ihnen brennt ein Brief, und zwar ein großer! Mor⸗ gen wird er kommen! Sie ſollen ſehen, morgen kommt die Vokation! Sie ſollen ſehen, das wird zutreffen —“
„Wie Kälte um Lichtmeß!“ fiel ihr der Amt⸗ mann in die Rede, denn morgen iſt Poſttag, die Vokation hat lange genug auf ſich warten laſſen, und wenn ſie nun endlich einmal kommt, ſo iſt es das blaue Wunder! Und die Unfehlbarkeit von des Komödianten Patience hat ſich wieder neu bewährt.“
Ulrike entgegnete, davon ſei die Rede nicht ge⸗ weſen, aber Briefe kämen morgen, auch für Hulda einer. Indeß, weder Dieſe noch der Adjunkt machten eine Bemerkung dazu. Nur wie er ihr im Fortgehen die Hand zum Abſchied reichte, ſagte er ihr heimlich: „Ich hoffe, das vom Vogel und vom Neſte haben Sie nicht auf ſich hezogen!“
Des Amtmanns Zuruf, daß der Wagen vor⸗ gefahren ſei, erſparte ihr die Antwort; und ſeinem Zweifeln und ſeinem Hoffen überlaſſen, fuhr der Ad⸗ junktus in die Nacht hinaus.
Zweiundzwanzigſtes Capitel.
— —
Am anderen Morgen ſaß der Amtmann ſchon bei dem zweiten Frühſtück, als der Knecht mit der Poſttaſche in das Zimmer trat und ſie wie immer vor dem Herrn auf den Tiſch niederlegte. Der Amt⸗ mann nahm den Schlüſſel zur Hand, und die Taſche
öffnend, ſagte er, wie er in ſie hinein blickte;
„Das iſt ja heute eine ganze Ladung!“
„War auch für die Pfarre Etwas?“ fragte die Mamſell, die nach ihrer Gewohnheit dem Knechte auf dem Fuße gefolgt war.
7 05 Mamſell, ein Brief, und noch ein großer daneben wie ein Schreiben.“
„Habe ich es nicht geſagt,“ rief Ulrike, „die Vo⸗ kation iſt da — und da iſt ja für die Hulda auch der Brief!“ Sie langte gleich danach, aber der Bru⸗ der bedeutete ihr mit einem Winke, den Brief liegen zu laſſen, und ordnete mit gelaſſener Pünktlichkeit die Zeitungen auf die eine, die amtlichen Schreiben und die Briefe, die an ihn gerichtet waren, auf die andere Seite. Dann ſah er noch einmal nach, ob ſich viel-
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leicht für einen der Wirthſchafter oder einen der Leute in der Taſche ſonſt noch Etwas fände, und erſt nach⸗ dem er ſich überzeugt hatte, daß weiter Nichts darin ſei, reichte er Hulda, die kein Auge von dem Tiſche verwendet hatte, ihren Brief hinüber und fragte: „Von wem kommt denn der?“
„Von Emilie und von der Frau Kaſtellanin!“ antwortete ſie und wendete ſich ab, damit er es nicht ſehen ſollte, wie ſie roth geworden war.
„Alſo die Freundſchaft dauert fort!“ ſagte der Amtmann arglos, denn der Kaſtellan des gräflichen Hauſes in der Stadt war ein alter Diener der Familie, und der Amtmann wußte, daß Hulda während ihres dortigen Aufenthaltes mit der Tochter deſſelben, die gut erzogen war, Verkehr gehalten hatte. „Was ſchrei— ben ſie Dir denn?“
Hulda war an das andere Fenſter hingetreten und hatte unbemerkt einen Brief, der in dem Schreiben ihrer Freundin enthalten geweſen war, in der Taſche ihres Kleides verborgen, und die Zeilen, welche die Freundin ihr geſchrieben, raſch durchfliegend, ant⸗ wortete ſie: „Sie laden mich zu ſich ein.“ | „Bei den Wegen? Ja, auf jo Etwas verfallen ſie in der Stadt, am Ofen und mit dem Steinpflaſter vor dem Fenſter. Es wird damit zunächſt wohl keine Eile haben,“ ſagte er und ſtand auf, um ſich mit ſeinen neu eingegangenen Papieren an den alten Schreibtiſch hinzuſetzen.
Hulda wollte in dem Augenblicke auch hinaus gehen, um den zweiten Brief zu leſen, aber Ulrike
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hielt fie in der Stube feſt. Sie hatte erſt dies, dann jenes noch von ihr zu fordern, ſie ſchickte ſie hierhin und dann dorthin, und als ahne ſie es, welche Pein ſie ihr damit bereite, legte ſie ihr endlich ein großes Gebinde Wolle auf die Hände, damit ſie es ihr zum Wickeln halte.
Die arme Hulda zählte in ihrer Ungeduld die Minuten, die Sekunden; die Wangen flammten ihr vor Aufregung. Das kümmerte aber Ulrike nicht und Nichts die alte Uhr. Die Uhr tickte ruhig fort, und Ulrike wickelte und wickelte und zerrte an den Fäden, die ſich verſchlungen hatten, und gab Hulda bald einen Wink und bald ein Zeichen; denn ſprechen durfte ſie nicht, wenn der Bruder bei der Arbeit ſaß. Darum aber wollte und mußte ſie gerade in ſolchen Stunden Jemanden bei ſich haben, der ihr die Langeweile tragen half. Hulda's Gedanken ſchwärmten während deſſen aber weit, weit ab von der ſie ermüdenden Arbeit, an welcher ihre Quälerin ſie feſthielt.
Sie hatte den Brief, den ſie, Rath und Hülfe ſuchend, in jener Nacht an Gabriele gerichtet, dem be⸗ freundeten jungen Mädchen nach der Stadt geſchickt,
und um ſeine Weiterbeförderung mit der Anweiſung
gebeten, daß man ihr, falls eine Antwort einginge, dieſelbe auf gleiche Weiſe übermachen möge. Nun war der Brief in ihrer Hand, ihre Zukunft hing an ſeinem Inhalt, und ſie konnte nicht erfahren, was er für ſie brachte, denn ein tückiſcher Dämon ſchien heimlich immer neues Garn zu ſpinnen. Das Garn nahm gar kein Ende, und noch lagen ein paar Gebinde auf ihren
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Händen, als ein Wagen über den gepflaſterten Damm in den Hof fuhr und vor der Thür des Amtes ſtille hielt.
Ulrike war bei dem erſten Hufſchlag aufgeſtanden und, eifrig an dem Knäuel wickelnd, nach dem Fenſter gegangen. „Habe ich es nicht geſagt!“ rief ſie, „da iſt Er! Um Nichts iſt er nicht ausgefahren, die Voka⸗ tion iſt da! Der Schulze hat denn auch ein Uebriges gethan und für den neuen Herrn Pfarrer angeſpannt!“ — und das Fenſter öffnend, rief ſie mit ihrer hellen Stimme: „Guten Tag, Herr Paſtor! ſchönen guten Tag! Nun werden es der Herr Pfarrer ja wohl ſelber in die Hand bekommen haben, daß unſereiner auch nicht immer als einer von den falſchen Propheten zu verſpotten iſt!“
Der junge Mann war ſchnell vom Wagen und im Hauſe. Der Amtmann ging ihm bis an die Stubenthür entgegen. Er hatte den betreffenden Brief der Gräfin ebenfalls erhalten, er konnte es ſich alſo den⸗ ken, was den Gaſt zu ſo ungewohnter Stunde zu ihm führte; aber er ließ es ſich nicht merken. Er gönnte Jenem die Freude, ſich in ſeiner neuen Würde ſelber einzuführen und die gute Botſchaft vor dem Mädchen auszuſprechen, mit dem er ſeine Zukunft zu verbinden dachte. Auch ließ der Eintretende ſie nicht lange er⸗ warten.
„Verzeihen Sie es mir,“ ſagte er mit heiterer Lebendigkeit, „daß ich ſchon wieder hier bin, aber es litt mich nicht allein zu Hauſe. Meine Vokation iſt angekommen!“
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„Gratulor, Herr Pfarrer!“ rief der Amtmann. „Gratulor! es freut mich, daß Sie bei uns bleiben, freut mich ſehr! und es wird auch manchen Anderen freuen, denke ich!“ ſetzte er, nach Hulda hinüberſehend, mit einem nicht mißzuverſtehenden Lächeln raſch hinzu; aber Hulda ſah es nicht. Sie hatte ſeit des jungen Mannes Eintritt kaum die Augen aufgeſchlagen, und der Amtmann meinte es zu wiſſen, wie er ſich das zu deuten habe. „Schweſter, eine Flaſche Wein! denn das iſt gute Botſchaft und ſo Gott will, für eine lange Zei!“ gebot er. i
„Ja, es war eine geſegnete Stunde für mich, in der es Gott gefiel, mich herzuſenden, möchte mir es gelingen, ſie unter ſeinem Beiſtande auch für Andere ſegensreich zu machen!“ ſagte der junge Pfarrherr, während die Mamſell die Schlüſſel von dem Bunde hakte, und Hulda anwies, was ſie aus dem Keller und der Vorrathskammer herbeizuſchaffen habe.“
Dieſe war froh, wenn auch nur für Minuten fortzukommen, der Angſt und der Verlegenheit, die auf ihr lagen, für eine Weile zu entgehen. Als ſie wieder in das Zimmer trat, hatte die eifrige Ulrike für die beiden Männer das Gedeck ſchon aufgelegt. Der Amtmann ſaß bereits am Tiſche und ließ ſich gut⸗ müthig, obſchon er es ſelbſt am beſten wußte, von dem jungen Maune die Begünſtigungen herzählen, welche ihm von der Gräfin bewilligt worden waren. Als er aber die Bemerkung machte, daß ſein Glück weit über ſein Erwarten gehe, ſtand der Amtmann auf, nahm ſelbſt noch zwei Gläſer aus dem Wandſchrank, füllte
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ſie ebenfalls, und der Schweſter und Hulda winkend, ſprach er: „Dazu müſſen doch die Frauenzimmer auch heran! — Auf Ihr Wohl, Herr Pfarrer! und auf gute Nachbarſchaft, Herr Pfarrer! und nun in Gottes Namen vorwärts, dann kann Alles bleiben, wie es ſteht und liegt. Damit Ihnen aber doch noch einmal mehr zu Theil werde, als Sie ſich erwartet, ſo will ich es Ihnen nur gleich heute ſagen, daß ich auch noch Etwas für Sie in petto habe, aber freilich nicht direkt für Sie und nicht für Sie allein.“
Der Amtmann gefiel ſich außerordentlich in die⸗ ſem andeutenden Scherze, der nach ſeiner Meinung gar nicht mißzuverſtehen war und der dem Pfarrer einen bequemen Eingang zu dem Antrage bieten ſollte, den er nach des Amtmanns Anſicht zu keiner ſchickli⸗ cheren Stunde machen konnte. Indeß Hulda's Aeuße⸗ rung am verwichenen Abende hatte den Liebenden be— ſorgt gemacht, und wenn er ſie in ſeines Herzens Freude ſich auf dem Wege auch wieder aus dem Sinne geſchlagen und als zufällig und harmlos ausgedeutet hatte, ſo wachte doch, wie er jetzt Hulda ſo in ſich verſchloſſen und ſo wortkarg vor ſich ſah, der Zweifel wieder in ihm auf, und er konnte am wenigſten in der beiden Alten Beiſein über ſ eine Lippen bringen, wovon ihm ſein bewegtes Herz doch übervoll war.
Mamſell Ulriken's ſonſt oft unbequeme Neugier kam ihm jetzt zu Hülfe. Sie wollte wiſſen, was des Bruders geheimnißvolle Verſprechungen bedeuten ſoll⸗ ten, und der Amtmann ließ ſich diesmal nicht lange bitten. „Das ſteht Alles in dem Briefe,“ ſagte er,
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während er für ſich und ſeinen Gaſt auf das Neue die Gläſer füllte, „und wir können, denke ich, nun ge— troſt noch einmal anſtoßen auf die Anzeige, die ich heute von unſerer Frau Gräfin empfangen habe. Es hat ſeine Richtigkeit gehabt mit den Nachrichten über das Fräulein und Baron Emannel. Sie haben ſich verlobt und — —“
„Hab' ich es nicht geſagt,“ fiel Ulrike ein, „gleich damals, als ſie hier geweſen ſind!“
Der Amtmann hatte die Mittheilung mit reifli⸗ chem Bedacht gemacht. Er meinte, ſie müſſe auf Hulda's Entſchließung einen guten Einfluß haben; aber wie er dieſelbe von ihrem Platze aufſtehen, er⸗ bleichen und nach der Thür gehen ſah, ward es ihm leid, daß er geſprochen hatte, und verdrießlich mit dem Kopfe ſchüttelnd, rief er: „Hulda, Hulda, was ſind denn das für Poſſen!“
Indeß ehe er die Worte noch vollendet, war der junge Pfarrer ſchon an ihrer Seite. Seine Sorge um das geliebte Mädchen trug über die ſchmerzliche Eiferſucht den Sieg davon.
„Sie befinden ſich nicht gut, Mamſell Hulda!“ ſagte er, und mit einer Sicherheit, die er ſich noch einen Augenblick vorher nicht zugetraut hatte, bat er, fie möge ihm erlauben, ſie zu begleiten. Weil ſie wußte, daß ſie der Unterredung, die er wünſchte, nicht entgehen konnte, ſagte ſie es ihm zu. Ulrike wollte ſich dazwiſchen legen, aber der Bruder bannte ſie mit einem: „Du ſitzeſt ſtill!“ an ihren Platz, und Hulda und der Pfarrer verließen das Gemach.
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Recht nach jenem Sinne war dem Amtmann dieſe Art und Weiſe nicht, und über den Ausgang war er nach dem, was er eben jetzt geſehen hatte, auch nicht mehr ſo zuverſichtlich, als die ganze Zeit zuvor. Er hatte feft geglaubt, Hulda habe ſich die ganze Sache mit Baron Emanuel lange aus dem Sinne geſchlagen, er hatte ihre Weigerung, des Oberförſters Frau zu werden, ohne alles Weitere auf den Adjunkten bezogen. Nun ſah er, daß der Spuk noch nicht vor⸗ über war, und obſchon der Pfarrer heute anders auf: trat, und ſich unter dem Nimbns ſeiner neuen Würde auch ganz anders als vordem zu fühlen ſchien, war der Amtmann doch nicht ſicher, ob und wie ſich Jener aus dem Handel ziehen, und welch' ein Ende es mit demſelben nehmen werde, wenn er ſelber ſich nicht dabei ins Mittel legte. Er war ſchon auf dem Wege nach der Thüre, kehrte aber wieder um. Ulrike lachte hoͤhniſch.
„Was für Umſtände Ihr mit dem Frauenzimmer macht, Einer wie der Andere!“ ſagte Ulrike, „und man ſoll hier ſitzen und abwarten, wozu es ihr be⸗ lieben wird, ſich zu entſchließen!“
Der Amtmann ward auch ungeduldig, nur daß er es nicht in Worten zeigte. Er ging in der Stube auf und nieder, ſchüttelte die Pfeife aus, ſtopfte ſie und zündete ſie wieder an. Von den Beiden war noch immer Nichts zu hören. Er ſah in ſeinen Büchern Etwas nach, er ſetzte ſich nieder, indeß er hatte keine Ruhe. Es war ihm ſelber ſehr daran gelegen, daß es mit dem Mädchen nun endlich ein vernünftig Ende
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nahm, es war des Geredes darüber ſchon zu viel ge— weſen Er begriff nicht, wie die da oben ſo viel Zeit zu einer Sache brauchen konnten, die doch mit zwei Worten abzumachen war. Er ſtand wieder auf, trat an den Barometer heran und klopfte an das Queck- ſilber.
„Du denkſt wohl,“ ſagte Ulrike, „er ſoll Dir an- zeigen, was der Prinzeß belieben wird?“
Ehe er ihr darauf die Antwort geben konnte, hörte man feſte Schritte, die von dem langen Gange hinunterkamen. Der Amtmann und die Schweſter wendeten ſich Beide nach der a durch die der Pfarrer eintrat.
„Allein, Herr Pfarrer?“ fragte der Amtmann mit ſichtlicher Beſtürzung, während über Ulrikens Antlitz ein unheimliches Lächeln des Triumphes zuckte.
Des jungen Pfarrherrn ernſtes Antlitz gab die Antwort, noch ehe er, ſich männlich zuſammenfaſſend, ſie ausgeſprochen hatte. „Es hat nicht ſein ſollen,“ ſagte er, „es wäre vielleicht zu viel Glück für mich geweſen!“
„Iſt denn das Mädchen ganz von Sinnen!“ fuhr der Amtmann zornig auf und wollte nach der Thüre gehen.
Der Pfarrer hielt ihn davon zurück. „Laſſen Sie ſie, verehrter Freund! Es trifft ſie kein Tadel und kein Vorwurf. Gott hat ihr Herz in ſeiner Hand — er hat es gelenkt. Er weiß am beſten, was ihr frommt und mir. Nicht ſie, nur mein eigenes Wün⸗ ſchen täuſchte mich. Es war nicht ihre Schuld.“
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„Schuld hin, Schuld her,“ rief der Amtmann.
„Das ſind ja Alles Redensarten! Ein Frauenzimmer iſt zum Heirathen auf der Welt und hat in jetzigen Zeiten ſeinem Herrgott ſehr zu danken, wenn ein Mann wie Sie ſich zu ihm findet. Mit der Narrheit muß es doch ein Ende haben, und es ſoll gleich heut', gleich jetzt ein Ende haben!“ — Und wieder gab er Ulrike das Zeichen, daß ſie nach Hulda ſchellen ſolle; indeß Ulrike ſaß in ihrer Ecke und rückte und rührte ſich nicht. Der Pfarrer aber hatte nach ſeinem Hut gegriffen und ſchickte ſich zum Aufbruch an. Der Amtmann durfte ihn nicht halten. Sie wechſelten noch ein paar Worte; der Amtmann meinte, ſo ein Mädchenkopf beſinne ſich wohl noch, der Pfarrer achtete nicht darauf. Er ſehnte ſich danach, allein zu ſein, denn die Faſſung, die er zeigte, fiel ihm ſchwer. Der ganze Vorgang hatte nur wenige Minuten ein⸗ genommen, und wie der Pfarrer nun eingeſtiegen war, wie der Wagen wieder über den gepflafterten Steindamm dem Hofthor zufuhr, der Amtmann mit heftigem Schritte in die Stube zurückkam, ſtand Ulrike auf und ſagte mit kaltblütigem Tone: „Das iſt nun der Dritte, den ſie aus dem Hauſe bringt.“
„Und es ſoll der Letzte ſein!“ fuhr der Amtmann auf und zog mit ſolcher Macht die Glocke, die nach Hulda's Stube ging, daß die Schnur ihm in der Hand blieb. Er warf ſie in die fernſte Ecke und ſetzte ſich in den großen Stuhl an ſeinem Schreibtiſch, in den er ſich immer niederließ, wenn er Jemanden vor⸗
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 19
290 zunehmen hatte. Auch Ulrike ſetzte ſich noch einmal und mit einem Behagen nieder, als wenn ſie im Theater wäre, und fing die Maſchen an ihrem Strumpfe zu zählen an.
„Was hat es da oben gegeben zwiſchen Euch?“ rief der Amtmann ihr entgegen, als Hulda bleich und mit verweinten Augen vor ihn hintrat.
Sie konnte die Worte nicht über die Lippen brin⸗ gen. „Rede!“ fuhr der Amtmann ſie an, „denn Du haſt ja oben ſicher reden können!“
Hulda hob die Augen zu ihm auf, und ſelbſt in dem bebenden Schmerze war ihr Geſicht noch ſchön, als ſie, die Hände flehend nach ihm ausgeſtreckt, die Bitte ausſprach: „Zwingen Sie mich nicht zu wieder⸗
holen, was mir zu ſagen ſo hart und ſchwer ge—
weſen iſt.“ „Schwer?“ ſpottete Ulrike, „ich denke, Du ſollteſt
nun ſchon Praxis darin haben, anſtändige Männer
vor den Kopf zu ſtoßen, denn das iſt ſchon der Dritte!“
„Still! Wer ſpricht mit Dir?“ herrſchte der Amtmann, der ſchon wieder mit Hulda Mitleid fühlte, weil ſie im Grunde doch in der Welt verlaſſen war, und der ſofort für ſie Partei nahm, wenn der Haß gegen die Schönheit und die glücklichere Jugend, den Ulrike von der Mutter auf die Tochter übertragen hatte, ſich gegen dieſe äußerte. „Steh' nicht ſo da und weine wie ein Kind,“ fuhr er, ſich an Hulda wendend, fort, „denn das iſt kindiſch und ich kann's nicht ausſtehen! Rede, daß man weiß, woran man iſt. Was ſtellſt Du Dir denn vor?“
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Sie wußte darauf keine Antwort, das regte ihm den Zorn ſchnell wieder auf. „Ich ſage nicht wie die
Schweſter,“ ſprach er, „das iſt nun der Dritte, denn
der Michael war ein Taugenichts und Nichts mehr.“ Der Amtmann freute ſich des Stiches, den er Ulriken damit gab. „Von Baron Emanuel rede ich nicht erſt, denn damals warſt Du noch ein halbes Kind und das iſt abgethan; da lebten noch die Eltern, die hatten für Dich einzuſtehen, nicht ich. Jetzt aber iſt das meine Sache und ich will in's Klare mit Dir kommen.“ — Er räusperte ſich, zog an der Pfeife, die ihm aus⸗ gegangen war, ſtellte ſie hinter den Tiſch, ſetzte ſich wieder, und die Hände über der Bruſt Gera ſagte er: „Der Oberförſter, der unter den adeligen Fräulein nur die Hand auszuſtrecken hat, um morgen eine Frau zu haben, der war Dir zu alt, und kommt uns nicht mehr in das Haus. Der Pfarrer, dem die Gräfin, die Dir noch obenein die Ausſteuer geben wollte, eine ſchöne Stellung zubereitet hat, der iſt Dir auch nicht recht und wird auch nicht mehr über die Schwelle kommen wollen, ſo lange Du hier im Hauſe biſt. Soll ich mir alle meine Freunde von Dir zu Feinden, ſoll ich mir mein Haus um Deinetwillen zum Ge⸗ ſpött und zum Gerede machen laſſen?“ „Du gehſt uns ja im Grunde gar Nichts an!“
warf Ulrike, die ſich nicht länger halten konnte, ein.
„Ich weiß es, daß ich fort muß!“ ſagte Hulda, und ſie fügte dann leiſer noch hinzu, „und ich will auch gerne fort.“
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Der Amtmann ſah ſie mit großen Augen an. „Du willſt fort? Und wo denn hin? Was ſtellſt Du Dir denn vor?“
Hulda hatte ſich die Stunde, in welcher dieſe Frage an ſie gerichtet werden und in der ſie dieſelbe zu beantworten haben würde, ſeit vielen Wochen un⸗ abläſſig durchgedacht, und ſie war immer entſchloſſen geweſen, ihr Vorhaben offen auszuſprechen. Jetzt aber, da ſie es thun ſollte, fehlte ihr dazu der Muth. Nach dem, wie der Amtmann ſich geſtern erſt über den Be⸗ ruf und die Stellung eines Schauſpielers hatte ver⸗ nehmen laſſen, konnte ſie es nicht wagen ihre Abſicht kundzuthun, am wenigſten, ehe ſie es wußte, was Gabriele ihr zu thun rieth; und ſie hatte den Brief eben erſt erbrechen können, als der Amtmann ſie zu ſich gerufen. Sie ſagte alſo, ſie wolle es verſuchen, ſich ihr Brot ſelber zu verdienen.
„Und wie denkſt Du das zu machen?“ fragte der Amtmann ſpöttiſch, der an dem Glauben feſthielt, ein gebildetes Frauenzimmer könne ſich auf die Dauer ſelber nicht verſorgen.
„Ich bin ja auferzogen in der Vorausſicht und Gewißheit, daß ich mir ſelbſt zu helfen haben würde,“ entgegnete ſie mit wachſender Feſtigkeit, weil ihr Ehr⸗ gefühl ſich gegen die ſpottende Nichtachtung ihres bis- herigen Beſchützers aufzulehnen anfing. „Mein guter armer Vater und Miß Kenney haben mich darauf vorbereitet, und —“
„Alſo Du willſt wie die Kenney Lehrmamſell werden und alte Jungfer!“ unterbrach ſie der Amt⸗
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mann, dem Gouvernanten und alte Mädchen unter allen Umſtänden zuwider waren. „Aber wer wird Dich denn nehmen hier herum, ſelbſt wenn er ein ſolches Frauenzimmer brauchte, ſobald es erſt aus⸗ kommt, daß Du nun zum zweitenmale Dein Glück von Dir geſtoßen und die Anträge der angeſehenſten und bravſten Männer abgewieſen haſt? — Und herum⸗ kommen wird es, verlaſſe Dich darauf, ich kenne meine Leute!“ ſetzte er hinzu mit einem Seitenblick auf ſeine Schweſter.
„Ich wollte Sie eben deshalb bitten, mir einen kleinen Theil der Summe zu geben, welche Miß Kenney mir hinterlaſſen hat, und mich in die Stadt zu ſchicken, wo ich der Aufnahme in der Familie des Kaſtellans gewiß bin, bis ſich irgend eine paſſende Stellung für mich finden wird!“ entgegnete das Mädchen, das an Zutrauen in ſich gewann, je härter und ungerechter es ſich angegriffen fühlte.
„Das alſo iſt der Plan! alſo Alles wohl be— rechnet, Alles hübſch ausgedacht und überlegt! Und dazu dem Adjunktus Hoffnungen gemacht und mit ihm ſchön gethan,“ höhnte ſie Ulrike, und zum erſten⸗ male wies der Amtmann ſie nicht zurück, ſondern in den Ton der Schweſter einſtimmend, ſagte er bitter: „Und das Alles um der elenden Liebſchaft willen mit dem Baron, der ſich mit ſeiner Frau auf ſeinem Schloſſe kein Haar darum grau werden laſſen wird, wo und wie Du einmal zu Grunde gehſt.“
Das war mehr, als ſie ertragen konnte. Sie richtete ſich hoch auf, und obſchon das Blut ihr in den
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Schläfen hämmerte und ihre Lippen mühſam die Worte ausſprachen, ſagte ſie: „Ich werde nicht zu Grunde gehen, Herr Amtmann, auch wenn ſich Nie— mand um mich kümmert! — Und ich habe — deſſen iſt Gott mein Zeuge — nie mit Jemandem ſchön ge than; habe dem Herrn Pfarrer, das hat er ſelber zu— geſtehen müſſen, mit keinem Wort und keinem Blick eine falſche Hoffnung angeregt. Ich wußte ſeit lange, daß ich hier nicht bleiben konnte, und ich bitte Sie, flehentlich bitte ich Sie, erzeigen Sie mir die Liebe und ſchicken Sie mich ſobald als möglich fort. Hier müßte ich zu Grunde gehen!“
Dem Amtmann ſchwollen die Adern auf de Stirne. Er wollte einen Fluch ausſtoßen, aber er ſchluckte ihn hinunter, denn er wußte nicht, gegen wen er ſo erbittert, ſo ergrimmt war, daß der Aerger ihm an dem Herzen fraß: ob gegen das Mädchen, das nun einmal nicht in die vernünftige Bahn zu bringen war, und das er doch ſo gerne in ſeiner Nähe behalten und unter ſeinen Augen glücklich hätte ſehen mögen, oder gegen die Härte und den Herzenswahnſinn ſeiner Schweſter, die dem Mädchen ſein Leben ſo verbittert hatte, daß es lieber unter Fremde in die weite Welt gehen, als dieſe Unbill länger tragen wollte.
Er war mit raſchem Schritt vor Hulda hin⸗ getreten, blieb dann ſtehen wie Einer, der ſich ſelber mißtraut, und maß ſie mit finſterem Blick vom Kopfe bis zum Fuß. Sie ſah, wie die Unſchuld, wie die Sanftmuth ſelber aus, er konnte es kaum ertragen. Er hatte nicht Weib, nicht Kind, und an der Schweſter
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hatte er keine Freude gehabt, ſo lange ſie zuſammen lebten. Auf Hulda aber hielt er. Er hatte ſie lieb, als wäre ſie ſein eigen Kind, und daß ſie das nicht wußte, daß ſie in die Welt gehen wollte, das verdroß ihn, das empörte ihn, während er ihr nicht ſagen konnte, daß ſie bleiben ſolle, denn er ſelber ſah es ein, ſie mußte für das Erſte fort. — Es war ihm noch niemals Etwas ſo vollkommen gegen ſeinen Sinn ge⸗ gangen. Er ſollte thun und geſchehen laſſen, was er nicht wollte, was er für verkehrt hielt. Aber ein Ende mußte es jetzt haben, ein Ende mußte er mit ihr machen, ſie mußte erſt einmal fühlen lernen, was ſie aufgab, probiren, wie es draußen wäre. Sie ſollte ihren Willen haben. — Und ging es nachher nicht, nun, ſo ſtand das Schloß ja auf dem alten Flecke und ſie konnte wieder kommen — zahmer wieder kom⸗ men, als ſie ſich heut' anließ. Deſſen war er ficher.
Mit dieſer Einſicht und mit der Gewißheit kam ihm auch ſein alter Gleichmuth wieder. Er legte die Hände auf dem Rücken zuſammen, was er immer that, wenn er ſich ſo recht auf ſeinen Füßen fühlte, beſah ſich Hulda noch einmal und ſagte mit gemeſſener Langſamkeit: „Alſo Du willſt fort und morgen ſchon?“
Sie verſetzte, wenn es ſein könne, bäte ſie darum. Der Amtmann ging nach dem Kalender, zu ſehen, was für den Tag notirt war, und ſagte dann: „Es ſteht Nichts im Wege! Mach' Dich fertig, Du kannſt fort. Geld kannſt Du bekommen, ſo viel Du für das Erſte brauchſt, das Uebrige findet ſich nachher. Was
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in der Pfarre jetzt zu thun iſt, das werde ich beſor— gen. Um acht Uhr Morgens kannſt Du reiſen.“
Sie dankte ihm leiſe, er ſagte, dazu habe ſie nicht Urſache, und das ſchnitt ihr in das Herz, denn ſie war ihm anhänglich von Kindheit an und wußte, daß er es redlich mit ihr meinte. Er nahm die Mütze, und wie ſie ihm nach gewohnter Weiſe den Krückſtock aus der Ecke holen wollte, meinte er: „Laß es gut ſein, ich kann ihn mir ſchon heute ſelber holen!“ Damit ging er in den Hof hinaus. d
Sie biß die Zähne zuſammen, denn ſie wollte nicht weinen, ſie mußte ſich zuſammennehmen lernen.
Ulrike ſagte, „ſie ſolle den Koffer wichſen laſſen, damit er doch nach Etwas ausſähe; und den Tiſch beſorgen könne heut' die Magd, ſie wolle nach dem Ihren ſehen.
Dreiundzwanzigſtes Capitel.
„Nun iſt es geſchehen!“ — Das war Alles, was Hulda denken konnte, als ſie ſich in ihrer Stube müde und zerſchlagen niederſetzte. Erwartet hatte ſie es lange. Sie hatte ſich nothwendig befreien müſſen aus einer Lage, die in jeder Beziehung unertragbar für ſie geworden war, aber es war heute Alles ſo mit einem Schlage über ſie gekommen; und wie die Entſcheidung nun vor ihr ſtand, ſah Alles um ſie her ſo nackt, ſo roh, ſo öde aus. Der verklärende Schimmer, der die Zukunft geheimnißvoll umwoben, war dahin, es war ganz anders, als ſie es ſich vorgeſtellt hatte.
Jetzt kam es darauf an, was Gabriele ſchrieb. Sie zog den Brief heraus; ſchon die klare, feſte Hand⸗ ſchrift hatte etwas Tröſtliches für ſie. „Was Sie mir mittheilen,“ hieß es nach den erſten Zeilen, „hat nichts Befremdliches für mich. Jeder von uns trägt mehr oder weniger bewußt ein Verlangen nach einem be⸗ ſonderen Glück, oder nach einer idealen Bethätigung ſeines Weſens in ſich, und wenn das Erſte uns nicht winken will, trachten wir danach, die Zweite zu erreichen.
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Das it Ihr Fall, und manche Ihrer Anlagen ſcheinen Ihrem Vorhaben Erfolg zu verſprechen. Aber der Weg einer Bühnenkünſtlerin iſt ſchwer und rauh, und ſelbſt an dem glänzend errungenen Ziel finden ſich der verletzenden Dornen unter den Kränzen des Triumphes noch genug. Ob Ihr Talent ausreichend iſt, kann nur die Probe darthun. Ob Sie den Muth, die nichts⸗ achtende Entſchloſſenheit und das Inſichſelbſtberuhen beſitzen, ohne welche die theatraliſche Laufbahn nicht zurückzulegen iſt, darüber können nur Sie ſelbſt ent⸗ ſcheiden. Legen Sie ſich die Frage ernſthaft vor. — Sind Sie mit ſich einig, ſo melden Sie es dem Direktor des Theaters, den Sie bei mir an jenem Morgen ſahen. Ich habe ihm geſchrieben, ihn auf Ihre Abſicht vorbereitet, ihm meine Meinung über die Ihnen gemäßen Studien mitgetheilt, und Sie ihm auf das Nachdrücklichſte empfohlen. Fürchten Sie von Seiten Ihrer Angehörigen auf Hinderniſſe bei der Ausführung Ihres Planes zu ſtoßen, ſo müſſen Sie ſuchen, ihn ohne deren Zuſtimmung zur Ausführung zu bringen, denn in dieſem Falle, wie in manchem anderen kann man nicht durchkommen, ohne nach dem ſonſt übel berufenen Grundſatze zu handeln, daß der Zweck die Mittel heiligt.“ | Sie fügte dann noch hinzu, daß fie Zutrauen zu Hulda's Begabung habe, daß deren überraſchende Aehnlichkeit mit ihr eine gute Vorbedeutung für ſie ſein möge, und wie der ganze Brief in einem durch⸗ aus einfachen, geſchäftsmäßigen Tone gehalten war, ſo ſagte ſie denn auch ganz am Schluſſe, da Hulda
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ſich Rath fordernd an ſie gewendet, ſo verſtände es ſich von ſelbſt, daß fie von ihr auch die Mittel an⸗ zunehmen habe, ohne welche ſie jene Rathſchläge nicht befolgen könne. Sie ſende ihr deshalb für alle Fälle das nöthige Reiſegeld bis nach dem Aufenthaltsorte des Direktors. Bei dieſem werde ſie eine kleine An⸗ weiſung auf einen dortigen Bankier vorfinden, deren Ertrag ausreichen dürfte, ſie zu unterhalten, bis der Direktor ſich überzeugt haben werde, ob ſie für ihn zu brauchen ſei, und ob ihre Ausbildung überhaupt eine lohnende zu werden verſpreche. Wenn das ent⸗ ſchieden ſei, ſo möge Hulda ſie davon in Kenntniß ſetzen, bis dahin wünſche ſie ihr Muth, Geduld und Glück. ö
Hulda athmete auf, als ſie den Brief zu Ende geleſen hatte. Er brachte ihr die Ermuthigung, die Anweiſung, deren ſie bedurft hatte. Man hörte jedem Worte des Briefes die reife Ueberlegung einer Viel⸗ erfahrenen an. Die Güte, die Großmuth, mit welcher ſie ſich Hulda's annahm, gingen über ihr Erwarten, aber auch dieſem Briefe fehlte der helle Schimmer, der jenen Wintermorgen bei Gabriele für Hulda's Phantaſie ſo zauberhaft umleuchtet hatte; die Wirk⸗ lichkeit war nicht ſo lichtumfloſſen, ſie war ernſt und begehrte feſtes, ernſtes Thun.
Eines Ueberlegens bedurfte Hulda nicht. Was ihr als Kind in unbeſtimmten Bildern verlockend vor⸗ geſchwebt hatte, das zu erreichen ſollte ſie jetzt ſtreben. Das Glück hatte ſich ihr verſagt, ſie wollte, wie es Gabriele ſchön genannt, nach einer idealen Bethätigung
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ihres Weſens trachten. Die ſelbſtgewählte Arbeit ihres Lebens begann mit dieſem Tage und in dieſer Stunde.
„Die Kindheit, die Heimat, die Jugend und die Liebe ſind dahin!“ ſagte ſie zu ſich ſelbſt, „ich muß abſchließen mit der Vergangenheit, und vorwärts gehen an mein Ziel!“
Ihre Vorkehrungen für die Abreiſe waren bald gemacht, ihr Beſitz war ſehr gering. Ihre beſcheidene Garderobe, die wenigen Bücher und Muſikalien, die kleinen Andenken an ihre Eltern, die ſie bei ſich hatte, waren bald eingepackt, die Guitarre in ihrem Kaſten wohl verwahrt. Es war noch lange bis zum Abend hin, lang noch bis zum andern Morgen.
Als die Mittagsglocke läutete, ging ſie hinab zum Eſſen, der Amtmann, die Wirthſchafter kamen an den Tiſch, Alles lag und ſtand wie ſonſt, nur daß ſie es nicht mehr auf den Tiſch gebracht hatte wie ſonſt. Der Amtmann ſprach mit ſeinen Leuten, Mamſell Ulrike machte, ohne von ihrer Abreiſe zu ſprechen, allerlei Bemerkungen, die es Hulda fühlen ließen, daß ſie aus dem Kreiſe dieſes Hauſes ſchon entlaſſen ſei. Der Amtmann gönnte ihr kein Wort. Die Wirth⸗ ſchafter ſahen neugierig nach ihr hin, ſie wußten es ſchon, daß ſie dem Pfarrer einen Korb gegeben habe und daß der Amtmann ſie deshalb länger nicht be⸗ halten wolle.
Am Nachmittage, als ſie ſich zu den gewohnten Dienſten anſchickte, wies Ulrike ſie zurück. „Das ſei für ſie Nichts mehr,“ meinte ſie, „eine Stadtdame,
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eine Gouvernante müſſe ihre Hände ſchonen.“ Aber ſie ſah böſe aus, als ſie das ſagte.
Hulda hatte den ganzen Nachmittag für ſich. Sie las wieder und wieder Gabrielens Brief, ſie kramte in den wenigen Papieren, die ſie hatte, und band die Volkslieder zuſammen, nach denen ſie die Abſchriften für Emanuel gemacht. Es waren Kor⸗ rekturen von ihres Vaters Hand, und auch von ſeiner Hand darin, ſie konnte das Auge nicht davon ver- wenden.
Sie ging an das Fenſter und ſah in die Nacht hinaus. Wie oft hatte ſie an dem Platze geſtanden und hinübergeblickt nach ſeinen Zimmern im Schloſſe, den ſanften Klängen ſeiner Phantaſien lauſchend. Jetzt war da drüben Alles dunkel, Alles ſtill. Es drang kein Ton von dort zu ihr, und ſeine Gedanken ſuchten ſie nicht mehr. Wie ſollten ſie das auch? Was war ſie noch für ihn in ſeinem Glücke? Er wußte ſich ge⸗ liebt, er war erlöſt! — Erlöſt durch ſie! — Der Fluch aber war zurückgefallen auf ihr Haupt. Sie war die Aufgegebene, die Vergeſſene, die Ungeliebte! und hei⸗ matlos und einſam mußte ſie fortan des Lebens neue Wege gehen.
Sie ſtand noch auf demſelben Flecke, als der Amtmann zu ihr in die Stube kam. Er brachte ihr das Geld, das ſie bekommen ſollte, und hieß ſie, es einzunähen in ihr Kleid.
„Wegen Deiner Möbel und des Vaters Bücher,“ ſagte er, „will ich mit dem Pfarrer ein Abkommen zu treffen ſuchen. Er kann das Alles brauchen, und rückt
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man den alten Kram von feinem Platz, fo tft er gar Nichts werth. Was es ergibt, wird für Dich auf- bewahrt.“ |
Sie verſetzte, fie ſei deswegen ohne Sorge; er antwortete nicht darauf und ging davon.
Spät, als im Haufe Alles ſchon zur Ruhe war und ſie noch einſam wachend die Erlebniſſe des Tages an ſich vorübergehen ließ, kam eine Rührung über ſie. Sie dachte an den jungen Pfarrer. 5
„Der wird auch noch wachen und wird traurig ſein!“ ſagte ſie zu ſich ſelbſt, und die Vorſtellung, daß unter dem Dache, in dem Hauſe, welches ihr Ge— ſchlecht und ſie ſo lang beſchirmt, man ihrer in Schmerz und Unmuth denke, drückte ſie wie eine ſchwere Laſt. Sie konnte ſo nicht fortgehen, nicht ſo von ihm ſcheiden. Auf dem letzten Blatt Papier, das ihr zur Hand war, ſchrieb ſie ihm.
„Vergeſſen Sie, daß Sie wünſchten, was zu ge⸗ währen nicht in meiner Macht lag,“ bat ſie ihn. „Ich habe Sie nie wiſſentlich getäuſcht, ich durfte Sie auch jetzt nicht täuſchen, ohne eine ſchwere Sünde zu be⸗ gehen. Wir haben wie Geſchwiſter friedliche Tage unter meines theuern Vaters Schutz verlebt, nur dieſer erinnern Sie ſich, wenn Sie an mich ge⸗ denken, aber nicht der ſchmerzensvollen Stunde, die uns trennte. Und wollen Sie mir eine Gunſt ge⸗ währen, ſo behalten Sie zu meines Vaters Angedenken und zu meinem, das Klavier, mit deſſen Tönen wir gemeinſam ihn erheitert haben, als wenig andere Er⸗ heiterung ihm mehr vergönnt war. Ich danke Ihnen
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von Herzen für die Liebe, die Sie ihm, für die Freundſchaft und Treue, die Sie mir erwieſen haben. Denken Sie ſeiner in Ihrem Gebete und auch meiner.“
Es war ihr leichter um das Herz, als ſie den Brief geſchrieben hatte. Am Morgen, wie der Wagen kam, übergab ſie ihn dem Amtmann unverſiegelt. Er las ihn, da ſie es wünſchte, und hieß ihn gut. Es zuckte dabei Etwas über ſein Geſicht, was man ſonſt darin nicht ſah. Er umarmte ſie, wie ſie in den Wagen ſtieg und ſagte, ſie ſolle nun ihr Heil verſuchen, es ſei aber noch nicht aller Tage Abend. Sie küßte ihm die Hand und auch Ulriken, und dankte ihnen für das Gute, das ſie ihrem Vater und auch ihr gethan hätten.
„Davon iſt keine Rede!“ ſagte Ulrike, die nicht Abſchied nehmen konnte, und ging in das Haus.
Als der Wagen fort war, und der Amtmann wieder in die Stube kam, ſaß die Schweſter wei— nend hinter dem Ofen.
„Du haſt's ja ſo haben wollen!“ ſagte der Amt⸗ mann und ging an ihr vorüber in die Schreiberſtube.
„Sie hat es danach gemacht!“ entgegnete Ulrike, ſtand auf und trat an das Fenſter.
Der Wagen war ſchon weit hinaus im Felde. An der Stelle, Hulda kannte ſie ſo genau, da hatte ſie Emanuel zuerſt geſehen.
Ende des zweiten Bandes.
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. .
Date Due
Library Bureau Cat. No. 1137
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lg 3 5002 03081 3823
AUTHOR
TITLE 5 Die Erlöserin.
2123 10385
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