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Die

Fortschritte der Kriegsheilkunde,

besonders

im Gebiete der Infectionskrankheiten.

R e d e,

gehalten

zur Feier des Stiftungstages der militär-ärztlichen Bildungs- Anstalten am 2. August 1874

Rudolf Virchow.

Berlin, 1874.

Verlag von August Hirschwald.

Unter den Linden 68.

Jahrestage, wie der heutige, wo eine grosse Anstalt des Staates das Gedächtniss ihrer Stiftung begeht, gelten nicht bloss der Erinnerung. Wenn das prüfende Auge auch eines strengen Richters mit Freude, ja mit Dankbarkeit den lan- gen Zeitraum von fast acht Decennien durchmustert hat, wäh- rend dessen diese Anstalt dem Heere in immer vollkomm- nerer Weise ein für dasselbe unentbehrliches Personal zu- führte, so wird es sich doch auch vor der weiteren Unter- suchung nicht verschliessen dürfen, ob die Ausbildung, welche die Anstalt ihren Zöglingen gewährt, eine solche Breite und Sicherheit sowohl in wissenschaftlicher, als in praktischer Beziehung erreicht, dass das Heer darauf zählen darf, in allen Wechselfällen des Krieges und des Friedens zuver- lässige Helfer und Berather in dieser Jugend erwarten zu dürfen. Nicht ohne tieferen Sinn wurde der Anstalt bei ihrer Gründung der Name der Pepiniere beigelegt. Sie sollte eine Pflanzschule sein, in welcher die Zöglinge zu etwas Höherem, als zur bloss praktischen Routine, erzogen würden. Sie sollte die damals tief erniedrigte Chirurgie durch' ihre Vereinigung mit der Gesammtheit der medicini- schen Disciplinen erheben; sie sollte dem Heere nicht bloss Feldscherer, sondern Aerzte liefern, welche schon in ihrer

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Vorbildung die Elemente wahrer Humanität in sich aufge nommen hätten und welche in ihrer technischen Entwicke- lung zu der Fähigkeit gelangt seien, nicht nur die über- lieferten Lehren treulich auszuführen, sondern auch an dem fortschreitenden Gange der Wissenschaft mit Verständniss und Bewusstsein Theil zu nehmen.

Es war dies eine grosse Aufgabe. Sie ist gelöst worden. Aber indem sie für die Anstalt gelöst wurde, ward zugleich ein anderes, \'iel allgemeineres Ziel erreicht. Jene aus dem Mittelalter überkommene Scheidung in Wundärzte und Aerzte, welche in einem gewissen Sinne in England noch heute er- halten ist, wurde allmählich überhaupt beseitigt, und die Einheit der gesammten Medicin, diese Signatur der neueren Zeit, ist nicht ohne den bestimmenden Einfluss der preussi- schen militärärztlichen Einrichtungen gewonnen worden.

Die moderne Medicin und auch das ist gewiss ein bemerkenswerther Umstand ist kaum so alt, als diese Anstalt. Die grossen Autoritäten des vorigen Jahrhunderts sind heut zu Tage fast vergessen. Friedr. Hoffmann und Ernst Stahl, van Swieten, Sauvages und Cullen sie erregen nur noch das Interesse des Historikers. Unter der mächtigen Erregung der französischen Revolution, nach- dem schon für die übrigen Naturwissenschaften, besonders für die Chemie ganz neue Grundlagen der allgemeinen An- schauung gewonnen worden waren, begannen auch die Vor- arbeiten für den JSTeubau der Medicin. Gerade in diese Epoche fällt die Gründung der Pepiniere. Sie war wie eine Vorahnung der kommenden Zeit. Seitdem ist eine medici- nische Schule nach der anderen aufgestanden, eine jede mit vollkommneren Methoden und mit besseren Hülf smitteln ; von Decennium zu Decennium ist die Summe des Wissens, die Zahl der Möglichkeiten für das Können grösser geworden. An die Stelle philosophischer Spekulation ist ein wohlgeordnetes empirisches Wissen getreten: die Diagnose hat die Sicher-

heit der pathologisch-anatomisclien Grundlagen, die Prognose die Zuverlässigkeit der Statistik gewonnen, und in der Be- handlung sowohl der chirurgischen, als der inneren Schäden werden die dogmatischen, meist auf willkürlichen Voraus- setzungen begründeten und generali sirenden Indikationen mehr und mehr durch erfahrungsmässige, zum grossen Theil localisi- rende Heilanzeigen ersetzt. Nirgends ist der Gegensatz von Sonst und Jetzt schroffer, als gerade in der Therapie. Während die chirurgische Behandlung immer mehr in die Tiefe dringt und das Gebiet, welches bis dahin der sogenannten inneren Medicin vorbehalten war, auf eine noch vor Kurzem unglaub- lich erscheinende Weise schmälert, während die einzelnen Operationen an Kühnheit und Umfang weit über das früher erlaubte Maass hinausgehen, so hat gerade in der äusseren Chirurgie, welche den verletzten Soldaten hauptsächlich an- geht, eine so conservirende Richtung Platz gegriffen, dass es als ein alleräusserstes Mittel angesehen wird, einen Theil des Körpers gänzlich, zu entfernen. Und so auch in der inneren Medicin. Noch zur Zeit der Befreiungskriege galt der Ader- lass als ein nicht nur zulässiges, sondern sogar nützliches und daher vielfach anzuwendendes Heilmittel im Typhus, Gegen- wärtig hält man es für ein Verbrechen, überhaupt Blut zu vergiessen, w^o es sich irgend vermeiden lässt: nicht nur der Typhus, sondern auch die Lungenentzündung wird ohne Ader- lass geheilt. Ja, man beschäftigt sich ernstlich damit, selbst die grossen Operationen, welche im engeren Sinne „blutige" genannt werden, in unblutige zu verwandeln.

Derselben conservirenden , aber keineswegs conserva- tiven Richtung ist es zu danken, wenn sich die Aufmerk- samkeit der Geister mehr und mehr einer früher fast ganz vernachlässigten Seite der Behandlung, der präventiven oder prophylaktischen zuw^endet. Es ist dieselbe, welche in grossem Styl als öffentliche Gesundheitspflege auftritt. Hier begegnet sich der Arzt mit dem Verwaltungsbeamten, ja er

theilt gewisse Aufgaben mit dem militärischen Führer selbst. Die Sorge für reine Luft und reines Trinkwasser, für ge- sunde Nahrung und gesunde Aufenthaltsplätze liegt nicht bloss der Medicinalverwaltung ob. In vielen Stücken ist die Einwirkung der Militär-Intendantur eine noch viel mehr entscheidende, und selbst der Truppencommandeur, welcher weiss, dass es „vermeidliche" Krankheiten giebt, die ein Heer decimiren können, wenn sie sich einmal festsetzen, wird vielfach in Krieg und Frieden zu erwägen haben, ob seine Befehle mit den Regeln der Gesundheitspflege im Einklang stehen oder nicht.

So grosse Veränderungen und es Hesse sich noch manches andere Beispiel aufführen sind wesentlich her- beigeführt durch die Fortschritte der Wissenschaft. Man könnte freilich auch sagen, es sei die bittere Noth gewesen, diese herbste aller Lehrmeisterinneu, welche durch die schwersten Heimsuchungen die Augen der Menschen geöffnet habe, auf dass sie sehen mussten, was sie eigentlich nicht sehen wollten. Ja, gewiss, es ist entsetzlich, welche Schule der Leiden die Armeen haben durchmachen müssen, ehe die Wahrheit allgemein anerkannt wurde! Noch im Krym-Kriege verlor die französische Armee 1 Mann auf 3 des Gesammtbestandes , und man rechnet, dass von den 95,Gi5 Mann, welche ihr Leben einbüssten, nur 10,240 vor dem Feinde fielen. Ungefähr eben so viele Verwundete star- ben in den Hospitälern. Der Rest, mehr als 75,000 Mann, fiel Seuchen zum Opfer. Im amerikanischen Secessionskriege rechnet man 97,000 Todesfälle auf die Schlachten und 1 84,000 auf die Seuchen und Krankheiten. Welches Unmaass von Leid und Schmerz, welches Meer von Blut und Thränen liegt in diesen Zahlen verschlossen! Aber auch welche Fülle von fehlerhaften Maassregeln, von Vorurtheilen und Miss- verständnissen! Es ist nicht nöthig, hier die lange Liste dieser Fehler und Sünden aufzumachen; sie ist glücklicher-

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weise bekannt genug geworden, um Andern als Schreckbild zu dienen.

Aber das muss hier gesagt werden, dass es nicht die Noth allein war, welche das Uebel aufdeckte und die Hülfe brachte. Dass die Franzosen in der Krym wenig oder nichts gelernt haben und die Nordamerikaner in ihrem Bür- gerkriege so viel, dass von da an eine neue Aera der Mi- litärmedicin beginnt, das liegt nicht in der Grösse der Noth, welche die Amerikaner zu erleiden hatten, denn diese war nicht beträchtlicher, als sie die Franzosen in der Krym erfuhren. Es war vielmehr der kritische, acht wissen- schaftliche Geist, der offene Sinn, der gesunde und prak- tische Verstand, der in America nach und nach alle Kreise der Armee- Verwaltung durchdrang und der unter der wun- dervollen Beihülfe eines ganzen Volkes das Höchste erreichte, was bis dahin jemals in einem grossen Kriege an humaner Leistung erzielt worden war. Wer die umfangreichen Publi- kationen des amerikanischen Militär-Medicinalstabs zur Hand nimmt und durchsieht, der wird immer wieder von Neuem in Erstaunen gesetzt werden durch den Reichthum der Er- fahrungen, welche darin niedergelegt sind. Die äusserste Ge- nauigkeit im Detail, eine bis ins Kleinste sorgsame Sta- tistik, eine alle Seiten der medicinischen Erfahrung umfas- sende, gelehrte Darstellung sind hier vereinigt, um der Nach- und Mitwelt das um so theureu Preis erkaufte Wis- sen möglichst vollständig zu erhalten und zu überliefern.

Die deutschen Heere hatten in dem letzten französi- schen Kriege auf ein Total von 913,967 Mann einen Ge- sammtabgang von 44,890 Mann. Davon sind vor dem Feinde gefallen 17,572, später an ihren Wunden erlegen 10,710, Krankheiten und Seuchen zum Opfer gefallen 12,253, gewiss ein sehr günstiges Verhältniss. Aber wir hatten die Erfahrungen zweier kurz vorhergegangener Kriege für uns, welche wissenschaftlich und administrativ wohl erörtert und

benutzt waren; wir besassen die unschätzbaren Erfahrungen der Amerikaner, und endlich wir hatten die deutsche ' Wissenschaft.

Freilich die deutsche Wissenschaft hatte in 50 Jahren des Friedens, dessen letzte Jahre durch einige kleinere Feld- züge und mehrere Mobilmachungen nur vorübergehend unter- brochen waren, den Zusammenhang mit den Aufgaben des Krieges fast ganz verloren. Selbst die Chirurgie, die doch ihrer Natur nach zu allen Zeiten einen grossen Theil ihrer Beschäftigungen den Verletzungen zuzuwenden hat, war so sehr in die Hände der eigentlichen Fachmänner zurückge- gangen, dass, als der Ruf zu den Waffen erscholl, es nöthig erschien, überall auch die Lehrer des Faches als aktive Elemente der Militärchirurgie heranzuziehen. Noch schHm- raer sah es auf dem Felde der inneren Medicin aus. Der Skorbut war so vollständig aus den Krankenhäusern ver- schwunden, dass man sich daran gewöhnt hatte, ihn zu den ausgestorbenen Krankheiten zu zählen, und erst der Krieg in der Krym und der Ostsee musste den Nachweis Hefern, dass gleiche Ursachen immer noch gleiche Wirkungen her- vorbringen. Der ansteckende Kriegstyphus, der von dem Feldzuge von 1812 her noch in schlimmster Ej-innerung war, damals das russische Fieber genannt, war auf dem Continent so selten geworden, dass man ihn allmähch mit dem Abdominaltyphus verwechselte; erst die Hungerpest in Oberschlesien 1848 machte ihn wieder zu einem wirk- lichen Gegenstande ärztlicher Forschung in Deutschland.

Nur in einem Punkte war die Aufmerksamkeit immer wach erhalten worden, in demjenigen, welcher in fast gleicher Weise alle Zweige der Medicin berührt. Das waren die eigentlichen Hospital- oder Nosokomialkrankheiten. Die bösartigen Wundfieber der Chirurgen, die Eiterfieber der Mediciner, die Puerperalfieber der Gynäkologen, sie führ- ten sämmtlich auf dasselbe dunkle Gebiet, auf dem die

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Wissenschaft und die Praxis gleich machtlos einer ebenso dunklen, als übermächtigen Gewalt gegenüber standen. Die- selbe Krankheit, welche die Verwundeten des Krieges in den Lazaretten dahinraffte, wüthete in bald grösseren, bald geringeren Epidemien Jahr aus, Jahr ein in den stehenden Kranken- und Gebärhäusern. Nur die Vorstellungen über ihr Wesen und demgemäss auch der Name, welchen man ihr beilegte, wechselten. Zur Zeit der Befreiungskriege hatte man sie noch den adynamischen Fiebern zugerechnet. Als aber durch Broussais und Schönlein die Lehre von den essentiellen Fiebern zu Grabe getragen wurde, als die pathologisch-anatomische Forschung auch dieses Gebiet zu erobern begann, da entstand der Name der Phlebitis, weil man in den Venen den eigentlichen Sitz und Ausgangspunkt des Uebels zu erkennen glaubte. Selbst als der zweideutige Name der Pyämie ^hinzugefügt wurde, blieb doch die Vor- stellung von der ursprünglichen Venenaffection so sehr die bestimmende, dass der grosse französische Forscher Cru- veilhier den Ausspruch that: la phlebite domine toute la Pathologie.

Es war um diese Zeit, als ich selbst durch den damali- gen Leiter dieser Anstalt, den jetzigen hochverdienten Chef des deutschen Militär-Medicinalwesens, berufen ward, die wissen- schaftlichen Untersuchungen an der hiesigen Charite zu übernehmen, und ich darf wohl am heutigen Tage daran erinnern, dass es mir gestattet war, als am 2. August 1845 diese Anstalt die Feier ihres ersten halben Säculums beging, in einer Festrede die erste Mittheilung meiner Untersuchun- gen über Phlebitis und Pyämie von dieser Stelle aus vor- zutragen^). Schon damals konnte ich den Nachweis führen, dass weder der Name der Phlebitis, noch der Name der Pyämie passend sei, dass es sich vielmehr einerseits um Gerinnungen des Blutes in den Gefässen und deren weitere Geschichte, ande- rerseits um eine Infection des Blutes durch unreine, zuweilen

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faulige Stoffe handle, was ich später als Thrombose und Embo- lia, Ichorrhämie und Sephthämie bezeichnete. Aber ich ver- mochte nicht genau zu sagen, welche Schädlichkeit es sei, welche diese Ichorrhämie und Sephthämie hervorbringe.

Daran schloss sich alsbald eine andere Erörterung. Eine grosse Keihe der schlimmsten Erkrankungsformen, wie das Puerperalfieber, die Ruhr, selbst der Hospitalbrand, bil- den an den befallenen Stellen Pseudomembranen, von welchen die weitere Zerstörung der Gewebe ausgeht. Rokitansky hatte die Mehrzahl von ihnen als croupöse bezeichnet. Eine feinere mikroskopische Untersuchung lehrte jedoch einen durchgreifenden Unterschied. Während die Croupmembran sich als eine Ausscheidung von Faserstoff zu erkennen giebt, welche als eine abstreifbare Haut neben der erkrankten Oberfläche liegt, diese selbst aber unversehrt lässt, zeigt sich in jener anderen Reihe von Fällen eine aus feinsten Körnern bestehende Einlagerung in das Gewebe selbst, welche nicht ohne Substanzverlust trennbar ist. Unter ihrer Ausbreitung stirbt das Gewebe ab, und wenn es sich als „Haut" löst, so hinterlässt es ein Geschwür, welches durch immer neue Einlagerung sich nur zu leicht in die Tiefe ausbrütet. Ich nannte diese ganze Gruppe von Erkrankungen mit einem zuerst von Bretonneau für eine einzige Localität gewählten Ausdrucke diphtheritische^).

Die grosse Cholera-Epidemie von 1848 gab sehr bald Gelegenheit, diese selbige Diphtherie im Darm, in der Gallenblase, der Scheide und an anderen Schleimhäuten nach- zuweisen''). Ich fand sie bei Pocken und Scharlach, ja bei den mannichfaltigsteu infectiösen Prozessen; ihr Zusammen- hang mit den bösartigen Rosen, den tiefgreifenden brandig- phlegmonösen Erkrankungen, mit schlimmen Formen innerer Entzündungen trat zu Tage*), und so kam ich endlich auf einem zweiten Wege zu einer Form der Infection, welche

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noch viel mehr, als die nach Thrombose, einen ichorösen oder fauligen Charakter hatte.

Schon die Alten dachten bei solchen Zuständen an eine Verunreinigung der Säfte. Sie nannten die verunreinigende Substanz Miasma (von /iuaivw^ inficio). Ich habe deshalb die ganze Klasse Infectionskrankheiten genannt. Andere haben eine andere, gleichfalls antike Vorstellung vorgezogen, nehmlich die Vergleichung mit der Gährung, fermentatio, i^xj/iLwo-iQ^ hergenommen von der Säuerung und Gährung des Brodes. Sie gebrauchen den Namen der zymotischen Krank- heiten. Eine gewisse Zahl von diesen Krankheiten ist zu- gleich contagiös: sie pflanzen sich von Mensch zu Mensch fort, gleich einem Brande, der von Haus zu Haus weiter- greift, durch „Ansteckung".

Was ist nun aber dieses Miasma oder gar dieses Con- tagium? Seit Jahrhunderten erhebt sich immer von Neuem die Vermuthung, dass es ein selbständiges Wesen mit eigenem Leben und eigener Fortpflanzungsfähigkeit sei. Die Lehre von dem Contagium vivum s. animatum, so oft schon zurückgeworfen, taucht mit immer verstärkter Gewalt wie- der auf, so oft die naturwissenschaftliche Forschung auf dem Gebiete der Pathologie sich neu belebt. Freilich hat die Neigung der Menschen zu vorzeitiger Verallgemeinerung einer in beschränkterer Weise gültigen Erfahrung sie auch hier nur zu oft irre geführt. Die Entdeckung der Krätz- milbe, der Nachweis von der parasitären Natur der Krank- heit der Seidenraupen haben noch in unserem Jahrhundert' gezeigt, wie leicht. der Sinn auch sonst ruhiger Beobachter bethört wird und wie schnell sie geneigt sind, der neuen Erfahrung eine zur Zeit unberechtigte Breite der Geltung zuzugestehen. Aber am Ende, wer will sie tadeln, wenn ihre Vorahnung sich doch bestätigt?

Eine solche erste und grösste Bestätigung hat die Ge- schichte des Milzbrandes geliefert, einer ursprünglich bei

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pflanzenfressenden Säugethieren auftretenden, meist epizooti- schen Krankheit, welche sich sehr leicht auch dem Men- schen mittheilt. Die jüngste Seuche unter dem Damwilde im Grunewald hat uns Allen diese Gefahr ganz nahe vor Augen gerückt. Im Jahre 1855 veröffentlichte Peilender die ersten Mittheilungen über das Vorkommen mikrosko- pischer Stäbchen im Blute milzbrandkranken Rindviehes; Brauell und Davaine erweiterten sehr bald die Kenntniss dieser Gebilde, und niemand zweifelt jetzt mehr, dass es sich hier um kleinste Pflanzenformen von dem Geschlechte Bacterium handelt. Sie finden sich im Blute, in der Milz, in der gelben Sülze und den Carbunkeln der äusseren Theile. Ihre Uebertragung auf dem Wege der Impfung heisst so viel als Uebertragung der Krankheit. Das Milzbrand-Miasma, das Milzbrand- Contagium, so schliesst man, ist also das Bacterium, eine niederste Pflanze von unermesslicher Ver- mehrungsfähigkeit.

Eine nicht minder überraschende Beobachtung wurde erst im vorigen Jahre bei einer epidemischen Krankheit des Menschen, dem sogenannten Rückfallsfieber (Febris re- currens) von meinem leider so früh seinem wissenschaft- lichen Eifer erlegenen Assistenten, dem Dr. Obermeier gemacht. Bei dieser merkwürdigen Krankheit, dem gewöhn- lichen Vorläufer und Begleiter des ansteckenden Typhus, ge- lang es ihm, während der Anfälle ein kleinstes, höchst be- wegliches, in schnellster Vibration schwingendes Pflänzchen, Spirochaete, im Blute aufzufinden, das mit dem Anfalle wie- der verschwindet.

Sowohl der Milzbrand, als das Rückfallsfieber haben das Ausgezeichnete, dass die Pflänzchen im Blute selbst vor- kommen und dass ihre eigenthümliche Gestalt, ihre relative Grösse die Erkenntniss sehr erleichtern. Das Mikroskop zeigt uns aber in zahlreichen anderen Infectionskrankheiten, um nicht zu sagen, in allen, mit mehr oder weniger Con-

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stanz ungleich kleinere und ungleich weniger bestimmt cha- rakterisirte Gebilde von bald rundlicher, bald länglicher Ge- stalt, einzeln, aufgereiht und in grossen Gruppen, theils in Absonderungsflüssigkeiten, theils im Gewebe des Körpers selbst, bald beweglich, bald ruhend. Vor einem Decennium pflegte man sie dem damals für thierisch angesehenen Ge- schlechte Vibrio anzuschliessen; seit dem Auftreten Hallier's ist der Name Micrococcus und die Meinung von ihrer pflanz- lichen Natur gangbar geworden, bis Ferdinand Cohn sie unter der Bezeichnung der Kugelbakterien den Stäbchen- bakterien an die Seite gestellt hat. Viele von ihnen, auch wohl Punktbakterien genannt, sind von so winziger Grösse, dass sie auch bei den stärksten Vergrösserungen an der Grenze der Sichtbarkeit sich befinden.

Noch ist es nicht gelungen, für diese allerkleinsten Gebilde bestimmte Merkmale aufzufinden, durch welche es unter allen Umständen möglich wäre, dieselben als leben- dige Elemente, als feinste Organismen zu erkennen. Ihre Unterscheidung von blossen Körnchen, kleinsten Partikelchen unbelebter organischer Substanz ist daher vielfach unmöglich, und der gute Glaube sowohl des Beobachters, als des Nach- beters ergänzt das, was an thatsächlichen Beweisen fehlt. Mancher Tag wird wahrscheinlich noch dahingehen, bevor eine wahrhaft wissenschaftliche Ueberzeugung für alle Fälle festgestellt und eine allgemeine Einigung über die Grenzen des mikroparasitären Gebietes gewonnen sein wird. Aber auch jetzt schon, wenn man die zweifelhaften Fälle ausscheidet, bleibt eine grosse Zahl der wichtigsten Thatsachen bestehen, und gerade die Militärmedicin sollte an ihrer Verwerthung in hohem Maasse betheiligt sein.

Vornehmlich sind hier zu nennen die diphtherischen Prozesse und im Anschlüsse an sie die rosenartigen, na- mentlich das Erysipelas malignum. Jene körnige Einlage- rung in die diphtherisch ergriffenen Gewebe, von der ich

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früher sprach, hat sich mehr und mehr als eine parasitäre enthüllt. Was wir ehedem als blosse organische Körnchen, als ein einfaches Infiltrat oder Exsudat ansahen, das erweist sich als eine dichte Anhäufung von Mikrorganismen , mag man sie nun Vibrionen, Mikrokocken oder Kugelbakterien nennen. Sie dringen in die Gewebe und zwar in die Zel- len selbst ein und ertödten sie. Schon vor zwanzig Jahren sprach der berühmte italienische Anatom Pacini von den Milliarden von Vibrionen, welche den Darm der Cholera- kranken erfüllen und von welchen er annahm, dass sie die Darmzotten abweideten. Keber hat sie in der Pocken- lymphe aufgefunden. Basch, der Leibarzt des unglück- lichen Kaisers Maximilian, erkannte sie im Darm mexikani- kanischer Kuhrkranker. Jedes Jahr hat neue Beispiele ge- bracht, und wir können nunmehr wohl sagen, dass in den Infectionszuständen des Menschen und der Thiere ein ganz neues, ungeheures Gebiet selbständigen Lebens erschlos- sen ist.

Es ist dieses Gebiet eine Provinz der medicinischen Botanik. Denn es ist im Grossen und Ganzen richtig dass diese inficirenden Organismen den niedersten Pflanzen- formen näher stehen, als irgend einer Thierform, mögen sie auch selbständige Bewegungserscheinungen wahrnehmen las- sen. Wir sind längst über die Zeit hinaus, wo selbständige Bewegung als ein bezeichnendes Merkmal der thierischen Natur angesehen und wo alle kleinsten Wesen mit solcher Bewegung Infusorien genannt wurden. Selbständige Bewe- gung ist noch lange nicht willkürliche Bewegung und nur diese ist ein untrügliches Kennzeichen des Thieres. Der Versuch Häckel's, zwischen Thieren und Pflanzen ein be- sonderes Zwischenreich, das der Protisten, aufzurichten, mag für andere Wesen seine Berechtigung haben; die Pa- rasiten, welche uns beschäftigen, stehen den Schimmelformen, welche in die Klasse der Pilze gehören, am nächsten, und

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manche der am meisten charaeteristischen Arten zeigen sclion in ihrer äuseren Erscheinung ähnliche Eigenschaften und Anordnung, wie sie vom Schimmel bekannt sind.

Ich erwähne in dieser Beziehung die farbigen Schim- melformen, von denen einzelne so auffällige Zeichen her- vorbringen, dass sie in früherer Zeit als wirkliche Wunder betrachtet wurden. Von dem Blutschimmel, der auf Brod und anderen stärkemehlhaltigen Stoffen in Form von Tropfen und Flecken, nicht selten ganz plötzlicli und massenhaft, wächst, hat schon Ehrenberg gezeigt, dass er dem alten Mirakel von „dem Erscheinen des Blutes auf Hostien" zu Grunde liegt. Die von diesem Altmeister der Mikroskopie aufgestellte Gattung Monas prodigiosa gehört demselben Ge- biete der Kugelbakterien an, welches uns beschäftigt. Es ist ein kleinstes und einfachstes Pflänzchen, das sich mit unglaublicher Schnelligkeit vermehrt und dabei einen eigen- thümlichen vegetabilischen Farbstoff absondert, der freilich dem Blutfarbstoffe äusserlich sehr ähnlich ist, sich jedoch in "Wirklichkeit vollkommen von demselben unterscheidet. Andere, unter pathologischen Verhältnissen am menschlichen Körper vorkommende Schimmel, namentlich solche, die an eiternden Wunden sich entwickeln, erzeugen einen blauen, andere einen schwärzlichen, andere wieder einen orange- farbenen Farbstoff. Für Jemand, der die verschieden ge- färbten Pilze an den Blättern und Stämmen der Bäume, Sträucher und anderer Gewächse zu betrachten gewohnt ist eine keineswegs auffallende Thatsache.

Leider ist jedoch diese Provinz der Botanik noch wenig angebaut. Die ungemeine Kleinheit der Gegenstände , die Schwierigkeit ihrer Isolirung von einander, die überaus häu- fige Vermischung mehrerer oder gar vieler Arten an der- selben Steile hindern ein zuverlässiges Studium in ganz un- gewöhnlicher Weise. Die mit peinlichster Sorgfalt ange- stellten „Keinculturen", unternommen in der Absicht, die

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gesammte Geschichte des einzelnen Pilzchens von dem er- sten Keim bis zu seiner vollständigen Entwickelung und Fruchtbildung zu verfolgen, scheitern immer und immer wie- der an dem Auftreten neuer Pilzarten, deren Keime man vor- her nicht wahrgenommen hatte, in den Culturbeeten. Ja, der Gedanke, dass aus der organischen Substanz, in welcher die Cultur vorgenommen wird, durch einen Akt der Schöpfung oder, wie man es etwas illoyal genannt hat, durch Gene- ratio aequivoca die neuen Keime erst gebildet werden, findet immer wieder neue Anhänger. In der That hat der specu- lativ so berechtigte Gedanke einer Epigenesis oder, wie man neuerlichst sich ausgedrückt hat, einer Abiogenesis nirgends so viel Wahrscheinlichkeit für sich, als gerade gegenüber diesen, zum Theil kaum sichtbaren Wesen.

Die nüchterne Erfahrung, gestützt auf das Experiment, weist alle diese Hoffnungen zurück. Jeder Versuch der Epi- genesisten wird durch einen noch besseren Versuch der Pan- spermatiker widerlegt. Die aprioristische Möglichkeit, so viel sich philosophisch für sie sagen lässt, findet keine em- pirische Begründung. Auch der kleinste Organismus ent- steht im Wege regelmässiger Erbfolge von einem früheren, und wenn dieser Organismus im Sinne des Pathologen ein Miasma oder ein Contagium ist, so folgt daraus, dass kein solches Miasma oder Contagium de novo entsteht. Irgendwo in der Welt muss es schon gegeben sein, und wenn wir es hier auffinden und vernichten könnten, so raüsste auch die davon abhängige Krankheit zu Ende gehen.

Sonderbarerweise zeigt die Geschichte der Epidemien ein Verhalten, welches scheinbar dieser Auffassung gerade entgegengesetzt ist. Kein Theil der Geschichte ist mehr geeignet, dies darzulegen, als die Kriegsgeschichte. Nur zu oft sind es Feldzüge, Belagerungen, Truppenanhäufungen der verschiedensten Art gewesen, welche die Heerde grosser und zuweilen unerhörter Epidemien schufen. Von der Bela-

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gerung Troja's und den Perserkriegen, von den Feldzügen Alexander's und MarcAurel's bis zu den Belagerungen von Sewastopol, Gaeta und Metz, bis zu den nordamerika- nischen und böhmischen Feldzügen, wie viele Mal sind schwere Seuchen unter den Kriegern ausgebrochen und durch die fortziehenden Schaaren, durch Kranke und Nachzügler weit und breit unter die übrigen Leute verschleppt worden !

Wenn man sich die Infectionskrankheiten , unter denen die Heere zu leiden haben, genauer ansieht, so lassen sie sich ganz natürlich in zwei grosse Gruppen eintheilen, wel- che ich als die der einheimischen und die der exotischen bezeichnen möchte. In die letztere Reihe gehören die Pest, die Blattern und die Cholera. Nichts berechtigt zu der An- nahme, dass eine dieser Krankheiten jemals auf europäischem Boden, entstanden sei. Man kann über die Zeit ihres ersten Einbrechens in Europa streiten und die eine oder andere dunkle Stelle eines alten Schriftstellers auf sie beziehen. Aber man darf sich nicht im Fanatismus der historischen Forschung verlocken lassen, zu glauben, es habe zu allen Zeiten Epidemien dieser Art gegeben. Die erste Invasion der orientalischen oder sagen wir lieber, der ägyptischen Pest in Europa fällt in das Jahr 543; wahrscheinlich bald nachher erscheinen die Blattern, deren erstes Auftreten in Arabien etwa um die Mitte des 6. Jahrhunderts gesetzt wird; die erste europäische Cholera -Epidemie trat erst im Jahre 1830 auf, nachdem sie schon seit 1817 von ihrer indischen Heimath aus ihren Verwüstungszug begonnen hatte. Alle diese Krankheiten sind ansteckend, wenngleich in sehr ver- schiedener Weise ansteckend. Es wird ein Streit um des Kaisers Bart, wenn man, wie früher bei der Pest, so jetzt bei der Cholera, die Unterschiede ihrer Contagiosität von anderen, uns geläufigen contagiösen Krankheiten so sehr betont, dass darüber die Contagiosität selbst in Frage gestellt wird. Mag zwischen dem ersten erkrankten Individuum und dem zweiten

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ein gewisses Zwischenglied liegen, das kann man nicht hinwegdisputiren , dass der Krankheitskeim von dem ersten Individuum ausgeht und zu dem zweiten gelangt.

Die Pest ist gegenwärtig nahezu eine Krankheit der Vergangenheit. Wenngleich noch in den letzten Tagen die Nachricht von neuen Eruptionen dieser Seuche am Euphrat und an der Libyschen Küste die Gemüther beunruhigt hat, den Trost besitzen wir, zu wissen, dass mit der Einführung geordneter socialer Zustände in ihrem alten Heimathlande Aegypten die gefahrdrohenden Epidemien aufgehört haben. Dagegen die Gefahren der Cholera hat erst der böhmische Feld- . zug von 1866, die Gefahren der Blattern der französische von 1870 und 1871 dargelegt, im ersteren Falle für die Armee selbst, im letzteren für die Kriegsgefangenen und die sesshafte Bevölkerung.

Die andere Gruppe ist die der einheimischen Infections- krankheiten. Ich will die Frage ununtersucht lassen, ob der ansteckende Typhus, das sogenannte Fleckfieber oder der eigentliche Kriegstyphus, mit seinem Genossen, dem Rück- fallsfieber in diese Kategorie gehört, worüber sich bis zu einem gewissen Maasse wohl eine abweichende Meinung ver- theidigen lässt. Nach den amtlichen Tabellen sind es haupt- sächlich drei Krankheiten, welche hier in Betracht kommen: die Diphtherie, der Abdominaltyphus und die Ruhr. Im Jahre 1868 zählte die Armee im Frieden 2358 Erkran- kungsfälle an Diphtherie, 3006 an Abdominaltyphus (abge- sehen von 4850 Fällen an gastrischem Fieber), 327 an Ruhr. Im Jahre 1869 werden 1769 Fälle von Diphtherie, 2234 von Abdominaltyphus (ungerechnet 2260 von gastrischem Fieber) und 65 von Ruhr aufgeführt.. Von erheblicher Bedeutungist da- her eigentlich nur der Abdominaltyphus , zumal wegen seiner grossen Einwirkung auf die Sterblichkeit. Denn die Armee verlor 1868 daran 529, 1869 338 Mann; die Krankheit er- reichte also eine Sterblichkeit von 17,5 und 15,1 pCt. Ja,

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im ersten Armeeeorps . betrug sie im Jahre 1868 sogar 20 pCt.

Im Kriege gestalten sich die Verhältnisse natürlich anders. So ergiebt die Statistik des letzten französischen Krieges, dass von den 12,253 an Krankheiten Gestorbenen mehr als die Hälfte dem Typhus erlegen ist, nehmlich 6965; an der Ruhr starben 2000 Mann, etwa ein Sechstel. Alle anderen tödtlichen Krankheiten umfassen also nur ein Drittel des Gesammtverlustes. Rechnen wir dazu von den in Folge ihrer Wunden verstorbenen 10,710 Mann den grösseren Theil, insofern wohl angenommen werden darf, dass die Mehrzahl derselben an bösartigen Wundkrankheiten zu Grunde gegangen ist, so erhalten wir eine Summe von nahezu 20,000 Mann, welche der einen oder der anderen Art der Infection erlegen sind.

Es verlohnt sich also recht sehr der Mühe zu unter- suchen, wodurch denn eigentlich diese Infection hervorge- bracht wird.

Nun sind sowohl die Pocken und die Cholera, als auch der Typhus und die Ruhr, die Diphtheritis und die Wund- krankheiten verdächtig, durch jene feinsten Pflanzenformen, die vorher den Gegenstand meiner Besprechung bildeten, er- zeugt zu werden. Es finden sich bei ihnen allen kleine Bakterien und Mikrokocken in grosser Zahl, und zwar bei den meisten jener Krankheiten im Ernährungskanal, nament- lich bei Cholera, Typhus und Ruhr im Darm, bei der Diph- theritis im Rachen. Die Ruhr darf als ein im Wesentlichen ört- licher Erkrankungsprocess der Darmschleimhaut betrachtet werden; bei der Cholera treten schon die Allgemeinerscheinun- gen stärker in den Vordergrund ; bei dem Typhus ist dies im höchsten Grade der Fall. Sind nun in der That die Mikrorga- nismen der eigentliche Grund oder, wie man wohl etwas eilig sich ausdrückt, das Wesen dieser Krankheiten?

Ein erstes erhebliches Bedenken gegen diese Auffassung

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bilden die vorliommenden Mikrorganismen selbst. Es ist bisher nicht gelungen, so durchgreifende Unterschiede zwi- schen den Parasiten der Cholera und denen der Ruhr, zwi- scben den Bakteridien der Blattern und denen der Diphtheritis zu finden, dass man bei jeder dieser Krankheiten besondere Pflänzchen nach bestimmten Merkmalen zu erkennen und im technischen Sinne zu diagnosticiren vermöchte. Die- selben Formen von Mikrokocken und Bakterien, welche der Cholerastuhl zeigt, habe ich in Darmausleerun- gen von Kranken mit Fleckfieber, ja bei einfacher chro- nischer Diarrhoe in cholerafreier Zeit gesehen'^). Noch vielmehr war ich überrascht durch ein anderes Vor- kommen derselben. Es ist ein schwieriges Problem, in Cholerazeiten eine Arsenikvergiftung zu diagnosticiren, weil die Symptome in beiden Fällen sehr ähnlich sein können. Die Seuche verhüllt gleichsam das Verbrechen. Ich hoffte, einen Unterschied in den Darmausleerungen entdecken zu können. Aber zu meinem grössten Erstaunen fand ich^) auch im Darm von Arsenikleichen dieselben Mikrorganis- men, welche die Cholera charakterisiren sollen. Ebensowenig giebt es meines Wissens bis jetzt eine Möglichkeit, durch die besonderen Eigenschaften der vorkommenden Kugelbak- terien eine variolöse Rachendiphtherie von einer einfachen oder von einer scarlatinösen zu unterscheiden.

Gerade die diphtherischen Localprocesse bilden aber ein sehr auifälliges Verbindungsglied zwischen den verschiedenen Infectionskrankheiten. So habe ich schon in der grossen Pockenepidemie von ] 858 nachgewiesen, dass die sogenannte Delle der Pockenpusteln dadurch bedingt wird, dass an dieser Stelle eine diphtherische Infiltration der Haut statt- findet; ähnliche Zustände bilden sich in der Schleimhaut der Luftwege und der Speiseröhre der Pockenkranken''). So finden wir selbst bei Abdominaltyphus gelegentlich nicht bloss Darmdiphtherie, sondern auch diphtherische Zustände der Harnwege und der Nieren. Im Puerperalfieber haben

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zuweilen selbst die Bauchfell- und Brustfellentzündung, welche sich im Laufe desselben entwickeln, einen diphtheri- schen Charakter.

Könnte es nicht sein, dass die Diphtherie in allen diesen Fällen nur eine Complication darstellt? So fassten wir Alle in früherer Zeit das Verhältniss auf. Die Diphtherie er- schien uns als der höchste Grad einer örtlichen Entzündung von bösartigem Charakter, bedingt durch die Heftigkeit des ört- lichen Vorganges, auch wohl durch eine schlechte Beschaifenheit des betroffenen Gewebes oder Individuums. Schon die älteren Schriftsteller hatten alle diese Formen unter dem Namen der brandigen Entzündungen zusammengefasst. Seitdem sich nun gezeigt hat, dass die diphtherische TnOltration eine para- sitäre ist, ändert sich freilich die theoretische Vorstellung von dem Wesen des Localprocesses, obwohl nicht die Vor- stellung von seiner Wirkung, die stets als eine ertödtende und insofern brandige (nekrotisirende, gangränescirende) wird anerkannt werden müssen. Wäre es aber trotzdem nicht möglich, dass auch diese parasitäre Affektion nur eine Com- plication ist? Wir kennen ähnliche Verhältnisse vom Soor, einer durch einen wohlausgebildeten Fadenpilz, das Oidium albicans, hervorgebrachten Erkrankung der Mund-, Rachen- und Speiseröhrenschleimhaut. Während sie bei kleinen Kin- dern unter dem Namen der Schwämmchen oder Aphthen als ein für sich bestehendes und selbständiges Leiden be- kannt ist, findet sie sich als häufige Complication bei Schwindsüchtigen und, was ganz besonders wichtig ist, bei Typhösen. In ähnlicher Weise Hesse sich recht wohl die Diphtherie als ein besonderer Zufall betrachten, der die Summe der schon vorhandenen Störungen in den Infections- krankheiten noch vermehrt. Ja, es erscheint eine solche Auffassung sogar berechtigt, wenn man erwägt, dass nicht jeder Fall von Cholera, Typhus oder Ruhr wirkliche Dipht- herie zeigt.

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Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kann man noch auf einem anderen Wege gelangen. Auch die faulige Zer- setzung ausserhalb des Körpers ist, wie die Gährung, von der Entwickelung kleiner Pflänzchen begleitet. Daher for- mulirte schon E. Mitscherlich zu einer Zeit, da man nur die Gährungspilze als Pflanzen, dagegen die Vibrionen, Mo- naden und Bakterien als Thiere ansah, den Unterschied beider Zersetzungsprocesse dahin, dass die Gährung durch Pilze, die Fäulniss durch Infusorien bedingt sei. Wäre es nun nicht zulässig, anzunehmen, wie es die älteren Aerzte in der Annahme eines Status putridus und .einer Febris pu- trida, des so sehr gefürchteten Faulfiebers, thaten, dass alle diese Infectionskrankheiten ein gleichartiges fauliges Element enthielten? und dass sie sowohl in den Absonderungen, als in den Geweben des Körpers eine gewisse chemische Con- stitution hervorbrächten, welche der Zersetzung, dem Zerfall günstig ist und die schnelle Vermehrung der in diese Theile gelangenden Fäulnissorganismen nach sich zieht?

Unter den Absonderungen giebt es keine, welche so sehr eine zur Fäulniss prädisponirte Constitution besitzt, als der Harn. Ausserhalb des Körpers genügt irgend eine Beimischung fauliger Substanz zum Harn, um ihn schnell zu alkalischem Zerfall zu bringen ; mit grösster Schnelligkeit tritt alsdann in ihm eine unermessliche Menge pflanzlicher Organismen der kleinsten Art auf. Aber auch innerhalb des Körpers geschieht das selbe. Diese, wie man wohl sagt, alkalische oder Harnstoff- gährung ist eine der gewöhnlichsten Complicationen der Blasenleiden, sowohl beim Manne, als bei der Frau, und jedesmal zeigt sich unter solchen Verhältnissen eine Neigung zur Diphtheritis der Blase selbst, ja sogar der Nieren. Nichts ist häufiger und zugleich lästiger, als die Diphtheri- tis der Scheide bei solchen Frauen, welche an Blasenscheiden- fisteln leiden.

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Nächst dem Harn sind die Abgänge des Darmes zn nennen. Ausserhalb und innerhalb des Körpers „tendiren" die Fäcalstoife zur fauligen Zersetzung und zur Massenpro- duction von Fäulnissorganismen. Kein Theil des Körpers aber ist so sehr zu diphtherischen Erkrankungen prädispo- nirt, als derjenige Abschnitt des Darms, welcher die be- reits in den fäculenten Zustand übergegangenen, zum Aus- wurf bestimmten Stoffe enthält, nehmlich der Dickdarm. Hier ist der eigentliche Sitz der ßuhr, hier finden sich vor- zugsweise die diphtherischen Zustände der Cholera, hier zeigt sich nicht selten die Diphtherie der Wöchnerinnen und der sogenannten Pyämischen. Aber hier ist auch zugleich der Prädilectionssitz , der Locus minoris resistentiae für die Diphtheritis der Schwindsüchtigen und, was gewiss sehr be- zeichnend ist, für die der ürämiker. Alle diese Formen aber sehen sich anatomisch so ähnlich, dass sie vielfach unter dem gemeinsamen Namen der dysenterischen Processe oder kurzweg der Ruhr zusammengefasst werden, ein Ver- fahren, dem ich mich immer widersetzt habe, weil der Be- griff der Ruhr ein klinischer oder ein ätiologischer, aber nicht ein anatomischer ist, und weil die wahre Ruhr ausser der diphtherischen Form, die ich selbst zuerst als solche nach- gewiesen habe, noch in einer davon verschiedenen katarrha- lisch-folliculären Form auftritt.

Um so mehr habe ich aber immer darauf bestanden, dass man auch für die wahre Ruhr anerkenne, von wie grosser Bedeutung für ihre Entwickelung und örtliche Aus- bildung die Zurückhaltung und Zersetzung der Fäcalstoffe sei ^). Es würde zu weit führen, wenn ich alle Einzelheiten in dem anatomischen Verlaufe des Processes hier darstellen wollte; es mag genügeUj hervorzuheben, dass in dieser Er- kenntniss zugleich die theoretische Erklärung für jenes ur- alte, empirische und auf den ersten Blick so widerspruchs- volle Heilverfahren bei der Ruhr, Abführmittel zu reichen,

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gegeben ist. Das aber muss ich noch erwähnen, dass bei krankhaften Verengerungen des Dickdarms, gleichviel wel- cher Art sie sind, über der verengten Stelle, wo eine oft sehr lange andauernde Anstauung der Fäcalstoife erfolgt, sehr leicht eine diphtherische Erkrankung eintritt, welche an Heftigkeit des örtlichen Verlaufes nur von der puerpe- ralen erreicht wird, indem Totalnekrosen der Darmwand mit vollständiger Durchlöcherung derselben entstehen. Was kann hier anders für ein Entstehungsgrund angerufen werden, als die faulige Zersetzung der stagnirenden Fäcalstofife?

Eine solche Reihe von Betrachtungen führt scheinbar folgerichtig zu der Vorstellung von der einheitlichen Natur aller derjenigen Prozesse, welche in der Diphtherie ihren anatomischen oder örtlichen Ausdruck finden. Man sollte meinen, es erübrige dann nur noch, auch die einheitliche Natur der Fäulnissorganismen darzuthun. Dies hat kürzlich in einer für den heutigen Gang der wissenschaftlichen Un- tersuchung in der Chirurgie höchst bezeichnenden botanischen Arbeit Billroth versucht, indem er sämmtliche unter dem Namen von Vibrionen, Monaden, Mikrokocken, Bakterien u. s. f. aufgeführten Erscheinungsformen von einer einzigen Mutterpflanze, die er Coccobacteria septica nennt, ableitet. Da diese Pflanze sich überall in der Natur vorfindet, da sie im menschlichen Körper selbst, namentlich im Darm, auch bei Gesunden fast immer vorhanden ist, so bedarf es gar nicht erst einer Zuführung derselben, einer Ansteckung und üebertragung : sie ist schon da und es ist nur nöthig, dass günstige Bedingungen für ihre Fortpflanzung und weitere Ausbildung eintreten.

Ohne mir in diesem Augenblicke ein Urtheil über die Richtigkeit der botanischen Abschnitte dieser bedeutungs^ vollen Arbeit anmaassen zu wollen, muss ich doch sagen, dass sie mit meinem eigenen Gedankengange nur zum Theil zusammentrifft. Ich halte es allerdings für richtig, dass

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die gewöhnlichen Fäulnis sorganismen ausreichen, um einen grossen Theil der localen und einen gewissen Theil der all- gemeinen Infectionskrankheiten zu erklären. Es ist dies das schon immer von uns zugestandene Gebiet der putriden Infection, deren höchste Entwickelung die Sephthämie ist. Mit dieser Gruppe tritt mindestens ein grosser Theil der diphtherischen Prozesse, deren Verwandtschaft mit den fau- ligen wir längst ausgesprochen haben, in eine allerdings nähere Verbindung, als bisher gewöhnlich angenommen wurde, ja wahrscheinlich in eine viel nähere, als selbst Billroth zuzugestehen bis jetzt geneigt ist.

Für die Kriegsheilkunde kommen hier vorzugsweise in Betracht die Wundfieber, die Ruhr und der Abdominaltyphus, vielleicht auch die ßachendiphtherie, also die früher als ein- heimisch bezeichneten Infectionskrankheiten. Ihr Auftreten knüpft sich ganz besonders an gewisse Oertlichkeiten , und sie gewinnen daher leicht einen wahrhaft endemischen Cha- rakter. Seit lange haben gewisse Länder und Landestheile, sowie gewisse Festungen in der Kriegsgeschichte einen beson- ders schlimmen Euf. Wenn die deutschen Könige auf ihren Römerzügen die Alpen passirt hatten und mit ihren Heeren in die lombardische Ebene hinabstiegen, so stiessen sie neben dem offenen Feinde fast jedesmal auf einen geheimen, aber um so mehr tückischen Feind, auf irgend ein „Fieber". Mehr als ein deutsches Heer ist diesem geheimen Feinde erlegen, nachdem es den offenen Feind siegreich niederge- worfen hatte. Vor keiner Feste aber haben die deutschen Armeen schlimmere Erfahrungen gemacht, als vor Metz. 1552 und 1870 sind die Grenzmarken für eine lange Local- geschichte von Krieg, Hunger und Pestilenz^). Noch im letzten Kriege verlor unser Heer vor Metz allein durch Typhus und Ruhr 2 1 57 Mann, und wer zählt die Fälle, wo die Gesundheit der festesten Männer durch die dort erlittene Erkrankung für das ganze Leben gebrochen worden ist!

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Erst nach Jahren werden die Listen der milden Stiftungen darüber genügende Ausweise geben können. Nirgends aber ist der Zusammenhang der genannten beiden Krankheiten für die Militärmedicin in so schlimmen Zahlen hervorgetreten, als in dem nordamerikanischen Secessionskriege. Schon im ersten Jahre desselben stieg die Zahl der Erkrankungen an Abdominaltyphus auf 21,977 und die der Todesfälle auf 5608, im zweiten betrugen die Erkrankungen 31,874 und die Todesfälle 10,467. In der gleichen Zeit ergriff die Ruhr 34,848 Mann, von denen 474 starben.

Bei allen solchen Erlebnissen richtet sich der Blick zu- erst auf den Boden selbst als auf die Quelle des Miasma. Der Gedanke, dass aus dem Boden ein giftiger Stoff, eine Malaria sich erhebe, welche die Menschen krank macht und tödtet, liegt so nahe, dass er sich mit ebenso grosser Be- ständigkeit immer wieder äussert, wie in der Geschichte der eingeschleppten Epidemien der Gedanke der Brunnenver- giftung. Unzweifelhaft liegt dem einen, wie dem anderen eine richtiges instinktives Gefühl zu Grunde. Aber erst die neueste Forschung hat gelehrt, dass es sich bei diesen Seuchen am wenigsten um ein Gift handelt, welches ein für allemal im Boden haftet, oder welches fremde Bosheit in die Brunnen einbringt; es sind vielmehr die Menschen selbst, welche den Boden und von da aus die Brunnen und die Luft vorübergehend verunreinigen durch ihre Auswurfsstoffe, na- mentlich durch Harn und Roth. Noch sind nicht alle Sta- dien dieser Verunreinigung, dieser künstlichen Infection von Boden, Wasser und Luft so genau festgestellt, dass wir alle Einzelheiten derselben besprechen könnten, aber die Hauptfrage ist erledigt und ,die wachsende Erkenntniss von den grossen Aufgaben der öffentlichen Gesundheitspflege tritt in dem immer regeren Bestreben der Gemeinden um Reini- gung der Städte, in dem heftigen Streit um Kanalisation und Abfuhr deutlich genug zu Tage.

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Im Kriege, wie im Frieden ersehen wir aber zugleich, dass derartige Verunreinigungen gewöhnlich nicht allgemeine Eigenschaften des ganzen Bodens oder alles Wassers sind; mag der Wind das Miasma uns anwehen, es ist doch nicht in der ganzen Luft enthalten. Vielmehr giebt es auf jedem infecten Terrain noch wieder gewisse Einzeiheerde. Am häufigsten sind dies die menschlichen Wohnplätze. Das Gebundensein der bösartigen Wund- und Wochenbettfieber an die Krankenhäuser und Lazarette hat zuerst die Auf- merksamkeit auf das Wohnungs- und Hausmiasma gelenkt. Man hat sich dann bei weiterer Aufmerksamkeit überzeugt, dass manches Gift in den eng umschlossenen Grenzen des Gebäudes oder des Hofes aus selbstgeschafFenen ünreinig- keiten entsteht, welche der Mensch zu träge ist rechtzeitig zu entfernen. Die eigene Nachlässigkeit und Unwissenheit sollte man daher anschuldigen, statt in fremder Schuld den Grund des Uebels zu suchen.

Darf man nun annehmen, dass das Wohnungs-Miasma, das "Hospital-Miasma, das Lager-Miasma ein identisches ist? dass dasselbe Miasma je nach Umständen Abdominaltyphus und Ruhr, Diphtherie und Rosen, Hospitalbrand und Sephth- ämie hervorbringt? dass es von den gewöhnlichen Fäulniss- organismen herstammt und in einer bestimmten Pilz- oder Algenart seinen Ausdruck findet? Zu der Bejahung solcher Fragen würde mit Folgerichtigkeit die Annahme Billroth's von dem Zusammenhange aller der erwähnten parasitären Pflanzen als blosser Vegetationsformen der Coccobacteria sep- tica führen, sobald man überhaupt den parasitären Pflanzen pathogenetische Eigenschaften beilegt. Aber ich möchte hin- zusetzen: Mit fast gleichem Rechte könnte man dann auch noch die Cholera anschliessen. Schon in meinen Vorträgen vom Jahre 1848 habe ich gezeigt, dass die Reihe von Sym- ptomen und von anatomischen Veränderungen, welche man bei Thieren durch künstliche Injection faulender Flüssig-

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keiten in das Blut hervorbringen kann, im höchsten Maasse derjenigen gleicht, welche beim Menschen durch das Cholera- gift erzeugt wird; ich schloss damals aus dieser Uebereinstim- mung, dass das Choleragift den Fäulnisskörpern nahe verwandt sein müsse. Dazu kommt, dass die diphtherischen Vorgänge bei der Cholera von denen bei den einheimischen Infections- krankheiten nicht zu unterscheiden sind und dass die so- genannten Cholerapilze einheimischen Diarrhoepilzen zum Verwechseln gleichen.

Es scheint mir unzweifelhaft, dass gegenüber diesen Erfahrungen nur zweierlei Erklärungen möglich sind. Ent- weder sind die Mikrorganismen aller der genannten Infections- krankheiten identisch, und dann wird man, wie es auch bei Billroth geschieht, auf besondere giftige Substanzen hin- gewiesen, welche noch neben den Pilzen oder Algen vor- handen sein und unabhängig von ihnen entstehen müssen. Oder die Mikrorganismen sind trotz ihrer anscheinenden üeber- einstimmung verschieden und bilden die Träger und Erreger der gefährlichsten Vorgänge im Körper, sie sind die eigent- lichen Krankheitsursachen. Ein Drittes scheint mir nicht möglich. Nur lässt die oben erwähnte zweite Hypothese noch wieder eine doppelte Anwendung zu.

Die Rolle, welche den Mikrorganismen in der Krankheit zugeschrieben wird, kann nehmlich verschieden gedeutet werden. Es ist denkbar, dass diese Wesen direct durch ihre Thätigkeit die lebenden Theile des Körpers angreifen und zerstören, aber auch, dass sie einen schädlichen Stoff, ein Gift hervorbringen, welches das Leben bedroht. In der ersteren Weise dachte sich Pacini die Thätigkeit der Vi- brionen in der Cholera. Aehnlich lassen manche der Neueren, wie Hüter und Klebs bei den Wundfiebern, die Monaden oder Mikrospuren von der Oberfläche her in den Leib des Menschen eindringen , in die farblosen Blutkörperchen oder das Blut selbst gelangen und durch dieselben zu den inneren Or-

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ganen getragen werden, um dort ihre zerstörende Thätig- keit auszuüben. Nach der zweiten Erklärungsart ist der parasitäre Körper nicht im mechanischen Sinne gefährlich, son- dern er ist Gifterzeuger. Dabei kann man wiederum zweierlei mögliche Fälle unterscheiden, je nachdem der Parasit das Gift in sich erzeugt und selbst giftig wird, oder dasselbe absondert, also selbst unschädlich bleibt. Anders ausge- drückt, würde dies heissen: Entweder giebt es auch unter den mikroskopischen Pilzen giftige Arten, wie sie unter den grossen Pilzen seit langer Zeit bekannt sind, oder die Fäul- nissorganismen verhalten sich zu d^n faulenden Stoffen und dem fauligen Gift, wie die Gährungspilze zu den gährenden und den gegohrenen Steifen, sie sind Fermente.

Man muss sich die grosse Verschiedenheit dieser an sich möglichen Erklärungsweisen klar machen, um die Ge- fahr einer einseitigen Deutung zu verstehen. Keine dieser Erklärungsweisen oder Hypothesen ist eine bloss erdachte; für jede derselben bietet die Erfahrung bestimmte Anhalts- punkte. Die Pilzkrankheiten der äusseren Haut, wie der Grind (Favus), und die der oberflächlichen Kanäle, wie der Soor und die Schimmelkrankheiten des Gehörganges, sind ganz örtlicher Natur; es ist weder etwas Giftiges, noch etwas Fermentatives dabei. Vielmehr wirken die Pilze örtlich rei- zend und zerstörend, indem sie das menschliche Gewebe, durchwachsen und zerfressen, wie der zerstörende „Schwamm" das Holz. In ähnlicher Weise könnte man sich auch die Wirkung der Pilze innerlich denken und ein Versuch Grohe's ist sehr geeignet, eine solche Möglichkeit auch für innere Vorgänge als wirklich zulässig erscheinen zu lassen. Er brachte nehmlich einen bekannten grossstengeligen Schimmel- pilz, den Aspergillus in das Innere lebender Thiere und sah darnach in kurzer Zeit in den verschiedensten Organen Heerde entstehen, welche gänzlich aus Aspergillusfäden bestanden. Diese Fäden durchsetzten das Gewebe, drangen zwischen

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den Elementen fort und zerstörten sie endlich. Ganz ähn- lich denkt sich Klebs die Wirkung des von ihm mit dem Namen des Microsporon septicum bezeichneten Parasiten, den er als specifische Ursache der bösartigen Wundfieber in den Lazaretten des letzten Krieges nachgewiesen zu haben glaubt. Selbst der Milzbrand ist in der letzten Zeit ge- wöhnlich in dieser Weise erklärt worden. Indem das Bacte- rium anthracis in das Blut eindringe und sich darin so ver- mehre, dass nach einer Berechnung in jedem Tropfen 8 bis 10 Millionen davon vorkommen, so bemächtige es sich ver- möge seiner grossen chemischen Affinität des gesammten zu- strömenden Sauerstoffes; die Blutkörperchen könnten nicht mehr athmen und das Thier ersticke. An sich eine ganz plausible Erklärung! Darnach würden die Blutkörperchen gleichsam belagert von den Bakterien, welche ihnen jede Zufuhr von aussen abschnitten. Allein die Erfahrung lehrt, dass das Milzbrandblut oft sehr arm an Bakterien ist. Noch in der letzten Epizootie unter den Damhirschen des Grune- waldes habe ich mit der gelben Lymphe, welche die Lymph- drüsen des Halses bei einem gefallenen Thiere umgab und welche höchst winzige und äusserst spärliche Mikrorga- nismen enthielt, Kaninchen geimpft; der Tod erfolgte vor dem Ablaufe von 24 Stunden auf die Einbringung mini- maler Mengen der Lymphe, und das Blut des gestorbenen Thieres zeigte fast gar keine Beimischung von Parasiten. Die mechanische Hypothese ist daher für diesen Fall gänzlich unzulässig. Wenn trotzdem die Einbringung eines einzigen, aus der Drosselader jenes gefallenen Kaninchens entnommenen Blutstropfens in die Rückenwunde eines an- dern Kaninchens genügte, um dasselbe gleichfalls noch vor dem Ablaufe des Impftages zu tödten, und wenn auch hier die Menge der im Blut vorgefundenen Bakteridien eine sehr geringe war, so bleibt meiner Meinung nach für diese FUUe nur die Annahme eines chemischen Giftes übrig.

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Ich leugne also die Zulässigkeit der mechanischen Hy- pothese an sich gar nicht; im Gegentheil, ich halte sie für zulässig und correct für gewisse Fälle. Aber ich halte sie nicht für richtig für die grossen Infectionskrankheiten , am wenigsten für die epidemischen. Vielmehr scheint mir die Annahme, welche ich in meinem Vortrage vom 2. August 1845 machte, dass es sich hier um eine Reihe von chemi- schen Veränderungen handelt, eine Annahme, welche in der Aufstellung der Ichorrhämie und Sephthämie ihren Ausdruck gefunden hat, für diese grossen Krankheitsformen immer noch die allein zulässige. Dass es giftige Mikrorganismen giebt, welche, wie der Fliegenschwamm, wenn sie genossen werden, schädlich wirken, will ich nicht bestreiten; bestimmte Thatsächen für diese Annahme scheinen mir jedoch bisher nicht in genügender Zahl vorzuliegen. Es bleibt daher nur die fermentative oder zymotische Theorie übrig. Danach würde der Mikrorganismus durch seine Vegetation aus Stoffen, welche er der Nachbarschaft entzieht und welche er bei dem Aufbau seines Leibes und bei seiner Vermehrung verwendet, neue Stoffe erzeugen, wobei als Abfall und Aus- wurfsstoff ein Körper von bestimmten schädlichen Eigen- schaften entsteht. So erzeugt der Pilz des Mutterkorns das sogenannte Ergotin, eine höchst wirksame giftige Sub- stanz; so der Gährungspilz den Alkohol, dessen schädliche Wirkungen hinreichend bekannt sind.

Diese abgesonderten Gifte sind begreiflicherweise auch trennbar von den Mikrorganismen, welche sie er- zeugt haben; ihre Wirksamkeit ist nicht gebunden an die Anwesenheit der Pilze, gerade so wenig wie die Pilze selbst giftiger Natur sind. Hefe, welche ganz aus Gährungspilzen besteht, hat man gelegentlich Kranken in so grossen Mengen gegeben, wie Salat von Gesunden genossen wird, und doch zeigte sich kein bedenkliches Symptom. Es ist daher sehr wohl denkbar, dass an einer Impfstelle oder an der Stelle

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einer Verletzung im menschlichen Körper sich ein Pilzheerd bildet, der in grosser Menge Gift absondert, welches nicht bloss die Nachbargewebe tödtet, sondern auch in Blut und Lymphe übergeht und das Leben des Individuums gefährdet, ohne dass die Pilze selbst in das Blut gelangen und ohne dass die etwa in dasselbe gelangten jedesmal eine pathoge- netische Bedeutung haben. Nachdem es Panum gelungen ist, aus faulenden Flüssigkeiten ein neugebildetes Gift wirk- lich zu .isoliren, so kann es nicht mehr zweifelhaft sein, dass die faulige Infection, die Sephthämie nicht auf die mecha- nischen Störungen durch Mikrorganismen bezogen wer- den darf.

Daraus folgt jedoch keineswegs, dass auch die Erzeu- gung des Fäulnissgiftes ohne die Anwesenheit der Fäulniss- organismen möglich sei, oder dass wir von den Mikrorga- nismen ganz absehen dürften. Im Gegentheil, je genauer wir untersuchen, um so mehr stellt sich heraus, dass es gerade diese Organismen sind, welche die Schädlichkeit erzeugen. Freilich darf man diese Erfahrung nicht ins üngemessene ausdehnen, und, wie es schon hie und da geschieht, jede Fermentwirkung auf Pilze beziehen. Jede organische Zelle hat die Fähigkeit, für ihre eigene Entwickelung und Thätig- keit gewisse Stoffe aus der Nachbarschaft anzuziehen, in sich aufzunehmen und zu verarbeiten, während sie andere, verbrauchte und häufig recht schädliche Stoffe aus sich aus- scheidet. Bei sehr reichlicher Zellenbildung erreicht auch die Grösse dieser Umsetzungen ein hohes Maass, und es liegt gar kein Bedürfniss vor, für die Entstehung der Ab- fallsstoffe noch wieder auf die Hülfe von Pilzen zurückzu- gehen. Selbst da, wo wirkliche Fermentkörper erzeugt wer- den, finden wir vielfach nur gewöhnliche Zellen an der Arbeit. Das lehrt namentlich die Geschichte der Verdauungsstoffe. Das Pepsin, wie die so wirksamen Fermente des Mund- und des Bauchspeichels sind Zellerzeugnisse, an deren Bildung kein

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Pilz betheiligt ist. Wer dies bezweifelt, der könnte ebenso gut auf den Gedanken kommen, die wirksamen Tlieile des Samens seien nicht die Samenfäden, sondern besondere Pilze. So wird auch die Pathologie neben den Pilzen noch immer die Wirksamkeit der gewöhnlichen Zellen und der durch sie her- vorgebrachten, häufig inficirenden Stoffe als pathogenetisches Moment festhalten müssen. Dies gilt nicht nur für entzünd- liche Prozesse, welche verdiente Pathologen der neuesten Zeit, wie Burdon Sander so n, gleichfalls der Pilzdoctrin in weitestem Umfange zugänglich machen wollen, sondern selbst für die Syphilis, bei der trotz der zahlreichsten Ver- suche und trotz einer in der besonderen Stärke ihrer Con- tagiosität begründeten Wahrscheinlichkeit bis jetzt ein mikro- parasitäres Element nicht hat ermittelt werden können.

Allein solche Reservation ist nicht zulässig bei den fau- ligen Vorgängen. Die Mikrorganismen sind hier überall mit Leichtigkeit nachzuweisen und ihr Einfluss auf den Gang der Zersetzung ist bequem zu beobachten. Die Schwie- rigkeit eines Verständnisses der pathologischen Bedeutung dieser Vorgänge würde nur dann unüberwindMch erscheinen, wenn in der That eine einzige Pflanze die mannichf altigen Formen der Fäulnissorganismen erzeugte. Allein es bleibt, wie mir scheint, auch gegenüber dem scheinbar sichersten Ergebniss der morphologischen Untersuchung, der praktische Versuch immer noch in Bezug auf die physiologische oder pathologische Wirkung entscheidend. Bringen dieselben Form- elemente ganz verschiedene Wirkungen hervor, so müssen sie innerlich verschieden sein. Können wir diese innere Verschie- denheit an so feinen Körpern, wie die Vibrionen und Bakterien es sind, nicht direct sehen, so werden wir uns daran erinnern müssen, dass an den Bildungszellen des Ei's und zahlreicher pathologischer Gewächse, trotzdem dass sie neben Vibrionen als förmliche Riesen erseheinen, auch nicht im Voraus gesehen werden kann, was aus ihnen werden wird. Ja, die Eier selbst

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sind vielfach einander so ähnlich, dass die Verschiedenheit der Thiere, welche aus ihnen hervorgehen werden, auch nicht im Entferntesten geahnt werden kann. Ergiebt sich daher durch eine Impfung oder durch den pathologischen Zufall, dass durch Bakterien, welche denen gewöhnlicher faulender Infu- sionen vollständig gleichen, Milzbrand entsteht, während die Bakterien der gewöhnlichen Infusionen ihn nicht erzeugen, so werden wir immer schliessen müssen, dass die Bakterien des Milzbrandes von den Bakterien der Infusion mindestens so verschieden sein müssen, wie Schierling von Petersilie.

Die Wissenschaft bedarf aber, um sichere Resultate zu gewinnen, einer gewissen Mannichfaltigkeit der üntersuchungs- methoden. Nur bei vollständiger Concordanz der verschie- denen, für einen gegebenen Fall anwendbaren Methoden kann die Untersuchung als abgeschlossen gelten. Ist dies nicht der Fall, so wird diejenige Methode für das vorläufige Ur- theil den Vorzug verdienen, bei welcher wir die wirksam- sten Hülfsmittel in Anwendung bringen können." Verfahren wir nach diesen Grundsätzen bei der . Beurtheilung der In- fectionskrankheiten , so wird nicht der morphologische Weg als der vorzüglichere erscheinen, denn die Anwendung des Mikroskops findet verhältnissmässig bald ihre Grenze in der Unmöglichkeit einer weiteren optischen Auflösung der mecha- nischen Anordnungsverhältnisse der Substanz. üeber die Infection entscheidet allein das Experiment. Dem haben wir uns unterzuordnen. Ueberdies ist der Widerspruch zwischen der morphologischen und der physiologischen Unter- suchungsweise, welcher übrig bleibt, möglicherweise ein nur scheinbarer, denn wenn die eine Methode wegen erkannter Insufficienz der Hülfsmittel überhaupt ein vollkommenes Re- sultat nicht liefern kann, so darf man ihr für diesen Fall auch nicht einen so grossen Werth beilegen, um immer neue Bedenken aus einer nachgewiesenen Unvollkommenheit her- zuleiten.

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Allein der Mensch gesteht nicht gern ein, dass seine Erkenntnissmittel beschränkt sind. Resignation ist eine schwere Tugend. Und doch muss sie geübt werden und vor allen Dingen in der Wissenschaft. Es mag paradox er- scheinen, von jemand Entsagung zu fordern, der die volle Wahrheit sucht. Aber die Paradoxie liegt nur in der Ein- seitigkeit des Weges, den er verfolgt. Viele Wege führen nach Rom, aber nicht alle. Und so darf ich, der ich im Beginne meiner wissenschaftlichen Laufbahn die damals über- aus harte Forderung an die wissenschaftliche Medicin ge- stellt habe, die Anschauung von den pathologischen Vor- gängen auf die mikroskopische Betrachtung zu gründen und diesen Vorgängen mindestens um 300mal näher zu treten, jetzt, wo man ihnen schon um 900 und um 1200mal näher getreten ist, wohl darauf aufmerksam machen, dass die Morphologie nur die eine Seite der Biologie darstellt und dass jenseits des Kreises der Morphologie ein grosses Ge- biet mechanischer und chemischer Vorgänge liegt, dessen Erforschung andere Hülfsmittel erfordert, als der Morpholog sie zu bieten vermag.

Sei es auch hier gesagt, dass die morphologischen Dis- ciplinen nicht die letzten Aufschlüsse über das Wesen der Dinge geben und geben können. Wie der Grund aller menschlichen Anschauung, selbst die Gestaltung der religiö- sen Vorstellungen, abhängig ist von den herrschenden Be- griffen über die Einrichtung der Substanz selbst und die be- stimmenden Kräfte in derselben, so ist auch der letzte Grund alles pathologischen Wissens in der Physik und Chemie zu suchen. Das sind die grundlegenden Wissenschaften, und ihre Einführung in den täglichen Gebrauch der Aerzte war der grösste und sicherste Fortschritt, den die Medicin je ge- macht hat. Darin liegt die Erklärung für die Thatsache, dass in der immerhin kurzen Zeit des Bestehens dieser An- stalt eine grössere Veränderung in der medicinischen An-

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schaiuings- nnd Handlungsweise eingetreten ist, als in den 2000 Jahren von Hippocrates bis auf Harvey.

Möge die erleuchtete Verwaltung, welche diese Anstalt so segensreich entwickelt hat, niemals übersehen, dass nur bei freiester Darbietung aller Hülfsmittel des Studiums die Entwickelung des einzelnen Studirenden so weit gefördert werden kann, dass er im Laufe der wenigen Studienjahre die unermesslichen Schätze der wissenschaftlichen Erfahrung wenigstens in ihren Hauptzügen kennen zu lernen vermag, dass aber eine sichere Kenntniss wenigstens der Hauptsachen allein den Arzt vor dem traurigen Loose sichert, nach we- nigen Jahren der Praxis von dem Verständniss der fort- schreitenden Wissenschaft abgeschnitten und der Möglichkeit der Selbsthülfe beraubt zu sein. Wenigstens einmal in sei- nem Leben muss jeder wissenschaftliche Mann sich in voller Kenntniss des gegenwärtigen Zustandes seines Faches und der grundlegenden Wissenschaften befunden haben. Sonst ist er veraltet, nachdem er kaum angefangen hat, selbstän- dig zu arbeiten. Möge gerade unsere Militärverwaltung, welche jede wissenschaftliche Leistung auf ihrem Gebiete so umsichtig für die Zwecke des Staates zu nutzen strebt, sich stets der Erfahrung bewusst bleiben, dass die Medicin als eine angewandte Naturwissenschaft nur auf dem breiten Grunde der gesammten Naturwissenschaften gedeiht, dass sie aber auf diesem Grunde auch die reichsten Früchte bringt. Dann werden wir hoffen dürfen, dass, gleichwie die deutsche Medicin überhaupt die Führung hat übernehmen können, auch die deutsche Militärmedicin, welche schon jetzt einen so hohen Rang einnimmt, geistig fortarbeiten werde zum Heile der Armee und zum Ruhme des Vaterlandes.

Anmerkungen.

1) Gesammelte Abhandhmgen ziir wissenschaftlichen Medicin. Frankf. 1856. S. 478.

2) Archiv für path. Anat., Phys. u. Min. Medicin. 1847. Bd. I. S. 253. Handb. der spec. Pathologie u. Therapie. Erlangen, 1856. Bd. I. S. 292.

3) Medicinische Reform. 1848. S. 64, 89.

4) Gesammelte Abhandl. S. 70 1 ff.

5) Mein Archiv. 1869. Bd. 45. S. 280-

6) Mein Archiv. 1869. Bd. 47. S. 524. Vgl. 0. E. E. Hofmann. Ebendaselbst. 1870. Bd. 50. S. 455.

7) Deutsche Klinik. 1858. S. 306.

8) Mein Archiv. 1853. Bd. 4. S. 348. 1871. Bd. 52 S. 19.

9) Mein Archiv. 1870. Bd. 51. S. 128. 187). Bd. 52. S. 31.

Gedruckt bei Julius Sittenfeld in Berlin.

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