3 vt ee DIE FUNCTIONEN DES CENTRALNERVENSYSTEMS UND IHRE Poet Yel OG ENS DRITTE ABTHEILUNG DIE WIRBELLOSEN THIERE Abb ildungen aus dem xylographischen Atelier Wie. yon Friedrich Vieweg und ish in Braunschweig. DIE FUNCTIONEN DES CENTRALNERVENSYSTEMS UND IHRE PHYLOGHNESE VON PROF. Dr. mep. J. STEINER DRITTE ABTHEILUNG DIE WIRBELLOSEN THIERE MIT 46 EINGEDRUCKTEN ABBILDUNGEN UND EINER TAFEL IN FARBENDRUCK BRAUNSCHWEIG DRUCK UND VERLAG VON FRIEDRICH VIEWEG UND SOHN 1898 . Alle Rechte, namentlich dasjenige der Uebersetzung in fremde Sp vorbehalten. DEM ANDENKEN E. DU BOIS-REYMOND GEWIDMET s ft & m it ae re ae Wales . - A eee ‘ f 4 : a -- ae! Pee Ue ea i WoO eR EH DE. Das Manuscript fiir dieses Heft war im Mai 1897 an den Herrn Verleger abgegangen. Die Herstellung der Abbildungen, sowie man- cherlei iiussere Schwierigkeiten hatten die Fertigstellung bis heute verzogert, so dass reichlich ein Jahr dariiber hingegangen ist. Deshalb konnten Arbeiten, welche im Laufe dieses letzten Jahres erschienen sind, hier keine Aufnahme finden. Da das Centralnervensystem der Wirbellosen, namentlich in physio- logischen Kreisen, weniger gekannt ist, so sind simmtliche Typen desselben hier abgebildet worden, wozu sich aber sehr bald der natir- liche Wunsch hinzugesellte, die Thiere selbst kennen zu lernen, so dass ich mich entschloss, auch diese aufnehmen zu lassen. Der Voll- stiindigkeit wegen wurden diese Abbildungen schliesslich auch auf ganz bekannte Thiere, wie Krebs und Schabe, ausgedehnt. Die Figuren stammen aus den verschiedensten Quellen, namlich aus dem grossen Werke von Cuvier (Régne animal), aus der Fauna und Flora des Golfes von Neapel, aus Brandt u. Ratzeburg, med. Zoologie, aus v. Ihering’s Molluskenwerk, aus Claus’ Zoologie, aus dem Hertwig’schen Werke iiber die Medusen; eine Anzahl sind Originale nach Zeichnungen, die ich der zoologischen Station in Neapel verdanke. Auch diesmal war ich wiederholt auf Hiilfe von aussen angewiesen, wofiir ich sehr gern hier meinen Dank ausspreche. Zuniichst dem hohen Ministerium der Justiz, des Cultus und des Unterrichtes der Grossherzoglichen Badischen Regierung in Karlsruhe, welche mir im August 1889 ihren Arbeitsplatz auf der zoologischen Station in Neapel iiberliess. Ferner der Ko6nigl. Preussischen Akademie der Wissen- schaften in Berlin, welche mir in demselben Jahre Reisemittel gewahrt VIII Vorrede. hatte. Weiter meinen Freunden, den Professoren Biitschli in Heidel- berg, B. Grassi in Rom und Blochmann in Rostock, deren Rath ich vielfach in Anspruch nehmen durfte. Endlich der zoologischen Station in Neapel, wo man stets bemiiht war, meine Arbeiten zu fordern. Besonderer Dank gebiihrt der Verlagshandlung, deren Bestreben es jeder Zeit war, diese Schrift entsprechend auszustatten. Koln, im Juli 1898. J. Steiner. | ky pla IGA a) Bs Us BerenUCHU I 1 | (ppc RMIEE DS Os go's canal oe s!, wchen Yer fey Oy Se acl ae Erste Abtheilung: Historischer Abriss .......-.... OORIIE ORG SUC ELISE 4. A ERR RS a AS ER a ee a Ree rene OEE GRACE. ct Ag). cs: oacel Ses “inva: Se Svtecw ages aids yell ® 0p Qe Orme DIGmNVUINOIIE ake ets: seer ia el ol ta Beet “AA (WR ce ie Cs Aa aa nay reeC meee rE RGR ta oe a. wh Sire ike “EA fed ce ad ws rt aniulev ab a feo da & vs he Re UCmrEGRECHMNOGELINGD «<< gu ols Ad. fo isle cee ee - §. 6. Die Coelenteraten..... Sa OME ako meme mr oes aR And Zweite Abtheilung: Experimenteller Theil ..............- Prsces Capiel-+ Die Crustaceen 42). i. 6: sess ne ee Ee a §. 1. Anatomie des Centralnervensystems der Gliederthiere....... §. 2. Nervensystem des Krebses und der Krabbe. .....+...... Dee IDICH MER RUC neues vo" hie Loti uy MN ALS lh Me oe ASTD 3) ee ee ae eer amrATinlyse, Ger, VieTSuChe! a c2 aN 4 Jah. ts. wit Coke. Gow seule cite Zweites Capitel: Die Imsecten....... Sood a aces! ie Aan Utes va, anal te ae Anatomusehe Bemerkangéen oo. st SMe eo ek oe Gepauee ice Versucneus a JN, pes, Gi necsy: SODAS criopeda Prete & SoM eeATiAlyse Gers VELSUCNE a +a( il oe) shee ee eRe) ae DO Ot tes sCapitel: Die; Myrionoden. » .: der-\Versncheicecesakt-s) Ghana co s< < se s/s. ee Whee eee Siebentes Capitel: * Die Appendicularion’. .~ 2. 6 1. we os ote mentes: Capitel; Die Mehinodermen; 5. - . 3.0 < . «5 a. See me NP Dic SCCStCrHe tamer Me wae <<. 4) S$. 3 ca eta ae eee emis CeeMDIGS VEESUICIG: ooo cores sc) to oo )s)! «ies sl co roe eee oe Riese SEeTeC lS 5. centri a tar sea "a Ooo et he ee ro ence Pee VETRHCDG our a jahin, sc 3, 0. 6. cys SL aeRO, ow, 49 x Inhalt. Seite Neuntes Capitel: Die Coelenteraten .......:26.%6 sve th ae ee Go.) ‘Die Anatomie. maraes is Joule us eo Har Teg Ree oe aa ote ae aren §. 25" Die Versuche teataesen ces + ele oyber ass © vou lel dene tReet nr a §. 3. Analyse der Veusiete Ee ee Mena oe Lk rd! Zehntes Capitel: Die Zwangsbewegungen |)... 0. 1.0.92 = see S.01.. Die (Crustaceemeien cs... Gstap je) witte soy koe utc niente oye ne , As Die "Wersmene ss.) wei a ote el et ot altace) Sao B. Analysesder Versuche. 9.0% «. ji fo. 2 6 Pee ee ee §.°2. Die Unsectonee 7G)... 6 bie ice ierse den te eenneuniels fae cake re A. WiepViersuche 7. °.\< cok Ml aes. wi “al covey aiulet ef cu sen aot B.* Analyse-der. Versuché <2. = . Era rameter elt §..-3; Die tMiyriopoden: ~~). <<. Seeamteutcl es oe te oe rece een ee 7 Avs Die; Versuche * -<.*. | lo gattgaente tos. “a feo Seige coh tt Bev Analyse der Versucheyiay me caus. % cle ts hoes a S40) Die Anneliden «0442 Sage phorelae es 4. A Se Ace Die Versitches: is gq @ ra ieemes tere os, A ene 87 B.; Analyse der Viersuche > sao tei ot te 3s) ee) ae te §:40.. Die unsegmentirten, Warmer Shiai 0 a. 6d) ee 8:96. Die Mollusken 3 Si 4-4irs, kes eeee ittaen ell oe ioe) nial pee A. Die Versuche .. SPL ediesatoiuee Lethe) pick tol gets i ech y meg eee eee B. Analyse der Wana, ee Behera |: 3 §. 7. Ascidien, Appendicularien, Mekinedenmen (idleatensiaa eres ce ftes Capitel: Das Bauchmark der Wirbellosen .......... 94 §. 1. Symmetrische (doppelsinnige) Durchschneidungen des Bawchianees 94 §. 2. Asymmetrische (einseitige) Durchschneidungen des Bauchmarkes . 99 Zwolftes Capitel: Reizungsversuche innerhalb des Centralnerven- Elft : SYST eas je se ae ee ee Mid RL Pete 0 SL Si) Die Versuche 272) ou. We ofp igslie Gate TO Sinton 2 ai 102 §. 2. Theoretische Rete nae SE OE is Re ete ae Bee a LOE Dreizehntes Capitel: Zwangsbewegungen nach Abtragung des Gehirns 108 Dritte Abtheilung: Theoretischer Theil. 2 7 002) .) 5°20.) -0e ee Erstes Capitel: Das Gehirn der Wirbellosen. ........ Be cease tI A. Die Crustaceen. .. . oR COL AT a cee eee B. Die tracheaten aihrancieat edd se, We wD eae Led ei ke Brey ene C; 7 Die Myriopoden.’] = S).0 ss ee sa) pTLA ay gL > ns tee Die DiesAmmelidemm y. nyse) See MeL ete MEME oes ge iis) E. Die unsegmentirten Warmer ip daz tot hey plates, os Skip ep nes le me a le F. Die Mollusken..... Roney Mey sll 2A0) G. Die Appendicularien, Behinnlernen ed iGrclentecaten PRP egies ol c Zweites Capitel: Das Bauchmark..... ... » ‘ols beits poset ae ee ees Drittes Capitel: Das Centralnervensystem als Rinheit . « Se! ice ee §. 1. Allpememe Betrachtungen’ soa: .v): Walla ee RMT GC! acd ct Ie §. 2. Die Leitungsbahnen im fecralncrenavaiee ea es sg. lel §. 3. Theorie ene Zwanesbewesungen . 2» eile) Sy tales ie eas §..4.° Der Schlundring) seen ai. vsintes herrea Eo ee oe (ik. sels eaeles Sh GE Paelenenennene: Betrachtungen .. . Rar AlAb Vierte Abtheilung: Ueber das Binicheewicnt ioe Evortehenien See Gee Hinleitung. Der urspriingliche Plan zu diesen Arbeiten hatte sein Augenmerk nur auf die Wirbelthiere gerichtet. Die Wirbellosen sollten ganz aus dem Spiele bleiben, schon deshalb, weil von den Wirbelthieren keine Analogie zu ihnen hiniber fiihrte, und man nicht wusste, was dem Gehirn, was dem Riickenmark der Wirbelthiere gleichgesetzt werden konnte. Als ich im Verfolg meiner Studien iiber das Nervensystem der Amphibien, der Knochen- und Knorpelfische in den Jahren 1885 und 1888 (Heft I und II dieser Sammlung) zu einigen neuen Gesichts- punkten gelangt war, wozu besonders die Auffassung des allgemeinen Bewegungscentrums gehort, da erschien es eine natiirliche Aufgabe, an der Hand dieser neuen Kenntnisse, die Evertebraten zu durchmustern. So wandte ich mich im Herbst 1886 noch in Heidelberg den Krebsen und den einheimischen Anneliden (Regenwiirmer und Blutegel) zu; im Friihling 1887 bei einem erneuten Aufenthalte in Neapel bearbeitete ich Crustaceen, Mollusken, Wiirmer (segmentirte und unsegmentirte); im Sommer desselben Jahres die Insecten. Im September des gleichen Jahres konnte ich auf der Natur- forscherversammlung in Wiesbaden (siehe das Tageblatt dieser Ver- sammlung) die Resultate dieser Arbeiten mittheilen. | Da es mir indess noch an einer sicheren Erkenntniss iiber das Verhalten der Anneliden nach halbseitiger Abtragung ihres Dorsal- ganglions mangelte, so war ich im August 1889, schon von hier aus, nochmals nach Neapel gegangen, um diese Aufgabe zu lésen. In einem Berichte an die Konig]. Akademie der Wissenschaften in Berlin habe ich dann eine Uebersicht meiner Resultate gegeben 1), dabei aber die unsegmentirten Wiirmer ausgelassen. Den Grund fiir diese 1) J. Steiner, Die Functionen des Centralnervensystems der wirbellosen Thiere. Sitzungsber. d. Konigl. preuss. Akademie d. Wissenschaften in Berlin 1890, II, S. 39 bis 49. Steiner, Centralnervensystem. III. 1 2 Hinleitung. Unterlassung weiss ich heute nicht anzugeben, aber die Versuche stehen schon in meinen Notizen aus dem Friihling 1887. Die ausfiihrliche Darstellung meiner Versuche, die bald folgen sollte, hat sich durch die Veriinderung meiner dusseren Lebens- stellung bis jetzt verzdgert. Aber die Beschiftigung mit dem Nerven- systeme des Menschen, welcher ich mich in diesen Jahren in prak- tischer Thatigkeit zu widmen hatte, ist sicherlich diesem Buche sehr wesentlich zu Gute gekommen, wie ich es im Allgemeinen wiinschte, dass die Physiologie den Zusammenhang mit der Pathologie, d. h. mit dem Menschen, nicht aus den Augen verlieren sollte. Zugleich boten mir diese Jahre Gelegenheit, verschiedene der alten Versuche Ofter zu wiederholen und die Resultate so. zu befestigen. Bei der Lange dieser Verzogerung hat es- sich denn auch er- eignet, dass Versuche neuerdings verodftentlicht wurden, welche ich schon lange legen hatte, ohne sie mitzutheilen. So erschien im Jahre 1894 eine Arbeit von J. Loeb iiber die Wiirmer, in der theil- weise dieselben Objecte bearbeitet wurden, mit denen auch ich mich beschaftigt hatte. Mir kann dieses Ereigniss nur angenehm sein, da ich meine Versuche iiber diesen Gegenstand an verschiedenen Stellen durch Loeb’s Arbeit erganzen konnte. Dass aus der vorliegenden Darstellung die Protozoen ausfallen, verstand sich stets von selbst, da dieselben kein Nervensystem haben. Aber auch die Echinodermen und Coelenteraten sollten urspriinglich hier keinen Platz finden und waren auch von mir nicht untersucht worden, weil ich seiner Zeit keine rechte Fragestellung im Vergleich zu den héberen Evertebraten hatte finden konnen. Als ich jetzt an die Darstellung meiner Versuche ging, welche sich iiber simmtliche Evertebraten erstreckte, mit Ausnahme der beiden eben genannten Gruppen, da gefiel mir der alte Plan nicht mehr, weil er einen Torso schuf, wihrend es mir ein niitzliches Unternehmen schien, eine vollstandige Arbeit zu leisten und auch jene beiden Thier- classen aufzunehmen; allerdings nicht nach meinen eigenen Er- fahrungen, sondern nach den Erfahrungen einer Anzahl von Autoren, die sich mit diesen Thieren eingehend beschaftigt haben. So wird diese Schrift ein vollkommenes Bild unserer augenblick- lichen Kenntnisse tiber die Functionen des Nervensystems der Everte- braten geben; freilich mit einer gewissen Einschriinkung insofern, als diese Untersuchung ausschliesshich darauf ausgegangen war, unserer ganzen Erkenntniss dadurch eine erste und feste Grundlage zu geben, dass diejenigen Nervenabtheilungen zu bestimmen resp. zu unter- suchen seien, welche der Locomotion, der Ortsbewegung. dienen, und jene, welche nur Theilbewegungen des Koérpers resp. Bewegungen der o Kinleitung, 3 -Koérperanhinge (Extremitiiten, Schwanz) erzeugen. Die Frage nach den ,willkiirlichen Handlungen* wurde nur da erliutert, wo ein Urtheil dariiber zweifellos moglich war, und das ,Bewusstsein* wurde nirgends gepriift, um nicht in den Fehler zu verfallen, an dem die Physiologie der Wirbelthiere so lange gekrankt hat. Denn iiber das Bewusstsein k6nnen wir nur von dem seine Empfindungen durch die Sprache sich iussernden Menschen etwas erfahren, und ob Handlungen von Thieren willkiirlich sind oder unwillkiirlich, liisst sich mit Sicherheit nur in gewissen manifesten Fallen beurtheilen, wihrend in einer grossen An- zahl von Beobachtungen diese Bestimmung dem subjectiven Ermessen des Beobachters unterliegt, wobei man sich noch gar nicht auf den extremen Standpunkt derjenigen zu stellen braucht, welche fragen, ob es tiberhaupt eine vollig willkiirliche Handlung giebt. Man erinnere sich nur der Kimpfe, welche bei Gelegenheit der Riickenmarkseele gekimpft wurden, um mein Bestreben zu wiirdigen, die Functionen des Nervensystems von einer ganz anderen Seite her verstehen zu lernen. So wurden auch die Sinnesempfindungen nicht speciell studirt, sondern nur so weit herangezogen, als fiir unsere Aufgabe nothwendig erschien. Dem entsprechend hat sich die geschichtliche Darstellung der Evertebraten, welche den Untersuchungen voraufgeht, nur auf die eben angegebenen Materien beschriinkt, so dass ich im Voraus bitte, gegen mich keinen Vorwurf zu erheben, wenn der Leser diese oder jene Thatsache historisch nicht angemerkt finden sollte: sie stand ausser- halb des Rahmens unseres Unternehmens. 1* Erste Abtheilung. Historischer Abriss. Soviel ich die Verhaltnisse tibersehe, besitzt unsere neuere Literatur eine einheitliche Darstellung der Physiologie des Centralnervensystems der wirbellosen Thiere bisher noch nicht, vielleicht nur deshalb, weil keiner der physiologischen Forscher eine systematische Untersuchung dieser Thiere vorgenommen hat. Da ich seit Jahren meine Arbeitszeit diesem Unternehmen ge- widmet habe, so erschien es mir eine dankenswerthe Aufgabe in dem Augenblicke, wo ich meine eigenen Untersuchungen ausfihrlich dar- zustellen unternahm, auch zu sammeln, was vorher schon auf diesem Gebiete geleistet worden ist. Solche Arbeit diirfte auch den Nutzen stiften, dass dieselben Fragen nicht immer wieder von Neuem bearbeitet werden, weil der einzelne Forscher nicht wusste, was seine Vor- ginger schon producirt hatten. Dass es so kommen konnte, erscheint nicht wunderbar, wenn man sieht, dass eine sehr grosse Anzahl von experimentellen Beobachtungen in rein morphologischen Arbeiten von grossem Umfange verstreut sind, da die Evertebraten so zu sagen noch eine Domine der Morphologen waren, wahrend die Physiologen ihre Aufmerksamkeit wesentlich nur den Vertebraten zuwandten. Unter diesen Umstiinden erscheint es fast unméglich, die Ge- schichte der Evertebraten erschopfend behandeln zu wollen, da man hierzu die Legionen von morphologischen Arbeiten simmtlich durch- sehen miisste; ein Versuch, der fiir mich schon daran scheitert, dass ich fern einer grossen fachmannischen Bibliothek meine Arbeiten zu machen habe. Die folgende Darstellung will sich daher bemiihen, méglichst viel und insbesondere die grésseren und wichtigeren Arbeiten zu sammeln, um so ein fortlaufendes Bild der Entstehung unserer experimentellen Kenntnisse von dem Centralnervensysteme der Evertebraten zu _ ver- mitteln. Geschichte der Insecten. 5 Hierbei schwebte mir der (Gredanke vor, dass man _ deutlich wiirde beobachten kénnen, wie die Arbeiten iiber die Wirbellosen aus dem vielfach gepflegten und reichlich entwickelten Boden der Wirbel- thiere mit innerer Nothwendigkeit gleichsam herauswachsen miissten. Das aber war eine Illusion: die beiden Reihen von Arbeiten laufen neben einander her und nur in zwei hervorstechenden Fragen greifen die Evertebraten auf die Vertebraten zuriick, nimlich einmal in der Frage, ob bei den Wirbellosen die Wurzeln der Bauchganglien ge- trennten Functionen dienen, wie jene des Riickenmarkes, und zweitens in dem Bestreben, denjenigen Theil des Nervensystems der Wirbel- losen herauszufinden, welcher dem Gehirn der Wirbelthiere eleich- vesetzt werden kann. Wir werden sehen, dass beide Fragen zu beantworten bleiben. Saat Die Insecten. Wir beginnen mit den Arthropoden, den hochst entwickelten Evertebraten, und unter diesen mit den Insecten, deren wunderbaren Lebenserscheinungen Fachmianner wie Laien schon friihzeitig ihre be- sondere Aufmerksamkeit geschenkt haben. Ueber dieselben besitzen wir altere Werke von J. Swammerdamm!), Réaumur?), Ch. Bonnet’), A. Rosel von Rosenhof?t), Ch. de Geer’), J. R. Rengger*) und Walckenaer’), welche ich nur zum Theil im Original habe ein- sehen konnen, deren Resultate ich indess durch spitere Autoren kennen gelernt habe; es handelt sich mehr um Beschreibung der Lebens- gewohnheiten, als um vivisectorische Beobachtungen. Bei Rengger ist es eine Doctordissertation, welche derselbe unter dem Einflusse von Autenrieth, Gmelin und einigen weniger bekannten Namen verfasst hat auf Grund eigener Experimente, von denen uns hier nur diejenigen iiber das Nervensystem interessiren. Rengger durchschneidet bei mehreren Raupen (deren Namen er iibrigens nicht angiebt) das Gangliensystem der Bauchseite an ver- ) J. Swammerdamm, Historia Insectorum generalis. Utrecht 1669. *) Réaumur, Mémoires pour servir 4 Vhistorie des Insectes, 16 Vols. Paris 1734—1742. 8) Ch. Bonnet, Traité d’Insectologie, 2 Vols. Paris 1740. ‘) A. Rosel von Rosenhof, Insectenbelustigungen. Niirnberg 1746 bis 1761. °) Ch. de Geer, Mémoires pour servir 4 lhistoire des Insectes, 8 Vols. 1752—1776. °) J. R. Rengger, Physiologische Untersuchungen iiber die thierische Haus- haltung der Insecten. Tiibingen 1817. 7) C. A. Walckenaer, Mémoires pour servir 4 Vhistoire des Abeilles soli- taires. Paris 1817. 6 Geschichte der Insecten. schiedenen Stellen, und beobachtet danach, dass der hinter der Durch- schneidungsstelle gelegene Theil des Thieres ganz lahm ist (¢psa verba) und keine Lebensfunctionen mehr verrichtet. Die Fiisse versagen den Dienst und am Rumpfe zeigen sich keine oder nur unregelmissige Bewegungen, wogegen die Irritabilitat gegen dussere Reize erhalten ist. Der vordere Theil der Raupe macht nach einigen Minuten der Erholung Ortsbewegungen und schleppt den lahmen Hintertheil mit sich umher. Wird das Dorsalganglion isolirt zerstort, so schwindet die Orts- bewegung. Wenn bei einem Schrotter (ein Insect, das mir unter diesem Namen unbekannt ist) von der Bauchseite her die Nerven durch- schnitten werden, welche zu den Muskeln gehen, so werden diese gelahmt. Hierauf folgt G. R. Treviranus!), dessen Resultate dadurch iiber- raschen, dass sie so weit zuriick legen, wahrend wir gewohnt sind, diese Ergebnisse viel jiingeren Autoren und der neueren Zeit zu- zuschreiben. Er schreibt: ,,Ein lebhafter Carabus granulatus, dem ich den Kopf abgeschnitten hatte, lief nach der Operation ebenso wie vorher herum, suchte iiber die Wande einer Schale, worin er sich befand, hinaus zu kommen, um zu entfliehen, und spritzte aus den Blasen am After den darin enthaltenen &tzenden Saft hervor. Selbst nach Abschneiden des vorderen Theiles des Thorax, woran die beiden vorderen Beine befestigt sind, setzte der Rumpf mit den vier hinteren Beinen die scheinbar willkiirlichen Bewegungen noch fort. Erst nachdem der Thorax noch weiter bis an die Wurzeln der beiden hinteren Beine abgeschnitten war, gingen diese Bewegungen in Zuckungen iiber. Kine Bremse (Zabanus bovinus) machte, als ich sie nach Weg- nahme des Kopfes auf den Riicken legte, Anstrengungen, wieder auf die Beine zu kommen, ergriff mit den Fiissen eine Pincette, womit ich einen dieser Theile beriihrte, und kroch daran herauf. Ueberein- stimmung und Zweckmissigkeit in den Bewegungen dauerten hier also nach dem Verluste des Kopfes fort. Insecten, denen ich nur die rechte oder linke Halfte des Kopfes wegnahm, liefen immer im Kreise nach der Seite der iibrig gebliebenen Halfte. Weitere Versuche aber beweisen, dass die Ursache nicht der Verlust der einen Hirnhilfte, sondern der Sinnesorgane der einen Seite war 2). ‘) G.R. Treviranus, Das organische Leben, neu dargestellt. Bremen 1851. Zweiter Band 1832. Erste Abtheilung, 8. 192. *) Auch Goeze (Belehrung iiber gemeinniitzige Natur- und Lebenssachen) sah eine Hornisse, der er das zusammengesetzte Auge der einen Seite mit einem Geschichte der Insecten. / Kine Bombyx pudibunda, der ich das linke Fiihlhorn abgeschnitten hatte, lief ebenfalls immer im Kreise nach der rechten Seite. Das Drehen nach dieser Seite wurde noch lebhafter, nachdem ich die ganze linke Halfte des Kopfes weggenommen hatte. Ich schnitt hierauf den Kopf ganz weg. Das Thier gerieth dann in heftige Agitation, ftlatterte unaufhorlich mit den Fliigeln, lief fortwihrend in Kreisen bald nach der rechten, bald nach der linken Seite und setzte diese Bewegungen ununterbrochen eine Viertelstunde fort. Die Bombyx lebte ohne Kopf drei Tage und fuhr bis zu ihrem Tode fort, von Zeit zu Zeit so heftige Bewegungen zu machen, dass sie sich an den Winden der Schachtel, worin sie sich befand, die Fliigel ganz zerschlug. Ihre Bewegungen waren also zunichst nicht mehr zweckmissig, nachdem sie die Theile verloren hatte, wodurch die Zweckmissigkeit derselben bestimmt werden konnte, die Sinneswerkzeuge; die Uebereinstimmung in den Bewegungen war aber nach dem Verluste des Kopfes nicht mehr auf- gehoben. Weniger Einfluss auf die Richtung der Bewegungen, als bei diesem Nachtfalter, hatte die Wegnahme des Fiihlhornes der einen Seite bei einer Kellerassel (Porzellio scaber) und einer Vespa parietum. Die Assel schien zwar vorzugsweise nach der rechten Seite zu laufen, doch kroch sie auch oft in gerader Richtung und zuweilen nach der linken Seite. Die Wespe lief nach wie vor sowohl nach der rechten als nach der linken Seite. Eine Aeschna forcipata aber, der ich die untere Halfte der Hornhaut des rechten Auges mit moglichster Schonung des Sehnerven weggeschnitten hatte, lief wieder stets nach der linken Seite. Sie lebte ohne Kopf vier Tage und gab fortwihrend in der Zeit Excremente von sich. Sie setzte sich aber nur noch in Bewegung, wenn ich ihre Palpen am After mit einer Pincette zusammendriickte, und konnte sich ihrer Fliigel nicht mehr bedienen. Walckenaer erzihlt von der Cerceris ornata, emer Art der Wespenfamilie, die einer einzeln in Lochern lebenden Biene, dem Halictus Terebrator, sehr nachstellt und immer in die Liécher derselben einzudringen sucht: ,Er habe einer solchen Wespe in dem Augen- blicke, wo sie eindringen wollte, den Kopf abgestossen und doch die- selbe nicht nur ihre Bewegungen mit unverinderter Geschwindigkeit fortsetzen, sondern auch, nachdem er sie nach der entgegengesetzten Seite umgedreht hatte, zu dem Loche umkehren und darin eindringen gesehen. Nach meinen eben angefiihrten Erfahrungen ist in dieser Beobachtung nichts Unwahrscheinliches.“ undurchsichtigen Firniss bestrichen hatte, immer nach der Seite des unbedeckten Auges fliegen. 8 Geschichte der Insecten. Dass ein Insect seinen Lauf noch fortsetzt nach Abtragung des Kopfes, ist allmiilig bei uns ein so sicherer wissenschaftlicher Erwerb geworden, wie die Thatsache, dass die einseitige Abtragung des Kopfes resp. des dorsalen Schlundganglions Kreisbewegung nach der unverletzten Seite hervorruft. Doch war es ein Irrthum, die Kreis- bewegung von der Entfernung der Sinnesapparate derselben Seite ab- leiten zu wollen, wozu die Versuche selbst auch gar nicht berech- tigen, da die Thiere meistentheils regellos nach allen Richtungen ihre Bewegungen fortsetzten. Hier moéchte ich einen eingewurzelten historischen Irrthum be- richtigen: Es ist an dieser Stelle bei Treviranus (1832) das erste Mal, dass wir die Kreisbewegungen nach halbseitiger Abtragung des Kopfes antreffen, wihrend die neuere Literatur die Entdeckung dieser Thatsache viele Jahre spater den Arbeiten von Yersin und E. Faivre (1857) zuschreibt. Selbst die Richtung der Bewegung giebt Treviranus ganz zutreffend an. Wenn er auf die gleichartigen Bewegungen der Wirbelthiere nicht hinweist, wie es die beiden spateren Forscher gethan haben, so andert das nichts an der Thatsache, dass eben er bei Wirbellosen die Kreisbewegung zuerst gesehen und richtig be- schrieben hat. Aber es war, wie gesagt, ein Irrthum, die Kreis- bewegungen von dem einseitigen Verluste der hdheren Sinnesorgane abzuleiten. Joh. Miller (Physiologie 1844, Bd. I, 8. 687) kennt die Versuche von Treviranus; spricht von denselben aber in dem Sinne, dass ,,die Insecten zeigen nach Wegnahme des Kopfes noch willkiir- liche Bewegungen, wihrend Treviranus, wie wir oben sahen, sie nur scheinbar willkiirliche Bewegungen nennt. Von den Kreis- bewegungen der Insecten nach halbseitiger Abtragung des Kopfes nimmt Joh. Miller, soweit ich bei genauer Durchsicht habe sehen kénnen, keine Notiz. Es ist merkwiirdig, dass die grossen Hirnphysiologen jener Zeit, die Rolando, Magendie, Desmoulins, Flourens u. A., an den Wirbellosen und dem Buche von Treviranus ganz achtlos vorbei- gegangen sind; sie kennen das Nervensystem der Evertebraten nicht, wenigstens finden wir in ihren Schriften dieselben niemals erwahnt. Nur Duges macht im Jahre 1838 die Angabe!), dass eine Heu- schrecke nach einseitiger Abtragung des Dorsalganglions und des Auges ungestort ihre normalen Bewegungen fortsetzte; eine Beobachtung, die sich in der Folge als unrichtig erwiesen hat. Es ist wahrscheinlich, dass die projectirte halbseitige Abtragung des Dorsalganglions eben nicht gemacht worden ist. ') Ant. Dugés, Traité de physiologie comparée de Vhomme et des animaux. Tom. I., Montpellier et Paris 1858, p. 73 et p. 336—340. Geschichte der Insecten. 9 Es verflossen eine ansehnliche Reihe von Jahren, bis die nichsten Arbeiten erschienen: es sind die Versuche jener beiden Forscher, welche wir oben schon erwihnt haben, A. Yersin') und E. Faivre®), bei denen eigentlich erst fiir die nachfolgenden Autoren die Geschichte der Evertebraten beginnt und die deshalb ausnahmslos erwihnt werden. Faivre hat sich noch in den folgenden Jahren mit seinem Dytiscus marginalis, als Typus eines Insectes, fortlaufend beschiftigt, weshalb sein Name wohl bekannter geworden ist, als jener von Yersin, dessen erste Notiz in dem Bulletin de la société vaudoise etwas friiher erschienen ist, als jene von Faivre, aber wegen des localen Publi- cationsortes wohl nicht bekannt geworden war, bis er eine Notiz iiber seine Versuche an die Pariser Akademie sandte, als er die Mittheilung der Faivre’schen Versuche las, welche auf S. 721 des 44. Bandes gedruckt war, wihrend seine Notiz zwar in demselben Bande, aber erst auf S. 921 wiedergegeben ist. Die historische Gerechtigkeit aber zwingt uns, hier hervorzuheben, dass Faivre schon in seiner Mittheilung an die Akademie die Versuche von Yersin kennt, da er diesen Namen unter den ihm vorangehenden Autoren anfiihrt. Demgemiss beginnen wir mit den Versuchen von Yersin, die er an Gryllus campestris und Blatta orientalis ausgefiihrt hat. Nach Abtragung des Dorsalganglions bleibt die Locomotion erhalten sowohl bei der Heuschrecke, als bei der Kiichenschabe. Nach einseitiger Ab- tragung dieses Ganglions folgen Kreisbewegungen nach der unver- letzten Seite. Abtragung des Unterschlundganglions, die er so ausfiihrt, dass er die Kiichenschabe einfach képft (dieses Ganglion liegt noch im Kopf- theile), hebt die Ortsbewegung auch nicht auf; ja noch mehr: die Thiere, welche er vorher in ihren Gewohnheiten beobachtet hatte, fahren fort, in diesem verstiimmelten Zustande Bewegungen zu indu- ciren, welche denselben Leistungen, z. B. jener des Putzens ihres KGrpers, dienen sollen. Auch eine Durchschneidung des Bauchstranges im Bereiche des Metathorax lisst den restirenden Theil noch Orts- bewegungen ausfiihren. Ich will gleich hier einfiigen, dass diese Resultate vollkommen richtig sind. Faivre macht seine Versuche ausschliesslich am Dytiscus margi- ') A. Yersin, Recherches s. les fonctions du systéme nerveux dans les ani- maux articulés. Bull. de la société vaudoise des scienc. natur., T. V, 1856—1857, Nr. 39, p. 119 u. Nr. 41, p. 185. Compt. rend., T. 44, 1857, p. 921—922. *) K. Faivre, Du cerveau des Dytisques considéré dans ses rapports avec la locomotion. Compt. rend., T. 44, 1857, p. 721—722. Ann. de science. natur., 4 Ser., T. 8; Zoologie 1857, p. 245—274. 10 Geschichte der Insecten. nalis, einem Schwimmkéfer, und findet, dass derselbe nach Abtragung des Dorsalganglions sowohl zu gehen als zu schwimmen vermag, doch ist der Gang schwieriger als das Schwimmen. Gewissermaassen immer nach derselben Richtung gezogen, stosst er unaufhorlich gegen die Wand des Gefiisses an, in dem er sich befindet. Kauen und Schlingen sind ungehindert, die Antennen aber vollig eelahmt. Die Operation wurde 24 Stunden iiberlebt. Nach Abtragung der einen Halfte dieses Ganglions lauft und schwimmt das Thier im Kreise herum, und zwar in der Richtung der gesunden Seite, wobei die Bewe- gungen der Beine der correspondirenden Seite geschwicht sein sollen. Die Antenne der verletzten Seite ist sensibel und motorisch gelaihmt, die Antenne der anderen Seite bleibt functionstiichtig. Dieser Art sind die Erscheinungen, welche die Thiere gleich nach der Operation zeigen, die um 3 Uhr Nachmittags ausgefiihrt worden ist. Um 8 Uhr Abends ist die Scene eine andere: die operirten Kafer schwimmen viel schwiicher und nicht mehr nur in jenem ersten Kreise, sondern auch gerade aus und in der entgegengesetzten Richtung. Die Durchschneidung der Dorsoventralcommissur der einen Seite hat denselben Effect, wie die einseitige Abtragung des Dorsal- eanglions: es folet eine Rotation nach der unverletzten Seite, doch kommen auch Abweichungen darin vor, das operirte Thier geht gerade aus oder nach der anderen Seite. Nach totaler Abtragung des Unterschlundganglions hort die pro- eressive Bewegung zu Lande und zu Wasser auf, obgleich die Extre- mititen theils auf Reiz, theils sogar spontan bewegt werden. Die ein- seitige Abtragung dieses Ganglions erzeugt eine Rotationsbewegung nach der gesunden Seite, welche aber einige Zeit nach der Operation in jedem Sinne erfolgen kann, schliesslich aber ganz aufhort, wie nach doppelseitiger Abtragung des Ganglions. Wie man sieht, besteht bei Faivre in dem _ experimentellen Resultate (abgesehen von seiner Interpretation) gar kein Unterschied zwischen dem Ober- und Unterschlundganglion, was sicher unrichtig ist, und zwar sind es die Resultate am Unterschlundganglion, welche nicht zutreffen, worauf auch Yersin in seiner Mittheilung an die Akademie schon aufmerksam gemacht hat. Wie denn itiberhaupt die Versuche von Yersin denen von Faiyre sich als tiberlegen erweisen. Mit Bezug auf Faivre ist noch besonders hervorzuheben, dass er jene Kreis- oder Rotationsbewegungen nicht als bleibende Erscheinung er- kannt hat, sondern sie als vergainelich, als voriibergehend darstellt, womit sie an Werth erheblich verlieren miissen. Schliesslich macht Faivre, um eine Kreuzung der Fasern der Geschichte der Insecten. 1] einen Seite des Nervensystems zur anderen nachzuweisen, noch fol- genden merkwiirdigen Versuch, welcher erst in unseren Tagen ver- standen werden kann: er trigt einem Dytiscus die linke Hilfte des Dorsalganglions ab und durchschneidet die rechte Dorsoveutral- commissur; das Thier geht nach rechts im Kreise herum. Einem anderen Dytiscus tragt er das Dorsalganglion wiederum links ab und durchschneidet die Commissur derselben Seite; auch dieses Thier geht nach rechts im Kreise herum. Faivre konnte diesen Versuch nicht analysiren; wir wollen es weiterhin an einer anderen Stelle thun. Endlich lasse ich einige zusammenfassende Satze folgen, gegen deren Richtigkeit schon Yersin seine Stimme erhoben hatte; seis 272 heisst es: ,,Un premier point bien ctabli cest que, les uc hions sus -et sous-oesophagiens, ainsi que les connectifs qui les lient, représentent une seule et méme partie analogue a Vencéphale des animaux supériewrs. Ainsi al serait inexact de ne considérer comme tel que le ganglion sus- oesophagien ..... Le cerveau supérieur ou ganglion sus -oesophagien est le siege de la volition et de la direction des mouvements. Le cerveau inférieur ou ganglion sous-oesophagien est le siége de la cause excitatrice et de la puissance coordinatrice ..... Sti on enleve le cerveaw du Mammifere, il peut encore marcher, mais il wa plus la volonté de le faire. Quand on enleve le cerveaw de UInsecte, il peut encore marcher, mais al ne se dirige plus. Lablation du cervelet et la lésion de la moélle allongée anéantissent les mouvements chez les Mammiferes. L’ablation du ganglion sous-oesophagien détruit la locomotion des Insectes.“ Ein Jahr darauf erscheinen die beriihmten Vorlesungen iiber die Physiologie und Pathologie des Nervensystems von Claude Bernard, in denen am Schlusse des ersten Bandes von dem Nervensysteme der Evertebraten die Rede ist). Cl. Bernard berichtet von den Versuchen von Faivre und zeigt selbst einen Dytiscus, dem er nach Faivre die eine Halfte des Oberschlundganglions, das er Cerveau supérieur nennt, abgetragen hat. Er bestatigt die Rotation nach der entgegengesetzten Seite und fiiet als neu hinzu, dass yon irgend einer Schwichung der einen Seite nicht die Rede sein konne, wie Faivre gemeint hat; er sagt (S. 510): ,,Et ict Ton ne peut pas voir, dans cette tendance a la rotation, le résultat de Vaffaiblissement Wun coté du corps: la rotation est le résultat de mou- vements Wensemble, parfaitement coordonnés, et waccuse pas du tout la prédominance une moitié du corps, ayant conservé son énergie, sur autre moitié qui serait paralysée.* Der Meister in der Be- 1) M. Claude Bernard, Legons s. la Physiologie et la Pathologie du Systeme nerveux. Paris 1858, T. I, p. 505—515. 12 Geschichte der Insecten. obachtung hat sofort das Richtige herausgefunden und betont, dass von einer peripheren Storung in der Function der Beine nicht die Rede sein kénne, was stets ein cardinaler Punkt hatte bleiben miissen. Er wiederholt diesen Versuch noch in der Form, dass er der ein- seitigen Abtragung des Cerveaw supérieur die Durchschneidung der Commissur derselben oder der anderen Seite zwischen Mesothorax und Metathorax hinzufiigt; beide Male verhilt sich das Thier in seiner Rotationsbewegung so, wie wenn nur das Oberschlundganglion einseitig abgetragen worden wiire (abgesehen von einer Differenz im Verhalten der Extremititen, was hier nicht weiter interessirt). Daraufhin macht er folgenden Schluss (S. 511): ,,Le cerveaw supérieur des imsectes agit done sur la direction des mouvements.* Die totale Exstirpation des Unterschlundganglions hat Cl. Ber- nard nicht wiederholt. Faivre kommt in den Jahren 1863, 1864 und 1875 nochmals auf seine ersten Versuche am Dytiscus zuriick, ohne indess etwas prin- cipiell Neues zu diesem Thema zu bringen !). Im Jahre 1858 erscheint Duges’ vergleichende Physiologie, in welcher wir lesen, dass die Durchschneidung der Bauchkette zwischen Pro- und Mesothorax weder in dem Vordertheile noch in dem Hinter- theile des Thieres Paralyse erzeugt und dass die Sensibilitat erhalten bleibt selbst in den Vorderfiisschen, auch wenn der _ prothoracische Ring, in welchem jene Beine wurzeln, sowohl von dem Kopfe als von dem Hintertheile des Korpers getrennt ist 2). Demnach geniigen bei den Insecten die Prothoraxganglien, um die sensiblen Eindriicke der Peripherie aufzufassen und umzusetzen. Dieses Prothoraxsegment, in der angegebenen Weise isolirt, lebte iiber eine Stunde weiter und schien keine seiner Fahigkeiten verloren zu haben, die es in normalem Zustande besass. Einige Jahre darauf war das grosse Werk von Vulpian, ,,Die Vorlesungen iiber die allgemeine und vergleichende Physiologie des Nervensystems“ erschienen’), in welchem die Evertebraten einen brei- teren Raum einnehmen, als es bisher irgendwo der Fall gewesen ist. ‘) Recherches expérim. s. la distinction de la sensibilité et de l’excitabilité dans les différentes parties du systeme nerveux d’un insecte, le Dytiscus marei- nalis. Compt. rend., T. LVI, 1863, p. 472—475. Expérienc. s. le systeme nerveux des insectes. Ann. des science. natur., 5 Série, T. I, 1864, p. 89—104. Etudes expérim. sur les mouvements rotatoires de manege chez un insecte (le Dytiscus marginalis) et le rdle dans leur production, des centres nerveux encéphaliques. Ibid., T. LXXX, 1875, p. 1149—1153. *) Dugeés, Traité de physiologie comparée, T. I, p. 337. Paris 1858. *) A. Vulpian, Lecgons s. la Physiologie générale et comparée du systeme nerveux, Paris 1866, p. 733—799. Geschichte der Insecten. 13 Obgleich Vulpian die Literatur ganz genau kennt und selbst den oben mitgetheilten Versuch von Treviranus gelesen hat, so hilt er sich in seiner Darstellung im Wesentlichen an die Resultate von Faivre, und begeht selbst einen principiellen Irrthum, indem er nur Versuche an Krebsen macht und dieselben den Insecten von Faivre und Yersin an die Seite stellt, unter der Voraussetzung, dass diese beiden Gruppen der Articulaten, welche er unter diesem Titel zu- sammentasst, sich gleich verhalten miissen, was in der That aber nicht zutreffend ist, wie wir spiter zeigen werden. Ueber diese Ver- suche an Krebsen werden wir an der passenden Stelle berichten; an Insecten hat Vulpian nicht experimentirt. Dagegen tritt hier das natiirliche und ich muss sagen logische Bediirfniss noch deutlicher hervor, die Frage zu discutiren, ob und inwiefern das Dorsalganglion der Articulaten dem Gehirn der Wirbel- thiere gleich zu setzen ist. Einen Forscher, wie Vulpian, der sich seit Jahren so erfolgreich mit dem Gehirne der Wirbelthiere be- schaftigt hat, musste diese Frage vor Allem interessiren und in ihm das Bestreben erhalten, dieselbe zur Entscheidung zu bringen; er fabrt demnach auch folgendermaassen fort (S. 790): Jl y aurait @ rechercher dans ces expériences ce que devient Vinstinct, celui de la prehension des aliments, par exemple; ce serait le seul moyen de décider Wune facon définitive jusqua quel point la masse ganglionaire cérébroide représente le cerveau proprement dit des Vertébrés. Les ex- périences de Dugés sur la Mante religieuse ne sauraient résoudre la question; car, ainsi que je Pai dit ailleurs, les mouvements qwil ob- servait dans le prothorax détaché du reste de Vanimal peuvent étre, a juste titre, rapprochés des réactions adaptés, defensives, qui se produisent chez les Vertébrés par Vintermédiaire de la moélle épiniére. Quant aux autres faits rapportés par Walckenaer par Dujardin et dautres au- tewres, als ne prouvent non plus en aucune manicre que les Insectes conservent quelques traces des véritables facultés cérébrales, aprés Vabla- tion des ganglions sus-oesophagiens et sous-oesophagiens. Qwune mouche senvole, apres quvon lu a enlevé la téte; qvelle se remette sur ses pattes (ce quwelle ne fait pas toujours), lorsqwon la renverse sur le dos; quelle frotte lun contre UVautre les tarses de ses pattes: quelle nettoie ses ailes avec ses pattes postériewres; ce sont la des actes pure- ment machinaux, tout a fait analogues a ceux quwexécute une Poule a luquelle on a enlevé le cerveau proprement dit..... Et Von peut donner la méme signification a tous les autres fauits du méme genre cités par différents auteurs.“ Angesichts dieser Folgerungen, welche heute noch als richtig an- erkannt werden miissen, gelingt es Vulpian auch nicht, das Dorsal- 14 Geschichte der Insecten. ganghon, seine ,masse ganglionaire cérébroide* dem Gehirne der Wirbelthiere, wie er sich ausdriickt, ,le cerveaw proprement dit des Vertébrés* gleich zu setzen. Als er weiterhin tiber Faivre’s Versuche am suboesophagealen Ganghon berichtet, kommt er zu folgenden Ableitungen (S. 791). »Donc, Capres M. Faivre, si Von étudie les masses ganglionaires de la téte, relativement a leur influence sur la locomotion, les lobes céré- braux seraient le siege de la volonté et de la fuculté de se diriger, et les ganglions sous-oesophagiens, le svége de la cause excitatrice et de la puissance des mouvements de locomotion. En outre le ganglion céré- broide présiderat aux sensations spéciales, le ganglion sous-oesophagien a@ la prehension et a la mastication. Comme Vadmettaient Newport et Siebold, on dott donc considérer, suivant M. Favre, les ganglons sus- et sous-oesophagiens, avec les connectifs qui les unissent les uns aux autres comme une seule et méme partie représentant Vencéphale des Vertébrés. Ja déja dit que lon ne pouvait pas, en tout cas, assi- miler sous tous les rapports le ganglion sus-oesophagien au cerveau proprement dit des Vertébrés a cause de son influence directe sur les mouvements des appendices mobiles de la téte et de son excitabilité.* Die letzten beiden Bemerkungen haben heute keine Giiltigkeit mehr, weil wir mittlerweile die Hirnrinde der Wirbelthiere, welche Vulpian mit dieser Bemerkung gemeint hat, excitabel gefunden haben, und andererseits vom Gehirne aus Nerven, direct zu peripheren Appa- raten verlaufen, wie jener Nerv, welcher bei den Articulaten vom Dorsalganglion zu der Antenne zieht und ihre Bewegungen hervorruft. Aber charakteristisch bleibt das dringende Bestreben des Auf- findens einer Analogie zwischen dem Gehirn der Wirbelthiere und den Kopfganglien der Articulaten. Vulpian hofft diese analogen Be- ziehungen im Aufsuchen der Instincte, wie er sich ausdriickt, z. B. in der spontanen Nahrungsaufnahme finden zu konnen, indess fiihrt ihn auch dieser Weg nicht zum Ziele. Die Bemiihungen Vulpian’s scheitern wohl auch daran, dass er, wie mir scheint, die Leistungen des Gehirns und jene des Grosshirns nicht geniigend aus einander halt. Indem sich Vulpian weiter zu den Functionen der Thoracal- vanglien wendet, erwahnt er, dass sie nach Faivre nicht allein die Bewegungen der Extremitiiten, sondern auch die Athembewegungen beeinflussen, und zwar ist es beim Dytiscus speciell das Ganglion meta- thoracicum, welches als Athmungscentrum zu ¢elten hat, ganz analog dem Noeud vital der Wirbelthiere. Vulpian schliesst sich dieser Auffassung an, indem er einen entsprechenden Versuch bei einer Grille ausfiihrt. Interessanter ist aber hierbei eine Erzihlung tiber hierher gehdrige Beobachtungen, die a Geschichte der Insecten. 15 ich ihres Interesses wegen textlich wiedergeben mdéchte (S. 793): » Cette manicre de considérer les ganglicns thoraciques devient plus frappante encore, lorsqwon connait les observations de M. Dufour et de M. Fabre sur les Sphex, les Cerceris ct les Ammophiles. Le premier de ces Insectes, pour assurer la nourriture de ses larves qui sont dé- posées dans un trow, et pour que Valiment se conserve jusqwau réveil des larves, renverse les Grillons sur le dos et les pique de son aiguillon dans les parties thoraciques des centres nerveux. Ltn imitant le Sphex: en piquant une Mouche, un Grillon ow un Charancon, ow avec une ai- guille trempée dans un liquide irritant, Cammoniaque par exemple, on obtient le méme effet; et il ne se product pas lorsqwon pique dautres parties. Il suppose Vexperience faite sur'un Grillon: on observe alors une mort apparente; huit ow quinge jours apres, quelquefois plus, al y a encore des manifestations de la vie; de temps en temps on voit une profonde pulsation de Vabdomen; quelquefois, par Vexcitation, on déter- mine des mouvements des antennes, des filets abdominaux; parfois ces mouvements peuvent paraitre spontanés; les pattes méme peuvent se remuer et la défécation peut avoir lieu M. Faivre a pu conserver pendant un mois et deni, dans des tubes ot la dessiccation était lente, des Grillons ainsi plongés dans une sorte de léthargie?)*. Uebrigens glaubte Fabre (gegen Dufour), es liefe diese ganze geheimnissvolle Erscheinung darauf hinaus, dass die Cerceris als Beute diejenigen Insectenarten heraussucht, wo die Centralisation der Bauch- ganglien (Confluenz zu einem oder zwei Ganglien) am grossten ist. Er sagt: ,,lls choisissent les Buprestes dont les centres nerveux du mésothorax et du métathorax sont confondues en une seule et grosse masse ete.“ Kine ansehnliche Reihe von Jahren nach Vulpian erscheint in dem grossen Sammelwerke von Milne-Edwards der elfte Band, welcher das Nervensystem der Wirbellosen behandelt?). In demselben fanden wir nichts, was hier nicht schon mitgetheilt worden wiire. Im Jahre 1875 tretfen wir wieder auf Faivre*), welcher gegen Baudelot das im metathoracischen Ganglion gelegene Athmungs- ‘) Da Vulpian die Quellen nicht angiebt, will ich sie hier anschliessen. L. Dufour, Etudes anatom. et physiolog. sur les Insectes Diptéres de la famille des Pupipares. Ann. des scienc. natur., 2 Série, T. III, 1843. Fabre, Obser- vations s. les moeurs des Cerceris. Ann. des sciene. neta 4 Serie, T. IV, 1855. *) Milne-Edwards, Legons s.l’anatomie et la physiologie comparée. Paris 1874. T. XI, p. 401—408. *) De Vinfluence*du systeme nerveux sur la respiration chez un insecte. Compt. rend., T. LXXX, p. 735—741, 1875. Etudes expeérim. sur les mouvements rotatoires de manege chez un insecte (le Dytiscus marginalis) et le rdle dans leur production, des centres nerveux encéphaliques. Ibid., T. LXXX, p. 1149—1153, 1875. Recherches s. les fonctions du ganglion frontal chez le Dytiscus marginalis. Ibid., T. LXXX, p. 13832 —1335, 1875. 16 Geschichte der Insecten. centrum vertheidigt, das letzterer in das erste Bauchganglion ver- legt. Dasselbe Ganglion. beherrscht auch die unteren Fliigel und die Schwimmtiisse, deren Thatigkeit in naher Beziehung zu den Athem- bewegungen steht. Hier wiederholt Faivre seine Versuche tiber Zwangsbewegungen und theilt noch mit, dass das Ganglion frontale (vor dem Ganglion dorsale gelegen und mit diesem durch Commissuren verbunden) auto- matisches und reflectorisches Centrum fiir die Schluckbewegungen ist. In demselben Jahre beschaftigt sich Do6nhoff!) mit der Biene, und zeigt an den geordneten Reflexen zerstiickelter Thiere, dass die Bauchganglienkette eine fortlaufende Reihe von Reflexcentren dar- stellt, wie das Riickenmark der Wirbelthiere. In dem gleichen Jahre 1875 finden wir noch eine ausgedehnte Untersuchung von J. Dietl2), welcher Kafer (Blatta, Dytiscus), Ameise, Biene, Fliege, Wanze und Schmetterlinge untersucht: mit eimer Nadel sticht er durch ein Auge in das Gehirn und sieht alle die genannten Thiere in Kreisbewegungen gerathen, welche nach der gesunden Seite gerichtet sind. Von den Schmetterlingen sagt er: ,..... Schmetter- linge, indem die bunten Falter in Schraubentouren aufwirts und dann in wirbelnden Kreisen davon fliegen.“ Eine ausfiihrliche histologische Untersuchung des Arthropodengehirns begleitet diese Experimente. Donhoff*) kommt nochmals auf die Biene zuriick und will aus seinen Versuchen den Schluss ziehen, dass das Athmungscentrum der Biene im Kopfe liegt, weil nach Abschneiden des Kopfes die dyspnoi- schen Athembewegungen aufhdren, wenn man das Thier unter Wasser taucht. Dieser Schluss steht im Widerspruch mit der Ansicht von Faivre, doch erklart sich die Divergenz vielleicht aus der Art der Operation und der besonderen Configuration des Bienennervensystems. Die Arbeit von A. T. Bruce iiber Beobachtungen an Insecten u.s. w. ist mir leider weder im Original, noch in einem Referate zuginglich gewesen, so dass ich nur den Titel anfiihren kann ‘). Wenn wir die Geschichte der Insecten zusammenfassen, so sehen wir, wie die beiden Saitze von Treviranus weiterhin bestiatigt wurden, dass nach Abtragung ihres ganzen Kopfes die Insecten noch Orts- ') Beitrage zur Physiologie. Coordinationscentra bei der Biene. Archiv fiir Anatomie und Physiologie 1875, 8. 47. *) J. M. Dietl, Insectennervensystem. Berichte d. naturw.-med. Vereins in Innsbruck, 5. Jahrg.. 1875, 8. 94 bis 115. 3) EK. Dénhoff, Das Athmungscentrum der Honigbiene. Archiv fir Physio- logie von E. Dubois-Reymond 1882, 8. 162 bis 163. *) Observations on the nervous system of insects and spillers and some preliminary observations on Phrynus. Idhus Hopkins, Univ. Circulars VI, 54, 1887, p. 47. Geschichte der Crustaceen. 17 bewegungen machen und dass sie nach einseitiger Abtragung des Kopfes resp. des Dorsalganglions im Kreise nach der unverletzten Seite hin laufen. Dagegen ist nicht mehr die Rede davon, dass diese Kreis- bewegungen Folge einseitiger Abtragung der Sinnesorgane seien. Claude Bernard fiigt dann weiter die wichtige Beobachtung hinzu, dass bei diesen Kreisbewegungen eine periphere Stérung nicht erkennbar ist, dass im Gegentheil die Bewegungen ganz coordinirt ablaufen. Weiteres ist nicht festgestellt worden. Am wenigsten Klarheit herrschte iiber die Rolle, welche das Unterschlundganglion bei den Bewegungen spielt, so dass man zu einer einheitlichen Auffassung des Centralnervensystems iiberhaupt nicht hat kommen konnen. Freilich liegt in dem Nervensysteme der Insecten die Schwierigkeit vor, welche 'jede Erkenntniss verschleiert hat, dass simmtliche Bauchmetameren scheinbar genau so wie die Kopfmetamere locomobil sind, man also vergeblich nach einer centralen Fiihrung Umschau hielt. §. 2. Die Crustaceen. In dem beriihmten Werke von Milne-Edwards iiber die Kruster finde ich eimen Versuch, der hierher gehért: Wenn man bei Squilla (Heuschreckenkrebs) den Schlundring von den riickwirts gelegenen Ganglien abtrennt, so findet man, dass auch der Hintertheil des Thieres noch empfindlich ist und auf Reize durch Bewegungen reagirt'). Darauf folgt ein langes Intervall, und nicht friiher, als in dem grossen Werke von Vulpian?), findet man weitere experimentelle Nachrichten iiber die Crustaceen resp. den Flusskrebs. Im Anschluss an die Versuche von Faivre bei Dytiscus verletzt Vulpian ,.pro- fondément* eine Halfte des Oberschlundganglions und beobachtet da- nach eine deutliche Schwiche der Extremitaten derselben Seite, besonders der Scheere. Die Sensibilitiit ist erhalten mit Ausnahme jener in der Antenne derselben Seite. Kine viel auffallendere Erscheinung ist die Tendenz des Krebses, sich um sein Hintertheil als Axe zu drehen, und zwar in der Richtung von der verletzten gegen die unverletzte Seite hin; weiter sah er bei der gleichen Lision eine Rotation um die Liingsaxe (d. h. Roll- bewegungen) und schliesslich sogar die Tendenz zu einem Purzelbaum auf den Riicken: ,,Une tendance a la culbute sur le dos. *) H. Milne-Edwards, Histoire naturelle des Crustacés, T. I, p. 149. Paris 1849, 2 eNud pa awe. \c. Steiner, Centralnervensystem. III. bo 18 Geschichte der Crustaceen. Einen Versuch am Unterschlundganglion scheint Vulpian nicht ausgefiihrt zu haben, wenigstens habe ich trotz eifrigen Suchens einen solchen nicht finden konnen. Weiter durchschneidet Vulpian die Ganghenkette quer im Niveau des Abdomens, wonach die Schwimmbewegungen definitiv verschwinden, da der Krebs seinen Schwanz nicht mehr rhythmisch in Bewegung setzen kann, wie es fiir die Schwimmbewegungen eben nothwendig ist. Aber die Abdominalfiisschen machen noch anscheinend spontane Be- wegungen, die in der That aber doch maschinenformig sind und durch den Contact des Wassers mit der Wunde hervorgerufen werden. Vulpian macht darauf aufmerksam, dass jedes der Ganglien der Bauchkette ein unabhingiges Reflex- und Coordinationscentrum darstellt ; eine Ansicht, welche vor ihm schon Moquin-Tandon, Dugeés u. A. aufgestellt haben. ~Schliesslich wird die Frage aufgeworfen, ob die Bahnen der beiden Seiten sich kreuzen. Swammerdamm hat eine soiche Kreuzung fiir einen Kruster abgebildet, die er in das Unterschlundganglion verlegte. In Uebereinstimmung mit Andouin und Milne-Edwards, sowie mit Faivre (Insecten) stellt Vulpian eine solche Kreuzung fiir den Krebs in Abrede, denn die Lihmung, welche nach Lision einer Seiten- halfte des Nervensystems stattfindet, ist immer eine directe. Trotz- dem beobachtet er, dass nach einer einseitigen Durchschneidung einer Lingscommissur in der Abdominalkette die Reizungen dieser (der verletzten) Seite unterhalb der Durchschneidungsstelle Effecte hervor- rufen in Theilen, welche oberhalb der Durchschneidung liegen. Vul- pian driickt sich folgendermaassen aus (S. 785): ,,.Bien qwil wy ait pas Wentrecroisement reconnassable entre les deux moitiés des centres nerveux, la section Mun des connectifs de la chaine abdominale wen- péche pas Mune facon absolue les irritations portant sur les parties situées dw méme coté et en arriére de se communiquer aux parties an- térieurs, ni les excitations volontaires de mettre en mouvement les par- ties, qui recoivent leurs nerfs de la moitié correspondante de la chaine ganglionaire, en arriere du liew de la section.* Dies scheint mir ein Irrthum, dessen Quelle ich spater nachweisen werde. Zwei Jahre nach der Ausgabe des Vulpian’schen Werkes kommt eine ausfiihrliche Arbeit tiher den Krebs von V. Lémoine?), welche unter Vulpian’s Augen angefertigt worden zu sein scheint. Der Autor macht auf die ausserordentlichen experimentellen Schwierig- keiten aufmerksam, welche darin liegen, dass man bei der Eroffnung ") V. Lémoine, Recherches pour servir a V’histoire du systeme nerveux musculaire et glandulaire de l’écrevisse. Ann. des scienc. natur., 5 Série, T. IX, p. 99. 1868. Geschichte der Crustaceen. 19 des Chitinpanzers stets eine betrichtliche Blutung erhilt, welche das Resultat erheblich beeintrachtigt. Um diese Fehlerquelle zu umgehen, giebt er mehrere Methoden an, deren Schilderung wir hier unter- lassen wollen, da es ihm trotz seiner Bemiihungen nicht gelungen ist, seine operirten Thiere liingere Zeit am Leben zu erhalten. Nichtsdesto- weniger hat er eine Anzahl brauchbarer Resultate erzielt und damit seinen Vorgiingern gegeniiber einen Fortschritt zu verzeichnen. Er legt das Dorsalganglion frei und reizt die rechte Hiilfte zu- nichst mit einer Nadel, dann mit der elektrischen Pincette, worauf er drei Formen von Bewegungen beobachtet: 1. Schmerzgefiihl, welches durch den Eintritt allgemeiner Bewegungen sich kundthut; 2. der Krebs ist ein wenig schwach geworden, so dass nur Bewegungen der correspondirenden (d. h. der rechten) Seite eintreten; die Bewegung ist am deutlichsten im Auge und der iiusseren Antenne der rechten Seite; 3. bei langerer Fortsetzung der Reizung werden die Bewe- gungen der Extremitiiten der rechten Seite immer schwicher und es bleiben nur die Bewegungen der Augen und der dusseren Antenne der rechten Seite iibrig. In einem weiteren Versuche wird die linke Seite desselben Gang- lions mit Hiilfe einer Nadel zerstort. Ins Wasser zuriickgebracht, flieht der Krebs riickwirts, bleibt dann aber unbeweglich. Das Auge und beide Antennen der linken Seite sind in ihren Bewegungen gelihmt, wiithrend die Anhinge der rechten Kopfseite auf Reizung normal rea- giren. Wenn man diesen Krebs reizt, so setzt er sich in Bewegung mit etwas nach links gebeugtem Korper, und macht einige Umgiinge (mouvements de circumduction) von links nach rechts. Legt man ihn auf den Riicken, so bleibt er in dieser Lage; die beiden Scheeren schhiessen sich kraftig, wenn man einen Gegenstand zwischen die Arme bringt, aber die rechte lisst zuerst nach. Bei einem anderen Krebse wird die Durchschneidung beider Dorso- ventralcommissuren gemacht, welche zunichst von einem _heftigen Spasmus aller Theile des Kérpers begleitet ist. Ins Wasser gebracht, verharrt der Krebs in Ruhe, aber bei kriftiger Reizung erfolgen Ver- suche zur Progression mit Oscillationen des Korpers bald nach rechts, bald nach links. Sobald die Reizung aufhért, verfillt der Krebs wieder in seine Unbeweglichkeit. Auf den Riicken gelegt, bleibt er in Ruhe; die Augen und die Antennen scheinen weniger empfind- lich und ihre Verletzung lisst das Thier unbeweglich. Die Scheeren sind auf Reiz thitig, ebenso die Abdominalfiisschen und die Kiemeniiste der vorderen Oefinung der Kiemenkammer. Das Herz schliigt normal. Nach Durchschneidung der rechten Dorsoventralecommissur macht der Krebs auf Reizung Umgiinge von rechts nach links, wobei die 9* 20 Geschichte der Crustaceen. rechten Geine zu agiren scheinen, indem sie stossen, die linken, indem sie anziehen (les pattes droites semblant agir en poussant et les gauches cn attirant). Wenn man seine linke Seite reizt, so erhalt man Bewe- gungen siaimmtlicher Anhiinge incl. des Schwanzes (derselben oder beider Seiten?); reizt man rechts, so reagirt nur das gereizte Glied. Bei der eben angegebenen Durchschneidung beobachtet Lémoine in weiteren Versuchen auch Ortsbewegungen gerade nach vorn und nach der Seite der Verletzung, d. h. alle bewegungsrichtungen sind moglich. Was das Unterschlundganglion betrifft, so liahmt die Zerstorung desselben den ganzen Kieferapparat und die Kiemenanhinge. Seine Reizung erzeugt Bewegungen in der Gesammtheit der Ganglienkette (die einseitige Zerstérung dieses Ganglions ist nicht gemacht worden). Nach Durchschneidung der Ganglienkette hinter dem Unter- schlundganglion nimmt der Krebs eine ganz besondere Stellung ein: Die vordere Partie des Hinterleibes ist erhoben und bildet den hodch- sten Punkt des ganzen Korpers. Die Scheeren sind ausgebreitet, die iibrigen Extremitiiten sind zuriickgebogen; die Extremititen machen partielle Bewegungen, aber keine gemeinsame Bewegung, um eine Pro- gression herbeizufiihren. Oft stirbt der Krebs mitten in convulsiven Bewegungen. Im Ganzen sind die Lebensiaiusserungen dieses Krebses sehr reducirt und Reizungen der Extremitaéten geben nur Reflex- bewegungen in denselben Gliedern. Die Scheeren pflegen gar nicht oder nur wenig zu zwicken. Durchschneidet man die Kette hinter dem Ganglion, das die Nerven fiir das erste Extremititenpaar abgiebt, so nimmt der Krebs dieselbe besondere Stellung ein, wie wenn man die Section vor diesem Ganglion, wie oben, gemacht hat, und eine Progression findet nicht statt. aber die Scheeren zwicken ganz normal, und dieses Extremititen- paar macht Anstrengungen, um eine Locomotion zu erzeugen. Die Augen und die Antennen sind im Gegensatz zu dem vorigen Versuche recht empfindlich. Schhiesslich bemerkt Lémoine, dass man eine einseitige Durch- schneidung der Lingencommissur da machen kann, wo die Sternal- arterie durch die Kette tritt und die Lingscommissuren aus einander draingt. Das geschieht zwischen dem dritten und vierten resp. vierten und fiinften Ganghon. Wenn man diese Commissur links durch- schneidet, so bemerkt man, dass die beiden hintersten Fiisse nicht mehr coordinirt mit den anderen arbeiten, obgleich sie selbst nicht gelahmt sind. Reizt man das centrale Ende der durchschnittenen Commissur, so erhalt man allgemeine Bewegungen; bei Reizung des peripheren Endes Bewegungen nur in der Halfte des Korpers, welche unterhalb der Durchschneidung leet. Geschichte der Crustaceen. 91 Zusammentfassend bemerkt Lémoine, dass das Unterschlund- ganglion zu betrachten ist als das Centrum, in welchem die Coordi- nation der Bewegungen zu Stande kommt; daneben beherrscht es direct den Kau- und den Kiemenapparat. Das Oberschlundganglion ist der Sitz des Willens, sowie der Empfindung, und steht in besonderer Beziehung zur Locomotion. Er schliesst sich der Ansicht von Newport und Siebold an, dass der Schlundring analog ist dem Gehirn der Wirbelthiere, macht aber auch auf die von Vulpian geiiusserten Bedenken aufmerksam. E. Yung?), der mehrere Jahre spiiter mit einer ausfiihrlichen Arbeit erscheint, stellte seine Versuche auf der Zoologischen Station in Roscoff an Hummern, Langusten, Garnelen, Flusskrebsen und Krabben an. Auch er macht mit Recht auf die experimentellen Schwierigkeiten aufmerksam und hilt es fiir geboten, die in dem Panzer gemachte Oeffnung wieder zu schliessen, damit weiterer Blutaustritt vermieden wird. Diesen Verschluss bewerkstelligt er mit etwas weich geknetetem Wachs. Den Palimon unter den Garnelen hat er gerade deshalb ge- wihlt, weil man bei der relativen Transparenz des Panzers die Ganglien ohne Eréffnung sehen und mit einer Nadel direct treffen kann. Auf diesem Wege konnte Yung seine operirten Crustaceen etwas langer am Leben erhalten, als dies sonst der Fall zu sein pflegte; immerhin scheint das Ueberleben aber 24 Stunden nicht iiberschritten zu haben. Zuniichst findet er bei mechanischer und mechanisch -thermischer Reizung der angegebenen Crustaceen, z. B. Palimon und Hummer, dass das Dorsalganglion sensibel und motorisch ist. Es folgt die Zer- storung desselben Ganglions, wonach bei Palamon, bei Hummer und Krebs eine willkiirliche Bewegung (wohl Ortsbewegung?). nicht mehr erfolgt, wahrend alle Reflexbewegungen eintreten, besonders auch die Scheeren sich fest schliessen; nur die Antennen und Augen rea- giren nicht mehr. Die Durchschneidung der linken dorsoventralen Commissur erzeugt zunichst unter dem Einflusse des mechanischen Reizes allgemeine Bewegungen als Ausdruck des Schmerzes. Ins Wasser zuriickgebracht, fallt der Hummer auf die linke Seite; reizt man ihn, so macht er Anstrengungen, sich zu erheben, aber die Coordination der Bewegungen fehlt und das Thier fallt auf die rechte Seite, dann auf den Riicken. Dabei sieht man regelmiissige Bewegungen der Extremititen auf der rechten Seite, wihrend linkerseits die Bewe- gungen uncoordinirt sind. Wenn man den Schwanz reizt, so zeigen sich allgemeine Bewegungen auf der rechten Seite, links nur nahe ) Yung, Recherches sur la structure intime et les fonctions du systeme nerveux central chez les Crustacés décapodes. Archives de zoolog. expérim. par Lacaze-Duthiers, T. VII, p. 401—534, 1878. 22 Geschichte der Crustaceen. der Reizstelle. Die Scheeren functioniren vollkommen, doch rechts kriftiger als links. Fleischstiicke werden wegen der ungeordneten Bewegung des Kauapparates beider Seiten nicht genommen. Die Kopf- anhinge, Antennen, Augen sind beiderseits intact. Bei Krebsen werden die gleichen Versuche mit demselben Erfolge ausgefiihrt, nur beob- achtet er nach der Durchschneidung einer dorsoventralen Commissur, z. B. der rechten, einen Kreisgang von rechts nach links. Dieselbe Kreisbewegung kommt auch zur Beobachtung bei Lision der einen Hialfte des Dorsalganglions. Doch giebt er an, dass diese Richtung nicht absolut gesetzmiassig eingehalten wird. Zu dem Unterschlundganglion tibergehend, macht Yung ebenfalls auf die Schwierigkeiten aufmerksam, um hier zu zweifellosen Resul- taten zu kommen, welche die Rolle erkennen lassen wiirden, die jenem Ganglion zukommt. | Die Zerstdrung dieses Ganglions geschieht mit einer Nadel, welche in seine Masse eingefiihrt wird. Im Moment des Eindringens ent- stehen heftige alleemeine Bewegungen. Bringt man den Hummer ins Wasser, so erfolet ein heftiger Stoss des Schwanzes, der Hummer steigt in die Tiefe, mit dem Kopfe voran, den Schwanz nach oben, in welcher Stellung er den Boden des Aquariums erreicht. Die Reflex- bewegungen sind simmtlich erhalten, nur die Kieferapparate sind gelahmt; ebenso die Kiemenapparate; endlich ist die Sensibilitat des eanzen Korpers vollkommen erloschen, da man itberall reizen kann, ohne das geringste Schmerzzeichen hervorzurufen. Hingegen sind die Beweeungen der Augen und Antennen ungestért. Die Scheeren schlessen sich um einen eingeklemmten Gegenstand, aber mit wenig Kraft (was diese Schmerzensiusserungen anbetrifft, so ist schwer zu ibersehen, welche Zeichen der Autor dafiir ansieht, da daneben von unversehrten Reflexbewegungen berichtet wird, und es sich im Grunde genommen bei Schmerzensiusserungen ebenfalls nur um Bewegungserscheinungen handeln kann. Wenn die Bewegungen der Antennen und Augen bei teizung des Hintertheiles fehlen, so ist dieser Defect einfach auf die Unterbrechung der Leitungsbahn nach vorn zu setzen). Auch die einseitige Zerstérung dieses Ganglions ist gelungen: Es war die rechte Seite, an welcher der Kieferapparat gelahmt war, wihrend jener der anderen Seite intact blieb. Ebenso waren die Extremititen der rechten Seite unterhalb der Verletzung in ihren Bewegungen alterirt, wihrend die linke Seite unversehrt blieb. Hieraus resultirte ein Uebergewicht der linken Seite iiber die rechte und daraus eine Fortbewegung des Thieres in einer krummen Linie, deren tichtung leider nicht angegeben ist (nach meiner Vorstellung miisste die Kreisbewegung um die verletzte Seite herum erfolgen). Reizt man Geschichte der Crustaceen, 23 einen Punkt unterhalb der Verletzung, so bekommt man Bewegungen nicht nur von dieser Seite, sondern auch von den Extremitiiten der anderen Seite und selbst den Kopfanhingen, Bei den Krabben (Cancer maenas, Portunus puber ete.) gestaltet sich dieser Versuch in analoger Weise. Zu den iibrigen Ganglien der Bauchkette tibergehend, weist der Autor nach, dass dieselben ebenso wie die Lingscommissuren sowohl motorisch als sensibel sind; zugleich ist jedes Ganglion fiir seinen localen Bezirk Reflexcentrum. Es liasst sich experimentell nicht nachweisen, dass motorische und sensible Theile gesondert neben einander liegen. Im nichsten Jahre wird die Literatur durch eine Untersuchung von J. Ward?) am Flusskrebs bereichert, welche einen erheblichen Fortschritt darin aufweist, dass die operirten Thiere Wochen und Monate lebend erhalten wurden. Er kratzt den Panzer bis auf eine ganz diinne Schicht ab und durchsticht diese mit einem feinen Haken, der zugleich den betreften- den Nerventheil erreicht, dessen Lage vorher genau bestimmt war. Diese Technik wird gewahlt, um die so leicht eintretenden Blutungen zu vermeiden (die Schattenseite dieser Methode, Unsicherheit in der Bestimmung des lidirten Nerventheiles, liegt auf der Hand). Nach Durchschneidung der einen Dorsoventralcommissur gehen die Krebse in einer Curve in der Richtung nach der unversehrten Seite; gehen diese Krebse riickwiirts, so bewegen sie sich nach der verletzten Seite hin. Giebt man einem solchen Krebse, waihrend er auf dem Riicken hegt, ein kleines Stiickchen Nahrung direct zwischen die Kiefer, so wird dasselbe verschlungen, wie von einem normalen Krebse. Gleichzeitig waren die Antenne und der Augenstiel auf der Seite der Verletzung erheblich geschadigt. Nach Durchschneidung der beiden Dorsoventraleommissuren wurde ein Stiickchen Nahrung, das man den Kieferfiissen iibergab, gefasst. um geschluckt zu werden, kam aber bald wieder heraus: nur sehr selten wurde es thatsachlich geschluckt und nur dann, wenn es lang genug war, um zwischen die Kauwerkzeuge zu reichen. Zugleich ist die Locomotion vernichtet, obgleich die Extremititen beweglich bleiben; doch kommen Umkippungen des Leibes nach yorn und seitlich nicht selten vor. Nach Durchschneidung der Langscommissuren zwischen dem ersten und zweiten Bauchganglion bleiben die Kiefer bewegungsfahig, die *) J. Ward, Some notes on the physiology of the nervous system of the freshwater Crayfish (Astacus fluviat.). Journ. of phys., T. II, p. 214—227, 1879. 24 Geschichte der Crustaceeun. Thiere sterben aber gewohnlich einen Tag nach der Operation. Eine Locomotion war unmodglich geworden. Auffallend schwach werden die Scheeren, welche nicht mehr ordentlich kneifen kénnen. Ebenso ver- liert der Schwanz die Fahigkeit der rhythmischen Bewegung. Endlich theilt er das Dorsalganglion der Lange nach und beob- achtet danach Kreisbewegungen (ich weiss nicht, wie Ward das Dorsalganglion durchschnitten hat; ein solcher Versuch, exact an- gestellt, ist selbst bei unseren grossen Krebsen nicht gut aus- fiihrbar). In demselben Jahre beschreibt Ch. Richet!), dass die Willkiir- bewegungen bei Krebsen im Wasser von 23 bis 26°C. aufhoren, die Reflexbewegungen bei 26 bis 30°, bei 33 bis 37° sterben die Nerven und Muskeln. In dem bekannten, wohl mehr popular geschriebenen Biichelchen von Th. Huxley, ,Der Krebs“ (Leipzig 1882) sind hierher gehérige Daten kaum vorhanden. Bei Krabben beobachtet L. Frédéricq2), dass das Abbrechen ihrer Fiisse, wenn man sie anfasst, so dass man nur den Fuss in der Hand behalt, wahrend das Thier entflieht, nicht ein mechanisches Abreissen, sondern einen activen Vorgang, einen Reflex darstellt, dessen Centrum in der Bauchkette hegt. Petit*), welcher Versuche an Krabben analog zu denen an In- secten und Krebsen vermisst (die Versuche von Yung an Krabben schienen ihm unbekannt zu sein), tragt bei Carcinus maenas das Ober- schlundganglion halbseitig links ab und sieht Folgendes: ,,L’animal décrit, en marchant de coté, une série de cercles dans le sens des aiguilles dune montre, mais sa téte est dirigée tantét en dehors dw cercle, tantot en dedans ..... Tin somme, il sagit ci Pun mouvement en rayon de roue, comme on en observe chez les Mammiféres, a la suite de lésions de Vencéphale; mais, dans ce dernier cas, la téte de Vanimal est tou- jours opposée a Vaxe de rotation; chez le Crabe, la téte peut prendre, par rapport a cet axe, deux directions inverses, le sens de la rotation demeurant constamment le méme.“ Die rechtsseitige Abtragung erzeugt die gleiche Bewegungserscheinung in umgekehrtem Sinne. Stiche in das Ganglion oder die Durchschneidung einer dorsoventralen Commissur erzeugen die gleichen Phanomene. ‘) Contribution a la physiologie des centres nerveux et des muscles de Vécrivisse. Archiv. de physiologie nom. et pathologie 1879, p. 262—294. *) Amputation des pattes par mouvement réflexe chez le crabe. Archiv. de biologie, T. III, p. 235—240, 1882. *) Effets de la lésion des ganglions sus-oesophagiens chez le Crabe (Carcinus maenas). Compt. rend. de ’?Académie de Paris, T. CVII, p. 278, 1888. a Geschichte der Crustaceen. 25 J. Demoor!) experimentirt an einem Paliimon mit durchsich- tigem Panzer, um den Vortheil zu benutzen, die Verletzung ohne Er- Offnung durch die durchsichtige Umhiillung mit der Nadel machen zu konnen. Er kennt vier Formen von Zwangsbewegungen, die er durch verschieden localisirte Verletzungen des Dorsalganglions zu erzeugen vermag, die aber alle in dem Punkte zusammentreffen, dass die hervor- gerufene Zwangsbewegung von der verletzten nach der unverletzten Seite gerichtet ist. Wie er daraus schliessen kann, dass, wie er es thut, eine functionelle Kreuzung im Centralnervensysteme nicht besteht, ist mir nicht recht verstandlich. Auch die anatomische Untersuchung konnte eine solche Kreuzung nicht aufdecken. Stiche in die Ganglien der Ventralkette fiihren zu dem allgemeinen Ergebnisse, dass sie Centren darstellen. Nach Reizung der Bauch- kette bleiben die Augen, die grossen und kleinen Antennen ungestort. Das vorderste Bauchganglion besitzt keine specifische Function. Versuche an Krabben (Carcinus maenas, Portunus puber) ergeben die gleichen Resultate. Durchmustern wir jetzt die Reihe der Versuche an den Krebsen, so sehen wir, wie bei diesen die Abtragung des Dorsalganglions im All- gemeinen den Ausfall der Ortsbewegung im Gefolge hat, doch erscheint dies Resultat nicht immer klar zu Tage zu treten. Gewiss ist hin- gegen die Kreisbewegung nach einseitiger Zerstérung jenes Ganglions. Hingegen kehrt dabei der alte Irrthum wieder, der namentlich von Vulpian ausgeht, dass nach dieser Operation die correspondirende Seite schwicher sei, wihrend der Sachverhalt genau der gleiche ist, wie bei den Insecten. Ein anderes Resultat, das bei den Insecten nicht geniigend hervor- gehoben worden ist, das auch bei den Krebsen deutlicher auftritt, ist dies, dass nach einseitiger Abtragung des Dorsalganglions die Rich- tung der Bewegung noch variabel sein kénnte; gewiss ein Irrthum. Endlich mag hier noch bemerkt werden, dass die Mehrzahl der an- gefiihrten Autoren, insbesondere Vulpian und Lémoine bei den Krebsen, sowie Faivre bei den Insecten, vergeblich bemiiht gewesen sind, einen functionellen Unterschied zwischen den Wurzeln der Bauchganglien aufzufinden: eine solche Analogie zu den Riicken- markswurzeln der Wirbelthiere besteht nicht, obgleich Newport und Valentin sie gefunden haben wollen. *) J. Demoor, Ktudes des manifestations motrices des Crustacés au point de vue des fonctions nerveuses. Archiv. de Zoologie expériment. et vénéral., T. IX, g I g plot, User: 26 Geschichte der Wirmer. 8. 3. Die Wiurmer. Neben grossen morphologischen Arbeiten giebt es iiber diesen Gegenstand nur wenige experimentelle Untersuchungen. Selbst die beriihmte Monographie von Moquin-Tandon iiber die Hirudineen, die ich eingesehen habe, enthialt nichts, was fiir uns in Betracht kame '). Die alteste experimentelle Angabe finde ich in Joh. Miiller’s Physiologie (Bd. I, 8. 687, 1844), wo es heisst: ,Ein in zwei Halften getheilter Wurm zeigt in beiden Nervenstrangen noch Bewegungen, welche den willkiirlichen ahnlich sind.“ Danach treffen wir auf Lockhart-Clarke 2), bei dem neben einer anatomischen Beschreibung von Lumbricus terrestris emige Versuche enthalten sind, wonach die Schlundganglien unabhaingig von den tibrigen Nervencentren, jedoch ihrem Einflusse unterworfen sind; sie beherrschen die Bewegungen des Schlundes und Mundes und scheinen Reflexcentra zu sein. Im Jahre 1865 erscheint ein grdsseres Werk iiber die Anneliden von Quatrefages*), in dem experimentell indess nur wenig ent- halten ist. Das im nachsten Jahre erscheinende grosse Werk von Vulpian enthalt nichts iiber das Nervensystem der Wirmer. Im Jahre 1887 folgen meine ersten Mittheilungen tiber den Regen- wurm und den Blutegel. Im nichsten Jahre finden wir eine Arbeit, die sich mit dem Kriechen des Regenwurmes beschiftigt*): Nach Friedlander kriecht der Regenwurm, indem eine Contractionswelle im Langsmuskelschlauch seines K6rpers von vorn nach hinten ablauft. Die Borsten der K6rperoberflache verhindern ein Zuriickgezerrtwerden seines Korpers, so dass die Contraction einen Leibesring nach dem anderen nach vorn schiebt, dieser, da festgehalten, als Stiitzpunkt fiir die nachsten Leibesringe dient u. s. w. Schneidet man einem Regenwurme den Kopf ab, so macht er keine spontanen Bewegungen mehr, und bedarf ‘iusserer Reize, um zu Bewegungen angeregt zu werden. Schneidet man das Schwanzende ab, so andert sich in seinen Bewegungen nichts Wesentliches. ') Moquin-Tandon, Monographie des Hirudinées. Paris 1527. *) Lockhart-Clarke, On the nervous system of Lumbricus terrestris. Ann. of natural history 1857, p. 250. *) Quatrefages, Historie naturelle des Annelés, T. I, p. 87, 1865. *) D. Friedlander, Ueber das Kriechen der Regenwiirmer. Biologisches Centralblatt, Bd. VIII, S. 363, 1888. Co — —_ er ae Geschichte der Wiirmer. 27 Schnitt Friedlander aus der Mitte eines normalen Thieres etwa ein Stiick des Bauchstranges von 0,5 bis lcm Linge heraus, so kroch das Thier wie vorher und die Contractionswelle setzte sich durch die nervenlose Strecke fort; nur dass diese Segmente schmiler wurden und eine ringformige Einschniirung des Korpers bildeten, sobald die Contractionswelle sie erreichte. Die Contractionswelle pflanzte sich oft auch dann fort, wenn der in zwei Theile zerschnittene Regenwurm durch einen Faden so zu- sammengeheftet wurde, dass zwischen beiden Theilen etwa 1 cm Faden stand. Loeb!) schneidet Thysanozoon Brocchii (eine elliptisch geformte Seeplanarie von etwa 3cm Linge und eben solcher Breite) in zwei Halften, und sieht danach, wie nur das orale Stiick, welches das Gehirn enthalt, weiter kriecht, wihrend die aborale Halfte wie eine todte Masse auf den Boden fallt und dort in Ruhe verharrt. Der Versuch fiihrt zu dem gleichen Resultate, wenn man nur das winzige Stiick am vorderen Ende abtrigt, welches gerade das Gehirn enthilt. Leet man das hirnlose Thier auf den Riicken, so dreht es sich wieder zuriick, nur etwas langsamer als das normale Thier. Durchschneidet man nur die Lingsnerven, so dass Substanz- verbindungen zwischen vorn und hinten bestehen bleiben, so bewegt sich das orale Stiick vom Platze, wiihrend das Hinterstiick, dem Zuge folgend, in ganz coordinirter Weise an der Progressivbewegung theil- nimmt. Kommt letzteres hierbei zufallig in die Riickenlage, so dreht es sich sofort in seine natiirliche Lage um. Eine einseitige Zerstérung des Gehirns fiihrt niemals zu Kreis- bewegungen. Nach Kopfung der Planaria torva, einer Siisswasserplanarie, machen beide Stiicke Progressivbewegungen, und zwar erfolgen die Bewegungen mit dem oralen Ende voran. Unter den Nemertinen wurde Cerebratulus marginatus gewiahlt; Exemplare von etwa 0,5m Linge. Nach K6épfung fahrt das Kopfstiick fort, sich in den Sand einzubohren, wahrend der Rumpf nicht einmal den Versuch macht, sich im Sande zu verbergen. Schneidet man Nereis (Annelid) in mehrere Stiicke, so hat nur das orale Stiick die Fahigkeit, sich in den Sand einzubohren; ebenso machte nur dieses Stiick Progressivbewegungen, dagegen geniigten schwache Reize, z. B. die Erschiitterung des Aquariums, um auch bei dem hinteren Stiicke Progressivbewegungen auszulésen. Die Riicken- lage lasst sich keines dieser Stiicke gefallen. ‘) Beitrage zur Gehirnphysiologie der Wirmer. Pfliiger’s Archiv, Bd. LVI, S. 247 bis 269, 1894. 28 Geschichte der Mollusken. Wenn man einen Blutegel in zwei Theile schneidet, so machen beide Theile Progressivbewegungen und kehren stets in die Normal- lage zuriick, wenn man sie auf den Riicken gelegt hat. Die beiden Stiicke verhalten sich aber verschieden insofern, als der vordere Theil haufig an den senkrechten Glaswinden haftend gefunden wurde, das hintere Stiick heftet sich nur am Boden an. §. 4, t Die Mollusken. Auf Seite 759 seines Werkes schreibt Vulpian mit Bezug auf die Mollusken: ,,La physiologie du systeme nerveux des Mollusques se réduit encore presque exclusivement a des inductions fondée sur Vana- tomie.“ In der That kenne ich keine Arbeit iiber diesen Gegenstand, welche tiber Vulpian hinausreicht, wenn nicht etwa in einer Arbeit von Bonnet aus dem Jahre 1781, welche uns nicht zugineglich war, die eine oder andere Notiz enthalten ist‘), Vulpian zweifelt nicht daran, dass die Mollusken Instincte, z. B. den der Ernihrung, der Fortpflanzung, besitzen, einige haben sogar specielle Instincte, wie die Pholaden, welche Locher in die Felsen bohren, um darin zu wohnen. Man schliesst aus der Analogie, dass diese Instincte im Dorsalganglion ihren Sitz haben, aber man weiss es nicht. Vulpian hat wiederholt den Versuch gemacht (sowohl bei Limax als bei der Weinbergschnecke), das Ganglion dorsale zu entfernen, was ihm auch soweit gelungen ist, doch war die Restitution niemals eine solche, um eine Beobachtung anschliessen zu konnen. Nur einen Unterschied sah er, je nachdem er das Ober- oder Unterschlund- ganglion entfernt hatte: im ersten Falle lebt das Thier, aber ohne je eine Ortsbewegung gemacht zu haben, vier bis fiinf Wochen; im letzteren Falle nur einen Tag. Die Ursache dieser Differenz liegt nach seiner Meinung in der Thatsache, dass im Unterschlundganglion Nerven fiir das vegetative Leben wurzeln, in dem anderen Gang- hon nicht. Die elektrische Reizung des Oberschlundganglions erzeugt nur sehr schwache Effecte, wiihrend die Reizung des anderen Ganglions eine sehr heftige und weit ausgebreitete Muskelthitigkeit hervorruft. Ueber die Beziehungen des Nervensystems zu den Herz- und Athembewegungen konnte Vulpian zur Einsicht nicht kommen. ‘) Ch. Bonnet, Expériences sur la régénération de la téte du Limacon terrestre, 1. ¢. 1781, p. 246—283. Geschichte der Mollusken. 29 Chéron!) und Colasanti?) beschiftigen sich nur mit einzelnen Theilen des Nervensystems; Versuche, die fiir uns hier ohne Interesse sind. Ein eingehenderes Studium widmet erst L. Frédéricq *) unserem Gegenstande, und zwar sind es Versuche an Octopus vulgaris, einem Thiere, das sowohl wegen seiner Intelligenz als wegen seiner Wider- standsfiihigkeit gute Resultate erwarten lasst. Kr beschreibt dieselben in foleender Weise: ,2n ce qu concerne le systeme nerveux central, Vanneau oesophagien, je rappelerai que les masses sous-oesophagiennes contiennent les centres des mouvements respiratoires, et ceux des mouve- ments des muscles des chromatophores, enfin des centres réflexes pour les mouvements des différents muscles du corps, tandis que les masses sus- oesophagiennes sont le siege des processus psychiques et doivent Cétre compareés aux hémisphéeres cérébraux des Vertébrés. Le poulpe, privé de son ganglion sus-oesophagien se comporte a peu pres comme un Pigeon a qu Von a exstirpé les hénispheres cérébraux. Il west nullement para- lysé: la respiration, la circulation et la plupart des fonctions continuent a sexercer normalement. Il réagit encore aux impressions du dehors, mais ses mouvements sont tous ow bien automatiques ow réflexes. Cest de- venu un étre completement passif, incapable de mouvements spontanés ou volontaires, restant immobile tant quwune impression venue du dehors ne vient Varracher a sa torpeur.“ Die von Frédéricq gegebene Be- schreibung ist leicht zu bestatigen: Paul Bert, a szgnalé le méme fart chez la Seiche (Mémoire sur la Physiologie de la Seiche). Siehe die Nachtrage. Weiter beschreibt Frédéricgq die Leistu®S€n eines abgeschnittenen Octopodenarmes, die derselbe auf Reize Schutz- und Abwehrbewe- gungen macht; er identificirt dieselben den Reflexen eines geképften Wirbelthieres, z. B. des Frosches. Die directe Reizung des Nerven- stammes dieses Armes ruft in gleicher Weise Bewegungen der Saug- nipfe, wie der Muskeln und Ausdehnung der Chromatophoren hervor. Bei seinen zahlreichen Giftversuchen an Wirbellosen fiel Kruken- berg‘) besonders die pendelartige Bewegung des Fusses der Carinaria mediterranea auf, emer sehr zierlichen, der Cymbulia Abhnlichen Molluske aus der Gruppe der Heteropoden: der in eine Flosse um- gebildete Fuss macht 30 bis 36 Pendulationen, wie Krukenberg sich *) J. Chéron, Des nerfs corrélatif dit antagonistes et du noeud vital dans un groupe dinvertébrés. Compt. rend., T. LXVI, p. 1163—1167, 1868. *) G. Colasanti, Anatom. u. physiolog. Untersuchungen iiber den Arm der Cephalopoden. Archiv f. Anatomie u. Physiologie 1876, 8. 480 bis 500. *) L. Frédéricq, Recherches sur la Physiologie du Poulpe commun. (Octop. vulgaris). Archives de Lacaze-Duthiers, T. VII, p. 535—583, 1878. *) C. Fr. W. Krukenberg, Vergl. physiologische Studien, 3. Abtheilung, S. 177 bis 181, 1880. 30 Geschichte der Echinodermen. ausdriickt, in der Minute. Dieselben horten sofort auf, wenn er den Basalansatz der Flosse abschnitt; jene Stelle, wo das Pedalganglion hegt. Wie wir spater sehen werden, ist die Beobachtung ganz richtig. L. Petit) verletzt bei einer Schnecke das Unterschlundganglion und sieht, wenn die Wunde nach drei bis vier Wochen verheilt war, das Thier viel langsamer als ein normales kriechen und dabei Manége- bewegung von der gesunden gegen die verletzte Seite machen. Nach Durchschneidung der Verbindung zwischen dem Kopf- und Fuss- ganglion, sowie nach Durchtrennung der Commissur zwischen den Kopfganglien machen die Thiere ebenfalls Manegebewegungen (diese letzteren Versuche sind gewiss nicht richtig). Yung’s?) Monographie der Schnecke enthalt keine definitiven Resultate iiber die Rolle, welche das Oberschlundganglion bei den Bewegungen spielt; er scheiterte trotz vieler Bemiihungen an den technischen Schwierigkeiten. Die Echinodermen. Wie ich aus den Schriften von Krukenberg ersehe, reicht die erste Beobachtung an Seesternen in das vorige Jahrhundert zuriick: Bernard de Jussieu und Guettard®) sahen, dass bei mehreren Asteriden ein abgeloster Arm im Stande ist, die ganze Mittelscheibe nebst den vier titbrigen Armen zu reproduciren. Im Jahre 1811 machte Fr. Tiedemann am Adriatischen Meere Versuche an dem pomeranzenfarbenen Seesterne (Asterias auran- tiaca L.) und stellte fest+), dass Berithrung des extendirten Saugfiiss- chens eine Retraction desselben hervorrutt. Die Beobachtungen von Jussieu und Guettard wurden iiber 100 Jahre spiiter von Dujardin und Hupe bestitigt®). Um dieselbe Zeit hatte auch Vulpian®*) fiir die Seesterne gefunden, dass sie ganz wie die Vertebraten und andere Evertebraten 1) L. Petit, Sur les mouvements de rotation provoqués par la lésion des ganglions sous-oesophagiens chez l’escargot. Compt. rend., T. CVI, p. 1809, 1588. *) KE. Yung, Contributions 4 Vhistoire physiologique de Vescargot (Helzx pomatia). Bruxelles 1887. *) Vergl. Réaumur, Histoire naturelle des Insectes, T. VI, p. 61, 1742. ‘) Fr. Tiedemann, Beobachtungen iiber das Nervensystem und die sen- siblen Erscheinungen der Seesterne, Deutsches Archiv f. Physiologie, Bd. ], S. 161 bis 175, 1815. °) Dujardin et Hupe, Histoire naturelle des Zoophytes échinodermes 1862, p. 20. *) Vulpian, Compt. rend. de la Société de Biologie de Paris, 1861 u. 1862. Geschichte der Echinodermen. 31 das Bestreben haben und ausfiihren, sich in ihre natiirliche Bauch- lage zuriickzuwenden, wenn man sie in die ihnen fremde Riickenlage gebracht hat. Der Vorgang ist von ihren zahlreichen Augen unab- hingig, da man dieselben zerstoren kann, ohne jene Erscheinung aufzuheben. Vielmehr handelt es sich hierbei um einen inneren Mechanismus des Nervensystems. In iihnlicher Weise dreht sich ein isolirter Arm des Seesternes wieder um, vorausgesetzt, dass man den isolirenden Schnitt beiderseits schrig bis zur Mundoffnung verlaufen lasst; wird der Arm aber einfach quer an seiner Basis abgeschnitten, so fiihrt derselbe ungeordnete Bewegungen aus, dreht sich wohl um, vermag indess seine Normalstellung nicht zu behaupten und fallt auch wieder auf den Riicken. Isolirt man den einen Strahl so, dass die beiden schriigen Schnitte nur die Halfte der Scheibe durchsetzen, so kehrt sich der ganze Seestern wohl um, aber mit viel Miihe, da der isolirte Arm aus der harmonischen Thitigkeit ausgeschieden ist und durch seine isolirten Bemiihungen die Harmonie der anderen Arme stort. Werden mehrere Einschnitte in die Scheibe gemacht und so mehrere Arme von einander getrennt, so erfolgt in Folge der Dis. harmonie die Umdrehung in die Normallage iiberhaupt nicht mehr, also aus mechanischen Griinden. Unabhangig von Vulpian hatte ich dieses Bestreben des See- sternes, seine Normallage wieder einzunehmen, selbstiindig aufgefunden und festgestellt, dass dasselbe nach Injection von geniigenden Dosen Curare aufgehoben wird '). Diese Beobachtungen werden in dem grossen, nun schon mehrfach genannten Werke von Vulpian im Jahre 1866 wiederholt. Zehn Jahre spiter verdffentlicht L. Frédéricq Versuche an Echiniden, die ich aus dem oben angegebenen Grunde spiter ausfiihr- licher wiedergeben werde. Romanes und Ewert machen einige Jahre darauf Mittheilungen iiber Versuche an Seesternen?), die ich erst durch die Publication von Preyer kennen gelernt habe; ihr Inhalt deckt sich grossentheils gegenseitig. Krukenberg, welcher das Jahr darauf Vulpian’s Versuche an Seesternen wiederholt, bedauert zuniichst, dass Jener seine Seesternen- art nicht namhaft angefiihrt hat, weil, wie er findet, die Seesterne der verschiedenen Arten sich mit Bezug auf ihre isolirten Arme ver- schieden verhalten. 1) J. Steiner, Ueber die Wirkung des amerikanischen Pfeilgiftes Curare. Archiv f. Anatomie u. Physiologie 1875, S. 168. *) G. J. Romanes and J. C. Ewert, Observations on the locomotor system of Echinodermata. Proceed. Roy. Soe., 'T. XXXII, p. 1—11, 1881. 32 Geschichte der Coélenteraten. Krukenberg!) giebt an, dass, wenn man einen Asterocanthion glacialis in eine fiir seinen Bestand unzureichende Wassermenge bringt, derselbe nach wenigen Stunden oder auch wohl erst nach Tagen in der Weise zerfallt, dass die isolirten Arme Theile der Mittelscheibe be- halten, die bis zur Mundoffnung reichen, genau wie in dem ersten Schnitt- versuche von Vulpian. Die einzelnen Arme bewegen sich Tage lang, klammern sich fest und finden ihre Normallage wieder, wenn man sie aus derselben entfernt hat. Dasselbe thut (im Gegensatze zu Vulpian) der clatt an der Basis abgeschnittene Arm von Asterocanthion glacialis. Ganz anders sollen sich aber die einzelnen losgelosten Arme von Asteropecten aurantiacus, pentacanthus und bispinosus verhalten, die Krukenberg in ihre Normallage nicht zuriickkehren sah, mochten sie auf die eine oder andere Weise abgeschnitten worden sein. Wieder anders gestaltet sich der Versuch bei den, Schlangen- sternen in specie bei Ophioderma longicauda: Wird der eine Arm mit dem Basalstiick amputirt, so weiss derselbe seine Normallage zu finden und festzuhalten; erfolgt die Amputation ohne das Basalstiick, so macht der Arm nur wenige Kriimmungen, um bald darauf gegen alle Reize unempfindlich zu sein. Eine sehr eingehende Untersuchung itiber die Seesterne hat W. Preyer im Winter 1885/86 in Neapel angestellt, aus der ich eine Anzahl von Versuchen in dankenswerther Weise im Friihjahr 1886 habe mit ansehen kénnen. Ihre Darstellung soll der meinigen im experimen- tellen Theile als Grundlage dienen. §. 6. Die.Colenteraten. Die ersten zielbewussten Versuche bei den Colenteraten scheinen von Th. Eimer gemacht worden zu sein. Hieran reihen sich die Arbeiten von Romanes iiber denselben Gegenstand. Hierauf folgen die Gebr. Hertwig mit ihrer grossen Monographie iiber die Medusen, die zunichst zwar morphologischen Inhaltes sein sollte, indess so sehr der Physiologie zur Basis dient und mit ibr ver- schmolzen ist, dass wir sie hier selbst unserer spiteren Darstellung zu Grunde gelegt haben. Diese drei Arbeiten werden in dem experimentellen Theile zur Darstellung kommen, wahrend hier zunichst tiber eine Arbeit berichtet werden soll, die Krukenberg an Beroé ovatus gemacht hat 2). 1) Verel. physiologische Studien. Zweite Reihe 1882, 8. 76 bis 82. *) Der Schlag der Schwingplittchen bei Beroé ovatus. Vergl. physiologische Studien ete. Dritte Abtheilung, 8. 1 bis 23. Heidelberg 1880. Geschichte der Célenteraten. 33 Zur Erliuterung bemerke ich, dass dieses Thier entlang seiner EKiform eine gréssere Anzahl von Rippen, Kimmen oder Radien besitzt, welche vom oralen zum aboralen Pole verlaufen und welche von schwingenden Plattchen (Schwing-, Ruder-, Flimmer-, Kamm- pliittchen) besetzt sind, denen die Ortsbewegung anvertraut ist. Man unterscheidet weiter den Mund (oralen Pol) und den After (aboralen Pol). Wenn man die eiformige Beroé in quere Scheiben zerlegt, so stehen die Schwingplaittchen zunachst still, um ihr rhythmisches Spiel nach Secunden oder Minuten wieder zu beginnen bei derjenigen Scheibe, welche mit dem Afterpole in Verbindung geblieben ist. Die Plaittchen an den anderen Scheiben gerathen erst sehr viel spiter in Bewegung, welche hiufig sehr ungeregelt ist; an anderen Rippen beginnt das Spiel noch spiter oder bleibt auch ganz aus. Krukenberg schlesst daraus, dass an dem Afterpole nervise Centren liegen, welche einen Einfluss auf die Bewegungen der Ruder- plattchen ausiiben, wie ihn kein anderes Element im Beroékorper besitzt. Weiterhin muss aber angenommen werden, dass auch die Rippentheile selbst eine gewisse nervdse Selbstiindigkeit besitzen, welche sie befihigt, die Schwingplaittchen in Bewegung zu erhalten selbst ohne das Centrum am Afterpole. Die sich anschlhessenden Giftversuche an Beroé gehdren nicht hierher. Endlich sei noch der interessanten Untersuchung von M. Nuss- baum an Hydra (Siisswasserpolypen) gedacht'). Eimer eingehenden anatomischen Beschreibung folgen Versuche iiber die Regenerations- fahigkeit zerschnittener Polypen: Wenn man den Leib des Polypen in (Juerstiicke oder in Liangsstiicke zerlegt, so pflegen sich die Theilstiicke sammtlich wieder zu ganzen Polypen zu regeneriren (Hydra grisea). Hingegen finden an Tentakelstiicken solche Regenerationen nicht statt. Bei Wiederholung des beriihmten Trembley’schen Versuches der Umstiilpung eines ganzen Polypen, wodurch die Lebensthatigkeit nicht beeintrichtigt wird, findet Nussbaum, dass der Versuch zwar gelingt, dass aber von einem Uebergange des Entoderm in Ectoderm und um- gekehrt, wie Trembley gemeint hat, nicht die Rede sein kénne, son- dern dass nur eine Umlagerung der Theile eintrete: Entoderm und Ketoderm sind anatomisch und physiologisch definitiv von einander differenzirt. *) M. Nussbaum, Ueber die Theilbarkeit der lebendigen Materie. II. Mit- theilung: Beitrage zur Naturgeschichte des Genus Hydra. Archiy f. mikro- skopische Anatomie, Bd. XXIX, 8S. 317, 1887. Steiner, Centralnervensystem. III. 3 ~ Zweite Abtheilung. Kxperimenteller Theil. Erstes Capitel. Die Crustaceen. Unter den Crustaceen ist unserem Versuche am bequemsten zu- ganglich der Flusskrebs (Astacus fluviatilis), den wir deshalb als Typus der Gruppe (Macrura) aufstellen und zum Object unseres besonderen Studiums gemacht haben. Dazu kommen Versuche an den sogenannten Taschenkrebsen oder Krabben (Brachyura), unter denen mir in Neapel die Bogenkrabbe (Carcinus. maenas) und die Dreieckskrabbe (Maja verrucosa) am haufigsten zu Gebote standen. Wie wir spiter sehen werden, sind diese letzteren Krebse fiir unsere theoretischen Folge- rungen von weit hoherem Interesse, als es die Morphologie wissen konnte. Von niederen Krebsen wurden die Isopoden untersucht. Da das Centralnervensystem aller Arthropoden im Wesentlichen gleich gebaut ist, so wollen wir zunichst dasselbe allgemein schildern. 8. 1. Anatomie des Centralnervensystems der Gliederthiere’). Um Wiederholungen zu vermeiden, geben wir gleich die Be- schreibung des Centralnervensystems der Arthropoden, welches im Wesentlichen den gleichen Bau hat. Das Centralnervensystem der Arthropoden, zu denen die Crusta- ceen, die Arachnoiden, die Myriopoden und die Hexapoden (Insecten) gezihlt werden, besteht aus dem Cerebralganglion, welches am Vorder- ende dorsal auf dem Oesophagus liegt, und der Bauchganglienkette, welche unter dem Speisecanal, also ventral gelegen ist. Das Cerebral- ganglion ist mit der Bauchganghenkette durch Commissuren ver- bunden, welche, den Oesophagus seitlich umfassend, in das erste ') Lecons s. la physiologie et Vanatomie comparée de Vhomme et des ani- maux par H. Milne-Edwards, T. XI, p. 169, 1874. Gliederthiere. 35 Ganglion der Bauchkette eintreten, welch letzteres entsprechend seiner Lage auch das Unterschlundganglion (auch infra- oder subésophageale Fig. 1. Ganglion) heisst. Cerebralganglion, * Uy au auch Oberschlundganglion (auch Fig. 2 Nervensystem der Honigbiene Nervensystem der Stubenfliege (Apis mellifiea). (Musca vomitoria). @ Dorsalganglion, 0 Unterschlundganglion, a Dorsalganglion, 6 Unterschlundganglion, c, d, e u. flge. weitere Bauchganglien. ec, d@ Ganglien des Bauchstranges. Supradsophagealganglion) genannt, die beiderseitigen Commissuren und das Unterschlundganglion schliessen einen Kreis, welcher der 3%* 36 Krebs und Krabbe. Schlundring genannt wird. Die Commissuren des Schlundringes sind am kiirzesten, wenn die beiden Ganglien desselben genau senkrecht iiber einander liegen, was nur selten der Fall ist; sie sind um so linger, je weiter das untere Ganglion von dem oberen ab und nach hinten riickt. Man bezeichnet sie auch als Dorsoventralcommissuren. Die Bauchganglienkette ist in den primitiven Formen so ange- ordnet, dass jedem Segmente des Rumpfes (Thorax und Abdomen) ein Ganglienpaar zukommt, welches, in der Mittellinie gelegen, durch sehr kurze Quercommissuren mit eimander verbunden wird oder vollig mit eimander zu einem Ganglion verschmilzt. Die hinter einander gelegenen Ganglien stehen durch langere oder kiirzere Langs- commissuren mit eimander in Verbindung Wie die Ganglien des Schlundringes die Gebilde des Kopfes, so versorgen die Ganglien der Bauchkette die Gebilde der tibrigen Seg- mente sensibel und motorisch. Diese urspriingliche Disposition in der Zusammensetzung der Bauchganglienkette erfahrt in den eimzeluen Gruppen Veriinderungen durch vielfache Concentration oder Verschmelzung in der Anzahl der Ganglien, welche im aussersten Falle sogar zu einem einzigen, dem Brustganglion, verschmelzen konnen. Als Beispiel prisentiren wir dem Leser das Nervensystem der Honig- biene mit zahlreichen, und jenes der Stubenfliege mit wenigen Bauch- ganglien (s. Fig. 1 u. 2), sowie die Bauchkette des Taschenkrebses mit einem Ganglion (s. Fig. 5). Es ist ein durchgreifender Unterschied zwischen dem Central- nervensysteme der Wirbelthiere und jenem der Wirbellosen, zunachst der Arthropoden, dass letzteres (mit Ausnahme des Cerebralganglions) auf der Bauchseite des Korpers gelegen ist, woher auch die Bezeich- nung ,Bauchganglienkette“ riihrt. Der Vollstiindigkeit wegen sei bemerkt, dass neben diesem, dem cerebrospinalen Nervensysteme der Wirbelthiere vergleichbaren Systeme, den hoher entwickelten Arthropoden ein besonderes Eingeweidenerven- system zukommt, von dem wir indess in der Folge nicht mehr reden werden, da es fiir uns kein Interesse hat. Gyo Nervensystem des Krebses') und der Krabbe ’). In Fig. 3 ist der Flusskrebs in natiirlicher Grosse abgebildet; in Fig. 4 sein Nervensystem. Das Cerebralganglion chg lhegt im Kopfe; ') T. H. Huxley, Der Krebs. Leipzig 1882. *) Andouin et H. Milne-Edwards, Ann. des science. natur., 1 Série, 1828. Krebs und Krabbe. 37 von ihm entspringen 1) der Sehnerv, 2) der Nerv fiir den Muskel des Augenstiels, 3) der Nery zu den inneren Antennen resp. dem Gehér- und dem Geruchsorgane, 4) der Nerv der ijiusseren Antennen und 5) der Nerv, welcher sich in dem Integument des Kopfes verbreitet. Flusskrebs (Astacus fluviatilis). a, innere, a dussere Antenne, Pi -++-ps die fiinf Brustbeine, pa, letztes Hinterleibsbein mit dem Aftersegment die Schwanzflosse bildend. 38 Krebs und Krabbe. Das untere Schlundganglion bg,, welches Nerven zu den Mund- organen abgiebt, ist etwas nach hinten geriickt und schliesst sich un- mittelbar der aus 11 Ganglien zusammengesetzten Bauchkette an. Fig. 4. oe ......£.18 sa. as oe a Nervensystem des Flusskrebses. cbg Gehirnganglion, oe Oesophacus, bg,..-b gy. Ganglion der Bauchkette, sa@ Sternalarterie. Bei dem Taschenkrebse ist die Lage des Cerebralganglions dieselbe, wie beim Flusskrebse, aber die Reihe simmtlicher tibrigen Ganglien ist zu einem einzigen Ganglion, dem Brustganglion, vereinigt, wie die Fig. 5 (S. 42) zeigt. 6.8: Die Versuche. Schon einige friihere Autoren, wie V. Lémoine, E. Yung und Ward, machen auf die Schwierig- keiten aufmerksam, welche die Operationen an den Krebsen dem Experimentator bieten: Wo man den Panzer offnet, fllesst Blut, haufig so stark, dass die Thiere sich ver- bluten. Dazu kommt, dass dieses Blut wasserklar ist und man _ oft wihrend des Experimentes gar keine Uebersicht tiber die Grosse des Blutverlustes hat. Um diesen Schwierigkeiten zu begegnen, sind mancherlei Wege angegeben worden, aber die Thiere pflegten die Operationen nur kurze Zeit zu iiberleben, so dass sie dem Beobachter ein mangelhaftes Bild des Ausfalles an Functionen boten. Dadurch ist naturgemiiss der Werth jener Versuche erheblich beein- trichtigt worden. Nur Ward hat seine Thiere geniigende Zeit (Wochen und Monate) am Leben erhalten, doch zerstérte er die Nerventheile, ohne sie zu sehen, von aussen her. Diese Methode ist nach meinen Erfahrungen nicht zweckmassig, weil man niemals sicher weiss, was man zerstort hat; eine Reihe von Versuchen neben einander stellt, die nicht vergleichbar sind und etwaige Vergleichsmoglichkeiten erst durch die nachfolgende Necropsie bekommt. Krebs und Krabbe. 39 Ich halte es durchaus fiir nothig, dass man wihrend des Operirens genau sieht, was man thut, resp. genau den Theil verletzt oder ab- triigt, den man eben treffen will. Und wie bei den Wirbelthieren, miissen wir im Allgemeinen auch fiir die Wirbellosen verlangen, dass die operirten Thiere mdglichst lange am Leben erhalten werden, wodurch allein eine Gewiihr dafiir geboten ist, dass alle wirklichen Ausfallerscheinungen zur Beobachtung kommen, wiihrend die Functionen sich wieder herstellen, die nur als mittelbare Folge der Operation ausgefallen waren. So selbstverstiind- lich eine solche Voraussetzung ist, so kann doch nicht eindringlich genug darauf hingewiesen werden. Dieses Ziel kann bei den Krebsen so gut erreicht werden, wie wir es bei den Wirbelthieren erreicht haben, wenn man den folgenden Weg einschligt. Um das Oberschlundganglion des Krebses abzu- tragen, bindet man zuniichst mit einfachem Faden die Scheerenarme zusammen, um sie unschidlich zu machen. Darauf wickelt man den ganzen Krebs in ein leinenes Tuch und lasst nur den Kopf frei, damit man wiihrend der Thitigkeit nicht durch die Bewegungen der Extremi- titen und des Schwanzes belistigt wird. Mit einer festen Pincette hebt man die beiden inneren Antennen an ihrer Wurzel aus der Ver- tiefung des Panzers, in welche sie eingefiigt sind. Line kleine Knochenzange dient dazu, um die eine Grube zu durchbrechen und nunmehr das Panzerstiick, welches zwischen den beiden Gruben liegt, herauszuheben. Das ausfliessende Blut tupft man mit kleinen Schwimmchen auf und spaht scharf nach dem Ganglion, das an seiner weisslichgrauen Farbe erkennbar durch Schnitte einer kleinen Scheere aus seiner Umgebung herausgehoben und entfernt werden kann. Hierbei sieht man lebhafte Bewegungen der Augen und ausseren An- tennen, waihrend man zugleich heftige Bewegungen der Extremitaten und des Schwanzes fiihlt. Nachdem man so weit gekommen ist, im- plantirt man das herausgehobene Panzerstiickchen wieder an seine Stelle und tropft auf die Wunde warme Gelatine, deren Festwerden man noch kurze Zeit abwartet. Auf diese Weise ist die Wunde vollkommen verschlossen und man bringt den Krebs nunmehr in seinen Wasserbehilter zuriick, ohne ihn vorliufig schon zu priifen. Man wartet am besten bis zum nachsten Tage, obgleich man auch schon nach einer Stunde seine Neugierde befriedigen kann, ohne den Operirten zu schadigen. Ich halte es fiir wesentlich, dass man die Krebse in kithlem Wasser hat und dieses in Circulation erhalt, was auf verschiedene Weise zum Theil mit sehr einfachen Mitteln geschehen kann, So operirte Krebse habe ich sechs Wochen lang beobachtet, worauf 40 Krebs und Krabbe. die Beobachtung abgebrochen wurde, da die Erscheinungen schon seit Wochen ganz stabil geblieben waren. Diese Krebse noch viel langere Zeit am Leben zu erhalten, hat gar keine Schwierigkeiten. Bei einiger Uebung hat man bei dieser Operation nur sehr wenige Verluste. Hat man auf diese Weise das Dorsalganglion entfernt, so zeigt sich, dass nunmehr die fiusseren Antennen (jedenfalls auch die inneren, die aber wihrend der Operation entfernt werden mussten) und die Augenstiele gelahmt sind. Die wesentlichste Erscheinung ist aber folgende: Die Locomotion ist definitiv vernichtet, obgleich simmtliche Extremititen ungelahmt sind. Die letzteren, ins- besondere die vier Gehfusspaare, sind sogar in fortwahrender Bewe- eung begriffen, und auch das vorderste Extremitaitenpaar, die Scheeren, machen Bewegungen, aber alle Bewegung geschieht ohne Coordination und eine Ortsbewegung erfolgt in keinem Falle. Hierbei ist zu bemerken, dass der Krebs, wie alle seine nachsten Verwandten (Hummer uw. s. w.), eine doppelte Form der Ortsbewegung zeigt, namlich die Kriech- und die Schwimmbewegung. Die erstere ist eine einfache Locomotion mit Hiilfe der vier Gehfusspaare, die als Hebel durch abwechselnde Verwendung in coordinirter Thitigkeit den Korper nach vorwirts schieben. Die Scheeren und der Schwanz sind bei dieser Form der Ortsbewegung nicht nennenswerth betheiligt. Die Schwimm- bewegung geschieht im Gegentheil durch ausschliessliche Benutzung des Schwanzes, der kraftige rhythmische Contractionen macht, wodurch der Korper des Thieres in Stdssen nach riickwarts geschleudert wird. Obgleich die Extremitiiten hierbei mechanisch unbetheiligt zu sein scheinen, so sieht man doch, worauf fiir gewohnlich gar nicht geachtet wird, wie die Extremitiiten bei den Schwimmbewegungen. simmtlich flach und parallel nach vorn an den Leib gelegt werden, um sich von demselben wieder abzuheben, sobald die Schwimmbewegung aufgehért hat. Am deutlichsten sieht man diese neue Lage der Extremititen an dem langsten, dem ersten Extremitiitenpaare, den Scheeren. Auf diese Weise bekommt der ganze Krebs die Form eines Pfeiles, und die Erscheinung erfiillt zweifellos den mechanischen Effect, den Wider- stand, den das Wasser der Bewegung bietet, méglichst zu verkleinern. Man ersieht hieraus, dass die Schwimmbewegung des Krebses eine coordinirte Thiatigkeit des Schwanzes und der Extremititen verlangt, die ihrerseits wieder auf einen complicirten inneren Mechanismus hinweist. Ist das dorsale Schlundganglion abgetragen, so ist auch diese zweite Form der Ortsbewegung, die Schwimmbewegung, definitiv ver- nichtet. Reizt man den Schwanz mechanisch, durch Druck zum Bei- Krebs und Krabbe. 4] spiel, namentlich wenn man den Reiz auf der Bauchseite anbringt, so kommt es zu einer einmaligen langsamen Kriimmung desselben, die allmilig wieder nachlisst, aber niemals zu wiederholten rhyth- mischen Contractionen, wie beim normalen Krebse, wo sie die Vor- bedingung fiir die Schwimmbewegung bilden. Obgleich der Schwanz also nicht gelihmt ist, so erzeugt doch eine Reizung desselben jetzt einen anderen Effect, als bei Anwesenheit des Dorsalganglions. Dass die Extremitiiten nicht gelihmt sind, ist oben schon bemerkt worden. Wie wenig davon die Rede sein kann, sieht man am besten an den Scheeren, wenn man irgend einen festen Gegenstand zwischen ihre Arme klemmt; derselbe wird in gleicher Weise festgehalten, wie vor der Operation, und ich wiirde der Scheere des Operirten meinen Finger so wenig anvertrauen, wie dem normalen Thiere. Ebenso unversehrt ist der ganze Kiefer- und Kiemenapparat, welche beide man vielfach in Thatigkeit sieht, auch ohne dass man sie reizt. Ks ist unter diesen Umstiinden wohl selbstverstaindlich, dass die mechanische Reizung irgend eines riickwirts vom Kopfe gelegenen Punktes der K6rperoberfliche mit lebhafter Bewegung der Kérper- anhange (Extremitiiten) beantwortet wird, mit Ausnahme der gelihmten Kopfanhange. Bemerkenswerth ist hierbei die ofter beobachtete ausser- ordentlich hohe Erregbarkeit des Schwanzes, der sich auf leichte Beriihrungen schon kriimmt. Bevor wir in der Schilderung fortschreiten, muss ich auf eine mogliche Fehlerquelle der Beobachtung aufmerksam machen. Wie schon eben bemerkt, werden die Beine unseres operirten Krebses vielfach regellos hin und her bewegt. Hierbei kann es vor- kommen, dass einmal die sammtlichen Beine der einen Seite zugleich in ihren Gelenken gestreckt werden, wodurch die betreffende Seite hoch erhoben und der ganze Krebs eventuell nach der Seite, also vom Platze gehebelt werden kann. Oefter auch kippt er auf den Riicken um und bleibt in dieser Lage hiilflos liegen. Man begreift, dass unerfahrene Beobachtung glauben koénnte, vor einer Loco- motion zu stehen, wihrend dieselbe nach jener Operation fiir immer vernichtet ist. Legt man den Krebs auf den Riicken, so sieht man die Extremi- taten in lebhafter Bewegung, welche durch Beriihrung resp. Reizung noch verstirkt wird, aber in die Normallage, die Bauchlage, zuriickzu- kehren, ist unser Krebs nicht im Stande. Wenn ich meinen unversehrten Krebsen feine Streifen von Schinken in ihren Behilter warf, so konnte ich direct beobachten, wie sie auf dieselben zugingen, davon einen Streifen mit dem vorderen Gehfusse 49 Krebs und Krabbe. fassten und nach der Mundoffnung stopften, wo sofort eime lebhafte Thatigkeit des Kieferapparates begann, die allmalig den Schinkenstreifen nach der Magenhohle hin verschwinden machte. Da der operirte Krebs den Schinkenstreifen nicht holen kann, so legte ich denselben un- Nervensystem des Taschenkrebses (Maja verrucosa). sp Cerebralganglion, s Brustganglion, s, Dorsoventralcommissur. mittelbar unter die Mundoffnung, wo er in der Regel liegen blieb. Ich habe niemals gesehen, dass ein solcher Streifen regelrecht erfasst und zum Munde gefiihrt wurde. Man macht diesen ganzen Versuch auch besser in folgender Weise: Der Krebs wird auf dem Tische auf den Riicken gelegt und mit einer Pincette bringt man den Schinken- o Krebs und Krabbe. Isopoden. 43 streifen zwischen die Kieferfiisse; sogleich beginnt eine lebhafte Thitig- keit des ganzen Kieferapparates, und selbst das vorderste Gehfusspaar betheiligt sich hierbei, indem es den Streifen mit mehr oder weniger Geschick nachzuschieben sucht. Nach kurzer Zeit aber gelangt der Streifen wieder nach oben und fiallt aus den Kiefern heraus — aus- nahmslos, d. h. der Greif- und Kauapparat tritt jedesmal, wenn er durch eingefiihrte Stiickchen angeregt wird, in Thitigkeit, aber eine wirkliche Weiterbeforderung nach dem Magen, also eine Ernihrung ist auf diese Weise unmoglich. Soll der Schinkenstreifen dem Thiere wirklich zu Gute kommen, so muss derselbe mit der Pincette durch die Kiefer hindurch in die Tiefe versenkt werden, von wo er. nicht mehr wiederkehrt. Die Beobachtungen erstreckten sich itiber sechs Wochen. Beim Taschenkrebse (Carcinus maenas, Maja verrucosa, s. Fig. 5), wo die Abtragung des Dorsalganglions genau in der nimlichen Weise ausgeftihrt wird, wie beim Flusskrebse, sind die Folgen die gleichen: Die Locomotion ist definitiv aufgehoben, die Extremitiiten sind sammtlich in lebhafter Bewegung begriffen, also ungelihmt. Mechanische Reizung der Extremitaten vermehrt ihre Bewegungen, die sich aber niemals mehr zu einer Locomotion coordiniren. Auf den Riicken gelegt sind sie nicht im Stande, die Bauchlage wieder einzunehmen, obgleich die Extremitiiten sich lebhaft bewegen. So operirte Thiere sind zwei bis drei Wochen beobachtet worden, ohne dass die beschriebenen Erscheinungen sich verandert hitten. Die Durchscbneidung der beiden Dorsoventraleommissuren musste fiir den Krebs und die Krabbe natiirlich dieselben Folgen haben, wie die Abtragung des Dorsalganglions selbst, nur mit dem einen Unterschiede, dass die Augen und die Antennen ungelaihmt waren und sich zeitweise be- wegten, aber niemals auf Reizung des Leibes, d. h. aller der Korpertheile, welche unterhalb des Dorsal- ganglions liegen — wie ja selbstverstiindlich ist, da die Verbindung zwischen dem Kopfe und dem Rumpfe unterbrochen ist. Fir die Durchschneidung der Commissuren ist die Methode des Operirens genau die gleiche, wie fiir die Abtragung des Ganglions, nur hat man die Wunde im Thorax etwas nach unten zu erweitern und genau zu beobachten, wo die Commissuren das Dorsalganglion verlassen, weil man sie nur auf diese Weise mit Sicherheit auffinden kann, da sie sich, selbst grau, von ihrer grauen Umgebung nicht hinreichend abheben. Fig. 6. Mauerassel (Oniscus murarius). 44 Krebs und Krabbe. Sehr tiberraschend ist das Resultat der Abtragung des Dorsal- ganglions bei den Isopoden. Zur Untersuchung kamen die gewohnlichen Mauerasseln (Oniscus murarius), wie eine solche in der Fig. 6 (a. v. 8.) dargestellt ist. Die Abtragung des Dorsalganglions geschieht in der einfachsten und zweck- massigsten Weise so, dass man den Kopf abtrigt: Ein so geképftes Thier setzt, im Gegensatz zu den oben geschilderten Krebsen, seine Ortsbewegung fort, wie im normalen Zustande. §. 4. [> Analyse der versie ne: Da, wie die Versuche gezeigt haben, nach Abtragung des dorsalen Schlundganglions jedwede Locomotion (sowohl Kriech- wie Schwimm- bewegung) definitiv aufgehoben ist, so folgt daraus unmittelbar, dass in jenem Ganglion das allgemeine Bewegungscentrum fiir Krebse und Krabben enthalten ist. Es folgt aber weiter aus der Beobachtung der Ghedmaassen, die nicht gelihmt sind, dass dieselben ihr erstes oder primares Centrum in den correspondirenden Ganglien der Bauchkette oder in dem Brustganglion (Krabben) haben, welches die Ganglien- kette vertritt; d. h. die Verhiltnisse sind demnach hier dieselben, wie bei den Wirbelthieren, wo die Skelettmuskeln ihr primires Centrum im Riickenmarke finden. In beiden Thiergruppen werden Lahmungen der Korpermuskeln nur dann auftreten koénnen, wenn man Riicken- mark oder Elemente der Bauchkette selbst zerstort. Doch tritt bei unseren Wirbellosen dieses Verhialtniss viel klarer zu Tage, wo die Trager der centralen Function, die Ganglien, deutlich von den Leitungs- bahnen, den Commissuren, geschieden sind. Die Abtragung des dorsalen Schlundganglons zerstort, indem es die Ortsbewegung aufhebt, die Beweglichkeit des Thieres als eines einheitlichen Organismus, aber es beeintrachtigt niemals die isolirte Thatigkeit der einzelnen Gliedmaassen, die zwar willkiirlich nicht mehr bewegt werden kénnen, aber auf dem Wege des einfachen Reflexes in Bewegung gerathen. Wenn der Krebs nach Abtragung seines Cerebralganglions aus der ihm aufgezwungenen Riickenlage nicht mehr in seine natiirliche Bauchlage zuriickzukehren vermag, so kann ihm entweder das Gefiihl fiir das Gleichgewicht der Lage verloren gegangen sein oder aber seine natiirlichen mechanischen Mittel sind nunmehr unzureichend geworden (in Folge einer mangelhaften Coordination derselben). Dass die Empfindung fiir das Gleichgewicht der Lage nicht verloren gegangen ist, ersieht man daraus, dass die Bewegungen des auf den Riicken Insecten. 45 gelegten Thieres ausnahmslos und sofort sehr viel lebhafter werden; auch bemerkt man zweifellos das Bestreben zur Riickkehr in die Normallage an einzelnen Stellungen der Beine, aber die Art und Weise, wie die Bewegungen der Extremitaten geleitet werden, zeugt von einer schweren Schidigung der Coordination: Die Extremitiiten bewegen sich ziellos nach allen Richtungen, wihrend das unversehrte Thier zielbewusst sich mit seinen Extremitiiten gegen die Unterlage stemmt und auf diese Weise aus der Riickenlage befreit wird. Nebenbei modchte ich bemerken, dass die Riickkehr aus der Riicken- in die Bauchlage schon fiir den normalen Krebs eine schwierige Aufgabe ist, die er im Wasser sehr gern dadurch umgeht, dass er zu Schwimmbewegungen itibergeht, wiihrend welcher die Riick- kehr in die Bauchlage sich viel leichter vollzieht. Abweichend von den bisher untersuchten Crustaceen verhalten sich die Isopoden insofern, als sie nach Abtragung des Dorsalganglions ihre Locomotion fortsetzen und dadurch es fraglich erscheinen lassen, ob sie im Dorsalganglion ein allgemeines Bewegungscentrum besitzen. Wenn sich diese Gruppe thatsichlich nach Abtragung jenes Gang- lions anders verhalt, als die Fluss- und Taschenkrebse, so ist damit noch nicht bewiesen, dass ihnen das allgemeine Bewegungscentrum fehlt; eme Frage, die wir spater durch andere Versuche zur Ent- scheidung bringen werden. Was den Vorgang der Nahrungsaufnahme bei den Thieren ohne Dorsalganglion anbetrifft, so ist zuniichst gewiss, dass eine spontane Nahrungsaufnahme ausgeschlossen ist. Wenn die Nahrung, welche man zwischen die Kiefer schiebt, zunachst erfasst und in der normalen Richtung vorgeschoben wird, um aber bald wieder zuriickzukehren, so handelt es sich wohl um eine Stérung in der Coordination der noth- wendigen Bewegungen. Ob es sich hierbei um ungeniigende Schluck- bewegungen handelt, vermag ich nicht zu entscheiden. Erst wenn man die Nahrung iiber diese schwierige Stelle hinweggebracht hat, wird sie behalten. Der Vorgang gleicht dem bei den Wirbelthieren. Zweites Capitel. Die Insecten. Die Untersuchung dieser Abtheilung wird hauptsichlich ausgefiihrt an der Schabe (Blatta orientalis) und dem Goldkiifer (Carabus auratus), 46 Insecten. deren Abbildungen in natiirlicher Grosse ich zur Orientirung fiir den Leser hier nebenbei habe aufnehmen lassen (Fig. 7a, 7b, 8), ebenso wie weiterhin das Nervensystem des letzteren. Neben diesen Insecten wurden zur Untersuchung herangezogen der Todtenkifer (Blaps mortisaga), der Rosskiifer (Geotrupes vernalis) (her Bach 7 (bs: Fig. 8. Kichenschabe (Blatta orientalis). Goldkafer (Carabus auratus). und manche andere, die mir der Zufall in den Weg fiihrte. Von den Fliegen die Stubenfliege (Musca domestica), die Wespe (Vespa vulgaris), die Heuschrecke (Locusta viridissima), und von den Schmetterlingen die Weisslinge (Pieris brassicae) und der Schwalbenschwanz (Papilio Machaon). Sar alle Anatomische Bemerkungen. In Fig. 9 (a. f. 5.) sehen wir das Nervensystem von Carabus, ent- sprechend vergrossert, dargestellt. Das Cerebralganglion der Insecten ist im Allgemeimen grosser und entwickelter, als bei den iibrigen Articulaten, sowohl absolut als im Vergleich zu den ibrigen Ganglien und zu ihrer Korpergrosse, wie wir es auch hier an dem Typus sehen konnen. Von dem Dorsalganglion gehen aus der Sehnerv, der Nerv fiir die Antennen und Nerven fiir die Oberlippe. Das Unterschlundganglion ist sehr klein, liegt direct unter dem oberen und daher stets noch im Kopfe. Dasselbe versorgt die Mundorgane, wie Mandibeln u. s. w. An dasselbe schliessen sich an drei gréssere Ganglien fiir den Pro-, Meso- und Metathorax, sowie acht oft sieben kleine Ganglien fiir den Hinter- leib (Abdomen), bei denen eine Zusammenziehung in der Weise statt- finden kann, dass mit Ausnahme des Unterschlundganglions die ganze A yaa gr coy th tae PO a a Insecten. 47 Bauchkette auf wenige Ganglien zusammenschmilzt, wie bei der Stuben- fliege im Allgemeinen oben bemerkt worden ist (vgl. Fig. 2). Die Versuche. Man nimmt den Kafer in die linke Hand und fixirt sicher den Kopf. Wenn man mit einem spitzen Messerchen das Stiick der Chitin- decke des Kopfes gerade zwi- schen den Augen abhebt, so trifft man auf das Hirnganglion, welches man mit einer spitzen Scheere herausschneidet oder mit gliihender Nadel zerstort. Setzt man den Kafer wieder auf den Tisch, so macht er ganz regelmissige Locomo- tionen, wie im normalen Zu- stande. Dass er iiberall an- stésst und seine Antennen nicht mehr zur Orientirung benutzt, ist nach den anatomi- schen Vorbemerkungen selbst- verstandlich. Uns interessirt vorwiegend die Thatsache voll- kommen regelmassiger Ortsbewegung auch nach Abtragung des Cerebral- ganglions. Da es eine alte Erfahrung ist, dass Insecten ohne Kopf laufen kénnen, das Unterschlundganglion also fir die Locomotion ohne _ Be- deutung ist, so erscheint es mir einfacher, sich von der fortbestehenden Ortsbewegung trotz Zerstérung des Cerebral- ganglions in der Weise zu iiberzeugen, dass man den Kafer durch einen Scheeren- schnitt, welchen man _hinter Nervensystem des Goldkifers. 1 Cerebralganglion, 2 Unterschlundganglion, : ae ; 3...12 Ganglien der Bauchkette. die Augen legt, képft. Diese 48 Insecten. Methode sieht zwar etwas roh aus, aber worauf Alles bei einer Methode ankommt, sie ist sehr zweckentsprechend und schont die Beweglich- keit des Thieres weit mehr, als es bei dem ersten Verfahren méglich ist. Dieses Letztere ist um so gerechtfertigter, als es uns auf lingere Erhaltung des Operirten gar nicht ankommt. Der gekopfte Kafer lauft ganz lebhaft, und das ist uns vollkommen geniigend, da hiermit die wesentliche Frage vorliufig beantwortet ist. Die Kopfung hindert die Stubenfliege ebenso wenig an ganz regel- missiger Ortsbewegung; auch vermag sie noch zu fliegen, aber doch nur in der Weise, dass sie z. Bb. von der Hand oder der Tischplatte in regelmassigem Fluge auf den Boden gelangt. Dagegen wieder den Weg zuriick vom Boden auf den Tisch habe ich sie nicht machen sehen; sie erhebt sich nur sehr wenig und fiir kurze Zeit vom Boden. Ebenso verhalt es sich mit den Schmetterlingen, von denen ich einige zwei bis drei Tage ohne Kopf lebend erhalten habe. Dieselben koénnen ihre Beine zum Kriechen sehr gut benutzen, aber die Fliigel etwas mangelhaft, ahnlich wie eben bei der Stubenfliege geschildert. Die- selben Beobachtungen wiederholen sich fiir die geképfte Wespe und die Heuschrecke. Wihrend also iiberall nach Abtragung des Dorsalganglions die Locomotion mit Hiilfe der Fiisse tadellos erhalten ist, scheint das Flug- vermogen, wenn es auch da ist, etwas reducirt zu sein. Hierbei ist indess nicht zu iibersehen, dass die Verhaltnisse nach der Operation fiir die Thiere recht ungiinstige sind: man kann nicht widerlegen, dass unter giinstigen allgemeinen Restitutionsbedingungen ein voll- kommener Flug sich einstellen kénnte. Das Alles erscheint hier ohne Belang gegeniiber der Thatsache, dass das Flugvermégen nach Abtragung des Dorsalganglions nicht ver- nichtet, sondern thatsichlich doch noch vorhanden ist. Legt man einen gekoépften Kifer (Carabus auratus) auf den Riicken, so kehrt er rasch in die normale Bauchlage zuriick; dasselbe Verhalten zeigt Blatta. Von anderen Insecten waren unter den Kiafern noch gepriift worden (reotrupes vernalis (Rosskafer) und blaps mortisaga (Todten- kafer), welche nach Abtragung des Kopfes regelmissig ihre Spazier- ginge fortsetzen. Es ist endlich von Interesse, dass auch die Raupen, zunachst jene des Weisslings, nach Abtragung des Kopfsegmentes regelmissige Ortsbewegungen ausfithren. eit erie eee Ant en tne Myriopoden. 49 a Analyse der Versuche. Haben unsere Insecten ein allgemeines Bewegungscentrum ? Da wir gesehen haben, dass nach Abtragung des dorsalen Schlund- ganglions, also auch ohne dasselbe, die Ortsbewegung erhalten ist, so wiirde daraus direct die obige Frage zu verneinen sein. Indess mussten wir schon friiher beim Haifische dieselbe Erfahrung machen, dass trotz der Abtragung des Gehirns und erhaltener Ortsbewegung doch ein allgemeines Bewegungscentrum vorhanden war, welches sich erst durch weitere Priifung offenbarte. Wir wollen deshalb auch hier unser Ur- theil einer spateren Untersuchung vorbehalten. Drittes Capitel. Die Myriopoden. Diese Gruppe ist an Arten arm; ihre Individuen sind sehr klein und sie selbst dem vivisectorischen Eingriffe gegeniiber wenig resistent. Trotzdem ist es gelungen, auch hier zu ganz sicheren Resultaten zu gelangen. Jntersucht wurden (eo- philus, Lithobius forficatus und Julus terrestris, von denen die beiden letz- teren in den Figuren 10 und 11 dar- gestellt sind. Da die hiesigen Julus sehr klein sind, so sandte mir mein Freund Pro- fessor B. Grassi in Rom, seiner Zeit in Catania, in dankenswerther Weise eine reiche Sendung von den _ viel grosseren dortigen Julus, die mich tiber alle technischen Schwierigkeiten hinwegbrachten. Lithobius forficatus. Kf Kieferfuss. Julus terrestris. Steiner, Centralnervensystem. III. 50 Anneliden. SA. Anatomische Bemerkungen. , Neben dem Dorsalganglion ist eine Bauchkette vorhanden, welche sehr lang gestreckt ist, indem in jedem der zahlreichen Segmente, aus denen der Korper dieser Thiere besteht, ein Ganglion enthalten ist, also bei Lithobius etwa 16, bei Julus sogar etwa 55 Ganglien. On Die Versuche. WZ) Wihrend Lithobius und Geophilus die rasche und leichte Gangart schnell laufender Kafer haben, zeigt Julws die vornehm ruhige Bewe- gung der Raupen. Die Entfernung des Dorsalganglions geschah bei allen drei Thieren durch Abtragung des Kopfsegmentes, welches deutlich gegen den iibrigen Korper abgegrenzt ist. In allen drei Fallen wird die Ortsbewegung durch die Entfernung des Kopfsegmentes nicht unterbrochen }). Shah Analyse der Versuche, Indem die Thiere nach Abtragung des Kopfes locomobil bleiben, lassen sie uns damit im Zweifel iiber den Besitz eines allgemeinen Bewegungscentrums; ein Zustand der Unsicherheit, welcher erst spiter gelést werden kann ?). Viertes Capitel. Die Anneliden. Obgleich die Gruppe der einheimischen Anneliden zahlreiche Arten umfasst, so sind doch nur wenige derselben fiir den physiologischen ‘) Nicht unerwihnt will ich lassen, dass meine Hande bei dem wiederholten Anfassen der Julus deutlich nach Blausiure rochen. In der That besitzen diese Thiere, wie um die niimliche Zeit von anderer Seite mitgetheilt wurde (M. Weber, Ueber eine Cyanwasserstoff bereitende Driise. Arch. f. mikr. Anatomie, Bd. 21), in ihrer Haut Driischen, welche jene Substanz absondern. *) Von den Arachniden weiss ich nichts zu berichten, da unsere Haus- spinnen die Operation niemals iiberlebt haben. Vielleicht sind grosse exotische Spinnen resistenter, doch standen mir keine solche zu Gebote. (Zu Seite 51 und 53.) Steiner, Centralnervensystem. III. Verlae von Friedr. Viewege & Sohn in Braunschweig. 1. Nephthys scolopendroides. — 2. Carebratulus marginatus. — 3. Planaria neapolitana, Stylochus pilidium (Lang). Anneliden. Versuch zu verwenden. Vollkommen durch- fiihrbar ist das geplante Experiment nur beim Blutegel (Hirudo medicinalis), welcher uns demnach als Typus dienen wird (siehe Fig. 12). Daneben wurde auch der Regen- wurm gepriift. Die Untersuchung gewann eine brei- tere Basis, als ich die zahlreichen Arten- von Meeranneliden in Neapel untersuchen konnte: es waren dies Ophelia, Eunice, Dio- patra neapolitana und Nephthys scolopen- droides; letztere ist auf der Tafel als Fig. 1 in natiirlicher Farbe und Grosse dargestellt. §. 1. Fig. 12. Anatomische Bemerkungen. Das Centralnervénsystem der Anneliden gleicht im Allgemeinen jenem der Articulaten, insofern auch hier ein Dorsalganglion und eine Bauchganglienkette vorhan- den ist. Doch unterscheidet es sich von jenem dadurch, dass bei der reichen Segmentirung des Leibes der Anneliden die Anzahl der Bauchganglien eine sehr zahl- reiche ist, worin sie den Myrio- poden am nachsten stehen. Als typisch mag das Nerven- system des Blutegels hier auf- gefiihrt werden, welches ein an- ~ sehnliches Dorsalganglion besitzt (siehe Fig. 13), das durch kurze Commissuren mit dem unteren Schlundganglion in Verbindung steht (Schlundring). Darauf fol- gen 23 sehr kleine, den einzel- nen Segmenten entsprechende Ganglienpaare der Bauchkette, welche in der Mitte zusammen- : : : ¥ Blutegel fliessen, und endlich ein grosseres (Hirudo medicin.). Nervensystem des Blutegels. 52 Anneliden. End- oder Schwanzganglion, welches mehrere kleine Ganglien in sich zu vereinigen scheint. Die vom Dorsalganglion austretenden Nerven versorgen die Sinnes- organe (eine grdéssere Anzahl von einfachen Augen, sowie etwa 60 becherformige Organe, welche wahrscheinlich der Geschmacksempfindung dienen); ferner die Muskeln und die Haut der Kopfscheibe; die Nerven der Bauchkette vertheilen sich auf die zugehdrigen Segmente, die des Endganglions an der ventralen Saugscheibe (Claus). Gleichen Bau zeigt das Nervensystem der Meeranneliden; beim tegenwurm ist das Dorsalganglion auffallend klein. G52. Die Versuche. Die Abtragung des Dorsalganglions beim Blutegel hat seine grossen Schwierigkeiten, einmal wegen der Kleinheit des Objectes, noch mehr aber wegen des Widerstandes, welchen der Egel dem Experimente durch die energische Contraction seines Leibes entgegensetzt, wobei zugleich eine solche Verschiebung der Gewebe stattfindet, dass man das Ganglion nur schwer auffindet. Man iiberwindet diese Schwierig- keiten, wenn man zunichst das Kopfende mit einer starken Nadel feststeckt, mit einer zweiten Nadel das Hinterende fasst, damit den sanzen Leib so weit als méglich lang zieht und schliesslich das Hinter- ende ebenfalls befestigt. Mit einem scharfen Messerchen erdffnet man vorn am Kopfe den Muskelschlauch, sucht das Dorsalganglion und schneidet es heraus. Zur Ausfiihrung dieser Operation ist es niitzlich, Voriibungen an eben getédteten Exemplaren anzustellen. Man macht den Versuch unter wenig Wasser, das eben den Egel bedeckt, und in den auf den zoologischen Laboratorien gebriiuchlichen, mit Wachs ausgegossenen Schalen. Der Erfolg der Abtragung des Dorsalganglions ist ein durchaus negativer: Der Blutegel macht, in ein grdsseres Glasgefiss ins Wasser sesetzt, seine Ortsbewegungen, wenigstens so weit man beobachten kann, gerade wie im normalen Zustande. Zerschneidet man ihn nun- mehr in zwei Theile, so macht auch das hintere Stiick vollkommene Ortsbewegungen, die im Allgemeinen mit dem Kopfende vorangehen. Dasselbe wiederholt sich, wenn man ihn in drei oder mehrere Stiicke zertheilt. Dass man den Regenwurm in einzelne Theile zerschneiden kann, ohne dass dieselben, so lange sie nicht zu klein sind, die Fahigkeit der Ortsbewegung verlieren, ist allgemein bekannt. Ich mochte nur Unsegomentirte Wiirmer. 53 > hinzufiigen, dass die Bewegung der einzelnen Theile auch hier mit dem Kopfende voran zu gehen pflegt. Die oben genannten Meeranneliden bewegen sich nach Abtragung des Kopfes resp. des Dorsalganglions in gleicher Weise, wie bisher: Die Versuche sind interessanter, weil die Ortsbewegungen hier aus- giebiger und charakteristischer sind, als bei den einheimischen Anne- liden (nebenbei moéchte ich hier die wunderbare Regenerationskraft er- wihnen, welche Diopatra neapolitana besitzt: der abgetragene Kopf regenerirt sich in kurzer Zeit, ebenso die ganze vordere Hilfte). 8. 3. Analyse der Versuche. Man wiirde diesen Versuchen durchaus gerecht werden, wenn man jedem Metamer der Anneliden ein eigenes Bewegungscentrum zu- sprechen und fiir das Dorsalganglion jede Herrschaft iiber diese Cen- tren leugnen wollte. Da wir indess noch nicht alle uns zu Gebote stehenden Hiilfsmittel zur Priifung dieser Frage erschépft haben, so miissen wir die Entscheidung hieriiber vertagen bis zu dem Momente, wo diese Priifung stattgefunden haben wird. Fiinftes Capitel. Die unsegmentirten Wtirmer (Turbellarien und Nemertinen). S21. Ss: Anatomische Bemerkungen. Unter den Nemertinen wahlte ich Cerebratulus marginatus, von den Turbellarien eine Planarie, nimlich Planaria neapolitana (Stylochus pilidium), welche auf der Tafel in natiirlicher Farbe und Grésse ab- gebildet sind (Fig. 2 und 8). Ihr Nervensystem ist von grossem Interesse, weil es nur aus einem einzigen, am Vorderende des Thieres velegenen Ganglienpaare besteht, von dem aus zwei lange Seitennerven den Kdérper entlang nach hinten ziehen. Als Typus eines solchen Nervensystems mag hier das einer anderen Planarie, der Cestoplana faraglionensis aufgefiihrt werden, wo man bei ¢ das besagte Ganglion und in /m die beiden Seitennerven sieht (Fig. 14). Die folgende Fig. 15 giebt jenes Ganglion mit den davon ausstrahlenden 54 Unsegmentirte Wuirmer. ieee HOA pay ma rE 2 KK PH ——— {4 1X Bisel ig {\ ' ; / : Ke al sf i ine ‘ ae i i PEN) i Ae 7, iy \ state 1a siteptaneaa armen Ak] yj A r op 4 4 { we my TAY we C] i a \/ tt Y / NG LH Lx ¥ YH EP) Ned | at Sen Scyitt) a xan ist HY ea ; i : f ‘ : A VA “tel \(dIrsye yr) 4 Wang yh Li} ph Ne NH AW ~~ 4 =) ye d A 4{\ 1+ \4 AMA 4 r | ye Nervensystem von Cestoplana faraglionensis. gq Gehirn, 1” Lingsnerven. Nerven bei starker Vergrésserung wieder (es ist der Kopf einer weiteren Planarie, der Planocera Graffir). G2. Die Versuche. Wir wenden uns zunichst zu den Nemer- tinen, und zwar zu der haufig vorkommen- den Art Cerebratulus marginatus; die Exem- plare pflegen etwa 1/,m lang zu sein. Von einer isolirten Abtragung des Gang- lions habe ich aus technischen Griinden abgesehen; doch kann man es mit Sicher- heit entfernen, wenn man den vordersten Theil des Kopfes in gewisser Ausdehnung abtrigt. Die Grenze dieser Abtragung ist genau gegeben durch Augenflecken, welche fusserlich leicht erkennbar sind. Leet man den Schnitt reichlich hinter diese Augenflecken, so hat man zweifellos das Hirnganglion abgetragen, wie man deutlich aus Fig, 15 ersehen kann, wo die Verhilt- nisse ganz gleich liegen. Der Erfolg dieses Versuches war der, dass die gekopfte Nemertine nach einiger Zeit der Erholung Locomotion machte, wie das unversehrte Thier. Man kann die Durch- schneidunesstelle noch weiter nach hinten verlegen, ohne an dem Resultate etwas zu ‘indern. Erst wenn man das hinterste Drittel des Thieres erreicht, zeigt sich, dass dieses Schwanzstiick keine Locomotion macht, son- dern trotz aller Reize sich nur einringelt. Die gekopfte Planarie macht nach einiger Erholung ebenfalls noch Ortsbewegungen, so dass die Verhaltnisse hier die gleichen zu sein scheinen, wie bei den Nemertinen. Weitere Durchschneidungen wurden bei der Planarie wegen ihrer Kleinheit und weil dieselben kein weiteres Interesse boten, nicht gemacht. Unsegmentirte Wirmer., 55 Ich méchte endlich noch einer besonderen Beobachtung Erwahnung thun: Bei den wiederholten Durchschneidungen, die ich bei den Nemertinen in specie bei Cerebratulus marginatus zu machen hatte, kam es wiederholt vor, dass das Thier, wenn es angefasst wurde, irgendwo mitten in seiner Linge abbrach. Es scheint, dass es in der Organisation dieser Thiere so zu sagen natiirliche Bruchstellen giebt, Fig. 15. kh C, hn, 0g Gehirn mit davon ausstrahlenden Nerven von Planocera Graffit (starker vergrossert). g Gehirnganglion, Jn Lingsnervenstimme, hn, hvs, hnz, hn, Hauptnervenstamme, €;,C. Commissuren zwischen den Nervenstimmen, gha Gehirnhofaugen, ta Tentakelhofaugen, tn Tentakelnerven. d. h. Stellen, welche beim Anfassen des Thieres leicht durchbrechen; vielleicht auch mit viel geringerer Schiidigung, als wenn andere Stellen des Leibes getrennt werden. ; Solche natiirliche Bruchstellen scheinen nur zwei vorhanden zu sein, deren Lage ich indess nicht naher bestimmt habe. Die ganze Erscheinung erinnert an das leichte Abbrechen des 56 Unsegmentirte Wirmer. Schwanzes der Eidechsen, wie jenes der Extremitiiten der Crustaceen und der Arme von Seesternen (L. Frédéricq, W. Preyer). Das hier vorgetragene Resultat iiber die Bewegungen des geképften Cerebratulus marginatus scheint erheblich von jenem, das Loeb er- halten hat, abzuweichen. Soweit ich aus der Darstellung von Loeb ersehe, handelt es sich indess um zwei verschiedene Beobachtungen, die sehr wohl neben einander bestehen kénnen: Loeb fragt niimlich, ob der geképfte Cerebratulus sich noch in den Sand einbohrt, wie es das Kopfstiick that, was verneint wird. In meinen Versuchen wird nur gefragt, ob das gekdpfte Thier Locomotionen macht, was ich bejaht habe. Es kann demnach sehr wohl sein, dass diese beiden Beobachtungen neben einander zu Recht bestehen, wobei man zugleich leicht einsehen wird an der Hand meiner friiheren und spiiteren Kr- lauterungen, dass das Kopfstiick, da es im Besitz besonderer Sinnes- nerven ist, hoherer psychischer Leistungen fihig sein mag, als das derselben entbehrende Rumpfstiick. Zur Erginzung meiner Versuche sei es gestattet, hier noch den Versuch von Loeb anzufiihren, dass das geképfte Thier stets wieder in die natiirliche Bauchlage zuriickkehrt, wenn man es auf den Riicken gelegt hat. WZ) Oo Analyse der Versuche. Unter der Voraussetzung, dass rhythmische Bewegungen in der Thierwelt, selbst bei diesen tiefstehenden Organisationen, an das Vor- handensein von Ganglienzellen gekniipft sei, lehrt jener einfache Ver- such, dass in der kopflosen Planarie und Nemertine Ganglienzellen vorhanden sein miissen, welche die Locomotion dieses Thieres ver- mitteln. In der That heisst es in neueren anatomischen Beschrei- bungen!): ,Die Nervenstimme enthalten nicht nur Nervenfasern, son- dern einen oberflaichlichen Belag von Ganglienzellen, welche an den Abgangsstellen von Nerveniisten ganglienihnliche Anschwellungen ver- anlassen konnen.“ Vom Cerebratulus marginatus schreibt Biirger auf S. 327 seines citirten Werkes: ,Die Seitenstiimme stellen ein Paar sehr starke, vom Ganglienzellenbelag begleitete Nerven dar, welche sich allmiilig nach hinten verjiingen u. s. w.“, und auf der folgenden Seite heisst es: ,,Der Ganglienzellenbelag des Seitenstammes besteht nur aus Zellen des zweiten, dritten und vierten Zelltypus.“ Die Fig. 16 zeigt ein Stiick des Seitennerven yon Thysanozoon Brochii mit Ganglien- zellen. *) Lang, Die Polycladen des Golfs von Neapel 1884. Birger, Die Nemer- tinen des Golfs von Neapel etc. 1895. Mollusken. 57 Unter diesen Umstiinden stehen, was die hier untersuchten Func- tionen betrifft, die unsegmentirten Wiirmer durchaus auf gleicher Stufe mit den Ringelwiirmern, selbst zarte (ueranastomosen kénnen zwischen den beiden Seitennerven in regelmissigen Abstainden auf- treten, wodurch die Aehnlichkeit noch erhoht wird (s. Fig. 15). Fig. 16. LZ YZ OZ Riri sbhiniie eines Semenricree von Tin cenbeaon Brochii. 9219 %29 23924 Ganglienzellen (Vergrésserung 700). Das, was wir bei den unsegmentirten Wiirmern eigentlich gesucht haben, finden wir erst realisirt bei den Wiirmern vom Typus der Dystomeen, z. B. dem Leberegel (Distoma hepaticum). Eimige Versuche, die ich hier machte, fielen entsprechend unserer Voraussetzung aus: Nach Entfernung des Hirnganglions verschwand jede Ortsbewegung. Sechstes Capitel. Die Mollusken. Unter den einheimischen Mollusken sollten die hier haufigen und hinreichend grossen nackten Schnecken (Arion, Limax ater) dem Ex- Fig. 17. Pierotrachea mutica. 58 Mollusken. perimente gute Dienste leisten konnen. Indess ist das ein Irrthum, denn die kraftige Zusammenziehung des ganzen Korpers, wenn man denselben anschneidet, macht es unmodglich, das Nervensystem frei zu Re 18: legen. Ich habe deshalb von : vornherein auf Experimente an diesen Mollusken verzichtet und mich zu den viel hand- licheren Seemollusken gewen- det, von welchen mir die zoo- logische Station eine reiche Auswahl bot. Es waren dies Sepia offi- cinalis und Octopus vulgaris: ferner die reizenden pelagi- schen Formen von Pterotra- chaca mutica und coronata, so- wie Cymbulia Peroni, deren Abbildungen ich dem _ Leser vorlege. Spiter gliickten auch Versuche an Aplysia und Pleurobranchaea Meckelit. Das Bewegungsorgan der Mollusken ist im Allgemeinen ihr Fuss, der indess sehr ver- schiedene Formen annehmen kann: so z. B. bildet sich der- selbe bei Pterotrachaea zu emer Flosse um, bei Cymbulia zu zwei symmetrisch gelegenen Schmetterlingsfliigeln; bei Octopus und Sepia zu den mit Saugnipfen bewaffneten Armen und zum Trichter, wie wir sie in der beistehenden Fig. 19 sehen. Neben der durch den Fuss oder seinen Aequivalenten erzeugten Bewegung kénnen noch andere Vorrichtungen fiir die Locomotion des Thieres vorhanden sein, so dass ein solches Thier iiber zwei Formen von Ortsbewegung verfiigt. So macht der Muskelschlauch, welcher den Leib der Pterotrachaca umgiebt, peristaltische Bewe- sungen, durch welche das Thier viel kriftiger und energischer fort- bewegt wird, als durch seine Fussflosse. Die Octopoden kriechen auf ihren Fangarmen auf dem Boden und an festen Objecten umbher, durchqueren aber kriftig und stossweise die Fluth, wenn sie perio- dische plétzliche Wasserentleerungen aus ihrem Athmungstrichter ein- treten lassen. Cymbulia Peroni. Vig. 19a, aN Lehi Tf ; coon Octopus vulgaris (kriechend). 7 Trichteréffnung. Octopus vulgaris (schwimmbereit). 60 Mollusken. gi, Das Nervensystem der Mollusken. Das Nervensystem der Mollusken besteht im Allgemeinen aus dem dorsalen Schlundganglion, und einem mit jenem verbundenen, unter dem Oesophagus gelegenen Ganglion, welches in der Regel zum Pedal- ganglion wird, weil es die Nerven fiir die Muskeln des Fusses abgiebt. Die Commissuren, durch welche die beiden Ganglien mit eimander verbunden werden, sind kiirzer oder linger, je nach der Entfernung, in welcher der Fuss vom Hirnganglion liegt. Dazu treten Visceral-, Pleural- und Parietalganglien, von denen wir vor der Hand absehen Nervensystem von Carinaria mediterranea. CG Cerebralganglion, Pg Pedalganglion, Oc Augen, Ot Otocysten, Z’e Tentakel, Br Kiemen, P Fuss. kénnen. Das Nervensystem von Pterotrachaca gleicht dem von Cari- naria mediterranea, das in Fig. 20 dargestellt ist. Das Dorsalganglion giebt ab Nerven fiir das Auge, fiir das Ohr etc.; die Commissuren, welche Dorsal- und Pedalganglien mit einander verbinden, sind so lang, als die Entfernung yon Auge und Fuss (resp. Flosse) betragt. Bei Cymbulia ist das Nervensystem das gleiche, nur fehlen ihr Augen; in Folge dessen ist das Dorsalganglion sehr verkiimmert und weiterhin entlang der Commissur zu dem Pedalganglion herabgeglitten, dem es direct aufliegt. Der Theil des Nervensystems, welcher uns interessirt, besteht demnach eigentlich aus einer bogenformigen, supraoesopha- gealen Commissur und einem Fussganglion (vergl. Fig. 21). Mollusken. 61 Bei Octopus und Sepia finden wir ebenfalls ein Dorsalganglion, von dem aus sichtbar nur die Nerven fiir die Buccalganglien ausgehen. Nach den Angaben der Zoologie entsendet dieses Ganglion auch die Nerven fiir Auge, Ohr und Geruchsorgan (vergl. Claus, Zoologie 1885, S. 553); direct zu sehen ist dieses Verhalten nicht. Wie es sich in Wirklichkeit gestaltet, dariiber werden wir spiiter noch verhandeln. Senkrecht unter dem Dorsalganglion liegt eine grosse Ganglien- masse, welche in ihrer Gesammtheit als Pe- dalganglienmasse auf- zufassen ware. That- siichlich aber ist der hintere Theil Visceral- ganglion, von dem aus eine grosse Anzahl von Nerven zu dem Mantel, den Einge- weiden und den Kie- men gehen. Der vor- dere Theil ist das Pedalganglion, besteht indess aus dem nach vorn gelegenen Bra- chial- und dem dahin- ter liegenden eigent- lichen Pedalganglion. Aus dieser Masse gehen zunichst nach vorn die Nerven fir die Fangarme ab; weiter zu beiden Seiten ein kurzer dicker N. opti- cus mit einem grossen Fig. 21. Nervensystem von Cymbulia. ce.co. Cerebralcommissur, ce. Cerebralganglion, Vz. Pe. Vis- ceropedalganglienmasse, of. Otocyste, Bw. Buccalganglion. Sehganglion, und endlich nach hinten Nerven fiir die Gehdrblasen; vergl. die Figuren 22 und 23; namentlich die ausfiihrliche Figuren- bezeichnung. Der hohen Entwickelung dieser Thiere entspricht die sehr merk- wiirdige Erscheinung, dass das Centralnervensystem der Octopoden und Tintenfische in einer starken Knorpelkapsel eingeschlossen und von den ibrigen Organen getrennt liegt, was bei keimem anderen 62 Mollusken. Wirbellosen der Fall ist, aber zweifellos keme Homologie zu der knéchernen Gehirn- und Riickenmarkskapsel der Wirbelthiere bietet. §. 2. Die Versuche. Wie schon bemerkt, sind Pterotrachaea und Cymbulia pelagische Thiere und als solche vollkommen wasserklar und durchsichtig. Letz- teres in dem Maasse, dass man die angegebenen Ganglien, sowie ihre Commissuren ganz direct am unversehrten Thiere ohne jede Pripara- Fig. 22. Fig. 23. il ae Za ) ° Nervensystem von Octopus vulgaris, Nervensystem von Octopus vulgaris, von oben gesehen. bei seitlicher Betrachtung. 1. Ganglion supraoesophageum; 2. Ganglion A Buccalmasse; B Oesophagus; C Aorta; suboesophag. anterius; 3. Ganglion opticum, a Ganglion supraoesophageum; b Ganglion 4. Ganglion suboesophag. posterius, von dem opticum; ¢ Ganglion brachiale; d Nerven fiir ausgehen die Nerven fiir den Mantel (8.) und die Arme; e Ganglion buccale; f Ganglion jene fiir die Eingeweide (6.); 5. Nerven fiir labiale; g Mantelnerven; h Visceralnerven; die Arme; 7. Ganglion stellatum; 9. Riech- zwischen c und h liegt die tibrige suboeso- lamelle; 10. Eine Borste, welche den Oeso- phageale Ganglienmasse. phagus markirt. tion sehen kann, wenn man sie gegen das Licht halt oder einfach auf dunklere Unterlage bringt. Es ist dem entsprechend auch sehr leicht, jene Ganglien zu zerstoren. Wenn man also hierin keine Schwierigkeit findet, so dirfte man sie in der augenscheinlichen Zartheit dieser wunderbaren transparenten Wesen zu erwarten haben. Das mag fiir viele und vielleicht die meisten pelagischen Thiere zutreffen, aber keineswegs fiir Cymbulia und noch weit weniger fiir Pterotrachaca, die geradezu resistent genannt werden miissen. Denn man kann sie relativ lange Zeit ausserhalb des Wassers unter der Zeiss’schen Lupe betrachten, ohne dass sie ee Mollusken. 63 an Beweglichkeit verloren hitten, wenn man sie wieder ins Wasser bringt. Die Fig. 24 zeigt uns nochmals die Pterotrachaca in natiirlicher Grésse auf schwarzen Untergrund gezeichnet, da der Ké6rper voll- kommen glashell und durchsichtig ist: Vorn der Riissel, welcher im stumpfen Winkel gegen den Korper steht, auf dessen proximalem Ende und an dessen unterer Seite zwei schwarze Punkte, die beiden Augen, leicht zu bemerken sind. Zwischen diesen liegt das ebenfalls leicht Fig. 24. Pterotrachea mutica. und deutlich wahrnehmbare Dorsalganglion. Etwa in der Mitte des Kérpers sehen wir den nach oben gerichteten, zu einer Flosse um- gebildeten Fuss. Das biischelformige Gebilde am hinteren Ende des Korpers stellt die Kiemen dar; die zahlreichen rothen und weissen Punkte sind Pigmentflecke. . Hilt man das Thier nur einigermaassen in giinstiger Beleuchtung, so sieht man ohne jede Priparation das Dorsal- wie das Pedalganglion und die verbindenden Commissuren aufs Deutlichste. Indem wir nun zu den Versuchen selbst iibergehen, haben wir zunichst vor, das Dorsalganglion zu zerstéren; ein Experiment, das uns in etwas unreiner, aber hinreichend lehrreicher Form nicht selten der Zufall selbst anstellt. Wenn namlich im Marz und April taglich eine gréssere Anzahl von Pterotracheen von den Fischern zur Station gebracht werden, so findet man ab und zu darunter Exemplare, welche Riissel und Kopf verloren haben: trotzdem aber schwimmen sie umher, und zwar in beiden Formen der Locomotion, wie normale Thiere. Ich mache nun selbstiindig das Experiment, indem ich mit einer guten Scheere den Kopf unmittelbar hinter den Augen amputire, oder man schneide das Dorsalganglion zwischen den Augen heraus oder zerstore es mit einer gliihenden Nadel: das Resultat ist stets das gleiche, dass wir keinen Ausfall in der Bewegungssphire wahrnehmen. Dass die 64 Mollusken. Thiere die Sinnesempfindungen, welche in jenem Ganglion wurzeln, verloren haben, ist selbstverstindlich; oftenbart sich dem Beobachter nunmehr durch irgend einen Ausfall an Leistungen gerade so wenig, wie ehedem ihre Anwesenheit positive wahrnehmbare Leistungen auf- zuweisen hatte. Wir gehen an das Pedalganglion. Dasselbe bemerkt man leicht, wenn man mit dem Auge, dem oberen Rande der Flosse folgend, in die Tiefe des Korpers eindringt. Eine Tiuschung resp. Verwechslung ist unmoglich, weil man von demselben deutlich die Nerven nach oben und unten abgehen sieht. Man kann sich helfen, indem man das Thier gegen das helle Fenster halt. Sticht man mit einer gliihenden Nadel auf dasselbe ein, so steht die Flosse fiir immer still; ebenso verschwinden die peristaltischen Bewegungen des Leibes. Man koénnte vermuthen, dass bei den immerhin zarten Thieren allein die Verletzung des Korpers die Unfahigkeit zu jeder Loco- motion erzeugt. Wenn man indess mit der gliihenden Nadel genau wie oben, aber neben das Pedalganglion sticht, so erzeugt man im Gegentheil die energischsten Bewegungen, und das Thier ist von seinen unversehrten Genossen nicht zu unterscheiden. Es ist demnach bewiesen, dass das Pedalganglion beiden Formen der Locomotion vorsteht und dass seine Zerst6rung auch jene Bewe- gungen authebt. Durchschneidet man eine Pterotrachaea quer, so dass der Schnitt vor die Flosse fallt, so macht der flossentragende Theil seine beiden Bewegungen, wie vorher. Der Vordertheil macht auch noch Bewe- gungen, aber dieselben sind nur wenig ausgiebig, und wenn man genau zusieht, sind es Bewegungen des Riissels, durch welche eine Ver- schiebung bewerkstelligt wird. Der Riissel aber hat sein eigenes Gang- lion (Buccalganglion) und die ganze Erscheinung hat mit der Loco- motion des Gesammtthieres nichts zu thun. Legt man einen Schnitt hinter das Pedalganglion, so verliert das Schwanzstiick seine Bewegungsfaihigkeit fiir immer. Octopus und Sepia sind fiir den Vivisector schwer zu handhabende Thiere. Aber eine geeignete Quantitit Chloralhydrat, dem Wasser des Glases zugesetzt, in dem sich eines dieser Thiere befindet, zahmt die wilden Leidenschaften auch dieser Geschépfe: Wenn der Sturm im Glase sich gelegt hat, welches fest bedeckt gehalten werden muss, da der Octopus in voller Intelligenz ganz energische Fluchtversuche macht, wird er aus dem Glase herausgeholt, und der noch immer sich mit den Armen wehrende von dem Assistenten auf dem Operationstische festgehalten. Zwischen den Augen wird die Haut gespalten und vor- sichtig nach Durchschneidung des Hirnknorpels in die Hirnhohle ein- Mollusken. 65 gedrungen. Hat man die Kroffmung richtig geleitet, so stésst man sogleich auf das durch seine gelbliche I'arbe von der Umgebung, namentlich dem weissfarbigen Oesophagus abstechende Dorsalganglion. Dasselbe wird am besten mit dem friiher angegebenen Meisselmesser !) abgetragen, soweit als es auf resp. tiber dem Oesophagus liegt; nichts mehr von den Massen, welche ihre Lage seitlich vom Oesophagus haben. Darauf wird die Wunde durch Nahen der Haut wieder ver- schlossen und der Octopus in das Bassin gesetzt. Der Tintenfisch pflegt die Operation nur eine halbe bis eine Stunde zu iiberleben, doch liess sich in dieser Zeit mit aller Sicherheit fest- stellen, dass auf mechanischen Reiz alle Formen der Locomotion ein- treten konnten. Viel gliicklicher gestaltet sich der Versuch beim Octopus, welcher viele Tage — wir begniigten uns mit achttagiger Beobachtung — die Operation iiberlebt. Es sei nochmals hervorgehoben, dass auch der Octopus iiber zwei Locomotionsformen verfiigt: einmal macht er kriechende Bewegungen nach vorwiarts mittelst seiner Tentakel oder mit Saugnapfen ausgeriisteten Arme und zweitens riickwarts durch den Riickstoss, welcher dadurch erzeugt wird, dass das Athemwasser, welches durch die Mantelspalte zu den Kiemen in die Mantelhohle gelangt, mittelst kraftiger Contractionen des Mantels stossweise durch den Trichter entleert wird, wobei zugleich die Arme vollig coordinirt sich sammtlich lang ausgestreckt nach vorn legen. Zunichst ist leicht festzustellen, dass unser Octopus, obgleich seines Dorsalganglions beraubt, wenn man ihn mechanisch reizt, sowohl weiter kriecht als in gewaltigem Stosse riickwarts durch das Bassin schiesst. Seine Bewegungssphire ist also unversehrt, wie bei Sepia und Pterotrachaea. Es scheint, dass er mit der Abtragung seines Dorsal- ganglions nichts von seiner Beweglichkeit eingebiisst hat. Ja noch mehr; es lisst sich nachweisen, dass er ohne jenes Ganglion sieht und diese Gesichtseindriicke zweckmissig verwerthet: Geht man auf das Auge des ruhig Dasitzenden vorsichtig mit einem Stabe los, natiir- lich ohne das Auge zu erreichen, so schliesst er die Augenlider und weicht zuriick, Um jedem Zweifel in dieser Richtung zu begegnen, bemerke ich, es gelingt derselbe Versuch auch dann noch, wenn man von aussen her auf das Auge des Octopus mit dem Stabe losgeht, wenn er unmittelbar hinter der Glaswand des Bassins sitzt, so dass zwischen Auge und Stab die trennende Glaswand steht; hier ist jede andere Erregung, als jene, welche durch das Bild des auf der Retina des Thieres sich abbildenden Stabes entsteht, ausgeschlossen. Der *) J. Steiner, Nervensystem der Fische, S. 17. Steiner, Centralnervensystem. IIT. . 5 66 Mollusken. Octopus reagirt demnach mit Abwehrbewegungen noch auf Gesichts- eindriicke, auch ohne das Dorsalganglion. Wir konnen noch mehr feststellen. Kleine Krebse und Krabben, die in das Octopusbassin gesetzt wurden, werden von einem gesunden Octopus, namentlich tiber Nacht, regelmissig verspeist. Die Chitin- schalen findet man reinlich gesiiubert und geputzt als Reste dieser Mahlzeit am Morgen iiber den Boden des Bassins verstreut. Bei unserem Octopus fanden wir eines Morgens ebenfalls einen kleinen Heu- schreckenkrebs (Squilla mantis) oder einen anderen kleinen Krebs (Gebia littoralis) im seinen Armen, aber er that ihnen nichts zu Leide, obgleich man sie dort mehrere Tage beliess, denn sie hatten sich so zu sagen nur in den Saugniipfen des Octopus gefangen. Dort wiirden sie bleiben, wenn man sie nicht befreite, da sie selbst zu schwach sind, um sich der umstrickenden Macht der Saugnapfe zu entwinden. Nach Entfernung des Dorsalganglions nimmt der Octopus spontan keine Nahrung mehr; er riihrt selbst seine Lieblingsbeute (Krebse) nicht mehr an, auch wenn sie innerhalb der Saugnipfe rettungslos seiner Macht anheimgegeben ist. Ebenso halt er den ihm einmal angewiesenen Platz fest und nimmt, wie es scheint, willkirlich keine Ortsverainderung vor, obgleich er die Umgebung sieht resp. obgleich die Umgebung auf sein Auge elnwirken muss, wie der obige Versuch lehrt, in welchem er dem ihn bedrohenden Stabe auszuweichen sucht. Schhesslich konnte noch folgende interessante Beobachtung gemacht werden: Es sitzt ein unversehrter Octopus in der Ecke seines Bassins; wir legen in seine Nahe, aber immerhin etwa 20 bis 30cm entfernt von ihm, eine der classischen, auf dem Meeresboden gefischten Urnen von Thon, Nicht lange und wir sehen, wie er seine Arme nach der Urne ausstreckt und sie allmilig so vor sich hin postirt, dass er sich dahinter zu verstecken glaubt. Wir bringen die Urne wiederholt an ihren alten Platz und wiederholt schleppt er sie wieder zu sich hin. Der- selbe Octopus wird nunmehr seines Dorsalganglions beraubt und die Sympathie fiir den classischen Topf ist geschwunden; er kiimmert ihn nicht mehr, obgleich er ihn nach dem obigen Versuche doch sehen muss. §. 3. Analyse der Versuche. Ob in dem Dorsalganglion das allgemeine Bewegungscentrum fiir den Leib der Mollusken enthalten ist, erscheint durch die mitgetheilten Versuche nicht bewiesen, aber ebenso wenig widerlegt. Wir werden die Frage spiterhin mit voller Klarheit entscheiden, ebenso uns iiber Appendicularien. 67 den Werth der einzelnen Abtheilungen dieses Nervensystems aus- sprechen. Kine andere Frage lisst sich dagegen hier definitiv beantworten. Oben schon (8. 54) bemerkte ich, dass die Zoologie lehrt, es ginge von diesem Dorsalganglion auch bei den Octopoden, wie bei den anderen Mollusken, der Sehnerv ab, d. h. das Sehcentrum wurzele in diesem Ganglion. An derselben Stelle hob ich hervor, dass man diesen Austritt des Sehnerven direct nicht sehen konne. Nichtsdestoweniger kénnte die Annahme der Zoologie richtig sein, dass der Nerv in der Masse des Ganglions verlaufe und in diesen Massen zum Opticus- ganglion gelange. Diese Annahme widerlegt unser Versuch insofern ganz eindeutig, als der Octopus nach Abtragung des sogenannten Cerebralganglions nicht blind wird, sondern nachweisbar sehend bleibt, was niemals der Fall sein diirfte, wenn die Wurzel des Sehnerven in dieses Ganglion eingebettet wire. Den gleichen Nachweis werden wir spiter auch fiir den letzten Ursprung des Gehornerven fiihren, der ebenso wenig in dem Dorsal- ganglion wurzelt. Dieselbe Frage fiir den Geruchsnerven zu ent- scheiden, erschien nicht ausftihrbar. Siebentes Capitel. Die Appendicularien (Copelatae). Die grdssten Appendicularien, welche uns erreichbar sind, besitzen eie Lange von wenigen Centimetern!); das sind Thiere, die einem vivisectorischen Eingriffe kaum zuginglich sind. Um so weniger schien hier ein Versuch moglich, als Appendicularien der angegebenen Grosse nur in Messina zu finden sind, wohin mir die eben ausgebrochene Cholera (Friihling 1887) den Eintritt verwehrte. Ich musste mich des- halb mit den kleineren Appendicularien begniigen, welche im Golf von Neapel vorkommen; das ist vor Allem Oicopleura cophocerca, welche nur 11mm lang ist; davon kommen 3mm auf den Rumpf (bei 0,8 mm Breite) und 8mm auf den Schwanz (bei 1,5mm Breite). Die Appendicularien sind bekanntlich deshalb von so grossem Interesse, weil man in dem Schwanze derselben ein Organ gefunden 1) H. Fol, Etudes sur les Appendiculaires du détroit de Messina. Mémoir. Soc. de phys. et d’hist. nat. de Genéve, T. XXI, 1872. 5 =S 68 Appendicularien. hat, welches mit der: Chorda der Wirbelthiere die grésste Ueberein- stimmung zeigt, womit diese Thiere in die nachste Verwandtschaft zu den Wirbelthieren treten. Wie die Fig. 25 lehrt, besteht eine Appendicularie aus dem Leibe und. dem Schwanze, der in der Regel den Rumpf an Lange um Vieles iibertrifit. Indem ich beziiglich des Baues dieser Thiere auf die Lehr- biicher der Zoologie verweise!), bemerke ich, dass das Nervensystem aus einem Hirnganglion besteht, welches im Rumpfe liegt. Von diesem geht ein Nervenstamm nach hinten, welcher den Schwanz seiner ganzen Lange nach durchzieht. An der Basis des Schwanzes ist in dem Verlaufe dieses Nerven ein ansehnliches Ganglion (Schwanzganglion) eingeschaltet, an das sich weiterhin noch einige kleinere Ganglien anreihen. Der Schwanz zeigt Metamerenbildung, die indess in neuerer Zeit bezweifelt wird (Seeliger). Die Thiere bewegen sich sehr rasch im Wasser durch peitschende Schwingungen ihres Schwanzes. Es kann und soll an der Appendicularie nur ein einziger Versuch gemacht werden: es soll namlich festgestellt werden, ob der Schwanz, wenn er vom Rumpfe getrennt wird, noch Bewegungen macht, wie wihrend seiner Verbindung mit dem Rumpfe, oder ob er in diesem Falle seine Bewegungen einstellt. Der Versuch ist in Folge der Kleinheit des Ob- jectes und der raschen Bewegung desselben nicht ohne Schwierigkeit. Ich nehme eine Appendicularie in eine kleine mit Wasser gefiillte Glasschale und suche wih- rend der Bewegung mit Hilfe einer guten feinen M Muskel, N Nerv, Scheere den Schwanz zu amputiren. Beharrlichkeit ee fiihrt auch hier zum Ziele. Erfolgt die Amputation etwas eutfernter von der Basis, so ist das Schwanzstiick bewegungs- los; gelingt die Amputation unmittelbar an der Basis des Schwanzes, so macht der Schwanz Locomotionen, wie im normalen Zustande. In letzterem Falle war die Amputation oberhalb, im anderen Falle unter- halb des Schwanzganglions geschehen. Ks folgt daraus, dass das Schwanzganglion das primire Centrum fiir die Muskeln des Schwanzes, und dass dieses Centrum locomobil ist. Aber es ist damit nicht bewiesen, dass dieses Centrum zugleich das allgemeine Bewegungscentrum ist. Von dem im Rumpfe gelegenen ') Claus, Lehrbuch der Zoologie 1885, 8. 580 u. figde. 7. © 1 Echinodermen. 69 Hirnganglion kiénnen wir nichts aussagen, da es fiir den Versuch nicht erreichbar ist. Ueber dieses Resultat werden wir auch in der Folge nicht hinaus- kommen. Achtes Capitel. Die Echinodermen. A. Die Seesterne. Die nebenstehende Figur 26 zeigt einen Seestern mit fiinf Armen resp. Radien. Das Nervensystem besteht aus fiinf zu den Strahlen ver- laufenden Hauptstiimmen, von denen feine Nervenfiidchen zu den ver- Fig. 26. Cif f/ line Pn ALY ON. Sy Wi ent a y) By LEE SEN IVE ye 7 VAD C4 \ ) 5) y QE AS Sey, ZANe 2 May y V4 aa re It Ap 5% ie eas Sta 7) de + ZFABS's v “Fi FAR (Ee $5) wane Valea zt ZAIN YSa ay) LE =\ aR 2 ine in OKIE. resi] KS Up\? 92 sas Q ig ea ), PIS |) acd (At) Sas Al wt AY MINS LLANES DX. ms ANS peed Ne Seestern (Hehinaster sentus), von der Oralfliche dargestellt. O Mund, Af Ambulacralfiisschen. schiedenen Geweben (Blutgefiisse, Muskeln u. s. w.) hinziehen. Die Stiimme theilen sich um den Mund in gleiche Halften, welche sich zur Bildung eines Ganglienzellen enthaltenden Nervenringes (Nerven- 70 Echinodermen. pentagon) vereinigen, wie wir es in Fig. 27 sehen. Neuere Unter- suchungen lehren, dass das Nervensystem der Echinodermen resp. der Seesterne viel complicirter gebaut und aus drei vollig selbstiindigen Fie. 27. Systemen zusammengesetzt ist (A. Lang, L Lehrbuch der vergleichenden Anatomie, ae 4. Abth., 1894, 8. 1045), niéimlich 1. dem 3 L _» oberfliichlichen, oralen Nervensysteme, . ye welches die Haut, die Ambulacralanhange CF prs und den Darmcanal innervirt; 2. dem Wate hf tiefliegenden, oralen Nervensysteme, wel- ches das oberflaichlich orale an seiner y inneren Seite begleitet; es immervirt die x in der Oralseite der Leibeswand yer- t laufenden Muskeln; 3. das aborale Nerven- system, welches auf der aboralen Seite in den Armen einzelne Nervenstringe besitzt, die sich im Centrum vereinigen; dieses Nervensystem innervirt die dorsalen Armmuskeln. Die hier mitgetheilten Versuche von Preyer an Seesternen sind auf Grund der alten Lehre des Nervensystems ausgefiihrt, so dass angesichts des neuen Standes der Kenntnisse des Nervensystems auch eine experimentelle Neubearbeitung der Seesterne wiinschenswerth ware. Die Bewegungen der echten Seesterne geschehen mit Hiilfe der Ambulacralfiisschen, welche in der Richtung der Reizwirkung vorgestreckt werden und an den Boden sich anheften, worauf der Korper nachgezogen und dann die Einziehung der Fiisschen bewerkstelligt wird. Sogleich aber werden dieselben wieder extendirt, um das Spiel von Neuem zu wiederholen. J Nervensystem eines Seesternes. N Nervenring. Die Schlangensterne besitzen Ambulacralfiisschen, welche rudi- mentir oder zuriickgebildet worden sind. Bei ihnen erfolgt die Orts- bewegung mit Hiilfe der Strahlen selbst, welche alternirend links und rechts von der Locomotion einen Radius vorschieben, wozu in Folge der Lage der Radien eine erhebliche Beugung derselben nothwendig ist. Die Pedicellen sind wahrscheinlich Sinnesorgane ohne locomotorische Function. Ich entnehme die folgenden experimentellen Daten der schon oben erwihnten Arbeit von W. Preyer (Ueber die Bewegungen der See- sterne. Eine vergleichend physiologisch-psychologische Untersuchung. Mittheil. a. d. zoolog. Station zu Neapel. Bd. VII, 5. 1 bis 127, 1886, 5. 191 bis 233, 1887). es Eechinodermen. 7M el, Die Versuche. Wenn man bei einem Seesterne (Asterias glacialis) einen Strahl resp. Radius glatt an der Basis, da, wo er mit der Centralscheibe zu- sammenhingt, abschneidet, so macht derselbe ganz correcte Locomotion, doch sind die Bewegungen ziellos. Bei Astropecten sieht man das gleiche Resultat, nur braucht der abgeschnittene Arm etwas mehr Zeit, um sich zu erholen und die Locomotion zu beginnen. Im Ganzen beobachtet man aber bei diesen Versuchen, die man selbst auf einzelne Armstiicke ausdehnen kann, einen gewissen Mangel der Coordination und eine gewisse Trigheit. Die Locomotion der ab- getrennten Arme besteht tagelang fort. Nach Ablosung aller Radien (Asterias glacialis) macht die Central- scheibe Ortsbewegungen, wie das unversehrte Thier. Es ist demnach selbstverstiindlich, dass em mit dem zugehérigen Centralscheibenstiick abgeloster Arm vollkommen normale Ortsbewe- gungen ausfiihrt — und zielbewusst, wenigstens muss man dieses Ziel- bewusstsein voraussetzen, da der an der Basis abgesetzte Arm ziellos kriecht. Anders verhalten sich die Schlangensterne: Ein glatt abgesetzter Arm macht iiberhaupt keine Ortsbewegung mehr, sondern windet sich nur schlangenformig, aber uncoordinirt und stirbt sehr bald ab. Wenn man dem Arme aber den zugehorigen Theil seiner Centralscheibe mit- giebt, so vermag derselbe sich wiahrend lingerer Zeit von der Stelle zu bewegen, also Ortsbewegungen zu machen. In dieser Beziehung besteht demnach ein principieller Unterschied zwischen den echten Seesternen und den Schlangensternen. Alle Locomotion, wie itiberhaupt alle coordinirten Bewegungen, erléschen bei Ophiuren (Schlangensterne) sofort, wenn man mit der Nadel, ohne Verletzung des dorsalen Integumentes, die fiinf Ecken des centralen Nervenfiinfeckes, also die Anfangspunkte der fiinf Radialstringe, durchsticht, idem man die Nadel ventral gerade da einfiihrt, wo die fiinf Ecken der Mundéffnung auslaufen. Ich habe nicht finden kénnen, dass derselbe Versuch bei den echten Seesternen ausgefiihrt worden ist, was gewiss sehr interessant wiire, obgleich sich mit aller Sicherheit voraussagen lisst, dass em so ,enthirnter“ Seestern (um mit Preyer zu reden) Ortsbewegungen machen muss, da jeder Strahl dieser Bewegung fiihig ist, aber es wird vom Zufall abhiingen, ob im gegebenen Augen- blicke geniigende locomotorische Krifte in der gleichen Richtung thatig werden, da die einzelnen Arme so gestellt sind, dass eine Orts- bewegung nach allen Richtungen erfolgen kann. 72 Echinodermen. Wir werden iibrigens an einer anderen Versuchsreihe geniigend Gelegenheit haben, diese Voraussetzung zu verificiren. Wenn man einen gesunden Seestern auf den Riicken legt, so pfleet sich derselbe, nach schon im Alterthum bekannter Beobachtung, ebenso wie es andere Thiere, z. B. Frosch, Fisch, Insect, machen, immer wieder in seine normale Bauchlage umzuwenden (abgesehen von einigen Aus- nahmen, die unter speciellen Bedingungen auftreten und die hier nicht weiter interessiren). Priift man in derselben Richtung basal abge- schnittene Arme oder deren Theile von echten Seesternen, z. B. Asterias glacialis, so ergiebt sich, dass alle diese Fragmente die Riickkehr in die Normallage bewerkstelligen, aber ungleich rasch, je nach ihrer Liinge und je nachdem man ihnen mehr oder weniger die Central- scheibe belassen hat. Die Schlangensterne verhalten sich auch hierm anders, denn ein basal abgesetzter Ophiurenarm wendet sich nicht mehr; um dies zu kénnen, muss man ihn mit dem zugehdrigen Theile der Centralscheibe in Verbindung lassen. Es wiederholt sich demnach hier genau das Gleiche, was wir bei der Ortsbewegung gesehen haben. Wenn man bei einem Astropecten vom Munde aus den Nervenring fiinfmal durchschneidet, so dass die einzelnen Arme in ihrem central- nervosen Zusammenhange von einander getrennt werden, so vollzieht sich trotzdem die Selbstwendung, aber langsamer als normal und weniger sicher. Dies Resultat musste ebenso vorausgesagt werden kénnen, wie die Erhaltung der Locomotion bei der gleichen Verletzung, da jedem ° Arm fiir sich das Selbstwendungsvermogen zukommt. Macht man den gleichen Versuch bei einem Schlangenstern (Ophio- derma), so bleibt die Selbstwendung aus, wie nach den Erfahrungen an den isolirten Armen ebenfalls vorausgesagt werden konnte. Endlich wurde untersucht, ob die einzelnen Radien fiir die Loco- motion des ganzen Thieres gleichwerthig sind, oder ob einer oder mehrere einen gewissen Vorzug geniessen. Entsprechende Beobachtungen haben ergeben, dass es sich nicht um eine Majorisirung mehrerer Strahlen zu (runsten eines besonderen handelt, sondern dass héchst wahrscheinlich die Locomotion jedesmal durch eimen coordinatorischen Majoritits- beschluss bestimmt wird. B. Die Seeigel. Die Form der Seeigel ist abzuleiten von einer Seesternform, deren Arme ganz in den gemeinsamen Ké6rper iibergehen. Das Nervensystem gleicht im Wesentlichen jenem des Seesternes mit semem centralen Nervenpentagon und den fiinf Ambulacralradien. Coelenteraten. 73 Wir folgen hier der Darstellung von L. Frédéricg (Hxpériences 5 5 | 1 phystologiques sur les fonctions du systeme nerveux des Echinides. Compt. rend. de V Académie des sciences, T. 83, p. 908—910, Paris 1876). Si. 2: Die Versuche. Wenn man mit einer feinen Scheere bei einem Seeigel (TZozxo- pneustes lividus) fiinf Eimschnitte in die Buccalmembran in der Weise macht, dass man damit die Nervenstiimme der fiinf Ambulacralradien durchschneidet, ganz nahe ihrem Ursprunge von dem Nervenpentagon (le collier), so sieht man, dass die Ambulacralfiisschen zwar nicht ge- lihmt sind, das Thier selbst aber keine Ortsbewegung mehr macht; es vermag seinen Platz nicht mehr zu wechseln, wiihrend seine unver- sehrten Genossen normal auf dem Boden des Aquariums umber spazieren. Legt man einen so operirten Seeigel auf den Riicken, d. h. wendet man ihn so um, dass der orale Pol nach oben zu liegen kommt, so verharrt er in der Lage, ist nicht im Stande, in seine Normallage zuriickzukehren, was jeder normale Seeigel mit der gréssten Regel- missigkeit thut, wie tibrigens auch alle anderen Thiere. Wenn man einen umschriebenen Punkt der fusseren Korper- bedeckung reizt, so sieht man sofort, wie die Ambulacralfiisschen aus ge- wissen Bezirken sich gegen den gereizten Punkt senken, offenbar nur zur Abwehr. Der Versuch gelingt in gleicher Weise mit Segmenten, welche vollkommen vom Thiere abgelést werden. Es liegt also in der dusseren Hautbekleidung die Bahn, welche die Uebertragung des Reizes auf die Muskeln vermittelt, was man deutlich daran sehen kann, dass, wenn man mit einem feinen Scalpell lineare Einschnitte in die Haut macht, man auf diese Weise die Ausbreitung des Feldes begrenzen kann, welches an den Abwehrbewegungen theilnimmt. Neuntes Capitel. Die Coelenteraten. Wir behandeln ausschliesslich die Medusen, deren Nervensystem man so weit erforscht hat, dass es unserer Darstellung zugiinglich ist. Zugleich liegen fiir diese Gruppe eine Reihe von physiologischen Ver- suchen vor, welche mit den anatomischen Daten gut iibereinstimmen. 74 Coelenteraten. i Die Anatomie. SR In der Anatomie folgen wir der Arbeit von O. und R. Hertwig‘), welche nach Gegenbaur die Medusen in die beiden Gruppen 1. Craspedota, 2. Acraspeda eintheilen (je nachdem der Schirm oder die Glocke einen ausgebildeten muskulésen Randsaum, Velum, besitzt oder nicht). Um dem Leser diese Thiere ins Gedichtniss zuriickzurufen, setze ich daneben eine der im Mittelmeer hiiufigsten Medusen, die Wurzel- qualle, Rhizostoma Cuvieri, Fig. 28, und daneben einen schematischen (Querschnitt (Fig. 29), der das grob Anatomische wiedergiebt. Das Nervensystem der beiden Gruppen ist so grundsiitzlich yon einander verschieden, dass es ge- sondert dargestellt werden muss. Das Nervensystem der Craspe- doten besteht regelmiissig aus einer centralen und einer peri- pheren Abtheilung (centrales und peripheres Nervensystem). Das erstere befindet sich ausschliesslich an der Peripherie der Schwimm- glocke, wo es eimen vollkommen geschlossenen Ring bildet, der um 'Rhisostowa ‘Cassone die Peripherie der Schwimmelocke herumzieht und durch den Ur- sprung des Velum in einen oberen und einen unteren Ring getheilt wird, «ie beide aus Nervenfasern und Ganglienzellen bestehen, sowie durch emzelne quere Nerventibrillen mit emander communiciren. Zur Veranschaulichung dieser Verhiiltnisse dient Fig. 30. Fic. 28. Das periphere Nervensystem der Craspedoten, welches in der Subumbrella legt, besteht aus einem Plexus von Nervenfasern und Ganglenzellen, die mit dem unteren Ringe in Verbindung stehen. Bei den Acraspeden setzt sich der centrale Theil aus emer Anzahl getrennter Abschnitte zusammen, welche mit eimander durch Com- ly fay ) Das Nervensystem und die Sinnesorgane der Medusen. Leipzig 1878. Vgl. auch A. Lang, a. a. O. 1. Abth., 8. 91, 1888. CT Coelenteraten. 75 missuren nicht in Verbindung stehen (ausgenommen sind die Cubo- medusen, wo ein Ringnery besteht). Die einzelnen Nervencentren sind am Schirmrande entwickelt, wo sie die Basis der Sinneskérper (eigen- thiimliche Sinnesorgane) einnehmen, welche in den Kinkerbungen des Schirmrandes zwischen zwei Sinneslappen legen und meist zu 8 bis 16 vorkommen. Sie sind Ektodermverdickungen und bestehen, histologisch betrachtet, aus Sinneszellen und einer dicken Schicht feinster Nerven- fibrillen, neben Ganglienzellen. Ein peripheres Nervensystem ist bei den Acraspeden ebenso vor- handen, wie bei den Craspedoten, und zwar ebenfalls in der Subum- brella als em Plexus von Nervenzellen und Fasern. Fig. 29. U Umbrella, M2 Magenraum, S Subumbrella, S1/ subumbrale Muskulatur, Rg/f Radial- gefisse, Rk Randkérper (Sinneskérper), Rg Riechgrube, Al Augenlappchen. Wie wir bei den Coelenteraten resp. Medusen zum ersten Male in der Thierreihe auf ei Nervensystem stossen, das, wie bei allen iibrigen Thieren, aus dem Ektoderm hervorgeht, so treffen wir hier ebenfalls die ersten resp. primitivsten Sinnesorgane, welche alle dem Ektoderm angehoren. Allgemein sind es modificirte Epithelzellen, welche als die Endigungen sensibler Nervenfibrillen nachgewiesen werden koénnen. Von anderen mht sensiblen Zellen des Ektoderms unterscheiden sie sich anatomisch nur dadurch, dass sie auf ihrem peripheren Ende ein Sinneshaar tragen und an ihrer Basis in eine oder mehrere Nerven- fibrillen tibergehen. Das sind indifferente Sinneszellen, welche, strecken- weise vorkommend, als Sinnesepithel auftreten, das eine besondere 76 Coelenteraten. Neizbarkeit und Empfindlichkeit besitzt, durch welches wahrscheinlich Kindriicke unbestimmter und allgemeiner Natur dem Organismus iiber- mittelt werden. Diese Sinneszellen sind deshalb in morphologischer wie physiologischer Beziehung fiir die primitivsten Sinnesele- mente zu halten und sie bilden die Grundlage, aus welcher sich die specifischen Sinnesorgane allmilig hervorgebildet haben. Fig. 30. Querschnitt durch den Schirmrand an der Ursprungsstelle des Gehororgans (Cuurna lativentris). o Otolith, hk Hérkélbchen, mr’ oberer Nervenring, nr® unterer Nervenring, 7 Tasthaare. Aus dem indifferenten Sinnesepithel haben sich bei den Medusen dreierlei verschiedene Sinnesorgane herausgebildet: Tast-, Seh- und Gehérorgane. Als Tastorgane werden Sinneszellen bezeichnet, die mit langen, steifen, iiber die Oberfliche hervorragenden Borsten versehen sind. Solche Tastorgane kommen bei verschiedenen Gruppen der Craspedoten am Scheibenrande sitzend vor, wo sie fast unmittelbar mit dem oberen Nervenringe verbunden sind. Besonders auffallende Tastorgane sind die Tentakel, welche von denselben Sinneszellen bedeckt sind. Coelenteraten. 7 Kin zweites specitisches Sinnesorgan der Medusen sind die Ocellen (Sechorgan), in denen die Sinneszellen vou Pigment cingescheidet sind und die vor sich lichtbrechende Medien (Linse) haben. Die Figur 31 zeigt Ocellus von Lizzia Koelliker?, von der Seite gesehen. oc Ocellus, / Linse. eine solche Ocelle, mit denen Ansicht des Gehérorgans nach Behandlung mit eme Anzahl Acraspeden und dinner Osmiumsiure, die Concretion nach einem frischen Praparate eingezeichnet. a Abtheilung der Crasp kt Otolithen, hk Hérkélbchen, hp Horpolster, a Sinnes- doten, die Ocellaten, ver- ~ zellen, Sinnesepithel, nv! oberer Nervenring. sehen sind. Das dritte specifische Sinnesorgan sind die Gehérorgane: Man findet in einem mit Fliissigkeit erfiillten Bliischen, das offen ist, Sinnes- zellen, die steife Haare (Hoérhaare) tragen und eine leicht bewegliche Big. 33. Fig. 34. a ke Oceania conica, */, nat. Grosse. Phialidium viridicans, '/, nat. Grdsse. Schematische Bilder vom Schirmrande der untersuchten Medusen bei Betrachtung von oben. Velum ist iiberall nach aussen geschlagen. ti interradiale Tentakel, tv radiale Tentakel, v Velum, oc Ocellus, r Ringcanal, rr Radial- canal, x Nesselstreifen, hb Horbliischen, gv Geschlechtsorgane. 78 Coelenteraten. aus Kalk bestehende Concretion. Fig. 32 (a. v. 5.) zeigt ein solches Hérorgan, welches an seinem Standorte am Schirmrande auch schon in Fig. 30 sichtbar ist. Solche Organe kommen bei Craspedoten und Acraspeden vor. Die Fig. 33 und 34 (a. v. 8.) zeigen die Seh- und Hororgane in ihrer natiirlichen Stellung an dem Schirmrande der Medusen. Kine besondere Stellung neh- men die Sinneskérper der Acras- peden ei, welche zusammen- gesetzte Sinnesorgane darstellen: einerseits niamlich Gehororgane nit einem Otolithen oder einem Haufen von solchen, andererseits ein Auge oder mehrere Augen. Die ganze Gegend des Sinnes- go kérpers, welcher beiderseits von Nausithoé albida, '/, nat. Grosse. den stark vorspringenden Sinnes- t Tentakel, sl Sinneslappchen, sk Sinneskiérper, € OES 1] iZ, r] . is RE ee lappen geschiitzt wird, ist von einem Sinnesepithel iiberzogen, das mit emem dichten Nervenplexus in Verbindung steht. Zur Illustration der Sinneskérper und ihrer Anordnung im Schirm- rande diene die Fig. 35. Allgemein finden sich sogen. Riechgruben (s. Fig. 29). S. (2: Die Versuche. An die yorausgehende Darstellung eines Nervensystems der Medusen schliessen sich eng die experimentellen Versuche yon Eimer?) und Romanes?) an. Romanes allein untersuchte Craspedoten und unter diesen vor- nehmlich die leicht bewegliche Ocellate, Sarsia nebulosa. Wenn er bei diesem Thiere den ganzen Schirmrand entfernte, so trat vollige Unbeweglichkeit, Liihmung, ein. Bleb nur ein, wenn auch kleiner Theil des Randes stehen, so dauerten die selbstiindigen Bewegungen fort, wenn sie in ihrer Stirke auch bedeutend nachgelassen hatten. Es ist hierbei besonders bemerkenswerth, dass das isolirte Ausschneiden der Ocellen in auffallender Weise die Beweglichkeit herabsetzte. Wenn man die ihres Randes entkleidete Schwimmeglocke reizt, so *) Th. Eimer, Zoolog. Untersuchungen. Wirzburg 1874, Heft 1. *) G. J. Romanes, Preliminary Observations of the locomotor System of Medusae. Philosophical Transactions. London 1876, Vol. 166. Zwangshbewegungen. 79 beantwortet sie jeden Reiz mit einer einmaligen Contraction, deren mehrere, entsprechend eimer Anzahl von Reizen, sich zu einer loco- motorischen Bewegung summiren konnen. sei den Acraspeden fand Romanes, dass die Ausschneidung der Sinneskérper nur eine voriibergehende Lihmung erregt, deren Dauer verschieden lang ist. Die Bewegungen, die danach wieder eintreten, sind freilich weniger kriiftig. Kimer beschiftigte sich nur mit den Acraspeden und fand, wie RNomanes, dass die Medusen nach Entfernung der Randzone immer dann die ebenfalls nur voriibergehende Lihmung zeigen, wenn man mit dem Randkérper noch die vorliegende, wenige Millimeter breite Gewebszone abgetragen hat, welche er deshalb als contractile Zone bezeichnet. Diese selbst setzt unbehelligt ihre rhythmischen Bewe- gungen fort. Analyse der Versuche. T Es geht aus diesen Versuchen hervor, dass sowohl der Nervenring der Craspedoten wie die Sinneskérper der Acraspeden ein nervdses Centralorgan darstellen, von dem aus sich jeder Reiz durch das peri- phere Nervensystem, den Nervenplexus, fortleitet. Die verschiedene histologische Beschaffenheit des oberen und unteren Nervenringes der Craspedoten macht es wahrscheinlich, dass beide Theile functionell verschieden sind. In der That werden von dem oberen Ringe, dem sensiblen Abschnitte, die Sinnesorgane erregt, wihrend der untere, der motorische, die Muskeln versorgt. Diese Ditffe- renzirung riihrt daher, dass die Bewegungsorgane auf der unteren Seite der Schirmglocke legen, wihrend die Sinnesorgane sich auf der oberen Flache befinden. Doch ist diese Differenzirung keine absolute, denn die Gehdrorgane der Vesiculaten erhalten ihre Nerven von dem unteren Nervenring, wihrend die muskelreichen Tentakeln bei allen Medusen yon dem oberen Nervenringe versorgt werden. Zehntes Capitel. Die Zwangsbewegungen. Die Bedeutung, welche den Zwangsbewegungen zukommt, ist seit der theoretischen Verwerthung derselben, wie sie in der Abtheilung 80 Crustaceen. iiber die Fische entwickelt worden ist1), eine ganz hervorragende. Deshalb erfahren dieselben eine ausfiihrliiche Behandlung, da wir durch sie allem erst im den Stand gesetzt werden, das Vorhandensein des allgemeinen Bewegungscentrums und mittelbar des Gehirns festzustellen. In derselben Reihenfolge, in der wir oben die doppelseitige Ab- tragung der Ganglienknoten gemacht haben, wollen wir nunmehr die halbseitigen oder eimseitigen Abtragungen folgen lassen. ie Die Crustaceen. or Wir benutzen ausschliesslich den Flusskrebs und die oben ge- nannte Bogen- und Dreieckskrabbe; unter den Isopoden, wie oben, die Mauerassel. A. Die Versuche. Man legt das dorsale Ganglion in der oben angegebenen Weise (S. 40) bloss und entfernt mit eimer guten Scheere die eine Halfte, z. B. die linke, vollstiindig. Ich empfehle, auf die vollstiindige halb- seitige Entfernung viel Sorgfalt zu legen und darauf zu achten, dass man nicht mehr als diese entfernt, so dass eine Verletzung der anderen Seite vermieden wird. Die Wunde verschliesst man, wie oben beschrieben, und bringt den Krebs wieder ins Wasser: Er beginnt nach rechts, d. h. in der Richtung der unverletzten Seite, im Kreise herumzu- gehen und behalt diese Kreisbewegung fiir immer bei. Ich habe sie bis zu vier Wochen beobachtet. Hat man die rechte Hilfte des Hirnganglions entfernt, so erfolgt die Bewegung nach der linken Seite. Alle Ghedmaassen nehmen an der Locomotion in vollstiindig coordinirter Weise theil, eime periphere Lihmung ist nirgends vor- handen; ebenso wenig kann man sehen, dass die eine Seite stirker thiitig ist, als die andere. Steht der Krebs ruhig da, so ist er von einem normalen Thiere nicht zu unterscheiden; nichts zeigt den Defect in der Bewegungssphiire an. Legt man den Krebs auf den Riicken, so dreht er sich in die Normallage wieder zuriick (es ist selbstver- stiindlich, dass die Kopfanhiinge, Antennen, Augenstiele, der operirten Seite gelihmt sind). Aber auch das Schwimmen des Schwanzes ist ihnen erhalten, frei- lich geht auch dieses im Kreise herum unter gleichzeitiger Lagerung der Extremitiiten, besonders des Scheerenpaares, nach vorn, genau wie beim unversehrten Thiere. Indess kommt diese Form der Bewegung, 1) Siehe Fische, S. 83. Crustaceen. 81 wenn sie auch vorhanden ist, doch nur wenig zu Stande; am ehesten noch dann, wenn man den Krebs auf den Riicken legt und das Schwanz- ende reizt, unter welchen Bedingungen der Krebs am leichtesten zum Schwimmen iibergeht. Es liegt iibrigens in der Natur seiner Schwimmbewegungen, dass dieser Krebs keinen regelmiissigen Kreis beschreibt, sondern dass es sich vielmehr um ein Polygon handelt, weil diese Form der Bewegung sich aus periodischen Stéssen zusammensetzt, von denen jeder dem Thiere zuniichst eine geradlinige Richtung ertheilt. Reizt man die Hautoberfliiche des Krebses mechanisch auf der einen oder anderen Seite, so gerathen die beiderseitigen Extremitiiten in Bewegung, ebenso die Antenne und das Auge der der Verletzung entgegengesetzten Seite; nur die Antenne und das Auge der verletzten Seite fallen aus, wie wohl selbstverstiindlich. ‘Eine besondere Form in dieser Reihe bildet folgender Versuch: Reizt man die Oberfliche eines Krebses, so entstehen gelegentlich auch Schwimmbewegungen. Man macht den Versuch am besten so, dass man den Krebs in Riickenlage am Rumpfe in der linken Hand halt und das Schwanzende durch Zusammenpressen zwischen Daumen und Zeigefinger mechanisch reizt; es erfolgen unter giinstigen Bedingungen dann eine Anzahl von periodischen Schwanzbeugungen (Schwimmbewe- gungen), wiihrend gleichzeitig sich die Extremititen nach vorn legen. Hat man die eine Halfte des Ganglions, z. B. die rechte, abgetragen und reizt gesondert das rechte oder das linke Schwanzende, so war zu bestimmen, unter welchen Umstiinden die Schwimmbewegung nun- mehr auftritt. Vielfache Versuche haben mit Bestimmtheit ergeben, dass man sowohl bei Reizung des rechten wie bei Reizung des linken Schwanzendes diese Schwimmbewegung bekommt. Dieses Resultat war durchaus nicht mit Sicherheit vorauszusagen und es wird seine eigent- liche Bedeutung erst weiterhin zu Tage treten, wenn wir es dem gleichen Versuche gegeniiberstellen werden, wo eine der Liingscommissuren der Bauchkette eimseitig durchschnitten worden ist. Die giinstigen Bedingungen, die dieser Versuch verlangt, sind vor Allem recht frische, lebhafte Thiere; wenig Verlust ihrer Energie durch die Operation; schliesslich Thiere aus gewissen Monaten, z. B. Juli und August; spitere Monate eignen sich weniger, iiber friihere habe ich keine Notizen; vielleicht sind es die Monate ohne 7, in denen die Krebse auch fiir die Tafel am meisten geeignet sind. Andere Formen von Zwangsbewegungen kommen bei meinen Krebsen nicht zur Beobachtung, obgleich eimige Autoren auch Rollbewegungen gesehen zu haben angeben. Das ist indess ein Irrthum im Ausdruck und die Sache verhilt sich folgendermaassen: In verschiedenen Fiillen Steiner, Centralnervensystem. III. 6 82 Crustaceen. halbseitiger Abtragung des Dorsalganglions sieht man in der That ab und zu, dass die Kreisbewegung unterbrochen wird durch ein Umkippen des Krebses auf die verletzte Seite. Man stelle dem gegeniiber die vehemente, deutlich active Rollbewegung der Wirbelthiere, z. B. des Fisches, des Frosches, der Eidechse u. a., so wird man sofort sehen, dass hier von Rollbewegungen nicht die Rede ist. Es handelt sich in diesen Fiillen um eine mangelhafte Beweglichkeit, welche ihren Grund in einer ungenauen Entfernung (oder sonstigen Verletzung) der anderen Hilfte des Dorsalganglions hat. Wenn man die Entfernung sorgfiltig ausfiihrt, so werden diese Unterbrechungen in der regelmiissigen Kreis- bewegung auch selten und verschwinden vollkommen. Der Versuch ist sehr viel reiner und beweist, was eben behauptet worden ist, wenn man statt des halben Dorsalganghons die Dorso- ventralcommissur der einen Seite durchschneidet. Es ist hierbei mit Sicherheit vorauszusehen, dass die Durchtrennung der linken Commissur eine Kreisbewegung nach rechts und umgekehrt hervorrufen miisse, was der Versuch in der That ebenso bestiitigt hat, wie die Regel- miissigkeit der Kreisbewegung, welche bei dieser Methode am klarsten zu Tage tritt und welche deshalb fiir den Versuch, wie etwa fiir eine Vorlesungsdemonstration, am meisten zu empfehlen ist. Hierbei méchte ich nicht unterlassen, zu bemerken, dass zur Demonstration der Kreisbewegung fiir die Vorlesung kein anderes Thier die wesentlichen Erscheinungen der Bewegungsstdrung in so klarer und iiberzeugender Weise zeigt, wie der Krebs. Sehr instructiv ist der Versuch so, dass man zwei Krebse operirt, wovon dem einen die rechte, dem anderen die linke Commissur durchschnitten wird: es ist ein unvergessliches Bild, wie die beiden Krebse nunmehr ohne Unterlass und mit absoluter Regelmissigkeit, gleich zwei Uhrwerken, in zwei entgegengesetzten Kreisen sich an einander vorbei bewegen. Ich will iibrigens nicht in Abrede stellen, dass man durch partielle Abtragungen des Dorsalganglions, ihnlch wie beim Frosch, noch weitere Formen von Zwangsbewegungen erzeugen wird, aber ich finde, dass das Aufsuchen derselben ohne Interesse ist; dass man sich besser begniigt, die bekannte Kreisbewegung ausgiebig zu studiren. Um gewissen Angaben gerecht zu werden, habe ich gleichzeitig Auge und Ohr (innere Antenne) bei Krebsen (und Krabben) entfernt und keinerlei Veriinderung in ihren willkiirlichen und geradlinigen Bewegungen, vor Allem niemals zwangsweise Kreisbewegung beobachtet. Es war endlich von Interesse zu untersuchen, wie sich nach ein- seitiger Abtragung des Dorsalganglions resp. nach einseitiger Durch- trennung der Dorsoyentralcommissur die spontane Nahrungsaufnahme gestaltet. Crustaceen. 83 Nachdem die Dorsoyentralcommissur der einen Seite durchschnitten, die entsprechende Kreisbewegung eingetreten und die nothwendige Erholung erfolet war (am niichsten Tage), nahm ich einen ganz schmalen Streifen von rohem Schinken und legte ihn in das Gefiiss auf den Boden, in dem sich der Krebs befand, unterhalb der Mundgegend. Sofort erfasste der Krebs den Schinkenstreifen mit den Mandibel- fiissen, wihrend das erste Gehfusspaar jenen nachhalf. So wurde die Nahrung allmiilig in den Mund geschoben und sehr bald ver- speist — dieser Schinkenstreifen und noch einige andere. Weiterhin wurde der Versuch. so disponirt, dass ich den Schinkenstreifen in einiger Entfernung von dem Krebse auf den Boden legte, aber doch so, dass er sich in seinem Gesichtskreise befand. Kurz darauf setzte sich der Krebs in Bewegung und erreichte trotz semer Bewegungsstorung auf sehr kunstvolle Weise den Schinkenstreifen, um ihn zu verzehren. Man kann diesen Versuch auch ausserhalb des Wassers so machen, dass man den Krebs in Riickenlage in die linke Hand nimmt und ihm resp. der Mundoffnung den Schinkenstreifen hinreicht: es wiederholt sich, was wir auch im Wasser gesehen haben; er erfasst die Nahrung mit den Mandibelfiissen und schiebt sie allmilig in die Mundhohle vor, um sie nach und nach zu verzehren. Man kann den Krebs, wiih- rend der halbe Schinkenstreifen noch zum Munde heraushiingt, wieder ins Wasser setzen, ohne dies Essgeschaft zu unterbrechen. Die Untersuchung der Zwangsbewegungen der Krabben bietet ein mehrfaches Interesse, wie wir spiiter ausfiihrlich sehen werden. Zuniichst erzeugt die halbseitige Abtragung des Dorsalganglions oder der einen der yon diesem Ganglion herabziehenden Commissuren Kreisbewegung nach der entgegengesetzten Seite mit allen den beim Krebse geschilderten Attributen, insbesondere dem Mangel jeder peri- pheren Lihmung. Aber in einem Punkte unterscheiden sich die Kreis- bewegungen der Krabben von jenen aller iibrigen Thiere, welche solche krummlinige Bewegungen zeigen. Wihrend niimlich alle Thiere bei der Kreisbewegung sich so bewegen, dass die Axe ihres Korpers stets in der Peripherie dieses Kreises sich befindet resp. diesem Kreise als Tangente anliegt, steht die Axe des Korpers der Krabben in dem Radius dieses Kreises und ihre Queraxe liegt dem Kreise als Tangente an. Die Abweichung musste vorausgesehen werden und ist auch von mir vorausgesagt worden, auf Grund der eigenthiimlichen, seitlich fort- schreitenden Bewegung der Krabben. Die Erscheinung zeigt von Neuem, wie wir schon bei den Pleuro- nectiden gesehen haben !), dass die in den Zwangsbewegungen beschrie- ") Vergl. Fische, S. 78. 84 Crustaceen. benen krummen Linien Curven darstellen, welche, mit dem Korper unver- riickbar verbunden, allen seinen Lageveriinderungen unbedingt folgen. Die Mauerassel hatten wir nach Abtragung des Kopfes ihre Loco- motion fortsetzen sehen. Trigt man den halben Kopf ab, so laufen sie im Kreise herum: nach rechts, wenn die linke Seite, nach links, wenn die rechte Seite des Kopfes abgetragen worden ist. Thr Verhalten ist demnach vollig ahnlich jenem der ibrigen Crustaceen und gleicht ihnen auch darin, dass jede periphere Stérung fehlt. Ich méchte schliesslich entgegen fast allen meinen Vorgiingern noch- mals eindringlich hervorheben, dass die einmal geschaffenen Zwangsbewegungen mit ihrer gegebenen Richtung unveraindert bestehen bleiben und dass in keinem Falle periphere Stérungen vorhanden sind. Nur wenn Schwiichezustiinde auftreten, wie sie etwa dem Tode des Thieres voranzugehen pflegen, hort die Zwangsbewegung itiberhaupt auf. Solche Beobachtungen sind natiirlich unbrauchbar und fiir uns werthlos. B. Analyse der Versuche. Wir wollen hier nur diejenigen Folgerungen ableiten, welche sich auf den Besitz des allgemeinen Bewegungscentrums beziehen. Aus der oben beschriebenen Thatsache, dass nach doppelseitiger Abtragung des Dorsalganglions die Locomotion aufgehoben war, hatten wir fiir den Krebs und die Krabben das Vorhandensein des allgemeinen Bewegungscentrums erschlossen. Soll dieser Schluss ganz bindend sein, so mussten nach den weiteren Kenntnissen, die wir bei den Wirbel- thieren uns erworben haben, nunmehr einseitige Abtragungen des Dorsalganglions Kreisbewegungen (Zwangsbewegungen) erzeugen, deren Richtung nach der gesunden Seite hin gehen wiirde. Der Versuch hat in diesem Sinne entschieden und damit einen weiteren Beweis fiir die Existenz des allgemeinen Bewegungscentrums in dem Dorsalganglion jener Thiere geliefert. Nicht so einfach lag die Sache fiir die Gruppe der Isopoden, wo die Abtragung des Kopfes nichts iiber das Vorhandensein eines allge- meinen Bewegungscentrums lehren konnte, da das geképfte Thier ruhig seinen alten Marsch fortsetzt. Erst die Kreisbewegung nach halb- seitiger Abtragung des Kopfes, resp. des Dorsalganglions belehrt uns dariiber, dass in dieses Ganglion, wie bei den anderen Crustaceen, ebenfalls das allgemeine Bewegungscentrum verlegt werden muss. Insecten. 85 Da das Centralnervensystem aller Crustaceen wesentlich gleich ist, so kénnen wir allgemein folgern, dass bei siimmtlichen Crustaceen in dem Dorsalganglion das allgemeine Bewegungscentrum enthalten ist (ausgenommen hiervon kénnten etwa die parasitischen Krebse sein, deren Organisation durch ihre parasitische Lebensweise weitgehende Veriinderungen erfahren hat). 2. LP Die Insecten. Die Versuche werden an denselben Insecten ausgefiihrt, die auch oben dem Experimente gedient hatten; insbesondere aber an der Kiichenschabe (Periplaneta orientalis) und dem goldgriinen Laufkiifer (Carabus auratus); daneben auch Stubenfliege und Kohlweissling, sowie andere gelegentlich gefundene Insecten. Endlich auch bei den Raupen. A. Die Versuche. Man fiihrt die eimseitige Abtragung des Dorsalganglions in der- selben Weise aus, wie wir es oben bei der totalen Abtragung gemacht haben: entweder nach Blosslegung des Ganglions, oder ohne Vorbereitung, indem man gerade zwischen den Augen mit einem guten Scheeren- schnitt den Kopf so halbirt, dass der Schnitt em wenig schrag nach der Seite abweicht, welche man zerstéren will. Ich ziehe diese Methode vor, weil sie rascher und ebenso sicher zum Ziele fiihrt; da- neben aber zu anderweitigen Verletzungen des sich naturgemiiss heftig wehrenden Thieres keine Veranlassung bietet. Insbesondere weil man bei langerer Priparation die zarten Beine gefihrdet, welche, wenn auch nur im untersten Ghede verletzt, die Beweglichkeit des Kifers wesent- hch beeintrachtigen. Wenn man auf die eine oder andere Art das halbe Dorsalganglion bei den genannten Kafern abgetragen hat, so sieht man sie in gut gelungenen Versuchen ausnahmslos von der geraden Linie abgelenkt im Kreise herumgehen, und zwar jedesmal in der Richtung nach der unverletzten Seite. Lahmungen sind nirgends vorhanden. Die neue Bewegungsform unterscheidet sich von der normalen Bewegung aus- schhesslich durch die Aenderung der Richtung, und dadurch, dass diese Richtung nicht mehr gewechselt werden kann, sondern bedingt, dass das operirte Thier nur in der einmal vorgeschriebenen Kreislinie sich fortzubewegen vermag. Eine andere Form der Zwangsbewegung, als die Kreisbewegung, habe ich unter den eingefiihrten Bedingungen bei den Kiafern nicht 6 Insecten. io 8) gesehen. Von einzelnen Autoren beschriebene Rollbewegungen fallen in dieselbe Classe von Irrthiimern, die wir bei den Crustaceen hervor- gehoben haben: auch hier handelt es sich nur um ein Umkippen nach der verletzten Seite, aber ee echte Rollbewegung ist es nicht. Wenn man der Stubenfliege die Hilfte des Kopfes abtriigt, so be- ginnt sie, zierlich sich im Kreise herumzudrehen in der Richtung nach der unverwundeten Seite. Auch zu fliegen beginnt sie im Kreise her- um, aber nicht continuirlich, sondern in Stéssen und ohne sich ansehn- lich hoch von ihrer Unterlage zu entfernen. Noch deutlicher tritt diese Art der Flugbewegung im Kreise herum und in einzelnen Stéssen der Wespe hervor, ohne indess mehr zu lehren, als die Krschemung bei der Fliege. Ebenso kann man auch den Schmetterling (Pieris brassicae) in die kreisformige Flugbahn zwingen. Aber dieser Flug ist, wie schon bemerkt, niemals continuirlich; wenigstens ist es mir nicht gelungen, eine der normalen gleiche continurliche Flugbewegung im Kreise herum zu erreichen. Indessist das theoretisch nicht von Belang, da die Existenz der Kreisbewegung festgestellt ist. Eines Tages hatte ich zwei reizende Larven von Ephemera vul- garis (Eintagsfliege) im Wasser gefangen. Es gelang mir, bei den beiden Exemplaren je die rechte und die linke Kopfseite abzutragen, worauf die grazidsen Wesen in zwei entgegengesetzten Kreisen herum- schwammen. Bei Raupen denselben Versuch iiberzeugend auszufiihren, war nicht moglich. Die behaarten Raupen sind sehr unhandlich und die nackten Raupen im Allgemeinen sehr wenig resistent. Das Dorsalganglion ist viel zu winzig, um es einseitig zu zerst6ren; es musste hier ein ganz anderer Weg eingeschlagen und die Durchschneidung der dorsoventralen Commissur angestrebt werden. Die Priparation des Kopfes ergab, dass man durch Einfiihren einer feinen Scheere in die Mundéffnung und einen von hier aus nach oben und hinten gelegten Schnitt die Com- missur treffen musste. Als Material wiihlte ich die Raupe des Kohlweisslings, welche ich in grossen Mengen haben konnte. Auf diese Weise ist es gelungen, auch die Raupe im die Kreis- bewegung zu zwingen, sowohl nach der rechten, wie nach der linken Seite. B. Analyse der Versuche. Nachdem die doppelseitige Abtragung des Dorsalganglions bei den untersuchten Insecten die Locomotion nicht aufgehoben hatte, konnte man das Vorhandensein eines allgemeinen Bewegungscentrums im Dorsal- ganglion weder bejahen noch verneinen. Myriopoden. 87 Jetzt finden wir die einseitige Abtragung des Dorsalganglions von Zwangsbewegungen gefolet, woraus sich ergiebt, dass in dem Dorsal- ganglion das allgemeine Bewegungscentrum enthalten ist. Da wir diese Erfahrung an einer grésseren Anzahl yon verschiedenen Gruppen aus den Insecten gemacht haben und das Nervyensystem der iibrigen Insecten principiell im Baue sich gleicht, so kénnen wir den Satz verallgemeinern und schliessen, dass die Insecten ein im Dorsalganglion gelegenes allgemeines Bewegungscentrum besitzen. Und noch weiter haben wir gesehen, dass auch die Vorstufen von Insecten (Raupen, Larve von Ephemera vulg.) nach einseitiger Ab- tragung des Dorsalganglions in Kreisbewegung gerathen, somit eben- falls schon im Besitze des allgemeinen Bewegungscentrums sind, wie die Insecten selbst, zu denen sie sich erst entwickeln. S. 3. Die Myriopoden. A. Die Versuche. Diese Versuche werden ausschhesslich an Julus terrestris ausgefiuhrt. Unter Verzicht auf die halbseitige Abtragung des Dorsalganglions wird, wie bei den Raupen, nach dem gleichen Verfahren die dorsoventrale Commissur durchtrennt. Die so operirten Individuen gehen rechts oder links im Kreise herum, je nachdem man die linke oder die rechte Commissur getroffen hat. Aehnlich diirften sich Geophilus und Lithobius verhalten. B. Analyse der Versuche, Ks folgt aus dieser Beobachtung, dass wir in das Dorsalganglion der Myriopoden ebenfalls das allgemeine Bewegungs- centrum zu verlegen haben. §. 4. Die Anneliden. A. Die Versuche. Die ersten Versuche sind am Blutegel und dem Regenwurme ge- macht worden, die indess bei Weitem nicht geeignet sind fiir eine iiberzeugende Beweisfiihrung, welche nur an den Meeranneliden zu er- reichen war. Von diesen waren besonders bevorzugt Ophelia, Eunice, Diopatra neapolitana und Nephthys scolopendroides. 88 Anneliden. Wenn man nach dem Vorbilde der doppelseitigen (s. S. 52) die halbseitige Abtragung des Dorsalganglions ausfiihrt und den Blut- egel danach frei laisst, so bemerkt man keine Veriinderung in seinen Bewegungen, also keme Erscheinung, welche man als Zwangsbewe- gung zu deuten hitte. Von den Meeranneliden schien Diopatra neapolitana fiir den Versuch sehr geeignet, zumal, weil man sie im Golfe von Neapel in grossen Mengen findet und andererseits weil sie sehr lebhafte und charakteristische Bewegungsform hat. Vielfache Be- mithungen, das Dorsalganglion einseitig abzutragen, blieben indess er- folglos, so dass dieser ganze Weg aufgegeben werden musste. Die neue Methode bestand darin, dass ich, unter Verzicht auf das Dorsalganglion, die abgehende Dorsoventralcommissur zu durchschneiden versuchte, was auch nicht gerade leicht, aber doch ausfiihrbar schien. Oben habe ich bei den Raupen anticipando diese Methode schon angewendet, dieselbe aber in der That erst fiir die Anneliden ersonnen. Bei den Raupen gestaltete sich die Sache insofern giinstig, als dieselben nach der Durchschneidung in Zwangsbewegungen geriethen, womit hinreichend deutlich erwiesen war, dass die geplante Durch- schneidung auch wirklich gelungen sei. Bei den Anneliden musste man damit rechnen, dass eventuell die Durchschneidung ohne Folgen fiir die Bewegungsform der Thiere bleiben kénnte und dann musste eine Controle dariiber geiibt werden koénnen, ob die Durchschneidung thatsiichlich gelungen oder missgliickt war. In welcher Weise diese Controle geiibt wurde, wird weiterhin berichtet werden. Fiir den ersten Versuch wihlte ich einen kleinen, sch6nen Anneliden, die Ophelia, bei welcher man ohne Zweifel die Commissur musste treffen konnen, wenn man mit emer femenScheere in die Mundoffnung eingehend eien Schnitt nach hinten und oben legt. Der Versuch war leicht ausfiihrbar; das Thier blieb in seinen Bewegungsverhiltnissen unverindert und durch Priparation less sich schon mit unbewaffnetem Auge, besser unter leichter Lupenvergrésserung, nachweisen, dass die Commissur in zweckentsprechender Weise durchtrennt worden war. Das Resultat ist vollkommen eindeutig, namentlich mit Bezug auf die Thatsache der Durchschneidung der Dorsoventralcommissur. Trotzdem befriedigte der Versuch nicht vollstiindig, weil die Be- wegungen dieses Anneliden im Ganzen etwas triige sind und man die Bewegungen nicht ausreichend iibersieht. Ich wiinschte den Versuch an einem recht lebhaften Anneliden zu wiederholen, bei welchem Aende- rungen seiner Bewegungen sich viel eher und deutlcher herausheben. Hierzu eignet sich Nephthys scolopendroides: in der oben ge- schilderten Weise wird die Durchschneidung der Commissur bei einer grosseren Anzahl yon Exemplaren ausgefiihrt (em Dutzend) und die ee Anneliden. 89 Controle dariitber im der Weise geiibt, dass der Kopf nach ent- sprechender Behandlung in eine Schnittserie zerlegt und die Schnitte unter dem Mikroskope bei schwacher Vergrésserung durchgesehen werden; die Durchschneidung war in den durchgesehenen Fillen stets eine vollkommene. Die Individuen dieser Serie hatten seiner Zeit keine Aenderung ihrer Bewegungen wahrnehmen lassen. Um die Frage méglichst zu erschépfen, wurde der gleiche Versuch auch an HLunice und Diopatra neapolitana ausgefiihrt: in keinem Falle war eine Aenderung der Bewegung aufgetreten. Eine Controle der Durchschneidung, wie oben, verbietet sich hier wegen des Paares von festen Zithnen, mit welchen der Kiefer dieser Anneliden ausgeriistet ist. Beider Untersuchung dieser ganzen Gruppe tritt ein neuer Umstand auf, der in der besonderen Art und Weise gegeben ist, wie sich die Anneliden fortbewegen. Dieselbe ist bekanntlich eine sehr unregel- miissige und deshalb schwer yorauszusagen, in welcher Weise sich eine etwaige Zwangsbewegung zeigen wiirde. Ausgehend von den bisherigen zahlreichen Erfahrungen muss man voraussetzen, dass, wie unregelmiissig die Bewegung des unversehrten Thieres auch sein médge, eine etwa auftretende Zwangsbewegung sich gerade darin zeigen wiirde, dass die Bewegung nunmehr in irgend einer bestimmten Richtung dauernd verbleiben miisste. Es erscheint demnach nur logisch, die Angelegenheit so zu be- handeln, dass, wenn nach der Operation eine Aenderung in dem normalen Bewegungstypus nicht auftritt, auch von einer Zwangsbewegung, also auch von emem directen Einflusse des Dorsalganglions auf die Locomotion keine Rede sein kénne. Gerade diese Besonderheit liess es wiinschenswerth erscheinen, dass ich iiber den Blutegel hinaus nach anderen Anneliden suchte, um zu vollkommen iiberzeugenden Resul- taten zu kommen. Und das konnten wieder nur Meeranneliden sein, von denen der Golf von Neapel eine reiche Auswahl bietet. B. Analyse der Versuche. Die doppelseitige Abtragung des Dorsalganglions, obgleich sie keine Storung der Locomotion nach sich zog, konnte das Fehlen eines all- gemeinen Bewegungscentrums nicht beweisen. Jetzt, wo wir sehen, dass die einseitige Abtragung dieses Ganglions die Locomotion eben- falls unveraindert lasst, kénnen wir mit Sicherheit schliessen, dass das Dorsalganglion des Blutegels kein allgemeines Be- wegungscentrum enthalt. Und wie der Blutegel, so erweisen sich auch die untersuchten Meeranneliden nicht im Besitze eines allgemeinen Bewegungscentrums. Nichts steht mehr im Wege, den Schluss zu ver- 90 Unsegmentirte Wiirmer. allgemeinern und zu folgern, dass das Dorsalganglion der echten Anneliden ein allgemeines Bewegungscentrum nicht ein- schliesst. VI 2D Die unsegmentirten Wurmer. Ein Versuch, analog dem obigen, wo die einseitige Abtragung des Dorsalganglions resp. des vordersten Ganglons ausgefiihrt werden sollte, erschien mir bei den unsegmentirten Witrmern nicht ausfiihr- bar. Doch lisst sich in den obigen Versuchen in Verbindung mit den Erfahrungen bei den Anneliden mit hinreichender Sicherheit voraus- sagen, dass bei den Nemertinen und Planarien die einseitige Abtragung des Dorsalganglions die Locomotion in keiner Weise alteriren werde. Inzwischen hat aber Loeb einen solchen Versuch an Thysanozoon Brockii ausgefiihrt und berichtet, dass er in keinem Falle Kreis- bewegungen danach auftreten sah, womit in dankenswerther Weise meine Veraussetzung bestiitigt wird. Daraus aber folgt, dass auch das Dorsalganglion der Planarien und Nemertinen ein allgemeines Be- wegungscentrum nicht enthalt. K6nnte man das einzige Ganglion bei Distoma hepaticum einseitig zerstoren, so wiirde darauf voraussichtlich eime Kreis- resp. Drehbewe- vung um die verletzte Seite folgen, welche aber zugleich vollig ge- liihmt wiire; eine Erscheinung, die ganz andere Verhiiltnisse darbietet- 6. Die Mollusken. Die Versuche beziehen sich auf die schon oben genannten Gruppen, niimlich Pterotrachaea mutica, Cymbulia Peronii, Octopus vulgaris, Aplysia depilans, sowie Plewrobranchea Meckelit. A. Die Versuche. An den pelagischen Formen mit der wunderbaren Durchsichtigkeit ihres Leibes ist der Versuch leicht ausfiihrbar. Ich nehme eine Ptero- trachaea aus dem Wasser, halte sie ein wenig gegen das Licht, um das Dorsalganglion deutlich sehen zu kénnen und zerstére es einseitig durch einen Scheerenschnitt oder noch bequemer mittelst emer gliihen- den Nadel. Keine Aenderung in der Locomotion folgte diesem schweren Kingriffe, weder bei der einen noch bei der anderen Form der Bewegung. Gewisse Erwiigungen, welche mit der Theorie der Zwangsbewegungen Mollusken. 9] in Verbindung stehen, legten mir den Wunsch nahe, auch eine ein- seitige Zerstérung des Pedalganglions vorzunehmen und deren Folgen zu beobachten. Aber ich habe mich vergeblich bemiiht, dieselbe bei Pterotrachaea mit Sicherheit auszufiihren. Insbesondere ist die Be- wegung der Flosse nicht derart, um eine sichere Controle iiber Gelingen oder Misslingen der beabsichtigten Operation zu erméglichen. Da wandte ich mich an die Cymbulia, deren Pedalganglion deut- lich eine rechte und linke Abtheilung zeigt und die als ,, Papillon de mer“, wie die Franzosen sie nennen, ebenso deutlich mit Liihmung des einen oder anderen ihrer Fliigel antworten wiirde. Dass eine Lihmung eintreten miisste, standfest; auf welcher Seite dieselbe aber erscheinen wiirde, das konnte man mit Sicherheit nicht voraussagen. Ich bringe eine Cymbulia auf meine linke Hand, beruhige ihren Fliigelschlag durch leichten Druck mit den Fingern und zerstore das Pedalganglion der rechten Seite mit emer sehr feinen Scheere oder einer gliihenden Nadel. Ins Wasser zuriickgebracht, steht der rechte Fliigel still und der ,, Papillon* schwimmt rechts im Kreise herum, d. h. in der Richtung der verwundeten Seite. Eine Operation auf der lnken Seite giebt das gleiche Resultat in entsprechendem Sinne. Wir kommen zum Octopus. Die einseitige Abtragung seines Dorsal- ganglions bietet keine anderen Schwierigkeiten, als die doppelseitige Abtragung, welche wir oben geschildert haben (s. 5. 64). Ist die Ab- tragung einseitig gelungen, die Wunde geschlossen und der Octopus wieder ins Wasser gebracht, so sucht man vergeblich nach einer Storung in seinen Bewegungen: Sowohl Kriechen als Schwimmen finden in gewohnter Weise statt (dafiir beobachtet man [aber nicht absolut regelmiissig] em anderes wunderbares Phiinomen: Wie mit dem Lineal gerade durchschnitten erscheint die Haut der Seite, wo das Ganglion abgetragen worden ist, vollkommen weiss, wiihrend die andere Seite in den prachtvollsten Farben schillert. Anderen Tages ist die ganze Farbenerscheinung verschwunden, beide Seiten des Thieres sind wieder gleich gefiirbt). Was die untere Schlundmasse anbetrifft, so ist schon oben bemerkt worden, dass ein zu Pterotrachaea analoger Versuch hier nicht aus- fiihrbar sei. Doch hoffte ich, mich durch einseitige Abtragung von der motorischen Natur dieser Massen iiberzeugen zu kénnen. Wurde die hintere Masse einseitig abgetragen, so war der Ausgang ein sehr ungliicklicher, da das Thier sehr bald zu athmen aufhérte und todt war. Diese Beobachtung stimmt sehr gut zu den Angaben der Morphologie, welche die hintere Partie der Unterschlundmasse als Visceralganglion deutet, wohin wir entsprechend nun das Athmungs- centrum zu verlegen haben. Wurden die vorderen Massen einseitig 92 Mollusken. abgetragen, z. B. rechts, so bewegte sich der Octopus kriechend rechts im Kreise um die gelihmten Arme herum. Schwimmbewegungen habe ich nicht zu Stande kommen sehen, obgleich damit nicht gesagt sein soll, dass dieselben definitiv fehlen. Hiermit sollte die Untersuchung noch nicht abgeschlossen sein, denn die eigentliche Pedalganglienmasse unterscheidet man in eine vyordere Partie, welche als Brachialganglion aufzufassen ist und den hinteren Theil, welcher das eigentliche Pedalganglion vorstellt. Die oben mitgetheilte Form des Versuches hess es noch unent- schieden, ob die Innervation der Fangarme in dem Brachial- oder dem Pedalganglion wurzelt. Um dies zu entscheiden, wurde die eigent- liche Pedalganglionmasse, als der mittlere Theil des suboesophagealen > ba) € > Kio. 36. Aplysia depilans (Seeschnecke). Ganglions, einseitig durchschnitten. Auch jetzt kreiste das Thier um die verletzte Seite, resp. um die geliihmten Fangarme. Hiermit ist entschieden, dass die Fangarme in dem mittleren Ganglion ihre Wurzel haben und dass ihre Nerven durch das am meisten nach vorn gelegene Brachialganglion eben nur hindurchtreten. Zu dem gleichen Resultate war auf histologischem Wege Jatta gekommen !). Da ich den Wunsch hatte, den Versuch iiber die Bedeutung des Dorsalganglions auch bei einem Seemollusk auszufiihren, welcher im seinem ganzen Aufbau unseren Landschnecken, insbesondere Arion und ') Jatta, La innervazione delle braccie dei Cefalopodi. Bollettino della Societa di Naturalisti in Napoli 1889, p. 129—136. Mollusken. 96 Limax, gleicht, so wagte ich den Versuch bei Aplysia depilans und Plewrobranchea Meckelii, welche sehr zahlreich, von hinreichender Grésse und hinreichender Bewegungsfiihigkeit sind. In Fig. 36 ist eine Aplysia depilans und in Fig. 37 ihr Nervensystem dargestellt. , ae Der Versuch ist trotz der all- Q . Zz gemeinen Contraction beim « \| C2 ai Kinschneiden doch ausfiihr- \\\ bar, aber man muss sehr rasch sein, weshalb es sich empftiehlt, statt des Ganglions auch ier die abgehende Commissur zu durchschnei- den, welche, wie die Fig. 37 zeigt, in ihrer doppelten Form durchtrennt wurde. Dabei erfreute ich mich der sach- kundigen Hiilfe des Herrn Dr. Schimenz. Das Resultat dieses Ver- suches war ebenfalls negativ; cie Schnecke ging nicht im Kreise herum, bevorzugte auch nicht irgend eine Rich- tung, sondern hatte ihre nor- male Gangart beibehalten. B. Analyse der Versuche. Den einfacheren Fall unter den Mollusken zeigt uns jedenfalls die Ptero- trachaea. Hier sehen wir Jie | nach doppelseitiger sowohl __ wie nach einseitiger Ab- tragung des Dorsalganglions Nervensystem von Aplysia; Ce. Cerebralganglion, Pe, Pedalganglion, ce. pe. co. Dorsalyentralcommissur. die Locomotion unveriindert, folglich ist dort kein allgemeines Bewegungscentrum vorhanden. Vielmehr ist das Pedalganglion (da kein anderes Bewegungs- ganghon mehr in Betracht kommen kann) das einzige Bewegungs- ganglion des ganzen Korpers, so dass seine Zerstorung, wie wir 94 Das Bauchmark. auch gesehen haben, jede Bewegung vollkommen aufhebt. Zugleich haben wir an Cymbulia und an Octopus beobachtet, dass die Wirkungen der beiden Seiten ungekreuzt sind: es beziehen also die Motoren jeder Seite ihre Nerven aus der correspondirenden Seite des Bewegungs- ganglions und die Zerstérung der einen Seite desGanglions lihmt das motorische Organ derselben Seite. Wie Pterotrachaea und Cymbulia verhalten sich Aplysia depilans und Pleurobranchea Meckelii. Auch das Dorsalganglion im Nervensystem des Octopus enthalt aus denselben Griinden kein allgemeines Bewegungscentrum, vielmehr ist ebenfalls hier das Pedalganglion das einzige Bewegungscentrum des Korpers und seine Wirkung auf die beiden Seiten des Kérpers ist ebenfalls ungekreuzt. Nichtsdestoweniger besteht ein Unterschied zwischen dem Dorsal- ganglion von Pterotrachaea und dem des Octopus: in jenem wurzeln die Sinnesnerven (Auge, Ohr), in diesem fehlen die Wurzeln der Sinnesnerven. Endlich sei bemerkt, dass voraussichtlich, wie der Octopus, sich alle Cephalopoden mit gleich gebautem Nervensystem, wie Pterotrachaea, sich die iibrigen Mollusken verhalten werden. 7 Ascidien, Appendicularien, Echinodermen, Coelenteraten. Bei den Thieren dieser Gruppen haben die zahlreich angestellten und schon oben mitgetheilten Versuche zu irgend welchen Zwangs- bewegungen nicht gefiihrt, was thatsiichlich auch nicht tiberraschen kann. Allenfalls kénnte man solche noch zu erwarten haben, wenn man das K6rperganglion der Appendicularien einseitig zerstéren wiirde — ein unausfiihrbarer Versuch. Elftes Capitel. Das Bauchmark der Wirbellosen. Bele Symmetrische (doppelseitige) Durchschneidungen des Bauchmarkes. Das Studium des Bauchmarkes erscheint als eine natiirliche Er- siinzung zu den Untersuchungen iiber das Dorsalganglion; um so mehr, als es nahe lag, zu priifen, inwieweit das Bauchmark der Wirbellosen dem Riickenmarke der Wirbelthiere analog wiire und welche Unter- schiede hierbei etwa zu Tage triiten. Es kann sich ierbei nur um die Das Bauchmark. 95 allgemeinen Kigenschaften des Bauchmarkes handeln in Ergiinzung zu dem, was wir iiber dasselbe schon erfahren haben bei dem Studium des Dorsalganglions. Es legt nicht in der Absicht dieser Versuchsreihe, die centrale Innervationsstiitte eines jeden Muskels auf- zusuchen, obgleich sich das Eine und Andere hieriiber von selbst er- geben wird. Diese Versuche sind wesentlich an den Crustaceen ausgefiihrt worden; bei den Insecten schliesst sich noch der eine und andere Versuch an; bei den iibrigen Wirbellosen konnte Weiteres, als was beim Studium des Dorsalganglions schon ermittelt war, nicht aufge- deckt werden. Was die Technik dieser Versuche anbetrifft, so bietet dieselbe er- heblichere Schwierigkeiten, als jene beim Dorsalganglion es waren, insbesondere, wenn die operirten Thiere lingere Zeit am Leben erhalten werden sollen; es waren gewisse Schwierigkeiten itiberhaupt nicht zu itiberwinden. Das Bauchmark legt bei den macrouren Crustaceen (Krebse, Hummer u. s. w.) in einem festen, auf der Ventralseite gebildeten Canale, welcher von der iibrigen Leibeshéhle durchaus getrennt ist. Man kann deshalb das Bauchmark nur von der ventralen Seite her erreichen, indem man die durch den Chitinpanzer gebildete Rinne ventral, am besten in dem Raume zwischen den letzten beiden Fiissen mit emer kleinen Zange erdffnet und ein Stiickchen des Panzers, még- lichst a toto, heraushebt. Hierzu wihle man weibliche Krebse, um wihrend der Operation von den obersten Schwanzanhingen nicht ge- stort zu werden, welche bei den minnlichen Krebsen so lang sind, dass sie regelmiissig sich in jenen Raum hineinlegen und denselben bedecken. Auch scheint mir der zwischen den dritten und vierten Fiissen frei bleibende Raum eine etwas gréssere Breite zu besitzen, als bei den minnlichen Krebsen. Hat man das Stiick des Chitinpanzers herausgehoben und dringt vorsichtig in die Tiefe, so sieht man bei zweckmiissiger Beleuchtung die weisslichgrauen Ganglien des Bauchmarkes hindurchschimmern. Halt man sich genau an die hintere Grenze des zweiten Fusspaares, so trifft man mit der Scheere in der Regel auf die Commissur, welche das vierte und fiinfte Bauchganglienpaar mit einander verbindet. Ist die Durchschneidung vollzogen, so implantirt man wieder das Stiickchen des Panzers und iiberzieht die Wunde mit warmer Gelatine. Ein so operirter Krebs zeigt schon nach kurzer Erholungszeit (10 bis 15 Minuten) folgende Erscheinungen: Derselbe schreitet an- scheinend ganz normal vorwiirts, doch bemerkt man bald, dass es nur die beiden vorderen Fusspaare sind, welche die Fortbewegung be- 96 Das Bauchmark. werkstelligen, wiihrend die beiden hinteren Fusspaare passiv mit- gezogen werden und gelihmt sind, d. h. dem Willensimpulse nicht geehorchen. Reizt man seine Oberfliiche an Theilen, welche nach yorn vor der Schnittwunde liegen, so reagiren auch nur die nach vorn ge- legenen Korpertheile, hier also vornehmlich die Antennen, die Augen, die Scheeren und die zwei vorderen Fusspaare; das Hintertheil aber bleibt unbewegt. Umgekehrt ist das Verhalten bei Reizung des Hintertheils. f Zu schwimmen vermag unser Krebs nicht, so viel man ihn auch dorsal oder ventral reizen mége. Applicirt man die Reizung aber ventral auf den Schwanz, so macht der letztere, entsprechend jedem Reize, eine einmalige, oft sehr kriftige Zuckung, wodurch er sich auf sein Maximum kriimmt, ohne aber je dadurch eine Locomotion zu erzielen. Reizt man diesen Krebs mechanisch ventral zwischen den Scheeren, so legt er letztere wie zum Schwimmen nach vorn, aber der Schwanz beweet sich nicht und demnach muss die Schwimmbewegung auch ausbleiben. Der Sachverhalt ist demnach der, dass der Vordertheil des Thieres, der natiirlich seine Locomotionsfiihigkeit behalt, vermoge seimer giinstigen mechanischen Verhiltnisse (zwei normale Fusspaare) sich fortbewegt und den gelihmten Hintertheil so mit sich schleift, dass man bei ober- fliichlicher Betrachtung die normale Locomotion des Krebses vor sich zu haben glaubt, wiihrend thatsichlich die beiden hinteren Fuss- paare sammt dem Schwanz ausser Action gesetzt resp. dem Einflusse des Willens des Thieres und der coordinatorischen Innervation ent- zogen sind. Es ist bemerkenswerth, dass die Schwimmfiisschen des Schwanzes, obgleich dem Willenscentrum entzogen, ihre rhythmische Bewegung scheinbar unveriindert fortsetzen, was iibrigens auch Vulpian schon beobachtet hat. Bei weiterer Priifung findet man, dass das dritte Fusspaar nicht allein nicht willkiirlich, sondern iiberhaupt nur mangelhaft bewegt werden kann, wiihrend das letzte Fusspaar ausgiebige reflectorische Bewegungen macht. Den Grund fiir das verschiedene Verhalten der genannten Fusspaare werden wir weiter unten erliiutern. Von erheblichem Interesse ist die Durchschneidung der Bauch- kette zwischen dem ersten (Unterschlundganglion) und dem zweiten Bauchganglion. Man fiihrt dieselbe so aus, dass man oberhalb des Ursprunges der Scheeren den Chitinpanzer anschneidet, ein Stiickchen heraushebt, die darauf sichtbare Liingscommissur, welche hier viel weniger tief liegt, als weiter hinten, durchschneidet und das heraus- gehobene Stiickchen Chitinpanzer, wie oben, wieder implantirt, eventuell Das Bauchmark. 97 indem man, mit einer festen Scheere direct durch den Panzer hindurch- dringend, die Lingscommissur durchschneidet. Die Wunde wird wieder durch Gelatine geschlossen. Die erste Folge der Durchschneidung ist eine starke allgemeine Reizung, welche sich darin zeigt, dass die Scheeren sich fest schliessen und der Oeffnung energischen Widerstand entgegensetzen. Die Fiisse sind in die wunderlichsten Stellungen gebracht und der Schwanz macht bei einzelnen Individuen rasch auf einander folgende Con- tractionen, wie es sonst beim Schwimmen zu geschehen pflegt. Zugleich nimmt der Krebs eine sehr merkwiirdige Haltung ein, insofern als der Kopf nach vorn und unten gerichtet ist, wahrend der Anfangstheil des Abdomens am héchsten steht. (Diese wunderliche Stellung ist iibrigens auch schon von friiheren Autoren beschrieben worden.) Allmiilig lassen die Reizungserscheinungen nach, der Krebs nimmt die ge- wohnliche Bauchlage ein und die Scheeren Offnen sich wieder. Der Kieferapparat ist vollkommen functionstiichtig. In jedem Falle ist die Locomotion aufgehoben, die ganze Vitalitat des Thieres erscheint auffallend herabgedriickt und dasselbe geht trotz aller Sorgfalt am folgenden oder nach einigen Tagen zu Grunde, unter allmaliger Er- lahmung aller Lebensiusserungen. An diesem Resultate konnte ich trotz vieler Bemiihungen nichts verbessern, lenkte aber allmilig meine Aufmerksamkeit auf die Ur- sache dieser fatalen Erscheinung. Zuniichst pflegt es, wie man auch die Durchschneidung macht, erheblich zu bluten, da man den vorderen Ast der Sternalarterie, welche an der unteren Fliche der Bauchkette von hinten nach vorn liuft, stets durchschneidet. Doch wird die Blutung bei meiner Methode des Wundverschlusses sehr bald gestillt. Indess steht ohne Zweifel die Athmung still, wenn auch die Kiemen der Kieferfiisse nach der Durch- schneidung und am folgenden Tage noch in Bewegung waren, weiterhin aber ebenfalls ihre Bewegungen eingestellt hatten. Damit steht auch in Uebereinstimmung, dass Lémoine und Yung nach Zerstérung des Unterschlundganglions die Kiemenbewegungen aufhoren sahen. Es folgt daraus, dass das Unterschlundganglion, wie auch jene beiden Forscher schon geschlossen haben, das Athmungscentrum ent- halt, dass das Gros der Athemfasern im Bauchstrange zum zweiten Bauchganglion zieht, um durch dasselbe in die Kiemen der Kiemen- kammer zu treten, wahrend die Faden fiir die Kiemen der Kieferfiisse direct aus dem ersten Ganglion an die Peripherie gelangen. Stellen diese Kiemen am Tage nach der Durchschneidung des Bauchstranges ihre Thiatigkeit ebenfalls ein, so ist das die Folge des allgemeinen Darniederliegens der Lebensthiitigkeit. Steiner, Centralnervensystem. III. ~I 98 Das Bauchmark. Unter diesen Umstiinden diirfte man iiber das, was hier erreicht worden ist, vorliufig nicht hinauskommen. Nur folgende Erscheinung glaube ich mit Sicherheit aus dem Ver- suchsresultat hervorheben zu kénnen. Wenn die Scheeren sich gedffnet haben, so kann man beobachten, dass dieselben zwar in allen ihren Theilen beweglich sind, dass aber der Schluss derselben ausserordent- lich mangelhaft ist. Man kann ruhig seinen Finger zwischen die Arme. dieser Scheere stecken, ohne dass man Gefahr liuft, Schaden zu nehmen; die Schlussfaihigkeit ist erheblich herabgesetzt. Befinden sich die Wurzeln fiir die Nerven der Scheere, wie die Anatomie lehrt, in dem zweiten Bauchganglion, so ist nicht zu verstehen, weshalb die Scheere in ihrer Innervation leiden soll, wenn man die Liingscommissuren oberhalb diesesGanglions durchschnitten hat. Da dies nun doch der Fall ist, so muss man schliessen, dass die Innervation der Scheeren- muskeln nicht nur in dem zweiten Bauchganglion wurzelt, sondern dass dieselbe héher hinaufreicht in das erste Bauchganglion, das Unter- schlundganglion; insbesondere scheinen es die Scheerenschliesser zu sein, welche dort ihre nervése Wurzel haben. Durchschneidet man die Bauchkette unterhalb der Scheeren resp. in dem Raume zwischen diesen und dem ersten Gehfusspaare, so erfolgt zunichst auch wieder eine Reizung mit der eigenthiimlichen Stellung der Beine und des Koérpers, welche sich aber sehr bald wieder ausgleicht, um einem Zustande Platz zu machen, in welchem der Krebs zwar nicht zu schwimmen vermag, aber er macht Ortsbewegung, soweit es mit den Scheerenfiissen modglich ist, die Scheeren schlessen vorziiglich, und die Kiemenbewegungen sind in bester Verfassung, ebenso wie die gesammte Vitalitiit dieses Thieres. Dieser Versuch, bei welchem die genannte Arterie ebenfalls durchschnitten wird, diirfte gleichfalls beweisen, dass es in dem vor- ausgehenden Versuche die Unterbrechung der Athmung ist, welche das Leben des Thieres beschrinkt; dass wir daher mit gutem Recht das Athmungscentrum in das Unterschlundganglion zu verlegen haben. Ebenso wurzeln in diesem Ganglion die Nerven fiir den gesammten Kieferapparat, was dadurch bewiesen ist, dass derselbe niemals gelahmt ist, weder wenn man die Liingscommissur oberhalb, noch wenn man sie unterhalb des ersten Bauchganglions durchschneidet. Wir haben oben (8. 47) schon gesehen, dass Kifer (blatta orven- talis, Carabus auratus u. a.) regelmiissige Ortsbewegungen machen nach Abtragung des dorsalen Schlundganglions und ebenso nach Ab- tragung des ganzen Kopfes, d. h. wenn das obere und untere Schlund- ganglion entfernt werden (das untere Schlundganglion liegt bei den Kifern stets noch im Kopfe). Es erschien von Interesse, zu sehen, Das Bauchmark. 99 wie sich die Beweglichkeit des Kifers gestaltet, wenn man auch das erste Brustganglion, d.h. nach der allgemeinen Nomenclatur das zweite Bauchganglion, mit entfernt. Hierzu hat man nur noéthig, das nichste K6érpersegment, den Prothorax, abzutragen. Auch. auf semen zwei Beinpaaren (das erste Beinpaar wurzelt im Prothorax) lauft unser Kifer, nur mit der natiir- lichen Einschriinkung, welche ihm eben durch den Ausfall eines Bein- paares auferleet war. Selbst nach Entfernung des Mesothorax machte der Rest des Kérpers auf seinem einen Beinpaare Anstrengungen zur Ortsbewegung, welche in Folge der mechanischen Schwierigkeiten natiirlich mangelhaft ausfallen. Aber die Fahigkeit zur Locomotion ist unverkennbar auch in diesem weit riickwirts gelegenen Kdorper- segmente vorhanden. 2. coe Asymmetrische (einseitige) Durchschneidungen des Bauchmarkes. Die Technik dieser Versuche ist gleich jener, die oben schon be- schrieben worden ist: mit Zange oder fester Scheere wird die Chitin- schale dort erdffnet, wo man das Nervensystem anfassen will, die Durchschneidung gemacht, das herausgehobene Stiick der Schale wieder eingesetzt und fliissige Gelatine dariiber gegossen. Ich hatte die Absicht, die Lingscommissur zwischen dem fiinften und sechsten Bauchganglon einseitig zu durchschneiden, als ein allge- meines Beispiel einer solchen Durchschneidung. Im Besonderen aber interessirte mich die Durchschneidung der Lingscommissur zwischen dem ersten und zweiten Bauchganglion. So einfach das Alles aussieht, so schwer ist die Ausfiihrung, denn nach Abhebung der Chitinschale hat man eine graue Masse vor sich, in der man sich schwer zurechtfinden kann: grau ist der Muskel, grau ist der Nerv, grau ist das Blut! Will man den Bauchstrang finden, so gelingt es nur inder Weise, dass, nachdem man mit einem mit Kochsalz- wasser getrinkten Schwimmchen ein wenig in die Tiefe gedrungen ist, man die Bauchganglien aufsucht, welche weisslich aus dem grauen Chaos hervorleuchten. Bei aufmerksamer Betrachtung derselben kann man die abgehende Lingscommissur dann sehen und eine Strecke ver- folgen, aber dieselbe tadellos einseitig zu durchschneiden, ist mir nicht gelungen, obgleich ich in solchen Dingen ziemliche Uebung habe. (Die doppelseitige Durchscheidung der Langscommissuren ist dagegen ein einfaches Unternehmen!) 7 100 Das Bauchmark. Ich habe diesen Plan aufgegeben und versuchte mein Ziel zu er- reichen, indem ich ein Bauchganglion halb abtragen wollte. Dieser Versuch ist ausfiihrbar, aber ich hatte in keinem Falle die Garantie, dass wirklich nur die Hialfte und nicht mehr oder weniger abgetragen war — sonst hatte dieser Versuch an dieser Stelle keinen Werth fiir mich. Schhesslich kam ich zu der Einsicht, dass es im ganzen Bauch- strang nur eine einzige Stelle giebt, wo man Aussicht hat, diesen Versuch befriedigend auszufiihren: Wenn der Leser die Abbildung des Bauchstranges betrachtet, so wird er sehen, dass zwischen der das vierte und fiinfte Bauchganglion verbindenden Commissur eine kleine Oeffnung sich zeigt (s. Fig. 4), wo die beiden Commissuren aus einander gehen und einen Spalt zwischen sich fassen, durch welchen die starke Arteria sternalis, direct vom Herzen kommend, durch das Nervensystem hindurch sich den Weg bahnt '). Diese Oeffnung legt, von aussen betrachtet, zwischen dem zweiten und dritten Gehfusse, niher jenem als diesem. Hier hat man also die Schale in geniigender Ausdehnung abzuheben. Nach Abtupfen der sich mit vordringenden Gewebe und Fliissigkeiten sieht man das vierte und fiinfte Ganghon und zwischen beiden in der Tiefe einen weiss- lichen kleinen Ring — das ist die Oeffnung, welche sich in der Chitin- lage betindet, die das Nervensystem vom Bauchinhalte abgrenzt und aus welcher die Arterie herauskommt, um durch das correspondirende Loch der Commissur zu treten. Hier kann man die Commissur ein- seitig durchschneiden! Leicht ist die Ausfiihrung gerade nicht, aber sie scheint mir bequemer, wenn man den Krebs so hilt, dass sein Leib nach der Bauchseite etwas convex gebogen ist. Ein so operirter Krebs weicht in seinen Bewegungen gar nicht von einem normalen ab: er kriecht ganz normal und vermag ebenso regel- recht zu schwimmen; keinesfalls macht er Zwangsbewegungen. Wenn man seine Kriechbewegungen genau betrachtet, so sieht man, dass der letzte und vorletzte Fuss der Coordination entzogen sind. Reizt man den Schwanz auf der Seite der Durchschneidung (am besten, indem man den Krebs mit nach oben gerichtetem Bauche in der linken Hand halt) durch Zusammenpressen desselben, so erfolgt eine einfache tonische Contraction des Schwanzes. Reizt man in gleicher Weise den Schwanz auf der unversehrten Seite, so treten eine *) Auf den Gedanken, die einseitige Durchschneidung an dieser Stelle zu machen, war ich vollstiindig selbstindig gekommen, fand indess bei spiterer Durchsicht der Litteratur (s. oben), dass V. Lémoine diesen Versuch schon vor mir ausgefiihrt hat. Doch war dort von einer besonderen Verwerthung desselben keine Rede. ae Das Bauchmark. 101 Reihe typischer Schwimmbewegungen auf, wie unter normalen Ver- hiltnissen. Die Beobachtung konnte noch sechs Tage nach der Operation an dem sehr lebhaften Thiere wiederholt werden. Dieser Versuch ist sehr bemerkenswerth, seine Wichtigkeit tritt uns recht deutlich indess erst dann vor Augen, wenn wir ihn gegen- iiberstellen jenem Versuche, wo die eine Dorsoventralcommissur durchschnitten war und die Schwimmbewegungen eintreten so- wohl bei Reizung auf der Seite der Verletzung wie nach Reizung der unverletzten Seite. Weitere Reizversuche werden weiterhin im Zusammenhange mit anderen Beobachtungen mitgetheilt werden. Wenn ich oben bemerkt habe, dass man _halbseitige Durch- schneidungen in der Bauchkette nur an der angegebenen classischen Stelle machen kann, und wenn ich hinterher doch die halbseitige Zerstérung eines Ganglions auszufiihren bemiiht bin, so kénnte der Leser darin einen flagranten Widerspruch erblicken. Das wiire indess doch ein Irrthum; es kommt eben Alles darauf an, welchen Zweck man anstrebt: Will man die Beziehungen der beiden Seiten des Kérpers zu einander aufdecken, etwa ihre Leitungsbahnen, so kann man nur solche Durchschneidungen brauchen, wie sie ausschliesslich an jener einen Stelle ausfiihrbar sind. Sollen aber einfache Beziehungen der Innervation eines Ganglions zu Muskeln derselben Seite erforscht werden, so kann man sich an jedes Ganglion wenden, obgleich der Versuch stets etwas unvollkommen bleibt, indess doch annihernd wenigstens das ange- strebte Ziel zu erreichen gestattet. Um zu sehen, ob, wie oben geschlossen worden ist, die Scheere mit ihrer Innervation zugleich in dem Unterschlundganglion wurzelt, habe ich nach Freilegung dieser Gegend die untere Abtheilung des genannten Ganglions rechterseits mit gliihender Nadel zerstért und glaube, eine erhebliche Schwichung des rechten Scheerenschlusses ge- sehen zu haben. Doch ist, wie ebenfalls schon oben bemerkt, die Beurtheilung des Resultates hier ausserordentlich schwer. Der Kiefer- apparat derselben Seite ist gelahmt. Kine weitere Complication liegt noch darin, dass das Unterschlund- ganglion des Krebses, wie die Fig. 4 zeigt, zweifellos sich aus mehreren Ganglien zusammensetzt. 102 Reizungsversuche. Zwolftes Capitel. Reizungsversuche innerhalb des Centralnervensystems. i ie Die Versuche. Man pflegt seit langer Zeit elektrische Reizungen innerhalb des Centralnervensystemes der Wirbelthiere zu machen und man hat auf diesem Wege nicht allein brauchbare, sondern fusserst wichtige Resul- tate erhalten, wobei ich in erster Linie an die fundamentalen Reizungs- versuche auf der Hirnrinde der héheren Wirbelthiere erinnere. Nichts- destoweniger ist man dort ausser Stande, obgleich man es gern gewollt hat, eme wirklich isolirte Reizung bestimmter Elemente vorzunehmen. Die Ausfiihrbarkeit eines solchen Reizversuches kommt ausschliess- lich den Wirbellosen zu, wo die Ganglien durch deutlich isolirte Ver- bindungen (Commissuren) mit eimander in Verbindung stehen, welche wie eine periphere Nervenfaser isolirt gereizt werden konnen. So viel ich die Verhiltnisse bisher iibersehe, sind es wiederum die geschwiinzten Crustaceen, insbesondere unser Flusskrebs, der sich in erster Linie fiir derlei Versuche eignet. Ein solcher Versuch ist nur an zwei Stellen tadellos ausfiihrbar, nimlich einmal an der Dorsoventralcommissur und zweitens an der Commissur zwischen dem vierten und fiinften Bauch- ganglion, die ich weiterhin kurzweg als die Langscommissur bezeichnen will, schon weil eine andere gar nicht in Betracht’ kommt. Bei der Wichtigkeit des Gegenstandes habe ich diese Versuche in ein beson- deres Capitel herausgenommen und werde daran anschliessen Beob- achtungen iiber den Effect peripherer Reizungen nach Durchschneidung jener Commissuren, deren Resultate theilweise schon oben mitgetheilt worden sind. Im Allgemeinen mochte ich hierbei bemerken, dass es sich zuniichst um die ersten orientirenden Versuche handelt und dass ich weiterhin diese Arbeit noch fortzusetzen gedenke. Um die Dorsoventralcommissur elektrisch reizen zu kénnen, pflege ich folgendermaassen zu verfahren: Zuniichst wird der Riickenschild aufgebrochen und das Herz herausgeschnitten; hierauf wird, wie oben angegeben, das Dorsalganglion freigelegt und die Chitinschale nach unten hin in grésserer Ausdehnung entfernt. Man findet in dem von Fliissigkeit nunmehr freien Gesichtsfelde mit Leichtigkeit die beiden Commissuren, welche beide, aber selbstredend einzeln, an feinem Faden Reizungsversuche. 103 ‘befestigt werden. Ihrer yollig isolirten Reizung steht nichts mehr im Wege: sie werden iiber feine Hakenelektroden gebriickt, welche zu einem kleinen Inductorium gehen, in dessen primiirem Kreise sich eine 24 cliedrige Noé’sche Thermosiiule befindet. Wenn man die eine Commissur auf diese Weise reizt, so erhilt man neben Bewegung des Schwanzes ausnahmslos Bewegungen der Extremitiiten auf beiden Seiten. Ks ist weiterhin nicht gelungen, den Reiz so klein zu machen, dass man die Extremitiiten nur der einen Seite zucken sah, sondern, wenn der Reiz einen Effect hervor- rief, so war derselbe stets doppelseitig. Dieses Resultat hatte ich vorausgesetzt und zwar auf Grund der Vorstellungen, die ich mir iiber das Zustandekommen der Zwangs- bewegungen gebildet habe und auf die ich weiterhin zuriickkommen werde. _Doch wiinschte ich hier schon die Aufmerksamkeit des Lesers auf diesen Punkt zu richten. Die Isolirung der Liingencommissur geschieht in ganz dhnlicher Weise: Nach Entfernung des Herzens wird die Gegend unterhalb des zweiten Gehfusspaares gedffnet und die Commissur aufgesucht, welche in dem jetzt fast trockenen Gesichtsfelde ohne Schwierigkeit aufzu- finden ist. (Wenn man die Ausschaltung der Circulation unterlisst, so ist das Gesichtsfeld fortwihrend von Fliissigkeit iiberschwemmt und eine isolirte Reizung der Commissuren ausserordentlich viel schwie- riger, ohne dass ich sie deshalb fiir unausfiihrbar halten will. Das hier eingeschlagene Verfahren erleichtert die Ausfiihrung des Ver- suches erheblich.) Mit einem feinen Unterbindungshaken wird die Commissur der einen Seite moglichst nahe dem vierten Ganglion mit einem Faden versehen und unterhalb dieses Ganglions durchschnitten. Die Commissur der anderen Seite bleibt entweder unverletzt oder man durchschneidet sie ebenfalls. Bei der Kiirze der Liingencommissur liegt die Schwierigkeit darin, wirklich isolirt zu reizen, weshalb man mit aller Umsicht dafiir zu sorgen hat, dass der Strom nicht auf die Nachbargebilde iibergeht. Am meisten hat man sich, wie stets in solcher Lage, vor zu starken Strémen zu _ hiiten. Mit Beriicksichtigung aller dieser Gesichtspunkte war das Resultat der Reizung in allen Fiillen, sei es, dass die Lingscommissur der anderen Seite erhalten oder unterbrochen war, regelmissig folgendes: _ Es zuckt der Schwanz, ferner die beiden letzten Fiisse derselben Seite und der letzte Fuss der gegeniiberliegenden Seite). 1) Diesen Versuch hatte auch Lémoine schon ausgefiihrt und kurz ange- geben, dass man Bewegungen nur unterhalb der Durchschneidungsstelle zu sehen bekommt. 104 Reizungsversuche. Den vorletzten Fuss der gegeniiberliegenden Seite habe ich niemals in* Bewegung gesehen. Ob es sich bei diesem immerhin auffallenden Ergebnisse um eien Mangel der Technik handelt oder um ein physio- logisches Verhiiltniss, habe ich bisher nicht zu entscheiden vermocht. Hierbei méchte ich noch hervorheben, dass auch der erste und zweite Gehfuss der gegeniiberliegenden Seite niemals in Bewegung gerathen, in dem Falle, wo die Commissur dieser Seite unverletzt ge- blieben war. Disponirt man den Versuch so, dass die Commissur oberhalb des fiinften Bauchganglions auf den Faden genommen wird und reizt man diese Commissur nunmehr central, so gerathen siimmtliche An- hinge incl. Schwanz in Bewegung mit Ausnahme der beiden letzten Fiisse derjenigen Seite, deren Commissur durchschnitten worden war. Wenn man bei einem Krebse die Lingscommissur z. B. rechts durchschneidet und ihn durch entsprechende Behandlung am Leben und in gutem Zustande erhalt, so bemerkt man, wie oben schon erwihnt, im seiner allgemeinen Beweglichkeit keinen Defect, ebenso- wenig in seer Schwimmfihigkeit. Betrachtet man seine Bewegungen indess genauer, so sieht man, dass die beiden letzten Beine der rechten Seite an den coordinatorischen Bewegungen der iibrigen Extremitiiten nicht theilnmehmen; dass sie sich indess bewegen, doch unter sich auch verschieden und zwar so, dass der vierte Fuss nur sehr seltene Bewegungen macht, wihrend der fiinfte Fuss sich hiufiger und ausgiebiger beweet. Diese Beobachtung steht vollkommen im Einklange mit jenen, die bei der doppelseitigen Durchschneidung dieser Commissur gemacht worden waren; die Bewegungen des vierten Fusses sind so gering- fiigig, dass ich liingere Zeit an eine vollige Paralyse desselben geglaubt habe; doch habe ich mich durch fortgesetzte Untersuchungen iiber- zeugt, dass der vierte Fuss sich ebenfalls bewegt, aber doch sehr viel weniger energisch, als der fiinfte. Wenn man die linke Korperseite dieses Krebses mechanisch reizt, wozu ich aus naheliegenden Griinden den fiinften Fuss wiihlte, der entweder mit zwei Fingern oder mit- telst einer Pincette zusammengepresst wurde, so erfolgen zunichst Bewegungen siimmtlicher Anhinge der linken Seite, darauf auch Be- wegungen der Anhinge der rechten Seite, soweit sie sich oberhalb der Schnittstelle befinden, dann rhythmische Schwanzbewegungen und schhess- lich Bewegung des fiinften Fusses rechterseits (von dem vierten Fusse wollen wir ganz absehen). Das mag das Schema eines solchen Reiz- versuches sein, worin indess in der Reihenfolge der Erscheinungen mancherlei Ausnahmen vyorkommen, nur diirfte allgemein gelten, dass der Uebergang der Erregung von dem fiinften Fusse der unver- Reizungsversuche. 105 letzten Seite auf den fiinften Fuss der verletzten Seite stets schwieriger erfolgt, als auf alle anderen Extremitiiten. Oefter fehlt bei dieser Reizung, namentlich wenn man nicht den fiinften Fuss, sondern einen anderen Fuss oder den Schwanz wibhlt, der Uebergang der Erregung auf den fiinften Fuss (um den allein es sich nur handeln kann) der rechten Seite. Trotzdem erscheint es mir principiell wichtig, dass ein solcher Uebergang der Erregung iiberhaupt zu Stande kommt. Reizt man das linke Schwanzende, wie oben beschrieben, so sieht man neben den Schwimmbewegungen des Schwanzes die Bewegungen simmtlicher Extremitiiten, mit Ausnahme der beiden letzten Fiisse rechts, also unterhalb der Durchschneidung. Reizt man das Schwanzende der rechten Seite in gleicher Weise, so habe ich niemals Schwimmbewegungen, sondern stets nur eine ein- malige Contraction des Schwanzes gesehen, ohne dass die Extremitaten der einen oder anderen Seite theilnehmen. Es besteht also vorlaufig in der Einwirkung auf die Schwanzbewegung ein ganz bestimmter Unterschied, je nach- dem bei unserem Krebse das linke oder das rechte Schwanzende gereizt worden ist. Reizt man den ersten und zweiten Schwimmfuss rechts an- dauernd, so kommt es zu einer kurzen Rhythmik der Schwanzbewe- gung, zugleich aber zu Bewegungen der Extremititen der ganzen linken Seite und der rechten Seite oberhalb des Schnittes.. Im Allge- meinen mochte ich zu dieser Versuchsreihe bemerken, dass die Resul- tate nicht immer gleichmassig sind; dass das, was ich hier gegeben habe, eime Auslese aus den hochsten Leistungen der Reihe dar- stellt. Durchschneidet man die Dorsoventralcommissur der rechten Seite und erhalt den Krebs am Leben, so sieht man ihn sehr bald die Kreisbewegung nach der linken Seite antreten. Reizt man ihn irgendwo rechts oder links, so treten stets simmtliche Anhinge beider Seiten in Thitigkeit, eventuell kommt es auch zu Schwimmbewegungen des Schwanzes. Macht man den Versuch analog zu dem obigen so, dass man das Schwanzende links oder rechts reizt, so bekommt man von beiden Stellen aus und mit gleicher Leichtigkeit, so weit man sehen kann, Schwimmbewegungen des Schwanzes, d. h. hier besteht dieser Unter- schied zwischen rechts und links, wie oben, in keiner Weise. 106 Reizungsversuche. SR a Theoretische Betrachtungen. Unter den vielfachen Bewegungen treten die Schwimmbewegungen des Schwanzes durch ihre Rhythmik als besonders eigenartig und charakteristisch hervor. Dass dieselbe durch elektrische Reizung der Dorsoventralcommissur oder einer Lingencommissur der Bauchkette zu Stande kommt, ist nicht auffallend, aber um so mehr, wenn sie unter scheinbar gleichen Bedingungen peripherer reflectorischer Erregung einmal ausfallt und das andere Mal erscheint, wie bei dem Krebse, dessen Bauchcommissur einseitig durchschnitten war. Wenn man die Beobachtung genauer zergliedert, so zeigt sich, dass der Reiz in dem negativen Falle das Dorsalganglion nicht erreicht, in dem positiven Falle aber daselbst landet. Dem entsprechend fallt der analoge Versuch bei dem Krebse mit einseitiger Durchschneidung der Dorsoventralcommissur stets positiv aus, welches Schwanzende man auch reizen médge, denn von beiden Seiten erreicht der Reiz das Dorsalganglion, was daraus hervorgeht, dass die Extremitiiten beider Seiten leicht und unisono in Bewegung gerathen. Damit stimmt aber auch iiberein, dass die Schwimmbewegung stets fortfallt, wenn das Dorsalganglion entfernt wird; dass sie vor- handen ist, selbst fiir den Fall, dass es mit der Bauchkette nur mit einer Commissur in Verbindung geblieben ist, wie frither schon gezeigt worden war. Die Schwimmbewegung mit ihrem ausserordentlich com- plicirten Mechanismus der gleichzeitig in bestimmter Weise angeord- neten Extremitiitenbewegung hat sonach ihr ausschliessliches Centrum im Dorsalganglion. Man sieht aber weiter, dass der Uebergang der peripheren Krre- gung von einer Seite des Korpers auf die andere Seite sehr rasch erfolet, wenn das Dorsalganglion vorhanden ist und den Verkehr beider Koérperseiten mit einander vermittelt, wihrend der directe, so zu sagen lineare Uebergang von einer Seite zur anderen, wenn das Dorsalganglion fehlt, sich ausserordentlich schwierig vollzieht, d. h. auf dem letzteren Wege hat der Reiz trotz des viel kiirzeren Weges erdssere Widerstiinde zu iiberwinden, was man auch so auffassen kann, dass das Dorsalganglion fiir den von der Peripherie kommenden Reiz eine hohere Erregbarkeit besitzt, als sie die Ganglien der Bauchkette zeigen. So kann es kommen, dass die kurzen Querwege in der Bauch- kette, deren Vorhandensein wir durch die elektrische Reizung zweifel- los dargethan haben, von den physiologischen Erregungen eventuell gar nicht betreten werden. Reizungsversuche. 107 Aber noch eine andere Betrachtung dringt sich auf, wenn wir jene Resultate der Reizung der Liingencommissur nochmals genauer durch- mustern, bei der wir nur Bewegungen in den unterhalb der gereizten Commissur gelegenen Extremitiiten beiderseits gesehen haben, wiihrend oberhalb der Reizstelle der anderen Seite alles in Ruhe blieb, obgleich doch die anatomischen Verbindungen nicht allein nach hinten, sondern auch nach vorn ziehen. Wiirden wir im Gegensatze dazu dasselbe fiinfte Bauchganglion von der folgenden Commissur ansprechen, die oberhalb des sechsten Ganglions abgebunden worden wiire, so wiirde zweifellos auf der anderen Seite’ nicht nur die gegeniiberliegende Extremitit zucken, sondern sicherlich auch die anderen weiter nach vorn gelegenen Anhiinge in Bewegung gerathen. Fiir die periphere Nervenfaser wissen wir, dass ihre Leitung eine doppelsinnige ist; fiir die intercentrale Faser eimen anderen Leitungsmodus vorauszusetzen, haben wir keine Veranlassung, hingegen kénnen in den Beziehungen der Nervenfasern zu den Nervenzellen Vor- richtungen getroffen sein, welche die Leitung der Erregung nur in einer Richtung gestatten und zwar die Leitung des motorischen Im- pulses in centrifugaler Richtung, wie wir das in unserem Versuche gesehen haben. Es erscheint weiterhin nur ein natiirlicher Schluss, anzunehmen, worauf auch schon Manches in den bisher mitgetheilten Versuchen hindeutet, dass die sensible Erregung sich nur in centri- petaler Richtung fortzupflanzen vermag. Uebrigens hoffe ich bei Beschaffung ausreichenden Materials hierzu einen eindeutigen Versuch ausfiihren zu konnen. Dass die Leitung der Erregung in dem dem Bauchmarke der Wirbellosen analogen Riickenmarke der Wirbelthiere nicht doppelsinnig, sondern einsinnig geschieht, hat jiingst J. Bernstein beobachtet 3), da er fand, dass die negative Schwankung des Nervenstromes durch das Riickenmark des Frosches sich nur entwickelt auf dem Wege von der sensiblen zur motorischen Riickenmarkswurzel, nicht aber in um- gekehrter Richtung. *) Ueber refiectorische negative Schwankung des Nervenstromes und die Reiz- leitung im Reflexbogen. Archiv fiir Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 30, S. 651, 1898. 108 Zwangsbewegungen Dreizehntes Capitel. Zwangsbewegungen nach Abtragung des Gehirns. In dem Buche iiber die Fische theilte ich folgenden Versuch mit, den ich, so viel ich mich erinnere, etwa im Jahre 1886 oder 1887 aufgefunden hatte: Wenn man einen Haifisch (Seylliwm catulus oder canicula) durch Abtragung des Mittelhirns in die Kreisbewegung zwingt, ihn darin wenigstens zehn Stunden herumschwimmen lasst und dann kopft, so verbleibt der geképfte Haifisch in derselben Kreisbewegung, welche der kopftragende Fisch vorgeschrieben hatte. Das Alles, obgleich man durch einseitige Verletzung des Riickenmarkes selbst, diese Kreis- bewegung niemals zu erzeugen vermag. Diesen Versuch habe ich selbstandig und unabhiingig von jeder ‘iusseren Anregung aufgefunden ohne Kenntniss davon, dass ganz kurz vorher (etwa ein Jahr) R. Dubois den gleichen Versuch an Kifern gemacht und im Herbste 1885 veroffentlicht hatte. Dubois berichtet dariiber Folgendes!): Dans le courant de cet éé, gai été condwit par dautres recherches a Vétudier Vinfluence des lésions des centres nerveux des insectes sur la motilité; les individus qui ont servi aux expériences étarent des coléopteres du genre pyrophore. Parmi les remarques intéressantes que nous avons faites, il en est un certain nombre qui ont été déja signalées par les expérimentateurs qui nous ont précédé dans cette vovre. Les faits que nous croyons nouveaux nous ont été révélés par Vemploi de la méthode graphique qui, a notre connaissance, Wa pas encore été appliquée a ce genre de recherches. Nous placons sous les yeux de la société un certain nombre de tracés obtenus en faisant marcher, sur du papier recouvert @une mince couche de noir de fumée, des pyrophores chez lesquels on avait provoqué diverses lésions des centres nerveux a Vaide des fines aiguilles, par dilacération ow par cautérisation ignée. Nous résumons ict rapidement les conclusions que Vont peut tirer de ces tracés. Si Von enfonce une aiguille rougie dans la région, ou est situé le ganglion frontal, Vinsecte donne aussitét des signes manifestes Win- ') Rk. Dubois, Application de la méthode graphique a VPétude des modifica- tions imprimées &@ la marche par les lésions nerveuses expérimentales chez les in- sectes. Compt. rend. de la société de Biologie (8) T. II, 1885, p. 642. nach Abtragung des Gehirns. 109 coordination motrice mis en évidence par Venchevétrement imeaxtricable des petits traits produits par Vapplication et le glissement des pattes sur le papier enfumé. A Vincoordination motrice parait sajouter une perte complete de la notion des objets extérieurs: si Vinsecte rencontre un obstacle, aw liew de chercher a le tourner ou a le franchir, comme il fait a Vétat normal, il se heurte contre cet obstacle et parfois méme recule un pew pour se jeter encore, la téte la premiere sur Vobject placé devant lw. La section transversale pratiquée a Vaide dun couteaw linéaire a cataracte entre le ganglion frontal et les ganglions cérébroides donne liew aux mémes effets. Si Von pique avec Vaiguille rougie la partie qui correspond a la région antérieure de la commissure qui réunit les ganglions cérébroides, ou si Von coupe cette commissure par une section médiane dirigée @avant en arriere, on observe quand Vopération est bien faite wn mouve- ment de recul qui peut persister trés longtemps mais qui west pas constant, UVinsecte retrouwvant assez rapidement, soit dune maniere de- finitive, soit transitoirement, la faculté de marcher en avant. L’équilibre de Vinsecte peut étre légérement modifié comma le montre de tracé; mais, en général, al est normal ainsi que la direction du mouvement de marche: bien que Vinsecte marche en arriére, il peut tourner ow se diriger en ligne droite a volonteé. Lexamen Wun tracé permet de reconnaitre immédiatement qwil sagit, par exemple, Mune lésion du ganglion céréboide du coté droit; on comprend facilement par Vétude des traits tracés par Vinsecte que celur-cr est fortement penché du coté opposé a la lésion, les membres ont affaissés de ce coté et les mouvements qwils exécutent sont loin @avoir Vamplitude de ceux qui ont effectués par les membres placés du coté de la lésion: en revanche les mouvements du cété opposé a la lésion sont plus rapides, le nombre de points tracés par les extrémités des pattes étant plus grand de ce cété du tracé. Malgré cette compensation de Vamplitude par le nombre des mouvements, Vinsecte est irrésistible- ment entrainé du coté opposé a la lésion, et décrit des courbes dune grande régularité. Parfois cependant il pivote complétement sur lw- méme et le tracé présente alors Vaspect de figures circulaires dont le centre correspond a Vextremité des élytres. Une lésion du ganglion céréboide gauche présente un aspect et des caractéres diamétralement opposés, mais de méme ordre. Ces tracés pathologiques different absolument de ceux que Von obtient en faisant décrive des courbes a un insecte normal; on obtient facile- ment ce résultat avec les pyrophores, en les faisant marcher dans Pobscurité, aprés avoir obturé avec une boulette de cire opaque une des 110 Zwangsbewegungen lanternes du prothorax, Vinsecte se dirige alors du coté éclairé, mais il donne dans ces conditions un tracé symmeétrique tout en décrivant des courbes parfois tres accentuées. La marche normale de Vinsecte seffectue dordinaire en ligne droite et le tracé qwil donne est tout a fait caractéristique de Vespéce Winsecte mis en expérience. Mais il est un point important sur lequel il est nécessaire Wap- peler des a présent Vattention, je veux parler de ce que Von observe quand, apres avoir lésé un des ganglions cérébroides et imprimé upso facto un mouvement de rotation a Vinsecte, on vient a le décapiter. On est frappé de le voir conserver Vallure qui lw a été imprimée apres Vablation de la lésion qu a déterminé précisement cette allure parti- culiére. Linsecte privé du cerveaw blessé qui a déterminé les troubles moteurs continue a obéir a Vimpulsion caractéristique qwil a recus @un centre nerveux que wexiste plus. Cette expérience met en défaut le célébre adage: causa ablata, tollitur effectus*. Elle détrwit en meme temps cette hypothése plus @une fois émise que Cest sous Tinfluence Mune acte psychique purement cérébral que Vinsecte tourne en rond: on a dit souvent, en effet, que dans ces con- ditions ,Vanimal blessé fuyart sa lésion*. Pour nous, Vimpression transnuse par le ganglion cérébroide lésé provoque immédiatement dans les parties placées sous la dépendance des modifications permanentes. L’ordre transmis est conservé et exécuté alors méme que Vorgane dou al est parti wexiste plus. Cette expérience a été répétée avec Wautres insectes, elle est facile a exécuter sur les coléoptires du genre Dysticus; non seulement la modi- fication rotatoire se maintient pendant la marche apres ablation du ganglion cérébroide lésé et de la téte tout entiére, mars elle persiste égale- ment au sein de leaw pendant Vacte de la natation. Nous avons noté, en outre, ce fait singulier: cest qwun de ces m- sectes, ainsi décapité, exécuta pendant quelques imstants des mouvements incohérents, puis resta immobile pendant plusieurs minutes; aw bout de dix minutes environ, les mouvements se reprodwmsirent et cette fois Vin- secte effectua en nageant des mouvements en cercle parfaitement réguliers. Ich habe die ganze Beschreibung dieser Versuche wiedergegeben, aus denen fiir uns neu ist die Erscheinung, dass der gekopfte Kifer, wenn er yorher in Kreisbewegung sich befand, diese Kreisbahn fort- setzt. Das ist derselbe Versuch, den ich unabhiingig von Dubois bei dem Haifische aufgefunden hatte, nur mit dem einen Unterschiede, nach Abtragung des Gehirns. 111 dass der geképfte Kifer die Kreisbewegung sogleich nach der Kopfung wiederholt, was der Haifisch erst nach 10 Stunden thut. Dubois hat seine Versuche am Dytiscus marginalis ausgefiihrt. Mir standen zahlreiche Exemplare des Goldkiifers (Carabus aura- tus) zu Gebote, den ich fiir alle diese Versuche bevorzuge. Ich habe jenen Versuch wiederholt und bin in der Lage, ihn vollkommen_ be- stiitigen zu kénnen: Durch halbseitige Abtragung des Dorsalganglions hatte ich den Goldkifer in die Kreisbewegung gezwungen, liess ihn eme Anzahl Kreise laufen — etwa zwei Minuten lang —, darauf erfolgte die Képfung und der gekdpfte Kafer behielt die Kreis- bewegung bei. Beim Haifische habe ich erklirt, dass das Riickenmark die ihm vom Gehirn aufgedrungene Zwangsbewegung erlernt und nach zehn- stiindiger Uebung so festhalt, dass sie in derselben verbleibt, selbst nach Entfernung ihrer Lehrmeisterin. Fiir den Kafer habe ich keine Veranlassung, eine andere Erklirung zu suchen, nur miisste ich hinzufiigen, dass sein Bauchmark impressio- nabler ist, daher schneller auffasst und behalt als der Haitisch. Man kann endlich ganz ebenso wie fiir die Fische voraussagen, dass dieser Versuch nur ausfiihrbar ist bei denjenigen Arthropoden, deren Bauchmark die Locomobilitiit semer Metameren noch erhalten hat. Unter den Crustaceen also nur bei der Mauerassel, aber nicht bei den Krebsen. Dritte Abtheilung. Theoretisecher Theil. Erstes Capitel. Das Gehirn der Wirbellosen. Da unsere Wissenschaft mit dem Studium der Wirbelthiere be- gonnen hat, so bringt es diese Entwickelung mit sich, dass wir unter Gehirn immer nur das Gehirn der Wirbelthiere verstehen, welches selbst physiologisch dadurch gegeben ist, dass es die Functionen des morpho- logisch bestimmten Centraltheiles enthalt, welcher in der Schidelkapsel gelegen ist. Die Bestimmung des Gehirns der Wirbelthiere ist also eine rein anatomische und eine physiologische Definition desselben stand noch aus, bis eine solche von mir vor einigen Jahren gegeben worden ist?). Wenn wir nunmehr dazu iibergehen, diesen Ausdruck ,,Gehirn“ auf die Wirbellosen zu iibertragen, so muss dieses etwaige Gehirn der Wirbellosen auch die wesentlichen Kigenschaften des Wirbelthiergehirns besitzen, sonst hitte die gleiche Bezeichnung keine Berechtigung. Die Morphologie benutzt zur Bestimmung des Gehirns der Kverte- braten ein Merkmal, welches sie wiederum von dem Wirbelthiergehirn entlehnt hat: Gehirn ist im Allgemeinen dasjenige Ganglion, aus welchem die Nerven der héheren Sinnesorgane (Auge, Ohr) ihren Ursprung nehmen. Man sollte glauben, dass diese einfache Formel vollkommen ausreichen miisste, um im gegebenen Falle jedesmal ein Gehirn bestimmen zu konnen. Indess scheinen hierbei Schwierigkeiten zu bestehen, denn die Ansichten der Morphologen gehen iiber das, was bei den Wirbel- losen Gehirn ist, vielfach aus einander. Zum Beweise dafiir wollen wir die Ansicht einiger der leitenden morphologischen Schriftsteller hier wiedergeben. Leydig sagt hier- *) Die Fische ete. 1888, 8. 106. Gehirn. 113 iiber Folgendes: ,,Meines Erachtens miissen wir uns aber eine bestimmte Ansicht dariiber zu bilden suchen, ob wir die iiber dem Schlunde liegende Partie und den unter demselben befindlichen Knoten, sowie die vereinigenden Commissuren zusammen als Gehirn erkliiren oder das Ganglion infraoesophagewm nicht mehr dazu ziihlen sollen. Weiteren Erorterungen vorgreifend, erlaube ich mir gleich auszusprechen, dass die morphologische und physiologische Betrachtungsweise uns berechtigen, beide genannte nervése Massen zusammen alsGehirn und zwar als ein yom Schlund durchbohrtes Gehirn aufzufassen, wie wenn etwa_ bei einem Wirbelthiere das Gehirn zwischen den Hirnschenkeln (Crwra cerebri) vom Schlund durchsetzt wire.“ Dagegen schreibt Gegen- baur!): ,Das Nervensystem der Arthropoden schliesst sich an jenes der Anneliden an, mit dem es in seinen Grundziigen vollstiindig im Einklang sich befindet. Eine iiber dem Schlunde lagernde Ganglien- masse erscheint als Kopfganglion oder Gehirn, von welchem zwei Commissuren den Schlund umereifen, mit einem ventralen Ganglion sich zum Nervenschlundring verbindend.“ Eine besondere Stellung nimmt v. Siebold ein): ,,Der Centraltheil des Nervensystems zerfillt bei den Insecten, wie bei den iibrigen Arthropoden, in eine Gehirn- und Bauchmarkmasse. Das im Kopfsegmente verborgene Gehirn besteht aus einer iiber dem Oecsophagus legenden Ganglienmasse (Ganglion swpracesophageum), welche durch zwei, die Speiserdhre um- fassende Seitencommissuren, mit einer unter dem Schlunde versteckten kleinen Ganglienmasse (Ganglion infraoesophageum) verbunden ist. Das obere dieser beiden Schlundganglien entspricht dem grossen Gehirne der Wirbelthiere, wihrend das untere Schlundganglion mit dem kleinen Gehirne oder dem verlingerten Riickenmarke verglichen werden kann.“ Wie wir aus diesen Citaten ersehen, erweist sich die Morphologie nicht geriistet genug, um das Gehirn bei den Wirbellosen zu bestimmen; wir wollen deshalb versuchen, mit physiologischen Beobachtungen hel- fend einzutreten. Um diese Aufgabe zu lésen, haben wir im Anschluss an unsere obigen Bemerkungen nichts weiter zu thun, als unsere Definition des Wirbelthiergehirnes auf die Wirbellosen zu iibertragen: Wo diese De- finition befriedigt werden wird, dort haben wir ein Gehirn; wo sie aus- fallt, dort fehlt auch ein Gehirn. Jene Definition vom Gehirn der Wirbelthiere lautete folgender- Inaassen: ,Das Gehirn ist definirt durch das allgemeine ') Gegenbaur, Grundriss d. vgl. Anatomie. Zweite Auflage, Leipzig 1878, S. 166. *) v. Siebold, Vgl. Anatomie. 1848, Bd. I, 8. 567. Steiner, Centralnervensystem. III. 8 114 Crustaceengehirn. 3ewegungscentrum in Verbindung mit den Leistungen wenig- stens eines der hdheren Sinnesnerven.“ Experimentell haben wir immer nur eine Bestimmung auszufiihren, nimlich das allgemeine Bewegungscentrum aufzusuchen, indem das andere Element der Defini- tion, die Sinnesfunction, jedesmal durch das Vorhandensein des Sinnes- organes gewihrleistet ist — falls nicht das Gegentheil bewiesen werden kann. Zur Aufsuchung des allgemeinen Bewegungscentrums fiihrt, wie ich angegeben habe, ein sehr einfacher Weg: Wir durchschneiden die zu untersuchende Nervenabtheilung einseitig und beobachten, ob das Thier danach echte Zwangsbewegungen macht. Im gegebenen Falle. der Wirbellosen handelt es sich nur um die Form der Zwangsbewegung, welche ich ,,Kreisbewegung* genannt habe. Treffen wir also nach der. angegebenen Operation auf die Kreisbewegung, so enthilt der einseitig durchschnittene Theil des Centralnervensystems das allgemeine Be- wegungscentrum; fehlt die Kreisbewegung, so fehlt auch jenes. Einen Fingerzeig, aber niemals einen Beweis, fiir das allgemeine. Bewegungscentrum erhalten wir schon in dem Versuche, wo nach doppelseitiger Abtragung des Nerventheiles die Locomotion verschwindet. Doch ist dieser Schluss nicht absolut bindend, weil die Locomotion sich in spiiterer Zeit nach volliger Ueberwindung der durch die Ver- letzung gesetzten Storung wiederherstellen kann. An der Hand dieser Regeln wollen wir nunmehr das Centralnerven- system der Wirbellosen auf die Existenz eines Gehirnes priifen. A. Die Crustaceen. Wir beginnen die Untersuchung mit dem vordersten Ganglion der Ganglenkette, dem sogenannten dorsalen Schlundganglion oder supraoesophagealen Ganglion, welches unsere besondere Aufmerksamkeit schon dadurch in Anspruch nimmt, dass aus demselben die hoheren Sinnesnerven entspringen. In demselben legt also schon ein Theil unserer Definition des Gehirns. Priifen wir, ob es auch das andere Element, das allgemeine Bewegungscentrum, besitzt. Nach Abtragung desselben hért, wie wir gesehen haben, die Locomotion auf; dasselbe geschieht nach doppelseitiger Durchschneidung der beiden Commissuren, welche das dorsale Schlundganglion mit dem Unterschlundganglion ver- binden. Hieraus folgt schon mit Wahrscheinlichkeit, dass dieses Ganglion das allgemeime Bewegungscentrum enthilt. Der eindeutige Beweis dafiir hegt endlich in der Beobachtung, dass die einseitige Zerstorung desselben oder die einseitige Durchschneidung der schon genannten Commissur das Thier in die entsprechende Kreisbewegung zwingt. . Hieraus aber folgt, dass das dorsale Schlundganglion des Crustaceengehirn. 115 Flusskrebses, an welchem diese Versuche zunichst gemacht worden sind, das Gehirn darstellt. Wir miissen noch weiter zu beweisen versuchen, dass nur dieses und kein anderes Ganglion der Kette Gehirn sein kann. Dies folgt schon aus der anatomischen Beobachtung, dass kein anderes Ganglion die Ursprungsstiitte hédherer Sinnesnerven ist. Davyon existirt indess, meines Wissens, eine einzige Ausnahme, das ist nimlich Mysis, eine kleine, sehr zierliche Krebsart, welche ihr Ohr nicht im Kopfe, sondern im Fiacher des Schwanzes hat, wohin ein Nery, als Gehérneryv, aus dem letzten Abdominalganglion dringt. Das Abdominalganglion von Mysis konnte demnach Gehirnganglion werden, wenn wir nachweisen kénnten, dass es ein allgemeines Be- wegungscentrum besitzt. Wenn man jenes Ganglion zerstort, indem man die ganze Schwanzplatte abtrigt, so treten Storungen in der Locomotion nicht auf. Hieraus folgt schon mit Wahrscheinlichkeit, dass jenesGanglion nur locale Bedeutung hat. Den eindeutigen Beweis dafiir durch einseitige Zerstérung des Abdominalganglions kann ich heute hier nicht fiihren, weil mir Myszs nicht zu Gebote steht, und als ich seiner Zeit mich mit Mysis beschiftigte, war mir dieser Gedankengang noch fremd. Der Versuch ist ausfiihrbar unter einer Zeiss’schen Lupe. Wenn ich diesen letzten Beweis auch vorliufig schuldig bleiben muss, so ist es doch aus vielen Griinden ganz unwahrscheinlich, dass diesem letzten Abdominalganglion eine allgemeine Bedeutung zukiime. Demnach ist zu schliessen, dass das sogenannte dorsale Schlundganglion des Krebses das Gehirn darstellt und dass es diese Bedeutung mit keinem anderen Ganglion der Kette zu theilen hat. Da wir voraussetzen kénnen, dass, wie der Bau, so auch die Ver- richtungen der Ganglienkette aller geschwinzten Crustaceen die gleichen sind, so kann jener Schluss auf die geschwiinzten Crustaceen aus- gedehnt werden. Die Verallgemeinerung dieses Satzes kann indess noch weiter gehen und auch die ungeschwinzten Crustaceen oder Krabben einschliessen, deren Nervensystem sich morphologisch von jenem der geschwiinzten nur dadurch unterscheidet, dass mit dem Schwanze die entsprechenden Ganglien untergingen, wihrend simmtliche Thoracalganglien zu emem elinzigen Ganglion verschmolzen sind. Von diesem steigen die beiden Commissuren um den Oesophagus herum zu dem dorsalen Schlund- ganglion auf, welches allein als Gehirn aufzufassen ist, da seine bilaterale Abtragung die Locomotion ausléscht, wihrend die unilaterale Zerstérung S* 116 Gehirn Kreisbewegung nach der unverletzten Seite giebt. Das gleiche Resultat folet der entsprechenden operativen Behandlung der beiden Commis- suren. In gleicher Weise ist auch fiir die Isopoden (Mauerassel) der Nach- weis zu fiihren, dass das Dorsalganglion ein echtes Gehirn reprisentirt. In merkwiirdig interessanter Weise verhalt sich dieses Gehirn in- sofern etwas abweichend gegeniiber den bisher genannten Krebsen, als seine totale Abtragung die Locomotion des Thieres nicht aufhebt, welche nun auch von den Bauchganglien besorgt wird. Wir kénnen somit schliessen, dass simmtliche Crustaceen, so- weit sie nicht schon durch parasitische Lebensweise tiefgreifende Ver- iinderungen ihres Nervensystems erlitten haben, ein echtes Gehirn besitzen, welches durch das dorsale Schlundganglion dargestellt wird. Dasselbe ist deshalb nunmehr allen Rechtes als Gehirn- oder Cerebralganglion zu bezeichnen. B. Die tracheaten Arthropoden. Wir fragen hier in derselben Weise und in demselben Sinne nach dem Gehirn und suchen den Theil des Nervensystems zu bestimmen, welcher Gehirn sein konnte. Es ist ebenfalls das dorsale Schlundganglion, welches eigentlich nur in Betracht kommen kann, denn nur dieses allein ist der Traiger der héheren Sinnesnerven. Wir haben gesehen, dass die Abtragung des dorsalen Schlund- ganglions bei Hexapoden die Locomotion nicht aufhebt. Dagegen giebt die unilaterale Zerst6rung desselben ausnahmslos Kreisbewegung nach der unverletzten Seite, d. h. also die gesuchte Zwangsbewegung, woraus unmittelbar folgt, dass das dorsale Schlundganglion das allgemeine Bewegungscentrum enthilt. In Verbindung mit der Thatsache, dass es auch den héheren Sinnesnerven als Ursprungsstitte dient, haben wir zu schliessen, dass das dorsale Schlundganglion das Gehirn darstellt. Ein anderes Ganglion kommt aus dem oben angegebenen Grunde hierbei gar nicht mehr in Betracht. Ein besonderes Interesse beanspruchen in dieser Beziehung die Larven der Insecten, aus denen durch Metamorphose das Insect hervor- geht. Geradezu wunderbar erscheint die Reihe der Entwickelungen von der Raupe zum Schmetterling, wobei eine [morphologische Ver- iinderung vor sich geht, wie sie grésser gar nicht gedacht werden kann. Die Raupe, besonders die weichhiiutige, erscheint der fliichtigen Be- trachtung viel mehr als ein Annelid, wihrend der Schmetterling eine ganz exquisite Form von Insecten vorstellt. der tracheaten Arthropoden. 117 Betrachtet man morphologisch die Nervensysteme der Larve und des entwickelten Thieres, wie sie in den Fig. 38 und 39 fiir Coccinella (Marienwiirmchen) dargestellt sind, so sieht man, dass das Nervensystem der Larve die lange Streckung und die reiche Zahl von Ganglien der Bauchkette hat, wie Fig. 38. jenes der Anneliden, wo zu jedem Segment ein Ganglion gehort, withrend bei dem Kifer durch Zusammentties- sen mehrerer Ganglien jener primitive Zustand schon erheblich ver- wischt ist. Indem das Experiment aber zeigt, dass die einseitige Durchschneidung des Dorsalganglions bei der Raupe sowohl wie bei ihrem Schmetter- linge die typische und gleiche Zwangsbewe- gung giebt, charakte- risitt es das Dorsal- ganglion beider so sehr different aussehender 7. Thierformen als Ge- \ G?—G> hirn und zeigt damit, dass das Central- nervensystem _ beider IN Nervensystem des Thiere trotz ihrer \ ouae Yeon a morphologischen Un- Nervensystem der Larve G Gehirn, Sg Suboesophagl., eleichheit seinem inne- von Coccinella. G@ bis G" Ganglien ren Werthe nach das- @ eae Sg Subvesophagl., pate ae selbe ist: gewiss ein scenes sehr interessantes Re- sultat dieser ganzen Betrachtung, durch welche das so ausserordent- lich Wunderbare der Metamorphose der Insecten unserem Verstiind- nisse doch etwas niher geriickt wird, wenn wir wissen, dass Larve und fertiges Thier von dem gleichen Nervensysteme beherrscht werden. 7 118 Myriopodengehirn. C. Die Myriopoden. Die entwickelten Myriopoden Lithobius forficatus, Scolopendra morsitans, sowie Julus terrestris machten simmtlich nach Abtragung der einen Kopfseite, d. h. des Dorsalganglions, oder nach Dureh- schneidung der Commissur der einen Seite Zwangsbewegungen, wo- durch der Beweis erbracht ist, dass das Dorsalganglion, da es auch den hoheren Simnesnerven zum Ursprung dient, ein echtes Gehirn ist. D. Die Anneliden. -Morphologisch schhesst sich das Centralnervensystem der Anne- liden direct an jenes der Arthropoden an. Der Unterschied besteht im Wesentlichen darin, dass das dorsale Schlundganglion bei den Anneliden geringer ausgebildet ist. Da es aber nichtsdestoweniger ebenfalls den héheren Sinnesnerven zum Ursprunge dient, so kénnen wir vermuthen, auch in ihm das Gehirn zu finden. Schneidet man das Vorderende des Thieres einfach ab oder rottet man isolirt das dorsale Schlundganglion aus, so macht das restirende Thier immer noch Locomotionen, die man zuniichst gar nicht yon jenen des unversehrten Thieres unterscheiden kann. Dieses Verhalten spricht, wie wir wissen, noch nicht gegen die Existenz des allgemeinen Be- wegungscentrums, aber wir miissen ein solches ablehnen, wenn wir finden, dass auch die einseitige Abtragung dieses Ganglions oder die einseitige Durchschneidung der dorsoventralen Commissur keine Aende- rung in der geradlinigen Bewegung hervorruft. Diese Beobachtung ist in der That ausnahmslos bei allen den untersuchten Anneliden gemacht worden. Daraus aber folgt nothwendig, dass das dorsale Schlundganglion der Anneliden kein Gehirn ist. Zu vermuthen, dass etwa eines der Bauchganglien das allgemeine Bewegungscentrum enthilt, hat keime Berechtigung. Zwar haben wir nirgends innerhalb der Bauchkette eime einseitige Zerstérung der Ganglien ausfiihren kénnen, aber die bisher gewonnenen Erfahrungen iiber das allgemeine Bewegungscentrum, das wir stets im Kopftheile angetroffen haben, gestatten den Schluss, dass ein allgemeines Bewegungs- centrum in der Bauchkette nicht vorhanden ist. Wie sehr auch das dorsale Ganglion der Anneliden demselben Gebilde der Arthropoden homolog sein mag, analog ist es jenem nicht, denn bei den Arthropoden ist es ein wahres und echtes Gehirn, analog dem der Wirbelthiere; bei den Anneliden ist es eben kein Gehirn, sondern ein Gebilde sui generis, welchem wir durch einen besonderen Namen den eigenartigen Charakter aufdriicken wollen. Sinneshirn der Wiirmer. 119 Ist das fragliche Gebilde kein Gehirn, so enthilt es doch zweifellos von den beiden Charakteren, welche das Gehirn definiren, das eine Element, die Ursprungsstiitte der hoheren Sinnesnerven. Es ist also ein dem Gehirn verwandtes Gebilde und nennt man das Gehirn, Cere- brum, so wiirde sich empfehlen, das dorsale Schlundganglion der Anneliden ein Cerebroid zu nennen und demnach das Centralnerven- system der Anneliden sich zusammensetzen zu lassen aus dem Cerebroid- ganglion und dem Bauchmark, wihrend.das Centralnervensystem der ‘Arthropoden aus dem Cerebralganglion und dem Bauchmark besteht. Das Cerebroid kénnte man wohl passend mit Sinneshirn verdeutschen. E. Die unsegmentirten Wiirmer, Das Centralnervensystem der unsegmentirten Wiirmer besteht nach der iilteren anatomischen Lehre aus einem einzigen Ganglion, welches die Lage des dorsalen Schlundganglions hat. Von diesem Ganglion entspringen neben einigen kleinen Nervenfiidchen, welche nach vorn ziehen, zwei grdssere Nervenstiimme, welche lings der Seitenriinder des Korpers fast deren hinteres Ende erreichen. Nach der allgemeinen physiologischen Erfahrung, dass jede auto- matische Bewegung durch Ganglienzellen und niemals durch Nerven- fasern eingeleitet wird, kénnen wir bei diesen Thieren ohne Versuch voraussagen, was eintreten wird, wenn wir das einzige Ganglion ab- tragen: Diese Thiere werden durchaus bewegungslos werden. Versuche, welche wir an Planarien und Nemertinen angestellt haben, lehrten indess, dass trotz der Abtragung ihres Vorderendes, wobei ohne Zweifel jenes Ganglion mit entfernt war, die Locomotion nicht aufgehort hatte. Wir miissen durchaus schliessen, dass bei diesen Thieren neben jenem Schlundganglion noch andere Ganglien yorhanden sein miissen, von denen jene Bewegung ausgeht, nachdem das Kopf- ende des Thieres abgetragen worden ist. In der That hat die Mor- phologie schon gefunden, dass man auf jenen beiden Seitennerven regelmissig verstreut kleinere Ganglien vorfindet, welche, wie unser Versuch zeigt, schon so weit gekriftigt sind, um ihrerseits der Bewegung vorstehen zu kénnen. Da auch die einseitige Zerstérung des vor- dersten Ganglions nach Loeb zu Kreisbewegungen nicht fiihrt, so kann von einem Gehirne nicht die Rede sein. Thatsichlich nur ein Ganglion besitzen die Wiirmer vom Charakter der Distomeen, unter denen uns Distomum hepaticum den Typus vertreten mége. Hier lehrt der Ver- such, dass nach Decapitirung die Locomotion aufhért und ohne Ver- such kann man sagen, dass die einseitige Zerst6rung dieses Ganglions die geradlinige Bewegung in eine drehende verwandeln wird, unter 120 Sinneshirn gleichzeitiger Lihmung der Seite, auf welcher die eimseitige Zerstorung — stattgefunden hat. Welche Stellung kommt diesen Nervensystemen zu? Was das Nervensystem der Nemertinen und Planarien anbetrifft, so hat es, functionell betrachtet, im Ganzen und Grossen durchaus den gleichen Werth wie jenes der Anneliden, also auch neben dem Bauchmark ein Sinneshirn innerhalb eines Dorsalganglions. Selbst der Unterschied besteht nicht, dass nimlich der nervése Verkehr zwischen den beiden K6rperhilften nur durch das Dorsalganglion ver- mittelt werden kann, wihrend bei den segmentirten Wiirmern ein solcher Verkehr in jedem Segmente stattfindet, seitdem man bei den unsegmentirten Wiirmern eine Anzahl von Queranastomosen zwischen den Seitennerven kennt. Indess erscheint dies nicht von maassgebender Bedeutung. Das Wesentliche ist, dass auch bei diesen unsegmentirten Wiirmern in ihren Segmenten eine Locomobilitit vorhanden ist, welche der unmittelbaren Leitung des Dorsalganglions nicht unterliest. Ganz anders liegt die Sache fiir die Distomeen, bei denen das Dorsalganglion das einzige Ganglion des ganzen Korpers ist, in welchem alle centripetalen Erregungen landen, um sich in die centrifugalen Ent- ladungen, die Bewegung, umzusetzen. Wir diirfen hier weder vom Gehirn noch vom Bauchmark reden, hier haben wir beide vereinigt in ihrer primiren Formation vor uns. Das Nervensystem von Distomum hepaticum zeigt uns in Wahrheit den Typus des elementarsten Nervensystems, wie wir es in Zukunft auch als elementares oder primitives Nervensystem bezeichnen werden. Um die elementaren Eigenschaften des Centralnervensystems kennen zu lernen, miisste man sich folgerichtig an dieses Nervensystem wenden — falls die technischen Schwierigkeiten hier ein Eindringen gestatten, was wir vorliufig noch verneinen konnen. F. Die Mollusken. Wir werden die Frage nach dem Gehirnganglion zuniichst an den einfacheren Mollusken zu lésen versuchen. Als solche kommen in Betracht die Gastropoden und unter diesen besonders die Pulmonaten, die Heteropoden und Pteropoden. Am bequemsten experimentirt man an den pelagischen Hetero- poden. Das dorsale Schlundganglion von Pterotrachaea mutica ist sehr entwickelt, zugleich die Ursprungsstitte fiir die Nerven hoch ent- wickelter Augen und Ohrbliischen; kein Zweifel, dass wir hier das Gehirn zu suchen haben, wenn ein solches iiberhaupt vorhanden ist. Wir tragen dasselbe ab, ohne dass die Locomotion aufhért; sie erfahrt auch in dem Falle unilateraler Zerstérung keme merkbare Veriinde- der Molluskeny 121 rung. Daraus aber folgt, dass das dorsale Schlundganglion der Pteropoden niemals Gehirn sein kann. Sehen wir uns nach der Bauchkette um, so besteht dieselbe be- kanntlich aus einem einzigen Ganglion, welches das Pedalganglion heisst, nach dessen Zerstorung alle Locomotion aufhort. Das Pedal- ganglion ist also zweifellos das allgemeine Bewegungscentrum und man kénnte Kopf- und Pedalganglion vereinigen und meinen, dass die Mollusken als Centralnervensystem eben nur ein wohl charakterisirtes Gehirn besitzen, Dass die beiden Ganglien bei den Pteropoden um die halbe Liinge des Thieres aus einander liegen, kann dagegen nicht geltend gemacht werden; denn es giebt Mollusken (Heteropoden, Cephalopoden), bei denen die verbindenden Commissuren auf ein Minimum reducirt sind. Was das allgemeine Bewegungscentrum anbetrifft, so lage hier eine gewisse Identitit mit dem Verhalten bei den Krebsen vor, wo nach Abtragung des allgemeinen Bewegungscentrums die Locomotion aufhért, wiihrend die Extremitiiten selbst noch Bewegungen ausfiihren kénnen. Bei unserem Weichthiere ist indess der Sachverhalt insofern ein ganz anderer, als mit der Locomotion iiberhaupt jede andere - Bewegung vernichtet ist. Dieser Unterschied gegen das allgemeine Bewegungscentrum der Arthropoden kennzeichnet sich noch deutlich durch ein Weiteres. Es ist ein fundamentaler Charakter des allgemeinen Bewegungs- centrums, dass seine einseitige Zerstérung Zwangsbewegungen giebt. Um dieses Verhiiltniss fiir die Mollusken zu _ entscheiden, wihlen wir einen Heteropoden, nimlich Cymbulia Peronet, wo die unilaterale Zerstérung relativ leicht auszufiihren und mit Sicherheit zu controliren ist. Das Resultat dieses Versuches ist, dass das Thier in der That seine geradlinige Bewegung aufgiebt und sich im Kreise herumdreht. Trotzdem ist das nicht die Zwangsbewegung, welche wir von den Wirbelthieren und den Arthropoden her kennen, denn die Zwangsbewegung von Cymbulia geht einher mit einer Lahmung derjenigen Seite, auf welcher das Ganglion halbseitig zerstort worden war. Es ist aber eine charakteristische Higenschaft der echten Zwangs- bewegungen, dass bei ihnen eine periphere Storung fehlt. Aus alle dem folgt, dass die obige Unterstellung nicht zulissig ist; wir kénnen das Dorsal- und Pedalganglion nicht zu einer Emheit ver- binden, sondern wir miissen beide getrennt lassen, wie sie auch die Morphologie trennt. Weiter aber ergiebt sich, dass das dorsale Ganglion der ge- nannten Mollusken kein Gehirn ist, sondern, wie das Dorsal- ganglion der Anneliden, ebenfalls nur ein Cerebroidganglion darstellt, 122 » Sinneshirn ein Sinneshirn, und als solches der Sitz der Centren fiir Sinnesnerven ist. Das Pedalganglion repriisentirt die Bauchkette. Da der Leib der Mollusken nicht segmentirt ist, so braucht dieses Ganglion nicht aut die Vereinigung mehrerer Ganglien zuriickgefiihrt zu werden; es scheint vielmehr diese Unitiit eme primire Bildung zu sein. Wie die einfacher zu iibersehenden Formen Pterotrachaea und Cymbulia verhalten sich ohne Zweifel die Gastropoden von dem Typus der hier untersuchten Formen Aplysia depilans und Pleurobranchea Meckelii. Voraussichtlich auch die itibrigen Mollusken, imsoweit ihr Nervensystem den gleichen Bau aufweist, was hier niher zu unter- suchen nicht unsere Aufgabe ist. Einer besonderen Betrachtung ist der Octopus zu unterziehen. Sein dorsales Schlundganglion ist nicht Gehirn, weil die einseitige Zerstérung desselben keine Zwangsbewegung erzeugt. Zu diesem Resul- tate hiitte eigentlich auch schon die Morphologie kommen sollen, da aus diesem Hirntheil die héheren Sinnesnerven nicht austreten; indess konnte sie supponiren, dass, wenn diese héheren Sinnesnerven auch nicht sichtbar aus dem Ganglion austreten, sie doch in dessen Sub- stanz ihre Wurzel haben und dass sie in der Substanz der Ganglien- masse selbst weiterlaufend makroskopisch unsichtbar in die betreffen- den nervésen Centralgebilde fiir diese Sinnesorgane eintreten, was bei diesem so dicht zusammenliegenden Nervensysteme des Octopus sehr wohl der Fall sein konnte. Indess lehrt der oben ausgefiihrte Versuch, dass diese Voraussetzung zunichst fiir den Sehnerven nicht zutreffend ist; denn der Octopus befindet sich nachweisbar im Besitze seines Sehvermogens, auch noch nach Abtragung des Dorsalganglions. Fiir den Gehornerven stellt sich das Gleiche heraus: Wie wir weiterhin noch sehen werden, fiihrt die Zerstérung einer oder beider Gehdrblasen zu specifischen Storungen des Gleichgewichtes. Dieselben miissten in gleicher Weise auftreten, wenn wir die Wurzeln der Nerven der Gehoérblasen zerst6ren, was, wie wir gesehen haben, nicht der Fall ist. Daraus aber folgt, dass auch die Gehérnerven nicht in dem Dorsalganglion wurzeln. Mit diesem Nachweis hat aber auch die morphologische Berechti- eung aufgehdrt, das Ganglion als Gehirn zu bezeichnen, so dass die Resultate der Morphologie und Physiologie in voller Uebereinstimmung denselben Punkt treffen. Wenn wir nunmehr fragen, welche Bedeutung dem Dorsalganglion des Octopus zukommt, so kommen hierfiir in Betracht die Thatsachen, dass nach Entfernung jenes Ganglions der Octopus die Fihigkeit ver- loren hat, 1. seine Nahrung selbstiindig zu nehmen; dass er 2. im Allgemeinen die willkiirliche Bewegung eingebiisst hat, und dass 3. seine 2 der Coelenteraten. 123 ganze Intelligenz so zu sagen auf die Stufe des Idioten herabgedriickt worden ist. Diese Functionen gehéren, wie wir von den Wirbelthieren wissen, im Allgemeinen dem Grosshirn an, so dass wir an der Hand jener Er- fahrungen dem Dorsalganglion des Octopus den Werth eines ,Gross- hirnes* zuerkennen miissen. Wir versetzen uns damit in die merk- wiirdige, bisher wohl noch nicht dagewesene Lage, ein Grosshirn zu haben in einem Nervensystem, das kein Gehirn hat, wiihrend nach den ilteren landliufigen Anschauungen, namentlich auf Grund der Morphologie, ein Grosshirn ohne Gehirn nicht gut zu denken ist, da sich jenes aus diesem entwickelt. Trotzdem ist es nicht schwer, den Sachverhalt zu erkennen, doch soll die Auseinandersetzung hieriiber weiterhin erst gegeben werden. Wie der Octopus verhalten sich auch die Sepien (Tintenfische). Die Unterschlundganglionmasse ist im Wesentlichen Pedalganglion (wie bei den anderen Mollusken); dass sich hier vorn das Brachial- ganglion und hinten das Visceralganglion anschliessen, ist fiir unsere Betrachtung ohne Bedeutung. G. Die Appendicularien, Echinodermen und Coelenteraten. Keiner der obigen Versuche hat uns bei diesen Thieren zu der Einsicht gefiihrt, dass dieselben ein Gehirn haben kénnten. Aber sie kdnnen so viel Sinneshirne besitzen, als héhere Sinnesorgane vorhan- den sind; so die Seesterne, welche so viel einzelne Sinneshirne aufweisen, als ihnen Radien eigenthiimlich sind, da an dem peripheren Ende eines jeden Radius ein Auge sitzt, welches in einem Sehganglion wurzeln muss. (Von den augenartigen Bildungen der Seeigel wollen wir absehen.) Weiter haben vielfache Sinneshirne unter den Coelen- teraten die Medusen in den oben geschilderten Augen- und Ohrblischen. Wir kénnen hierbei einen Unterschied zwischen vollig entwickelten oder noch in Entwickelung begriffenen Sinnescentren nicht machen, sondern miissen Weiteres in dieser Richtung der Zukunft iiberlassen. Eine ganz andere Frage ist endlich, welche Stellung das Nerven- system jener Thiere unter den iibrigen Evertebraten einnimmt, worauf wir noch spiter zuriickkommen werden. 124 Bauchmark. Zweites Capitel. Das Bauchmark. Wenn man das Centralnervensystem, z. B. des Flusskrebses, in semen Functionen vergleicht mit dem eines beliebigen Fisches, wenn man dabei absieht von dem Wirbelskelett bei dem letzteren, so kommt man sehr bald zu der Ansicht, dass Riickenmark und Bauchmark im Grunde genommen dasselbe Organ sind, d. h. dass sie im Wesentlichen hier und dort die gleichen Functionen verrichten, also analoge Bildungen sind, wobei es ohne Belang ist, dass im Falle des Riickenmarkes es sich um eine continuirliche Gestaltung handelt, bei welcher in jedem Querschnitt Nervenzellen und Nervenfasern liegen, wihrend im Falle des Bauch- markes die Ganglienzellen als Ganglienknoten in gewissen Abstiinden auftreten, in welchen wieder nur Nervenfasern vorhanden sind. Was die Gleichheit ausmacht, ist die Thatsache, dass aus den Ganglienzellen in beiden Fallen Nerven austreten, welche zu willkiir- lichen Muskeln gelangen, dass diese Muskeln gelihmt sind, wenn ihre Ursprungsganglien zerstért werden. Ferner sehen wir, dass von der Peripherie her Nervenfasern in das Ganglion eintreten, dass die Rei- zung dieser Nerven nicht allein Bewegungen der niachst gelegenen Muskeln erzeugt, sondern auch von ferner gelegenen Muskeln, z. B. der Gliedmaassen auf der gegeniiberliegenden Seite u. s. w., eim Vorgang, welchen wir als eine reflectorische Bewegung bezeichnen. Diese Charaktere geniigen vollkommen, um dem Bauchmark des Krebses den Werth des Riickenmarkes eines Fisches zu vindiciren, d. h. sie analog zu setzen. Hierzu kommt noch eine weitere Eigenthiimlichkeit des Riicken- markes, welche darin besteht, dass die einzelnen Organe regelmissig aus mehreren Spinalnerven versorgt werden, d. h. dass die Spinalnerven nicht innerhalb ihrer Metameren bleiben, sondern in die Nachhbar- metameren hiniibergreifen. Fiir das Bauchmark des Krebses diirfte das- selbe gelten: Das Scheerenglied sollte seiner Lage nach nur in dem zweiten Bauchganglion wurzeln; thatsichlich haben wir seine Wurzel in das dariiber gelegene erste Bauchganglion (Unterschlundganglion) verfolgen kénnen. Ebenso miisste der dritte Gehfuss in dem fiinften Bauchganglion wurzeln, doch wurzelt er zweifellos auch in dem vierten Ganglion, denn nach der Durchschneidung der Liingscommissur zwi- schen dem vierten und fiinften Ganglion ist er nicht allem dem Ein- Bauchmark. 125 flusse des Willens entzogen, sondern auch seine reflectorische Thiitig- keit ist sehr viel geringer, als jene des vierten Gehfusses. Was wir fiir die zwei Extremitiiten bewiesen haben, diirfte wohl auch auf die anderen Anhinge anzuwenden sein. Dagegen scheint bei den Evertebraten die Sonderung der austretenden Wurzeln in die beiden Functionen der Empfindung und Bewegung zu fehlen, wenig- stens waren die darauf gerichteten Bestrebungen, einen solchen Fund zu machen, bisher resultatlos geblieben. Ich selbst habe dariiber keine Erfahrungen. Ob jenes negative Resultat ein definitives bleiben soll, das wird die Zukunft noch zu lehren haben. Keinesfalls kann uns dieser Ausfall in der ausgesprochenen Auf- fassung irre machen, dass das Bauchmark der Crustaceen dem Riicken- marke der Wirbelthiere analog ist. Und was von dem Bauchmarke der Crustaceen gilt, muss auch gelten von den iibrigen Arthropoden und den Anneliden. Doch besteht zwischen dem Bauchmarke der Crustaceen und jenem der anderen eben genannten Evertebraten noch ein Unterschied, indem nimlich die Bauchganglien der Crustaceen im Wesentlichen nur die eine Function verrichten, dass in ihnen Bewegungen einzelner Muskeln oder einzelner Gliedmaassen zu Stande kommen, ohne dass damit eine Orts- bewegung erzielt werden kann: eine locomobile Fihigkeit besitzen sie nicht (abgesehen von den Asseln). Die locomobile Fihigkeit ist aber geradezu ein Charakter der Bauchkette der iibrigen Arthropoden und der Anneliden: wir miissen uns vorstellen, dass jedes Ganglion in sich die Bedingungen vereinigt, um eine Ortsbewegung seiner Metamere zu erzeugen, selbst wenn wir eine solche aus mechanischen Griinden etwa nicht sollten zu Stande kommen sehen. In diesem Punkte scheint die Bauchganglienkette der tracheaten Arthropoden und der Anneliden ganz gleichartig zu sein. Trotzdem kénnte auch hier noch ein Unterschied bestehen: es kénnte niimlich die Locomobilitiit der Ganglien bei den Anneliden eine kriiftigere sein, als bei den Insecten, weil bei den letzteren ein Theil ihrer loco- mobilen Fihigkeit nach vorn zur Bildung des allgemeinen Centrums abgegeben worden ist, von den Anneliden nicht. Eine solche Kraft- verminderung in den Bauchganglien der Insecten ist wohl vorstellbar; ob sie aber in der That vorliegt, das kénnen wir nicht wissen, da jede Methode fehlt, um diese Kraftleistungen messend zu vergleichen. Bei den unsegmentirten Wiirmern ist es keine Bauchkette mehr, sondern es sind zwei in gewissen Abstiinden mit Ganglienzellen belegte seitliche Nervenstringe, zwischen denen auch Commissuren vorhanden sind. Da dieses Nervensystem auch ohne das Dorsalganglion loco- mobile Fahigkeit besitzt, so steht es functionell durchaus auf einer 126 Centralnervensystem als Einheit. Stufe mit dem Bauchmarke der Anneliden — so weit sich das zur Zeit iibersehen liisst. Die Wiirmer vom Charakter der Distomeen kommen gar nicht in Betracht, da sie weder einen Bauchstrang noch ein ihm dhnliches Gebilde besitzen. Bei den Mollusken hegt auf der Bauchseite nur ein Ganglion, das Pedalganglion, welches zugleich das eimzige Bewegungs-, also auch Locomotionscentrum des Kérpers ist, denn nach seiner Zerstérung hort jede animale Bewegung auf. Da der Leib nicht segmentirt erscheint, so geht daraus hervor, dass das Pedalganglion eine primitive Bil- dung ist und sich nicht aus dem Zusammentliessen mehrerer Ganglien ableiten lisst. Wie dem auch sei, functionell erscheint das Pedalganglion als eine dem Bauchstrang der Arthropoden und Anneliden gleichartige Formation, als eine analoge Bildung. Drittes Capitel. Das Centralnervensystem als Einheit. Sipile Allgemeine Betrachtungen. Wir haben festgestellt, dass ein Theil der Wirbellosen em echtes Gehirn, ein Cerebrum, hat; das waren simmtliche Gliederthiere bis hinab zu den Anneliden. Anderen Gruppen fehlt ein echtes Gehirn; sie haben ein unechtes Gehirn oder ein Sinnesgehirn, Cerebroid, so bezeichnet, weil das jenen homologe Dorsalganglion nur die Wurzeln der héheren Sinnesnerven enthilt; so beschaffen sind die Anneliden und die Mollusken. Nicht minder aber auch unter den Echinodermen die Seesterne und unter den Coelenteraten die Medusen, wo jedes Thier nicht nur ein Sinneshirn, sondern deren mehrere besitzt, wie oben (S. 123) ausgefiihrt worden ist. Welcher Unterschied darin liegt, ob ein Thier, ein Gehirn besitzt oder ob ein solches fehlt, sieht man am sinnfilligsten, wenn man zwei Thiere neben einander stellt, deren Centralnervensystem principiell gleich gebaut ist, von denen wir aber bei dem einen ein Gehirn constatirt, bei dem anderen es vermisst haben. Das ist z. B. Maja verrucosa (Fig. 40 a. S. 128) aus der Gruppe der Crustaceen und Aplysia — Centralnervensystem als HKinheit. 127 ¥ depilans (Fig. 41 a. 8. 129) unter den Mollusken. Bei beiden besteht das Centralnervensystem, einfach betrachtet, eigentlich nur aus dem Schlundringe, wobei es natiirlich ohne Belang ist, ob die dorsoventralen Commissuren etwas liinger oder etwas kiirzer sind, da diese Commis- suren auch sonst sehr verschiedene Liinge besitzen. Wenn man die dorsoventrale Commissur der einen Seite z. B. rechts durchschneidet, so geriith Maja in eine nach links gerichtete Kreisbewegung, die sie stets beibehiilt, Aplysia wandelt aber ohne Aenderung ihre alte willkiirliche Bahn. Nichts vermag augenfiilliger diesen Unterschied zwischen den scheinbar gleichen Nervensystemen zu verdeutlichen, als dieser Ver- such! Dieselbe Betrachtung lisst sich anstellen fiir den Julus terrestris aus den Myriopoden und etwa Diopatra neapolitana unter den Anne- liden: bei beiden neben einem Dorsalganglion eine langgestreckte Bauchganglienkette, so dass die Systeme beider Thiere, die auch ausser- lich bei oberfliichlicher Betrachtung viel Aehnlichkeit haben, genau gleich aussehen. Aber bei Julus giebt die Durchschneidung der Dorso- ventralcommissur Zwangsbewegung, bei Diopatra neapolitana bleibt die Richtung der Bewegung unveriindert. Der tiefere Sinn dieser Erscheinung liegt darin, dass im Falle des Gehirnes die specifischen Locomotionsorgane, die Muskeln, eine bis zum Dorsalganglion hinaufreichende Beziehung haben, welche den nicht hirnbegabten Thieren fehlt. Da die Muskeln aber ein erstes Innervationscentrum schon im Bauchmark besitzen, so ist diese weiter zum Dorsialganglion reichende Beziehung nichts Anderes als ein secundires Innervationscentrum fiir die willkiirliche Musculatur. Nachdem wir oben das allgemeine Bewegungscentrum als das Centrum charakterisirt haben, in dem die willkiirlichen Muskeln eine nochmalige Innervation erfahren, so sind secundires Muskelcentrum und allgemeines Bewegungscentrum principiell dieselbe Formation. Und es geht daraus weiter hervor, dass ein Gehirn stets zu seiner Basis ein Bauchmark (resp. Riickenmark) haben muss, weil nur unter dieser Voraussetzung eine secundire Innervation der willkiirlichen Muskeln eintreten kann. Nach allen unseren Voraussetzungen, die wir bisher haben machen diirfen, ist gewiss, dass das eben Gesagte genau in der gleichen Weise auch fiir die hirntragenden Wirbelthiere gelten muss, wo wir in der That schon gleiche Betrachtungen angestellt haben, indess treten die Verhiltnisse hier, wo die einzelnen Centren durch distincte anatomische Commissuren sich gegen einander absetzen, mit viel mehr Klarheit und Schirfe in die Erscheinung, so dass man den Sachverhalt ganz direct aus den Versuchen ablesen kann. 128 Centralnervensystem als Hinheit. Das Verhiltniss, wie es in dem secundiiren Centrum des Gehirns gegeben ist, liisst sich auch so ausdriicken, wie ich es friiher schon gethan habe, nimlich es anatomisch-physiologisch als die ,,fiihrende Metamere* zu bezeichnen, deren Herrschaft die Thatigkeit aller tibrigen Fig. 40. Nervensystem des Taschenkrebses (Maja verrucosa). sp Cerebralganglion, s Brustganglion, s, Dorsoventralcommissur. Metameren unterliegt. Die Anregung zu den Bewegungen erhilt dieses Centrum durch die Reize, welche siimmtlichen Sinnesorganen von der Aussenwelt zustro6men und welche durch die Sinnesnerven auf das Bewegungscentrum iibertragen werden. Von hier aus erfolgen dann die weiteren Anregungen zur Intriebstellung der Bewegungsorgane durch Centralnervensystem als EKinheit. 129 Uebertragung auf die primiiren Centren, die Ganglien des Bauch- stranges. Nothwendig erscheint nun auch fiir den ungestérten Ablauf dieses Mechanismus, dass das secundiire Centrum eine hoéhere Erreg- barkeit hat, als sie die pri- miiren Centren der Bauch- kette besitzen, was ich eben- falls schon friiher ausgefiihrt und durch Versuche zu be- weisen mich bemiiht habe 4). Zu diesen Beweisen haben wir auf 8. 104 einen neuen hinzutreten sehen: nach Durchschneidung der Liings- commissur zwischen dem vierten und fiinften Bauch- ganglion beim Krebse, z. B. rechterseits, gerathen auf Reizung der linksseitigen Extremitiiten die Extremi- tiiten beider Seiten in Be- wegung, gar nicht oder nur schwierig die beiden Fiisse, welche unterhalb der Durch- schneidungsstelle liegen. Das begreift man dann, wenn man schliesst, dass die directe und_ kiirzere Reflexbahn vom Reize nur dann betreten wird, wenn der liingere Weg iiber das Gehirnganglion verlegt ist. Das fiihrt direct zu der eben ausgesprochenen Annahme, dass das allgemeine Bewe- gungscentrum eine hdhere Erregbarkeit besitzt, als die spinalen resp. ventralen Nervensystem von Aplysia; Ce Cerebralganglion. Centren. Pe Pedalganglion, ce. pe. co. Dorsalventraleommissur. Da, wo nur ein Sinneshirn vorhanden ist, wie bei Mollusken und Anneliden, muss der Vorgang der Innervation nothwendig etwas anders ") Das Froschhirn 1885, 8S. 68 u. f. Steiner, Centralnervensystem. III. 9 130 Centralnervensystem sein; es muss die Uebertragung der yon den Sinnesapparaten kommen- den Erregungen auf eine Kette von Ganglien stattfinden, wie bei den Anneliden, oder auf ein primiires Ganglion, wie bei den Mollusken. Welcher Unterschied in der Inneryationseinrichtung bei den Mollusken mit Sinneshirn gegeniiber den hirnbegabten Arthropoden obwaltet, ist zunichst nicht zu iibersehen. Aber fiir die Anneliden erscheint es gewiss, dass die Einrichtung dieser Uebertragung inferior sein muss ¢ gegeniiber jenen beiden hirntragenden Organisationen. Wie sich diese Innervation bei den nicht segmentirten Wiirmern gestaltet, geht aus dem bisher Gesagten zur Geniige hervor, so dass von einer niheren Darstellung abgesehen werden kann. Bei dem Octopus waren wir auf das merkwiirdige Verhiiltniss gestossen, dass wir das Dorsalganglion als Grosshirn erkannt hatten in einem Nervensysteme, welches ein echtes Gehirn nicht besitzt. Es wurde dort heryorgehoben, dass dieser Fall bisher in unserer Wissen- schaft noch nicht beobachtet worden ist, und wir hatten zugesagt, diesen Sachverhalt aufzukliren. Bei den Wirbelthieren war bewiesen worden, dass das Grosshirn sich aus dem Riechcentrum, d. h. aus einem Sinnescentrum, ent- wickelt; eine Entwickelung, welche zuniichst von dem iibrigen Gehirn unabhiingig ist. Dies lehrt, dass ein Grosshirn zu seiner Entwickelung nur eles Sinnescentrums bedarf. Solche sind bei den Mollusken, 7m specie bei dem Octopus, in geniigender Ausbildung vorhanden. Es kann sich nur darum handeln, zu ermitteln, welches Sinnescentrum dem Grosshirn zu seiner Entwickelung als Unterlage gedient hat. Der Octopus hat ein auffallend grosses Auge und ein ebensolches Sehcentrum (Opticusganglion). Folgen wir den Haifischen, wo jenes Gesetz gefunden worden ist, an der Hand eines sehr grossen Riechcentrums, so erscheint es am wahrscheinlichsten, dass das Grosshirn des Octopus sich aus dem Sehcentrum entwickelt hat. Der Vorgang mag folgender gewesen sein: In einem friiheren ontogenetischen Stadium enthielt bei dem Octopus das Dorsalganglion das Sehcentrum, wie wir es in erwachsenem Zustande bei den anderen Mollusken sehen. Darauf kam es zu einer Abspaltung des Grosshirns aus diesem Sehcentrum, welches letztere nunmehr, da es auf dem Oesophagus keinen Platz mehr hatte, entlang der dorsalen Commissur seitwiirts nach unten glitt. Solche Verschiebungen der Ganglien entlang den Commissuren sind bei den Wirbellosen nichts Neues: an der Bauchkette sehen wir sie da, wo die zahlreichen Ganglien zu zwei oder einem Ganglion verschmelzen. Aber auch innerhalb des Dorsalganglions sehen wir bei Cymbulia wie nach Degeneration des Augenapparates der Rest des als Einheit. 131 Dorsalganglions entlang der Dorsoventralcommissur zu dem Pedal- ganglion herabgleitet, dem aufliegend wir es vorfinden, Ob diese Betrachtung fiir den Octopus resp. die Mollusken richtig ist, muss das Studium ihrer Ontogenie lehren. Es ist iibrigens moéglich, dass in dem Dorsalganglion der anderen Mollusken neben dem Opticuscentrum auch schon ein Grosshirn vor- handen ist, aber wir sind aus naheliegenden Griinden nicht im Stande, diese beiden Bildungen dort functionell von eimander zu sondern, Ebenso kann es sein, dass in dem Dorsalganglion eines echten Anneliden auch ein Grosshirn aufgefunden wird, da Sinnesnerven vorhanden sind, aus denen es sich entwickeln kénnte. Hierzu wiirde ganz gut stimmen, dass Loeb (s. 8. 27) seinen segmentirten und unsegmentirten Wiirmern (auf welche dieselbe Betrachtung anzuwenden ist) Grosshirnfunctionen zuspricht und diese Qualitiiten in das dorsale Schlundganglion verlegt. Kurz, wir haben es als ein allgemeines Gesetz anzusehen, dass iiberall da, wo isolirte hédhere Sinnescentren vorhanden sind, die Basis zur Entwickelung eines Grosshirns gegeben ist. Ich komme nochmals zum Octopus und jenem Versuche zuriick, in welchem gezeigt wurde, wie das Thier ohne Dorsalganglion dem drohenden Stabe ausweicht, dagegen die Urne nicht mehr zu sich heranzieht, auch seine Nahrung nicht mehr zu finden weiss. Es ist wohl der Schluss gestattet, dass der Octopus, wie er den Stab sieht und ihm ausweicht, so auch Urne und Nahrung sehen mag. Wenn ihn diese Objecte nicht mehr adiquat erregen, so geniigt zur Erklirung die Annahme, dass er ihre Bedeutung vergessen hat. Betrachten wir diese Schliisse im Lichte der Anschauungen, welche in den letzten Jahren im Gebiete der Grosshirnfunctionen der hoheren Wirbelthiere und des Menschen durch H. Munk und Andere entwickelt worden sind, so erscheint unser Octopus seelenblind, indem er nachweisbar sehend ist, ohne aber die gesehenen Objecte in ihrer Bedeutung zu erkennen, die seinem Gedichtnisse entschwunden ist. Wenn er dem Stabe ausweicht, so handelt es sich um einen reti- nalen Reflex, den ich in ihnlicher Weise schon fiir den Frosch be- schrieben habe (s. Froschhirn, 8. 66). §. 2, Die Leitungsbahnen im Centralnervensystem. Um die Leitungsbahnen des Centralnervensystems festzulegen, wiihlen wir wieder den Krebs, der unter den Evertebraten sich am meisten zu diesem Unternehmen eignet. g* 152 Leitungsbahnen Entsprechend der Anatomie haben wir eine Anzahl von Bauch- ganglien, welchen sich nach vorn das Dorsalganghon anschhesst, das nach unseren Feststellungen als Gehirn eine Fiihrerrolle ausiibt. Von hier aus gehen centrifugale Erregungen, welche auf jene Ganglien der Bauchkette auf dem Wege der Lingscommissuren iiber- tragen werden. Wie dieser Vorgang sich im Einzelnen abspielt, wie es zu den verschiedensten Bewegungen hierbei kommt, das zu untersuchen, ist hier nicht unsere Aufgabe. Andererseits werden Reize von der Peripherie zu dem niichsten Ganglion als Centrum getragen, wo eine Aufwirtsleitung wiederum durch die Liingscommissuren nach dem vordersten Ganglion stattfindet, oder eine Uebertragung auf die andere Seite durch die Quercommissuren eintritt. Die Innervation verliefe demnach, wie in dem nebenstehenden Schema, Fig. 42, wonach von dem Hirnganglion, dem vordersten, alle Locomotion ausgeht, wiihrend die Bauchganglien nicht locomobil sind Fic. 42. und nur von jenem in Bewegung gesetzt werden oder von der ; Peripherie her, wenn eine einfache Reflexbewegung in ihnen ausgeldst werden soll. Dieser Vorstellung entsprechen die Beobachtungen, dass der Krebs seine Locomotion einstellt, wenn das Dorsal- ganglion abgetrennt wird und dass die Locomotion bestehen bleibt nach doppelseitiger Durchschneidung der Lingscom- missur zwischen dem vierten und fiinften oder auch zwischen dem dritten und vierten Bauchganglion, weil die vorderen Beine ausreichen, um den Korper noch zu tragen, obgleich die hinteren Beine gelihmt sind und nur nachgeschleift werden. Hingegen fallen die Schwimmbewegungen aus, weil der Schwanz das eigentliche Schwimmorgan ist, welches mit jenen Durchschneidungen jedesmal dem Einflusse des allge- meinen Bewegungs- resp. Locomotionscentrums entzogen ist. Es ist auch weiter verstiindlich, dass nach einseitiger Tren- Schema, Lung der Liingscommissur vom ersten zum zweiten Bauch- ganglion in Folge der Laihmung der correspondirenden, z. B. der rechten Seite, der Krebs um diese geliihmte Seite herum sich drehen wiirde; ein Versuch, dessen Ausfiihrung geplant, aber aus den angege- benen Griinden bisher nicht gelungen ist. Doch dient uns als Bestiiti- gung dieser Voraussetzung der analoge Versuch, den wir bei Cymbulia ausgefiihrt haben (s. S. 91). Durchschneidet man weiter die oberhalb des ersten Bauchganglions stehende rechte Dorsoventralcommissur, so wiirde auf Grund meines Schlusses eine Kreisbewegung entstehen, welche, da die ganze rechte Seite der Innervation entzogen ist, um im Centralnervensystem. 133 diese geliihmte Seite herum geht, d.h. in der Richtung der Verletzung. Der Versuch am Krebs ergiebt indess mit absoluter Regelmissigkeit unter den angegebenen Verhiltnissen eine Kreisbewegung nach der unverletzten Seite, d. h. eine gekreuzte Wirkung. Eine solche kann aber nur auftreten, wenn wir die Bewegungs- impulse sich kreuzen lassen, und zwar zuniichst im Cerebralganglion selbst, wie in dem nebenstehenden Schema (Fig. 43) ausgefiihrt ist. Bei genauerem Zusehen ist indess sofort klar, dass dieses Schema an der bisherigen Lage der Dinge nichts fndert, da die Durchschneidung der Dorsoventralcommissur rechterseits nach wie vor die rechte Seite lihmt, so dass die Bewegung wiederum um die verletzte Seite erfolgen wiirde — entgegen meinen Erfahrungen. Noch viel ungiinstiger fillt der Versuch an diesem Schema aus, wenn wir die einseitige Abtragung des Dorsalganglions ausfiihren: Man iibersieht, dass in diesem Falle die Leitungen aus beiden Fig. 43. Fig. 44, Fig. 45. Seiten unterbrochen wer- den und die einseitige Abtragung denselben Ef- fect haben wiirde, wie die Abtragung des ganzen Gehirns. Die Kreuzung kann demnach nur in dem er- sten Bauchganglion, dem Unterschlundganglion, vor sich gehen, und wiirde sich vollziehen, wie in dem beifolgenden Schema (Fig. 44) ausgefiihrt ist: Durchschneidet man jetzt z. B. die rechte Dorso- ventralcommissur, so wird die linke Seite geliihmt und der Krebs dreht um die linke Seite, d. h. nach der der Verletzung entgegen- gesetzten Seite, entsprechend unserem Versuche. Indess ist die Ueber- einstimmung mit dem Versuche noch keine geniigende, denn nach dem Schema wiirde die Durchschneidung der rechten Hirnseite die linke Seite liihmen und ferner kénnte es aus leicht ersichtlichen mechanischen Bedingungen nur zu einer Drehbewegung kommen, memals aber zu einer translatorischen Bewegung. In dem Experimente aber handelt es sich stets um Kreisbewegung, d. h. eine trans- latorische Bewegung im Gegensatze zu einer Drehbewegung, die ohne Translation geschieht, wie wir sie bei den Wirbelthieren in der 134 Leitungsbahnen Uhrzeigerbewegung kennen. Endlich aber fehlt, worauf ich stets von Neuem hingewiesen habe, jede Lihmung an der Peripherie. Diese Bedingungen kodnnen in der Weise erfiillt werden, dass wir die Kreuzung nicht total, sondern nur partiell geschehen lassen, mit der Einrichtung, dass die Majoritiit der Fasern (etwa zwei Drittel, um den einfachsten Fall zu wihlen) die Mittellinie tiberschreitet, withrend die Minoritiit der Fasern (ein Drittel) auf der urspriinglichen Seite bleibt. Auf diese Weise kommt es niemals zu einer peripheren Liihmung, und die Kreisbewegung muss entstehen in Folge der Differenz der Innervation, welche auf beiden Seiten zur Geltung kommt, deren absolute Grosse wir indess nicht bestimmen kénnen. Der Faserverlauf ist nunmehr zu construiren, wie in dem Schema (Fig. 45, a. v. S., mit fortlaufender Bezeichnung der Ganglien von G bis G+), aus dem man zugleich ersieht, welcher cardinale Unterschied besteht, je nachdem man die Commissur zwischen dem ersten und zweiten Ganglion der ganzen Reihe oder zwischen dem zweiten und dritten Ganglion durch- schneidet: Unterbrechen wir die Leitung z. B. rechts zwischen G und G1, so haben wir die linke Seite um zwei Drittel ihrer Innervation be- raubt, waihrend die rechte ein Drittel ihrer Innervation eingebiisst hat; keine der beiden Seiten bleibt ohne Innervation. Findet die Unter- brechung aber zwischen G! und G2 statt, so ist die rechte Seite ihrer Innervation vollstindig beraubt. Wenn wir diese grosse Kreuzung in das Unterschlundganglion verlegen, so mége dabei nicht vergessen werden, dass daneben in diesem Ganglion nach den Lehren der Anatomie auch noch die einfache Quer- commissur vorhanden sein muss, um den kiirzesten Weg zur Ver- mittelung der einen Seite mit der anderen zu haben, wie jeder einfache Reflexversuch lehrt und wie auch der Reizversuch auf 5. 103 ge- zeigt hat. Zur Feststellung der sensiblen Leitungsbahnen dient zuniichst jener Versuch, in welchem nach Durchschneidung der einen Dorsoventral- commissur Schwimmbewegungen eintreten bei Reizung der beiden Schwanzseiten. Daraus geht hervor, dass auch die sensiblen Bahnen sich partiell kreuzen und wahrscheinlich ebenfalls im Unterschlund- ganglion. Aber der zweite Versuch mit Durchschneidung der Liingen- commissur lehrt, dass der Uebergang von centripetalen Erregungen auch innerhalb der Bauchkette stattfindet. Ob man diese Bahnen als sensible bezeichnen darf, koénnte fraglich erscheinen, jedenfalls aber gehen diese Erregungen auf sensible Bahnen iiber. Was die iibrigen Arthropoden betrifft, so ist wohl anzunehmen, dass die motorische Leitung die gleiche ist, wie bei dem Krebse, da wir dort jene Versuche haben gelingen sehen, welche uns fiir den im Centralnervensystem. 135 Krebs das Material zur Construction dieser Leitungsbahnen gegeben haben. Ueber die sensible Leitung vermégen wir aber nichts auszu- sagen, da uns gleiche Versuche, wie beim Krebse, nicht zu Gebote stehen, doch ist bis auf Weiteres anzunehmen, dass sie sich wie beim Krebse verhalten. Gehen wir mit diesen Untersuchungen zu denjenigen Evertebraten, welche nur ein Sinneshirn haben, wie die Anneliden und Mollusken, so wiire die Frage zu beantworten, welchen Weg die Bahn liuft, die den umgesetzten Gesichtseindruck auf die Bauchganglien iibertriigt. Hieriiber kénnen wir nichts aussagen; es fehlt alles Material. Was die Wege betrifft, welche die motorischen Bahnen in dem Pedalganglion der Mollusken ziehen, so wissen wir aus den Versuchen an Cymbulia und Octopus, dass diese Bahnen ungekreuzt verlaufen; ebenso ungekreuzt diirften die centripetalen Bahnen sein. Das Gleiche gilt wohl auf Grund von Analogien mit dem Bauchmarke des Krebses auch fiir die Anneliden. Wie die Leitungen bei den unsegmentirten Wiirmern sich vyer- halten, folgt direct aus den obigen Versuchen und bedarf keiner be- sonderen Betrachtung. g S- oO. Theorie der Zwangsbewegungen. Obgleich wir eine Theorie der Zwangsbewegungen schon bei den Wirbelthieren entwickelt haben, so wiederholen wir die Lésung dieser Aufgabe an dieser Stelle, weil sie viel deutlicher und klarer erfolgen kann; somit auch in Zukunft der gleichen Betrachtung bei den Wirbel- thieren zur Basis dienen wird. Was wir bei den Wirbelthieren abgeleitet haben, dass, wenn die einseitige Abtragung eines gewissen Centraltheiles Zwangsbewegung giebt, dieselbe Stérung auch nach Vernichtung der von jenem Central- theile abgetrennten Leitungsbahnen eintreten miisse, das kénnen wir hier im Versuche direct darstellen, da wir diese Leitungsbahnen isolirt unterbrochen haben. Dieses Resultat verdeutlicht die Entstehung der Zwangsbewegung in hohem Maasse. Wir setzen voraus, dass bei der bilateral symmetrischen Anordnung der Bewegungsorgane des Krebses die geradlinige Bewegung durch eine bilateral gleich starke Innervation der Bewegungsorgane, der Muskeln, zu Stande kommen wird. Wiirden wir unseren Krebs der Innervation der einen Seite vollstiindig berauben, wie das in dem analogen Versuche bei Cymbulia geschehen ist, so entsteht, da es sich um eine schwere Masse handelt, eine rotirende Bewegung, undjzwar um die verletzte 136 Theorie Seite herum, genau so wie ein Kahn auf stehendem Gewiisser sich im Kreise herum drehen wird, wenn von den zwei Rudern, welche durch gleichsinnige Bewegung ihn bisher vorwirts bewegt haben, das eine seine Thitigkeit einstellt. Sind die Bahnen, welche den Inner- vationsimpuls vom Gehirn nach der Bauchkette tragen, auf derselben Seite geblieben, so wiirde nach eimseitiger Abtragung des Gehirns die Drehbewegung die gleiche bleiben; kreuzen sich jene Bahnen, so miisste die Drehbewegung nach der entgegengesetzten Seite stattfinden. Erst wenn diese Bahnen sich partiell kreuzen, kann die drehende Bewegung in eine Translation iibergehen resp.eime Kreisbewegung ent- stehen, welche in der der Verletzung entgegengesetzten Richtung vor sich geht. Wenn wir weiter fragen, welche Innervationseinfliisse es sind, deren einseitige Eliminirung nothwendig die Kreisbewegung erzeugt, so konnen wir zuniichst feststellen, dass die Erregungen, welche durch Auge und Ohr auf die Bewegungssphire einwirken, einseitig ohne Schaden fort- fallen kénnen, wie wir auch oben gezeigt haben, dass die Abtragung des Auges oder des Ohres der einen Seite niemals zur Kreisbewegung fiihrt. Es ist aber auch bei den Fischen, Amphibien und Reptilien von mir nachgewiesen worden, dass in dieser Richtung ungestraft nicht nur das Auge resp. der Sehnery, sondern auch der centrale Theil des Gehirns, die Decke des Lobus opticus, emseitig abgetragen werden kann, ohne dass darauf Zwangs- resp. Kreisbewegungen folgen. Reden wir weiter vom Krebs, so haben wir in dem Gehirn des- selben neben jenen Sinnescentren noch das allgemeine Bewegungscentrum, von dem wir friiher schon ausgefiihrt haben, dass es die Centralstation darstellt, in welcher die in den Bauchganglien segmentiir angeordneten Innervationen der willkiirlichen Muskeln in einem Punkte zusammen- gefasst werden, in welchem alle centripetalen Erregungen zusammen- laufen, um auf die centrifugalen Bahnen iibertragen zu werden. Dass die halbseitige Abtragung des Krebsgehirnes thatsichlich, soweit es sich um Erzeugung der Kreisbewegung handelt, nichts Anderes leistet, als dass damit das allgemeine Bewegungscentrum halbseitig entfernt wird, geht am klarsten aus der Thatsache hervor, dass die einseitige Durch- schneidung der Dorsoventralcommissur genau dasselbe leistet; jener Commissur, welche nichts Anderes enthalten kann, als die Gesammt- heit der centripetalen und centrifugalen Bahnen, die mit dem Gehirn verkehren, abgesehen yon den niichsten Bahnen, die dem Kopfe selbst angehéren, deren Zahl im Vergleich zu dem iibrigen K6rper nur sehr gering ist. So erscheint es vollkommen klar, dass, wenn mit der halbseitigen Abtragung des Gehirns aus dieser Hilfte die Majoritiit der sensiblen der Zwangsbewegungen. 187 und motorischen Elemente (nach unserer Annahme etwa zwei Drittel) entfernt worden sind, unter deren ausschliesslicher Botmiissigkeit die Locomotion des Thieres vor sich geht, unser Krebs von der geraden Linie abweichend im Kreise herumgehen muss. Hier konnten die Auseinandersetzungen iiber den Krebs abge- schlossen werden, indess sollen dieselben, namentlich mit Riicksicht auf die Wirbelthiere, noch weiter gefiihrt werden. Es ist ohne Weiteres verstiindlich, dass die gleiche Bewegungs- anomalie (Kreisbewegung) auch dann zu Stande kommen muss, wenn nur die motorischen Elemente partiell im der oben geschilderten Weise zerstért werden. Dasselbe trifft aber auch zu fiir den Fall der partiellen sensiblen Laihmung und ist ganz selbstverstiindlich fiir den “all, dass die Anregungen zur Locomotion von der Peripherie kommen. Es wird in solchem Falle das Hirncentrum von der einen Seite des K6rpers nur eie Minoritiit von Anregungen erhalten, wiihrend von der anderen Seite vergleichsweise miichtige Anregungen zur Locomotion er- folgen: Das Resultat muss eine Storung der geradlinigen Bewegung erzeugen, wie wir sie in der kreisformigen Zwangsbewegung sehen. Wie aber ist es fiir den Fall, dass die Anregung zur Bewegung nicht ausgeht von der Peripherie, sondern yon einem anderen der uns bekannten Erregungspunkte, z. B. von dem Auge, dem Ohre oder dem Grosshirne, als dem Sitze des Willens? Das Resultat wird dasselbe bleiben, denn eine normale Locomotion setzt die Integritit der peripheren Haut-, Muskeln- und Gelenkempfindungen voraus. Wenn sie fehlen, geht auch in den eben angeregten Fallen die geradlinige Bewegung in die kreisfOrmige iiber. Um Missverstiindnisse zu vermeiden, bemerke ich, dass der Ausfall isolirter motorischer oder sensibler Elemente immer nur central gedacht sein kann. Fassen wir jetzt nochmals die Bedingungen fiir die Entstehung von Zwangsbewegungen zusammen, so sind es die folgenden: 1. Ein Hirncentrum, in welchem die gesammte willkiirliche Muscu- latur ihr secundiires Innervationscentrum findet. 2. Die ungleiche Innervation der beiden bilateral symmetrischen Korperhiilften und zwar so, dass, wenn wir die gesammte Innervation der einen Seite = 1 setzen, die Differenz der Innervation liegt zwischen #2 und 1—a, wobei x den kleinsten Innervationswerth einer Seite be- deutet, deren Werth immer erheblich kleiner als 1 und grdésser als 0 ist, so dass 1—w miemals — O sein kann — im Gegensatze zu einer Innervationsdifferenz von 1 bis 0. 3. Die Innervationsdifferenz zwischen den Grenzen x und 1—z finden wir verwirklicht oberhalb der grossen partiellen Kreuzung, wie 138 Schlundring. wir sie fiir den Krebs im ersten Bauchganglion bestimmt haben und wie sie fiir die Wirbelthiere in der bekannten Pyramidenkreuzung vor- handen ist. 4. Die Innervationsdifferenz von 0 bis 1 liegt unterhalb der Kreuzung und giebt niemals Veranlassung zu einer Zwangsbewegung, sondern zu einer Bewegung mit Paralyse der einen Seite, welche um so weniger auftreten wird, je geringer die Differenz zwischen 0 und 1 wird, d. h. je weiter wir uns von der Kreuzung in distaler Richtung entfernen, wie es im Bauchmark des Krebses und im Riickenmark der Wirbelthiere der Fall ist. Zum Schluss noch einige Worte tber die merkwiirdige, von R. Dubois entdeckte Erschemung, dass geképfte Insecten die Zwangs- bewegungen fortsetzen, welche das kopftragende Thier vorgeschrieben hat. Es ist dieselbe Thatsache, die ich, unabhingig von Dubois, beim Haifische aufgefunden habe. Nur der eine Unterschied besteht, dass das gekopfte Insect die vorgeschriebene Zwangsbewegung sofort wiederholt; der Haifisch hingegen erst zehn Stunden nach der Kopfung. Fiir den Haitisch habe ich seiner Zeit interpretirt, dass es sich bei dieser Erscheinung um die Fiahigkeit des Riickenmarkes handelt, den Innervationsimpuls, welchen es vom Gehirn erhilt, wenn er hinreichend lange eingewirkt hat, zu reproduciren. Das Insectenbauchmark wire dem Haitisch darin iiberlegen, insofern diese Reproductionsfihigkeit eine viel intensivere ist, da sie sich nach einer iiusserst kurzen Uebungszeit geltend macht. 8. 4. Der Schlundring. Wenn man demSchlundringe besondere Aufmerksamkeit entgegen- bringt, so ist das begreiflich fiir jene Forscher, welche in ihm das Gehirn (im Vergleich mit den Wirbelthieren) sehen. Consequenter Weise miisste man dann weiter den Schlundring der Bauchkette gegen- iiberstellen und als erstes Bauchganglion erst das Ganglion bezeichnen, welches auf das untere Schlundringganglion, das Unterschlundganglion, folet, was nicht regelmassig geschieht. Daher scheinen jene Autoren richtiger zu verfahren, welche dem Schlundringe jene Bedeutung absprechen und als erstes Bauchganglion das Unterschlundganglion zihlen. Aber auch diese Forscher reden viel- fach yon der besonderen Bedeutung des Schlundringes, ohne dass man erfiihrt, worin dieselbe eigentlich besteht; denn dass das Oberschlund- ganglion fiir sie das Gehirn ist, verleiht dem mit demselben verbundenen Unterschlundganglion noch keinen eximirten Werth. Auch nicht der oO” Schlundring. 139 Umstand, dass das Unterschlundganglion das Centrum fiir den Kiefer- apparat ist, wihrend die tibrigen Bauchganglien Extremitiiten zum Centrum dienen, was functionell wohl einen wesentlichen Unterschied macht, aber keinen solchen bedingt fiir die Morphologie, welche die Seemente ziihit. Es wiirde also der Schlundring eine besondere Bedeutung ge- winnen, wenn man dem Unterschlundganglion eine besondere Stellung gegeniiber den anderen Bauchganglien anweisen konnte. (Das Ober- schlundganglion hat schon morphologisch und physiologisch als ,Gehirn* eine besondere Bedeutung.) Auch unter den Experimentatoren (Faivre, Vulpian, Lémoine, Yung) kehrt wiederholt die Ansicht wieder, dass dem Unterschlund- ganglion ein besonderer Werth zuerkannt werden miisste, aber keiner ihrer Versuche zeigt uns diese besondere Stellung. Diese besondere Stellung bekommt das Unterschlundganglion nun- mehr mit dem hier gelieferten Nachweise, dass in ihm eine Kreuzung der centrifugalen Bahnen fiir den ganzen Korper stattfindet, womit dieses Ganglion’ sowohl morphologisch wie physiologisch in einen ganz bestimmten Gegensatz einerseits zu dem Hirnganglion, andererseits zu allen Ganglien der Bauchkette tritt. Wenden wir uns wieder zuriick zu den Wirbelthieren, wo in der erossen Pyramidenkreuzung des Nackenmarkes die motorischen Bahnen sich kreuzen, so ist dieselbe offenbar ein Analogon zu der Kreuzung im Unterschlundganglion, so dass wir Nackenmark und Unterschlund- ganglion analog setzen konnen. In dieser Auffassung werden wir weiter noch unterstiitzt durch die Thatsache, dass hier wie dort die Kauwerkzeuge in diesem Punkte ihr Centrum haben und endlich noch dadurch, dass auch das Athem- centrum beim Krebse wie bei den Wirbelthieren an dieser Stelle seinen Sitz hat. Fiir die Insecten ist dieser Punkt noch streitig, da Baudelot jenes Centrum in das erste Bauchganglion verlegt, waihrend es Faivre in dem metathoracischen Ganglion sucht (s. 8. 13). Mir fehlen dariiber Erfahrungen, aber ich méchte daran erinnern, dass wir bei den Wirbelthieren neben dem Hauptathemcentrum im Nackenmarke spinale Athemcentren von geringerer Kraft kennen. Sollte nicht fiir die Insecten eine gleiche Einrichtung bestehen, so dass mehrere Athem- centren von vielleicht verschiedenem Werthe iiber die ganze Kette verstreut sind ? Wollen wir fiir das Unterschlundganglion eine entsprechende Be- zeichnung einfiihren, so wiirde sich dafiir, da mir Nackenmark wegen der dort gegebenen bestimmten Beziehung zum Nacken hier nicht zu passen scheint, der allein bei den Wirbelthieren vorhandene und in- 140 Schlundring. differente Ausdruck ,Nachhirmn“ empfehlen. Nunmehr kommt dem Schlundringe die gesuchte Bedeutung zu, insofern als er wenigstens bei den Arthropoden in seinem Oberschlund- ganglion das Gehirn, in seinem Unterschlundganglion das Nachhirn reprisentirt, waihrend die Commissuren echte inter- centrale Nervenfasern darstellen. Folgerichtig miissen wir nunmehr den Schlundring von der Bauch- kette absondern und die Ziihlung der Ganghen der Bauchkette erst bei dem hinter dem Schlundringe, resp. hinter dem Unterschlundganglion hegenden Ganglion beginnen, wie das in Zukunft auch von hier aus geschehen soll und wie in der beistehenden Figur ausgefiihrt ist, wo der Schlundring als Ganzes mit Sr bezeichnet ist, wiihrend sein vorderes Ganglion das Gehirn G ist, sein hinteres Ganglion, das Nachhirn, die Bezeichnung N erhilt. Jetzt erst folgen die Bauchganglien mit bg,, Bg, .... Bon Und was wir im Nervensystem der Wirbel- thiere niemals ausfiihren kénnen, nimlich die eesonderte Zerstdrung oder Reizung der die centralen Elemente verbindenden Bahnen, ist hier ausfiihrbar, sowohl zwischen Gehirn und Nachhirn, wie zwischen Nachhirn und Bauch- kette oder deren einzelnen Ganglien. Freilich ergeben sich unter Umstiinden dabei insofern Schwierigkeiten, als wie z. B. beim Krebs das Unterschlundganglion makro- skopisch deutlich aus zwei Theilen besteht. Da ich nachgewiesen habe, dass der hintere Theil desselben Muskeln der Scheere zum Centrum dient, so bin ich der Ansicht, dass nur der vordere Theil dem Schlundringe angehort, wiihrend der hintere Theil das eigentliche erste Bauchganglion darstellt. Was fiir den Schlundring des Krebses gilt, diirfte auf Grund der gleichen Leitungsbahnen auch fiir den Schlundring der itibrigen Arthro- poden gelten, mit dem einen Unterschiede, dass bei den letzteren die Bauchmetameren ihre Locomobilitiit erhalten haben, also auch Loco- motion machen nach Entfernung des Schlundringes. Ob die beiden, zunichst vollig gleichen Formen der Bewegung wirklich in allen Ver- hiiltnissen gleich sind, weiss ich nicht; ich kann mir aber vorstellen, Fig. 46. dass Unterschiede da sind. Der homologe Schlundring der Anneliden verhilt sich in functio- neller Beziehung ganz anders, imsofern als sein Oberschlundganglion nur ein Sinneshirn darstellt und sein Unterschlundganglion die grosse Phylogenie. 141 Kreuzung nicht besitzt. Aehnliches gilt fiir den Schlundring der Mol- lusken, der ihr ganzes Centralnervensystem repriisentirt. - 9. 7D. Phylogenetische Betrachtungen. Wir gehen von den Ringelwiirmern aus, welche anatomisch ihren primitiven Zustand dadurch kundthun, dass ihr Leib noch die voll- kommene Segmentirung zeigt. Physiologisch bekundet sich dieser primitive Zustand darin, dass jedes Segment seine volle Selbstiindigkeit besitzt und locomobil ist, d. h. selbstiindig Ortsbewegungen aus- gutiihren vermag. Die coordinatorische Thiitigkeit dieses ausgedehnten Systemes von Segmenten erzeugt die Locomotion des ganzen Thieres. Dieser Abtheilung zuniichst, sowohl ihrer fiusseren Form wie der Beschaffenheit des lang gezogenen Nervensystems nach, stehen die Larven der Hexapoden, welche indess bekanntlich fertige Individuen darstellen und unter denen ich die Larven der Schmetterlinge hervor- heben will. Ebenso die Myriopoden. Was die beiden Gruppen von den Anneliden iusserlich trennt, sind die Gliedmaassen, aber wenn man das Nervensystem beider morphologisch vergleicht, so wird man vergeblich nach einem Unterschied zwischen den beiden Nervensystemen suchen, wie in der That die Morphologen einen Unterschied zwischen denselben nicht kennen. Diesen Unterschied vermochte erst das Experiment aufzudecken in jenem Resultate, das die halbseitige Abtragung des dorsalen Schlund- ganglions oder der davon abgehenden Dorsoventralcommissur zu Tage forderte: bei den Raupen folgte die zwangformige Kreisbewegung, bei den Anneliden blieb die normale Locomotion unverindert. An der Hand unserer friiheren Erérterungen folgte daraus, dass das Insect ein echtes Gehirn besitzt, dass dem Annelid ein solches fehlt. Der tiefere Sinn dieser Veriinderung ist der, dass bei dem Insect das Hirnganglion die Ganglien der Bauchkette beherrscht oder fiihrt, dass also eine Scheidung der Functionen eingetreten ist, wihrend bei dem Annelid alle Ganglien gleichwerthig der gleichen Function dienen. Der Vorgang, welcher zu dieser Herrschaft des Dorsalganglons gefiihrt hat, mag sich so gestaltet haben, dass unter einem Einflusse, den wir heute nicht bestimmen kénnen, die Bauchganglien ihre Loco- mobilitit an das vorderste Ganglion der Reihe (Dorsalganglion) ab- gegeben und auf diese Weise jenes um einen. betrichtlichen Theil in seiner Kraft verstiirkt haben. Soweit man die Dinge iibersehen kann, ist die Kraft keine andere, als die der Locomobilitaét, durch welche das vorderste Ganglion der Reihe allen iibrigen nunmehr iiberlegen 142 Phylogenetische ist, da diese jenem hierin folgen miissen. Indess haben die Bauch- ganglien diese ihre Kraft an das Dorsalganglion durchaus nicht voll- kommen abgegeben, denn nach Abtragung des Dorsalganglions vermag das Thier noch Ortsbewegungen zu machen. Es unterlegt wohl keinem Zweitel, dass zwischen der Ortsbewegung des unyersehrten und hirn- tragenden, sowie des hirnlosen Thieres (abgesehen von dem Einflusse der vorhandenen oder fehlenden héheren Sinnesorgane, Auge, Ohr) Unterschiede bestehen werden, indess haben wir uns mit der Aufsuchung resp. Feststellung desselben bisher nicht beschiftigt, um so weniger, als es uns, wie oben bemerkt, an einer Methode hierzu mangelt. Gehen wir von den Laryen, den Raupen, zu dem ausgebildeten Insecte, so wissen wir, dass das Nervensystem desselben genau den gleichen Werth besitzt, gleichviel, ob die Bauchkette um einige Ganglien reducirt worden oder ob sie die gleiche geblieben ist. Durch diese Thatsache sind die ihrem dusseren Aussehen nach sehr nahestehenden Nervensysteme der Anneliden und Insectenclassen, in specie Raupen, principiell geschieden und sehr deutlich von einander abgeriickt, wiihrend die fusserlich so verschiedenen Larven und die daraus entstandenen entwickelten Indivyiduen, welche ihrer Ausseren Form nach (z. B. Raupe und Schmetterling) himmelhoch von einander getrennt scheinen, doch in Wahrheit eimander genihert und erheblich zusammengeriickt sind. Ganz ebenso wie die Larven der Insecten verhalten sich zu den Anneliden die Myriopoden: wihrend durch den lang gezogenen Leib und dem entsprechendes Nervensystem eine iiusserliche gewisse Aehn- lichkeit, eigentlich Gleichheit, mit den Anneliden besteht, haben auch sie ihr Dorsalganglion zum Herrscher eingesetzt und auf diese Weise sich deutlich gegen die Anneliden gesondert. Wir sehen, dass von den Anneliden zu den Arthropoden eine fortwihrende Abgabe an locomobiler Kraft von Seiten des Bauchganglions an das Gehirnganglion stattfindet. Schliesslich miissen die Bauchganglien nach einem allgemeinen Natur- gesetz, wonach ungenutzte Functionen allmiilig zu Grunde gehen, ihre Locomobilitiit ganz verlieren. Dieses Ereigniss sehen wir in der That bei den Crustaceen eintreten, bei denen der Verlust des Dorsalganglions . die locomotorische Fahigkeit des Thieres vollkommen aufhebt. Indess findet dieser Uebergang nicht ganz schroff statt, denn wir haben ge- sehen, dass eine Gruppe von Krebsen, die Landasseln (Oniseus nuwra- rius) sich beziiglich jener Function des Bauchmarkes genau so ver- halten, wie die Insecten. So kénnen wir eine ununterbrochene Entwicklungsreihe verfolgen, welche yon den Anneliden beginnt und sich tiber Hexapoden und Myriopoden zu den Crustaceen hin fortsetzt, die darauf hinausliuft, ° Betrachtungen. 145 dass eine wesentliche Function des Bauchmarkes eines primitiven Individuums, eines Ringelwurmes, bei der aufsteigenden Thierreihe nach vorn zu wandern beginnt, um schliesslich das Bauchmark ganz zu verlassen und allein dem Dorsalganglion zu verbleiben. Genau den gleichen Vorgang haben wir schon bei der Stammesentwicklung der Wirbelthiere verfolgen kénnen‘), so dass zwischen diesen beiden Reihen von Thieren die grésste Analogie besteht, wobei es zuniichst vom Stand- punkte der Function von ganz untergeordneter Bedeutung ist, ob der Haupttheil des Nervensystems in Gestalt des Riickenmarkes iiber dem Darmcanal liegt oder in Gestalt des Bauchmarkes unter demselben. Bei den Wirbellosen tritt diese Entwicklung viel deutlicher und allmiiliger auf; auch haben wir die Gleichheit aller Metameren bei dem primitiven Thiere, dem Ringelwurme, viel exacter nachweisen kénnen, als es dort bei dem Amphioxus méglich gewesen ist. Hierzu tritt bei den Wirbellosen noch der weitere Vortheil, dass wir die Entwicklung jener Reihe auch noch weiter nach unten ver- folgen konnen. Der offenbare Vorgiinger des Ringelwurmes ist der unsegmentirte Wurm (Typus: Cerebratulus marginatus), der functionell dem Ringel- wurme gleich kommt, so weit unsere Methoden den Vergleich gestatten. Eine Stufe tiefer steht der Wurm vom Typus des Distoma hepati- cum, wo die Innervation des ganzen Individuums von dem einen Ganglion abhingt. Hier befinden wir uns aber auch auf der primitiy- sten Stufe, welche unsere Reihe erreichen kann. Endlich schiebt sich hier ganz von selbst eine andere interessante Betrachtung ein: Vergleichen wir die ganz analoge Reihe der Wirbel- thiere mit der Annelidenreihe, wie wir es oben gethan haben, und er- innern uns, dass der wesentliche Unterschied der beiden Reihen darin bestand, dass das Nervensystem dort iiber, hier unter dem Darmrohr hegt, so erscheint als nothwendige Folgerung, dass die Wurzel der Wirbelthiere an der gleichen Stelle liegt, wie die der Anneliden, niim- lich bei den unsegmentirten Wiirmern, wo der Uebergang zu dem Wirbelthiertypus im Nervensystem am einfachsten zu Stande kommen kann, und zwar dann, wenn die Vereinigung der beiden Seitennerven, deren Lage zum Darmcanal noch eine ganz neutrale ist (sie liegen seitlich zum Darmrohr), nicht unterhalb des Darmrohres, wie bei den Kvertebraten, sondern oberhalb desselben vor sich geht. Diese Betrachtungen ergeben sich an der Hand unserer Versuche und Schliisse so ungezwungen, dass ich ihnen nicht aus dem Wege gehen mochte. Und es ist gewiss ein ganz erfreuliches Zeichen, dass Pevelebische, S..110. 144 Phylogenetische ich auf einem ganz anderen und eigenartigen Wege zu dem gleichen Schlusse gelange, wie ihn die Morphologie schon lange vorher ge- macht hat. Die Mollusken stellen einen eigenartigen Typus dar, welcher zu- niichst eine Anlehnung an den Annelidentypus nicht darbietet. Konnte man nachweisen, dass der Leib der Mollusken aus mehrmetamerigen Thieren hervorgegangen ist, und kénnte man ihr Pedalganglion aus einer grosseren Anzahl yon Bauchganglen zusammenfliessen lassen (was an sich keine Schwierigkeiten hiitte), so wire der Molluskentypus auf den des Annelids zuriickgefiihrt. Denn in dieser Beleuchtung wiren die beiden Nervensysteme functionell von gleichem Werthe. In der That lesen wir bei Gegenbaur, dass fiir einzelne Gruppen von Mollusken (Placophoren, gymnosome Pteropoden) wurmartige Larven- formen gefunden worden sind, welche auf eine friihere Metamerie hindeuten. Ein Anschluss nach dieser Richtung hin ist demnach nicht ausgeschlossen, doch mag die Verfolgung dieses Gedankens der Zukunft iiberlassen bleiben. Was die Echinodermen anbetrifft, so scheien sie zundchst nirgends einen Anschluss an die bisherigen Typen zu finden. Wenn wir aber ihre Ontogenie einsehen, so erfahren wir, dass ihre Larven- form vollstindig mit den Larven von Wiirmern (Anneliden, Gephyreen) iibereinstimmt!). Nach diesem Fingerzeige ist es fiir unsere Kenntniss nur natiirlich, den Arm eines echten Seesternes einem Ringelwurme gleichzusetzen, mit dem er in seinem Nervensysteme alle Qualitiiten theilt. Dann ginge ein Seestern aus einer gemeinschaftlichen Vereinigung einer Anzahl von wurmartigen Individuen hervor, die gleichberechtigt neben einander bestehen, deren Zusammenhang und Bestand dadurch gesichert ist, dass von Fall zu Fall das eine oder das andere Mitghed die Fithrung dieser Genossenschaft tibernimmt und die Leitung so lange behalt, bis die intendirte Leistung abgelaufen ist. Auf diese Weise entsteht die Coordination der an sich unabhingigen Componenten. Welcher der Genossen im gegebenen Falle die Leitung iibernimmt, ist so ohne Weiteres nicht zu sagen, doch erscheint mir die Annahme am meisten zulissig, die Fiihrung demjenigen anzuvertrauen, welcher dem jedesmaligen Orte der Reizeinwirkung am niichsten leet. Diese Auffassung des Seesternes deckt sich wiederum mit der Morphologie, wo Hiickel die Echinodermen aus Stécken wurmartiger Organismen hervorgehen lisst. Nur auf eine Schwierigkeit dieser Auffassung méchte ich noch aufmerksam machen: Wenn wir die Anneliden mit dem Seesterne zu- ') Gegenbaur, Grundriss der vergleichenden Anatomie. Leipzig 1878, 8. 205. Betrachtungen. 145 sammenfassen, so werden wir sie offenbar mit ihren Vorderenden zu- sammenwachsen lassen, entsprechend der Beobachtung (Preyer), dass der mit der Centralscheibe isolirte Seesternarm zielbewusst fortschreitet. Am Vorderende befinden sich aber in der Regel die héheren Sinne — beim Seesterne wiirden sie sich nach dieser Auffassung am Hinterende befinden, da ja seine Augen an der Spitze des Radius, an dem freien Ende desselben stehen. Wenn wir die Echinodermen auf Grund ihrer functionellen Be- ziehungen so nahe an die Anneliden heranriicken, so hat diese Betrach- tung nur die eine Schattenseite, dass die neuere Morphologie jene Ansicht wieder verlassen hat. Zum Schluss kommen wir zu den Coelenteraten, welche, entsprechend ihrem ganzen Bau, so auch ihrem Nervensystem nach, in anatomischer wie physiologischer Hinsicht eme Sonderstellung einnehmen, so dass wir sie direct keinem anderen Thiertypus anschliessen kénnen. Steiner, Centralnervensystem. III. 10 Vierte Abtheilung. Ueber das Gleichgewicht der Evertebraten. In friiheren Arbeiten (s. Froschhirn, Abthl. I dieser Sammlung, S. 23 bis 25, u. Fische, Abthl: II, S. 8 bis 9) habe ich darauf auf- merksam gemacht, dass man bei allen Betrachtungen iiber das Gleich- gewicht der lebenden Wesen zu unterscheiden hat das Gleichgewicht des Schwerpunktes und das Gleichgewicht der Lage, insofern neben der ausreichenden Unterstiitzung des Schwerpunktes eine be- stimmte Lage des Korpers verlangt wird, damit das Thier sich im Gleichgewicht befinde. Zur Erlauterung des Gesagten erinnere ich daran, dass z. B. Frosch und Seestern — um zwei sehr differente Thiere zu nennen — die Bauchlage als ihre natiirliche Gleichgewichtslage fordern; dass sie stets in dieselbe zuriickkehren, wenn man sie auf den Riicken gelegt hat, obgleich der Schwerpunkt des Ko6rpers da wie dort ausreichend unterstiitzt ist. Dass es nicht die Reizung der Riickennerverm ist, welche jene Thiere aus der Riicken- in die Bauchlage zuriickfiihrt, geht aus der Thatsache hervor, dass jene Erscheinung auch eintritt, nachdem man die Riickenhaut entfernt hat. Das Gleichgewicht des Schwerpunktes ist befriedigt, wenn der Schwerpunkt ausreichend unterstiitzt ist; ob das der Fall ist, dariiber wird das Thier unterrichtet durch die Aenderung der Druckempfin- dungen in Haut und Muskeln. Das Gleichgewicht der Lage ist gegeben, wenn das Thier seine natiirliche Lage einhalt. Um zu _ bestimmen, welches die Krafte sind, die das Thier immer wieder in seine natiir- liche Lage zuriickfiihren, hat man sich zu erinnern, dass jedes lebende Wesen aus mehreren beweglichen Theilen zusammengesetzt ist oder daraus zusammengesetzt gedacht werden kann, die gegen einander ver- schiebbar sind und im Zustande des Gleichgewichts der Lage dem Thiere eine Summe von Gefiihlsempfindungen (Tast-, Temperatur-, Druck-, Gelenk- und Muskelempfindungen) erzeugen, deren Grésse das ——_- Gleichgewicht. 147 Thier ein- fiir allemal kennt. Jede Verschiebung der Theile gegen einander, wie sie bei einer anderen Lage des Korpers eintritt, fiihrt zu abweichenden Gefiihlsempfindungen, welche das Gleichgewicht regu- lirende Bewegungen hervorrufen. Man iibersieht, dass die EKmpfindungen, welche das Gleichgewicht des Schwerpunktes schiitzen, in letzter Instanz die gleichen sind, wie jene, die iiber das Gleichgewicht der Lage wachen. Wir wollen diesen Gefiihlssinn, der sich zweifellos aus mehreren Qualitiiten zusammensetzt, nach einer bekannten Analogie den Kérper- fiihlssinn nennen, und kénnen nunmehr aufstellen, dass das Gleich- gewicht der lebenden Wesen vom Korperfiihlssinne abhingt. Wir haben bisher nur vom Ruhezustande der Thiere gesprochen. Da wihrend der Bewegung eine gesetzmissig fortschreitende Verschie- bung des Korperschwerpunktes stattfindet, so gilt dasselbe Gesetz auch fiir die Bewegung. Hiernach erhellt, dass das statische und dynamische Gleichgewicht aller Thiere eine Function ihres Korperfihls- sinnes ist. Endlich sei bemerkt, dass bei allen Metazoén die Umsetzung der Empfindung in die regulirende Bewegung in einem nervosen Central- organe geschieht. Im Jahre 1886 und 1887 veréffentlichte Y. Delage in Paris Ver- suche, durch welche er zu beweisen suchte*), dass es noch andere Empfindungen gebe, von denen das Gleichgewicht, zuniichst einer Reihe von Wirbellosen, abhingig gemacht werden miisse. Da ich diese Versuche in den Jahren 1886 und 1887 in Neapel wiederholt und einen Bericht dariiber an die Pariser Akademie ein- gesandt habe, so will ich dieselben hier darstellen und diejenigen Folgerungen ableiten, die sich ohne jede Voreingenommenheit daraus ergeben. Herr Delage geht von der Voraussetzung aus, dass die den Bogengiingen der Vertebraten homologen Otocysten der Evertebraten auch die gleiche Function haben miissten, wie jene, welche er als Organe fiir das Orientirungsvermégen kurzweg bezeichnet. Unter den Otocysten versteht man die primitiven Gehdrorgane vieler EKvertebraten, welche aus einer geschlossenen Blase bestehen, die mit Fliissigkeit (Endolymphe) und einem oder zahlreichen kalkigen Concrementen (Otolithen) erfiillt ist. An der Wandung derselben enden *) Y. Delage, Sur une fonction nouvelle des otocystes comme organes WVorientation locomotrice. Archiv. de Zoolog. exp. et gén., 2. Série, T. V, 1887, p. 1—26. 10* 148 Gleichgewicht die Fibrillen des Nerven mit Stibchen- oder Haarzellen. Solche Oto- cysten trafen wir schon bei den Medusen, wo sie auf 8. 76 und 77 in den Figuren 30 und 32 dargestellt worden sind. Nicht alle Evertebraten befinden sich im Besitze dieser Otocysten, woraut wir spiiter noch emgehen werden. Wihrend Delage seine Versuche und deren Darstellung bei den Mollusken begann, erscheint es mir zweckmissiger, bei den Crustaceen zu beginnen, bei denen die Otocysten in der Basis der inneren An- tenne liegen. Wir wiihlen mit Delage den Palaemon (Garneele), ein Thier, welches drei Bewegungsformen zeigt, niimlich 1. einfaches Kriechen auf fester Unterlage, wie unser Flusskrebs, 2. stossweise Schwimm- bewegungen im Wasser durch periodische heftige Contractionen des Schwanzes, ebenfalls wie unser Krebs, und 3. continuirliches Schwimmen auf der Oberfliiche des Wassers mit Hiilfe der klemen Schwanz- fiisschen, was unser Krebs nicht kann, wie es aber in ahnlicher Weise die Schwimmkifer thun. Bei Palaemon ist diese dritte Bewegungsform eine sehr rapide. Wenn man bei Palaemon beiderseits durch Herausziehen der inneren Antennen die Otocysten entfernt, so wird keine der drei Bewegungsformen in ihrem Ablaufe gestort. Ebensowenig tritt eine Stérung ein nach alleiniger beiderseitiger Entfernung der Augen. Wenn man aber Ohren und Augen zugleich entfernt, bleibt die erste Bewegung zwar ungestért, die zweite Bewegung leidet ein wenig durch seitliches Schwanken des Korpers; am meisten gestdrt ist die dritte Jewegungsform, insofern das Thier haufig um seine Lingsaxe _rotirt. Es ist hierbei gleichgiiltig, ob man zuerst die Augen und dann die Otocysten entfernt oder ob man die Reihenfolge der Zer- stérung umkehrt. Wesentlich dasselbe gilt fiir Wyszs, eme sehr kleine Krebsart, welche kaum kriecht, sondern durch die Masse des Wassers hindurch rapide Bewegungen macht, welche vollig gestért werden nach doppelseitiger Abtragung von Ohren und Augen. Principiell gleich verhilt sich Sgquwilla mantis, welche gut auf dem Boden kriecht, sowie mit zahlreichen Schwimmfiissen im Wasser vorziiglich und rapide wie Palaemon schwimmt. Die Stérungen im Schwimmen sind nach der Entfernung beider Ohren und Augen eclatant, wie bei jenem Krebse, wihrend die Kriechbewegungen ungestért bleiben. Diese Versuche sind so einfach anzustellen, dass fiir Versuchsdifferenzen zwischen zwei Beob- achtern gar kein Raum bleibt. Das Resultat dieser Versuche lautet demnach folgendermaassen : Wenn man bei Palaemon, Mysis oder Squwilla nach einander Augen und Ohren in beliebiger Reihenfolge entfernt, so werden gewisse com- der Evertebraten. 149 plicirtere oder feinere Bewegungen (Schwimmbewegungen) in ihrem Ablaufe insofern gestért, als diese Thiere ausser Stande sind, ihr Gleichgewicht innezuhalten und 6fter um ihre Liingsaxe rollen. Hin- gegen werden die mechanisch leichter ausfiihrbaren Bewegungen, wie das Kriechen auf fester Unterlage, ganz correct ausgefiihrt. Anders als die bisher genannten Crustaceen soll sich Gebia littoralis verhalten. Bevor wir diese Frage niher priifen, muss ich vorausschicken, dass ich in meiner Mittheilung an die Pariser Akademie (1887) den Grund- versuch fiir Gebia bestritten habe. Bei einem liingeren Studienauf- enthalte in Paris wiihrend des Sommers 1888 besprach ich mit Herrn Delage unsere Differenz, welcher darauf von der See eine Anzahl von Gebiaexemplaren kommen less, an denen er mir die Richtigkeit seines Versuches zeigte: Nachdem die Otocysten entfernt waren, wurde das Krebschen gezwungen, auf der Oberflache eines hinreichend tiefen Wassers mit Hiilfe seiner Schwimmfiisschen, wie Palaemon, zu schwimmen, wihrend ich die Gebia, entsprechend ihrer Lebensweise, im littoralen Sande nur in ihren Kriechbewegungen gepriift hatte, wo ich Stérungen nicht fand und auch nicht finden konnte, denn die mir zu jener Zeit vorliegende vorliiufige Mittheilung machte auf diese Bedingungen des Versuches nicht aufmerksam. Ich anerkenne daher dankend die mir durch Herrn Delage gewordene freundliche Belehrung und: schliesse mich semer Angabe an, dass die der inneren Antennen beraubte Gebia, wenn sie auf der Oberfliche des Wassers zu schwimmen gezwungen wird, gleichgewichtslos um ihre Axe rollt. Aber diese Gebia verhilt sich ohne Zweifel anders, als die vorher gepriiften Crustaceen, denn Delage beschreibt seinen Versuch folgendermaassen: Si on enléeve les deux antennes imternes, aussitot des troubles graves apparaissent. Lianimal verse le plus souvent a droite on a gauche, au point de se trouver la face ventrale en hawt.“ Wenn er weiter schildert: ,,S7 on enléeve a la fois les geux et les antennes internes, la désorientation est complete“, so bleibt immerhin bei Gebia ein anderes Verhalten zu con- statiren, da die alleinige Entfernung der inneren Antennen geniigt, um jene Desorientirung zu erzeugen, wie das auch in dem gemein- schaftlich angestellten Versuche der Fall war, wihrend dieselbe Ope- ration, bei den anderen Crustaceen ausgefiihrt, keinerlei Gleichgewichts- storungen herbeifiihrt. Indess ist das abweichende Verhalten von Gebia nur scheinbar: Delage muss offenbar iibersehen haben, dass Gebia verkiimmerte Augen hat (wohl in Folge ihrer Lebensweise im Sande). Daraus aber folgt, dass sich Gebia so verhilt, wie die anderen Crustaceen. Unter den ungeschwiinzten Krebsen hat Delage Carcinus maenas 150 Gleichgewicht (gemeine Krabbe) und ich ausserdem noch Maja verrucosa untersucht. Da beide Krebsformen nur kriechen, und gar nicht schwimmen, so sieht man nach Entfernung von Ohr und Auge so gut wie gar keine Stérung, was wir beide iibereinstimmend angeben. Erst wenn sie gereizt sehr rasch und hastig zu laufen beginnen, wie es besonders Carcinus maenas sehr wohl vermag, treten leichte Stérungen ein, welche darin bestehen, dass diese Thiere 6fter nach vorn iiberfallen, sich aber bald wieder aufrichten, um ihren Lauf fortzusetzen u. s. w. Es giebt indess unter den ungeschwanzten Krebsen auch Schwimmer, und Delage hat von diesen den Polybiws niher untersucht, der mir bisher nicht zu Gebote stand. Bei diesem Krebse fand Delage, dass die Abtragung der Augen allein keine Storung hervorruft, dass hin- gegen die Entfernung der Otocysten allein geniigte, um wesentliche Stérungen im Schwimmacte zu bewirken, die ebenfalls in Rollbewegungen um seine Liingsaxe bestehen; der Polybius verhilt sich demnach so wie Gebia. Wie es mit seinen Augen steht, dariiber habe ich nichts erfahren konnen. Indem wir Gebia (und vielleicht auch Polybius) wegen der Reduction ihrer Sehorgane aus der weiteren Betrachtung ausschalten, steht fest, dass bei einer Reihe von Crustaceen die Sehorgane oder die Gehor- organe allein entfernt werden kénnen, ohne ihre selbst complicirten Schwimmbewegungen zu stoéren; dass aber die gemeinsame Entfernung von Augen und Ohren, in welcher Reihenfolge man auch immer die Operation vornehmen mag, ausnahmslos schwere Gleichgewichtsstorungen des schwimmenden Thieres erzeugt. Man konnte einwenden, dass es sich in diesen Versuchen um Mitverletzung des Hirnganglions handelt, aus dem Seh- und Hoérnery entspringen, indess sind die Augen der Crustaceen gestielt, also eine solche Nebenverletzung ausgeschlossen, und was die inneren Antennen betrifft, so geniigt wohl der Hinweis, dass bei Mysis das Ohr im Schwanzfiicher liegt. Ich halte demnach das Resultat dieser Versuchsreihe fiir v6llig einwandsfrei. Zwei Punkte von Wichtigkeit sind noch hinzuzufiigen: Kimmal nimlich handelt es sich in diesen Versuchen um wirkliche Ausfall- und nicht um Reizungserscheinungen, denn Palaemon zeigte die Storungen noch 42 Tage nach der Operation, wie Delage bemerkt. Zweitens ruft die einseitige Entfernung von Auge und Ohr keine Gleichgewichts- stérungen hervor, was zugleich beweist, dass es sich nicht um Reizungs- erscheinungen handelt, da sonst die einseitige Abtragung so wirken miisste, wie die beider Seiten. Unter den Mollusken eignen sich fiir den Versuch nur die Octo- poden, aus denen Octopus vulgaris wegen seiner grossen Widerstands- fiihigkeit gewihlt worden ist. In der Gehérblase, welche im Kopfknorpel —_—. der Evertebraten. 151 liegt, sieht man einen einzigen, deutlich schimmernden Otolithen von der Grisse eines Kopfes unserer gewohnlichen Stecknadeln. Die Ent- fernung desselben ist eine sehr delicate Arbeit, aber Delage hat diese Schwierigkeit iiberwunden und auch mir ist die Ausfiihrung des Ver- suches gegliickt. Delage beschreibt uns die Folgen der Operation in sehr anschau- licher Weise: Ein so operirter Octopus unterscheidet sich zuniichst, so lange er ruhig dasitzt, durch nichts von einem gesunden Thiere. Die dargebotenen Krabben oder Mollusken verzehrt er in correcter Weise und macht ebenso correct seine kriechenden Bewegungen, wenn man ihn durch Reizung dazu anregt. .Wird die Anregung aber stiirker und geht er zu Schwimmbewegnngen iiber, so erweist sich sein Gleich- gewicht gestért, um so mehr, je rapider seine Bewegungen ausfallen. Die Stérung besteht auch hier wesentlich im Rollen um seine Lings- axe. Werden die Augen allein entfernt, so bleiben s&immtliche Be- wegungen ungestort. Figt man zur Entfernung der Otolithen die Zerstérung der Augen, so ist die Storung des Gleichgewichtes noch grosser, als nach alleiniger Extraction der Otolithen. Delage sagt hieriiber (p. 7) Folgendes: ,,Les individus privés de leurs geux et de leurs otocystes sont, au contratre, absolument désorientés. Non seulement ils towrnent en nageant, mais ils ne savent plus retrowver rapidement leur situation normale.“ Ich habe dieser Beschreibung nur hinzuzu- fiigen, dass ich beim Octopus genau dasselbe beobachtet habe. Was die Folgen der einseitigen Zerstérung des Octopusohres be- trifft, so heisst es dariiber bei Delage: ,Je nai que peu étudié les effets de la destruction dun seule otocyste. Les phénomenes décrits mont paru se prodwire au début, mais se dissiper au bout de peu de temps.“ Ich selbst habe den Octopus, dem der Otolith der einen Seite entfernt war, nach Stunden und am niichsten Tage ganz rapide Bewegungen ohne jede Stérung machen sehen, was im Grunde genommen mit der Beschreibung von Delage iibereinstimmt. Die Folgerung, die sich aus dieser Beobachtung am Octopus, im Anschluss an jene bei den Crustaceen, ergiebt, ist fiir mich die, dass auch beim Octopus Auge und Ohr fiir die Erhaltung des Gleichgewichtes von Wichtigkeit sind, wenn das Thier in rasche Bewegung gerith; dass aber das Ohr des Octopus dem Auge in dieser Function iiberlegen ist. Das ist im Wesentlichen das Material, das neu vorliegt. Wenn daraufhin Delage allgemein schreibt: ,Je me crois donc autorisé a admettre que les phénoménes de désorientation locomotrice sont dus @ Vablation des fonctions otocystiques“, so geht er mit dieser Aufstellung ganz gewiss iiber den Rahmen dessen hinaus, was aus seinen so inter- essanten Versuchen erschlossen werden kann. Gleichgewicht Zur bequemeren Beurtheilung stelle ich das experimentelle Material in Kiirze fiir den Leser nochmals zusammen, namlich: f; bo oe So lange die oben genannten Thiere sich unthatig verhalten oder sich auf fester Unterlage bewegen (kriechen), bleibt ihr Gleichgewicht ungestért trotz Entfernung beider Seh- und Hororgane. Wenn man bei Palaemon, Mysis, Squilla die Sehorgane allein oder die Gehérorgane (Otocysten) allein entfernt, bleibt das Gleichgewicht ebenfalls ohne Storung fiir Kriech- wie fir Schwimmbewegung, d. h. fiir jede beliebige Bewegung. Wenn man bei den eben genannten Crustaceen Augen und Ohren in beliebiger Reihenfolge zerstért, treten schwere Gleichgewichtsstérungen in den Schwimmbewegungen aut. Wenn man unter den Crustaceen bei Polybius und unter den Mollusken bei Octopus die Otocysten allein entfernt, so treten Gleichgewichtsstérungen fiir die Schwimmbewegungen auf, welche durch Entfernung der Augen noch vermehrt werden. Die alleinige Entfernung der Augen macht bei diesen Thieren keine Gleichgewichtsstorungen. Einseitige Entfernung der Augen oder Ohren oder beider zugleich macht in keinem Falle Bewegungsstorungen. Mieraus folgt: 3 Die Ruhelage, sowie die Kriechbewegungen aller genannten Thiere sind in ihren Gleichgewichtsverhiltnissen durchweg unabhingig von Auge und Ohr. Die Schwimmbewegungen der oben genannten Crustaceen (mit Ausnahme von Polybius) sind in ihren Gleichgewichtsbedin- gungen abhiingig, ganz gleichwerthig, von Auge oder Ohr. 3ei Polybius (Crustaceen) und bei Octopus (Mollusken) sind die Schwimmbewegungen in ihren Gleichgewichtsbedingungen yornehmlich abhingig von den Otocysten, welche dem Auge in dieser Function weit iiberlegen sind, obgleich das letztere nicht ganz ohne Bedeutung ist. Wie man sieht, kommt den Otocysten eine Bedeutung zu nur fir die Erhaltung des Gleichgewichtes des in rascher Bewegung (Schwimmen) begriffenen Thieres, und auch hierbei ist ihre Be- deutung keine absolute, wenn man erfiihrt, dass die grosse Gruppe der Insecten mit Einschluss der sehr rapiden Flieger gar keine Oto- cysten besitzt. der Evertebraten. 153 An der Hand der bisherigen Erfahrungen wird man leicht zu der Anschauung gefiihrt, dass bei den Insecten die Augen allein diese ganze Function iibernommen haben mogen. Einige Versuche, die ich an freilich nicht sehr geeignetem Materiale gemacht habe, scheinen diese Voraussetzung zu bestitigen, indess méchte ich mich heute noch reser- viren und die Frage in weiterer Ausdehnung an geeigneterem Materiale priifen. Uebrigens stellt auch Delage dieselben Betrachtungen an, in der eleichen Hoffnung, dariiber emgehendere Versuche anstellen zu k6nnen. Das Eine hat dieser Autor fiir die Insecten (Heuschrecken) festgestellt, dass die Entfernung des ersten Fusses, an welchem der eigenartige Gehorapparat legt, von Gleichgewichtsstorungen nicht gefolet ist. Otocysten findet man sonst noch unter den Anneliden bei Avren/- cola piscatorum, doch eignen sich diese Individuen wegen ihrer ungiin- stigen Beweglichkeit nicht zu derlei Versuchen. Zum ersten Male in der Thierwelt erscheinen die Otocysten bei den Medusen (s. oben S. 77), bei denen die Priifung der vorliegenden Frage sehr lohnend wire, nur hitte man dabei Riicksicht zu nehmen auf die grosse Zahl von Otocysten, welche daselbst vorkommen konnen, sowie auf die etwa gleichzeitig auftretenden Ocellen. In gleichem Simne hat sich iiber Medusen und Ctenophoren vor Jahren Kngelmann ausgesprochen !). Wir sehen somit, dass das Gleichgewicht wihrend der rapiden Bewegung abhiingig ist von Auge und Ohr, und zwar in der Weise, dass bei einer Reihe von Crustaceen Auge und Ohr den gleichen Werth haben; dass ferner bei eimigen anderen Thieren (Polybius, Octopus) das Ohr eine weit gréssere Bedeutung hat, als das Auge, und dass endlich bei einer anderen Gruppe (Insecten) die Otocysten ganz fehlen, wihrend das Auge eventuell diese ganze Function tibernommen hat. Somit bleibt fiir den Korperfiihlssinn nunmehr iibrig die Beherr- schung des Gleichgewichtes wahrend Ruhe und langsamer Bewegung. Andererseits folgt, dass das Gleichgewicht der Evertebraten fir jeden beliebigen Zustand der Bewegungssphire durch drei Sinne bestimmt wird, naimlich den Korperfiihlssinn, den Seh- sinn und den Gehorsinn. Von diesen drei Sinnen erscheint der Ko6rperfiihlssinn der ilteste und der wichtigste, denn er functionirt schon zu einer Zeit des neu- gebildeten Individuums, wo die beiden anderen Sinne noch unentwickelt sind, und seine Function erscheint nothwendig fiir den Eintritt der Wirksamkeit der beiden anderen Sinne, denn ohne ihn diirfte eine ') Th. W. Engelmann, Ueber die Function der Otolithen. Zoolog. Anzeiger 1887, 8. 439. 154 Gleichgewicht. irgendwie geartete regelmissige Ortsbewegung gar nicht zu Stande kommen. Ein Versuch hieriiber ist vorliufig nicht ausfiihrbar. Delage, welcher ebenfalls schon die drei Sinne fiir die Erhaltung des Gleichgewichtes verantwortlich macht, verlangt aber fiir den Hér- sinn den ersten Rang, car, privé de la vue et des organes spéciaux du tact, un animal reste towours capable de nager correctement*, aber den Korperfiihlssinn hat er nicht ausgeschaltet, nur die sechs langen An- hiinge, welche an ihren Antennen sich befinden. Wihrend demnach der Korperfiihlssinn die nothwendige Vorbedin- gung fiir das Gleichgewicht aller Thiere bildet, sind der Seh- und Horsinn in diesem ihrem Werthe fiir jede Gruppe besonders durch das Experiment zu bestimmen. Zum Schluss bliebe noch die Frage zu beantworten, ob die Er- haltung des Gleichgewichtes zugleich eine Function der specifischen Energie der Sinnesfunction ist, oder ob sich im dem Sinnesapparate besondere Elemente entwickelt haben, welche nur dem Gleichgewichte dienen. Diese Frage werden wir versuchen, an einer anderen Stelle zu beantworten. Site aa