: GUSTAV STEINMAN 2 DIE GEOLOGI ISCHEN GRUNDLAGEN | ABSTAMMUNGSLEHRE | Leipzig N BE Milben Engelmann 0° | An | A 4 > 74 E A AZ AZ: ji BR Hi Be ! 3 Rum; f un £ ET: 1 1 | a NV P | | ' Ken 3 - N ie eh G 2 ı eg , Mi | =) Ka Rn BE { ı We R & ER a: Re Pin Br 3 | | ’ 5 rer x r h j | y Y 381g DIE GEOLOGISCHEN GRUNDLAGEN DER ABSTAMMUNGSLEHRE MIT 172 TEXTFIGUREN LEIPZIG VERLAG VON WILHELM ENGELMANN 1908 Hi z Den > S 2” Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten. HRBMS vom 7 GIFT 197975 DEM ANDENKEN LAMARCKS „Les races des eorps vivants subsistent toutes malgr& leurs variations“ Vorwort. Diese Schrift ist ein Versuch, den Entwicklungsgang der or- ganischen Welt, soweit er historisch belegt ist, mechanisch begreif- lich zu machen, und zwar nicht aus dem fertigen Zustande der heutigen Schöpfung, sondern aus ihrer Geschichte. Wie nützlich und notwendig ein solches Unternehmen ist, brauche ich nicht zu begründen; vielleicht wird aber der Leser wissen mögen, wieso ich dazu gekommen bin, an eine solch schwierige Aufgabe heranzutreten, und warum ich nicht davon abgelassen habe, als sich herausstellte, daß die Ergebnisse den heute allgemein gültigen Auffassungen in vielen, ja in den meisten Punkten zuwiderlaufen. Als Jünger der Naturgeschichte ist mir, wie vielen anderen, die Abstammungslehre, wie sie sich in den 60er und “0er Jahren des verflossenen Jahrhunderts herausgebildet hatte, als die bedeutsamste Errungenschaft der modernen Naturforschung erschienen. Denn wen könnte eine Theorie, die den Schlüssel liefert für das Werden und Wandeln der belebten Natur im Laufe der Zeit, inniger be- rühren, als den Historiker, der sein nächstes Ziel in der Feststellung und Verknüpfung der geschichtlichen Tatsachen, sein letztes im Be- greifen des Ganges der Geschichte sieht. War die Theorie der Ab- stammung richtig, und trafen ihre grundlegenden Erklärungsversuche wirklich zu, so mußte jede gut beglaubigte geschichtliche Tatsache, wie viel mehr eine Reihe geschichtlich verknüpfter Erscheinungen, sich ohne weiteres als ein bedingtes Glied in der Gesamtentwick- lung begreifen lassen. Jede Erweiterung des historischen Stoffes hätte die Richtigkeit der Lehre von neuem erweisen, ihre Erklä- rungen bestätigen und das Gesamtbild harmonisch ergänzen müssen. Diese berechtigten Anforderungen hat die Abstammungslehre aber gerade nicht erfüllen können. Zwar hat das stetig anwachsende fossile Material in vielen Einzelfällen zwingende Belege für die Unentbehrlichkeit dieser Lehre gezeitigt, in jeder anderen Beziehung aber nur große Enttäuschungen gebracht. Die Zusammenhänge im großen sind nicht klarer geworden, der gesamte Entwicklungsgang Al Vorwort. ist verschleiert geblieben, und alles Bemühen, ihn mit Hilfe der Entwicklungslehre aufzuklären, hat die vorhandenen Probleme nur verschärft. Als es mir vor etwa 20 Jahren klar zum Bewußtsein kam, daß die herrschende Abstammungslehre das ungeordnete Mosaik des his- torischen Stoffes nicht zu einem einheitlichen Bilde vereinigen könne, stand ich vor der Wahl, entweder auf ein Begreifen der Naturge- schichte überhaupt zu verzichten oder neue Wege zu suchen, um zu diesem Ziele zu gelangen. In dem historischen Stoffe selbst glaubte ich den leitenden Faden zu finden. Meine ersten Versuche gingen dahin, dem Entwicklungsgange der Mollusken die Gesetzmäßigkeiten zu entnehmen, die ihre phylogenetische Entwicklung beherrschen; sie führten zwar zu einem befriedigenden Verständnis des Gesamt- vorgangs, aber Methode wie Ergebnis standen unverhüllt im Gegensatz zu den gebräuchlichen Forschungen und zu den heutigen Lehrmeinungen. Kein Wunder, daß dieser Weg von anderen For- schern nicht befolgt wurde. Nach dem gleichen Grundsatze dehnte ich die Prüfung von den Mollusken auf andere Abteilungen des Tierreichs und auf das Pflanzenreich aus, und dabei erhielt ich immer wieder ein Ergebnis, das dem historischen Stoff ebenso sehr gerecht wurde, wie es den üblichen Auffassungen widersprach. So hielt ich es vor 9 Jahren für angezeigt, die Bedeutung meiner ab- weichenden Methode und Auffassung für das Verständnis der Ge- samtentwicklung der Natur programmatisch zum Ausdruck zu bringen, und dabei versuchte ich zu zeigen, auf welchem Wege die Probleme der Abstammungslehre beseitigt werden könnten. Der Fehler konnte nach meiner Ansicht nur in der Art und Weise liegen, wie wir die Natur deuten; denn sie ist immer wahr, immer einfach und auch stets klar, wo wir in ihr lesen und aus ihr allein die Gesetze ableiten. Nur wo wir rein menschliche Begriffe in sie hineintragen und ihr Wirken in Gesetze bannen wollen, die wir auf sie übertragen statt sie ihr zu entnehmen, erscheint sie dunkel und unklar. Das ist freilich nicht der Grundsatz der heutigen Naturphilosophie, die ohne teleo- logische und vitalistische Erklärungen nicht auskommen kann, oder die zum Schutze ihres Lieblingskindes, der Selektionstheorie, heute noch erklärt: »Naturgesetze werden nicht durch Induktion, sondern durch Deduktion gewonnen.« (PLATr.) Begreiflicherweise decken sich meine Ergebnisse in den Einzel- heiten vielfach mit denen älterer und neuerer Forscher, besonders mit solchen, die die Natur wesentlich aus ihrer Geschichte verstehen wollen. Wenn ich aber nach Anknüpfungspunkten für gewisse Vorwort. VII grundlegende Vorstellungen vom gesamten Entwicklungsgange der Natur suchte, die ich aus ihrer Geschichte gewonnen hatte, so mußte ich in vordarwinsche Zeiten zurückgreifen, ja für manche hoch- wichtige Fragen entdeckte ich einen Mitklang nur in den Geistes- erzeugnissen des 18. und des Anfanges des 19. Jahrhunderts, besonders in den Schriften LamArcks und GOFTHzEs. Mit staunender Bewunde- rung fand ich bei ihnen vieles klar und bestimmt ausgesprochen, — von der Mit- und Nachwelt unverstanden und vergessen — was ich mit Mühe aus der reichen Fülle unseres heutigen Wissens als wich- tigstes Ergebnis herausgelesen hatte. So darf man mir wohl eher den Reaktionär vorwerfen als den Neuerer, wie es Kritiker tun, für die die Wissenschaft nur von heute oder gestern datiert. Das Buch ist einerseits kritisch und reißt Bestehendes ein, andererseits will es Neues aufbauen. Ich habe mich bemüht, die Bausteine hierzu aus dem Pflanzenreiche und aus den verschiedensten Teilen des Tierreichs zu entnehmen, um zu zeigen, daß die abweichende Auffassung, die ich vertrete, nicht einseitig gewonnen ist und nicht nur für eine oder für einige Organismengruppen, sondern für die ganze Schöpfung zutrifit. Wer sie für die Pflanzen zugibt, kann sie nicht für die Korallen oder Mollusken verwerfen, und wem sie für diese zutreffend erscheint, muß sie wohl oder übel auch für die Wirbeltiere zugestehen. Nur in dieser umfassenden Allgemeinheit kann sie einen Fortschritt bedeuten, nur so gestattet sie, die Ge- schichte der belebten Natur als einen gesetzmäßigen- Vorgang zu begreifen. Jeder Versuch, die Formen der Natur nach neuen Gesichts- punkten um- und zusammenzustellen, begegnet : naturgemäß großen Schwierigkeiten; vielfach reicht die Literatur dafür nicht aus, da gewissen Merkmalen, die für die neu gefundenen Beziehungen von Bedeutung werden, oft nicht die gebührende Aufmerksamkeit ge- schenkt ist, und diese daher am ÖOriginalmaterial herausgesucht werden müssen. Möglichst umfangreiche und gut geordnete Samm- lungen und reiche literarische Hilfsmittel sind hierfür erforder- lich. Leider ist mir — wie ersprießlich dies auch für meine Forschungen gewesen wäre — seit meiner Dozentenzeit nie mehr das Glück zuteil geworden, solche Hilfsmittel dauernd benützen zu können, und ich habe daher die Lücken nur durch gelegentliche Besuche in größeren Sammlungen notdürftig ausfüllen können. Mit dieser Unvollkommenheit des Handwerkszeuges möge der Leser die unzutreffenden Angaben entschuldigen, die wohl gelegentlich unter- gelaufen sind, wie sehr ich auch bemüht war, sie zu vermeiden. Ich VIII Vorwort. habe daher auch lange gezögert, bis ich mich entschloß, der program- matischen Ankündigung eine Ergänzung in meiner »Einführung in die Paläontologie« und jetzt diese Schrift folgen zu lassen. Aber wie mir die Anklänge an meine Resultate in den Schriften älterer Forscher die Überzeugung festigten, daß ich auf dem richtigen Wege sei, so hat mich auch ein Ausspruch LAmArcks im Gefühl meiner wissenschaftlichen Verantwortlichkeit bestärkt: »Quand on reconnait qu’une chose est utile et qu’elle n’a pas d’inconvenient, on doit se häter de l’ex&cuter, quoiqu’elle soit contraire A l’usage.« Bonn, Ende Februar 1908. G. Steinmann. Inhaltsverzeichnis. - Seite Ayaks Binkührung va SR Se a een 1 IeEhistorischer Überblick. Ss u. 0 ul Dı. ve se 4 Il) re Probleme smart. u N u NL N een an: 20 1. Das Aussterben der Arten und das Verschwinden großer Gruppen yon“ Nierentundsbllanzen ar um rap ne Den 20 Vierarmungeder#lierwelt te. 2 2 no 32 Der Mensch als Vernichter der Tierwelt .. ........ 40 2. Das unvermittelte Erscheinen der Tier- und Pflanzengruppen. . 47 3. Das Fehlen von Übergangsgliedern zwischen den größeren Abtei- Iunsensdesskier undwktlanzenreichn en. ns a, 50 4. Die Unverständlichkeit des ganzen Entwicklungsganges ..... 53 iiselershusworsische:; Stoff... cr cu u ee een 57 INZennerkiartwebilde.. mn... meh ee Da 66 V. Die Methoden der phylogenetischen Forschung. ..... 86 MIzDre Schyzodenten. (LrisoniensundsUnionen) a... 2.0.0.0... 99 Imrb)iemVzeränderlichkeit 1... Sa Aa Le ek NG 24 EroplemerderMiergeographie, u. ur. Aue „Diem. 118 VI. Zur Stammesgeschichte der Tier- und Pflanzenwelt ... 119 NeD)rerBilanzenweltsim allgemeinen. um... 0... nu 120 B. Sphragidophylla (Sigillarien und Cacteen)...... 22.2... 130 C. Zur Stammesgeschichte der Wirbellosen .. ......... 141 31 1 O1 kann Na a EU N a en 142 2E3IPONSTENIER ER Eu N a N 143 3.4 Bharetronens as a a a Salt, 144 Alichinodermenu a a u a ne Leer 147 53 brachiopoden, ea Su a m en 159 6.9 Zweischalert. a na NEE Eh, ED 162 XaManteltieres ars ne ee een. 174 SPAmm OnIbenEs N en RE ne een 187 I Nautiloideenrsv. nal a a 192 OFArthropodengar N va IR SI En 196 D. Zur Stammesgeschichte der Wirbeltiere . ... 2.2.22 2.. 203 Dep ische ne ae a U era lee ee 203 ZN erbüßlere le N ee 206 O1, Warınblutersens ap es a ae. NL een u 211 Am VogelGundn Sauger year ln ee Me 217 DV OS ER ENRIIN SRH SEEN ES NS Nansien SRRRRURENERE EURER UT CME 221 GUSaAUSEr ee 3 N ie 231 a WeräMenschu ins. ee a ns) 265 Zur Einführung. Die Naturbeschreibung ist lange nicht hinreichend, von der Mannigfaltigkeit der Abartungen Grund an- zugeben. Man muß, so sehr man auch, und das mit Recht, der Frechheit der Meinungen Feind ist, eine Geschichte der Natur wagen, welche eine abge- sonderte Wissenschaft ist, die wohl nach und nach von Meinunsen zu Einsichten fortrücken könnte. (Kant, von den verschiedenen Rassen der Menschen; zur Ankündigung der Vorlesungen im Sommerhalbjahr 1775.) Mit diesen Worten hat Kant im Jahre 1775 den Weg vor- gezeichnet, der allein zum vollen Verständnis der belebten Natur führt: die Naturgeschichte. Auf sie stützte sich auch schon LAMmArck, als er vor nahezu einem Jahrhundert in seiner Philosophie zoologique den Grundstein zur heutigen Abstammungslehre legte. Aber die Entwicklungslehre, wie sie vor fast einem halben Jahrhundert durch Darwın ihre Wiedergeburt erlebt hat, ist in ihrer modernen Form vorwiegend unhistorisch. Sie hat zwar die Forschungsmethoden aller Wissenschaften, die sich mit der belebten Welt befassen, unter ihr Szepter gezwungen und beherrscht heute das naturwissenschaftliche Denken fast vollständig. Selbst die kirchlichen Kreise haben sich mit ihr abgefunden und lassen sie auch für den Menschen, wenigstens für seine physische Seite, gelten. Und doch wird die Wissenschaft des errungenen Erfolges nicht recht froh. Nur einige unverbesser- liche und wenig kritisch veranlagte Optimisten verkünden unentwegt, wie herrlich weit wir es gebracht haben; sonst herrscht vielfach in wissenschaftlichen wie in Laienkreisen das Gefühl der Unsicherheit und des Zweifels. Nicht als ob die Richtigkeit des Deszendenz- prinzips ernstlich in Frage gestellt würde, vielmehr festigt sich die Überzeugung stetig mehr, daß es für das Verständnis der lebenden Natur unentbehrlich, ja selbstverständlich ist. Aber so offenkundig wie im letzten Jahrzehnt ist es vorher nie hervorgetreten, wie wenig allgemein Anerkanntes im dieser Lehre besteht, sobald die nächst- liegenden Fragen nach dem Gange der Entwicklung und seinen treibenden Ursachen aufgeworfen werden. Einfache und befriedigende Antworten kann niemand darauf erteilen. Fragt etwa jemand danach, auf welchem Wege denn wohl die normalen, d. h. plazentalen Säuge- tiere aus niederen Vierfüßlern hervorgegangen sind, so wird er belehrt, Steinmann, Abstammungslehre. 1 2 Einführung. daß die einen Forscher sie über die Beuteltiere von den Reptilien, andere sie unmittelbar von gewissen permischen Reptilien ableiten, wieder andere ihren Ursprung in die allerältesten Zeiten zurück- verlegen und sie aus gänzlich unbekannten Vorfahren hervorgehen lassen. Oder möchte jemand wissen, warum die vielen merk- würdigen Tier- und Pflanzenformen der Vorzeit nicht mehr leben, durch welche Ursachen sie dem Untergange zugeführt worden sind, so wird er alles andere denn eine klare und unzweideutige Antwort erhalten. Wer wagte es heute, etwas anderes als die persönliche Auffassung der einzelnen Forscher wiederzugeben, wenn er über die Erblichkeit erworbener Merkmale, über die Bedeutung der natürlichen Zuchtwahl und viele andere Einzelheiten der Entwicklungslehre Aus- kunft geben soll? Denn was dem einen als der Eckstein der Ab- stammungslehre gilt, ist für den andern ein Faktor von ganz unter- geordneter Bedeutung, ein dritter hält es gar für die größte Verirrung des verflossenen Jahrhunderts. Je länger ich über die Ursachen dieses unerfreulichen Zustandes nachgedacht habe, um so mehr hat sich in mir die Überzeugung ge- festigt, daß noch ein wichtiger Teil der Fundamente fehlt, auf denen ein so schwerwiegender Bau wie die Abstammungslehre errichtet werden sollte. Das tritt klar hervor, wenn wir den Kern dieser Lehre herausschälen. Sie besagt in erster Linie: die lebenden Wesen aller Zeiten sind auf natürlichem, d. h. mechanisch verständlichem Wege auseinander hervorgegangen. In dieser Form ist sie zunächst eine Hypothese von eminent historischem Inhalt. Um sie zum Range einer brauchbaren wissenschaftlichen Theorie zu erheben, ist nötig, zu erweisen, daß die Organismen veränderlich sind, so daß aus bestehenden Formen neue, anders geartete, hervorgehen können, und daß solche Umwandlungen auch tatsächlich erfolgt sind. Daß Verönderlichkeit eine Eigenschaft ist, die den Organismen überhaupt zukommt, wissen wir seit Darwıns grundlesendem Werke über die Entstehung der Arten, das richtiger den Titel »die Veränderlichkeit der Organismen« hätte führen sollen. Daß im Laufe der Zeit durch langsame, schrittweise Umbildung neue Arten und Gattungen tat- sächlich entstanden sind, läßt sich zwar historisch nicht streng be- weisen, sondern nur bis zu einem gewissen Grade wahrscheinlich machen. Doch genügen die wenigen vollständigen Beispiele, die bis jetzt hierfür beigebracht worden sind, allein schon, um jede andere Deutung des vorliegenden Stoffes als durchaus unwahrscheinlich hin- zustellen. Jeder Paläontologe weiß, daß sich derartige Beispiele von mehr oder weniger geschlossenen genetischen Reihen leicht vermehren Einführung. 3, ließen, wenn dies nicht durch rein äußerliche Gründe erschwert wäre, wie durch die Zerstreuung des Materials in vielen verschiedenen Sammlungen und durch das Fehlen der beträchtlichen Mittel, die nötig sind, um die vorhandenen Lücken in kurzer Zeit systematisch zu ergänzen. Jeder Zuwachs von neuem fossilem Material trägt jedoch dazu bei, die vorhandenen Lücken auszufüllen, und jeder Ver- such, mit Hilfe dieses Zuwachses bisher unverbundene Tier- und Pflanzenformen zu verknüpfen, führt zu dem gleichen Ergebnis: er bestätigt die Theorie der Abstammung überhaupt und zeigt denselben Mechanismus auf, nämlich eine schrittweise Umbildung. So wächst die Wahrscheinlichkeit der Abstammungslehre von Tag zu Tag, und es begreift sich leicht, daß gerade die Paläontologie, sobald sie über die einfache Beschreibung der Fossilien hinaus- und irgendwelcher Art von Verknüpfungen nachgeht, die Abstammungslehre in keiner Weise entbehren kann. Sie ist bis heute die einzig mögliche Form, in der die Wandlungen der Schöpfung auch gerade im einzelnen begriffen werden können. Wird nun auch die Abstammungslehre durch das historische Material im allgemeinen gestützt, so sind doch die Methoden, nach denen man die Naturformen verknüpft und daraus Erklärungen und Vorstellungen allgemeiner Art ableitet, keineswegs auf historischer Grundlage gewonnen. Das liegt im Gange der Wissenschaft be- gründet. Erst lange nachdem man den größten Teil der heutigen Tiere und Pflanzen nach Form, Bau und Tätigkeit kennen gelernt hatte, haben wir etwas Genaueres über die Geschichte der Erde und ihrer Bewohner erfahren, und auch heute noch liegt für diese Forschung ein unabsehbares Feld unbebaut. Dieser mehr zufällige Umstand darf uns aber nicht übersehen lassen, daß die Betrachtungs- weise der Natur vor allem aus historischen Erfahrungen erwachsen sein sollte, da wir sonst Gefahr laufen, sie in schiefer Beleuchtung zu sehen. Würde man nicht einer Forschung ihre unzulängliche Methode zum Vorwurf machen, die den heutigen Zustand der Kultur aus- schließlich oder doch überwiegend aus diesem selbst erklären wollte und nicht aus den Erfahrungen, die uns die Geschichte an die Hand gibt, gleichgültig ob diese mehr oder weniger vollständig erschlossen wäre? Und tragen nicht alle Versuche, etwas historisch Gewordenes aus dem fertigen Zustande und nicht aus den fortlaufenden Stadien seiner Geschichte zu erklären, von vornherein den Stempel der Halb- wahrheit ? Es fehlen uns heute noch die Methoden, die aus dem Ent- wicklungsgange der Schöpfung selbst abgeleitet sind. Anstatt das 1* 4 Historischer Überblick. Wenige oder das Viele, was wir darüber wissen, zunächst allein sprechen zu lassen, und aus den geschichtlichen Änderungen, die wir wirklich verfolgen können, den Gang und Mechanismus der Entwicklung abzulesen und hieraus einen gesicherten Standpunkt für die Betrachtung der Natur zu gewinnen, sind wir von vornherein daran gewöhnt worden, die Schöpfungsgeschichte nur in dem Lichte zu sehen, das die fertige Schöpfung ausstrahlte zu einer Zeit, als sie noch nicht einmal im Verdachte stand, etwas geschichtlich Ge- wordenes zu sein. Kein Wunder, daß die Naturgeschichte nicht in den Rahmen passen will, den man für sie zurecht gezimmert hat, ohne sie zu kennen oder sie wenigstens überschaut zu haben. Gerade das schreiende Mißverhältnis zwischen dem tatsächlichen Entwicklungs- gange, wie wir ihn aus den Funden der Vorzeit ablesen, und dem, wie ihn die heutige darwinistische Entwicklungslehre fordert, legt der Paläontologie die Verpflichtung auf, aus dem gegebenen histo- rischen Stoff die Bausteine herauszulesen, die als Grundlage für die Abstammungslehre dienen können. Bei einem solchen Versuche, wie bei jeder Benutzung des fossilen Materials können wir natürlich die Erfahrungen nicht entbehren, die uns Zoologie und Botanik an die Hand geben. Wohl aber müssen wir uns von den Auffassungen und Deutungen frei halten, die nur aus dem lebenden Material gewonnen snd, wenn sie in der Geschichte keinerlei Bestätigung erfahren. Gelingt es auf diese Weise, auch nur einen Teil der zahlreichen Schwierigkeiten zu beseitigen, die heute einem Verständnis des Ent- wicklungsganges entgegen stehen, nur eines der Probleme seiner Lösung entgegen zu führen, die sich uns unvermeidlich entgegenstellen, sobald wir die Schöpfungen früherer Zeit im Lichte der jetzigen Abstammungslehre betrachten, so ist unser Vorgehen auch praktisch gerechtfertigt. Welcher Art aber die Schwierigkeiten und Probleme sind, und wie es möglich ist, daß sie heute noch so zahlreich und so bedrohlich bestehen, werden wir am besten aus einem geschicht- lichen Überblick entnehmen können. I. Historischer Überblick. Wie jeder bedeutsame Fortschritt in den Wissenschaften, so hat auch der Darwinismus Nachteile mit sich gebracht, und diese haben die fernere Entwicklung der Abstammungslehre auf Jahrzehnte, ja auf Generationen hinaus belastet. Diese Schattenseiten der Ent- wicklungslehre will ich zunächst herauskehren, wenigstens insoweit Historischer Überblick. 5 sie für unsere Untersuchungen und Betrachtungen von Bedeutung werden. Wohl der schwerste, wenn auch leicht begreifliche Irrtum in der neuen Lehre bestand in der Vorstellung, daß man die Gesetze der Umbildung in der organischen Natur in ihren wichtigsten Grundlagen feststellen und daß man ihren Entwicklungsgang begreifen könne, ohne diesen selbst, wenigstens bis zu einem gewissen Maße historisch verfolgt zu haben. Ein solcher schwerwiegender methodischer Fehler führte vor allem zur Überschätzung des Darwınschen Erklärungs- versuchs, der in Wirklichkeit doch nur auf die künstlichen, wie man weiß und wußte in der Natur nicht beständigen Züchtungsprodukte des Menschen zutrifft. Seine Gültigkeit ohne weiteres auf die ge- wordenen Naturerzeugnisse zu übertragen, ist nicht minder unzu- lässig, als einem Schöpfer irgendwelche menschliche Handlungsweisen beizulegen. Der unvollkommene Zustand, in dem sich damals die historischen Zweige der Naturkunde, Geologie und Paläontologie, befanden, gestattete es freilich, gerade die dürftigen Ergebnisse dieser Wissenschaften zugunsten einer solchen Übertragung zu verwerten. Mußten doch in der Tat wohl die meisten der damals bekannten Ver- steinerungen als blind auslaufende Erzeugnisse der Schöpfung er- scheinen, da man sie mit den heutigen Gestalten der Pflanzen und Tiere überhaupt nicht ohne weiteres in Beziehung bringen konnte. Denn wo bleiben in der heutigen Schöpfung die Nachkommen der baum- artigen Schachtelhalme, der Bärlappe, der Siegelbäume, wo die Nach- kommen der Meer-, Riesen- und Flugsaurier? War nicht allein die Tatsache, daß sie geschaffen waren und doch nicht mehr bestehen, schon ein hinreichender Beweis dafür, daß eine Auslese nicht nur in beschränktem Maße, sondern in gewaltiger Ausdehnung Platz gegriffen hatte? Denn daß man das Verschwinden solch umfangreicher und anscheinend sehr bestandfähiger Tier- und Pflanzengruppen weder durch geologische Vorgänge noch durch das Eingreifen des Menschen erklären und verstehen konnte, lag klar zutage. Es mußte also wohl der Grund für ihr Verschwinden in ihrer fehlerhaften Organisation liegen, und der Natur mußte die gleiche Fähigkeit zukommen, aus- zulesen, wie es der Mensch als Züchter tut. So stützte die Unkennt- nis von dem Werden der organischen Welt die unberechtigte Über- tragung menschlicher Tätigkeit auf die Natur und festigte ein Dogma, das jahrzehntelang die Wissenschaft fast ganz und gar beherrscht hat, und das noch heute in wissenschaftlichen und Laienkreisen vielfach als der Eckstein der Entwicklungslehre gilt — die Wandlungen in der belebten Natur vollziehen sich durch Auslese des Zweckmäßigen, 6 Historischer Überblick. und alles, was sich als nicht bestandfähig im Laufe der Zeit erwiesen hat, war unzweckmäßig organisiert. Damit war denn zugleich der Weg gewiesen, um eine weitere, ebenfalls rein menschliche Vorstellung in die Betrachtung der lebenden Natur einzuschmuggeln, den Begriff der Nützlichkeit und Zweckmäßig- keit. Diese Betrachtungsweise muß aber mit GorTHE als »durchaus nicht wissenschaftlich« bezeichnet werden. Die Biologie hat objektiv, und zwar durch physiologische Untersuchung, zunächst die Funktion der Organe zu erforschen, und wenn sie dazu fortschreitet, die Ent- stehung der Organe und ihrer Funktionen zu ermitteln, so darf dies immer nur geschehen unter Aufdeckung des historischen Werdegangs und der materiellen Ursachen und Reize, die zur Entstehung, Er- haltung und Umbildung der Organe und der daran geknüpften Funk- tionen geführt haben. Sobald ich aber nach dem Zwecke eines Or- gans oder einer Organisation frage und festzustellen versuche, ob sie nützlich sind oder nicht, verlasse ich den Boden der Naturwissen- schaft und begebe mich in den Bann rein anthropomorphistischer An- schauungsweise. Denn ein objektiver Nachweis, daß eine zweckmäßige oder nützliche Beziehung wirklich vorliegt, ist schwer zu führen, wohl aber ist der wohlfeilen individuellen Deutung jedes beliebigen Merkmals Tor und Tür geöffnet. Die Nützlichkeit oder Zweckmäßig- keit einer Einrichtung kann ja auch nie die Ursache für ihre Ent- stehung sein, außer in menschlichen Dingen. Zwängt man aber die weite Wirkungsweise der Natur in den engen Bann rein menschlicher Handlungsweise und Vorstellungen hinein, so entfernt man sich von dem eigentlichen Ziele der Wissenschaft so weit als nur möglich. Es ist daher für die Entwicklungslehre geradezu verhängnisvoll geworden, daß sich die teleologische Betrachtungsweise an ihren Aufschwung durch Darwın festgeheftet hat, und es ist tief bedauerlich, daß jetzt sogar in der Schule die leicht zu beeinflussende Denkweise des Kindes mit einer seichten Naturteleologie von vornherein infiziert und dadurch die einzig richtige, nämlich die kausale Deutung der Naturvorgänge, von ihm fern gehalten wird. Anstatt zu lehren: Die Formen der Schöpfung sind Zwangsformen, die so wie sie sind, entstehen mußten durch die zwingende Gewalt einfacher materieller Naturvorgänge, durch Einwirkung dieser Vorgänge auf den lebendigen Stoff, dessen Eigenart wir heute noch nicht verstehen, mit der wir daher als mit einem Gregebenen zu rechnen haben, sucht man darzutun und zu be- weisen, daß die in den heutigen Naturkörpern bestehenden Einrich- tungen zweckmäßig, nützlich und für das Fortbestehen der Art, die sie besitzt, notwendig seien. Anstatt ihre Entstehung zu erklären, Historischer Überblick. 7 soweit das beim heutigen Tiefstande unserer biologischen Auffassung möglich ist, zeigt man, wie sich die Einrichtungen im Spiegel mensch- licher Zweckmäßigkeit und Möglichkeit ausnehmen. Daß schon Lamarck die Not (mit diesem Worte ist besser als mit »Bedürf- nis« sein »besoin« zu übersetzen) als den treibenden Faktor der Entwicklung erkannt hatte, und daß hieraus allein schon der Ent- wicklungsvorgang in seinen Hauptzügen klar begreiflich gemacht werden kann, scheint fast ganz vergessen worden zu sein. Mit der Einführung des Begriffs der natürlichen Auslese, der Vernichtung zahlreicher Tier- und Pflanzengruppen im Kampfe ums Dasein und der Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit war eine tiefe Kluft in der Lebewelt aufgetan. Auf der einen Seite standen die Wesen, die sich bis heute erhalten haben durch die Zweckmäßigkeit ihrer Organisation, die von der Natur Auserwählten, die Anpassungsfähigen, die Seligen, bei denen die Veränderlichkeit sich zu nützlichen und zweckmäßigen und damit bestandfähigen Umbildungen ausgelöst hatte. Diese setzen die heutige Schöpfung zusammen, und sie besitzen eine geschlossene Vorfahrenreihe. Auf der andern Seite stehen die Verworfenen, denen es nicht vergönnt war, sich in dem großen Entwicklungsprozesse zu bestandfähigen Formen umzugestalten; sie haben wohl eine Zeitlang, ja, wie man meinen möchte, oft unverdient lange und ruhmvoll ihren Platz in der Natur ‚behauptet, aber ihr Bestand war dennoch nicht von Dauer. Oft erreichte sie gerade dann das unvermeidliche Schick- sal in der Form der natürlichen Auslese, wenn sie sich am reich- lichsten vermehrt und sich am breitesten in der Natur gemacht hatten. Wahrlich die Vertreter der christlichen Theologie haben keine Ver- anlassung gehabt, diese Auffassung der Natur zu bekämpfen, denn was ist sie schließlich anders, als eine Art Gnadenwahl, vom Menschen ausgedehnt auf die Gesamtheit der belebten Natur ? Diese Trennung gewährte weiter den Vorteil, zu unterscheiden, welche Einrichtungen in der Natur zweckmäßig, welche unzweck- mäßig waren und sind. So konnten, nach Kowarzwskı, diejenigen Paarhufer, deren Mittelfußknochen bei der Reduktion der Zehen un- entwegt ihre Stellung an den zugehörigen Fußwurzelknochen bei- behalten hatten, nicht auf die Dauer bestehen, sie starben aus. Denn eine Einrichtung, die lange Zeit vollauf genügt hatte, war dennoch nicht anpassungsfähig (inadaptiv) und plötzlich so unzweckmäßig geworden, daß ihre Träger samt und sonders vergehen mußten. Viele Forscher sind zwar durch eine instinktive Scheu oder auch durch die zunehmende Auffindung noch lebender Tierformen, die man vorher für ausgestorben gehalten hatte (wie Salenia, Cystispongia usw.), davon abgehalten 8 Historischer Überblick. worden, jenen Grundsatz folgerichtig auf das Gros der ausgestorbenen Tiere anzuwenden. Aber es liegen reichliche Versuche vor, an aus- gestorbenen Tiergruppen diejenigen Merkmale ausfindig zu machen, die ihren Untergang notwendigerweise haben herbeiführen müssen, oder die lebensfähigeren Konkurrenten zu entdecken, die ihnen den Garaus gemacht haben. Man ist auf diesem Wege vielfach zu den 1 Fig. 1. Eine Ammonitenschale, deren Win- Fig.2. Eine Ammonitenschale, deren Win- dungen sich nur berühren, aber nieht seit- dungen sich seitlich umfassen (Hammato- lich umfassen (Lytoceras triparlitum aus ceras Sowerbyi aus dem mittleren Dogger). dem obern Dogger). A von der Seite, B von vorn. A von der Seite, B von vorn. Fig.3. Eine Ammonitenschale, deren letzter Fig. 4. Eine Ammonitenschale, deren Um- Umgang sich von der Schale abzulösen be- gänge zwarnoch spiral, aber alle voneinander ginnt (Scaphites — obere Kreide). gelöst sind ( Crioceras — Untere Kreide). abenteuerlichsten Vermutungen und Behauptungen geführt worden, man hat sich auch nicht gescheut, sich mit tatsächlichen Erfahrungen in offenen Widerspruch zu setzen. Dafür nur ein Beispiel von vielen. Bekanntlich verschwinden die Ammoniten für uns mit den jüngsten Schichten der Kreideformation, und zwar überall auf der Erde. In- wieweit diese Erscheinung tatsächlich ist oder nur scheinbar, soll an 'einer andern Stelle erörtert werden. Nun beobachtet man bei den Historischer Überblick. 9 Ammoniten, vereinzelt schon in der Trias und im Jura, als häufige Erscheinung aber in der ganzen Kreide, eine auffallende Änderung ihres Wachstums. Die Windungen der Schale, die bei einem nor- malen Ammonitengehäuse einander mindestens berühren (Fig. 1), sich aber zumeist wie beim lebenden Nautelus mehr oder weniger weit um- fassen (Fig. 2), lösen sich voneinander, und zwar geschieht dies in der mannigfaltigsten Weise. Meist beginnt dieser Vorgang am Ende der Schale (Fig. 3) und schreitet allmählich nach rückwärts fort Fig.5. Eine Ammonitenschale, Fig. 6. Eine ganz gerade ge- Fig.7. Eine Ammoniten- deren Windungen sich vonein- streckte Ammonitenschale; schale, deren Windungen ander gelöst haben, aber nicht nur der allererste Anfang der wie bei einer Schnecken- mehr regelmäßig spiräl gerollt, Schale (hier nicht gezeichnet) schale turmartig aufgerollt sondern hakenförmig geknickt ist noch spiral (Baculites — sind (Turrilites — Obere sind (Hamites— Untere Kreide). Obere Kreide). Kreide). (Fig. 4), bis schließlich ein gebogenes, hakenförmig gekrümmtes (Fig. 5) oder stabförmiges Gehäuse (Fig. 6) entsteht, dessen Anfang allein noch gerollte und sich berührende Windungen besitzt, bald rollt sich die Schale korkzieherartig mit anliegenden (Fig. 7) oder mit gelösten Windungen auf, oder sie besteht auch wohl schließlich aus wirren, gesetzlosen Verschlingungen. In diesem Aufgeben der normalen geschlossenen Spirale glaubte man die Erklärung für das Aussterben der Ammoniten gefunden zu haben; sie waren degeneriert, 10 Historischer Überblick. hatten nicht mehr die Kraft besessen, eine normal gebaute Schale zu erzeugen und waren deshalb vom Schauplatze abgetreten. Aber wie fadenscheinig werden solche Erklärungen, wenn man den Blick nicht auf dieser Erscheinung allein haften läßt! Wenn auch sehr zahlreiche Ammonitenstämme der Kreide eine solche Veränderung erfahren, so bleiben doch bis in die jüngsten Lagen der Kreide eine große Zahl von Stämmen bestehen, die keine Spur einer solchen Degeneration aufweisen. Nach der heute beliebten engen Fassung der Gattungen sind es mindestens 15, und darunter eine ganze Zahl, die weder damals noch früher auch nur das geringste Anzeichen zu einer irgendwie abnormen Gestaltung der Schale erkennen lassen, wie Fig. jo} nl Fig. 8 Sphenodiseus und Fig. 9 Buchiceras, zwei Ammonitengattungen mit vollständig normaler und eng eingerollter Schale aus den obersten Kreideschichten (Senon). Phylloceras, Pachydiscus, Placenticeras, Buchiceras (Fig. 9), Spheno- discus (Fig. 8) u. a. Warum fehlt bei diesen jene Degenerations- erscheinung gänzlich, da sie doch unmittelbar vor dem Aussterben standen? Bedenklich muß aber die Deutung auch deshalb erscheinen, weil die am stärksten degenerierten Formen, wie der stabförmige Baculites (Fig. 6), ebenso auch Scaphites (Fig. 3), in den jüngsten Kreideschichten zuweilen in ganz ungewöhnlicher Häufigkeit auftreten. Gerade das Gegenteil sollte man erwarten. Übrigens stehen ja die Ammoniten mit diesem »Degenerationsmerkmale« nicht vereinzelt da. Bei Schnecken treffen wir es ebenfalls, am ausgeprägtesten bei den beiden Familien der Vermetiden und Caeciden, die in zahlreichen Arten in den heutigen Meeren leben, in einzelnen Gattungen bis in die mesozoische Zeit, ja bis ins Paläozoikum, zurückreichen. Es ist gar nicht einzusehen, warum bei den Ammoniten das ein Zeichen von Degeneration sein soll, was bei den Schnecken die Bestandfähigkeit Historischer Überblick. Lat in keiner Weise schmälert, sich vielmehr im Laufe der Zeit immer reichlicher entwickelt hat. Zum mindesten müßte doch erst für die Ammoniten der exakte Beweis erbracht sein, daß ihre Lebensverhält- nisse von denen der Schnecken so grundsätzlich abgewichen wären. Aber gerade im Gegenteil hat man in letzter Zeit wahrscheinlich zu machen versucht, daß ihre Lebensweise der der Schnecken weit ähnlicher ge- wesen sei, als man früher geglaubt hatte. Auch jede andere Abweichung von der normalen Form der Schale ist bei den Ammoniten in diesem Sinne gedeutet worden: die Ausschnürungen (Fig. 11) und Knickungen (Fig. 10) der Wohnkammer, die wulstartigen Verdickungen (Fig. 11 x) und der mehr oder weniger visierartige Verschluß der Mündung (Fig. 10). Zu den meisten dieser Merkmale finden sich aber Parallel- bildungen bei den Schnecken, und zwar an Gattungen, die sehr weit Fig. 10. Eine Ammonitenschale mit ge- Fig. 11. Eine Ammonitenschale mit ausge- knickter Wohnkammer und visierartig ge- schnürter letzterWindung und mit wulstartig schlossener Mündung (0) (Haploceras). verdicktem Mundsaum (ww) (Sphaeroceras). davon entfernt sind, auszusterben, wie Uypraea, Strombus, Voluta, Helix usw. Vielmehr handelt es sich hierbei um Bildungen, die im höheren Lebensalter des Tieres eintreten, also um senile Erschei- nungen des Individuums, keineswegs des Stammes. Anstatt einzugestehen, daß wir manches durchaus noch nicht erklären können, und daraus zu schließen, daß wir in der Art und Weise, wie wir die Natur deuten, vielleicht grundsätzlich irren, wurden vitalistische Be- sriffe und Vorgänge in die Natur hineingetragen, eine Degeneration der wissenschaftlichen Methode, aber nicht der Natur, denn Entartung und Natur sind und bleiben unvereinbare Gegensätze. Ebensowenig ist unsere Erkenntnis gefördert worden durch die Versuche, das Verschwinden von Tier- und Pflanzengruppen durch Unterliegen im Kampfe mit besser ausgerüsteten Nebenbuhlern zu erklären. Sie haben nur dazu gedient, die schon hinreichend ver- dunkelten Probleme der Entwicklungslehre noch mehr zu verschleiern. 12 Historischer Überblick. Zumeist sind sie auch Monologe geblieben, da die Phantasie über das erlaubte Maß angestrengt werden mußte, wenn man sich vorstellen sollte, daß die Trilobiten von den neu auftauchenden Kephalopoden und Fischen ausgerottet seien, oder daß die Knochenfische den Am- moniten, die Haie den Meersauriern den Garaus gemacht hätten. Derartige Vorstellungen sind nicht dem beobachteten Wirken der Natur entlehnt, sie sind nur aus der Tätigkeit des Kulturmenschen hergenommen und auf die viel weniger grausame Natur übertragen worden, der der Vorgang der Ausrottung fremd ist. Nachdem die rein menschliche Tätigkeit des Ausrottens, ebenso wie die nur am Menschen haftende Tätigkeit der Auslese nach unbedeutenden Nütz- lichkeitsmerkmalen einmal durch Darwın als natürlich wirkende Fak- toren der Entwicklungslehre eingefügt waren, haben sie die wissen- schaftliche Forschung dauernd bis heute in verhängnisvoller Weise beeinflußt und vielfach von den wichtigsten und nächstliegenden Zielen abgelenkt. Es hat auch nichts genützt, daß Darwın später erkannte, wie sehr er die Bedeutung der natürlichen Zuchtwahl und anderer Faktoren gegenüber dem Lamarckschen Prinzip der direkten Be- wirkung überschätzt hatte, die Wissenschaft war über solche Skrupel längst hinausgewachsen, und heute steht die Sprache der meisten Forscher und Laien noch im eisernen Banne des Nützlichkeits- und Ausrottungsbegriffs. Ist man doch vor der Geschmacklosigkeit nicht zurückgeschreckt, von einer Auslese unter den Gesteinen zu sprechen, wo doch nur von einem Spiel unveränderlicher Affinitäten gesprochen werden kann. Die Mehrzahl der Naturforscher hat bald nach dem Auftreten Darwıss die Richtigkeit und die gewaltige Tragweite des Deszendenz- gedankens erkannt, viele, wenn nicht die meisten, haben aber auch die Schwierigkeiten unterschätzt, die sich der Lösung der neu auf- tauchenden Probleme entgegen stellen. Indem man mit dem Zauber- spruche des großen Britten die Frage nach den Ursachen der Um- bildung der Tier- und Pflanzenwelt für grundsätzlich gelöst hielt, wagte man sofort den Entwicklungsgang der gesamten Schöpfung wenigstens in großen Zügen zu entwerfen. Was selbst bis heute auf induktivem, im besondern auf historischem Wege nur für einen ver- schwindenden Bruchteil der Tiere und Pflanzen mit einiger Sicher- heit hat ermittelt werden können, glaubte man im abgekürzten Ver- fahren auf der Grundlage des doch immerhin bescheidenen Standes der Naturkunde in kürzester Frist vorwiegend deduktiv festlegen zu können. Es läßt sich schwer entscheiden, wer mehr Optimismus besaß, Darwın, der in einem Satze den treibenden Faktor der Ent- Historischer Überblick. 13 wicklung zu formulieren versuchte, oder HAEcker, der allein aus dem gegenwärtigen Stande der Schöpfung heraus ihren gesamten Werde- gang, wenn auch nur in allgemeinen Zügen aufzuschließen sich ver- maß. Dieses war nur möglich durch Verwertung einiger ganz und gar axiomatischer Annahmen, die zunächst erörtert werden müssen. Seit Lınn£ war die Wissenschaft damit beschäftigt gewesen — und es steckt eine gewaltige Arbeit in dieser unentbehrlichen Leistung— alle Tiere und Pflanzen, lebende und fossile, zu katalogisieren und in das Schema eines »künstlichen« oder »natürlichen« Systems ein- zuordnen. Diese Arbeit war ausgeführt in der Vorstellung, daß all- gemein in der Natur festgefügte Einheiten, die Arten, bestünden; aber fast ebenso festgewurzelt war die Vorstellung, daß auch die um- fassenderen Kategorien, die man unterschied, die Gattungen, die Familien, die Ordnungen, usw. fest umgrenzte natürliche Einheiten seien, die unvermittelt nebeneinander bestehen. LamaArcr hatte be- kanntlich vergeblich versucht, die Idee der Abstammung in die wissen- schaftliche Betrachtung und Forschung einzuführen. Als nun mit Darwın der Grundsatz der Deszendenz sich Bahn brach, stand ein wohlgefügtes und ausgebautes System des Pflanzen- und Tierreichs der Forschung zur Verfügung, und es gab zwei Wege, sich dieses Hilfsmittels zu bedienen. Entweder sagte man sich, daß das System nichts weiter als ein sorgfältig ausgearbeiteter Katalog sei, bei dessen Herstellung jeder Gedanke an eine genetische Verknüpfung der ein- zelnen darin einverleibten Naturformen ausgeschlossen gewesen war; dann konnte er über das genetische Verhältnis der Formen auch nichts aussagen, und es wäre erforderlich gewesen, zunächst durch sorgfältige und weitausschauende historische Untersuchungen an fossilem und lebendem Material festzustellen, in welcher Weise die Natur die einzelnen Gestalten auseinander hat hervorgehen lassen. Das wäre zweifellos der vorgeschriebene Weg für die Deszendenz- forschung gewesen. Oder man nahm kritiklos die systematischen Kategorien zugleich für genetische Einheiten, faßte die Arten einer Gattung oder die zu einer Familie vereinigten Gattungen usw. als näher miteinander verwandt auf, als mit den Arten einer andern Gattung oder den Gattungen einer andern Familie usw. Unter dieser letzteren Voraussetzung konnte es allerdings nicht schwer halten, die Stammesgeschichte, wenigstens in großen Zügen, klarzustellen; denn dazu bedurfte es wohl nur einer Nachprüfung des ‚natürlichen Systems« von dem neu gewonnenen Gesichtspunkte der Deszendenz aus und einer Mitverwertung der Ergebnisse, die die ver- gleichende Anatomie und die aufblühende Embryologie dazu lieferten. 14 Historischer Überblick. Man entschied sich ohne Besinnen für den letzteren Weg. Daß an diesem Vorgehen nur vereinzelt eine schärfere Kritik geübt wurde, erklärt sich wohl wesentlich mit durch die Zähigkeit, mit der die Vorstellungen von der einmaligen Erschaffung der Art und des Typus, wie sie in der biblischen Schöpfung des Menschen und der Errettung der Typen aus der Sintflut traditionell gegeben waren, auch in dem Geiste der wissenschaftlichen Welt vielfach unbewußt hafteten. So wie der Mensch nur einmal entstanden war, und die verschiedenen Rassen durch Spaltung aus dem » Urmenschen« hervorgegangen waren, so dachte man sich die Affen aus dem »Uraffen«, dem die gemein- samen Merkmale aller Affen zukamen, entstanden. Nach Analogie dieser Begriffe entstand der »Ursäuger«, das »Urwirbeltier«, usw. Didaktisch betrachtet mußten diese Abstraktionen — denn etwas anderes waren sie nicht — als ungemein praktisch gelten; ihr Grund- fehler war und bleibt, daß sie sich der realen Beobachtung entzogen und auch bis heute hartnäckig entzogen haben. Es war damit der Grundsatz der Einstämmigkeit (Monophylesie) der systematischen Kategorien zum Axiom erhoben, und dieses hat bis heute unser ganzes phylogenetisches Denken so gut wie ausschließlich bestimmt, und be- herrscht es auch heute noch vollständig. Zur Ehre der Wissenschaft muß aber darauf hingewiesen werden, daß der entgegengesetzte Ge- danke, der einer polyphyletischen Abstammung, sowohl nach als auch schon vor Darwın gelegentlich mit größerer oder geringerer Bestimmt- heit geäußert worden ist. So sagte der kenntnisreiche Zoologe SEMPER vor etwa 30 Jahren: » Alle wirklich sorgfältigen Untersuchungen der Neuzeit machen es wahrscheinlich, daß die polyphyletische Hypothese der Wahrheit sehr viel näher kommt, als die ihr entgegenstehende. « Und nach GorrtHes Vorstellung entstanden sogar »die Menschen durch die Allmacht Gottes überall, wo der Boden es zuließ«, und weiterhin bemerkt er gegen den Einwurf des Herrn v. MaArrıvs, daß sich diese Meinung nicht mit den Aussagen der heiligen Schrift ver- einigen lasse: »Die heilige Schrift redet allerdings nur von einem Menschenpaare, das Gott am 6. Tage erschaffen. Allein die be- gabten Männer, welche das Wort Gottes aufzeichneten, das uns die Bibel überliefert, hatten es zunächst mit ihrem auserwählten Volke zu tun, und so wollen wir auch diesem die Ehre seiner Abstammung von Adam keineswegs streitig machen. Wir andern aber, sowie auch die Neger und Lappländer, und schlanke Menschen, die schöner sind, als wir alle, haben gewiß auch andere Urväter,« .... Ob die monophyletische oder polyphyletische Auffassung durch die Tatsachen am meisten gestützt wird oder ob etwa beide neben- Historischer Überblick. 15 einander berechtigt sind, soll später erörtert werden; hier mögen zunächst noch einige Worte über die Eideshelfer der Einstämmigkeits- lehre Platz finden. Darwıns Erklärungsversuch begünstigte die Vorstellung der ein- maligen Entstehung der Tier- und Pflanzentypen insofern, als nach ihm neue vorteilhafte Merkmale durch Variation gelegentlich ent- standen sein sollten, ohne daß eine bestimmte Ursache dafür nam- haft gemacht werden konnte. Wenn also nicht gesetzmäßig sich wiederholende Vorgänge ermittelt werden konnten, sondern der Zu- fall zur Herausbildung eines neuen Typus geführt hatte, so konnte man die Nätur nur beglückwünschen, daß ihr dies jeweils einmal wirklich gelungen war. Eine Wiederholung desselben ungewöhnlich glücklichen Zufalls wäre ja nur noch unwahrscheinlicher gewesen. Eine wirksame Stütze erwuchs der Theorie der Einstämmigkeit durch die Fortschritte der embryologischen Forschung. Denn diese bestätigte nicht nur die Deszendenz im allgemeinen, indem sie nach- wies, daß die höher organisierten Tiere in ihrem ontogenetischen Entwicklungsgange die Merkmale tieferstehender Abteilungen wieder- holten, sondern sie zeigte auch, wie sehr die frühen Entwicklungs- stadien der zu einer systematischen Einheit gehörigen Tiere in wesentlichen Merkmalen übereinstimmen. Hieraus ergab sich der Schluß: diese Übereinstimmung kann nur das Erbstück von einem allen Vertretern gemeinsamen Vorfahren sein. Selbst mit der Ein- schränkung der Caenogenese, die dem biogenetischen Grundgesetz von vornherein angelest wurde, bedeutete dies Vorgehen ebenfalls eine petitio principil. Auch hier hätte die Forschung, wenn sie streng methodisch vorgegangen wäre, zunächst an einigen gut be- glaubigten Beispielen feststellen müssen, inwieweit wirklich Überein- stimmung zwischen dem Gange der phylogenetischen und der ontogene- tischen Entwicklung besteht, und ob übereinstimmende Jugendmerk- male stets als Erbstücke von einem gemeinsamen Vorfahren gedeutet werden dürfen. Denn man wußte ja von vornherein, daß das Leben der Larve von anderen Lebensbedingungen beherrscht wird, als das des erwachsenen Tieres, und daß diesen abnormen Verhältnissen auch abweichende Merkmale der Larve entsprechen müßten. Warum sollte also die Übereinstimmung in den Larvenmerkmalen nicht ebenso gut ein Ausdruck der übereinstimmenden Lebensbedingungen des Larven- stadiums sein? Übrigens hat es ja auch keineswegs an Protesten gegen die weitgehende Verwertung der Embryologie für die Er- mittelung der Stammesgeschichte gefehlt, und kein geringerer als v. Baer hat scharf betont, daß man die verwandtschaftlichen 6 Historischer Überblick. Beziehungen der Tiergruppen zu einander nur nach den Merkmalen am erwachsenen Tier beurteilen dürfe. Je mehr tatsächliche Ab- stammungslinien die Paläontologie aufdeckt, um so deutlicher zeigt sich, wie berechtigt dieser Einspruch v. BaeErs gewesen ist. Denn wie wenig sagt uns die Ontogenie des Pferdes über seine phylo- genetische Entwicklung aus, die wir doch recht genau kennen, und an den Manteltieren glaube ich zeigen zu können, daß wir unsere Erwartungen in dieser Richtung auf das geringste Maß herabstimmen müssen. Auch die vergleichende Anatomie wurde in den Bann der Idee von der einstämmigen Ableitung mit einbezogen. Was erst durch die Verfolgung historisch gegebener Stammreihen hätte festgestellt werden müssen, welche Merkmale als von dem gemeinsamen Vorfahr ererbt, also homolog, welche als unabhängig entstanden, also analog, zu betrachten seien, das versuchte man sogleich mit Hilfe der an- genommenen Phylogenie und auf Grund der embryologischen Ergeb- nisse dogmatisch festzulegen. Zwar hat auch in dieser Beziehung der Fortschritt der Wissenschaft manche Illusion untergraben, andere endgültig beseitigt, und dadurch ist Unsicherheit in die Methoden gekommen, aber das Konglomerat unstatthafter Voraussetzungen, in das die Vorstellung der Einstämmigkeit eingesenkt wurde, war felsen- fest durch den Optimismus verkittet, den der Erfolg der neuen Lehre gezeitigt hatte. Will man den unleugbaren Fehler der Sturm- und Drangperiode in der Entwicklungslehre mit knappen Worten kennzeichnen, so kann man sagen: anstatt den weit ausschauenden Weg der historischen Forschung zu betreten, der bei einer Theorie von hervorragend histo- rischem Inhalt allein eine gesicherte Grundlage schaffen kann, suchte man auf bequemen Abkürzungen direkt zum Ziele zu gelangen, ohne zu bedenken, daß diese sich vor der steilen Höhe des Problems in unwegsame Pfade verlieren mußten. Wenn eine Wissenschaft von so beherrschender Stellung wie die Abstammungslehre auf Abwege gerät, so beeinflußt sie natur- gemäß alle Wissenszweige, mit denen sie organisch verknüpft ist, in nachteiliger Weise. So ist es auch der Paläontologie (und in gewissem Maße sogar der Geologie) ergangen, die statt eines unab- hängigen Fundaments zu einem Vasall der darwinistisch-häckelistischen Entwicklungslehre wurde. Bei dem niedrigen Stande, in dem die Paläontologie noch in den sechziger Jahren verharrte, wurde sie zunächst fast ganz und gar von ihr ins Schlepptau genommen; es wurden die Begriffe von der Artbildung und vom Unterliegen im Historischer Überblick. 17 Kampfe ums Dasein, von der phylogenetischen Bedeutung der syste- matischen Kategorien, von der Einstämmigkeit der kleineren und srößeren Tier- und Pflanzenabteilungen ohne Prüfung in das fossile Material hineingetragen. Kein Wunder, daß die Paläontologie diesen Vorschriften aus der Studierstube nicht nachkommen konnte, und wo sie es versucht hat, Fiasko machte. In keiner gut überlieferten Tier- oder Pflanzengruppe hat man eine Urform auffinden können, von der die verschiedenen Zweige ausstrahlen; im Gegenteil hat jeder Fort- schritt der Paläontologie diese Erwartung immer mehr enttäuscht und zugleich den Glauben an die phylogenetische Bedeutung der vorhandenen systematischen Kategorien zerstören helfen. Ja was man lange unbedenklich für eine fortlaufende Entwicklungsreihe gehalten hatte, wie die Nashörner aus den verschiedenen Stufen des Tertiärs, löste sich, wie OsBoRrn gezeigt hat, in eine Reihe parallel neben- einander herlaufender Entwicklungsreihen auf, die sich in keiner Weise aufeinander zurückführen lassen. Immer wieder sprang aus den paläontologischen Forschungen nur das eine sichere Ergebnis heraus, daß die Abstammungslehre allein imstande ist, das Erscheinen der Tiere und Pflanzen im Laufe der Zeit und die Besonderheiten ihrer Gestaltung verständlich zu machen; aber eine Bestätigung der besonderen Formen der Entwicklungslehre, wie sie durch Darwin, HAECKEL, NÄGELI, WEISMANN u. a. nach verschiedener Richtung aus- gestaltet waren, konnte sie nicht erbringen. Trotz dieser offenkundigen Mißerfolge und trotz der vielver- sprechenden Grundlagen, die die Paläontologie überall dort geschaffen hatte, wo sie rein induktiv verfahren war, wie bei der Verfolgung von enggeschlossenen Formenreihen, setzten sich doch die allgemeinen Vorstellungen von der Ausschaltung zahlreicher Organismengruppen im Kampfe ums Dasein, von dem genetischen Wert der Systematik und der monophyletischen Abstammung auch in dieser Wissenschaft fest und verhinderten dadurch die vorurteilsfreie Verwertung des gegebenen Tatsachenmaterials.. Selbst die Geologie ist unheilvoll dadurch beeinflußt worden. Denn in dem Bestreben, nach geo- logischen Ursachen zu suchen für die »kritischen« Perioden in der Entwicklung der Tier- und Pflanzenwelt, die sich im Erlöschen großer Gruppen und im plötzlichen, explosiven Auftauchen anderer zu er- kennen geben, hat man sich nicht gescheut, Eis- oder wenigstens Abkühlungsperioden für solche Zeiten anzunehmen und zu behaupten, ohne auch nur den geringsten tatsächlichen Anhalt dafür zu besitzen. Bis zu diesem Grade von Unselbständigkeit ist die Forschung unter dem Alpdruck der heutigen Abstammungslehre herabgesunken! Steinmann, Abstammungslehre. 2 18 Historischer Überblick. Was paläontologische und geologische Forschung vereint an festen Grundlagen für die Entwicklungslehre im Laufe eines halben Jahr- hunderts geschaffen haben, ist von Seiten der Zoologen und Bota- niker zumeist nur so weit beachtet worden, als es die Entwicklungs- lehre im allgemeinen stützte. Daß die paläontologische Forschung den alten systematischen Bau Schritt für Schritt untergrub, daß die von ihr nachgewiesenen Formenreihen sich in offenem Widerspruch zu der angenommenen allseitigen Variabilität und zu der monophyle- tischen Abstammung stellten, ist nur von einzelnen Forschern ver- merkt und nur gelegentlich, z. B. von Eimer, gegen die herrschende Lehre verwertet worden. Nichts bezeugt besser die Nichtachtung, der sich die historische Forschung von seiten der Biologen zu er- freuen gehabt hat, als die betrübliche Tatsache, daß der Begriff der Mutation, den WAacen im Jahre 1867 für die kleinsten noch wahr- nehmbaren Änderungen, gewissermaßen für das Differential der orga- nischen Umbildung im Laufe der Zeit, aufgestellt hatte, und der in jedem Lehrbuche der Paläontologie erläutert ist, jüngst von einem Botaniker für eine wesentlich verschiedene Erscheinung verwendet werden konnte! Die Paläontologie hat bisher wenig zum Ausbau der Entwick- lungslehre beigetragen. Der Grund dafür ist aber keineswegs in der Dürftigkeit oder Unbrauchbarkeit des Materials zu suchen, wie man gewöhnlich meint, — er liegt in der Methode. Solange man eben die Formen der Vorwelt nur im Verzerrungsspiegel der Systematik, der Monophylesie und des Darwınschen Prinzips betrachtet und den Gesichtspunkt, von dem aus sie gesehen und für die Phylogenie verwertet werden müssen, nicht durch Induktion aus dem historischen Material selbst zu gewinnen sucht, bleibt jeder Versuch zur Unfrucht- barkeit verdammt. Core konnte, trotzdem er die einleuchtenden Ge- danken LamaArcks wieder zur Geltung brachte und wie kein zweiter über die umfassendsten Kenntnisse von lebenden und fossilen Wirbel- tieren verfügte, den Schlüssel des Entwicklungsrätsels nicht finden. ZiTTEL, der bei der Ausarbeitung seines großartigen Werkes, das die gesamte fossile Tierwelt umfaßt, die paläontologischen Errungen- schaften aller seiner Vorgänger und Mitarbeiter in seinem Geiste konzentrierte und verarbeitete, wurde immer vorsichtiger und zurück- haltender mit phylogenetischen Andeutungen, je weiter er in seinem Werke voranschritt. Neumayr versuchte in seinem leider unvollendet gebliebenen Werke »Die Stämme des Tierreichs« das fossile Material vielfach unter neuen Gesichtspunkten zu erfassen und für die Stammes- geschichte nutzbar zu machen, aber auch er fand den leitenden Faden Historischer Überblick. 19 im Chaos der vorweltlichen Schöpfung nicht, wie glücklich er auch in der phylogenetischen Deutung einzelner Tiergruppen war. Wer sich über diese und andre Versuche, das fossile Material für die Entwicklungslehre dienstbar zu machen, einen bequemen Überblick verschaffen will, sei auf Drr&rers »Les transformations du monde animal« verwiesen. Das Buch enthält eine übersichtliche Darstellung des heutigen Standes der Wissenschaft von der Hand eines kenntnisreichen und keineswegs unkritischen Paläontologen. Es zeigt uns aber auch zugleich ganz deutlich und klar, wie schwer es hält, die Gesamtheit der eigentlichen Probleme, die der Geologe und Paläontologe in dem heutigen Stande der Abstammungslehre finden sollte, als solche zu erkennen und aus der Überfülle von Tat- sachen und Erklärungsversuchen herauszuschälen. Wohl alle Geo- logen und Paläontologen, soweit sie sich nicht auf die Beschreibung von neuem Material beschränken, sondern auch den Fragen von allgemeiner Bedeutung ihr Interesse zuwenden, haben die Ungereimtheiten heraus- gefühlt, die zwischen dem stummen und doch vielsagenden fossilen Material und den unumstößlichen geologischen Erfahrungen auf der einen Seite und zwischen den beredten Darlegungen der Entwicklungs- lehre von heute, in welcher Gestalt sie auch auftritt, bestehen. Der passive Widerstand, dem nicht die Entwicklungslehre als solche, sondern ihre darwinistische oder ultradarwinistische Einkleidung bei den Paläontologen und Geologen vielfach begegnet, 'ist ein deutlicher Hinweis auf das Unzulängliche der Lehre in ihrer heutigen Fassung. Denn keine anderen Wissenszweige könnten diese Lehre in zutreffender Form wärmer aufnehmen und besser ausnützen, als die, welche die Geschichte der Erde und ihrer Bewohner zu erforschen suchen. Aber gerade auf dieser Seite zeigt sich die größte Zurückhaltung und er- tönen die Warnrufe am lautesten. So hat Zırrer im Jahre 1894 nicht ohne eine gewisse Resigna- tion festgestellt, daß bei der heutigen Auffassung vom Entwicklungs- sange der organischen Welt ungelöste Probleme bestehen bleiben. Nach ihm können wir das » Aussterben der Arten«, wie man euphe- mistisch das wiederholte Verschwinden großer Bruchteile der Schöpfung bezeichnet, nicht immer hinreichend begreifen; ebensowenig lassen sich die Übergangsformen zwischen den großen Abteilungen des Tier- und Pflanzenreichs, die die Abstammungslehre vorschreibt, auffinden. Ich selbst habe im Jahre 1899 diese und andere Probleme der Ent- wicklungslehre, deren Lösung ich schon 10 Jahre früher prak- tisch versucht hatte, deutlich als das gegebene Angriffsziel der Forschung hingestellt und den Weg bezeichnet, der einzuschlagen D* 210) Probleme. ist, um zu einer befriedigenden Auffassung zu gelangen. Einzelne Fragen sind auch von anderer Seite, besonders von KoKkEn, JÄKEL, in Angriff genommen worden. Ich werde nun zunächst diese Probleme herausstellen und erörtern, ehe ich versuche, den Weg zu ihrer Lösung aufzuzeigen. II. Die Probleme. In dem Entwicklungsgange der Schöpfung, wie er sich uns heute darstellt, sehe ich wenigstens vier große, ungelöste Probleme; das sind: 1. Das Aussterben der Arten oder richtiger das wieder- holte Verschwinden großer Gruppen von Tieren und Pflanzen. 2. Die plötzliche und reiche Entfaltung neuer Gruppen. 3. Das Fehlen von Übergangsgliedern zwischen den großen Abteilungen des Tier- und Pflanzenreichs. 4. Die Unverständlichkeit des gesamten Entwicklungs- ganges. 1. Das Aussterben der Arten und das Verschwinden großer Gruppen von Tieren und Pflanzen. Man nimmt es gewöhnlich als feststehend und selbstverständlich hin, daß viele Tier- und Pflanzenformen im Laufe der Zeit aus- gestorben sind, ohne Nachkommen zu hinterlassen. Aber wenn wir Rechenschaft darüber ablegen sollen, wodurch dies geschehen ist, kommen wir immer in einige Verlegenheit. LamAarck kannte nur eine Ursache dafür — den Menschen. Auch heute können wir immer nur auf das Eingreifen oder die Mitwirkung des Menschen als Ur- sache verweisen, wenn wir sicher beglaubigte Beispiele für das voll- ständige Verschwinden von Tieren oder Pflanzen namhaft machen sollen. Soweit es sich nicht um ein Erlöschen, sondern nur um eine mehr oder weniger beträchtliche Einengung der Verbreitungsgebiete handelt, die vorübergehend oder dauernd eingetreten ist, lassen sich bekanntlich auch andere Faktoren ohne Schwierigkeit ausfindig machen. So haben in den zahlreichen Seen und Sümpfen, die zur Quartärzeit wiederholt in Mittel- und Nordeuropa bestanden, einige Wasser- und Sumpfpflanzen ziemlich häufig gelebt, die heute aus unserm Erdteile ganz verschwunden sind. Durch das Austrocknen der Seen und durch die wiederholte Eisbedeckung sind nach WEBER z. B. die Nymphaea- ceen Brasenia purpurea Mich. und Euryale europaea Web., sowie die Probleme. 21 Oyperacee Dulichium spathaceum Pers. aus Europa ganz verdrängt worden; aber sie leben in andern Erdteilen unverändert oder wie Euryale durch eine kaum unterschiedene Varietät vertreten fort. Be- deuten solche Vorgänge allein nur eine Einschränkung der Wohn- gebiete, aber keine Verarmung der Pflanzenwelt an originellen Pflanzentypen, so können wir doch begreifen, wie durch wiederholtes Einsetzen geologischer oder klimatischer Vorgänge, die eine Tier- oder Pflanzenart stets im ungünstigen Sinne betreffen, diese schließ- lich ganz eliminiert werden kann, auch ohne irgendwelche Mitwirkung des Menschen. Immerhin fehlt es an gut beglaubigten Beispielen für einen solchen Vorgang. So sah ich im Herbst 1907 im British Museum (Natural History) zu Füßen der Bildsäule Darwıns eine Aus- stellung von dem Modell eines Fisches der Ostküste Nordamerikas, Lopholatilus chamaeleonticeps, mit der Bemerkung, daß dieser früher häufige Fisch im März 1882 fast vollständig verschwunden sei, wahr- scheinlich infolge von Zufuhr kalten Wassers. Dies sei einer der sehr wenigen Fälle, in denen man eine nahezu vollständige Vernichtung einer Art durch natürliche Vorgänge kenne, d. h. ohne Dazwischentreten des Menschen als Jäger oder als Träger von Krank- heiten. Eine bemerkenswert objektive Feststellung fast 50 Jahre nach dem Erscheinen von Darwıns Buch über die Entstehung der Arten! Da nun aber doch wahrscheinlich eine große Menge von auffallenden Tiergestalten heute und z. T. auch schon seit längerer Zeit nicht mehr vorhanden sind, obgleich sie in früheren Erdperioden üppig ent- wickelt waren, so haben wir zunächst aus der Erdgeschichte zu er- mitteln, ob es Vorgänge gibt, die das Verschwinden von Tieren und Pflanzen in größerem Umfange herbeigeführt haben können. Die Erdgeschichte lehrt uns einen nie rastenden Wechsel der äußeren Lebensbedingungen für Tiere wie für Pflanzen, soweit wir diese in die Vorzeit zurückverfolgen können; die Ursache dieses Wechsels liegt teils in geologischen, teils in klimatischen Vorgängen. Die Bewohner des Meeres werden hierdurch zumeist in andrer Weise betroffen als die des Festlandes. Es möge aber gleich betont werden, daß alle Veränderungen, die den Bestand der Organismen in erheb- lichem Maße beeinflussen, sich langsam, für unsre menschlichen Vor- stellungen unendlich langsam vollziehen. Dadurch wird ihre geo- logische Gesamtwirkung zwar nicht herabgedrückt, aber ihr ungünstiger Einfluß auf den Bestand der lebenden Welt erfährt dadurch doch eine beträchtliche Abschwächung. Es vollziehen sich vor unsern Augen zuweilen Vorgänge, die zu einer plötzlichen Vernichtung zahlreicher Tier- und Pflanzenindivi- 22 Probleme. duen führen. Dahin sind z. B. vulkanische Ausbrüche, ausgedehnte Überschwemmungen und ungewöhnlich starke Springfluten zu zählen. Wie verderblich sie auch das Leben in dem Bereiche ihrer Tätigkeit beeinflussen, ihre Wirkung beschränkt sich doch im allgemeinen auf die Vertilgung einer geringern oder größern Zahl von Einzelwesen, ohne daß der Bestand der Arten dadurch gefährdet würde. In Aus- nahmefällen mag dies wohl eintreten. Wenn eine vulkanische Insel, wie Krakatau im Jahre 1883, durch eine Explosion in die Luft ge- sprengt und alles Leben auf ihr zerstört wird, so kann dabei na- türlich auch gelegentlich eine Tier- oder Pflanzenart, vielleicht auch gerade der einzige Vertreter einer besondern Pflanzen- oder Tiergruppe zugrunde gehen, nicht nur soweit Bewohner der Insel selbst in Frage kommen, sondern unter Umständen auch von Meeresbewohnern, die in der Nähe der Insel leben und die dabei mit Asche und Schlacke zugedeckt werden. Eine Sturmflut, die alles Lebende von einer flachen Koralleninsel im Ozean abkehrt, vermag eine ähnlich ver- derbliche Wirkung zu erzielen. Doch ist die Wahrscheinlichkeit ge- ring, daß durch solche Vorgänge der Formenschatz der Natur merk- lich verringert wird. Denn kleinere Vulkaninseln besitzen gewöhnlich fast die gleiche Tier- und Pflanzenwelt wie größere Inseln in ihrer Nähe oder wie das benachbarte Festland, und lokale Rassen kommen für die Frage nicht in Betracht, die uns hier beschäftigt. Auch die Bewohner des Meeres erleiden durch solche Vorgänge keine wesent- liche Einbuße, da diese nur selten ein so beschränktes Verbreitungs- gebiet besitzen, wie es erforderlich wäre, um den Bestand einer Art auf diese Weise wesentlich zu gefährden. Nach ungewöhnlich großen Springfluten ist die Küste in der Regel mit großen Mengen von Meeres- tieren und -pflanzen bedeckt, die vom Grunde heraufgebracht oder aus der hohen See angetrieben sind. Zahlreiche Individuen sind jedesmal vernichtet; aber jede Sturmflut wirft immer wieder ungefähr die gleichen Formen herauf, es kann der Bestand der Arten hierdurch also nur in Ausnahmefällen bedroht sein. »Sintfluten« kommt, wie wir wissen, immer nur eine örtliche Bedeutung zu, und auch die weite Landstrecken überdeckenden Löß-Sintfluten, die sich am zähesten in den Köpfen der Geologen und Laien erhalten haben, verschwinden allmählich aus dem Repertoire der Diluvialgeologie. So können wir in entsprechender Würdigung aller derartiger plötzlicher Vorgänge nach dem heutigen Stande der Wissenschaft sagen: weder Tier- noch Pflanzenwelt sind durch sie im Laufe der Erdgeschichte jemals merklich beeinträchtigt worden; ein vorübergehender Rückgang der Individuenzahl ist ihre Probleme. 23 einzige bedeutsame Wirkung. Ausnahmsweise mögen dadurch auch einzelne Arten oder kleine Lebensgemeinschaften von ganz beschränkter Verbreitung vernichtet worden sein. — Die geologischen und klima- tischen Veränderungen von langsamer Wirkungsweise behandeln wir am besten getrennt. Ss Die Geologischen Veränderungen kommen wesentlich zustande durch die Unbeständigkeit der festen Erdrinde einerseits, der Wasser- hülle andrerseits. Beide haben nie gerastet, so lange es organisches Leben auf der Erde gibt, denn soweit wir auch die Geschichte der Meere und Festländer in die Vorzeit verfolgen, stets finden wir sie im beständigen Wandel begriffen. Unausgesetzt, wie die Atemzüge eines lebendigen Wesens, sehen wir die Erdrinde sich unmerklich langsam heben und senken, doch haftet die Bewegung nicht am gleichen Ort, ihr Wechsel gleicht dem unstäten Farben- spiele des Ohamäleons; und diese Unbeständigkeit des Bodens spiegelt sich in der Verlagerung der Meere wieder. Daneben und unabhängig davon wird der Meeresspiegel andauernd aufwärts geschoben durch die Auffüllung der Meere mit Sediment, das Flüsse, Wind und Eis in sie hineintragen, und das sich als chemisch-organischer Nieder- schlag auf dem Boden anhäuft. Soweit uns aber ein Einblick in diese Vorgänge in früherer Zeit gestattet ist, sind ihre Wirkungen doch einer gewissen Gesetzmäßigkeit nicht ganz bar. Wir sind berechtigt anzunehmen, daß das heute sichtbare Massenverhältnis zwischen Fest- land und Meer, wonach vom Meere ein erheblich größerer Teil der Erdoberfläche eingenommen wird als vom Festlande, auch früher wohl jederzeit bestanden hat — was keineswegs Schwankungen von einem gewissen Betrage ausschließt. Aus unsern heutigen Erfahrungen dürfen wir aber auch schließen, daß ungeachtet der nie rastenden Verschiebungen mehrfach große Festlandsmassen ebenso wie gewal- tige Meeresbecken längere Zeit hindurch angenähert den gleichen Platz und ähnliches Ausmaß behauptet haben. Mit solch relativer Beständigkeit paart sich aber offenkundig ein tiefgreifender Wechsel, denn unzweifelhafte Tiefseeabsätze durchziehen die hohen Ketten- gebirge und Bergländer fast aller Erdteile, breite Meerestiefen gähnen heute zwischen den Bruchstücken zertrümmerter Festländer der Vor- zeit. Das allen diesen Vorgängen gemeinsame Merkmal liest aber in dem langsamen Tempo, mit dem sie sich vollziehen. Als Folge der Erdbeben von Alaska hat man in der Yakutatbai hier ein Auf- tauchen des Meeresgrundes entlang der Küste, dort ein Versinken von Küstenstreifen beobachtet, und aus der fortgesetzten Häufung der- artiger Verschiebungen können wir uns die gewaltigen Gesamtbeträge 94 Probleme. erklären, von denen die Erdgeschichte berichtet. Jede einzelne Phase dieser Vorgänge erreicht nur einen geringen Betrag, einerlei ob sie sich ruckweise oder in gleichmäßig fortlaufenden Niveauverschiebungen vollziehen, und darin liegt das Bedeutsame für unsere Betrachtungen. Denn wenn auch durch jede Verschiebung der Grenzen zwischen festem Land und Meer die Wohngebiete von Tieren und Pflanzen und damit häufig auch ihre Lebensbedingungen im Meere und auf den Festen ein wenig verschoben, und wenn die Organismen hier- durch auch in ihrer Lebenstätigkeit beeinflußt werden, so bedeutet das alles doch keine wesentliche Beeinträchtigung ihrer Existenzfähig- keit und ihres Gresamtbestandes. Das Höchstmaß dieser Vorgänge, wie es bei ungewöhnlich ungünstigen Verhältnissen erreicht werden kann, dürfte ungefähr folgendes sein: | Wir betrachten zunächst die Wirkungen der Meerestransgressionen, - mit andern Worten der Überflutung bestehender Festländer. Wenn diese in verhältnismäßig kurzer Zeit große Beträge erreichen, ver- schieben sich die Wohngebiete für die Bewohner des Festlandes wie für die der Meere. Die Tier- und Pflanzenwelt des Festlandes wird dadurch eingeengt. Gruppen, Gattungen, Arten und Standortsvarie- täten, die vorher getrennte oder nur wenig übereinandergreifende Wohngebiete besaßen, werden auf einen engeren, gemeinsamen Raum zusammengedrängt und gemischt. Die so entstandene Fauna und Flora stellt im wesentlichen eine Addition der früher vorhandenen Formen dar; zugleich ist eine Ursache für neue »Anpassungen« ge- geben. Durch ungünstiges Zusammentreffen von Umständen mögen auch einzelne Formen ganz eliminiert werden, oder Festlandsbewohner, die an den Aufenthalt im Wasser schon gewöhnt waren, mögen sich zu Meeresbewohnern umwandeln, wie das bei Säugetieren, z. T. auch bei Reptilien jedenfalls wiederholt geschehen ist (Seehunde, Robben, Seekühe, Schildkröten). Da aber größere Festländer auch nur im Laufe sehr großer Zeiträume zerstückelt und schließlich vom Meere überwältigt werden, und da normalerweise die Festlandsstücke sich im Laufe der Zeit durch neu entstehende Landverbindungen an andre Festländer anschließen oder durch Teile des gehobenen Meeresbodens wieder anwachsen, so werden durch die Meerestransgressionen jeweils auch nur kleinere Bruchstücke der Lebewelt endgültig ausgeschaltet sein. _So läge ein vollständiges Verschwinden der Galapagosinseln unter dem Meer wohl nicht außerhalb der Möglichkeit geologischen Geschehens; es würde eine ganze Anzahl von Tier- und Pflanzen- formen, fast eine ganze Gemeinschaft, ausmerzen. Noch stärker - würde der Formenschatz der Natur durch das gänzliche Verschwinden Probleme. 25 von Madagaskar oder Neuseeland beschnitten werden; es mag aber mit Recht bezweifelt werden, ob solch große Festlandsstücke ver- gehen können, ohne daß zugleich neue Landverbindungen ihren Bewohnern die Möglichkeit gewähren, auf ein andres Festland über- zusiedeln. Wie bedeutsam oder wie gering wir aber die Folgen solcher Transgressionen bewerten, eine wesentliche Tatsache wird dadurch nicht geändert: Landpflanzen und -tiere mit ausgedehnten Verbrei- tungsgebieten können davon immer nur in unbedeutendem Maße be- troffen, ihr Formenschatz kann dadurch wohl beschnitten, niemals aber ihr gesamter Bestand bedroht werden. Das wäre wohl nur denkbar, wenn ein tückisches Schicksal wiederholt immer gerade die- selbe Tier- und Pflanzengemeinschaft in derartiger Weise bedrängt hätte, was zu ihrer allmählichen Verminderung und schließlichen ‚Vernichtung im Laufe sehr langer Zeiträume geführt haben könnte. Weder ein plötzliches Erlöschen ausgedehnter Tier- und Pflanzengesellschaften auf verschiedenen Festländern, noch die Vernichtung einer großen systematischen Gruppe von weiter Verbreitung läßt sich auf diese Weise erklären. Während Transgressionen für die Bewohner des Festlandes eine Einengung ihrer Lebensbezirke, in ungünstigen Fällen auch eine teil- weise Vernichtung ihres Bestandes bedeuten, erschließen sie den Meeresbewohnern neue Wohngebiete. Dadurch können diese ihre bisherigen Verbreitungsgebiete allmählich ausdehnen und werden zu- gleich gezwungen, sich an neue Lebensbedingungen zu gewöhnen, die von den bisherigen, wenn auch nicht gerade beträchtlich, so doch weit genug verschieden sind, um die Veränderlichkeit auszulösen und die Rassen- oder Artteilung zu befördern. Denn wenn auch die Tiere, die einer Meerestransgression folgen, im Anfang nur solche Wohn- plätze aufsuchen, die ihnen eine normale Existenz gewähren, so er- möglicht doch das weitgehende Anpassungsvermögen der Organismen stets eine gewisse Existenzbreite. Wir dürfen daher erwarten, als Folge einer Transgression oft eine Vermehrung der Formen der Meerestiere und -pflanzen eintreten zu sehen. Wird durch eine Aus- weitung des Meeres eine neue, kürzere Verbindung zwischen zwei vor- her getrennten Gebieten hergestellt, so erfolgt naturgemäß eine mehr oder weniger vollständige Mischung der vorher getrennten Faunen und Floren, wie uns das die Landdurchstiche zwischen Mittelmeer und Rotem Meer und zwischen Ostsee und Nordsee in beschränktem Maße vor Augen geführt haben. Wenn dagegen eine Transgression an der Küste eines Meeres mit vielleicht nur armer Fauna und Flora beginnt und schrittweise immer weitere Teile von Festlandsmassen 96 Probleme. überdeckt, ohne dabei mit andern Meeresteilen mit reicher Lebewelt in Verbindung zu treten, so kann dieser Vorgang jener vorher viel- leicht auf ein kleines Gebiet beschränkten Lebewelt nach und nach ein Verbreitungsgebiet von ungeheurer Ausdehnung erschließen. Denken wir uns z. B., die Nordsee würde zunächst die niederen Ost- seeländer, weiterhin das ganze niedere Gebiet Rußlands bis zum Ural und Kaukasus und südlich bis nach Persien und Turanien hinein, endlich das ganze westliche und nördliche Sibirien bis zur Behrings- straße hin überdecken, und die ausdauerndsten Flachseebewohner der Nordsee würden sich über diese Gebiete verbreiten und dabei nur untergeordnet von einigen Elementen des nördlichen Eismeeres durch- setzt werden, so hätten damit einige Tier- und Pflanzenformen ein immenses Verbreitungsgebiet und zugleich eine ausgedehnte Varia- tionsmöglichkeit erhalten. Daß sich dann gerade die Bewohner der Nordsee zu einer ungewöhnlich reichen Individuenfülle hätten ent- wickeln und dabei vielleicht in zahlreiche Rassen und Arten hätten spalten können, hat mit der Organisation der betreffenden Tiere und Pflanzen an sich so gut wie nichts zu tun, denn wesentlich die gleiche »explosive« Entwicklung würden die Bewohner des östlichen Mittelmeeres oder die des nordpazifischen Ozeans genommen haben, wenn die Transgression von einem dieser beiden Gebiete ausgegangen wäre. Der Zufall, oder richtiger gesagt, die historisch gegebene Gelegenheit ist als die wesentliche Ursache dafür anzusehen, daß gerade dieser bestimmte Teil der Tier- und Pflanzenwelt, vielleicht nur vorübergehend, so auffallend prosperiert. Wenn es sich nun weiterhin so träfe, daß dieses von der früheren Meeres- und daran anschließend von der Biotransgression betroffene Gebiet heute auch als Festlandsmasse bestände, so daß wir dort überall die Absätze jenes Meeres mit den darin enthaltenen Fossilien verfolgen könnten, während die sonstigen Meeresabsätze und -bewohner jener Zeit heute unter dem Meere begraben lägen, so würden wir ein ganz einseitiges Bild von der damaligen Lebewelt erhalten. Nur ein kleines Bruchstück, dieses aber in imponierender Ausgestaltung, gäbe uns Kunde von dem damaligen Stande. Die ganze geologische Überlieferung setzt sich aber aus solchen und ähnlichen Bruch- stücken verschiedener Zeiten zusammen, und wer aus diesen unvoll- kommenen Teilbildern sich den ganzen Entwicklungsgang aufbaut, schafft sich eine ganz irrige Vorstellung davon. Das geschieht aber bewußt oder unbewußt fast in allen Lehrbüchern der Geologie und Paläontologie: man nimmt die Zufälligkeiten der Biotransgressionen und der durchaus lückenhaften Überlieferung als Ausdruck eines Probleme. 2 — allerdings ganz unverständlich bleibenden — natürlichen Ent- wicklungsprozesses der Organismen! Die Bewohner der größeren Meeresbecken werden durch solche Transgressionen wenig oder gar nicht beeinflußt, soweit sie an ihnen nicht direkt teilnehmen. Langsame und geringe Veränderungen der Meerestiefe und der Natur des Meeresbodens oder das teilweise Zurückweichen des Meeres verschieben wohl hier und dort die Wohngebiete, führen zur Entstehung neuer Lokalrassen oder zum Verschwinden bestehender. Eine Vernichtung ganzer Lebensgemein- schaften oder größerer systematischer Gruppen von erheblicher Ver- breitung kann damit nicht verknüpft sein, weil der gesamte Wasser- körper doch nur in verschwindendem Maße dadurch beeinflußt wird. Nur wenn ausgedehnte Regressionen eintreten, ganze Meeresteile da- durch vom Ozean abgeschnitten werden und durch reichlichen Zufluß an Süßwasser ausgesüßt werden oder durch unzureichenden versalzen oder austrocknen, geraten ihre Bewohner in Gefahr, unterzugehen. Denn solche starke Veränderungen des Elements können nur wenige Organismen mitmachen, die meisten sterben dabei ab. Der- artige Vorgänge sind uns ja auch tatsächlich bekannt. Ich brauche nur an die Geschichte des östlichen Mittelmeerbeckens zur jüngeren Tertiärzeit zu erinnern. Ein Teil des damaligen Mittelmeeres wird abgeschnürt und allmählich brackisch.h Die frühere Meeresfauna vermag sich nur zum Teil diesen neuen Verhältnissen anzubequemen, fast nur Mollusken und Seesäuger bevölkern das weit ausgedehnte sarmatische Binnenmeer von brackischem Oharakter. Da dieses aber allmählich nicht nur vollständig süß wird, sondern sich schließlich in eine Vielheit von kleinen Landseen auflöst, so verschwindet der größte Teil der Fauna vollständig. Hier haben wir also einen Vor- gang, der tatsächlich zum endgiltigen Absterben einer ganzen Tier- gesellschaft geführt hat, und ähnliche Ereignisse mögen sich im Laufe der Zeit mehrfach wiederholt haben. Aber vergessen wir nicht, daß derartige Veränderungen stets nur lokaler Natur sind und daher nur einen verschwindenden Bruchteil der Meereswelt in Mitleidenschaft ziehen können. Einzelne Zweige des großen Baumes, als welchen wir uns die Entwicklung gewöhnlich bildlich vorstellen, werden gestutzt, die Aste selbst aber nicht entfernt, der Verlust betrifft nur einige Äste in geringfügigem Maße. Als Folge von Regressionen sind aber noch weitere Änderungen der Lebewelt zu verzeichnen. Eine häufige Folge des Zurückweichens des Meeres besteht in der allmählichen Aussüßung von Meeresteilen (die zwar auch auf anderem Wege denkbar ist). Eine allmähliche 28 Probleme. Verminderung des Salzgehaltes wird von manchen Tieren und Algen gut vertragen, und es ist daher leicht begreiflich, daß auf diese Weise Meeresbewohner schließlich zu Süßwasserbewohnern werden. Wenn dies mit allen Vertretern einer Meeresgattung geschieht, sei es zu gleicher Zeit oder in verschiedenen Zeiten, so scheidet sie als Glied der Meeresfauna gänzlich aus, und wenn nun der Vorgang selbst nicht historisch überliefert ist, so erscheint eine Gattung von Meeres- mollusken erloschen, während sie ın Wirklichkeit in einer Süßwasser- gattung, und zwar unter Umständen mit allen ihren Arten weiterlebt. Ein Beispiel, das diesen Fall gut illustriert, werden wir später bei Besprechung der Schizodonten (Trigoniden und Unioniden) kennen lernen. Meeresregressionen führen naturgemäß allgemein auch zu Re- gressionen der Liebewelt des Meeres. Früher ausgedehnte Ver- breitungsgebiete werden eingeengt, örtlich 'entstandene Rassen oder Abarten gehen dabei verloren und verschiedene, früher getrennte. Gemeinschaften werden in einem Wohnbezirke zusammengedrängt. Findet eine Tierart nicht ganz die gleichen, aber für sie doch erträg- lichen Lebensbedingungen, so schmiegt sie sich diesen an. So kann ein Bewohner der Flachsee allmählich zum Tiefseetiere werden oder eine leicht bewegliche, schon einigermaßen zum Freischwimmen ver- anlagte Form eine vollständig freischwimmende Lebensweise an- nehmen — kurz die Möglichkeiten der Veränderung sind mannigfaltig, zumeist so selbstverständlich, daß ich nicht länger dabei zu verweilen brauche. Nur die Wirkung auf die Landbewohner möge noch an- gedeutet werden. Was bei Transgressionen für die Meeresbewohner eintritt, näm- lich eine Erweiterung der Wohngebiete, gilt bei Regressionen für die Bewohner des Festlandes. Neues Land wird für Pflanzen und Tiere besiedelungsfähig; von welchen Formen es aber besiedelt wird, das hängt auch in diesem Falle weniger von deren Organisation als vielmehr davon ab, welche Tiere und Pflanzen sich dort gerade be- finden, wo das Festland Zuwachs erhält. Auch hier wird die Existenzbreite der Organismen durch die Gelegenheit gefördert; es können auf diese Weise Tier- oder Pflanzenarten, die lange Zeiten hindurch eine bescheidene Existenz auf engen Räumen geführt haben, zu ungemein großer Individuenzahl anwachsen und sich auf dem neu besiedelten Gebiete, da es wohl stets neue und auch mannigfaltig wechselnde Lebensbedingungen schafft, in neue Formen zerspalten. Stellt gar das zuwachsende Land eine Brücke zu einem schon be- stehenden Festlande her, wie das am Ende der Pliozänzeit mit dem Probleme. 29 Verbindungsstück zwischen Nord- und Südamerika der Fall war, so wird der Existenzbereich der vordringenden Formen noch beträcht- lich erweitert. In dem vorliegenden Falle haben sich z. B. die Floren und Säugerfaunen des Nordens und Südens gemischt, die Pferde, Mastodonten, Paarhufer, Raubtiere usw. des Nordens sind bis gegen das Ende des südlichen Festlandes vorgedrungen, während sich die Riesenfaultiere und andere bezeichnende Formen des Südens bis über Mexiko hinaus in dem Nordkontinent verbreiteten. Das Bemerkenswerte an diesem Vorgange besteht in der friedlichen Mischung der heterogenen Faunen. Keine Vernichtung im Kampfe ums Dasein, wie wir sie nach unsern Büchern erwarten sollten, verdirbt die eine oder die andere Fauna, sondern beide leben ge- mischt bis heute, und nur die Mehrzahl der großen jagdbaren Ge- stalten fällt im Laufe der jüngeren Diluvialzeit dem Menschen zum Opfer. Das ist aber keineswegs ein ungewöhnliches Bild, vielmehr der Typus für derartige Vorgänge, wie sie sich zur Vorzeit oft wiederholt haben. Es hat nur einen Fehler: es widerspricht den Forderungen der Darwınschen Lehre in jeder Beziehung. Klimawechsel. Die alte, lange und mit Liebe gepflegte Vor- stellung, wonach die Erde bis zur Tertiärzeit ein gleichmäßig warmes Klima besessen hat, das sich erst im Laufe dieser Periode auf den jetzigen Stand abgekühlt hat, ist heute nicht mehr haltbar. Solange wir nur eine diluviale Eiszeit kannten und auch diese uns als eine einfache Abkühlungsperiode erschien, konnte jene Vorstellung zu Recht bestehen. Allein schon mit dem Nachweise mehrfach wieder- holter Eiszeiten während der Diluvialperiode mußte sie ins Wanken kommen, und die Feststellung einer permischen Eiszeit in niederen Breiten zu beiden Seiten des Äquators hat ihr endgiltig die Be- rechtigung entzogen. Heute wissen wir aber no6h mehr: schon zur paläozoischen Zeit hat es mehrere Eisperioden gegeben, und die älteste, die Baıtey Wıruıs kürzlich in China entdeckte, fällt etwa an die Grenze von Kambrium und Silur. Bedenken wir nun, daß die Spuren früherer Vereisungen leicht vergänglich und daher sicher- lich häufig ganz verwischt sind, erinnern wir uns ferner an die tri- viale und doch so oft unter der Bewußtseinsschwelle bleibende Tatsache, daß fast drei Viertel der Erdoberfläche und damit ein gewaltiger Teil solcher Spuren vom Meere bedeckt werden, so sind wir berechtigt, den Eintritt von Eisperioden als eine häufig wieder- holte, man möchte sagen normale Erscheinungsform der Verände- rungen zu betrachten, denen die Erde im Laufe der biohistorischen Zeit (d. h. vom Beginn des Kambriums an) ausgesetzt gewesen ist, 30 Probleme. Haben wenige Jahrzehnte im Fortschritt der geologischen Forschung genügt, um statt einer Eisperiode deren drei oder vier zu erweisen, so lassen zukünftige Erweiterungen unsrer Kenntnisse auch eine fernere Vermehrung solcher Abkühlungsperioden erwarten. Als’ eine weitere, nicht minder wichtige Tatsache ist zu erwähnen, daß die älteren, d. h. die paläozoischen Eisperioden, die wir jetzt kennen, nicht die zirkumpolare Ausdehnung besessen haben wie die quartäre. So hat die permische Eiszeit nicht nur ein Gebiet niederer Breiten überdeckt, sondern ihre Ausgangsregion hat in Südafrika auch äquatorwärts gelegen; und auch die Spuren der übrigen palä- ozoischen Eisperioden sind zumeist nicht in zirkumpolaren Gebieten, sondern in Südafrika, Australien und Ohina aufgefunden worden. Wie die mehrfach beobachtete innige Verquickung der glazialen Ge- bilde mit Meeresabsätzen beweist, muß auch der Gedanke zurück- gewiesen werden, als handle es sich dabei um Spuren lokaler Hoch- gebirgsvergletscherungen. Sind es demnach vorwiegend Inlandeismassen gewesen, die ähnlich denen der Diluvialzeit wohl nur als zirkumpolare (sebilde gedacht werden können, so haben die Pole im Laufe der Zeit ihre Lage mehrfach gewechselt. Zu dem gleichen Ergebnisse führen die Funde fossiler Pflanzenreste in den arktischen und, wie O. NoRDENSKJÖLD ermittelt hat, auch in den antarktischen Regionen. Denn wir wissen jetzt, daß dort teils zur paläozoischen, teils zur mesozoischen, wie auch zur tertiären Zeit Pflanzen gewachsen sind, die unter den heutigen, ja selbst unter günstigeren Verhältnissen in der Nähe der Pole nicht wohl gedeihen können. Zur Auffindung der Gegenden, die zur Vorzeit unter einem tropischen oder subtropischen Klima gestanden haben, können uns die Rotsandsteinbildungen aus den verschiedenen Epochen der Erd- geschichte helfen. Soweit wir wissen, entstehen eisenoxydreiche und daher rot gefärbte Zersetzungsprodukte nicht in gemäßigten und kalten Klimaten, vielmehr finden wir den Typus dieser roten Zer- setzungsprodukte, den Laterit, heute nur in den Tropen. Denken wir uns diesen von Wasser (vielleicht auch mit vom Winde) auf- bereitet und zu einem geschichteten Absatze umgearbeitet, so kann nicht wohl etwas anderes daraus entstehen, als rotgefärbter Sand- stein und Ton. Nun liegen solche Rotsandsteine so ziemlich aus allen Zeiten vor, aber nur selten aus verschiedenen Zeiten in der gleichen Gegend. Sie scheinen wie die Glazialbildungen im Laufe der Zeit über die Erde fortzuwandern und beschränken sich keines- wegs auf die Gebiete, die heute unter einem tropischen Klima stehen, sondern sie sind zur Devonzeit in den nördlichen Teilen Amerikas # Probleme. al und Europas, zur Triaszeit in etwas südlicher gelegenen Gebieten der gleichen Festländer verbreitet gewesen. Über die Einzelheiten dieser Verschiebungen der Klimazonen im Laufe der Zeit sind wir heute erst mangelhaft unterrichtet, die Wege, auf denen Pole und Gleicher über die Erde gewandert sind, lassen sich kaum ahnen, und über die möglichen Ursachen der Eis- zeiten und Klimawechsel schweigen wir uns zurzeit am besten ganz aus, wenn wir auf dem Boden gesicherter Forschung bleiben wollen. Die Bedeutung dieser Vorgänge für die Lebewelt wird dadurch aber kaum beeinträchtigt. Alles spricht dafür, daß die Klimate ähnlich wie die Verteilung der festen und flüssigen Massen auf der Erde einem langsamen aber ständigen Wechsel unterworfen gewesen sind, und dieser hat wohl unausgesetzt die Existenzbedingungen der Tiere und Pflanzen, im Meere aber in ganz anderem Sinne als auf dem Festlande, beeinflußt. In welcher Weise das geschehen ist, kann uns am besten die jüngste Vergangenheit lehren, da sie die quartäre Eiszeit einbegreift. Die Wirkungen der diluvialen Eiszeit auf die Verbreitung der Tiere und Pflanzen sind so gut bekannt, daß ich nur an einige Tat- sachen zu erinnern brauche. Nordische Meereskonchylien wurden bis ins Mittelmeer nach Süden gedrängt; sie leben heute wieder an den Küsten Grönlands. Arktische oder Hochgebirgspflanzen wurden in die Ebene oder in tiefere Teile der Mittelgebirge getrieben, haben sich an kühlen und feuchten Orten auch vielfach erhalten, zumeist aber die Nähe des Eises wieder aufgesucht. Ähnliche Wanderungen unter dem Einflusse des vordringenden oder zurückweichenden Eises haben auch die Säugetiere gemacht. In den wärmeren und trocknen Zwischeneiszeiten sind dagegen wärmeliebende Pflanzen der heutigen Mittelmeer- oder Pontusregion nördlich der Alpen und hoch im Ge- birge verbreitet gewesen, Tiere der russischen Steppen sind bis in das Herz Mitteleuropas, ja bis zu den Pyrenäen vorgedrungen. Also mehrfache Verschiebung der Wohngebiete, zunächst unter Erhaltung der Lebensgewohnheiten, im besonderen der klimatischen Abhängig- keit der betreffenden Tiere und Pflanzen. Zweifellos haben aber auch manche Tiere und Pflanzen unter diesen mehrfach wiederholten Klimawechseln ihre Lebensgewohnheiten geändert. Mammut und wollhaariges Rhinozeros, also Angehörige wärmeliebender Tiergruppen, haben sich an das kalte Klima der nordsibirischen Tundren gewöhnt, während die Bergföhre, die noch zur Pliozänzeit mit Buxbaum, Gingko u. a. zusammen im Untermaintale lebte, sich fast ganz in die Gebirge zurückgezogen hat. Tiefgreifende Spaltungen der pliozänen 323 Probleme. Floren sind zur Diluvialzeit vor sich gegangen, zum großen Teil jedenfalls verursacht durch die klimatischen Schwankungen. Was zur Pliozänzeit in einer Pflanzengesellschaft geeint im Untermaintale gelebt hat, ist, wie KInKELINn gezeigt hat, heute über Europa, Nord- amerika und Ostasien verzettelt. Ähnliche Verschiebungen und Spaltungen zeigen auch die Landschnecken und Wirbeltiere seit der Pliozänzeit. Sie sind die unvermeidliche Folge der wiederholten Klimaschwankungen zur Quartärzeit und der Veränderungen zwischen Festland und Meer, die sie begleitet haben. — Die Quartärzeit be- deutet zugleich eine beträchtliche Verarmung der Tierwelt. Ehe wir aber diesen Vorgang näher ins Auge fassen und ihn zu erklären versuchen, wollen wir uns einen Überblick über ähnliche Erscheinungen in der gesamten Organismen- welt verschaffen. Wir betrachten zunächst die Pflanzenwelt. Es gehört zu den bemerkenswertesten Erscheinungen im Ent- wicklungsgange der Pflanzenwelt, daß die höheren Blütenpflanzen — die Angiospermen, im besonderen die Dikotyledonen — von dem Zeitpunkte an, wo wir sie zum ersten Male reich entwickelt hervor- treten sehen (untere oder mittlere Kreide), bis auf den heutigen Tag keinerlei wesentliche Einbuße in ihrem Bestande erlitten haben. Während am Ende der Kreidezeit Meerestiere der ver- schiedensten Art (Ammoniten, Rudisten, Meersaurier) und mannig- fache Landtiere (Dinosaurier, Pterosaurier) vollständig verschwinden, andere Gruppen, wie Säuger und Vögel, einen mächtigen und an- scheinend unvorbereiteten Aufschwung nehmen, wird die höhere Pflanzenwelt von derartig tiefgreifenden Veränderungen durchaus nicht betroffen. Können wir doch kaum von irgendeiner Pflanzen- familie oder -gattung, die wir aus der Oberkreide kennen, bestimmt behaupten, daß sie seither ausgestorben wäre. Wie häufig die Pflanzen- welt seit der Kreide auch auf der Erde verschoben worden ist, wie oft auch ihre Bestandteile gemischt und entmischt worden sind, das Bild ihrer Existenzbreite hat selbst im einzelnen keine wesentliche Änderung erfahren. So konnte schon SarorrA vor 35 Jahren darauf hinweisen, daß die heute artenreichen Gattungen auch in der Vorzeit schon artenreich gewesen sind, und daß anderen ihre heutige Arten- armut schon seit langer Zeit angehaftet hat. ZeıLLer hat mit Recht betont, daß seit der mittleren Tertiärzeit auch zahlreiche Arten bis heute konstant geblieben sind; ihre Zahl ist sogar erheblich, sobald man die Art nicht in den allerengsten Rahmen einzwängt, wie das neuerdings vielfach geschieht, sondern wenn man darunter bei fossilen wie bei lebenden die Gesamtheit wenig abweichender Varietäten Probleme. 33 einbegreift (Großart), die besonders bei den fossilen zunächst mit gesonderten Namen belegt worden sind. Die Unterschiede zwischen den pliozänen und heutigen Floren, soweit Blütenpflanzen überhaupt in Frage kommen, sind kaum nennenswert. Ausgestorbene Gattungen finden sich unter den plio- zänen überhaupt nicht, und die meisten der mit besonderen Namen belegten Arten stehen heute noch lebenden so außerordentlich nahe, daß es in die Willkür des einzelnen Forschers gestellt bleibt, ob er von verschiedenen Arten oder von Abarten sprechen will. Alles ın allem liefert aber die Geschichte der Blütenpflanzen seit dem Beginn der Kreidezeit einen vollgültigen Beweis für den hohen Grad von Wider- standsfähigkeit, der selbst Landpflanzen von verwickeltem Bau und geringer Wanderungsfähiskeit gegenüber den Einflüssen der Klima- schwankungen zukommt. Daß sogar die Diluvialzeit mit ihren wieder- holten und tiefgreifenden Wechseln an dem vorhandenen Bestande nicht hat rütteln, sondern nur die Verbreitungsgebiete vieler Formen und die Zusammensetzung der Pflanzengemeinschaften hat ändern können, gibt uns zu denken und veranlaßt uns genau festzustellen, ob die Tierwelt allgemein oder ob nur gewisse Teile derselben zur Quartärzeit verarmt sind. Für die Mehrzahl der wirbellosen Tiere liegen die fossilen Dokumente weit weniger vollständig vor als für die Blütenpflanzen, aber da, wo sie vorhanden sind, wie bei den Mollusken, die wir sowohl als Meeres- wie als Süßwasser- und Landbewohner aus diesem jüngsten Abschnitte der Erdgeschichte recht vollständig überblicken, reden sie eine ganz ähnliche Sprache. Unter den zahlreichen Muscheln und Schnecken, die uns aus der jüngeren Pliozänzeit überliefert sind, finden sich keine ausgestorbenen Gattungen und nur wenige ver- schwundene Arten, wenn wir hier wie bei den Pflanzen den Art- begriff nicht in seiner engsten Fassung nehmen. Auf keinen Fall dürfen wir von einer irgendwie nennenswerten Verarmung der wirbellosen Tierwelt während der Quartärzeit sprechen, wenn wir alles uns bekannte Material berücksichtigen. Eine solche trifft vielmehr ausschließlich für die Wirbeltiere zu, und auch bei ihnen nur für bestimmte Kategorien. Für ein Ärmerwerden der niederen Wirbeltiere, im besonderen der Fische, der Amphibien und der überwiegenden Mehrzahl der Reptilien während der Quartärzeit oder auch während des jüngeren Pliozäns liegen keinerlei Anhalts- punkte vor. »Zwischen Pliozän und Jetztzeit gibt es, soweit die Fische in Betracht kommen, kaum noch eine nennenswerte Differenz« (Zıttet). Unter den pliozänen Amphibien finden sich ebenfalls keine Steinmann, Abstammungslehre. 3 34 Probleme. ausgestorbenen Gattungen. Von Reptilien sind nur wenige seit dem Pliozän verschwundene Formen bekannt, nämlich zwei sehr große Eidechsen, deren Reste im Quartär (oder gar im Postquartär?) Australiens gefunden werden, eine Schildkröte von gigantischen Dimensionen (Oolossochelys), deren fast 4m lange Panzer im Pliozän Südindiens vorkommen und die merkwürdige Gattung Miolania, deren riesige Reste in ganz jungen Ablagerungen Australiens liegen. Nur diese Riesengestalten haben die Quartärzeit nicht überdauert, sonst haben sich auch die Kriechtiere durch diese Zeit so gut wie unverändert erhalten. Bei den Vögeln macht sich der Einfluß der Quartärzeit schon in viel höherem Maße geltend als bei den niederen Wirbeltieren. Eine reiche Welt von gewaltig großen und zum Teil fremdartigen Liaufvögeln hat bis vor kurzem auf der Erde bestanden, so die Riesen- vögel von Madagaskar und die Moas von Neuseeland; alle zusammen wohl an die dreißig Arten. Soweit nicht ein historisch nachweis- bares Eingreifen des Menschen mitspielt, hat bei den Flugvögeln eine derartige Verarmung nicht stattgefunden. Auch hier wieder sind es, wie bei den Reptilien, die sehr großen und ans Land ge- fesselten Gestalten, deren Verschwinden in quartärer oder allerjüngster Zeit offenkundig wird. Die Säugetiere zerfallen in zwei große Gruppen nach ihrem Verhalten zur Diluvialzeit.e. Die eine umfaßt die Gesamtheit der Seesäugetiere, fast alle kleineren Landtiere und einen Bruchteil der größeren. Ihr phylogenetischer Bestand erscheint durch die Vor- gänge dieser Zeit kaum irgendwie berührt zu werden. Der andern Gruppe gehört die Mehrzahl der großen und mittelgroßen Landtiere aus den verschiedensten Abteilungen an, ohne daß irgendeine Be- ziehung zu ihrer besonderen Organisation ersichtlich wäre. Diese verschwinden im Laufe der Diluvialzeit entweder ganz, oder ihre ur- sprünglich mehr oder minder weit ausgedehnten Wohnbezirke werden eingeengt. Eine Übersicht über die wichtigsten Vertreter dieser Gruppe möge zur Erläuterung der eben erwähnten Tatsache dienen, daß die Zugehörigkeit zu einer bestimmten systematischen Abteilung für ihr Verschwinden nicht maßgebend gewesen ist. Marsupialia. In sehr jungen pleistozänen Ablagerungen Australiens kommen eine Anzahl sehr großer, ausgestorbener Beuteltiere vor, im besonderen der vielleicht fleischfressende Beutellöwe (T’hylacoleo), etwa von der Größe des Löwen; Känguruhs verschiedener Art, z. T. größer als die jetzt lebenden; die großen pflanzenfressenden Dipro- todon und Nototherium, ersterer etwa die Größe eines Nashorns Probleme. 35 erreichend; Verwandte der Wombate bis zur Größe eines Tapirs (Phascolonus) ; ein Beutelwolf größer als der lebende und einige andere, weniger große Formen. Edentata. Die beiden umfangreichen Abteilungen der Gravi- graden (Riesenfaultiere) und Glyptodontia (Riesengürteltiere), einst die Charaktertiere Südamerikas und zeitweise z. T. bis ins Herz Nord- amerikas verbreitet, sind heute vollständig ausgestorben. Dazu ge- hören die Megatherien von fast Elephantengröße; die Megalonyx und ihre Verwandten, an Größe zwischen einem Wolf und einem Ochsen schwankend; die Mylodontiden mit mehreren Gattungen, deren Größe zwischen der eines Ochsen und eines Elephanten schwankt; ferner die etwa 10 Gattungen umfassenden Glyptodontiden, die an Größe kaum unter 1m herabsinken aber bis zu zirka 4 m Länge erreichen; auch die heute noch Südamerika bewohnenden Gürteltiere (Dasypoden) sind im Quartär durch ungewöhnlich große Gestalten vertreten, wie Chlamydotherium von der Größe eines Nashorns, andere wie Tatusia und Cheloniscus bis etwa metergroß. Rodentia. In Nordamerika sind seit der Diluvialzeit zwei biber- artige, aber ganz anders bezahnte Riesennager, Castoroides und Amblyrkiza, verschwunden; sie besaßen Bärengröße. Ein echter Biber, größer als der heutige (Trogontherium), hat in Europa gelebt, ein Wasserschwein (Hydrochoerus giganteus), doppelt so groß als das lebende, in Argentinien. Ob der riesigste aller Nager, Megamys, von Nashorngröße, erst mit der Diluvialzeit in Südamerika ausgestorben ist oder schon früher, erscheint noch ungewiß. Huftiere. Weitaus die Mehrzahl der verschwundenen Diluvial- tiere gehört dieser Sammelgruppe an. Wir besprechen zunächst die südamerikanischen Typen, die von denen der alten Welt durchgängig abweichen. Sie stellen bekanntlich eine Huftier- welt für sich dar, die eine geschlossene Entwicklung auf einem ab- gesonderten Festlande durchgemacht hat, und in der mehrere getrennte Gruppen enthalten sind; diese ähneln zwar den Huftieren der nörd- lichen Festländer in manchen Beziehungen, z. B. werden die Protero- theriden im Laufe der Zeit zu Einhufern wie die Pferde, aber soweit man weiß haben sie mit ihnen nichts anderes gemein, als daß sie auch huftragende Säuger sind. Fast alle ihre Stämme reichen bis an die Quartärzeit heran oder überdauern sie, heute sind sie aber alle verschwunden. Die pferdeähnlichen Proterotheriden erreichten Reh- bis Hirsch- größe; die Macraucheniden mit mehreren Gattungen bewegten sich zwischen der Größe eines Hirsches und eines Kamels; die Typo- BE 36 Probleme. theriden schwanken in der Größe zwischen einem Hasen und einem Schwein; die Toxodontiden glichen ungefähr den Nashörnern. Die Huftiere der nördlichen Festländer sind zumeist wohl- bekannt. Ich erinnere nur an die gewaltige Größe der verschiedenen Elephanten- und Mastodontenarten der Quartärzeit, die über Europa, Asien, Afrika, Nord- und z. T. (Mastodon) auch über Südamerika verbreitet waren; ferner an die Pferde, die ebenfalls eine ungeheuer ‘ weite Verbreitung besaßen. Die Nashörner, deren quartäre Arten z. T. die heutigen noch an Größe übertrafen. Auch unter den ver- schwundenen Schweinen, Nabelschweinen und Nilpferden befanden sich größere (z. T. auch kleinere) Arten als die heute lebenden. Einige ausgestorbene Arten von Kamelen und Llamas bewegten sich in den Größenverhältnissen der heutigen. Von den Hirschen verschiedener Größe sind mehrere zur Quartärzeit ausgestorben, darunter auch die riesigsten Gestalten, die je gelebt haben. Auch Giraffen wären zu erwähnen und vielleicht die fremdartigen Sivatherien, die in Indien bis an die untere Grenze der Quartärzeit bestanden haben. Schließlich sei noch an die Rinder der Diluvialzeit erinnert, von denen mehrere heute ebenfalls nicht mehr leben. Raubtiere. Viele größere und einige kleinere Raubtiere der Diluvialzeit sind heute verschwunden. Da aber ihr Verschwinden zumeist als eine unvermeidliche Folge der Abnahme oder des Ver- schwindens ihrer Beutetiere verstanden werden kann, so erscheint es unnötig, sie einzeln namhaft zu machen. Diese Aufzählung macht keineswegs den Anspruch auf Voll- ständigkeit, sie enthält nur die meisten und die markantesten Ge- stalten verschwundener Diluvialtiere. Sie ist ferner mit einem Fehler behaftet, der erst mit dem weiteren Fortschritt der Forschung wenigstens teilweise ausgemerzt werden kann. Wie die neueren Funde aus den früher unbekannten Höhlen Kaliforniens zeigen, dürfte die Zahl der verschwundenen Diluvialtiere von bedeutender Körpergröße noch er- heblicher sein, als sie jetzt erscheint. Zweifellos liegen auch manche Festlandsteile der Diluvialzeit, auf denen Reste damaliger Landtiere begraben sein können, heute unter dem Meeresspiegel. Es scheint darum keineswegs ausgeschlossen, daß von den Tieren, deren Resten wir zuletzt in pliozänen (oder miozänen) Ablagerungen begegnen, manche noch zur Diluvialzeit (oder auch in der Pliozänzeit) gelebt haben. Ungeachtet dieser Unvollkommenbheiten zeigt die obige Statistik folgende Ergebnisse von grundlegender Bedeutung auf. 1. Die ausgestorbenen Tiere sind fast ausnahmslos Landbewohner und sie gehören den verschiedenartigsten Abteilungen an. Manche Probleme. 37 systematische Gruppen sind ganz erloschen, wie die südamerikanischen Huftiere, die Riesenfaultiere und Riesengürteltiere, von andern Gruppen leben den ausgestorbenen ähnliche Vertreter heute noch fort; diese sind entweder fast durchgängig von geringerer Körpergröße (Beispiele: Beuteltiere, Nager, Gürteltiere), oder sie gleichen den ausgestorbenen in dieser Beziehung fast vollständig (Elefanten, Nashörner, Pferde usw.). 2. Schnellfüßige Herdentiere sind nur spärlich darunter vertreten, die einzige derartige Gruppe sind die Pferde. Die Mehrzahl der aus- "gestorbenen Formen hat vielmehr eine schwerfällige Art der Fort- bewegung besessen oder begreift Tiere von mehr oder weniger iso- lierter Lebensweise. 3. Allgemein sind nur Tiere von einer gewissen (etwa von Wolfs-) Größe an aufwärts ausgestorben. Wenn auch kleine Formen nicht ganz fehlen, so machen sie doch nur eine verschwindende Minder- heit aus. Um nun zu ergründen, welche Vorgänge das Verschwinden der Diluvialtiere veranlaßt haben, ist es wichtig zu wissen, zu welcher Phase der Diluvialzeit sie ausgestorben sind. Von sehr vielen können wir das heute nur annähernd genau sagen, von manchen aber wissen wir den Zeitpunkt ziemlich bestimmt. Von manchen geht die Über- lieferung schon zur Pliozänzeit oder mit dem Beginn der Diluvial- zeit verloren; andere verschwinden im Laufe der Quartärzeit und zwar vielfach nicht plötzlich, sondern allmählich; wieder andere haben alle die Klimaschwankungen überdauert und sind erst im Laufe der allerjüngsten Zeit ausgestorben, wo die klimatischen Ver- hältnisse von den heutigen kaum irgendwie verschieden waren. Das gilt nicht nur vom Mammut und vom wollhaarigen Nashorn, die sich im Aufeise Sibiriens finden, sondern vor allem von einem sehr großen Teile der südamerikanischen Huftiere, Edentaten usw., von den meisten australischen Formen und von mehreren Tieren Nordamerikas. Das gleiche Verhalten zeigen die Riesenvögel von Madagaskar und Neuseeland; letztere denkt man sich überhaupt wohl nicht an natür- lichen Ursachen zugrunde gegangen, sondern von den Eingeborenen vernichtet. Diese Tatsachen sprechen, wie man zugestehen wird, nicht ge- rade dafür, daß die Abkühlung des Klimas, die zu wiederholten Malen während der Quartärzeit eingetreten ist, einen so verderblichen Einfluß auf die Tierwelt ausgeübt habe. Selbst wenn man diesen für emige Bewohner der gemäßigten Zone in Europa und Asien zu- geben wollte, weil sich hier die Lebensbedingungen für große Tiere am stärksten geändert hätten, so könnte man diese Ursache doch 38 Probleme. unmöglich gelten lassen für die Bewohner der beiden Amerikas, die ungehindert durch Gebirgswälle mit der gegen den Äquator zu ge- drängten Pflanzenwelt sich stets zusagende Wohnbezirke aufsuchen konnten. Auch für Madagaskar und Australien würde dieser Er- klärungsversuch wenig zutreffend erscheinen. Von einigen eurasia- tischen Tieren, wie Mammut und wollhaariges Nashorn, wissen wir aber, daß sie sich im Laufe der Diluvialzeit an das harte Klima und an die dürftige Nahrung gewöhnten, die das nördliche Sibirien darbot, und daß sie vortrefilich dabei gediehen. Indem man dieser Tatsache Rechnung trug, hat man umgekehrt die Ansicht zu äußern gewagt, daß diese Tiere ausgestorben seien, weil sie sich an das wieder wärmer werdende Klima nicht mehr hätten gewöhnen können. Die Schwäche dieser Erklärung liegt auf der Hand. Denn dieselben Tiere haben noch in der letzten Interglazialzeit auch unter einem milderen Klima sich wohl befunden, und selbst wenn sie dies in der Postglazialzeit nicht mehr gekonnt hätten, so hätte ihnen Nordsibirien doch bis heute ein hinreichend kühles Klima gewährleistet. Erinnern wir uns nun der oben besprochenen Beständigkeit der Pflanzenwelt, der niederen Tierwelt und aller kleineren Säuger wäh- rend der eiszeitlichen und nacheiszeitlichen Klimawechsel und tragen wir der unbezweifelten Anpassungsfähigkeit vieler Diluvialtiere an klimatische Verschiedenheiten Rechnung, so werden wir zu dem Schlusse gedrängt: die Klimaschwankungen, selbst beträcht- liche und wiederholte wie die diluvialen, haben auf den (resamtbestand der Tiere und Pflanzen keinen nennens- werten Einfluß, und das allgemeine Verschwinden der großen Säuger, Vögel und Reptilien in den jüngsten Zeiten der Erdgeschichte kann nicht durch Klimaschwankungen ver- ursacht sein. Zu demselben Ergebnisse sind vor mir auch andere Forscher gekommen; mir scheint es um so sicherer begründet zu sein, je mehr wir von den Tieren der Vorzeit erfahren haben und je tiefer wir in das Wesen der Klimaschwankungen eingedrungen sind. Begreiflicherweise hat man nach anderen Erklärungen ge- sucht, besonders auch an die Mitwirkung des Menschen bei diesem Vorgange gedacht, ja schon LamArck ist die Ausrottung durch den Menschen als der einzig mögliche Faktor dabei erschienen. Bevor ich aber prüfe, ob und inwieweit der Mensch herbeigezogen werden kann, mögen erst einige Worte über eine andere Art von Erklärungs- versuchen Platz finden. In der neueren Literatur über den Gang und die treibenden Ursachen der phylogenetischen Entwicklung nehmen Erörterungen Probleme. 39 über gewisse Eigenschaften der belebten Natur einen breiten Raum ein, die zu einem selbständigen Erlöschen von Tier- und Pflanzen- gruppen oder von Gattungen oder von Arten führen sollen. Eine aus »natürlichen Ursachen« hervorgehende Abschwächung der Variabilität, die Erreichung einer gewaltigen Körpergröße, allzuweit gehende Spezialisierung gewisser Organe und ihrer Funktionen oder eine all- gemeine natürliche Stammsenilität, bald die eine, bald die andere dieser Ursachen, soll das Erlöschen von Tier- und Pflanzenstämmen verursacht haben und noch verursachen. Ich würde gern in eine Erörterung dieser Eigenschaften der belebten Natur und ihrer Folgen für das Erlöschen der Arten und Stämme eintreten, wenn ich mich in dieser Materie für kompetent halten könnte. Das ist leider nicht der Fall. Mir sind Anzeichen von solchen Eigenschaften weder an heutigen Wesen noch an solchen der Vorzeit jemals entgegengetreten. Wohl kenne ich ein Schwanken der Veränderlichkeit, ich glaube auch später Ursachen für eine Zunahme der Veränderlichkeit und Abschwächen der Variabilität in der Geschichte eines Tierstammes aufzeigen zu können, aber einen Rückgang der Variabilität aus nicht ersichtlichen »inneren« Ursachen, der zum Aussterben hinführte, habe ich nie beobachtet. Daß gewaltige Körpergröße das Verschwinden einer Tier- oder Pflanzenform herbeigeführt hätte, ist mir in keinem einzigen Falle bekannt geworden; im Gegenteil beweist mir die Existenz der Wale, Elefanten, Giraffen, Boas, der Lessonien, Eukalypten, Sequoia usw. usw., die nicht durch natürliche Vorgänge, höchstens bei einigen durch das Eingreifen des Menschen, bedroht erscheint, daß ungewöhn- liche Größe kein Hindernis für das Fortbestehen von Tieren und Pflanzen, weder auf dem Festlande noch im Meere bildet. Auch gelten mir Elefanten, Nilpferde, Strauße, Schlangen, Lungenfische, Einsiedler- krebse, Kakteen, Balanophoren usw. für ebensosehr oder ebensowenig spezialisierte Wesen, wie irgendwelche ausgestorbenen; aber sie prosperieren doch, wo der Mensch sie nicht stört. Und weit davon entfernt, in der belebten Natur irgendwo die Anzeichen einer be- ginnenden natürlichen Senilität gefunden zu haben, sehe ich, daß sich das Leben, in welcher Form und Äußerung es auch bestehen möge, immer und überall durchsetzt, unsterblich ist, wo brutale Ge- walt es nicht abtötet. Der einzige Trost dafür, daß ich in der Natur jene immanenten Schwächen nicht sehen kann, liegt für mich darin, daß ich diesen Mangel an Findigkeit mit Forschern von Namen und Verdienst teile, LAMARcK, NEUMAYR, WEISMANN u. a. m. Um nicht mißverstanden zu werden, will ich aber ausdrücklich betonen, daß mir Belege für die von Doro formulierte, aber auch sonst schon 40 Probleme. hervorgehobene Gesetzmäßigkeit, wonach viele reduzierte oder in ge- wisser Richtung stark abgeänderte Organe nie mehr auf den früheren Zustand zuückgebracht werden können (das Gesetz der »Nicht- umkehrbarkeit der Entwicklung«), überall in der Natur vorhanden zu sein scheinen; ich verkenne also diese positiven Tatsachen nicht, die anderen Forschern genügen, um daraus vitalistische Gesetze ab- zuleiten; man braucht diese »Gesetze« aber nur, wenn man sich darauf versteift, das Aussterben vom Standpunkte der heutigen, un- vollkommenen Entwicklungslehre zu erklären und so lange, als es noch nicht gelungen ist, das Erlöschen von Tieren und Pflanzen auf andere, nicht vitalistische Weise zu deuten. Der Mensch als Vernichter der Tierwelt. »Raum für alle hat die Erde, Was verfolgst Du meine Herde ?« Die einzigen sicher beglaubigten Fälle vom Aussterben von Arten sind durch die Mitwirkung des Menschen zustande gekommen. Die STELLERScChe Seekuh, die Dronte, der Solitär, der Alk u. a. sind nachweislich Beispiele für die Ausrottung von Tierarten durch den zivilisierten Menschen, die Moas von Neuseeland aber sind wahrschein- lich unter den Händen des unzivilisierten Ureinwohners zugrunde ge- gangen. Unter unsern Augen vollzieht sich das Vernichtungswerk langsam aber unabwendbar an zahlreichen Tieren, sogar an manchen Pflanzen. Seitdem man in den prähistorischen Stationen aus paläo- lithischer Zeit die oft nach vielen Tausenden zählenden Reste von Jagdtieren des Menschen, Pferd, Renntier usw. kennen gelernt hat, zweifelt auch niemand mehr daran, daß der prähistorische Mensch auf der Kulturstufe des Jägers das Verschwinden der jagdbaren Diluvialtiere wesentlich mit befördert hat; die Meinungen gehen aber auseinander darüber, ob der Mensch der Vorzeit allein die Schuld an ihrem Verschwinden trägt. NEUMAYR hat in seiner Erdgeschichte die bekannten Tatsachen vom Aussterben der Diluvialtiere zusammen- gestellt und die Ursachen erörtert, die diesem zugrunde liegen können. Er gelangt dabei zu dem Schlusse, daß wir neben klimatischen Ur- sachen die Tätigkeit des Menschen zu berücksichtigen hätten, »der in jahrtausendelang fortgesetztem Ringen manche dieser Kolosse und der furchtbaren Raubtiere ausrottete«. Damit dürfte auch wohl die Auffassung der meisten Forscher übereinstimmen, die sich über diesen Gegenstand meist nur gelegentlich geäußert haben. Das Verschwinden der Diluvialtiere aus Europa glaubte NeumAyR aus der vereinigten Wirkung der Klimaschwankungen und der Tätigkeit des urgeschicht- Probleme. 41 lichen Menschen hinreichend erklären zu können; aber für andre Ge- biete, im besondern für Südamerika, wo die geographischen Verhält- nisse günstiger liegen als in Europa, scheint ihm die Erklärung unzureichend. Er meint, wie sollte dies »der außerordentlich dünnen und auf niedriger Kulturstufe stehenden Urbevölkerung, z. B. des östlichen Südamerika gelungen sein, während es der hochstehenden und überaus dichten Bevölkerung Indiens nicht möglich gewesen ist, die ihre Felder vernichtenden Elefanten und Nashörner zu vertilgen«. Dieses Bedenken genügt ihm dann, um auch an der Berechtigung der Erklärung zu zweifeln, die er für die europäischen Verhältnisse gefunden zu haben glaubte. Denn er meint — und darin möchte ich ihm unbedingt beistimmen — »daß einer allgemein verbrei- teten Erscheinung auch eine allgemeine Ursache zugrunde liegen müsse«. Da nun NrumaAyr eine solche allgemeine Ursache nicht entdecken konnte, so gelangte er resigniert zu dem Ergebnisse, »daß uns das Aussterben der großen Diluvialtiere noch immer ein Rätsel ist«. Andre hervorragende Paläontologen haben sich in ähn- lichem Sinne geäußert; und alle sonst vorgebrachten Versuche, des Rätsels Lösung zu finden, scheinen mir mißlungen zu sein, sofern sie sich nicht mit der alten Lamarckschen Behauptung decken, daß der Mensch die alleinige Ursache dafür sei. In der oben wiedergegebenen Argumentation NrumAryrs liegt nämlich eine grundsätzliche Verkennung des Verhältnisses, das der Mensch auf verschiedenen Kulturstufen zu der Tierwelt einnimmt. Ackerbauer und Viehzüchter besitzen an der wilden Tierwelt nur in- soweit ein Interesse, als sie ihren Besitz stört, und ihre Tätigkeit be- schränkt sich im allgemeinen darauf, die ihnen lästigen Tiere fern- zuhalten oder sie gelegentlich zu verfolgen; für ihre Ernährung haben die Tiere kaum eine andre Bedeutung, als sie das Wild für unsre Küche besitzt. Schon zu einer systematischen Ausrottung der lästigen Tiere fehlt ihnen die Zeit und auch die dazu nötige Übung; an der zeitraubenden Vernichtung der ihnen nicht direkt schädlichen Tiere haben sie keinerlei Interesse. Ganz anders der Mensch auf der Kulturstufe des Jägers, wie wir ihn aus der paläolithischen Zeit Europas kennen, und wie er auf einer dieser wesentlich ähnlichen Kulturstufe im Laufe der Zeit alle Erdteile bevölkert und sie zum größten Teile auch durchzogen hat. Nur dort, wo der Mensch durch die Ergiebigkeit der Natur von vornherein auf vorwiegend pflanzliche Nahrung hingewiesen war, dürfte er das Kulturstadium des Jägers, der fast nur vom Ertrage der Jagd lebt, niemals durchgemacht haben, also in gewissen Teilen der tropischen oder subtropischen 42 Probleme. Gebiete, soweit diese reich sind an fruchttragenden Pflanzen. Überall sonst kann die primitive Kulturstufe nur im Jägerleben bestanden haben. Nicht allein der Sonntagsjäger, selbst der waidgerechte Jäger, der in diesem Sport langjährige Erfahrung besitzt, kann sich nur schwer eine richtige Vorstellung davon machen, was die Jagd, zum Lebensunterhalt betrieben, für den Jäger wie für das Wild bedeutet. Man muß dauernd aus Hunger gejagt und sich vom Ertrage der Jagd allen genährt haben, um den unersättlichen Hunger zu wür- digen, der mit der ausschließlichen, vorwiegend mageren Fleischkost verbunden ist, um die Vernichtung richtig einzuschätzen, die diese Art Jagd unter den Tieren anrichtet, und um zu begreifen, wie rasch sich Ausdauer und Schlauheit, diese in viel stärkerem Maße als Mut, im Jäger entwickeln; sein ganzes Interesse ist bald nur auf den einen Gegenstand, das Wild, gerichtet. Leicht unterschätzt man die Ergiebigkeit der allereinfachsten Jagdmethoden, die wir weniger üben, im besondern des Hetzens und Einkreisens unter weitgehender Benutzung des dazu günstigen Terrains, wobei es nur der unvollkommensten Waffen, eines Steins oder Stocks, und nicht einmal der Mithilfe von Hunden bedarf. Wird eine Herde an einem durchschluchteten Berggehänge entlang gehetzt, so fällt stets ein gewisser Prozentsatz an jungen, an trächtigen und an ge- brechlichen Tieren in den Schluchten nieder, und der Jäger braucht sie nur zu erschlagen. Bei der Hetzjagd wird ein Dreieck zwischen zwei zusammentretenden Flüssen oder eine Halbinsel stets mit gutem Erfolge gewählt und an den Stellen, wo sich nach reichlichem Schnee- fall die Steppentiere um ein Gebüsch oder bei eintretenden Über- schwemmungen auf Inseln sammeln, findet der Jäger stets leichte Beute, auch ohne besondere Waffen zu besitzen. Die mit der Brunst- zeit häufig verknüpfte Arglosigkeit des Wildes nützt der Naturjäger ebenso aus wie der zivilisierte, und daß die prähistorischen Menschen mit Vorliebe die leicht zu erbeutende Brut gejagt haben, bezeugen die zahlreichen Skelettreste von jungen Tieren, die sich in manchen paläolithischen Stationen befinden. Daß der Jäger, wenn ihn keine moralischen Bedenken daran hindern, nicht nur soviel tötet, als er zum Lebensunterhalte braucht, sondern alles niedermacht, was in seinen Bereich gelangt, ist bekannt. Dieser Vernichtungstrieb beherrscht ja auch noch den größten Teil der zivilisierten Menschheit. Noch stärker als durch überflüssiges Abtöten wird aber die Vernichtung des Wildes durch die nie rastende Beunruhigung gefördert, der es von seiten des Naturjägers ausgesetzt Probleme. 43 ist. Eine Schonzeit gibt es da nicht, und wie sehr der Bestand der Herde oder der Familie, im besondern die Aufzucht der Nachkommen- schaft, dadurch beeinträchtigt werden, braucht nicht erst auseinander- gesetzt zu werden. Für manche empfindliche Tiere genügt fortgesetzte Unruhe allein schon, um sie nach und nach zu vertreiben oder ihren Bestand auf ein geringes zu reduzieren. Wenn der Mensch als nomadisierender Jäger in ein wildreiches Gebiet eindringt, mag wohl längere Zeit vergehen, bis sich seine Tätigkeit an der Verminderung des Wildbestandes bemerklich macht. Allein in dem Maße, als sich sein Geschlecht vermehrt und über das ganze Gebiet ausbreitet und damit die normale Vermehrungsfähigkeit der Jagdtiere leidet, tritt ein Mißverhältnis ein, das sich nach einem gewissen Zeitpunkt rapid steigern muß. Denn der Jäger vermehrt sich nicht nur weiter, er lernt auch seinen Beruf von Tag zu Tag besser und vervollkommnet seine Waffen. Wird schließlich die Jagdbeute spärlich und findet er kein ergiebigeres Revier in der Nähe, so wird seine Ausdauer und Findigkeit noch gesteigert, und schließlich kommt er dahin, auch dem einzelnen Tier systematisch und in seiner Weise waidgerecht nachzustellen, dessen letzten Schlupfwinkel zu erspähen und es auszurotten. Wer sich eine zutreffende und plastische Vor- stellung von dieser Art der Jagd, von der zähen Ausdauer und Ge- duld des Wilden machen will, lese die anziehenden Schilderungen, die Passarce von der Jagd der Buschmänner in der Kalahari ge- liefert hat. Bei großen Laufvögeln vollzieht sich der Vernichtungs- vorgang begreiflicherweise noch viel rascher als bei Säugern, weil hier durch systematisches Einsammeln der Eier der Niedergang rapid beschleunigt wird. Die Funde der Grypotherium-Höhle bei Ultima Esperanza haben ein helles Streiflicht auf den Menschen als Vernichter der letzten Reste einst üppig entwickelter Tierformen geworfen. Hier hat man den Patagonier gewissermaßen in flagranti ertappt, wie er den wohl letzten Exemplaren der Riesenfaultiere, der Pferde usw., von denen die europäische Einwanderung nichts mehr sah, den Garaus machte. Das schwerfällige Grypotherium hat er sich als Wintervorrat ein- gefangen und es wohl auch gefüttert, zweifellos ohne Züchter zu sein, die Pferde und andern Tiere aber wohl nur gejagt. Und das alles hat sich kurz vor der Entdeckung Südamerikas, vielleicht sogar erst später abgespielt, denn wer die noch mit Fleischfetzen und Sehnen behafteten Knochen und die wohl erhaltenen Felle gesehen hat, die in den Museen von Argentinien und Chile sowie in Europa aufbewahrt werden, kann über das ganz jugendliche Alter dieser 44 Probleme. Reste ebensowenig im Zweifel bleiben, wie derjenige, der die Lage der Höhle zu den jüngsten Bildungen der Eiszeit in Südpatagonien berücksichtigt. Mir ist nach meinen Jagderfahrungen in Patagonien die Bedeu- tung des Menschen als Vernichters der Tierwelt nicht mehr zweifel- haft gewesen. Wen diese Ausführungen aber nicht überzeugen, möge sich für die Beurteilung der Frage an die Statistik halten, die ich im vorigen Abschnitt (S. 33 ff.) gegeben habe. Dort wurde festgestellt, daß, von einzelnen Ausnahmen vielleicht abgesehen, nur eine ganz bestimmte Kategorie von Tieren während der Diluvialzeit ausgestorben ist, keine Meerestiere, keine Wirbellosen, keine Fische und von höheren Landwirbeltieren fast ausschließlich größere, jagdbare Formen oder Raubtiere, die von diesen leben. Diese Tatsachen reden eine ganz unzweideutige Sprache, sie schließen jede andre Erklärung aus und lassen uns den Menschen in seiner Bedeutung für das vorliegende Problem klar begreifen. Wir brauchen weder geologische oder klima- tische Vorgänge, noch kausal und damit wissenschaftlich unbegreif- liche, vitalistische Kräfte herbeizuziehn, um das Aussterben der Dilu- vialtiere zu erklären — der Mensch allein genügt vollkommen. Das wiederholte Vorrücken und Abschmelzen des Eises, der mehrfache Wechsel der Niederschlagsmengen und Vegetationsformen mögen dabei mitgewirkt und den Vernichtungsvorgang beschleunigt haben, etwa wie irgendein andres natürliches Hindernis; es ist auch nicht aus- geschlossen, daß die eine oder andre Art allein durch solche Vor- gänge ausgemerzt worden ist, die allgemeine Ursache aber, die der allgemeinen Verarmung der größeren Tiere auf allen Festländern zugrunde liegt, ist der Mensch. Ohne sein Ein- greifen in den natürlichen Bestand der Tierwelt würde diese heute wohl ebenso reich sein, wie zur Miozänzeit. Denn jetzt, wo die Existenz des Feuerstein schlagenden Menschen in Europa nicht nur für die ältere Pliozänzeit, sondern schon für die Oligozänzeit erwiesen sein dürfte, sind wir auch berechtigt, das Verschwinden zahlreicher jagdbarer Tiere zur Mio- und Pliozänzeit auf das Konto des Menschen zu Setzen. Wenn in dem Menschen allein die Ursache für das Aussterben der größeren Tiere zur Pliozän- und Diluvialzeit erblickt werden darf, erschließen sich unserem Verständnisse auch gewisse andre auffällige Erscheinungen. Wir begreifen, daß von den Diluvialtieren viele große und jagdbare Formen auch heute noch bestehen, Elefanten, Nas- hörner, Tapire, Nilpferd usw., denn diese leben in tropischen, zumeist in waldreichen Gebieten, wo echte Jägervölker nicht recht Fuß fassen Probleme. 45 können. Die vorwiegend vom Ackerbau lebenden Bewohner haben ja aber, wie wir wissen, keine Veranlassung sie auszurotten. Das wird erst unter der Fahne der europäischen Zivilisation gelingen. Was aber von solchen Gattungen in den gemäßigten oder kalten Klimaten gelebt hat, wo viele Jahrtausende, wenn nicht Hundert- tausende von Jahren der vorgeschichtliche Jäger allein herrschte, das ist heute verschwunden. Manche Tiere sind durch die Kultur vor dem Aussterben bewahrt worden, wie das Pferd in Europa und Asien, wieder andre haben sich gehalten, weil sie vorwiegend Waldbewohner waren oder doch im Walde Zuflucht gefunden haben, wie viele Hirsche, während andre wie der Riesenhirsch nicht bestehen konnten, weil sie nicht in den Wald gingen. Die schnellfüßigen Herdentiere dagegen, wie Renntier, Antilopen, Gazellen, Guanakos usw. sind der Ver- nichtung zumeist entronnen, weil es einer ungleich viel längeren Zeit bedarf sie auszurotten, als bei den Tieren, die nicht in so ungeheurer Menge auftreten und die nicht dauernd eine große Geschwindigkeit entwickeln können. Die Pferde machen davon jedoch eine Ausnahme, wenigstens soweit Amerika in Frage kommt; sie sind aber auch sehr empfindlich gegen jede Beunruhigung und gedeihen, wie der Dschiggetai zeigt, nur dort, wo der Mensch überhaupt nicht hinkommt. Aus der Tätigkeit des Menschen allein verstehen wir auch die befremdliche Erscheinung des sehr ungleichzeitigen Verschwindens der Jagdtiere in verschiedenen Gegenden. Alle bekannten Tatsachen sprechen dafür, daß die Menschen in Eurasien viel früher aufgetreten sind, als in Amerika und Australien. Ist es nun richtig, daß mit der Ausbreitung des Menschen als Jäger sich die Verarmung der Tier- welt gesetzmäßig verknüpft, so dürfen wir erwarten, daß die jagdbare Tierwelt sich dort viel länger vollständig erhalten hat, wo der Mensch zuletzt, als dort wo er früher hingekommen ist. So erklärt sich auf einfache Weise das Fortbestehen der großen jagdbaren Tiere in Amerika, speziell in Südamerika bis in die postglaziale und historische Zeit, und das gleiche dürfte für Australien, Neuseeland, Madagaskar zutreffen. Umgekehrt kann man dann auch an der Verarmung der jagdbaren Tierwelt den »Siegeszug«e des Menschen als Jäger über die Erde verfolgen. Die Vernichtung des Lebendigen, soweit es dem Menschen zum Unterhalt dient, ist eine seiner bezeichnendsten Eigenschaften. Mag es Tier oder Mensch selbst sein, mag es ihm unmittelbar zur Nahrung dienen, oder nur zur Bekleidung oder dgl., mag es ihm indirekt durch sein Nichtvorhandensein nützen, — das bleibt sich gleich. Er unter- scheidet sich dadurch von aller übrigen Kreatur, daß er 46 Probleme. systematisch vernichtet und ausrottet. Diese Fähigkeit ist noch an keinem andern lebenden Wesen bestimmt nachgewiesen worden. Wenn man dennoch den Tieren allgemein die Fähigkeit zugeschrieben hat, andre Wesen gänzlich zu vernichten, so hat man sich teils durch die wechselnde Prosperität leiten lassen, der Tiere und Pflanzen infolge der Änderung der Lebensbedingungen stets ausgesetzt sind, teils hat man die indirekte Mitwirkung des Menschen unberücksichtigt ge- lassen, die bei allen sicher beglaubigten Fällen von Ausrottung eines Lebewesens durch ein andres mitspielt. Hätte man nicht um jeden Preis eine Erklärung für das Verschwinden der zahlreichen Tier- und Pflanzengestalten im Laufe der Zeit ausfindig machen wollen, so wäre man auch wohl nicht dazu gekommen, einen Vorgang für allgemein wirksam und natürlich zu erklären, der sich bei genauerem Zusehen als ausschließlich menschlich erweist. Immerhin bleibt es be- greiflich, daß man bei durchaus ungenügender Naturerkenntnis einer Vorstellung einen maßgebenden Platz im Naturgeschehen angewiesen hat, die nur aus einer eminent menschlichen Tätigkeit abstrahiert ist. »Er nennt’s Vernunft und braucht's allein, Nur tierischer als jedes Tier zu sein.« Wir sind am Ende unserer Betrachtungen über das Aussterben der Arten der Tier- und Pflanzengruppen angelangt und fassen die Ergebnisse folgendermaßen zusammen. d Es gibt nur zwei Vorgänge in der Natur, die den Bestand der Lebewelt bis zur Vernichtung beeinflussen, die geologischen und klimatischen Veränderungen, die jederzeit wirksam gewesen sind, solange das Leben auf der Erde besteht, und die ausrottende Tätigkeit des Menschen, die mit seinem Eintritt in die Natur, soweit wir heute wissen, mit der mittleren Tertiärzeit anhebt. Jene natürlichen Vorgänge dürften jederzeit die Schöpfung in geringfügigem Maße und ohne Rücksicht auf die Merkmale, nach denen sich Arten, (Gattungen usw. unterscheiden, beschnitten haben. Wir können diese Tätigkeit vergleichen mit der Arbeit des Gärtners, der eine üppig wachsende Baumgruppe regelmäßig hier und dort stutzt oder aus- ästet, ihr natürliches Wachstum aber nicht einengt. Das Eingreifen des Menschen beschränkt sich aber auf ein Einengen oder gänzliches Vernichten solcher Wesen, die ihm ökonomisch von Bedeutung sind, und auf eine ungewollte, unnatürliche Verschiebung der Lebens- bedingungen für manche Tiere und Pflanzen, wodurch gelegentlich auch wohl einzelne Arten dem Untergange zugeführt werden. Darüber hinaus kennen wir keine sicher beglaubigten Vorgänge, die zum voll- Probleme. 47 ständigen Erlöschen von Tier- und Pflanzenformen führen, und darum bleibt das wiederholte Ausscheiden ganzer Tier- und Pflanzengruppen im Laufe der Erdgeschichte nach wie vor als ein ungelöstes Problem bestehen, wenigstens solange, als wir den genetischen Zusammenhang der Formen in der Weise suchen, wie es die Abstammungslehre von heute allgemein verlangt. Kann das Problem überhaupt gelöst werden, so muß dies auf anderen Wegen geschehen, als man sie bisher eingeschlagen hat. Denn alle Versuche, die man mit Hilfe der heute giltigen Vorstellungen zur Lösung des Rätsels gemacht hat, sind nur imstande gewesen, es uns noch deutlicher als früher und in seiner vollen Tragweite vor Augen zu führen. 2. Das unvermittelte Erscheinen der Tier- und Pflanzen- gruppen. Es liegt, wie ich früher ausgeführt habe, in der regelmäßigen Wiederkehr der Transgressionen und Regressionen sowie der klima- tischen Wechsel begründet, daß die Wohnbezirke der Tiere und Pflanzen beständig verschoben und ihre Gemeinschaften häufig ge- spalten und von neuem vereinigt worden sind. Wie wertvoll diese Vorgänge auch für die Entwicklung der physischen Geschichte des Planeten sind, wie sehr sie auch die Feststellung einer gesicherten allgemeinen Chronologie erleichtern, so hinderlich erweisen sie sich für die Erforschung der Phylogenie. Denn nur selten finden wir ein zusammenhängendes Stück Lebensgeschichte eines Tier- oder Pflanzen- stammes an der gleichen Stelle oder auch nur in derselben Gegend verewigt, immer wieder sind die leitenden Fäden zerrissen; wir müssen von einem Kontinent zum andern wandern, wenn wir die einzelnen Stücke finden und aus ihnen den Lebensfaden zusammenknüpfen wollen. Das Beispiel des Ueratodusstammes, des bekannten Lungen- fisches, möge diese Schwierigkeiten verdeutlichen. Die paläozoischen Vertreter haben in wahrscheinlich brackischen Meeresteilen Nord- amerikas und Nordeuropas gelebt. Zur. Triaszeit finden wir ihre Nachkommen in Europa, Indien und Südafrika, zur Jurazeit in Nord- europa, Nordamerika und Australien, zur Kreidezeit lag ihr Wohn- bezirk in Mittelafrika, zur älteren Tertiärzeit in Patagonien und der heutige Vertreter lebt in Flüssen Neuseelands. Aber alle diese Funde bezeichnen nur einige wenige Etappen in dem unstäten Lebenslauf dieses Stammes; wo er sich in den Zwischenzeiten aufgehalten hat, wissen wir noch nicht. Je größer die Zeiträume, die zwischen den einzelnen uns bekannten Funden liegen, um so weniger vermittelt 48 Probleme. erscheint uns das Auftreten. So kannte man noch vor kurzem keine Reste aus Kreide und Tertiär, und unvermittelt stand früher die lebende Art neben den jurassischen. Da aber gerade der Oeratodus- stamm im Laufe der Zeit nur ganz geringe Änderungen erfahren hat, konnte doch an der phylogenetischen Zusammengehörigkeit der leben- den Art mit der mesozoischen kein Zweifel aufkommen. Schon Ovvıer erklärte das unvermittelte Erscheinen neuer Tier- und Pflanzentypen durch Invasionen aus anderen Gegenden, in denen sie vorher gelebt hatten, die uns aber nicht bekannt sind, und später hat NeumAyr an besonderen Beispielen diesen Vorgang im einzelnen aufgedeckt. Wird auch die Verfolgung des phylogenetischen Zu- sammenhanges durch das stets wiederholte Verschwinden und unver- mittelte Wiedererscheinen an anderen Stellen der Erdoberfläche recht erschwert, so liegt doch keine grundsätzliche Schwierigkeit darin, wenn es sich um Stämme handelt, die sich im Laufe langer Zeit nur ganz unerheblich geändert haben, wie das für den Üeratodus- Stamm zutrifft. Solange wir dagegen nur zwei zeitlich weit ausein- ander liegende Glieder einer Stammreihe von rascher Veränderlich- keit kennen, z. B. das kleine vierzehige Hyracotherium mit einfachen Zähnen aus dem Eocän und das große einzehige Pferd mit ver- wickeltem Zahnbau aus dem Quartär, erscheint uns ersteres wohl als eine erloschene Form und letzteres als ein ganz unvermittelter Eindringling. Es hängt dann wesentlich von der Art der Vorstellung ab, die wir über den möglichen Gang der Umbildung gewonnen haben, ob wir die zusammengehörigen Fäden richtig verknüpfen oder nicht. Wie man sieht, liegt hier eine große Schwierigkeit vor; sie kann nur dadurch gehoben werden, daß wir an möglichst zahlreichen und recht vollständig überlieferten Stammreihen eine richtige Vor- stellung von der Art und Weise der Umbildung in den verschiedenen Tier- und Pflanzenstämmen zu gewinnen und durch Analogie die Lücken der stark unterbrochenen Stammreihen auszufüllen suchen. Jeder andere Weg ist nicht nur unsicher, er leitet uns auch leicht auf ganz falsche Fährten. Leider ist diese klare Sachlage bisher — sehr zum Nachteil der phylogenetischen Forschung — zumeist verkannt worden, und man hat sich der Illusion hingegeben, den Gang der Entwicklung deduktiv aus der heutigen Schöpfung ableiten zu können. Wenn formenreiche Tier- oder Pflanzengruppen in einem be- stimmten Meere oder auf einem isolierten Festlande längere Zeit abgeschlossen gelebt haben und diese Wohnbezirke heute unter dem Meere begraben liegen, so wissen wir von ihnen für den entsprechenden Probleme. 49 Abschnitt ihrer Stammesgeschichte nichts. Sind sie dann später durch eine neu eröffnete Meeres- oder Landverbindung auf einen Teil der Erdoberfläche gelangt, dessen Fossilinhalt uns bekannt ge- worden ist, so scheint uns eine solche Gruppe ganz unvermittelt aufzutreten. Ist sie schon von vornherein sehr formenreich und variieren ihre Vertreter zugleich in reichem Maße, wie das bei Bio- transgressionen mit der Änderung der Lebensbedingungen häufig eintritt, so spricht man von einer schwer begreiflichen, »explo- siven« Entwicklung der betreffenden Gruppe und glaubt, darin einen Vorgang zu sehen, der ähnlich wie das plötzliche Erlöschen einer systematischen Gruppe aus den normalen Gesetzen der langsamen, schrittweisen Umbildung nicht erklärlich wird und daher ein plötz- liches Erwachen oder eine Steigerung der phyletischen »Lebenskraft« voraussetzt, mit andern Worten eine besondere, vitalistische Erklä- rung erfordert. Wäre eine solch explosive Entwicklung, die durch Reichtum und Mannigfaltiskeit neuer Merkmale und Formen aus dem Rahmen der sonst angenommenen langsamen und schrittweisen Umbildung herausfällt, wirklich in einer kleineren oder größeren Stammreihe mit Sicherheit festgestellt, so bliebe uns allerdings wohl kaum eine andere Erklärung übrig. Das ist aber meines Wissens nicht der Fall. Denn nur dann können wir einen solchen Vorgang als erwiesen betrachten, wenn auch die Geschichte des Stammes vollständig klarliest, wenn im besonderen sein Entwicklungsgang vor der explosiven Entfaltungs- periode auch in seinen Einzelheiten aufgedeckt ist. Für die Beispiele, die gewöhnlich angeführt werden, Angiospermen, Säugetiere usw., trifft das aber nicht zu. Man spricht zwar, wenn von der plötzlichen und ungewöhnlich reichen Entfaltung des Stammes der plazentalen Säuger die Rede ist, von ihren Vorfahren in der Kreidezeit oder von der primitiven Huftiergruppe, aus der sich die verschiedenen Zweige der Huftiere entwickelt haben sollen usw., — aber gesehen hat noch niemand etwas davon, wir operieren in diesem Falle aus- schließlich mit eingebildeten Formen. Wir wissen auch nicht, in welche Zeit der Ursprung der Huftier-Stammgruppe fällt, und ob sich ihre weitere Entwicklung bis zur Teertiärzeit in den Bahnen einer langsamen, schrittweisen Umbildung oder in denen einer ungewöhnlich beschleunigten, vielleicht sprungweisen vollzogen hat. Das Problem baut sich also, soweit es phylogenetischer Natur ist, nur auf der Grundlage unsrer Unkenntnis auf, d. h. es ist überhaupt kein Problem, wenn wir es nicht erst zu einem solchen erheben durch unbeweisbare Voraussetzungen, im vorliegenden Falle durch die Steinmann, Abstammungslehre. 4 50 Probleme. Annahme, daß alle Huftiere auf eine einheitliche Stammgruppe zurück- gehen, die die gemeinsamen Merkmale aller Huftiere besessen hat. Sobald der Nachweis gelingt, daß diese Stammgruppe schon in sehr früher Zeit bestanden hat, so daß diese verschiedenartigen Huf- tiergruppen der älteren Tertiärzeit durch schrittweise Divergenz aus ihr entstanden sein könnten, oder wenn nur ein Zweifel an dem angenommenen einstämmigen Entwicklungsgange überhaupt berechtigt erscheint, fällt das Problem dahin. Wir täten daher besser, anstatt von einem phylogenetischen Problem zu sprechen und gar vitalisti-. sche Erklärungen dafür zu suchen, auf unsre Unwissenheit hinzu- weisen und die Relativität des Problems scharf zu betonen. Wohl aber darf man in der Frage der Entstehung der plazen- talen Säuger von einem geologischen Problem sprechen. Denn die Vorfahren der alttertiären Säuger müssen, gleichgültig wie sie beschaffen waren und wie sie sich entwickelt haben, als Säuger oder als niedrigere Vierfüßler irgendwo gelebt haben, und von diesem Festlande oder von diesen Festländern wissen wir so gut wie nichts. Es wäre Aufgabe der Geologie, nach der uns bekannten Verbreitung der Meere und Festländer zur mesozoischen Zeit diejenigen Stellen nachzuweisen, wo derartige Festlandsmassen bestanden haben können, auf denen die Reste der Vorläufer der Säuger zu finden wären, wenn sie nicht etwa heute vom Meere bedeckt sind. 3. Das Fehlen von Ubergangsgliedern zwischen den größeren Abteilungen des Tier- und Pflanzenreichs. Je mehr das paläontologische Material angewachsen ist, umso zahlreicher sind die Beispiele für zusammenhängende Abstammungs- reihen geworden. Ja, wenn das Material nicht in zahlreichen Samm- lungen verzettelt, wenn nicht das neu hinzukommende auch heute noch vorwiegend nach geologischen Befunden (statt nach systemati- schen Gruppen) beschrieben würde, und wenn die wissenschaftlichen Kräfte und materiellen Hilfsmittel für die phylogenetische Erforschung des fossilen Materials nicht so unzureichend wären, so könnten wir leicht einen weit vollständigeren Überblick über den Entwicklungs- gang gewinnen, als wir ihn heute besitzen. Aber selbst bei dem heutigen, recht unvollkommenen Stande der phylogenetischen For- schung tritt doch ein Problem ganz klar heraus. Es ist das schrei- ende Mißverhältnis zwischen der großen Zahl kleiner, mehr oder weniger vollständig geschlossener Stammreihen und dem vollständigen Fehlen von Übergangsgliedern zwischen Probleme, 51 den größeren Abteilungen, wie Stämmen, Klassen, Ord- nungen usw. Es kann sich dabei auch nicht um ein zufällig un- günstiges Zusammentreffen von Umständen handeln, denn die gleiche Diskrepanz wird im ganzen Tier- und Pflanzenreiche beobachtet. Da- für liegen reichlich Zeugnisse vor. Von diesen will ich nur zwei aus jüngster Zeit mitteilen, weil sie beide von kenntnisreichen und objektiv urteilenden Forschern herrühren, von denen der eine die fossile Pflanzenwelt, der andre die fossile Tierwelt, im besonderen die Säugetiere, in ausgiebigem Maße beherrscht. ZEILLER bespricht am Schlusse seiner «Elements de Pal6obota- nique» (1900) das häufige Fehlen von Verbindungsgliedern, das sich selbst bei der Verfolgung von Arten bemerkbar macht, und sagt dann: «La discontinuite est, on l’a vu, plus accentude encore, lors- qu’on s’adresse ä des groupes d’ordre plus eleve: si en effet quelques jalons nous mettent sur la trace de relations de parente entre tels ou tels de ces groupes ou viennent, en s’intercalant entre eux, di- minuer la distance qui les separait et faire presumer leur conver- gence vers une origine commune, les termes de transition nous font defaut ou les ancetres presumes nous Echappent. ... En tout cas, les origines des plus grands groupes demeurent enveloppes de la plus profonde obscurite, non seulement en ce qui concerne ceux pour lesquels il nous faudrait remonter A une date anterieure A celle des plus anciens documents que nous possedions, mais meme en ce qui regarde ceux dont il semblait, comme c’est le cas pour les Dicoty- ledones, qu'ils fussent apparus assez tard pour nous permettre de nous rendre compte par l’observation directe des conditions dans lesquelles ils ont pris naissance.» Un. Der£rer verdanken wir in seinen jüngst (1907) erschienenen «Transformations du Monde animal» einen ausgezeichneten Überblick über den heutigen Stand der Abstammungslehre, gemessen an sicher- gestellten Ergebnissen der Zoopaläontologie. Dieser Forscher betont mit Recht, daß die Paläontologie nur den Vorgang der langsamen, stufenweisen Umbildung kennt, der auch bis zur Entstehung neuer Gattungen hinleitet, aber bis heute keinen einzigen sicher beglaubigten Fall von sprungweiser Entstehung von Gattungen, Familien oder höheren Kategorien. Trotzdem seien gewisse Erscheinungen wohl danach angetan, eine solche Hypothese zu stützen, und sie würde die Herausbildung jener höheren Kategorien erklären können. «Ainsi l’evolution des £&tres fossiles presenterait deux mecanismes_ distincts: Yun continu, et pour ainsi dire normal, par lequel les rameaux phy- letigues une fois formes se developpent lentement et par mutations Ar 59 Probleme. graduelles, suivant certaines lois, qui les conduisent fatalement A la senilite et & V’extinction; l’autre intermittent, et par lequel des ra- meaux nouveaux prennent naissance en divergeant des rameaux plus anciens et deja plus ou moins Evolues. ... Mais il faut savoir faire l’aveu,. que nous sommes & l’heure actuelle tout A fait impuissants & observer et möme ä& expliquer autrement que par de simples vues theoriques les divergences fondamentales, qui separent les ordres, les classes et les grands embranchements du Regne animal.» Diese offenen Geständnisse bekräftigen von neuem das betrü- bende Ergebnis, auf das schon früher ZırreL (1894) und ich selbst (1899) deutlich hingewiesen haben: Die paläontologische For- schung ist nicht imstande, die Übergangsformen zwischen den höheren Kategorien aufzuzeigen, wie sie die heutige Abstammungslehre fordert; die phyletische Herausbil- dung der Familien, Ordnungen, Klassen usw. ist ein Pro- blem. Dieses besteht aber noch in einem weit größeren Umfange, als man gewöhnlich denkt. Denn es fehlen uns nicht nur die ge- forderten Übergänge zwischen den höheren Kategorien, sondern auch zwischen den Gattungen und Arten. Es ist bisher ganz vergeblich gewesen, die gemeinsame Ausgangsform für die verschiedenen Arten vieler Gattungen unter dem fossilen Materiale ausfindig zu machen, z. B. für die Gattung Zrkinoceros, wie OsSBORN gezeigt hat, oder für eine beliebige Molluskengattung wie Rrhynchonella, Spondylus, Cras- satella, Pleurotoma oder Cerithium, ebenso für einzelne Sektionen solcher Gattungen. Ja, man kommt bei dem Versuche, die Arten einer Tiergattung nach dem fossilen Materiale voneinander abzu- leiten, leicht zu dem gleichen Ergebnisse, das ZEILLER für die Pflanzen ausspricht: «les especes, comme les genres, se succedent par voie de substitution et non par voie de transformation graduelle, et il parait &tre de mäme A tous les niveaux.» Das ist also der Bankrott der Abstammungslehre! Jedoch mit einer Einschränkung: nicht der Abstammungslehre überhaupt, sondern der Abstammungs- lehre in derjenigen Ausgestaltung, die man ihr unter fast grundsätz- licher Vernachlässigung des historischen Materials gegeben hat. Die Art der Übergänge und Umbildungen, die sie voraussetzt und ver- langt, kann weder der Tier- noch der Pflanzenpaläontologe finden. Also besteht auch dieses Problem nur solange, wie die eine be- stimmte Vorstellung, die von der monophyletischen Umbildung der organischen Wesen gültig ist. Probleme. 53 4. Die Unverständlichkeit des gesamten Entwicklungs- ganges. Auf ein letztes Problem möchte ich nur anhangsweise aufmerksam - machen, da es weniger naturwissenschaftlicher als vielmehr natur- philosophischer Art ist. Da ich aber den hier zu behandelnden Ge- dankengang nirgends ausgesprochen gefunden habe, so dürfte es nicht unangebracht sein, ihn auseinanderzusetzen. Wir pflegen mit Stolz auf die Abstammungslehre zu blicken, weil sie uns anscheinend ein Begreifen der gesamten lebenden Natur von einem einheitlichen Gesichtspunkte ermöglicht. Das ist nach meiner Ansicht eine Illusion, die im Kartenhause der heutigen Entwicklungs: lehre nistet, die sich aber sofort verflüchtigt, wenn wir ihre Realität an der Geschichte der Natur prüfen. Wir haben jetzt den Gang der Erdgeschichte in seinen wesentlichen Zügen aufgedeckt, noch bis hinter die Zeit, wo uns die lebende Welt zum ersten Male und hier schon in relativ vorgeschrittener Entwicklung entgegentritt. Die früheren Vorstellungen von allgemeinen Umwälzungen, die alles Lebende ver- nichtet hätten, sind lange geschwunden, immer mehr befestigt sich die Ansicht, daß alle Änderungen, die der Planet durchgemacht hat, wie bedeutend sie auch in ihren Endergebnissen sein mögen, doch nur eine Funktion regelmäßig und einförmig waltender Naturgesetze sind, deren Äußerungen wir in kleinsten, stufenweise sich aufbauenden Wandlungen wahrnehmen. Dabei bleibt kein Raum für ungewöhn- liche Vorgänge, für solche, die sich nur ein- oder zweimal abgespielt hätten. Stellen wir an eine Theorie der Umbildung der Lebewelt die Forderung, daß sie einheitlich, mechanisch begreifbar und natürlich sei, so müßte der Werdegang, den sie uns aufzeigt, von der Zeit an, wo er für uns historisch beginnt, in großen Zügen betrachtet ein Ab- bild des Entwicklungsganges der Erde überhaupt sein, geschlossen bis heute fortsetzend. Kein klaffender Riß dürfte durch die einmal entstandene Schöpfung gehen, im großen müßte alles gereimt er- scheinen, einfache und großzügige Gesetze der Entwicklung müßten heute schon durch die Fülle der Einzelerscheinungen hindurch- schimmern. — Aber wie verschieden ist davon das Bild, das man uns heute zeigt. Ungeheuer lange Zeiten hat es erfordert, bis das Leben sich auf dem Planeten ausgebreitet und in alle die möglichen Bestandformen zerteilt hat. Da, wo wir es zum ersten Male so vollständig über- blicken, wie es überhaupt möglich ist, etwa zur Zeit des älteren Silur, scheint es noch ganz und gar auf das Meer beschränkt zu sein; es 54 Probleme. gibt, wie es scheint, noch keine luftatmenden Tiere, noch keine Land- pflanzen. Allmählich tauchen diese auf, anfangs vereinzelt, später in einer größeren Zahl und: Mannigfaltigkeit. Bis gegen den Schluß der paläozoischen Zeit haben sich die landbewohnenden Tiere und Pflanzen die dauernd feuchten Wohnbezirke der Festländer erobert und sich dabei in eine große Mannigfaltigkeit von Formen zerlegt. Was noch fast ganz zu besiedeln bleibt, sind die wechselfeuchten Ge- biete der Festländer und die Luft. Während der mesozoischen Zeit greift auch dieser Vorgang Platz. Nadelhölzer und Sagopalmen, schließlich gefolgt von höheren Blütenpflanzen, die durch Insekten befruchtet werden, besiedeln jetzt das trockene Land; Insekten und Vierfüßler der verschiedensten Art tummeln sich darauf und beginnen auch das Luftmeer zu beherrschen. Die höchste Steigerung der immer weiter sich ausdehnenden Organismenwelt, wo fast jeder vorhandene Platz in der Natur vom Leben erfüllt ist und jede Kreatur in ihrer Beschaffenheit mit den besonderen Lebensverhältnissen übereinstimmt, erblicken wir in dem Zustande, wie er etwa seit der Tertiärzeit besteht. Als Gesamtprozeß betrachtet, erscheint die Entwicklung harmo- nisch und bedingt. Jeder einzelne Querschnitt, zumal wenn wir ihn ergänzen durch das, was außer dem uns Bekannten bestanden haben muß, entspricht einer bestimmten Stufe im natürlichen Wachstum der Schöpfung, jeder folgende ist nur ein Stück reifer und mannig- faltiger, und es gibt kein Zurückfallen in einen früheren, weniger vor- geschrittenen Zustand. Aber wie verhalten sich die Träger dieser natürlichen, von Stufe zu Stufe langsam gesteigerten Entwicklung? Müßten sie nicht auch ein verkleinertes Abbild dieser einheitlich fort- schreitenden und lückenlos sich aufbauenden Fortbildung der Lebewelt sein? So wie wir heute unser Wissen deuten, sind sie es nicht. Vielmehr zeigt der Werdegang fast jeder einzelnen größeren Organismengruppe ein besonderes Rätsel auf, das sich durch die allgemeine Formel der natürlichen Entwicklung nicht auflösen läßt. Einzelne Tiergruppen, wie Steinkorallen, Muscheln, Schnecken und Insekten entsprechen in ihrem fast kontinuierlichen Entwicklungsgange anscheinend der Forde- rung nach einem geschlossenen phyletischen Wachstum, wie es der gesamte Werdegang der Schöpfung fordert, und was bei ihnen nicht ganz damit harmoniert, könnte sich vielleicht noch durch den Fortschritt der Erkenntnis damit in Einklang bringen lassen. Aber die Mehrzahl der Tier- und Pflanzengruppen bietet ein ganz andres Bild dar. So fallen die nächsten Verwandten der Muscheln und Schnecken, die Am- moniten, plötzlich ganz aus der Rolle, die ihnen die Natur bis in die Kreide scheinbar ebenso angewiesen hatte wie den übrigen Mollusken. Probleme. 55 Vom Silur an haben sie sich wie Muscheln und Schnecken ent- sprechend dem allgemeinen Wachstum der Schöpfung ganz allmählich immer reicher und mannigfaltiger gestaltet, wie bei diesen äußert sich das fortschreitende phyletische Wachstum in Zunahme der Größe und Verzierung ihrer Schalen. Aber plötzlich löst sich die ganze ge- schichtliche Entwicklung in ein Nichts auf: mit dem Ende der Kreide- zeit, nachdem der immer stärker erblühende Stamm den größten Teil der erdgeschichtlichen Zeit in Harmonie mit dem Gesamtgange be- standen hatte, löscht er aus wie die Kerze im Winde, und in der Schöpfung bleibt keine Spur von seinem einstmals machtvollen Wesen zurück, das sich durch unermeßlich lange Zeiträume behauptet hat. Zeugten nicht die vielen Tausende von Arten und die Millionen und aber Millionen von Schalen in den Meeresabsätzen aus allen Phasen des Altertums und Mittelalters der Erde von ihrer einstigen Blüte, — die heutige Schöpfung könnte uns nichts davon erzählen. Man pflest wohl das Erblühen, das Herrschen und den Niedergang der Tier- und Pflanzengruppen in Parallele zu stellen mit den ähnlichen Er- scheinungen in der Geschichte der Menschheit. Zeigt denn nicht die Geschichte der Babylonier, Juden, Ägypter, (sriechen und Römer das gleiche Versinken einer hohen Blüte in das Nichts? Nein, denn ihr Blut ist geblieben, nur ihre Erscheinungsform hat gewechselt. Wollten wir also eine Parallele überhaupt gelten lassen, so müßten wir die Ammoniten in der heutigen Schöpfung in einer andern, vielleicht bescheideneren Einkleidung suchen. ? Eine zweifache Schöpfung des gleichen ökonomischen Typus durch morphologisch und physiologisch Ähnliche Tierformen wird bei der heutigen Auffassung des Entwicklungsganges mehrfach beobachtet. Eine reiche Welt von echten Fischen hat sich zur paläozoischen und altmesozoischen Zeit im Meere entwickelt, eine nicht minder reiche Reptilwelt auf den Festländern der mesozoischen Zeit. Beide haben ihre Stellung im Haushalte der Natur voll ausgefüllt und sich in alle möglichen Verschiedenheiten der Existenz eingewöhnt. So gab es schon zur Triaszeit fliegende Fische und flatternde Reptilien. Und doch sind diese Schöpfungen zum größten Teil vergangen, in manchen Teilen vollständig erloschen, in andern spärlich oder auch reichlich bis heute erhalten. Eine neue Fischwelt mußte im Laufe der meso- zoischen Zeit entstehen, sie trat an Stelle der alten, obwohl sie ihr im ganzen glich und vor ihr kaum etwas andres voraus hatte als weniger harte Schuppen und härtere Skelettknochen. Fast alle die land-, luft- und meerbewohnenden Reptilien wurden abgelöst durch Säuger, die den gleichen Platz in der Natur ausfüllten wie jene. Hier darf 56 Probleme. man wohl mit Recht fragen: wenn schon die Schöpfung dieser Tier- klassen keine einheitliche gewesen ist, weshalb haben die Formen nur einmal und nicht häufiger gewechselt? Und wie verträgt sich die doppelte Entstehung des gleichen ökonomischen Typus mit der Vor- stellung einer einheitlichen Schöpfung? Und schließlich die Pflanzenwelt. Dreimal ist sie entstanden. Die erste Schöpfung (zur paläozoischen Zeit) war zwar von über- raschender Vielgestaltigkeit und Üppigkeit, fast unser ganzer heutiger Verkehr zehrt ja von ihr, aber sie mußte verschwinden bis auf geringe Reste. Obwohl ihr die Fähigkeit zur Umbildung in modernem Sinne keineswegs abging, indem sie schon vielfach Stammstrukturen und Blüten zeitigte, wie sie Nadelhölzer und Sagopalmen noch heute ganz ähnlich aufweisen, mußte sie doch durch eine neue ersetzt werden, die die Gymnospermie in vorschriftsmäßiger Form besitzt. Aber auch diese zweite Flora hat sich bis heute kaum zur Hälfte erhalten, die andre Hälfte mußte klanglos vergehen und durch eine dritte Schöpfung, durch die der Bedecktsamigen, ersetzt werden. Sollte diese nun wirk- lich die letzte sein? Es ist wenigstens kein Grund einzusehen, warum gerade diese dritte Schöpfung schon die endgültige sein sollte. Niemand wird behaupten wollen, daß diese Erscheinungen die Kennzeichen eines einheitlichen Entwicklungsganges erkennen ließen und das Begreifen der Naturgeschichte unter einem einheitlichen Ge- sichtspunkt gestatteten. Ebensowenig kann man sie als das vorbe- dachte Werk eines weisen Schöpfers preisen, der ewige Gesetze in die Natur gelegt hätte, nach denen sie sich ausgestalten sollte. Es sieht nur aus nach der Tat eines kapriziösen Knaben, der von dem, was er mit viel Geduld aufgebaut hat, einiges zweimal, andres einmal umwirft und neubaut und den Rest umzuwerfen vergißt. Nur müssen wir von dem Urheber dieser Schöpfung unter allen Umständen voraus- setzen, daß er mit dem »natürlichen« System der Tiere und Pflanzen, wie es in unsern Lehrbüchern steht und wie es in allen Schulen ge- lehrt wird, ganz genau vertraut und so imstande gewesen ist, vor jedem Neuaufbau einen Teil der Bausteine, bis ins kleinste dem System entsprechend, herauszulesen. Also auch bei einer solchen Gesamtbetrachtung des Entwicklungsganges bleibt als letzte Erklärung nur eine vitalistische Ursache. Als natürlicher Vorgang betrachtet erscheint er unergründlich, ja sinnlos. Die Erörterung dieser verschiedenen Probleme hat uns in über- einstimmender Weise gezeigt, daß sie alle nur unter gewissen Voraus- setzungen existieren, denn die Schwierigkeiten, die sich einem klaren Historischer Stoff. 57 Begreifen der Natur entgegenstellen, sind nur vorhanden, wenn man diese mit den Augen der heutigen Wissenschaft ansieht, d. h. voraus- setzt, daß das bestehende System der Tiere und Pflanzen, wenn auch nur in allgemeinen Zügen ein Abbild des phylo- senetischen Zusammenhanges vorstellt, daß neue Kate- sorienimmer auf dem Wege der Einstämmigkeit entstanden, ‘und daß die als ausgestorben geltenden Formen auch wirk- lich alle erloschen sind, ohne Nachkommen hinterlassen zu haben. Wenn sich aber für alle diese Probleme die gleiche Bedingtheit von bestimmten Voraussetzungen herausstellt, so sind wir gewiß be- rechtigt oder vielmehr verpflichtet, zu prüfen, ob denn diese Voraus- setzungen einer kritischen Behandlung auch wirklich standhalten. Zu diesem Zwecke empfiehlt es sich, das fossile Material nach ver- schiedenen Gesichtspunkten zu betrachten und zu ermitteln: 1. wie es vom geologischen Standpunkte aus für die Phylogenie überhaupt verwertet werden sollte, 2. welche Bedeutung den fast allein erhaltenen Hartgebilden der Tiere und Pflanzen für phylogenetische Zwecke zukommt, 3. inwieweit sich unser System mit sicher ermittelten Abstam- mungslinien deckt, 4. auf welchem Wege neue Kategorien tatsächlich entstanden sind, und 5. inwieweit die heute als erloschen angesprochenen Formen der Vorzeit auch wirklich aus der Schöpfung endgiltig aus- gemerzt sind. Ill. Der historische Stoff. Zur Zeit als Darwın seine Entstehung der Arten verfaßte, kannte man von fossilen Tieren und Pflanzen recht wenig im Ver- gleich zu heute. Begreiflicherweise verwendete daher Darwın die unvollständigen Kenntnisse jener Zeit nicht im positiven Sinne zum Aufbau des Entwicklungsganges der Schöpfung; ein solcher Versuch, wie ihn LamArck schon vereinzelt unternommen hatte, lag ihm gänz- lich fern. Wohl aber berief er sich auf die zahlreichen ausgestorbenen Tier- und Pflanzenformen, um daran zu zeigen, daß die Natur eine viel größere Mannisfaltigkeit von Gestalten hervorgebracht habe, als heute vorhanden sind, daß also eine Auslese im Kampf ums Dasein 58 Historischer Stoff. im großen stattgefunden habe. Das ist auch heute noch die all- gemein verbreitete Auffassung, wo die Zahl der fossilen Formen schon ins Unübersehbare angeschwollen ist. Inwieweit diese Auf- fassung berechtigt ist oder nicht, wird an einer andern Stelle er- örtert werden. Wenn sich aber heute jemand darüber wundern sollte (es geschieht selten genug!), daß man unter den fossilen Ge- schöpfen eine so überwiegende Zahl ausgestorbener Arten, Gattungen, ° Familien, Ordnungen usw., dagegen so wenig (meist überhaupt nichts) von den Übergangs- und Verbindungsformen antrifft, die nach den heutigen Vorstellungen vom Gange der stammesgeschichtlichen Ent- wicklung zwischen den größeren Tier- und Pflanzenabteilungen doch existiert haben müßten, so wird die Unvollständigkeit der palä- ontologischen Überlieferung dafür verantwortlich gemacht. Diese Phrase ist bequem, denn mit ihr läßt sich leicht jeder Ein- wurf abweisen, der etwa von seiten der Paläontologie gegen die herrschende Form der Abstammungslehre gemacht wird. Aber in streng wissenschaftlichem Sinne wird sie nur selten gebraucht. Denn nur wer sich über den Grad der Unvollständigkeit Gewißheit ver- schafft hat und wer sich darüber klar ist, inwieweit sie zufällig und inwieweit sie naturgemäß bedingt ist, sollte sie als Erklärung für das Fehlen der geforderten Bindeglieder der Schöpfung benutzen. Das ist aber nur selten der Fall, wie aus der Art der Verwendung dieser Begründung meist klar hervorgeht. — Ich versuche hier, die Tatsachen aufzudecken, die der Lückenhaftigkeit zugrunde liegen, und zunächst die Frage zu beantworten: inwieweit muß die palä- ontologische Überlieferung lückenhaft sein und wohl jederzeit lücken- haft bleiben ? Ich würde nur Altbekanntes wiederholen, wenn ich ausführlich darlegen wollte, daß solche Tiere und Pflanzen, die nur aus leicht vergänglichen Stoffen bestehen, die auch früher keinerlei leicht er- haltungsfähige Skelette oder dgl. besessen haben, nur in Ausnahme- fällen fossil in kenntlicher Form erhalten geblieben sein können. Doch gibt es hierfür schon bemerkenswerte Ausnahmen, wie die Medusen, die als Abdrücke jetzt so ziemlich in allen Formationen, und aus manchen, z. B. aus dem Kambrium und aus dem Oberjura, in recht ansehnlicher Zahl bekannt geworden sind. Ebenso brauche ich nur daran zu erinnern, daß wir von der Tier- und Pflanzenwelt vorkambrischer Zeiten so gut wie nichts kennen und auch schwerlich jemals viel davon erfahren werden. Ja selbst unsre Kenntnis von den kambrischen Organismen muß als sehr lückenhaft im Vergleich mit der aller jüngeren Zeiten bezeichnet werden; doch erfahren wir Historischer Stoff. 59 von ihr stetig mehr. Erst mit der Silurzeit gewinnen wir einen an- genähert vollständigen Überblick über die Ausdehnung des Or- ganismenbestandes, und von dieser Zeit an können wir mit durch- schnittlich »normalen« Verhältnissen rechnen. Unter »normalen« Verhältnissen verstehe ich das Vorkommen von Meeresablagerungen einer Zeit in verschiedener Ausbildungs- weise (Facies) auf den heutigen Festländern oder Inseln, wodurch es uns ermöglicht wird, den jeweiligen Entwicklungsstand der meisten reichhaltigen und gut erhaltungsfähigen Abteilungen von Meerestieren zu überblicken. Wollten wir auch noch verlangen, daß außer den Meerestieren die Landtiere und -pflanzen der gleichen Zeit in ihren wichtigsten Vertretern vorlägen oder doch ohne Schwierigkeit er- mittelt werden könnten, so dürfte man nur für wenige Zeiten von normalen Verhältnissen sprechen. Denn die Erhaltung der Land- bewohner unterliegt viel größeren Zufälligkeiten als die der Meeres- bewohner. Nicht nur dürfte früher ebenso wie heute das Meer stets den größeren Teil der Erdoberfläche bedeckt haben, sondern alle festländischen Gesteinsbildungen sind der Zerstörung viel leichter ausgesetzt als die Meeresabsätze, die erst dann der Abtragung an- heimfallen können, wenn der frühere Meeresboden zum Festland wird. Dieser Unterschied spiegelt sich z. B. deutlich in unsrer mangelhaften Kenntnis von gewissen Klassen landbewohnender Or- ganismen wider. So sind uns Absätze aus Süsswasserseen und -tiüimpeln mit einigermaßen reichhaltigen Resten kleiner Vierfüßler, wie Frösche, Salamander, Schlangen usw., nur ganz gelegentlich über- kommen; wir finden sie zuerst und gleich sehr reichhaltig im obersten Karbon (oder an der Grenze von Perm und Karbon). Dann fehlen sie durch die mesozoische Zeit hindurch so gut wie ganz, nur der einzige, zufällige Fund eines Frosches aus der Jurazeit in Spanien gibt uns Kunde davon, daß eine derartige Tierwelt fortbestand, und dann liefern uns erst die tertiären See- und Sumpfabsätze wieder eine Anzahl Vertreter dieser Gruppen. Oder nehmen wir die Spinnen. Vereinzelte Skorpionfunde aus dem Silur geben uns die erste Kunde von dem hohen Alter dieser Klasse. In den Steinkohlenablagerungen ver- schiedener Länder sind Spinnen in größerer Anzahl angetroffen, und es gibt unter diesen außer Skorpionen schon Vertreter verschiedener anderer Ordnungen. Aber für die mesozoische Zeit setzen die Doku- mente fast ganz aus, und wären uns nicht zufällig die Bernstein- vorkommnisse des Samlandes und einige wenige andre Fundstellen aus dem Tertiär erhalten geblieben, so wüßten wir von der jüngeren geo- logischen Geschichte der Spinnen außerordentlich wenig. Niemand 60 Historischer Stoff. zweifelt ernstlich daran, daß sowohl die kleinen Amphibien und Rep- tilien als auch die Spinnen seit dem Karbon zu allen Zeiten in nicht unbeträchtlicher Mannigfaltigskeit existiert haben, aber es ist ein Zufall, ob wir uns gerade für diese oder jene Zeit einen Ein- blick in den Stand ihrer phylogenetischen Entwicklung verschaffen können. So lückenhaft ist die Überlieferung der Meeresorganismen nun im allgemeinen nicht. Wohl aber bestehen auch für diese reichliche kleinere Unterbrechungen der fossilen Urkunden, und für manche Abteilungen sind sie zurzeit auch noch sehr erheblich. So kontrastiert z. B. die reiche Fülle verschiedener Tiergruppen zur älteren und mitt- leren paläozoischen Zeit auffallend mit den ganz spärlichen Funden, über die wir von ihnen aus permischen und triadischen Ablagerungen verfügen. Während Crinoiden und Steinkorallen der verschiedensten Art bis zum Schlusse der Karbonzeit in großer Formenmannig- faltigkeit auftreten, kommen sie im Perm und in der Trias im all- gemeinen nur spärlich, höchstens gelegentlich etwas reichlicher vor. Schwerlich wird jemand das dahin deuten wollen, daß während dieser Zeiten fast keine Urinoiden oder Korallengesellschaften bestanden hätten, oder daß diese Stämme zeitweilig auf einen verschwindenden Bruchteil derjenigen Formenfülle eingeschrumpft wären, die sie zu andern Zeiten zeigen. Und doch wird dieser Anschein gerade durch die übliche Ausdrucksweise in unsern geologischen und paläontologischen Lehrbüchern erweckt, wenn man schreibt, daß diese oder jene Tier- gruppe, Familie oder Gattung in einer bestimmten Periode der Erd- geschichte besonders reich entwickelt sei, in einer andern ganz zurück- trete oder fehle. Fast nie ist dabei ersichtlich, ob die Ursache in allgemeinen Entwicklungsvorgängen oder in dem zufälligen Stande unsrer Kenntnis erblickt werden muß. Sehr häufig, ja, wie ich später zu zeigen gedenke, in fast allen derartigen Fällen, wird der Anschein einer Gesetzmäßigkeit nur vorgetäuscht durch zufällige Umstände oder durch unsre unvollkommene Auffassung des Entwicklungs- vorganges. Es läßt sich auch leicht zeigen, daß dem so sein muß. Wie weit wir auch die Bewohner des Meeres oder des Fest- landes in die Vorzeit zurückverfolgen, bis in die silurische oder kam- brische Zeit zurück, stets schon begegnen wir der Erscheinung einer mehr oder weniger beschränkten Verbreitung der Organismen, stets schon bestehen für gewisse Tiergruppen umschriebene Verbreitungs- gebietee Dafür folgende Tatsachen. Die kambrischen Trilobiten Europas und Nordamerikas sind nicht nur voneinander zum großen Teil den Gattungen nach verschieden, sondern sie weichen auch in Historischer Stoff. 61 ihrer Gesamtheit von den chinesischen Vertretern ab. Stachelhäuter in der primitiven Organisationsstufe der Cystideen kennt man aus kambrischen Schichten fast nur aus Böhmen, obgleich Meeresabsätze dieser Zeit auf allen Festländern vorkommen usw. Diese von An- fang an vorhandene Scheidung nach geographischen Provinzen wird freilich leicht durch das geologische Interesse verschleiert, das sich an die Fossilien knüpft. Denn zum Beweis für die Gleichaltrigkeit der Absätze rückt man solche Arten oder Gattungen in den Vorder- grund, die eine Ausnahme von der Regel machen, d. h. eine mög- lichst universelle Verbreitung aufweisen. Nichts beleuchtet besser das Vorhandensein zoo- und phytogeographischer Provinzen zu allen Zeiten, ebenso freilich auch die andauernde Verschiebung der Wohn- gebiete, als die Schwierigkeit, der man bei der Verfolgung eines Stammes oder einer Stammreihe durch verschieden aufeinanderfol- gende Zeiträume begegnet. So finden wir die ältesten Vertreter des Rudistenstammes zur Zeit des Untersilurs nur in Nordamerika, die nächsten zur Mitteldevonzeit in Europa, aus Karbon und Perm kennen wir sie bis jetzt noch nicht; zur Triaszeit lebten sie in den Meeren Südasiens und Europas, bis zur jüngeren Jurazeit entziehen sie sich unsrer Kenntnis fast ganz, sind dann aber bis zur Zeit der jüngeren Kreide vorwiegend in den Meeren Europas verbreitet, während sie in andern Gegenden mehr als vorübergehende Eindring- linge erscheinen. Wir verstehen ferner das sporadische und zumeist unvermittelte Erscheinen der meisten Meerestiere der Vorzeit nur, wenn wir gewisse triviale Tatsachen berücksichtigen; man sollte sich ihrer jederzeit bewußt bleiben, wenn man den Fossilstoff zu irgendwelchen stammes- geschichtlichen Schlußfolgerungen verwertet. Da dies häufig nicht geschieht, vielmehr zumeist das heute zufällig vorhandene Tatsachen- material mehr oder weniger kritiklos zu den. weitgehendsten Folge- rungen verwertet wird, ist es notwendig, daran ausdrücklich zu er- innern. Fast drei Viertel der ganzen Erdoberfläche bedeckt das Meer, ein Bruchteil der Festlandsmassen liest unter ewigem Eis begraben. Mit unsern gegenwärtigen Hilfsmitteln können wir also höchstens den vierten Teil der Erdrinde überhaupt durchforschen. Was sich auf den übrigen drei Vierteilen im Laufe der Zeit ereignet hat, läßt sich für gewisse geologische Vorgänge wohl vermutungsweise -er- mitteln, aber was an organischen Resten unter dem Meere begraben liest, können wir nicht wissen. Hieraus folgt nun weiterhin, daß wir aus denjenigen Zeiten, zu denen die Begrenzung der Weltmeere 62 Historischer Stoff. mit der heutigen ganz oder ungefähr zusammengefallen ist, über- haupt keine oder nur eine ganz dürftige Kunde von dem Stande der organischen Entwicklung im Meere erhalten können. Solche Zeiten hat es aber wohl gegeben. Im besonderen scheint die große Lücke in unsern Kenntnissen, die mit dem Ende der Kreidezeit beginnt und ziemlich weit in die Tertiärzeit hineinreicht, eine solche Erklä- rung zu erfordern. Eine andre Kluft im historischen Material, die früher für uns am Ende der paläozoischen Zeit bestand, ist wenig- stens teilweise in den letzten Jahrzehnten ausgefüllt worden. Daß ähnliche Lücken in unsern Kenntnissen auch für die Landbewohner in Zeiten möglich ist, wo die heutigen Festländer größtenteils oder ganz unter dem Meere begraben lagen, versteht sich von selbst. Wie schon betont, ist für diese die Wahrscheinlichkeit, erhalten zu bleiben aber überhaupt viel geringer als für die Meeresbewohner. Diese grundsätzliche Beschränkung unsrer Kenntnisse erweckt leicht unrichtige Vorstellungen von dem Entwicklungsgange einer Örganismengruppe Wenn wir z. B. im Silur, Devon und Karbon die Crinoiden als gestielte, festsitzende Tiere in großer Formenfülle finden, dann im Perm und Trias nur einige wenige Vertreter an- treffen, im Jura und in der Kreide wieder eine gewisse, nicht unbedeutende Zunahme feststellen und schließlich nur wenige ter- tiäre Formen registrieren, so könnte diese Statistik vielleicht ein annähernd richtiges Bild von dem wirklichen Entwicklungsgange bieten, aber wahrscheinlich ist das nicht. Denn setzen wir den (keineswegs unmöglichen) Fall, die gestielten Orinoiden hätten bis zur Karbonzeit vorwiegend die Gebiete Europas und Nordamerikas bewohnt, später habe sich ihr Wohngebiet dauernd in die Region des Pazifik verlegt und von dort sei zur Perm-Triaszeit nur ein kleiner Bruchteil vorübergehend in das Gebiet der europäischen Meere eingedrungen, erst zur Jurazeit wieder ein etwas größerer, später wieder ein geringerer, so würde unsre heutige Statistik ein ganz verzerrtes Bild liefern. Denn der Formbestand dieser Gruppe könnte bis in junge Zeiten hinein sich wesentlich gleichgeblieben sein, und wir könnten nicht einmal angenähert den Zeitpunkt be- stimmen, zu dem eine erhebliche Verminderung eingetreten wäre. Für die Ermittelung des Entwicklungsganges der Crinoiden liegt aber noch eine weitere Gefahr in der zufällig spärlichen Überlieferung zur Perm- und Triaszeit.e. Denn wir versuchen, uns nach dem je- weilig bekannten Fossilstoff eine Vorstellung von dem genetischen Zusammenhange der einzelnen Gattungen und Familien zu bilden und schieben nun die wenigen Formen der Perm-Triaszeit als Binde- - ‚Historischer Stoff. 63 glieder zwischen die reichhaltigen älteren und jüngeren Formen ein, so gut oder auch so schlecht es geht. Nur wenn wir sicher wüßten, daß es zur Perm-Triaszeit überhaupt keine andern gestielten Cri- noiden gegeben hätte als die jetzt bekannten, wäre dieses Vorgehen zu rechtfertigen. Andernfalls könnten doch die Jura-Kreideformen auf paläozoische Vorfahren zurückgehen, deren permo-triadische Nach- kommen wir noch nicht kennen, und die Nachkommen der bekannten Perm-Triasformen aus jüngerer Zeit könnten uns ebenfalls unbekannt sein, weil sie jeweils im pazifischen Bereiche gelebt haben. In diesem Falle würde unser Versuch, in dem bekannten Material überhaupt einen Zusammenhang zu suchen, nicht nur verfehlt sein, sondern - unsre Vorstellungen sogar in ganz falsche Bahnen weisen. Denn welche Veränderungen in der für die Crinoiden fast geschichtslosen Perm-Triaszeit an den gestielten Urinoiden vor sich gegangen sind, wissen wir ja nicht, sie können für die Mehrzahl in ganz andern Richtungen liegen, als sie uns die wenigen zufälligen Funde andeuten. Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse bei dem Versuche, die Stammesgeschichte der Austern zu ermitteln. Bekanntlich können wir diese Muschelgattung in zahlreichen und mannigfaltigen Ver- tretern bis in den Beginn der Jurazeit zurück und zugleich zwei größere Stämme getrennt nebeneinander verfolgen. Einerseits die dickschaligen echten Austern mit glatter oder nur wenig gewellter Schale und andrerseits die Alectryonien mit verhältnismäßig dünner, aber scharf gefalteter Schale. Triadische Vorläufer der Austern kennt man nur ganz spärlich, sie sind meist klein und gehören zu den Alectryonien, und man kann keinesfalls die im älteren Jura massen- haft in Europa und Südamerika erscheinenden dickschaligen und zum Teil sehr großen Austern (Gryphäen) von ihnen ableiten. Wohl aber lassen sich diese auf eine äußerst ähnliche Muschel zurück- führen, die als noch nicht festgewachsene Form massenhaft im Perm Indiens und Tasmaniens auftritt und auch schon die gesellige Lebens- weise der Austern besaß (Hurydesma). Nehmen wir nun an, daß ihre Nachkommen, die den Übergang zu den Austern des Jura ver- mitteln, zur Triaszeit in den heute vom Indik oder Pazifik bedeckten Gegenden gelebt und zu Beginn der Jurazeit als Gryphäen den öst- lichen Teil des Pazifik und die europäischen Meere bevölkert haben, so erscheint der Entwicklungsgang der Austern vom Perm an nur durch dies zufällige Moment unterbrochen; nehmen wir aber die gänzlich unvollständige, zufällige, ich möchte sagen blöde Statistik, wie sie heute vorliegt, allein als Grundlage für die Stammesgeschichte, so müssen wir die beinahe fertigen, dickschaligen und glatten Austern 64 Historischer Stoft. - des Perm (Eurydesma) sich erst in unscheinbare, dünnschalige und mit der entgegengesetzten Klappe festgeheftete Spondyliden (Ter- quemia, Philippella) oder in die gefalteten Alectryonien und erst diese wieder in die jüngeren echten Austern der Jurazeit umwandeln lassen. Welcher von den beiden Erklärungen kommt nun der höhere Grad von Wahrscheinlichkeit zu? Wer sich der Unvollständigkeit der Überlieferung und der gewaltigen Lücken bewußt bleibt, die überall zwischen den einzelnen Stufen der Stämme und Stammreihen klaffen müssen, wer zugleich die geologischen Erfahrungen über Verschiebung der Meere und ihrer Faunen usw., mit andern Worten das ganze historische Milieu mit in die Wagschale lest und wer die Änderungsfähigkeit der Organismen nur nach dem Maßstabe der sicher festgestellten, wenn auch zeitlich begrenzten Umwand- lungsvorgänge beurteilt, die immer auf ganz allmähliche und bestimmt gerichtete Veränderungen weisen, wird unbedinst die erstere der beiden Erklärungen vorziehen. Wer dagegen geneigt ist, die heutige, im allgemeinen sinnlose Statistik als maßgebende Grundlage für die Phylogenie zu verwerten, ohne dabei die historischen Umstände ent- sprechend zu berücksichtigen, wer ferner den Organismen eine ziellose, und vielleicht gar sprunghafte und explosive Abänderungsfähigkeit zuerkennt (im Widerspruch zu den sicher ermittelten Tatsachen), und wer die Beharrlichkeit der systematisch wenig verwerteten habi- tuellen Merkmale geringschätzt, wird sich für die zweite Erklärung entscheiden. Ich habe diese Beispiele hier angeführt, um daran zu zeigen, daß der Wert des historischen Materials weniger durch die lückenhafte Überlieferung herabgemindert wird, als durch unsere heutige Unfähig- keit, es in eindeutigem Sinne zu benützen. Kleinere oder größere Lücken bleiben in unseren Entwicklungsreihen fast immer bestehen, denn Paradebeispiele wie die Reihen des Planorbis multiformis oder der slavonischen Paludinen werden stets zu den Ausnahmen gehören. Die Art und Weise, wie wir die augenblicklichen oder bleibenden Lücken überbrücken, ist das Wichtigste. Wenn wir eine gesicherte Grundlage für die Methode finden könnten, nach der die überall zerrissenen Fäden der Stammlinien wieder zu ver- knüpfen sind, so wäre ein bedeutsamer Fortschritt gesichert. Unsere heutige Methode ist aber, wie oben schon angedeutet wurde, in mehr- facher Beziehung unbestimmt und schwankend. Erstens herrscht keine Übereinstimmung darüber, ob die Um- bildungen der Organismen immer nur in der bis jetzt allein sicher festgestellten Weise, ganz allmählich und durch kleinste, sprunglose Historischer Stoff. 65 Änderungen vor sich gegangen sind, oder ob daneben der Natur die Fähigkeit innewohnt, in kurzer Zeit von den unmittelbaren Vorfahren erheblich abweichende Nachkommen und diese zugleich in ungewöhn- licher Mannigfaltiskeit zu erzeugen — ein Vorgang, der von vielen für möglich, von manchen wenig kritisch und dafür mehr enthusiastisch angelegten Forschern sogar für erwiesen gehalten wird. Zweitens besteht zurzeit eine große Willkür in der Verwertung der einzelnen Merkmale für phylogenetische Zwecke. Zumeist werden solche Merkmale auch für phylogenetisch am bedeutungsvollsten ge- halten, die in der Systematik zur Trennung der größeren Kategorien Verwendung finden. Aber es herrscht hierin doch ein ständiger Wechsel, und vergeblich sucht man nach einer gesicherten Methode. Während man z. B. früher die Laufvögel für eine genetisch einheit- liche Gruppe neben den Flugvögeln hielt, suchte FÜRBRINGER an der Hand eines gewaltigen Tatsachenmaterials darzutun, daß die ver- schiedenen Laufvögel von entsprechend verschiedenen Gruppen von Flugvögeln abstammen, die Laufvögel also gewissermaßen nur eine tlugunfähige Fazies der normalen Vögel seien. Die Flugunfähiskeit und die andern damit verknüpften anatomischen Merkmale verloren damit ihre hervorragende genetische Bedeutung; es blieben aber die Vogelmerkmale überhaupt in ihrer beherrschenden Stellung für die Verfolgung der Stammesgeschichte. Daß auch diese in ganz andrer Weise bewertet werden können, als es zurzeit üblich ist, werde ich später zu zeigen versuchen. Nichts aber kann die Unsicherheit unserer Methode beredter bezeugen, als der nie rastende Wechsel der syste- matischen und »phylogenetischen« Anordnung. Drittens fehlt es zurzeit noch an einer gesicherten geologischen und paläontologischen Zusammenfassung, die einen bequemen Über- blick über die heute bekannten fossilen Vertreter aller einzelnen Formengruppen, über ihre geologische und ihre jeweilige geographische Verbreitung und über ihre etwaigen Beziehungen zu den lebenden Formen ermöglicht. Wie außerordentlich verdienstvoll und nützlich auch ZıtteLs umfassende Darstellung für die Zeit vor 20 Jahren war, so unvollständig ist sie bei dem enormen Zuwachs des Materials schon heute. Mit der Erweiterung und Vertiefung unserer Kenntnisse be- greifen wir auch immer mehr den Nachteil der unnatürlichen Ver- allgemeimerung, der mit der Anwendung der herkömmlichen Systematik auf das fossile wie auf das lebende Material verknüpft ist, sobald wir über das praktische Bedürfnis hinaus zur Aufstellung von phylo- genetischen Zusammenhängen schreiten. Ich hoffe überzeugend dar- tun zu können, wie wenig wirklich genetischen Wert die Systematik Steinmann, Abstammungslehre., 5 66 Hartgebilde. besitzt, und wie sie unzutrefiende Vorstellungen über den Gang der Abstammung in uns befestigen hilft. Eine sichere Methode der phylo- genetischen Forschung kann aber erst auf dem Boden möglichst zahl- reicher historisch genau verfolgter Einzelphylogenien erwachsen. Aus diesen Gründen ist es heute wenig angebracht, von der Lückenhaftigkeit der paläontologischen Überlieferung und von ihrem geringen Werte für die Stammesgeschichte und Entwicklungslehre zu sprechen. Denn wir wissen eigentlich gar nicht, wie vollständig oder unvollständig dieses Material ist. Es liegt weniger ein Bedürfnis vor, dieses Material zu erweitern, wie erwünscht auch jede Vermehrung ist, wir müssen vielmehr das Verständnis des fossilen Stoffes vertiefen und das Vorhandene mit mehr Kritik und unter stetiger Berück- sichtigung der sicher ermittelten Phylogenien und der geologischen Wahrscheinlichkeiten in einen Rahmen zu bringen suchen, der mehr Aussicht zu einem wirklichen Verstehen der Natur bietet, als der, den wir bis jetzt zusammengefügt haben. IV. Die Hartgebilde. Unsere Kenntnis von dem Gange der Entwicklung im Tierreich wie auch im Reiche der Algen beruht fast ausschließlich auf den überlieferten Skeletten und Schalen, die aus mineralischen Stoffen bestehen, vor allem aus Kalkkarbonat, Kalkphosphat und Kieselerde. Diese anorganischen Hartgebilde sind zwar stets Erzeugnisse des lebenden Tier- oder Pflanzenkörpers, aber es sind nur Ausscheidungen, die vom Augenblick ihrer Entstehung an keinerlei Lebenstätigkeit mehr erkennen lassen — es sind tote Gebilde. Da das Plasma oder die Organe, die sie erzeugen, bei den verschiedenen Tier- und Pflanzengruppen abweichend gebaut sind, ja in den Hartgebilden selbst dann noch Unterschiede hervortreten, wenn die Gesamtorganisation der Tiere, die sie hervorbringen, keine erkennbaren Abweichungen aufweist, so besitzen wir in ihnen ein Mittel, ganz minimale und für den Bestand des Tieres vielfach völlig bedeutungslose Änderungen wahrzunehmen. Denn die korrespondierenden Wandlungen des Tieres dürften oft so geringfügig sein, daß sie nur durch ganz minutiöse Unter- suchung der histologischen Beschaffenheit bestimmter Organe, z. B. des Mantelrandes bei den beschalten Mollusken, manchmal vielleicht über- haupt nicht mit Sicherheit festgestellt werden können. Zur Trennung von Arten oder auch nur von Varietäten benutzt man derartig feine histologische Abweichungen im Tierkörper im allgemeinen aber nicht, Hartgebilde. 67 und daraus folgt ein nicht unwichtiges Ergebnis. Stellt man sich vor, daß eine Muschel- oder Schneckengattung, die durch zahlreiche Arten in der Vorzeit vertreten ist, also durch Formen, die wir nur nach der Form und Verzierung der Schale voneinander trennen, im Laufe der Zeit mit allen ihren Arten schalenlos geworden ist, so würden wir jetzt vielleicht nur einige wenige oder gar nur eine einzige Art unterscheiden können. Die Vorwelt erschiene uns reicher an Formen als die Gegenwart, wäre es aber in Wirklichkeit nicht. Mit andern Worten, die Artunterscheidung, wie wir sie ausüben, besitzt bei be- schalten und unbeschalten Tieren unter Umständen einen ganz ver- schiedenen Wert. Es braucht auch nicht einmal die Schale, auf die wir die Artunterschiede gründen, ganz verloren zu gehen, wenn die- selbe ungleiche Bewertung eintreten soll. Das Tier braucht sie nur zu umwachsen und sie dadurch aus einer äußeren, skulptierten zu einer inneren, glatten umzubilden, wie das bei Meeres- und Land- schnecken wiederholt eingetreten ist. Damit allein gehen unter Um- ständen alle auf der Skulptur beruhenden Unterschiede verloren, und aus einer Anzahl wohl unterschiedener Arten wird vielleicht eine einzige. Es ist aber gewiß unrichtig, die Bedeutung der Skulpturmerk- male der Schale, auch wenn ihnen keine Beschaffenheit wichtiger Organe im Tierkörper entspricht, zu unterschätzen. Beruhen doch gerade mit die besten Beweise für die allmähliche Umbildung der Arten an fossilem Material auf den geringfügigen Änderungen der Schalenform und -skulptur (Planorbis multiformis, Paludinenreihe). Nur durch genaue Verfolgung der Form und Skulptur der Schale im Jugendzustande ist JAckson imstande gewesen, die Stammesge- schichte der heteromyaren und monomyaren Muscheln aufzuklären, und auch ich hoffe später an dem Beispiele der Schizodonten zeigen zu können, wie auf diese Weise grundlegende Vorstellungen allgemeiner Art über den Gang der Entwicklung gewonnen werden können. Es ist deshalb gerade für Forschungen auf entwicklungsgeschichtlichem Gebiete keineswegs bedeutungslos, genau die Rolle zu kennen, die die Skelett- und Schalenbildungen, anorganische wie organische, im Tier- und Pflanzenreiche spielen. Denn jeder Versuch, die Gestalten ver- gangener Zeit mit den heutigen in genetischen Zusammenhang zu bringen, gründet sich fast ausschließlich auf den Vergleich der Skelettbildungen; es ist daher nötig, ihre Beziehungen zur Organisation und Lebens- weise ihrer Erzeuger, sowie die Änderungen festzustellen,. die sich gesetzmäßig an ihnen im Laufe der Zeit vollziehen. Im nachfolgenden will ich versuchen, diese Beziehungen und Vorgänge, soweit sie für 5* 68 Hartgebilde. die Abstammungslehre von wesentlicher Bedeutung sind, kurz dar- zulegen. Dabei werde ich freilich eine Art der Betrachtung, die sich heute großer Beliebtheit erfreut, gänzlich vermeiden, da sie für unsere Zwecke nicht nur wertlos ist, sondern sogar dazu angetan, die Pro- bleme zu verhüllen, die wir zu lösen haben. Ich meine die teleo- logische Betrachtungsweise, in welcher Form es auch sei. Wenn ich z. B. von einem Muscheltiere oder von einer Schnecke sage, die Schale oder das Gehäuse, das sie besitzen, dient ihnen zum Schutz, so ist damit wohl eine Behauptung ausgesprochen, die sich in beschränktem Maße objektiv feststellen läßt, da in der Tat das Tier gegen manche Angriffe geschützt ist, wenn es sich in sein Gehäuse zurückzieht, aber keineswegs gegen alle. Denn bekanntlich bohren manche Raubschnecken (Natica, Murex usw.) die Muschelschalen an und töten so das Tier, und Kraken, Enten, Walrosse usw. leben von ihnen trotz ihrer Schale. Der Schluß ist also nur sehr bedingt richtig. Wird aber, wie das heute vielfach üblich ist, die Sachlage zu der Behaup- tung gesteigert: das Tier besitzt eine Schale, weil diese es schützt, so ist mit diesem Raisonnement gar nichts genützt, sondern nur ge- schadet. Denn diese Behauptung könnte nur erwiesen werden da- durch, daß zunächst die Phylogenese der Schale genau ermittelt und gezeist würde, daß nur die Tiere, die eine solche Schale gebildet haben, am Leben geblieben seien, was fast nie möglich ist; und selbst dann wäre keine mechanisch-wissenschaftliche Erkenntnis gewonnen, da die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit eines Organs doch nie die Ursache sein kann für seine Entstehung. Es bleibt bei dieser Art der Schlußfolgerung auch die Tatsache ganz unverständlich, warum denn in verschiedenen Tierklassen die schützenden Schalen oder die stützenden Skelette im Laufe der Zeit ganz zurückgebildet sind, und die Tiere in diesem schutz- und stützlosen Zustande doch ebensogut bestehen, wie früher. Beruhigen wir uns also bei dieser Nützlichkeits- betrachtung, so nehmen wir leicht keinen Anlaß, der wissenschaft- lichen, d. h. mechanischen Erforschung des Problems nachzugehen. Ich stehe bezüglich der Nützlichkeitsfrage auf einem Standpunkte, der heute vielfach für veraltet gehalten wird; es ist die Betrachtungs- weise, wie sie GOETHE vor fast einem Jahrhundert (1831) in die an- sprechenden Worte kleidete: »Und wie der Mensch nun im all- gemeinen denkt, so denkt er auch im besonderen, und er unterläßt nicht, seine gewohnte Ansicht aus dem Leben auch in die Wissen- schaft zu tragen und auch bei den einzelnen Teilen seines organi- schen Wesens nach deren Zweck und Nutzen zu fragen. — Dies mag auch eine Weile gehen, und er mag auch in der Wissenschaft Hartgebilde. 69 eine Weile damit durchkommen; allein gar bald wird er auf Er- scheinungen stoßen, wo er mit einer so kleinen Ansicht nicht aus- reicht, und wo er ohne höheren Halt sich in lauter Widersprüche verwickelt. — Solche Nützlichkeitslehrer sagen wohl: Der Ochse habe Hörner, um sich damit zu wehren. Nun frage ich aber: Warum hat das Schaf keine? und wenn es welche hat, warum sind sie ihm um die Ohren gewickelt, so daß sie ihm zu nichts dienen? — Etwas anderes aber ist es, wenn ich sage: Der Ochse wehrt sich mit seinen Hörnern, weil er sie hat. — Die Frage nach dem Zwecke, die Frage Warum? ist durchaus nicht wissenschaftlich. Ewas weiter aber kommt man mit der Frage Wie? Denn wenn ich frage: Wie hat der Ochse Hörner? so führt mich dies auf die Betrachtung seiner Organisation und belehrt mich zugleich, warum der Löwe keine Hörner hat und haben kann. — So hat der Mensch in seinem Schädel zwei unausgefüllte hohle Stellen. Die Frage Warum? würde hier nicht weit reichen, wogegen aber die Frage Wie? mich belehrt, daß diese Höhlen Reste des tierischen Schädels sind, die sich bei solchen geringeren Organisationen in stärkerem Mabe befinden, und die sich beim Menschen trotz seiner Höhe noch nicht ganz verloren haben. — Die Nützlichkeitslehrer würden glauben, ihren Gott zu verlieren, wenn sie nicht den anbeten sollen, der dem Ochsen Hörner gab, damit er sich verteidige. Mir aber möge man erlauben, daß ich den verehre, der in dem Reichtum seiner Schöpfung so groß war, nach tausendfältigen Pflanzen noch eine zu machen, worin alle übrigen enthalten, und nach tausendfältigen Tieren ein Wesen, das sie alle enthält: den Menschen. — Man verehre ferner den, der dem Vieh sein Futter gab und dem Menschen Speise und Trank, soviel er genießen mag; ich aber bete den an, der eine solche Pro- duktionskraft in die Welt gelegt hat, daß, wenn nur der millionteste Teil davon ins Leben tritt, die Welt von Geschöpfen wimmelt, so ‚daß Krieg, Pest, Wasser und Brand ihr nichts anzuhaben vermögen. Das ist mein Gott!« Die Hartgebilde sind Produkte des Stoffwechsels und als solche notwendige und gesetzmäßig erzeugte Bestandteile des Tier- oder Pflanzenkörpers. Aber sie bestehen aus nicht gebrauchten oder aus nicht mehr gebrauchten Stoffen, und zwar dürften all- gemein die organischen Skelettgebilde verbrauchte, die mineralischen nicht gebrauchte vorstellen. Denn alle die stickstoffhaltigen Sub- stanzen, wie Spongin, Konchiolin, Chitin usw., ebenso die Zellulose, darf man als nicht resorbierte Zerfallsprodukte des normalen Stoft- 70 Hartgebilde. wechsels betrachten. Von den Kalkschalen und Skeletten der Wirbellosen läßt sich zeigen, daß ihr Material zwar unter bestimm- ten physiologischen Bedingungen immer ausgeschieden wird, daß aber die Menge des ausgeschiedenen Kalksalzes infolge äußerer Um- stände innerhalb weiter Grenzen schwanken kann, ohne daß die Lebenstätigkeit dadurch Einbuße erleidet. Das möge an einigen Beispielen erläutert werden, die zumeist wohl bekannt sind. Schalentragende Landschnecken erzeugen auf kalkreichem Boden normale, undurchsichtige Gehäuse, auf kalkarmem Boden aber werden diese dünn und unter Umständen so durchscheinend, daß ihr Gehalt an Kalkkarbonat auf ein Minimum sinkt, während die Konchiolin- ausscheidung nicht beeinträchtigt erscheint. Soweit man weiß, wer- den sie aber durch den Mangel an Kalk in ihrer Lebenstätigkeit nicht behindert. Die zu den marinen Nacktschnecken gehörige Polycera ocellata besitzt im erwachsenen Zustande keine Schale, nur im Darvenzustande das Rudiment einer solchen. Aber ihre Haut ist normalerweise mit kleinen Kalkkörperchen durchsetzt, wie sie bei Mollusken, Echinodermen und Üölenteraten häufig als letzte Reste einer ursprünglich zusammenhängenden Schale oder eines kom- pakten Skeletts aufzutreten pflegen. Wo das Tier in normal ge- salzenem Meerwasser lebt, wie an der britischen Küste, werden diese Kalkstäbchen stets angetroffen, den Bewohnern der Kieler Bucht fehlen sie aber gänzlich und erscheinen erst dort in der Ostsee wieder, wo das Nordseewasser durch den Kleinen Belt unmittelbaren Zutritt hat. Hydractinia echinata, die bekannte auf Schneckenschalen (besonders Buccinum) aufgewachsene Hydrozoe der europäischen Meere, scheidet normalerweise kein Kalkskelett ab, sondern nur ein Chitinskelett. Aber gar nicht selten beobachtet man Kolonien, die in ihrer ganzen Ausdehnung oder nur in einem Teile des Skeletts neben dem Chitin auch Kalkkarbonat ausgeschieden haben, und zwar in derselben Form, als Ausfüllung der Höhlungen im tieferen Teil des Chitingewebes, wie es die jungtertiären Vorläufer dieser Art, Hydr. incrustans usw., allgemein, oder doch jedenfalls sehr häufig besessen haben. Die kalkigen Nadelsterne in der testa der sozialen Ascidier werden zu gewissen Jahreszeiten, so besonders zu Beginn der Winterruhe, in größerer Zahl erzeugt, als sonst. — Alle diese und zahlreiche ähnliche Erscheinungen sprechen dafür, daß die Bildung von Kalkskeletten vielfach nur mit dem Kalkgehalt des Mediums, ebenso aber auch häufig mit einer bestimmten, auch periodisch wieder- kehrenden Art der Lebenstätigkeit wechselt, ohne daß die Prosperität des betreffenden Tieres dadurch beeinflußt würde. Das läßt sich Hartgebilde. zAl leicht begreifen, wenn wir in solchen Fällen die Ausscheidung der skelettbildenden Salze als einen Vorgang auffassen, der neben dem eigentlichen Lebensprozesse einherläuft, was ja keineswegs ausschließt, daß in anderen Fällen der Stoffwechsel auf den beständigen Durch- sang dieser Salze durch den Körper und auf ihre Ausscheidung in bestimmten Teilen so vollständig abgestimmt ist, daß das Tier ohne hinreichende Zufuhr von Kalksalzen überhaupt nicht leben kann. An marinen Schnecken und Muscheltieren, ebenso auch an Foraminiferen zeigt sich eine bestimmte Abhängigkeit der Menge ab- geschiedener Kalksalze von der Art der Lebensweise, im besonderen von der Art und Intensität der Bewegung. Die normalen, d. h. langsam kriechenden Formen besitzen Schalen von durchschnittlicher Dicke, die kaum beweglichen oder zwischen Korallen und Felsen dauernd eingeschlossenen oder die festgewachsenen Formen erzeugen fast immer Schalen von ungewöhnlicher Dicke, während die frei schwim- menden Formen durchgängig sehr zarte, oft durchscheinende und fast kalkfreie Gehäuse hervorbringen. Dieser Zusammenhang zwi- schen Lebensweise und Stärke der Schalen tritt in verschiedenen Tiergruppen so gesetzmäßig hervor, daß man keinen Anstand nimmt, aus der Stärke der Schale auf die Lebensweise zurückzuschließen. Es muß daher wohl entweder der Stoffwechsel selbst, soweit die Kalkabscheidung von ihm abhängig ist, von dem Grade der Beweg- lichkeit des betreffenden Tieres beeinflußt werden, oder aber die stärkere Bewegung des Tieres hindert, daß die ganze Menge des ausgeschiedenen Kalksalzes zum Aufbau der Schale verwendet wird. Es scheint mir bald die eine, bald die andere Ursache vorzuliegen. So erklärt sich die außerordentliche Zartheit der Schale bei den meisten freischwimmenden Mollusken, im besonderen bei den Heteropoden und Pteropoden, wohl nur dadurch, daß die Kalkausscheidung allgemein geringer geworden ist im Vergleich zu den normalschaligen Vor- fahren, von denen sie, zum großen Teil wenigstens, mit Sicherheit abgeleitet werden. Für den zweitgenannten Vorgang besitzen wir ausgezeichnete Belege. So verschmelzen bei vielen geologisch jüngeren Muscheltieren die Mantellappen um die Ein- und Ausströmungs- stellen herum zu geschlossenen Öffnungen (Siphonen), und der Mantel wächst dann häufig im zwei mehr oder weniger lange, meist kontraktile Röhren aus. Derartige Tiere leben im Sande oder im Schlamme vergraben, und nur ihre Siphonen schauen aus dem Boden heraus; diese sind stark muskulös und können auf Reize zurück- gezogen werden. Es fehlt ihnen aber auch die Kalkhülle, die sonst die Oberfläche des Mantels in der Form einer Schale bekleidet. Der 72 Hartgebilde. Grund dafür ist leicht einzusehen. Wohl besitzt die Mantelober- fläche der Siphonen die gleiche Fähigkeit, Kalkmasse abzusondern, wie der übrige Teil des Mantels, aber an dem häufig bewegten und zusammengezogenen Organe können die ausgeschiedenen Teilchen sich nicht fest aneinander fügen, sie werden zum Teil abgestoßen, zum Teil bleiben sie als kleine, unregelmäßig geformte Plättchen daran haften samt einem Teile des Konchiolins, das ebenfalls von der Oberfläche der Siphonen abgeschieden wird. Durch mikroskopische Untersuchung des abgeschabten Konchiolinbelages der Siphonen kann man sich leicht von der Richtigkeit dieser Tatsache überzeugen. Einen vollständigen Beweis dafür, daß die Fähigkeit zur Bildung einer Kalkschale an den Siphonen nicht fehlt, sondern daß nur die A fe IR UTRPEAFEITHEREN, EZ Wim — ee N Sup SH Y) Fig. 12. Carinaria mediterranea. Mittelmeer. Nach SOULEYET aus GoETTE. Ein Vertreter der Heteropoden (Kielfüßer) mit stark reduzierter Schale (s). Diese bedeckt nur noch kapuzenartig einen kleinen Eingeweidesack, in dem sich Leber (2), Hoden (t), Niere (n) und der hintere Teil des Darms befinden. Der übrige Teil des Körpers ist kontraktil und unbeschalt. Beweglichkeit des Organs die Entstehung einer festen Schale hindert, besitzen wir in denjenigen siphoniaten Muscheln, die sich tief in Holz einbohren, und dadurch den Reizen der Außenwelt ent- zogen sind (Teredo). Denn bei diesen Bohrmuscheln sondern auch die Siphonen eine zusammenhängende Kalkröhre ab, weil bei dieser Lebensweise die Unbeweglichkeit oder die geringe Beweglichkeit des Organs den Zusammenschluß der ausgeschiedenen Kalkmasse zu einer kompakten Schale wieder gestattet. Die freischwimmenden Schnecken, wie die Heteropoden, liefern weitere, sehr lehrreiche Beispiele dafür, wie die Kalkschale, in der ursprünglich das ganze Tier wie bei einer normalen Schnecke Platz gefunden hat, dadurch immer mehr reduziert wird, daß früher un- bewegliche Teile der Körperoberfläche kontraktil und damit beweg- lich werden. So bedeckt bei Carinaria (Fig. 12) die mützenförmige Hartegebilde. 73 Schale (s) vom Tier nur noch den nicht muskulösen Eingeweideknäuel (2, & n), während die übrige, sehr ausgedehnte, kontraktile Körper- oberfläche keine Schale mehr trägt. Bei anderen, verwandten Formen der gleichen Gruppe fehlt die Schale ganz, wie bei Pterotrachea, weil hier die ganze Körperoberfläche kontraktil geworden ist. Wir ersehen aus diesen Beispielen, denen sich noch manche andere, ähnliche beifügen ließen, daß mit zunehmender Beweglichkeit der Körperhaut des Tieres die Schalenbildung bis zum vollständigen Schwunde zurückgehen kann; und zwar erklärt sich diese Erscheinung bei den Heteropoden sehr einfach aus ihrer Lebensweise. Bei diesen ursprünglich normal kriechenden Schnecken hat sich der Fuß im Laufe der Zeit zu einem Ruderorgan ausgebildet, und die Tiere haben eine freischwimmende Lebensweise angenommen. Dadurch sind immer weitere Teile der Körperoberfläche beweglich und damit schalenlos geworden. Die Schale ist allmählich immer mehr abge- stoßen worden, und häufig gibt nur noch die Larve durch den Besitz einer Schalendrüse oder eines embryonalen Schalenrudiments sichere Kunde von dem ursprünglichen Zustande. Eine teilweise Reduktion des Skeletts im Laufe der phylo- genetischen Entwicklung kommt bei den Crinoiden in sehr weiter Verbreitung vor. Ihre paläozoischen Vertreter sind fast ausnahmslos, ihre mesozoischen zum großen Teil mit Hilfe eines Stieles auf der Unterlage festgewachsen (Fig. 13), während es unter den tertiären und lebenden nur noch wenige gestielte Gattungen gibt; die meisten sind frei, und der Körper besitzt ein gerundetes, knopfförmiges Unter- ende, wie bei der bekannten Gattung Antedon (Fig. 15) unserer Meere. Nur ausnahmsweise läßt sich der Vorgang der Stielverkümmerung an dem fossilen Material gut beobachten, so bei Mellerierinus Pratti aus dem Jura (Fig. 14). Diese Art gehört einer Gattung an, die im mittleren und oberen Jura häufig, aber immer gestielt angetroffen wird. Die in Fig. 14 abgebildete Art zeigt aber alle Übergänge vom lang- gestielten Stadium (A) bis zum stiellosen (EZ), indem der Stiel (st) sich immer mehr verkürzt (DB, ©, D), und schließlich nur sein oberstes Glied als sog. Zentrodorsale (Ec) im Kelche übrig bleibt. Im vorliegenden Falle läßt sich der Verlust des Stiels leicht erklären. Die Gattung Millerierinus lebte im Flachwasser, vielfach mit Riffkorallen zusammen; das Tier war also den Gezeitenbewegungen ausgesetzt und wurde so jedenfalls vielfach hin und her gebogen, wo- durch es leicht mit dem Stiele von der Unterlage abriß und herum- trieb. Daß der funktionslos gewordene Stiel schließlich ganz ver- kümmerte, versteht sich von selbst. Bemerkenswert bei dem hier 74 Hartgebilde. beobachteten Vorgange ist die Geschwindigkeit, mit der der Stiel ganz verloren geht; denn alle von ÜARPENTER beschriebenen (in Fig. 14 z. T. abgebildeten) Exemplare stammen aus dem gleichen geologischen Horizonte. Es existierten also langgestielte und ungestielte Indivi- duen ganz oder nahezu gleichzeitig. Übrigens hat es den Anschein, als ob der Stiel auch noch auf andere Weise hat verkümmern können. Wir kennen nämlich aus dem Fig. 13. Ein gestielter Crinoid aus paläozoischer Zeit (Platyerinus — Karbon). (Nach WACHSMUTH und SPRINGER.) Fig. 14. Übergangsformen von langgestielten (A) zu un- sestielten (E) Formen von Millerierinus Pratti Gray sp. Dogger (Great Oolite), Yorkshire. (Nach CARPENTER.) E von unten gesehen. Fig. 15. Ein ungestielter Crinoid (Antedon Jutieri) aus dem oberen Jura. (Nach pe Lorıor.) — b Basalstücke, r Radialstücke des Kelches; st Stiel; e Zentrodorsale (= Rest des Stiels); %k der aus den Basal- und 1. Radial- stücken verschmolzene knopfförmige Kelch. Devon eine Gruppe gestielter Crinoiden, die Hapalocriniden (Fig. 16), denen gewisse sehr bezeichnende Merkmale zukommen, nämlich ge- ringe Körpergröße, sehr zarter Körperbau, einmal gegabelte Arme mit zahlreichen dünnen Seitenästen. Mit Recht betrachtet JAEKEL eine ungestielte Form aus jüngerer Zeit, Saccocoma (Fig. 17), als ihren Nachkommen, da sich bei dieser wesentlich die gleichen Merk- male, nur z. T. durch die freischwimmende Lebensweise abgeändert, wiederfinden. Da die devonischen Vorläufer auf schlammigem Boden und jedenfalls in ruhigem Wasser lebten, ist wohl die zunehmende Beweglichkeit der Arme allein schon hinreichend gewesen, das Tier aus seiner Unterlage herauszuziehen, es in die freischwimmende Hartgebilde. 5 Lebensweise überzuführen und so den allmählichen Verlust des Stiels zu verursachen. In beiden Fällen sind nicht gelegentlich einmal einsetzende Vorgänge die Ursache für die Verkümmerung des Stiels ge- wesen, sondern Bedingungen, die jederzeit gerade so sich wiederholen können, wie sie früher einmal eingetreten sind, und daraus folgt, daß der Verlust des Stiels bei den Crinoiden ebenso wie die Verkümmerung oder das gänzliche Verschwinden der Schale bei Weichtieren, Stein- korallen usw. zu den Änderungen zu rechnen sind, die sich an allen oder doch an einer großen Zahl von Vertretern eines Stammes wesent- lich gleichartig vollziehen können. Sie können daher auch in keiner RE o o a ° -o eo B Q b Fig. 16. Ein gestielter Crinoid Hapalocrinus elegans, Jaek. — U. Devon (nach JAEKEL). Fig. 17, sein mutmaßlicher, ungestielter Nachkomme aus dem Oberen Jura, Saccocoma (nach JaekeL). Beide sind klein und zart gebaut, besitzen eine dünne Kelchkapsel, einmal gabelig geteilte Arme (as) und zahlreiche, dieht und abwechselnd gestellte Seiten- äste (sa). Saccocom« war wahrscheinlich freischwimmend, wofür die flügelartigen Fort- sätze (f) an den unteren Teilen der Arme sprechen. Weise als bezeichnend für eine bestimmte Stammreihe gelten, sondern es sind nur Stufenmerkmale, die ein bestimmtes Stadium in der phylo- genetischen Entwicklung eines ganzen Stammes bezeichnen. Ein zweiter, auch unter den Mollusken weit verbreiteter Vorgang führt ebenfalls zur Verkleinerung und schließlich zum Schwunde der ursprünglich vollständigen Schale. Die Schnecken können den vorderen muskulösen Teil ihres Körpers aus dem Gehäuse mehr oder weniger hervorstrecken. Wenn dies dauernd geschieht, schlägt sich der Mantel des Tieres immer mehr um den Rand der Schale herum und auf diese zurück. So wird die Schale allmählich vom Mantel oder vom Fuße umwachsen, und in dem Maße als dieser Vorgang fortschreitet, nimmt der Umfang der Schale gewöhnlich ab, zumeist auch ihre Dicke. So kennen wir bei den Meeresschnecken aus der Abteilung 76 Hartgebilde. der Deckkiemer alle nur wünschenswerten Zwischenstufen von einer noch vollständigen, kalkigen, vom Mantel nicht dauernd umgebenen Schale (Cylichna) über Acera, die ihre Schale mit dem Fuße fast ganz umfassen kann, zu der vollständig vom Tiere eingeschlossenen Schale des Seehasen (Aplyysia), die fast gar kein Kalkkarbonat mehr enthält und fast durchsichtig ist. Bei den Pleurobrancheen endlich findet sich entweder nur noch ein Schalenrudiment, oder die Schale fehlt ganz, aber im Mantel stecken dann meist zahlreiche kleine Kalkkörperchen in der Form von Kugelsternen, als letzte Reste einer früher vollständigen Schalenbildung (Fig. 18). Wo eine der- artig abgestufte Ausbildung der Schale bei einer Tiergruppe be- obachtet wird, könnte man ja auch die umgekehrte Reihenfolge für möglich halten und annehmen, dab wir hier die allmähliche Herausbildung der Schale »zum Schutze des Tieres« be- obachten. Im der Tat hat auch BronN sich dahin geäußert, daß »bei den Hinter- kiemern sich die Spiralschale zum Schutze und zur Aufnahme des Tieres immer mehr entwickele, indem sie aus einer rudimentären, inneren, hornigen eine äußere wird.« Allein die tatsächlich rudimentäre Beschaffenheit Fig.18. Nadelsterne ausKalk- der Schalen, ihr häufiges Verschwinden ım karbonat aus dem Mantel von ostembryonalen Zustande, sowie alle palä- Susania testudinaria Cantr., einer Schnecke aus der Fa- ontologisch verfolgbaren Veränderungen bei milie der Pleurobranchiden 4 5 2 nme Stall den Schnecken widersprechen einer solchen (nach Vaxssıirr). Deutung, die auch heute kaum noch An- hänger besitzen dürfte. Die beiden geschilderten Arten des Schalenschwundes der Schnecken finden ihr Gegenstück nicht allein bei anderen Mollusken, wie wir später sehen werden, sondern auch bei den Steinkorallen (Madreporaria), die einem ganz anderen Tierstamme angehören. Besonders bei den paläozoischen Vertretern trifft man mannigfache Beispiele dafür an. Die sozusagen normalen Vertreter dieser Coe- lenteratengruppe, die wir vom Silur bis in die Gegenwart in mannig- faltigen Formen verfolgen können, sind durch folgendes Merkmal ausgezeichnet. Das Tier sitzt in einem zylindrischen oder trichter- förmigen Kalkbecher eingesenkt, und von der Innenwand dieser Kalk- röhre dringen plattige oder zapfenartige Vorsprünge in entsprechende Falten oder lochartige Vertiefungen des Weichkörpers ein, wie das die Figuren 19 und 20 veranschaulichen. Das Tier ist also sehr Hartgebilde. 77 vollständig mit dem Kalkskelett verzahnt, und soweit es (mit seinem unteren Teile) in einer solchen Kalkröhre steckt, ist seine Körper- oberfläche auch zart und nicht kontraktil; es kann nur schwer und nicht ohne Beschädigung aus seiner Hülle entfernt werden. Nun beobachtet man an manchen paläozoischen Skeletten eine allmähliche Veränderung derart, dab die leistenartigen Vorsprünge an der Innen- Fig. 19. Schema des Kalkbechers eines Steinkorallenskeletts mit Kalkplatten, die in entsprechende Falten des Tieres hinein- ragen (Septen — a, b, I, II, III) und einer zapfenförmigen Erhöhung in der Mitte Fig.20. Tier und Skelett einer Steinkoralle (Säulchen — e). im Längsschnitt. Die Kalkplatten (s) und der mittlere Zapfen des Skeletts (cd) ragen in entsprechende Einfaltungen des Tieres (f) hinein. Fig. 21. Ansicht des Kelchinnern einer de- Fig. 22. Durchschnitt und Innenansicht des vonischen Steinkoralle (Calceola). An Stelle Kelches einer anderen devonischen Stein- der sonst weit vorspringenden Kalkplatten koralle (Cystiphyllum). Die Kalkzelle ist (Septen) sieht man nur feine Körnerreihen ganz mit Blasengewebe erfüllt, und im In- oder niedrige Leisten. nern des Kelches sieht man nur zarte Leisten an Stelle der Septen. wand der Kalkröhre immer niedriger werden und sich schließlich in eine Reihe von Körnern auflösen, oder so niedrige und zarte Kalk- streifen bilden, daß das Tier kaum noch irgendwelche bemerkbaren Einfaltungen besessen haben kann (Fig. 21, 22). Zugleich wird häufig aber auch der Rand des Bechers immer niedriger, so daß das Tier von seiner Kalkzelle nicht mehr seitlich eingeschlossen war, sondern es saß dessen flach schüsselförmiger oder gar gewölbter Oberfläche nur noch 73 Hartgebilde. ganz locker auf (Fig. 23 und 24). Bei dieser Lage des Tieres zu seinem Skelett dürfte ein schwacher seitlicher Anstoß genügt haben, es von seiner Unterlage zu trennen, ohne daß es wesentlich dadurch beschädigt worden wäre. Das Ende dieses Umbildungsvorganges können wir uns nur als eine gänzliche Ablösung des Tieres von seiner tellerartigen Skelettunterlage denken. Wird diese abgestoßen, so ist das Tier skelettfrei, wobei wir anzunehmen haben, daß nun die ganze Körperoberfläche, auch die Unterseite, muskulös und kon- traktil geworden ist. | Fig. 23. Fig. 23. COystiphyllum lamellosum Gf. Mittl. Devon. Eifel. A Skelett von oben, B von unten gesehen: C von der Seite mit aufsitzender Basis des Polypen. Fig. 24. Dasselbe. A von unten, B von der Seite mit aufsitzender Basis des Polypen. Beide nach Originalen der Bonner Sammlung. $ Skelett; P Polyp; s Hauptseptum, s/ Gegenseptum; s/7 Seiten- septum; 1,2,3, 4 die aufeinander folgenden Wachstumsstadien des Skeletts. — Diese Figuren sollen zeigen, wie der Polyp (P) dem flach schüsselförmigen Skelett nur locker aufsitzt, indem die Septen nur ganz niedrige Leisten bilden und keinen tiefen Ein- faltungen des Polypen entsprechen, wie solches in Fig. 19 der Fall ist. Der hohe Grad: von Beweglichkeit des Tieres spiegelt sich in den andauernden seitlichen Verschiebungen des Skeletts (1,2, 3, 4) wieder. Einen andern Weg zum Schwunde des Skeletts zeigen uns solche Formen, die aus ihrem Skelett heraus und von allen Seiten her um dieses herumwachsen. Diesen Vorgang erkennen wir deutlich daran, daß die Leisten (Septen) des Kalkskeletts, die ursprünglich nur auf der Oberseite vorhanden sind, über den Rand (als Rippen) übergreifen und in der Mitte der Unterseite « zusammenstoßen, wie es die Figuren 25 und 26 zeigen. Jetzt ist aus dem äußeren Skelett ein inneres geworden, und dieses wird im Laufe der weiteren phylo- genetischen Fortbildung schließlich ebenso verkümmern wie das Ge- häuse bei denjenigen Schnecken, die es umwachsen haben. Es wird Hartgebilde. 79 nur noch ein Skelett aus organischer Substanz übrig bleiben, oder das Skelett wird ganz verschwinden. Ein dritter Weg, der zum Schwunde des Skeletts führt, ist bei den Korallentieren weit verbreitet, bei Mollusken aber selten, wenn auch hier besonders bedeutungsvoll. Er besteht darin, daß das Tier sein ursprünglich äußeres Skelett (oder seine Schale) durchwächst. Viele Steinkorallen besitzen ein durchbrochenes, poröses Skelett, und zwar ist diese Erscheinung bei den ältesten Vertretern (der paläo- zoischen Zeit) recht selten, sie wird umso häufiger, in je jüngere Fig. 26. Fig. 25. Dipterophyllum glans White sp. Subkarbon. Burlington, Jowa. A von oben, B von der Seite, C von unten. Fig.26. Baryphylium Verneuili E.&H. Devon (?Ob. Silur). Tennes- see. A von oben, B von der Seite. — s Hauptseptum; s’ Gegenseptum ; s” Seitensepta; u unteres, zugespitztes Ende. Zwei paläozoische Korallenskelette, die vom Tiere ganz umwachsen und zu inneren geworden sind. Bei Dipterophyllum sind die Septen nur noch als feine Streifen, bei Baryphyllum aber noch als stärkere Leisten erhalten. (Nach Römer, Leth. pal.) Zeiten hinein wir diese Tierklasse verfolgen; auch tritt sie unab- hängig in ganz verschiedenen Gruppen und sowohl bei Einzeltieren wie bei Kolonien auf. Das poröse Skelett kommt dadurch zustande, daß Teile des Weichkörpers (oder benachbarte Teile einer Kolonie), die ursprünglich durch eine Platte aus kompakter Kalkmasse ge- trennt waren, durch wenige oder zahlreiche Fortsätze miteinander in Verbindung treten, so daß an dieser Verbindungsstelle keine Skelett- masse ausgeschieden werden kann. So durchwachsen die Tiere all- mählich ihr Skelett immer mehr, und dieses wird dadurch immer poröser, leichter und unvollständiger. Ein ausgezeichnetes Beispiel für diesen Vorgang besitzen wir in einer Gruppe von Einzelkorallen aus der Familie der Eupsammiden, die sich um die Gattung Stephano- phyllia gruppieren. Diese seit der Kreide bekannte Gattung besitzt gewöhnlich ein halbkugeliges, poröses Skelett, dessen Boden ebenfalls von feinen Poren durchsetzt ist. Aber das Skelett bleibt dabei doch 80 Hartgebilde. ziemlich vollständig. Nun hat aber die Challenger-Expedition aus großer Tiefe eine Form heraufgebracht, deren Skelett nur noch aus einer zarten, ganz durchlöcherten Platte besteht, so daß sich der Bearbeiter dieser Tiere mit Recht darüber wunderte, daß das Schlepp- netz solch ein zartes Gebilde unzerdrückt heraufgebracht habe. Hier sehen wir also das ursprünglich jedenfalls kompakte und normale Skelett schon so weit rückgebildet, daß der Weg von hier aus zum Fig. 28. Fig. 27. Stephanophyllia imperialis Mich. Miozän. Siebenbürgen. Skelett von oben. Die Septen bilden hohe Kämme, die durch quere Platten miteinander verbunden sind. Die poröse Beschaffenheit ist nicht er- kennbar. (Aus STEINMANN- DoEDERLEIN: El. d. Pal.) Fig. 28. Leptopenus diseus Mos. Südl. Indischer Ozean. (Nach Mosere£y, Chall. Rep.) A das scheibenförmige Skelett von oben; die Einzelheiten nur in zwei Sektoren ausgeführt. B dasselbe von der Seite. C ein Stück stärker vergrößert, von oben. Das Skelett besteht aus einer äußerst dünnen, siebartig durchbrochenen Scheibe; die Septen erheben sich nur in der Nähe der Säule zu zarten, gezackten Plättchen. Vgl. dazu das viel voll- ständigere Skelett von Stephanophyllia (Fig. 27). vollständigen Schwunde kürzer erscheint, als der, welcher vom kom- pakten Skelett bis zu dieser Gitterscheibe zurückgelegt ist. Wenn die Skelette mittelst Durchwachsung rückgebildet werden, verschwinden sie aber nicht immer, sondern es bleibt häufig ein Teil der Skelettmasse in der Form kleiner Kalknadeln, Nadelsterne, Kugeln oder weniger regelmäßiger Gebilde erhalten. Diese liegen dann wie bei den Alcyonariern, die ich mit anderen Forschern von den Tabulaten ableite, in einer weichen, von Plasmasträngen durch- zogenen Bindegewebsmasse eingeschlossen, oder sie stecken, wie bei vielen Achsenskeletten der Alcyonarien, in einer hornigen Masse, oder sie verschwinden ganz und letztere bleibt allein zurück. Alle diese verschiedenen Stadien der Rückbildung sehen wir in der einen Hartgebilde. 81 Ordnung der Alcyonarier vertreten, und wir können an einzelnen Stammreihen von sehr bezeichnendem Aufbau diesen Vorgang deut- lich verfolgen. So kennen wir aus paläozoischen Ablagerungen in reicher Entwicklung eine Gruppe tabulater Korallen, die Syringo- poriden. Ihr Skelett besteht aus annähernd parallel wachsenden Röhren, die von Zeit zu Zeit durch Querröhren verbunden werden; aus diesen sprossen dann meist die neuen Tiere heraus. Bei diesen ältesten Vertretern besteht das Skelett aus ganz kompakten Kalk- röhren mit runzeliger Oberhaut. Bei der lebenden Orgelkoralle, die wesentlich den gleichen Aufbau (gelegentlich auch noch die Reste von Septen und Böden wie bei Syringopora) aufweist, ist das Skelett zwar kalkig, aber durchaus porös; die Oberhaut fehlt. Bei einer anderen lebenden Gattung von ganz ähnlichem Baue aber, die man vor einigen Jahren erst entdeckt hat, Hecksonia, enthält das Skelett überhaupt keinen Kalk mehr, sondern nur noch Hornmasse. Die Rückbildung äußerer mineralischer Skelette im Laufe der phylogenetischen Entwicklung beschränkt sich nun keineswegs auf die Wirbellosen. Auch bei den Wirbeltieren, und zwar in den beiden großen Abteilungen der Fische und Vierfühler, sehen wir diesen Vorgang im großen wie im einzelnen sich abspielen. Es ist hin- reichend bekannt, daß fast alle älteren Fische (mit Ausschluß der Haie und Rochen) bis zur Permzeit fast ausnahmslos eine mehr oder weniger vollständige Körperbedeckung aus Knochenschildern (Panzer- fische) oder aus harten Knochenschuppen (Ganoiden) besessen haben. In je jüngere Zeiten wir sie verfolgen, umso mehr tritt allgemein die harte Körperbedeckung zurück, und heute gibt es nur noch wenige dieser altertümlichen Typen. Wir mögen uns nun die jüngeren Fische im einzelnen von den älteren ableiten, wie wir wollen, die Tatsache bleibt immer bestehen, daß die festen Körperbedeckungen im Laufe der Zeit allgemein zurückgegangen sind. Die Ursache hierfür ist ähnlich wie bei den Schnecken in einer Zunahme der Muskulatur und damit der Beweglichkeit zu suchen, und als einen bezeichnenden Ausdruck dieser allmählichen Wandlung haben wir es zu betrachten, daß in dem Maße, als die Starrheit der Körper- bedeckung schwindet, das Innenskelett verknöchert, an das die Mus- kulatur sich anheftet. Ganz analoge Wandlungen stellen wir auch an den Vierfüßlern fest. Auch ihre ältesten Vertreter zeichnen sich gegenüber den jüngeren durch das Vorherrschen knöcherner Hautbedeckungen, be- sonders auf dem Schädel, vielfach aber auch auf Rücken und Bauch, aus. Bei den Reptilien von vorgeschrittener Beweglichkeit, die wir Steinmann, Abstammungslehre. 6 82 Hartgebilde. später als Metareptilien eingehend zu besprechen haben, und in denen wir die Vorfahren der Vögel und Säuger erblicken, treten solche Hautbedeckungen schon stark zurück, während sie in der Haut von Säugern bekanntlich nur noch ausnahmsweise, wie bei den Gürteltieren, zu finden sind, und bei den Vögeln ganz fehlen. Den- jenigen Reptilien aber, die als echte Kriechtiere mit träger Lebensweise bis heute fortbestanden haben, den Krokodilen und Schildkrö- ten, ist die primitive Körper- bedeckung fast allgemein ge- blieben. Wo wir aber eine Gruppe dieser Kriechtiere eine ausgesprochen schwim- mende Lebensweise einschla- gen sehen, wie bei den ma- rinen Thalattosuchia, die sich Figg. 29—31. Drei Beispiele von rezenten Kalkalgen mit gegliedertem Thallus. Fig. 29. Cymopolia barbata (L.) Harv. — Familie Dasycladaceen. (Nach SoLus-LaugAcH). Fig. 30. Halimeda opuntia (L.) Lamx. — Familie Codiaceen. (Nach Gozsen.) Fig. 31. Coral- lina rubens L. — Familie Corallinaceen. (Nach THURET.) Aus Engter und PrAntı, Nat. Pilanzenfamilien. — Fig. 29 B zeigt, wie an der eingeschnürten Giederungsstelle die Kalkmasse (grau) fehlt. Hartgebilde. 83 vom Krokodilstamme abzweigen, geht mit dieser Änderung auch rasch die Körperbepanzerung verloren. Der Vollständigkeit wegen möge auch noch ein Beispiel aus dem Pflanzenreiche beigezogen werden, das uns zeigt, wie auch dort mineralische Skelettbildungen im Laufe der Zeit reduziert werden, und zwar in diesem Falle offenbar nur infolge einer rein mecha- nischen äußeren Einwirkung. Es gibt drei Familien von marinen Kalkalgen, die wir ziemlich gut in die Vorzeit zurückverfolgen können, die Codiaceen, Dasycladaceen und Corallinaceen. In allen dreien kommen heute Gattungen vor, deren Kalkhülle nicht einfach und zu- sammenhängend, sondern in zylindrische oder platte Stücke gegliedert ist (Fig. 29—31). Das zwischen den einzelnen Kalkgliedern befindliche Stück der betreffenden Alge ist biegsam und enthält keinen oder nur sehr Figg. 32—34. Drei Beispiele von triadischen Dasyeladaceen mit unverzweigtem und un- gesliedertem Thallus. Fig. 32. Physoporella pauciforata Gue. Fig. 33. Diplopora porosa Schfh. Fis. 34. Gyroporella vesieulifera Gue. (Aus STEINMANN, Einf. i. d. Paläontologie.) wenig Kalk (Fig.29 5), so daß die Pflanze gelenkig ist und im Wasser fluten kann. Allen älteren Vertretern der drei Familien fehlt dieses Merkmal aber vollständig, die triadischen und jurassischen Vorfahren der Dasycladaceen besitzen ungegliederte (Fig. 32, 34), höchstens in Ringe zerfallende Kalkröhren (Fig. 33), das Kalkskelett von Doueina, des altkretazischen Vorläufers von Halimeda, entbehrt ebenfalls der Arti- kulation, und dasselbe gilt für die verzweigten Lithothamnien, wie Zetho- thammium amphiroaeformis Rothp. aus der Oberkreide, von der sich die lebende Gattung Amphiroa mit gegliedertem Thallus ableitet. In allen diesen Fällen liegt der Vorgang, der zur Gliederung und zum Verluste der Kalkmasse an den Gliederungsstellen geführt hat, ziemlich klar. Je länger der Thallus dieser in der Gezeitenzone wachsenden Algen im Laufe der Zeit ausgewachsen ist, umso weniger hat er seine ur- sprüngliche Starrheit behalten können. Die Kalkhülle der Zweige 6* 84 Hartgebilde. ist infolge der immer mehr gesteigerten Inanspruchnahme schließlich zerbrochen, dadurch ist der Thallus gelenkig und beweglich geworden, und an den Gelenkstellen hat der Kalk sich nicht mehr als zusammen- hängende Masse ausscheiden können (Fig. 29). Die Abgliederung, die wohl an den äußersten Verzweigungen begonnen hat, ist im Laufe der Zeit immer weiter zurückverlest worden und hat sich über die ganze Pflanze ausgebreitet und konstitutionell gefestigt. Es dürfte kaum ein zweites Beispiel geben, das so klar und einfach den Ein- fluß äußerer Faktoren auf die Umgestaltung des Thallus in verschie- denen Gruppen aufzeigt, wie dieses. Schließlich wäre noch zu untersuchen, ob die Substanz der mineralischen Skelettbildungen im Laufe der Zeit einer Änderung in dem Sinne fähig ist, daß an Stelle von Kalkkarbonat Kieselsäure oder an Stelle von Kalkphosphat Kalkkarbonat treten oder eine Änderung in umgekehrtem Sinne erfolgen kann. Wir besitzen darüber noch so gut wie gar keine Erfahrungen, obgleich die Frage sehr wichtig ist für die phylogenetische Forschung. Ich will hier nur einige Tatsachen erwähnen, die kaum anders als im Sinne einer solchen Umwandlung gedeutet werden können. Es tritt in der Kreideformation eine Foraminiferengattung sehr häufig auf (Orbitolina), die ihre kompliziert gebaute Schale aus Sand- körnern aufbaut. Diese werden durch ein vom Tiere ausgeschiedenes Zement verkittet. In den zuerst gebildeten Teilen der Schale bildet Kalkkarbonat das Zement, in den später gebildeten aber nicht mehr; hier tritt vielmehr Kieselsäure oder eine andere, jedenfalls in Säuren unlösliche Substanz an ihre Stelle. Man kann sich von dieser Tat- sache leicht dadurch überzeugen, daß man die Schälchen von Or- bitolina in verdünnte Salzsäure lest. Dann wird der Anfangsteil der Schale regelmäßig zerstört, der spätere dagegen bleibt intakt und zeigt die Struktur der Schale in ausgezeichneter Weise. Hier haben wir also den Fall, daß ein Tier in der Jugend Kalkkarbonat, später dagegen eine andere Substanz, wahrscheinlich Kieselsäure, ausscheidet. Die Möglichkeit eines solchen Wechsels wird aber von großer Bedeutung für die Entscheidung der Frage, in welchem gene- tischen Verhältnis die Foraminiferen mit agglutinierender und säure- fester Schale zu den kalkhaltigen stehen, und ob es erlaubt ist, die beiden großen schalenbildenden Abteilungen der Protozoen, die Fora- miniferen mit vorwiegend kalkiger und die Radiolarien mit vorwiegend kieseliger Schale, miteinander in genetische Beziehung zu setzen. Ein zweiter Fall von Veränderung der ausgeschiedenen Schalen- substanz scheint bei den Brachiopoden vorzuliegen. Unter ihren Hartgebilde. 85 ältesten Vertretern, besonders aus Kambrium und Untersilur, sind Schalen besonders häufig, die nicht aus Kalkkarbonat bestehen, wie diejenigen der meisten jüngeren Formen, sondern aus abwechselnden Lagen einer hornartisen Substanz (Keratin) und phosphorsaurem Kalk (nebst geringen Mengen von Kalkkarbonat).. Da nun manche jüngere, rein kalkschalige Vertreter in ihrer Gestalt deutliche Be- ziehungen zu ähnlichen älteren, aber hornschaligen erkennen lassen, so liegt die Abstammung von solchen hornschaligen durchaus im Bereich der Wahrscheinlichkeit. Ein durch physiologische Vorgänge bedingter Wechsel der an die Kalkerde gebundenen Säure wird übrigens auch durch andere Tatsachen dargetan, z. B. dadurch, daß der Winter- deckel der Weinbergschnecke über 5%, die Schale dagegen nicht einmal 1% Phosphat enthält. Kurz gefaßt lautet das Ergebnis unserer Ausführungen über die Bedeutung der Skelettbildungen für die stammesgeschichtliche For- schung folgendermaßen: Die mineralischen Hartgebilde können sich im Laufe der Zeit nach zwei Richtungen ändern. Sie können einerseits durch bestimmte Wachstumsvorgänge im Organismus verkümmern, entweder ganz ver- schwinden, oder in verschiedenartiger Weise zu Rudimenten ver- kleinert werden; andrerseits kann sich auch die chemische Natur des ursprünglich mineralischen Hartgebildes ändern. An Stelle früher vorhandener mineralischer Hartgebilde bleiben häufig nur noch solche aus widerstandsfähiger organischer Substanz übrig. Als Ursache der Verkümmerung ursprünglich äußerer Schalen und Skelette haben wir bei Tieren die im Laufe der Zeit zunehmende Beweglichkeit oder die Verschmelzung vorher getrennter Teile des Tieres oder der In- dividuen einer Kolonie erkannt, d. h. Vorgänge, die allgemein in der Richtung des phylogenetischen Wachstums liegen. Wir dürfen daher annehmen, daß die Schalen- und Skelettbildungen im Laufe der Zeit sowohl bei verschiedenen Tierabteilungen überhaupt, als auch bei den einzelnen Gattungen, Arten, Rassen und Individuen zurückgegangen sind. Der umgekehrte Fall, nämlich eine Neuent- stehung von Schalen oder äußeren Skeletten im Laufe der Zeit, scheint in keinem Falle, auch nicht bei Wirbeltieren, verbürgt zu sein; wohl aber sind die Innenskelette der Wirbeltiere sekundären Ursprungs und erst infolge der Fortbildung der Muskulatur ent- standen. Eine vorübergehende oder dauernde Vergrößerung oder Verfestigung der äußeren Schalen oder der Hautgebilde findet nur dann statt, wenn in einer beschalten oder bepanzerten Tiergruppe 86 Methoden phylogenetischer Forschung. die bewegliche Lebensweise mit einer weniger beweglichen oder un- beweglichen vertauscht wird, oder wenn einzelne Teile des Tierkörpers an Beweglichkeit verlieren. Hieraus erwächst der phylogenetischen Forschung folgende Auf- gabe: Fossile Tierformen mit vollständigem oder mehr oder weniger rudimentärem äußerem Skelett, die in der heutigen Fauna nicht mehr vertreten sind, dürfen nicht ohne weiteres als erloschen auf- gefaßt werden; es ist vielmehr für jeden einzelnen Fall festzustellen, ob sich nicht sonst ähnliche lebende Formen mit verkümmertem oder fehlendem Skelett auf sie zurückführen lassen. Ebenso müssen wir für alle Vertreter der heutigen Fauna, die ein rudimentäres Skelett in irgendwelcher Form besitzen, oder die durch den Besitz von Schalendrüsen oder dergleichen sich als Nachkommen beschalter Vor- fahren zu erkennen geben, unter den ähnlich organisierten fossilen Formen nach Vorfahren mit mehr oder weniger vollständigem Skelett suchen, wenn wir den natürlichen Zusammenhang der Tierwelt er- mitteln wollen. Es ist ferner im Auge zu behalten, daß Tiere mit kieseligem Skelett auf solche mit kalkigem, oder Tiere mit rein kalkigen Schalen auf solche mit Horn-Phosphat-Schalen zurückgehen und daß die Nachkommen scheinbar ausgestorbener Typen in derart veränderter Form heute noch fortleben können. Ehe nicht die heutige und frühere Tierwelt nach diesen Grundsätzen systematisch untersucht ist, läßt sich auch nicht annäherungsweise angeben, in welchem Umfange die Tierwelt erloschen ist. Solche Untersuchungen sind aber bis jetzt kaum in Angriff genommen; es steht daher hier der Forschung noch ein weites Feld offen. Schließlich muß es nicht nur als möglich, sondern im allgemeinen sogar für wahrscheinlich erachtet werden, daß rein organische, »hornige« Skelette, Hüllen usw. die letzten Reste früherer minera- lischer Hartgebilde sind, so bei Hornschwämmen, Alcyonarien, Hydro- zoen, Bryozoen, Mollusken, Tunicaten, Insekten, Fischen und Rep- tilien, und daß früher vorhandene hornige Skelette und Hüllen im Laufe der Zeit zu zarten, fossil nicht erhaltungsfähigen Kutikular- bildungen geworden sind. V. Die Methoden der phylogenetischen Forschung. Nach der heutigen Entwicklungslehre sind selbst die verwickelt- sten Organisationen durch allmähliche Umbildung aus dem noch un- entwickelten Plasma entstanden. Ein solcher Vorgang läßt sich zwar historisch nicht in seinem ganzen Umfange nachweisen, wohl aber Methoden phylogenetischer Forschung. 87 können wir gewisse Teile der Schöpfung in ihren Wandlungen von einem ziemlich vorgeschrittenen Stadium an, wie es zur kambrisch- silurischen Zeit gegeben ist, bis zu ihrem heutigen Stande mit größeren oder kleineren Unterbrechungen verfolgen. Innerhalb dieses historisch segebenen Bruchstückes der Entwicklung sehen wir noch beträcht- liche Änderungen in den Organisationen vor sich gehen. Die Vierfüßler, Reptilien, Vögel und Säuger sind innerhalb dieses biohistorischen Zeit- raums aus anders gearteten Vorfahren entstanden, und die höheren Blütenpflanzen, Mono- und Dikotyledonen, haben sich aus Formen mit einfacher Art der Befruchtung, aus Sporenpflanzen oder aus Gymno- spermen, herausgebildet. Die Wandlungen innerhalb der biohistori- schen Zeit sind also immer noch sehr erheblich, und alle Merkmale, durch die sich die höchst entwickelten der heutigen Tiere und Pflan- zen von den ältesten uns überlieferten unterscheiden, müssen sich im Laufe dieser Zeit einmal geändert oder ganz neu gebildet haben. Wir sind aber wohl berechtigt, noch weiter zu gehen und aus dem überlieferten Bruchstücke der Schöpfung einen Rückschluß auf den vorhistorischen Umwandlungsvorgang zu machen und zu sagen: alle Merkmale der Organismen sind einmal entstanden, mit andern Wor- ten, sie sind alle wandelbar. M Es wäre nun sehr wichtig, wenn wir bestimmt feststellen könnten, welche Merkmale sich leichter und welche sich schwerer verändern, welche sich in verschiedenen Stammreihen mehrfach in ähnlicher Weise geändert haben und welche nur einmal einem Wechsel unter- worfen, dann aber unveränderlich geblieben und so vererbt sind. Damit hätten wir ein Hilfsmittel, das uns in dem lückenhaft über- lieferten Fossilmaterial leichter die phylogenetischen Zusammenhänge zu finden ermöglichte. Leider hat die Natur den Stempel der geringeren oder größeren Veränderlichkeit von einzelnen Merkmalen den Organismen nicht in leicht erkennbarer Form beigefügt, und wir müssen daher ihren Wert erst auf umständliche Weise feststellen. Das geschieht auf ver- schiedenen Wegen, einmal durch Beobachtung der Veränderlichkeit an heutigen Organismen im Naturzustande oder im Zustande der Domestikation, durch Verfolgung der Ontogenien oder durch ver- gleichend-anatomische Betrachtung, endlich durch unmittelbare Be- obachtung der Wandlungen am historisch gegebenen Stoffe selbst. Von diesen verschiedenen Wegen führt nur der letztgenannte zu einer gut brauchbaren phylogenetischen Methode Denn die Ver- änderungen greifen im organischen Reiche allgemein so langsam Platz, daß ihre Verfolgung an heutigen Organismen kaum ein wahrnehm- 88 Methoden phylogenetischer Forschung. bares Differential erschließt; und selbst ein solches besitzt zumeist noch keinen eindeutigen Charakter. An den Veränderungen, die die Organismen durch Domestikation und Kultur erfahren, ersehen wir zwar, welcher Veränderungen sie unter abnormen Verhältnissen fähig sind, aber wir erfahren dadurch nichts Genaues von den Wand- lungen, die unter natürlichen Bedingungen im Laufe der Zeit stattgehabt haben. Die ontogenetische Methode leidet an verschie- denen Fehlern. Wir können vor allem nicht ohne weiteres fest- stellen, welche Merkmale als Folge der abnormen Verhältnisse ent- standen sind, unter denen die Larve besteht. Aber selbst, wenn es gelänge, die känogenetischen Merkmale scharf abzutrennen von den palingenetischen, so bleibt es von den letzteren doch durchaus un- entschieden, welche von ihnen im Laufe der phylogenetischen Ent- wicklung nur ein einziges Mal und welche wiederholt entstanden sind. An dem gleichen Fehler leidet die vergleichend-anatomische Methode. Ihre Ergebnisse sind ebenso zweideutig, wie bei der onto- genetischen, und vergegenwärtigen wir uns, welche Unsicherheit jeder- zeit den Ergebnissen dieser Methoden angehaftet hat, wie heute, noch mehr als früher, wo man weniger kritisch verfuhr, der individuellen Deutung der weiteste Spielraum geöffnet ist, und wie hartnäckig die erwähnten Probleme der Abstammungslehre sich gegen den Fort- schritt dieser Forschungen behauptet haben, so kann man ihren Wert für die Abstammungslehre nur äußerst gering einschätzen. Die sonstige Bedeutung der vergleichend-anatomischen und embryologi- schen Forschungen soll dadurch in keiner Weise herabgesetzt werden, nur für den besonderen Zweck der Ermittlung der Phylogenie haben sie sich als wenig brauchbar erwiesen. So bleibt denn als einzig sichere Grundlage die historische Methode übrig, wie enge Grenzen dieser auch auf den ersten Blick gezogen zu sein scheinen. Die historische Methode zeichnet sich neben andern Vorzügen schon dadurch vorteilhaft vor allen andern aus, daß sie eine Unter- scheidung der zwei verschiedenen Arten der Abänderung ermöglicht, die man mit Recht unterschieden hat, und deren gegenseitiges Ver- hältnis noch keineswegs feststeht — der Änderung im Raume oder der Variation und der Änderung in der Zeit oder der Mutation. Aber auf diese Frage kann ich erst näher eingehen, wenn ich Beispiele tatsächlicher Umbildung im Laufe der Zeit vor- geführt haben werde. Hier möge vor allem betont werden, was kürzlich auch von Drr£rer ausführlich und klar auseinander gesetzt worden ist, daß die historische Methode, wenn sie durchaus exakt sein soll, nur mit möglichst geschlossenen Formenreihen arbeiten Methoden phylogenetischer Forschung. 89 darf, wie sie beispielsweise von WAAGEN und NEumAyR an den Am- monitengattungen Oppelia und Phylloceras verfolgt worden sind. Leider befinden wir uns nur selten in der glücklichen Lage, die phylogene- tischen Zusammenhänge aus lückenlos aufeinander folgenden Muta- tionen abzulesen. Fast stets bleiben kleinere oder größere Lücken zwischen zeitlich mehr oder minder weit auseinander liegenden Sta- dien der gleichen Stammreihe oder eines Stammes offen, und es fragt sich dann, ob wir in diesem Falle auf eine phylogenetische Verknüpfung verzichten oder ob und nach welcher Methode wir die Lücken ergänzen sollen. Es ist demi ständig vorwärts drängenden Menschengeiste eingeboren, daß er immer die Lücken auszufüllen versucht, die in den Ergebnisse der langsam fortschreitenden, streng induktiven Forschung übrig bleiben. Selbst wenn wir so streng induktiv wie möglich verfahren und so- genannte »ununterbrochene« Formenreihen verfolgen und aufstellen, sind wir genötigt, ganz kleine Unterbrechungen des Zusammenhanges zu vernachlässigen und Zwischenglieder zu interpolieren, die wir nicht sehen, weil das Material uns nur äußerst selten in idealer Voll- ständigkeit zur Verfügung steht. Je unbedeutendere Lücken aber bleiben, um so wahrscheinlicher wird das Ergebnis. Es besteht also kein grundsätzlicher, sondern nur ein gradueller Unterschied der Methode in beiden Fällen, und eine scharfe Grenzlinie läßt sich nicht ziehen. In jedem Falle handelt es sich um ein Probieren, die Fülle der organischen Gestalten in einen genetisch einfachen und leicht verständlichen Zusammenhang zu bringen, und sie restlos in Entwicklungslinien einzureihen. Wenn wir uns nur jederzeit des Wahrscheinlichkeitsquotienten bewußt bleiben, der jedem einzelnen Falle anhaftet, so sind alle phylogenetischen Versuche, die von tat- sächlich bekanntem historischen Material ausgehen, und Spekula- tionen, die selbst beträchtliche zeitliche und morphologische Lücken überbrücken sollen, ein Fortschritt. Nur müssen die so eingeschlagenen Wege verlassen und es muß eingestanden werden, daß sie ungangbar sind, wenn die neu hinzu kommenden Formen aus den durch Spe- kulation überbrückten Zeiten sich nicht in die angenommenen Ent- wicklungslinien einfügen lassen, sondern nach andern Richtungen hinweisen. Das sind die Methoden, deren sich jede geschichtliche Forschung bedient, mag sie den historischen Menschen oder die Natur im all- gemeinen zum Gegenstand haben. Bei dem Versuche, das Tier- und Pflanzenreich nach Maßgabe des historischen Materials phylo- 90 Methoden phylogenetischer Forschung. genetisch zu begreifen, haben mir folgende Richtlinien vorgeschwebt. Jeder Umwandlungsvorgang, den wir voraussetzen, wird um so wahrscheinlicher, je häufiger er als gesetzmäßiges Ergebnis in der Entwicklung überhaupt nachgewiesen ist. Wenn wir z. B. feststellen, wie das jüngst geschehen ist, daß sich die ursprünglich kryptogame Fortpflanzung in mehreren Pflanzengruppen unabhängig in eine gymno- sperme umgewandelt hat, und daß die Bildung von sekundärem Holz ebenfalls mehrfach unabhängig bei verschiedenen Pflanzengruppen eingetreten ist, denen dies Merkmal ursprünglich fehlte, so dürfen wir auch voraussetzen, daß diese Vorgänge nicht nur so oft vor sich gegangen sind, wie wir sie heute kennen, sondern noch viel häufiger. Können wir also zwei noch unverknüpfte Pflanzenformen aus ver- schiedenen Zeiten, die gewisse andre auffallende Merkmale gemein- sam besitzen, dadurch in eine allseitig befriedigende Verbindung bringen, daß wir jene beiden Umbildungsvorgänge auch in diesem Falle als erfolgt voraussetzen, so bewegen wir uns im Rahmen großer Wahrscheimlichkeit. Oder wenn wir begründete Ursache haben, an- zunehmen, daß die Säugetiere auf zwei verschiedenen Wegen aus nicht säugenden Vorfahren entstanden sind, so dürfen wir denselben Vorgang auch für viele anderen Fälle als wahrscheinlich ansehen. Denn die Natur, ob belebt oder unbelebt, wird nicht von Zufällig- keiten, sondern von Gesetzmäßigkeiten beherrscht, und diesen nachzugehen, ist unsere Aufgabe. Umgekehrt sollten wir uns hüten, mit Vorgängen zu rechnen, die nicht wenigstens einmal als tatsäch- lich erfolgt verbürgt sind. Im Entwicklungsgange der Reptilien und Säuger sehen wir z. B. von einem gewissen Stadium an bestimmte Merkmale sich immer nur in einem Sinne ändern. Der Schädel und Unterkiefer werden allgemein kürzer, und damit geht eine Ver- minderung der Zähne Hand in Hand. Eine Vermehrung der Zähne ist dagegen nie in einer sicher verbürgten Abstammungsreihe beob- achtet worden. Ebensowenig können wir bei jüngeren Formen der Vierfüßler eine Vermehrung der Zahl der Zehen oder Finger fest- stellen, sondern nur eine Verminderung der normalen Zahl von fünf auf weniger, bis auf einen. Nur in einem frühen Stadium der Stammesgeschichte, wo sich Zähne und Zehen erst aus indifferenten Verhältnissen herausgebildet haben, scheinen auch Vorgänge möglich gewesen zu sein, die zur Bildung von Zähnen in allen Teilen des Maules und zu einer höheren Fingerzahl als fünf geführt haben, später nie mehr. Wenn man trotzdem bei der Ableitung einer jüngeren Säugergruppe von einer anderen mit derartigen Umbildungs- möglichkeiten rechnet, wie bei der Ableitung der Wale von raub- Methoden phylogenetischer Forschung. 91 oder huftierartigen Vorfahren, so sollte man nicht vergessen und auch ausdrücklich betonen, daß diese Annahme allen unseren sicheren Erfahrungen widerspricht und daher so gut wie keinen An- spruch auf Wahrscheinlichkeit hat. Jede jüngere Form oder Gruppe, die wir von einer älteren ableiten, muß in allen Merkmalen als ihr natür- liches Fortbildungsprodukt erscheinen. Von dieser eigentlich selbstverständlichen Forderung sieht man häufig ab. Man glaubt, es genüge, um einen stammesgeschichtlichen Zusammenhang wahr- scheinlich zu machen, wenn ein oder einige Merkmale einer älteren Form bei einer jüngeren in wenig veränderter Gestalt wiederkehren, und da man zudem im Besitze eines sicheren Unterscheidungsmittels zwischen phylogenetisch bedeutsamen (homologen) und wenig wichtigen (analogen) Merkmalen zu sein glaubt, so werden die ersteren häufig fast allein in Rechnung gezogen, die anderen mehr oder weniger vernachlässigt. Dieser nicht selten geübten Methode gegenüber muß betont werden, daß die Erfahrung für alle Merkmale nur einen allmählichen, schrittweisen Wechsel aufzeigt. Das gilt selbst für die Größe der Organismen. Denn wo wir imstande sind, eine Größenzunahme zu verfolgen, sehen wir dies stets nur schrittweise vor sich gehen. Die großen Proboscidier des jüngeren Tertiärs und des Quartärs, Mastodonten und Elefanten, sind nicht im Laufe kurzer Zeit aus kleinen und unscheinbaren Vorfahren herausgewachsen, sondern ihre Vorläufer im Oligozän (Palaeomastodon) waren schon sehr ansehnliche Tiere. Die gleiche Erscheinung beobachten wir an den Nashörnern, Raubtieren usw. und an vielen niederen Tiergruppen. Hiernach darf mit Recht die Möglichkeit bestritten werden, daß sehr große Tiere im Laufe kurzer Zeit aus kleinen entstanden sind, wie man dies z. B. für die Wale voraussetzt, wenn man ihre schon im Eozän vorhandenen Riesenformen von noch unbekannten, kleinen, raubtierartigen Landformen (Oreodonten) ableitet, die in einer geologisch wenig früheren Zeitperiode gelebt haben sollen. Besonders wertvoll für die Verfolgung des systematischen Zu- sammenhangs erscheinen solche Merkmale, die nur bei einer einzigen Art oder Gattung innerhalb einer größeren Gruppe vorkommen, wie das Auftreten überzähliger Finger bei manchen Ichthyosauriern, das nach hinten gerichtete Unterkiefergelenk von Loxolophodon, das sich bei keinem andern Huftiere wieder findet, die eigentümlichen, durch V-förmige Knickung und durch Knotung ausgezeichneten Rippen der Trigoniaschalen, usw. Noch wichtiger ist aber die Kombination mehrerer Merkmale, die nicht in Korrelation miteinander stehen, 9 Methoden phylogenetischer Forschung. z. B. die Vereinigung einer bestimmten Körpergröße mit einer be- stimmten Schädelform und einer besonderen Art der Bezahnung, oder das Zusammentreffen einer besonderen Art der Blattstellung mit einer bestimmten Art der Blattform und der Verzweigung usw. Denn es müssen sowohl das Auftreten eines aberranten Merkmals als auch das Zusammentreffen mehrerer, nicht allgemein verbreiteter Merkmale an demselben Tier oder an derselben Pflanze als Erschei- nungen angesehen werden, die nur durch außergewöhnliche oder selten eintretende Vorgänge bedingt werden, und es ist unwahr- scheinlich, daß sich dieselben ungewöhnlichen Vorgänge oder die gleiche Konstellation von Vorgängen öfters wiederholen. In der Geschichte der Dikotyledonen hat sich besonders deutlich gezeigt, wie merkwürdig konstant die Variationsbreite einer Art, Gattung oder Familie durch lange Zeiträume bleibt. Wir dürfen daher erwarten, in verschiedenen Querschnitten des gleichen Stammes auf eine ähnliche Variationsbreite und auf einen ähnlichen Umfang an Arten oder Gattungen zu stoßen, wobei natürlich eine allmäh- liche Vermehrung oder Verminderung keineswegs ausgeschlossen ist. Je tiefer die paläontologische Forschung in die Einzelheiten des historischen Entwicklungsganges eingedrungen ist, um so deutlicher sind gewisse Gesetzmäßigkeiten in diesem hervorgetreten, die für die Weiterarbeit vorbildlich sein sollten, solange nicht Beobachtungen hinzukommen, die ihre Brauchbarkeit abschwächen. Einige der wichtigsten davon mögen hier hervorgehoben werden. Jeder Paläontologe weiß, daß, wo auch immer eine systematische Gruppe an der Hand von reicherem Material eine Neubearbeitung erfährt, das vorher anscheinend einfache oder wenig gegliederte Gebilde in erhöhter systematischer Komplikation erscheint. Was vorher wie eine genetisch einheitliche, wenn auch vielleicht recht variable Gruppe aussah, stellt sich dann dar als eine künstliche Ver- kuppelung wohl geschiedener Einheiten, die genetisch unabhängig nebeneinander bestehen und nicht miteinander in Beziehung ge- bracht werden können. Und wo sich eine solche Gruppe mehr oder weniger vollständig durch einen gewissen Zeitraum hindurch verfolgen läßt, erweisen sich ihre einzelnen Bestandteile auch als andauernd voneinander gesondert, als parallel nebeneinander herlaufende Formen- reihen; nur selten gelinst es, das Zusammenlaufen der Reihen zu einem oder einigen wenigen gemeinsamen Ausgangspunkten zu be- obachten. Das ist mehrfach durch zahlreiche und meist außer- ordentlich gewissenhafte paläontologische Studien erwiesen worden, ganz unzweideutig zuerst durch die musterhaften Studien von WAAGEN ee Methoden phylogenetischer Forschung. 93 und NeumAyr an Ammoniten, durch Ossorv an den Nashörnern usw. usw. Diese grundlegenden Forschungen haben aber in Kreisen der Deszendenztheoretiker nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die ihnen für die Abstammungslehre zukommt, und leider ist auch die Zahl der Paläontologen nicht groß, die auf diesem Wege weiter wandeln, was sich nur z. T. durch die Schwierigkeiten erklärt, die mit der Beschaffung geeigneten Materials verbunden sind. Und doch liegt in dieser Art der Forschung der einzig mögliche Weg, den Umbildungsvorgängen auf die Spur zu kommen, wie sie die Natur na & IS, Fa 1. LIT BERRRINS IITTTITLIITIII IT So OTIIL DL mie ausan [ig NN IT TS See TTTeITIITTT! ) u SEE EERREHEHRENEHHRMERRRENNEN PETLLLLLTCOTTELTITLLCT ITS SSFLIITILLITTTLELTLTTTTTTTTTTT TI >) - = [| a u —— n Fig. 35. Schematische Darstellungen der Stammesgeschichte einer aus 8 Arten bestehenden Gattung, A nach der gewöhnlich angenommenen, B nach der vielfach tatsächlich erwiesenen Weise. Z, II, III drei aufeinander folgende Zeiträume; a—h die 8 Arten; y eine ältere, x eine jüngere Gattung, die aus ihr hervorgegangen ist. Die wagerechten Striche bezeichnen das Auftreten der Merkmale, durch die die Gattung x sich von der älteren y unterscheidet. verfolgt. Zwischen den erwiesenen Vorgängen und den auf darwi- nistischer Grundlage erdachten besteht aber ein einschneidender und unüberbrückbarer Gegensatz. Am besten verdeutlicht man sich diesen Gegensatz zwischen Voraussetzung und Wirklichkeit durch ein Schema, wie es Fig. 35 darstellt. Darin sind drei aufeinander folgende Zeitabschnitte durch 1, II, UI, die 8 unterscheidbaren Formen einer Gattung © durch a,b, c,d,e, f, 9, " bezeichnet. A stellt die Art des verzweigten Zusammenhangs vor, wie sie gewöhnlich gedacht wird, als Ausdruck einer Divergenz, die im Laufe kurzer Zeit mehrfach statt hat und einen engen genetischen Zusammenhang der Formen begründet. B zibt ein Bild des tatsächlichen Befundes, des unverknüpften 94 Methoden phylogenetischer Forschung. Nebeneinanderbestehens von Stammreihen. Diese liefern zwar in einem gewissen vorgeschrittenen Stadium (/I7) dasselbe Ergebnis wie der Vorgang in A, aber sie stehen untereinander in einem viel lockereren Stammesverbande. Ihre Zerspaltung reicht viel weiter zurück als bei A, oft in Zeiten, in die wir sie nicht hinein verfolgen können. Die gemeinsamen Merkmale (durch wagerechte Strichelung angedeutet), nach denen wir die 8 Formen im Zeitraum III zu einer Gattung zusammenfügen, werden, wie im Falle A dargestellt, gewöhn- lich als früh und einmal entstanden und auf alle die 8 divergierenden Formen vererbt gedacht. Die Beobachtung erweist aber sehr häufig gerade den entgegengesetzten Vorgang: sie entstehen in allen Formen- reihen gesondert, auch durchaus nicht gleichzeitig, sondern bilden sich in der einen rascher, in der andern langsamer heraus. Untersuchen wir die 8 Stammreihen im Stadium II, so fallen a, ce, d, g vollständig unter den Begriff der Gattung x, b und h erscheinen als Übergangsformen zwischen einer älteren Gattung y, der die Merkmale von x fehlen, und x selbst, während e und f dieser älteren Gattung überhaupt angehören. Im Stadium 7 gehören alle Reihen der Gattung y an, mit Ausnahme von ce und g, die schon unter x fallen. Belege für die Tatsächlichkeit der unter B geschilderten Art der Umbildung einer zusammengesetzten Gattung in eine jüngere sind an fossilem Materiale mehrfach erbracht worden. Ich brauche nur zu erinnern an die sorgfältige Bearbeitung, die WÄHNnER der unterliasi- schen Gattung Pszloceras und den daraus hervorgehenden Gattungen Arietites und Schlotheimia hat angedeihen lassen. Zu wesentlich den gleichen Ergebnissen gelangt man, wenn man versucht, eine formen- reiche Gruppe von Muscheln oder Schnecken jüngerer Zeit, wie Venus, Crassatella, Pleurotoma, ÜOerithium usw. in die Vorzeit zu verfolgen. Bei den Brachiopoden hat jüngst (1907) YAKoVLEwW eine ebensolche Art der Verknüpfung von »Gattungen« ermittelt. Er sagt darüber: »Les differentes especes de Strophalosia ont engendre differentes especes d’Aulosteges comme les divers especes de Produc- tus ont donne naissance & divers especes de Strophalosia.« Was ich im obigen Schema für das gegenseitige Verhältnis zweier zusammengesetzter Gattungen als tatsächlichen Umbildungsvorgang hingestellt habe, nämlich die Umwandlung einer Gattung in eine an- dre auf zahlreichen, parallel laufenden Linien, gilt aber auch für höhere Kategorien, wie die Familien, die mehrere Gattungen um- fassen. Ein besonders anschauliches Beispiel hierfür liefern uns die Schizodonten unter den Muscheltieren, die in einem besondern Ab- schnitt besprochen werden sollen. Methoden phylogenetischer Forschung. 95 Aber selbst umfassende Kategorien, wie man sie als Unterord- nungen oder Ordnungen in die Systematik eingeführt hat, sind keineswegs phylogenetisch homogene Bildungen, als welche sie viel- fach gelten, sondern sie sind durch den Fortschritt der Forschung als genetisch vielstämmige Gebilde erkannt worden, und das wahre Bild ihrer Stammesentwicklung entspricht der Figur B unseres oben gegebenen Schemas, nicht aber der Figur A. Als Beleg möge je ein Beispiel aus den Wirbellosen und aus den Wirbeltieren an- geführt werden. In dem Stamme der Ammonoideen, d. h. der Ammoniten mit Ein- schluss ihrer einfacher gebauten Vorfahren aus paläozoischer Zeit, der Goniatiten usw., hatte v. BucH ursprünglich drei größere Abteilungen unterschieden, die Goniatiten, Ueratiten und Ammoniten. Sie erscheinen geologisch im allgemeinen in der obigen Reihenfolge und zeigen eine Ver- schiedenheit in bezug auf ein sehr auffälliges Merkmal, die Lobenlinie. Diese ist bei den Goniatiten einfach wellenförmig, bei den Ceratiten im Grunde gezackt, bei den Ammoniten in ihrem ganzen Verlaufe SS2 55, ES @S ss, SSa It Be 55, Vogl I Qi we, es: a I N Sl sl; ms Fig. 36. Die Lobenlinie eines Goniatiten (links), eines Öeratiten (Mitte) und eines Ammoniten (rechts). mehr oder weniger zerschlitzt (Fig. 36). Diese drei systematischen Abteilungen mit ihren verschiedenen Gruppen sind nun aber als ge- netisch zusammengesetzte Kategorien erkannt worden, nicht ein - mal haben sich aus den Goniatiten die Üeratiten und aus diesen Ammoniten abgezweigt, sondern zahlreiche Goniatiten (einschließ- lich der Clymenien) sind zu ÜCeratiten und Ammoniten geworden, so daß nach heutigen Begriffen diese Namen nur als Entwicklungs- stufen des ganzen Stammes gelten, die von einer großen Zahl von Formenreihen durchlaufen werden. Da es aber eine schwierige Aufgabe ist, die einzelnen genetischen Reihen an dem teilweise nur lückenhaft ‚überlieferten Materiale durch diese wech- selnden Stadien zu verfolgen, so fasst man immer wieder Bruchstücke von mehreren derselben, die auf ungefähr gleicher Entwicklungstufe stehen, unter einem Gattungsnamen zusammen und vereinigt meh- rere solcher Gattungen von annähernd ähnlicher Entwicklungsstufe zu Familien. In dem Maße, als neues Material hinzukommt, und die Unterscheidung der Formen schärfer wird, sieht man sich genötigt, die zusammengesetzten Gattungen zu zerspalten, mithin immer weitere 96 Methoden phylogenetischer Forschung. systematische Kategorien zu schaffen, die zwar vielfach auch geneti- sche sind, deren wahrer Zusammenhang aber zum großen Teile durch die Systematik verdunkelt wird. Schon im Devon, wo uns die älte- sten Ammoniten als Goniatiten entgegentreten, sind sie in mehrere Stämme getrennt, die sich nicht aufeinander oder auf einen Urgo- niatiten zurückführen lassen, sondern die schon gesondert aus der älteren Unterordnung der Nautiloideen hervorgegangen sein müssen. Was also bei den Ammoniten im System als Einheit gegolten hat, Ammonoideen. Nicht bekannte Strecken der Stammlinien. viInf Bekannte Strecken der Stammlinien. \ \ L) ı ı ı ı ı \ \ Gattungen. Familien. UIOA2T UOQIDMUIDG SPIAL Nautiloideen. Fig. 37. Dieses Schema soll das Verhältnis der heutigen Systematik der Ammonoideen zu ihrer Phylogenie veranschaulichen. Dabei ist vorausgesetzt, daß die Mehrzahl der tria- dischen Familien und Gattungen nicht erloschen ist, sondern in jurassischen und kreta- zeischen Formen weiterlebt, was an einer andern Stelle näher erörtert werden soll. Der Einfachheit wegen sind nur vier Stämme als schon im Devon vorhanden und als aus den Nautiloideen selbständig hervorgegangen gezeichnet; ihre Zahl dürfte in Wirklichkeit beträchtlich größer sein. erweist sich phylogenetisch nicht nur als zusammengesetzt, ‘sondern auch als mehrfach entstanden, nicht nur die Gattung oder die Fa- milie, sondern auch die ganze Unterordnung. Ich habe dieses Ver- hältnis zwischen dem System und der Phylogenie der Ammoniten in nebenstehendem Schema darzustellen versucht. Man ersieht daraus, daß die Linien der genetischen Einheiten, die Formenreihen, nur z. T. mit den systematischen Einheiten, den Gattungen, zusammenfallen, fast nie aber mit den Familien, und daß die systematische Unterordnung weit davon entfernt ist, etwas genetisch Einheitliches vorzustellen. Methoden phylogenetischer Forschung. 97 In den älteren Tertiärablagerungen werden die Raubtiere durch die Creodonten vertreten, die sich von ihnen durch manche primitive Merkmale, besonders auch durch gewisse auffällige Beziehungen zu Insektenfressern und Raubbeutlern unterscheiden. Man hat sie daher früher als eine vollständig ausgestorbene Parallelgruppe zu den eigentlichen Raubtieren (Carnassidentata oder Fssipedia) betrachtet, und Wortmann hat sogar für eine getrennte Abstammung beider Raubtiergruppen aus mesozoischen Beuteltieren plädiert. Andre Forscher sahen in ihnen die Stammgruppe der echten Raubtiere, die sich von ihnen abgezweigt hätten. Nun stellen sich aber immer deutlicher enge genetische Beziehungen zwischen beiden heraus, und MATTHEW ist es gelungen, eine Anzahl von Ureodonten in die Stamm- reihen der Carnassidentaten einzufügen. Der systematisch und frü- her auch phylogenetisch einheitliche Begriff der Creodonta sinkt da- durch aber zu einem Stufenbegriff herab, ebenso der der Uarnas- sidentaten, und wenn noch reichlicheres Material aus jungeozänen und oligozänen Schichten bekannt sein wird, dürfte sich wohl her- ausstellen, daß die sämtlichen Raubtierstämme in den Creodonten wurzeln und alle früher diese Stufe durchlaufen haben. Diesen Beispielen könnte ich noch viele andre aus den Gruppen der Coelenteraten, Mollusken usw. zur Seite stellen, aber sie dürften genügen, um zu zeigen, in welcher Richtung die Fortschritte der Wissenschaft sich bewegt haben. Immer mehr und mehr erweisen sich die üblichen systematischen Begriffe als schräge oder quere Schnitte im phylogenetischen Stammbaume, nur aus- nahmsweise haben sie die Stammlinien der Länge nach getroffen und fallen mit ihnen zusammen. Dieses allgemeine Ergebnis der fort- schreitenden Wissenschaft betrifft die Kategorien von der Grobart an, durch Gattung, Familie bis zur Unterordnung oder Ordnung; warum sollte es nicht auch für die umfangreichsten Kategorien, für die Klassen und Stämme, gelten? Überall sehen wir die Spaltung der Formen viel, viel weiter zurückgehen, als man es gedacht hatte, und dabei erweisen sich diejenigen Merkmale, die nach Maßgabe des Systems für phylogenetisch wichtig gehalten werden mußten, als überall veränderlich und umgekehrt die anscheinend unwichtigen als beharrend und phylogenetisch bedeutsam. Wenn wir den Entwicklungssang größerer Abteilungen über- schauen, tritt noch eine andre Gesetzmäßiskeit hervor, die mir sowohl für die Methode weiterer Forschung als auch für die Er- klärung der Umwandlungen bedeutungsvoll zu sein scheint. Ver- schiedene Stammreihen durchlaufen die einzelnen phyletischen Stufen Steinmann, Abstammungslehre. 7 98 Methoden phylogenetischer Forschung. unabhängig voneinander und treten daher zu verschiedenen Zeiten in eine nächst höhere Stufe ein. Bei den Ammonoideen z. B. wird von manchen Reihen das goniatitische Stadium schon im Karbon ver- lassen, von anderen im Perm, aber noch in der Trias gibt es Formen mit goniatitischer Lobenlinie. Nun unterscheiden sich die Am- moniten von Goniatiten aber auch noch durch andre Merkmale, wie durch die Lage der Siphonaldüten, die bei den Goniatiten nach rückwärts, bei den Ammoniten nach vorwärts gerichtet sind. Auch diese Änderung greift in den verschiedenen Stämmen zu verschiedenen Zeiten, vom Karbon bis in die Trias, Platz, aber die beiden Um- bildungen decken sich zeitlich nicht m den einzelnen Reihen. Ganz ähnlich verhalten sich noch andre Merkmale, wie das Verschwinden des Trichterausschnittes oder die Verwandlung der latisellaten Em- bryonalblase in eine angustisellate.e. Wenn sich aber auch jedes Merkmal unabhängig vom anderen ändert, so muß doch beachtet werden, daß die Umbildung aller Merkmale, durch die sich die ältere goniatitische Stufe von der jüngeren ammonitischen unterscheidet, in einen, wenn auch weiten, so doch geologisch begrenzten Zeitraum fällt, so daß es bis zum Karbon nur Goniatiten, vom Jura an nur noch Ammoniten (und Üeratiten) gibt. Ebenso fällt die Umbildung der Creodonten in die Oarnassidentaten fast all- gemein in das Oligozän. Doch gab es zur Eozänzeit schon einige Formen mit echtem Raubtierreißzahn, und vereinzelt bestehen noch im Miozän Creodonten. Also auch bei den Raubtieren ist der Um- bildungsvorgang fast ganz auf einen bestimmten Zeitraum beschränkt. Auch in der Entwicklung des Menschengeschlechts läßt sich diese Gesetzmäßigkeit feststellen. Wir glauben jetzt zu wissen, daß der Mensch schon gegen Ende der älteren Tertiärzeit, nämlich im Oligozän, im Stadium primitiver Steinkultur existierte, und soweit wir wissen, hat er sich bis zum Quartär auf keine wesentlich höhere Kulturstufe geschwungen. Aber innerhalb der Quartärzeit und in der Gegenwart steigen Teile verschiedener Menschenrassen unabhängig zu höheren Kulturstufen, im besonderen zur Metall- kultur, auf. Aus allen diesen Erfahrungen ergeben sich für uns folgende Regeln für die Methode der phylogenetischen Forschung. Die Systematik gibt im allgemeinen keinen Fingerzeig für den Verlauf der Phylogenie; im Gegenteil, ihre Kategorien bedeuten im wesentlichen nur phylogenetische Stufen oder Stadien, Querschnitte der Entwicklung, aber keine Stammreihen; diese laufen vielmehr vorwiegend parallel und nur langsam und spärlich sich zerteilend durch jene Schizodonten. 99 Stadien hindurch. Es liegt auch keine Veranlassung vor, die großen Kategorien, wie Ordnungen usw., grundsätzlich davon auszunehmen. Wir haben daher auch diejenigen Merkmale, die zur Unter- scheidung von Gattungen, Familien usw. verwendet werden, nicht als phylogenetisch wichtig und brauchbar anzusehen, sondern die- jenigen, nach denen wir die Arten oder Abarten unterscheiden. Die höheren Entwicklungsstufen gehen aus den niedrigeren auf mehreren Linien hervor, und die Umbildung erfolgt auf den einzelnen Linien zu verschiedenen Zeiten, wobei das eine Merkmal sich unab- hängig vom andern abwandelt. Dessenungeachtet fallen meist die Um- bildungen aller Reihen eines Stammes in bestimmt begrenzte Zeiträume. Es ergibt sich hieraus, daß die Umbildung einer Gattung, Fa- milie, Unterordnung usw., aus einer anderen sich im Laufe einer kür- zeren oder längeren Zeit abspielen kann. Bestehen also neben den Formen einer jüngeren Kategorie auch noch solche der älteren, aus der sie hervorgegangen sind, so ist es keineswegs ausgeschlossen, daß auch noch aus diesen, zunächst zurückgebliebenen, später jüngere ent- stehen können. VI. Die Schizodonten. (Trigonien und Unionen.) Um an einem leicht kontrollierbaren und überzeugenden Bei- spiel zu zeigen, auf welchen Wegen die Umbildung der Formen Platz gegriffen und in welcher Weise sich eine neue Familie aus einer älteren tatsächlich herausgebildet hat, wähle ich die von mir Schizodonten benannte Gruppe von Muscheltieren. Sie umfaßt zwei Familien, eine marine, die Trigoniden, und eine zweite, die dem Süßwasser angehört, die Unioniden. Die Trigoniden kennen wir als häufige Meeresmuscheln vom Devon (vereinzelt auch schon vom Silur) an und können sie durch die ganze Reihe der Formationen hindurch bis zur Gegenwart verfolgen. Wenn wir uns nach den wenigen Arten der australischen Meere und nach der ungeheuren Formenmannigfaltiskeit der fossilen Arten aus Paläozoikum, Trias, Jura und Kreide eine Vorstellung von dem Entwicklungsgange dieser Familie machen, so kommen wir zu folgendem Ergebnis. Der Tri- gonidenstamm hat sich bis gegen Ende der mesozoischen Zeit immer reichhaltiger entwickelt, sich in immer zahlreichere Arten gespalten und dabei die ihm eigentümlichen Verzierungen der Schale immer reicher und mannigfaltiger ausgebildet. Dann ist mit dem Ende der mesozoischen Zeit ein sehr starker Rückgang eingetreten, und nur IE 100 Schizodonten. eine einzige der zahlreichen Gruppen der Gattung Trigonia hat sich durch das Tertiär hindurch bis auf den heutigen Tag in etwas abgeänderter Gestalt erhalten. Verfolgen wir zuerst die Geschichte dieses konservativen Astes. Schon aus der Trias liegen Vertreter einer leicht kenntlichen Gruppe von Trigonia, der Gruppe der Costatae, vor. Im Jura sind zahlreiche »Arten« vorhanden, die sich freilich meist nur durch unbedeutende Merkmale voneinander unterscheiden. Das Bezeich- nende liegst in der gedrungenen Gestalt und in folgender Vereinigung von Verzierungsmerkmalen (Fig. 38A): Der vordere Teil der Schale wird von scharfen, konzentrischen Rippen bedeckt, der hintere Teil, zwischen den beiden Kanten k und %’ gelegen, dagegen von radial verlaufenden, durch die Zuwachsstreifen mehr oder weniger stark Fig. 39. Fig. 38. A eine Trigonie aus der Gruppe der Costatae (Jura); B, C ein Vertreter der lebenden Trigoniengruppe der Peetinatae (Australien). C ist die vergrößerte Ansicht der Wirbelgegend. (Orig. d. Freiburger geol. Samml.) Fig. 39. Eine tertiäre Über- gangsform von der Trigoniengruppe der Costatae zu der der Pectinatae (Trig. semiun- dulata M.Coy.). Miozän. Australien. (Nach Mac Coy.) Die Radialrippen (r) beginnen von hinten auf den Vorderteil der Schale überzugreifen. » vorm; hhinten; e Embryonalschale (noch unverziert); fe Feldchen; % Arealkante; k' Hinterkante;; mi Mittelkante. gekerbten Rippen. Mit diesen Merkmalen setzen die Costaten bis in die Kreide fort, sind aber bis jetzt aus dieser Formation nur vereinzelt bekannt geworden. Die heute in Australien einheimische Trigoniengruppe der Peeti- natae scheint auf den ersten Blick wenig Ahnlichkeit mit den meso- zoischen Costaten zu besitzen (Fig. 38 B,C). Die Schalen sind viel weniger ausgesprochen dreieckig, vielmehr allseitig zugerundet, und starke Radialrippen mit queren Knoten bedecken die ganze Schale. Untersucht man aber das Jugendstadium der Schale (Fig. C), so tritt die Übereinstimmung mit den fossilen Formen sofort in die Fr- scheinung. Denn die jugendliche Schale besitzt vorn ausschließlich scharfe, konzentrische Rippen und nur hinten radiale, quer geknotete. Die Grenze zwischen den beiden verschieden verzierten Teilen wird u Schizodonten. 101 ebenso wie bei den Costaten durch eine besonders starke Kante (X) markiert. Erst beim späteren Wachstum treten von hinten nach vorn fortschreitend auch auf dem vordern Teile radiale Rippen auf, und diese verbreiten sich dann bald über die ganze Schale (DB). Wir schließen daraus, daß die Pectinaten aus den Costaten hervor- gegangen sind dadurch, daß die Radialrippen allmählich auf den Vorderteil der Schale übergegriffen haben. Es fehlt aber auch nicht an einem historischen Beweise für die Richtigkeit dieser Annahme. Denn in den australischen Tertiärablagerungen finden sich fossile Trigonien, — die einzigen, die man bisher im Tertiär überhaupt ge- troffen hat, — und diese (Fig. 39) stehen in der Tat in der Mitte zwischen den beiden Gruppen. Im Jugendzustande ähneln sie den Oostaten noch weit mehr als die lebenden Pectinaten, indem die vordere Fläche länger frei von Radialrippen (r) bleibt und die Arealkante (k) als stärkere Rippe hervortritt. Erst später stellen sich feine Radial- rippen auf dem hintern Teil der Vorderfläche ein; sie greifen aber noch nicht über das ganze Feld über, wie bei den Pectinaten. Be- merkenswerterweise hat es aber nicht nur eine solche Übergangsreihe zwischen beiden Gruppen ge- geben, wie sie durch Tr. semi- undulata (Fig. 39) dargestellt wird. Schon ein Vergleich der Skulpturen der lebenden Tr. pectinata (Fig. 383B) und der tertiären Tr. semiundulata (Fig. 39) genügt, um zu erken- nen, daß letztere, obgleich sie eine Mittelform ist, doch nicht als Vorfahr von pectinata gelten = kann. Zudem kommen in ter- Fig. 40. Trigonia Howitti Me. Coy. Miozän. tiären Schichten auch schon ee me: ee cn) Pectinaten vor, wie Tr. Ho- with (Fig. 40), die ebenfalls auf einem andern Wege als durch Tr. semiundulata aus den Costaten entstanden sein muß. Wir müssen aus diesen Tatsachen schließen, daß sich der Übergang der älteren Gruppe in die jüngere nicht durch Abspaltung einer Art, die die neuen Merkmale allein erhält, sondern auf mehreren parallel laufenden Linien (ich kenne deren vier), vielleicht gar im ganzen Bereiche der vorhandenen Arten oder Varie- täten, vollzogen hat. Wir erhalten dann folgendes Bild von dem genetischen Zusammenhange der Oostaten und Pectinaten: 102 Schizodonten. 1 2 3 4 Gruppe der Trigoniae pectinatae car 2er achE|olc Lebend. Gruppe der Trigoniae semiundulatae 1b |2b |3b |4b Tertiär. Gruppe der Trigoniae costatae ia 2a Sa da Jura und Kreide. Wollten wir also den wirklichen genetischen Zusammenhang in der Benennung zum Ausdruck bringen, so dürfen wir nicht, wie es in der Systematik üblich ist, alle costaten Formen des Jura und der Kreide zu einer Einheit (Gruppe, Untergattung oder Gattung), alle semiundulaten des Tertiärs zu einer zweiten und alle pectinaten des Tertiärs und der Gegenwart zu einer dritten zusammenfassen, sondern wir müßten alle Mutationen a, b, c jeder der vier nach- gewiesenen Stammreihen 1, 2, 3, 4 nach den sie unterscheidenden, aber wenig hervortretenden Merkmalen der Skulptur, Form, Größe usw. zu trennen suchen und la, 1b, lc unter einem, 2a, 2b, 2ce unter einem andern Namen vereinigen usw. Diese Stammreihen schneiden sich dann mit den Stufen (d. h. systematischen Gruppen), sie laufen durch diese hindurch, und die Systematik, weit davon entfernt, uns ein Bild der Abstammung zu liefern, verhüllt und fälscht es geradezu, denn die systematischen Gruppen sind Entwicklungsstufen, die von verschiedenen Reihen in gleichem Sinne der Änderung, aber ver- schieden rasch durchlaufen werden. Nur dieser kleine Stamm der mesozoischen Trigonien hat sich also bis in die Gegenwart erhalten, und zwar nicht auf dem Wege der Absonderung einer neuen Entwicklungsrichtung, sondern durch gleichsinnig gerichtete Umbildung mehrerer, vielleicht gar aller seiner Vertreter. Was ist nun aus der großen Schar.der übrigen Trigonien geworden? Sind sie, wie man gewöhnlich meint, ausgestorben, oder haben sich von ihnen auch noch Nachkommen bis in die Gegenwart erhalten? Auf diese Frage hat schon im Jahre 1819 LAamArck in seiner «Histoire naturelle des animaux sans vert@bre» eine Antwort zu geben versucht. Nachdem er die Trigonien behandelt, beschreibt er eine in Brasilien einheimische Flußmuschel unter dem Namen Castalia und betont, daß sie den Habitus einer Trigonia besitze, daß ihre Schloßzähne genau die Art der Kerbung aufweisen, wie sie den Tri- gonien zukommt, daß aber die Stellung und Zahl der Zähne mehr derjenigen der Süßwassermuscheln der Najaden (oder Unioniden) Schizodonten. 03 glichen. Sie könne daher keiner von beiden Gattungen zugewiesen werden, sondern «elle parait moyenne entre eux, forme une sorte de transition de l’un ä l’autre». In der Tat ist die Übereinstimmung nicht nur in der Beschaffenheit des Schlosses wie sie Fig. 41 und Fig. 42 zeigt, sondern auch in der Struktur der Schale und in der Ver- teilung der Muskeleindrücke so überraschend groß, unbeschadet der ebenfalls augenfälligen Abweichungen, daß man begreift, wie 70 Jahre später NEUMAYR zu dem gleichen Ergebnis kommen konnte, ohne von Lamarcks Ausführungen etwas zu wissen. Aber zunächst ging man auf dem Wege, den Lamarck eingeschlagen hatte, nicht weiter. Denn der ausgezeichnete Oonchologe Desmavzs bezeichnete in seinem Figg. 41 und 42. Vergleich des Schlosses von Trigonia (Fig. 41) und Castalia (Fig. 42). B rechte, C linke Klappe. Die entsprechenden Teile sind mit gleichen Buchstaben be- zeichnet. 2 Band; m, m’ vorderer Schließmuskeleindruck ; mf, m’f vorderer Fußmuskel- eindruck; mzı, mz’; vorderer Leistenzahn; mza Mittelzahn der linken Klappe, bei Castalia zerrissen und in sekundäre Zähnchen (y) aufgelöst; x die mit y korrespondie- renden Elemente der rechten Klappe; mz’a hinterer Leistenzahn der rechten, mz3 der linken Klappe; n, n’ hinterer Schließmuskeleindruck ; nf, n’f hinterer Fußmuskeleindruck. «Traite elementaire de Conchyliologie>, 1850, die LamAarcksche Auf- fassung zwar als eine «idee, fort ingenieuse sans doute», wies sie aber zurück, weil man zwischen den Tieren von Trigonia und Castalia gewisse Unterschiede gefunden hatte. Als NEUMAYR von neuem zu beweisen versuchte, daß die Unionen auf Trigonia zurückgehen, trug er ver allem der Tatsache Rech- nung, daß damals die ältesten Vertreter der Unionen aus dem Jura bekannt waren; mithin mußten ihre Vorfahren in altjurassischen oder noch älteren Trigonien gesucht werden, wenn diese Süßwasser- muscheln nur ein einziges Mal aus marinen Vorfahren entstanden waren, wie das damals allgemein angenommen wurde und auch noch heute ohne Prüfung als selbstverständlich betrachtet wird. Da ferner die ältesten damals bekannten Unionen unverzierte Schalen be- sitzen, die jüngeren, namentlich die tertiären und lebenden, vielfach 104. Schizodonten. reiche Verzierungen aufweisen, die zum Teil eine überraschende Ähn- lichkeit mit solchen der jüngeren Trigonien besitzen, so sah er sich zu der Annahme genötigt, daß sich diese Verzierungen bei den Unionen neu gebildet hätten; er erblickte in einer solchen ähn- lich gerichteten Variabilität bei beiden Familien nur einen Beweis für die natürliche Verwandtschaft. Es war gewissermaßen eine in dem ganzen Stamme schlummernde »Tendenz« zur Herausbildung eigen- artiger Skulpturen, wie wir sie von anderen Muscheln überhaupt nicht kennen, unabhängig sowohl in den marinen Trigonien wie in den von ihnen abgezweigsten Unionen zur Entwicklung gelangt. Hier- nach hätte man dann allerdings auch erwarten dürfen, daß sich bei den Unionen in ähnlicher Weise wie bei ihren marinen Verwandten die eigenartigen, zum Teil sehr verwickelten Skulpturen, wie sie nur in diesen beiden Familien auftreten, im Laufe der Zeit allmäh- lich herausbilden. Diese Voraussetzung erfüllt sich aber nicht. Es bedarf nicht einmal eines besonderen Beobachtertalents, um zu erkennen, daß die Skulpturen der Unionen überall in Rückbildung begriffen sind, bei lebenden wie bei fossilen. Neumayrs Ableitung hat daher den Beifall andrer Forscher ebensowenig zu erringen vermocht, wie LamArcks erster Versuch in dieser Richtung. Zudem fanden andre Forscher in noch älteren Schichten als im Jura Übergänge zwischen den Vorfahren der Tri- gonien, den noch mit ungekerbten Zähnen versehenen Myo- phorien der Trias, und den Unionen der gleichen Zeit, ebenso in palaeozoischen Formationen, und da die Vorstellungen aller Forscher ganz in dem hypnotischen Banne der Monophylesie der Familien und Gattungen standen, so konnte ihrer Ansicht nach nur ein Übergang möglich sein. Der schwache Punkt im NeumArrschen Versuche liegt aber wie bemerkt in ganz andrer Richtung. Die Ver- zierungen der Unionen ähneln den Trigonien-Skulpturen außer- ordentlich. Man kann sich aber leicht durch die Betrachtung einer Reihe verzierter Unionen davon überzeugen, daß sie bei ihnen nicht neu entstanden, sondern vererbt sind. Wie bei allen Süßwasser- mollusken gehen auch bei den Unionen die Verzierungen, die sie von ihren marinen Vorfahren etwa überkommen haben, mehr oder weniger rasch zurück, und daher besitzen sehr viele Arten im Jugendstadium noch Skulpturen, verlieren sie aber beim späteren Wachstum. Das zeigen z. B. die Figuren 48—52, S. 106—108 ganz deutlich. Ferner ist zu be- merken, daß die Skulpturen im Jugendstadium gewöhnlich die größte Übereinstimmung mit den ähnlichen Bildungen der Trigonien auf- weisen, während sie später mehr oder weniger unregelmäßig werden und Schizodonten. 105 »degenerieren« (Fig. 48). Auf Grund dieser Tatsachen gelang mir (1890) ohne Schwierigkeit der Nachweis, daß »sich gewisse Unionen nach Gestalt und Verzierung der Schale auf bestimmte Gruppen von Trigonien zurückführen lassen«, und danach hatte die » Umwand- lung der Trigonien zu Unionen nicht nur einmal, sondern zu wieder- holten Malen und bei verschiedenen Gruppen der Trigonien Platz gegriffen«. Hiervon wollen wir uns zunächst überzeugen. Fig. 43. Fig. 44. Fig. 45. Eine Trigonie, deren Rippen in zwei ungleiche Schenkel, einen schwächeren vorderen und einen stärkeren hinteren zerfallen sind (Tr. navis. Jura. — Rechte Klappe). Fig. 44. Eine Trigonie mit geknoteten, schräg nach vorwärts und abwärts laufenden Rippen. Der hintere Ast allein entwickelt (Tr. elavellata. Jura. — Linke Klappe). (Aus STEINMANN-DÜDERLEIN: Elem. d. Pal.) Fig. 45. Fig. 46. a 1 1 Fig. 45. Trigonia spinosa Park. Cenoman. England. Linke Klappe. (Nach Lvcrrr.) Fig. 46. Unio Kleinii Lea. Rezent. China. Linke Klappe. (Orig. d. Freiburger geol. Samml.) a Area; ar Arealrippen; k—k Arealkante. Zahlreiche Trigonien des Jura und der Kreide besitzen nur in allerfrühester Jugend regelmäßig konzentrische Rippen auf dem Vorderteile der Schale, wie die oben behandelte Gruppe der Oosta- ten (Fig. 38). Vielmehr erhalten die Rippen sehr bald etwas vor ihrer Mitte einen Knick nach unten (Fig. 47) und zerfallen dadurch in einen schwächeren, vorderen Ast (r’) und einen stärkeren, hinteren (r), die in 106 Schizodonten. einem Bogen oder unter spitzem Winkel zusammentreffen (Fig. 43, 47). Vielfach verschwindet der vordere Ast vollständig (Fig. 44, 45), und dann laufen die in Knoten aufgelösten Rippen von der Arealkante (X) bogenförmig gegen den Vorder- und Unterrand, wie bei der Gruppe der Clavellatae. In der Kreide tritt bei solchen Formen noch ein anderes, nicht minder auffälliges Merkmal hinzu. Auch die hin- tere Fläche der Schale, die sog. Area (Fig. 45a), erhält schräg von der Arealkante (k) nach hinten und abwärts laufende Rippen, so daß nun eine ausgesprochen fiedrige Anordnung aller Rippen hervor- tritt. Ohne Schwierigkeit finden wir unter den heutigen Unionen Formen mit der gleichen sonderbaren Skulptur, wie Unio Kleiniki aus China (Fig. 46). Die Skulptur fehlt zwar vorn, wo sie bei den Unionen immer zuerst verschwindet, schon ganz und zeigt auch schon Fig. 48. Fig. 47. Trigonia literata Y.u.B. Ob. Lias. England. Rechte Klappe. (Nach Lycerr.) Fig. 45. Hyria rugosissima. Lebend. Brasilien. Rechte Klappe. (Orig. d. Freiburger geol. Samml.) @ Area; ar Arealrippen ; k—k Arealkante; mf Mittelfurchen; r absteigender, r' aufsteigender Schenkel der Rippen; x unregelmäßige Rippen des Vorderteils der Schale. Spuren von »Degeneration«, z. B. Abschwächung der Knoten, stimmt sonst aber vollständig mit der von Trigonia spinosa aus der Kreide überein. Am deutlichsten tritt die V-förmige Knickung der Rippen bei einer andren Trigonia-Gruppe hervor, die besonders im Jura ver- breitet ist. Fig. 47 zeigt uns einen typischen Vertreter der Gruppe der V-costatae. Der von der Arealkante absteigende Rippenast (r) ist stark geschwollen, der aufsteigende Vorderast (»’) ist dünner; beide treffen unter sehr spitzem Winkel zusammen. Am Vorderrande werden die Rippen unregelmäßig (x). Nun vergleiche man damit die nebenstehende Figur 48 einer Unione (Hyria) aus Brasilien: dieselben Elemente der Skulptur in kaum geänderter Ausführung; insbesondere ist das Verhältnis der beiden Rippenäste das gleiche, selbst die Un- regelmäßigkeit der Berippung am Vorderrande ist ähnlich. Nur auf Schizodonten. 107 der Area (a) sind einige schräg verlaufende Rippen (ar) hinzugekommen, die wie wir wissen bei den Trigonien in jüngerer Zeit viel- fach erscheinen. Diese Arealrippen sind auch keineswegs bei allen Hyrien vorhanden; sie fehlen z. B. bei H. corrugata (Fig. 49). Diese zeigt, wie schon oben bemerkt, deutlich den Rückgang der Skulptur, der sich bei den Süßwasserbewohnern im Laufe der Zeit regelmäßig einstellt. Zugleich kommt im vorliegenden Falle der Zusammenhang der beiden Äste an den späteren, äußeren Rippen zum Verschwin- den, so daß diese nun als unverbundene Stücke vor und hinter den V-förmig geknickten älteren Rippen (r—r’) fast parallel und scheinbar in radialer Richtung über die Schale laufen. Diese Änderungen sind aber deshalb wichtig, weil sie uns die eigenartigen Fig. 49. Fig. 50. Fig. 49. Hyria corrugata. Fig. 50. Castalia ambigua. Rezent. Brasilien. Rechte Klappe. (Orig. d. Freiburger geol. Samml.) a Area; ar Arealrippe; k—k Arealkante; mf Mittel- furchen; r absteigender, r’ aufsteigender Schenkel der Rippen. Diese Figuren zeigen, daß die Skulptur von Castalia wie die von Hyria auf die V-förmig gekniekten Rippen der Trigonien zurückgeht. In Fig. 50 ist besonders das fiederförmige Abstoßen der Rippen (r) von der Arealkante deutlich zu sehen; ebenso wie die Mittelfurche von Castalia derjenigen von Hyria entspricht. Skulpturen der Castalien (Fig. 50) verstehen lehren, die für La- MARCK und Nrumayr den Ausgangspunkt zu ihren phylogenetischen Versuchen abgaben. Die Skulptur der Castalien ist nämlich insofern eigenartig und von der anderer Unionen verschieden, als die Schale von breiten, kürzeren oder längeren, anscheinend radial laufenden Rippen bedeckt wird, die durch schmale, tiefe Furchen getrennt werden (Fig. 50—52). Selbst Conchologen von Ruf, wie Inerıng, haben sich hierdurch täuschen lassen und die Rippen als radiale bezeichnet, was sie aber nur bei flüchtiger Betrachtung zu sein scheinen. Denn an solchen Stücken von Castalia ambigua, wie sie in Fig. 50 dargestellt sind, beobachtet man noch deutlich das spitzwinkelige Abstoßen der Rippen 108 Schizodonten. von der Arealkante (%), was mit radialer Berippung unvereinbar ist. Ferner erkennt man deutlich das Vorhandensein einer mittleren, un- paaren Furche zwischen den Rippen (mf) und die symmetrische Anordnung der Rippen zu dieser Mittelfurche. Diese eigen- artige Skulptur erklärt sich sehr leicht und einfach durch Vergleich mit der noch ausgesprochen V-förmigen von Hyria (Fig. 49). Man braucht nur die Rippenäste dieser Form noch etwas stärker nach unten divergieren und oben stärker aneinander rücken zu lassen, um die Berippung von Uastalia zu erhalten. Durch weitere Reduktion der Verzierung kommen dann die Berippungen zustande, wie sie uns die Figuren 51 und 52 zeigen. Die Skulptur von Castalts ist also nicht radial, sondern durch allmähliche Änderung aus der V-Ver- zierung entstanden, wie sie sich zur Jura- und Kreidezeit bei den Fig. 52. Fig. 51. Castalia ambigua. Fig.5%. Castalia undosa. Rezent. Brasilien. (Orig. d. Freiburger geol. Samml.) a Area; ar Arealrippen ; mf Mittelfurche; r absteigender, r’ aufsteigender Ast der Rippen. Diese Figuren zeigen im V ergleich mit Fig. 49 u. 50 das Zurücktreten der ursprünglichen Trigonien- -Skulptur und den damit verknüpften scheinbar radialen, in Wirklichkeit V-förmigen Verlauf der Rippen. marinen Vorfahren ausgebildet hat und auf ihre fluviatilen Nach- kommen vererbt worden ist. Bei diesen ist sie im Verschwinden begriffen, läßt sich aber selbst in dieser verkümmerten Ausbildung immer noch als ein Erbstück von den marinen Vorgängern nachweisen und nur als solches überhaupt verstehen. Ebenso liegt aber das Verhältnis beim Schloß (Fig. 41, 42). Denn erst zur Triaszeit erhalten einige Vorläufer der Trigonien gekerbte Zähne, wie sie das bezeichnende Merkmal aller Trigonien vom Jura bis zur Gegen- wart bilden. Aus der vollständigen Übereinstimmung der einzelnen Elemente des Schlosses zwischen Trigonia und Castalia (vgl. Fig. 41, 42) muß man mit gleicher Bestimmtheit wie bei den Skulpturen auf Vererbung und auf einen unmittelbaren genetischen Zusammen- Schizodonten. 109 hang schließen. Wie sich die Skulpturen beim Übergange zur fluvia- tilen Lebensweise allmählich verlieren, so verändert sich auch das Schloß, indem sich die Zähne zerteilen, verlängern (Fig. 42), unregel- mäßig werden und späterhin mehr oder weniger verschwinden. Allein die Veränderung der beiden Merk- male, die in extremer Ausbildung eine scharfe Grenze zwischen Tri- sonien und Unionen abgeben, geht keineswegs genau parallel. Denn Hyria hat zwar die Skulptur der Trigonien mit V-förmigen Rippen ziemlich genau bewahrt, aber ihr Schloß ist schon in langgestreckte Leisten zerrissen (ähnlich Fig. 53), an denen kaum noch Spuren von der ni ee a Kerbung der Trigoniazähne wahr- Dreieckzahn von Trigonia, dessen beide zunehmen sind. Bei Castalia ist um- ge ln: gekehrt die Skulptur stark verändert sind verschwunden, (Aus Sremmann- (Fig. 50-52), während das Schloß Ban) nur geringe Modifikationen aufweist (Fig.42). Man kann deshalb auch die lebenden Uastalien nicht von den lebenden Hyrien ableiten, sondern wird zu einem gesonderten Ursprung aus verschiedenen Arten Fig. 54. Unio (Loxopleurus) belliplicatus Meek. Obere Kreide. (Bear River Laramie.) Wyoming. (Nach WnıteE.) Linke Klappe. A von oben, B von der Seite. r absteigender, r’ aufsteigender Schenkel der V-förmigen Rippen. Vgl. dazu Fig. 48. von Trigonien mit V-förmiger Berippung gedrängt, wofür auch die Unterschiede in der Gestalt der Wirbel, in der Beschaffenheit der Arealkante usw. sprechen. Unzweifelhaft wird die polyphyletische 110 Schizodonten. Abstammung der Unionen mit V-Skulptur aber durch die Tatsache, daß schon zur Zeit der jüngeren Kreide solche Arten Unionen in Nordamerika bestanden haben, die aber durch ihre langgestreckte Form und durch Drehung der Skulptur eine wohl getrennte Gruppe vor- stellen (Fig. 54), für die MEER den besonderen Namen Loxopleurus in Vorschlag gebracht hat. Weder Hyria noch Oastalia können als Abkömmlinge dieser Kreide-Unionen betrachtet werden. Ich fasse zunächst zusammen, was sich aus den obigen Betrach- tungen an Schizodonten ergibt: Die Umwandlung einer Gruppe (Costatae) in eine andre jüngere (Pectinatae) der gleichen Gattung ist nicht durch Auslese und Ab- spaltung einer Art, die allein die Merkmale der jüngeren annimmt und damit zu ihrem Ausgangspunkte wird, vor sich gegangen, son- dern sie ist erfolgt durch Umbildung zahlreicher, vielleicht aller Arten in gleichem Sinne. Ebenso entsteht aus einer älteren marinen Gattung (Trigonia) eine jüngere (Unio) nicht nur auf einer Linie, sondern auf mehreren!). Es werden mehrere Gruppen der marinen Gattung zu entsprechenden der fluviatilen. Aber auch innerhalb dieser (Gruppen geht die Umbildung zur neuen Gattung offenbar auf ver- schiedenen Linien vor sich, und wesentlich in gleichem Sinne; jedoch nicht gleichzeitig, sondern auf jeder Linie unabhängig. So bestätigt sich vollständig der genetische Zusammenhang zwi- schen Trigonien und gewissen Unionen, wie ihn LAmARcK zuerst erkannt und NeumAyr ihn wieder ermittelt hatte. Nur gestaltet sich der Vorgang anders, als ihn Neumayr vermutete und als er sonst allgemein angenommen wird. Die neue Gattung entsteht aus der älteren nicht durch Abspaltung, sondern durch gleichsinnige Fort- bildung zahlreicher Arten. Es ist nicht ein Vorgang, der sich ge- legentlich einmal abspielt, sondern eine Umbildung, die sich häufig und immer wesentlich in gleichem Sinne vollzieht, wo- bei sich aber die einzelnen Merkmale nicht immer in gleichem Tempo abwandeln. Die Umbildung auf verschiedenen Linien läßt sich an den Skulpturen (und an anderen Merkmalen, wie Schalenform, Schalen- 1) Ich bemerke, daß ich hier, um nicht zu ausführlich zu werden, nur zwei Trigonien-Gruppen in ihre Unionen-Nachkommenschaft verfolgt habe, daß aber dasselbe für mehrere andre Gruppen gerade so leicht möglich ist, z. B. bei der Gruppe der Quadratae; ferner ist der Zusammenhang ganz evident, der zwischen den ungewöhnlich großen und ganz glatten Trigonien des obersten Jura (Portland) Europas, wie 7r. glabra, und zwischen Unio waldensis aus den zeitlich darauffolgenden Wealdschichten derselben Region besteht. Schizodonten. E11 dicke, usw.) verfolgen, die zwar auch einem Wechsel unterworfen sind, die aber noch lange in ihrer bezeichnenden Ausprägung er- halten bleiben und dadurch leitend für die Verfolgung des phylogeneti- schen Zusammenhangs werden. Wenn nun, wie wir gesehen haben, zahlreiche Unionen aus den Trigonien der Jura- und Kreidezeit hervorgegangen sind, wie steht es dann mit der Behauptung anderer Forscher, die den gleichen Vor- gang schon in früheren Zeiten festgestellt haben wollen? Ich meine, sie vertreten ihre Ansicht mit ebensoviel oder ebensowenig Recht, wie es NeumaAyr tat. Denn die Tatsachen liegen folgendermaßen: Abgesehen von älteren, etwas zweifelhaften Funden kennen wir die erste reichhaltige Fauna von Süßwassermuscheln aus der jüngeren Steinkohlenzeit, deren Süßwasserbildungen in verschiedenen Gegenden reich daran sind. Diese älteren Süßwassermuscheln gehören der Hauptsache nach zwei Familien an, denselben, die auch heute unter den Süßwassermuscheln eine hervorragende Stelle einnehmen, den Familien der Unioniden und Mytiliden. Die als Oarbonicola und Anthracomya bekannten Gattungen stellt man zu den Unio- niden, und sie sind von den jüngeren Vertretern dieser Familie, im besonderen von den beiden heutigen Gattungen Unio (mit Schloß) und Anodonta (ohne Schloß), kaum irgendwie unterscheidbar. Ihre Schalen zeigen denselben Umriß und Habitus, dieselbe Art der Fuß- muskeleindrücke und auch eine Veränderlichkeit der Schloßmerkmale, wie sie bei den jüngeren Vertretern ähnlich, aber meist noch aus- geprägter vorkommt. Aber es fehlen ihnen zwei Merkmale, die einem sroßen Teile der tertiären und heutigen Unionen eigen sind: sie besitzen keine Schalenverzierungen und ihre Schloßzähne sind nie gekerbt. Und das muß auch so sein, wenn die Auf- fassung von der Phylogenie der Unionen zutrifft, die ich soeben entwickelt habe. Denn danach muß angenommen werden, dal diese älteren Unionen ebenfalls auf marine Vorfahren des Schizodonten- stammes zurückgehen, und natürlich auf paläozoische, d. h. alt- karbonische oder devonische. Diese sind aber fast ausnahmslos un- verziert, und ihre Schloßzähne entbehren durchaus der Kerbung, die erst von der Trias an im Schizodontenstamme er- scheint. Ebenso verhalten sich die permischen Unionen, die sich außerdem noch durch eine ähnlich große Variabilität in der Schloß- bildung auszeichnen wie die heutigen und tertiären Vertreter. Auch sie werden vom Stamme der Trigonien abgeleitet, und es ist bei der weitgehenden Übereinstimmung zwischen beiden auch nicht 112 Schizodonten. ersichtlich, welche anderen Meeresmuscheln mit Recht als ihre Vor- fahren angesprochen werden könnten. Ferner hat man eine sehr vollständige Übergangsreihe zwischen den marinen Myophorien, den Vorläufern der Trigonien, und unionenartigen Muscheln, der Gattung Trigonodus zugehörig, in den Schichten der alpinen Trias ermittelt, so daß alle Forscher, die sich mit diesen Fossilien beschäftigt haben, übereinstimmend zu dem Ergebnis gelangen, daß hier die Umbildung unanfechtbar festgestellt sei. Auch zu dieser Zeit fehlten den meisten Vertretern des Tri- gonidenstammes noch die Verzierungen und die Kerbung der Zähne, und darum zeigen auch die aus ihnen entstandenen Unionen nichts davon. Nach unseren heutigen Erfahrungen stellt sich nun die Geschichte des Schizodontenstammes folgendermaßen dar. Zur Devonzeit tritt uns dieser Stamm in der Form von Meeresmuscheln des Flachwassers schon mit einer nicht unbeträchtlichen Formenfülle entgegen, und diese nimmt bis gegen Ende der mesozoischen Zeit immer mehr, aber ganz allmählich, zu. Dabei lassen sich schon vom Devon, noch besser aber vom Karbon an mehrere getrennte Gruppen neben- einander in ungefähr gleichlaufendem Entwicklungsgange verfolgen. Die allgemeinen Veränderungen, welche wir an den Meeres- bewohnern (Trigoniden) im Laufe der Zeit wahrnehmen, sind folgende: 1. Die Größe der Tiere nimmt ganz allgemein und langsam zu. 2. Die ursprünglich glatten Schalen erhalten Verzierungen der verschiedensten Art, und dieser Vorgang greift in immer mehr Formenreihen Platz, so daß unter den Formen des Jura und der Kreide nur noch wenige unverzierte zu finden sind. 3. Das Schloß wird im Laufe der Zeit immer stärker, die Klappenbewegung dadurch gesicherter, und eine Querkerbung der Schloßzähne stellt sich in der Trias bei einigen, bald aber bei allen Formen ein, so daß vom unteren Jura an nur noch Vertreter mit Kerbzähnen bekannt sind. 4. Mit Ende der Kreide sind alle marinen Vertreter (soweit wir das heute wissen) verschwunden; nur eine Gruppe setzt, auf Australien beschränkt, bis heute fort und lebt dort in etwa acht Arten. . Zu verschiedenen Zeiten vom Karbon bis ins Tertiär (?) ent- stehen aus den Meeresbewohnern Süßwasserformen. Diese behalten manche Merkmale ihrer marinen Stammformen voll- ständig bei, namentlich [ub} | Schizodonten. 113 a) die Perlmutterschicht der Schale, b) die Beschaffenheit der Muskulatur (in der nur gewisse früher vereinigte Muskelstränge sich trennen). Andere Merkmale ändern sich nur allmählich: «@) Das Schloß zerreißt mehr oder weniger, und schließlich werden die Zähne rudimentär und verschwinden zuweilen ganz. 8) Die etwa vorhandenen Skulpturen verlieren sich nach und nach, werden dabei oft unregelmäßig und intermittierend. y) Die Schale wird allmählich dünner. Eine dritte Klasse von Merkmalen ändert sich sogleich beim Übergange ins Süßwasser. A. Der Wirbel dreht sich nach vorn (statt nach hinten). B. Die Schale verbreitert sich am Oberrande und rundet sich allgemein zu. C. Der unelastische Teil des Ligaments dehnt sich auf die Region vor dem Wirbel aus. D. Die Schale erhält eine grüne Epidermis. Innerhalb des Unionenstadiums sehen wir sodann folgende Änderungen eintreten. Den marinen Ausgangsformen steht die Gattung Unio (nebst den gleichwertigen Gattungen Castalia, Hyria, Iridina, Pleiodon usw.) am nächsten; denn die Schale bleibt dick, und Schloßzähne und Verzierungen sind in sehr wechselnder Ge- staltung vorhanden; sie leben in Flüssen (ausnahmsweise in Seen — Tanganjıka). Bei der Gattung Anodonta (und den gleichwertigen Gattungen Spatha, Glabaris usw.) verschwinden die Zähne und Verzierungen, und die Schale wird dünn; derartige Formen leben in Teichen und Seen (ausnahmsweise in Flüssen). Es liegt auf der Hand, daß diese Unterschiede auf Rechnung der stärker geänderten Lebens- weise bei den Anodonten zu setzen sind. Eine dicke Schale, reiche Skulpturen und starke Schloßzähne sind bezeichnende Eigenschaften derjenigen Muscheltiere, die in flachem, stark bewegstem Wasser leben und daher den marinen Trigoniden in höchstem Maße eigen. Mit dem Übergang solcher Tiere in die Flüsse erfahren diese Merk- male naturgemäß eine Abschwächung, da die Tiere auf dem Boden und im Schlamme der Flüsse einer viel geringeren Bewegung des Wassers ausgesetzt sind. Mit dem Übergang zur limnischen Lebens- weise verschwinden diese Merkmale aber, soweit es angeht, vollständig, weil die Bewegung des Wassers ganz aufhört. Wir können daher auch verstehen, daß, wo flußbewohnende Unionen in Teiche oder Seen übergingen, gesetzmäßig aus ihnen Anodonten geworden sind. Es ist daher für letztere eine oft wiederholte, polyphyletische Steinmann, Abstammungslehre. S 114 Schizodonten. Entstehung aus Unionen außerordentlich wahrscheinlich, ebenso wie für die Unionen eine solche aus Trigoniden. So sagt auch v. IHERING, der zwar die Gattung Unio von einer radial gerippten (!) Urform ableitet: »Wenn Anodonta das Endprodukt eines Umwand- _ lungsprozesses darstellt, so kann es offenbar mehrmals und von ver- schiedenen Seiten her zur Ausbildung dieser Form gekommen sein.« Wir sehen ja auch, wie schon zur Karbon- und Permzeit in engem Anschluß an die eben entstandenen Unionen (Oarbonicola) schloßlose und dünnschalige Teichmuscheln erscheinen, wie Anthra- comya und Paläanodonta, während die Anodonten der Tertiär- zeit und Gegenwart z. T. offenbar auf die großen und verzierten Unionen zurückgehen, da ihre Schalen in frühester Jugend noch Spuren von entsprechenden Verzierungen aufweisen und sie sich in ihren Verbreitungsgebieten vielfach an ganz ähnliche Unionen aufs engste anschließen. Ich komme also zu dem Schlusse: die im heutigen System der Muscheltiere unterschiedenen Familien der Trigoniden und Unioniden, desgleichen dieum Trigonia, Unio und Anodonta gruppierten Gattungen besitzen in phylogenetischem Sinne nur die Bedeutung von Stufen, nicht von Stammreihen. Die Ge- schichte des Schizodontenstammes hat sich daher in ganz anderem Sinne abgespielt, als die Systematik sie vorzeichnet. Die schon zur Devonzeit vorhandenen Stammreihen haben sich unter Beibehaltung der gleichen Lebensweise zum größten Teil aus dem Myophoria- stadıum in das Trigoniastadium umgewandelt, aber nur eine kon- servative Stammreihe persistiert bis heute. Von den übrigen Stamm- reihen ist infolge geologischer Vorgänge, im besonderen durch Aus- süßung der von ihnen bewohnten Küstengebiete, die eine früher, die andere später zu Flußbewohnern geworden und immer in bestimmten Merkmalen verändert worden. Nach diesen unterscheidenden Merk- malen trennen wir die Gesamtheit der an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten entstandenen Süßwasserformen als eine gesonderte Familieder Unionidenab. Wo die Flußbewohner, die als Unio usw. bezeichnet werden, zu Teichbewohnern wurden, entstanden wiederum neue Merkmale, und nach diesen trennen wir die Gattungen Ano- donta usw. ab, deren einzelne Vertreter ebenfalls zu ganz ver- schiedenen Zeiten und in ganz verschiedenen Gegenden aus der Gattung Unio hervorgegangen sind. Um dem Leser den Kern meiner Darlegungen in einem leicht übersichtlichen Bilde vor Augen zu führen, habe ich das neben- stehende Schema von der Stammesgeschichte der Schizodonten > 11 Schizodonten. "Msn BIUOSTIL \ » 919TISIIIIN 9pu9ugonag IISSLAUILLT "Asn orun :puoqof UIOSST MH uopuagaıy Ur PUas9InIo A .eo2oa0eo0000 L ' j j ı ı Unioniden "Asn 84uopouy :puogoL UIOSSEMAH) 1OPU9y9J8 Ur pu9garmıoA geoeea&) ».° See nun en on lereinle/ aleleicnQioleneNenenioieknineän 1 104 1 1 7 --iFiF-,- -I- -I- H-r-f#- = Re EN ST Au Eh: og DJUOPoUy Y N evmnyod NuDmusbary -u9FUOPOZIJIS AOp wneqwwegg 116 Veränderlichkeit. entworfen (Fig. 55). Um es nicht zu verwickelt zu gestalten, sind nur einige Stämme und diese nur in spärlicher Verzweigung gezeichnet, das Bild gibt deshalb keinen Begriff von dem ungeheuren Formenschatz der Meeres- wie der Süßwasserformen. Aber deutlich tritt daran hervor, was ich als Durchkreuzung der systematischen und phylo- genetischen Kategorien bezeichne. Das Bild bringt ferner eine Vorstellung zum Ausdruck, die vielen überraschend erscheinen wird, nämlich die geringe Zahl ausgestorbener, oder richtiger gesagt — erloschener Stammreihen. Gelten doch die Myophorien und Tri- gonien als ausgestorben bis auf die wenigen rezenten Pectinaten. Nach den obigen Auseinandersetzungen, die, wie ich meine, über- zeugend wirken, ist das ganz und gar unwahrscheinlich. Es läßt sich kein plausibler Grund für das Verschwinden einer größeren Zahl mariner Schizodonten (Trigoniden) finden, dagegen dürften die Süßwasserformen, wie ich früher (S. 27) dargelegt habe, dieser Ge- fahr in viel höherem Maße ausgesetzt gewesen sein, da jeder tief- greifende Klimawechsel ihre Lebensbedingungen stark ändert und das Fortbestehen der Arten von geringer Verbreitung in Frage stellt. Es ist auch tatsächlich erwiesen, daß von den tertiären Unionen viele erloschen sind. Daher habe ich es fraglich gelassen, ob unter den heutigen Unionen noch Nachkommen der paläozoischen exi- stieren. Diese könnten höchstens unter den spärlichen Formen zu suchen sein, die auch im Jugendstadium keinerlei Verzierung auf- weisen, da die paläozoischen ganz glatt sind und die Verzierungen der Muscheln im Süßwasser allgemein verschwinden, aber nicht neu entstehen. An den Entwicklungsgang der Schizodonten knüpfen sich mehrere Fragen von allgemeiner Bedeutung. Von diesen will ich zwei noch kurz erörtern. 1. Die Veränderlichkeit. Die meisten Vertreter der Schizo- donten zeichnen sich durch einen hohen Grad von Veränderlichkeit aus, doch wechselt die Variationsbreite in weiten Grenzen. Bei den unverzierten Meeresformen ist sie im allgemeinen geringer als bei den verzierten, und das erklärt sich einerseits daraus, daß wir an verzierten eben ein oder mehrere Unterscheidungsmerkmale mehr wahrnehmen können, als an unverzierten, andrerseits aus dem Umstande, daß die Verzierungen im Laufe der Zeit in vielen Reihen einem gesetzmäßigen Wechsel unterworfen sind, wie ich es bereits (S.105ff) geschildert habe. Die ursprünglich einfachen, konzentrischen Rippen erhalten im Laufe der Zeit eine Knickung von der Form eines V, und dieser Vorgang wird vielfach zugleich von einer Auf- Veränderlichkeit. ar lösung der Rippen in Knoten begleitet, jedoch so, daß sich bald das eine, bald das andre Merkmal früher oder stärker geltend macht. Dadurch ist die Möglichkeit zu zahlreichen Kombinationen gegeben. Denn wenn eine Art mit konzentrischen Rippen nach beiden Rich- tungen hin abzuändern beginnt, so kann bei einigen Individuen die Knickung rascher als bei andern erfolgen, und unabhängig davon kann die Auflösung der Rippen in Knoten verschieden schnell bei den Angehörigen der beiden Gruppen vor sich gehen. Treten dann noch die Variationen in Entfernung und Stärke der Rippen, sowie im Umriß der Schale hinzu, so kann ein Uhaos von Formen mit ge- bogenen oder geknickten Rippen entstehen. Schließlich gelangen die Änderungen, soweit sie durch Biegung und Knotung zum Ausdruck gelangen, zu einem gewissen Abschluß, indem nur noch der hintere, absteigende Ast der Rippe b erhalten bleibt, und die Rippen vollständig ge- knotet sind (siehe Fig. 44, 45, S. 105). Sind alle Varietäten bis zu diesem vereinfachten Zustande (Fig. 565) umgewandelt, so lassen sie sich nur sehr schwierig oder gar nicht mehr unterscheiden, und es besteht schließlich wieder nur eine, viel- leicht etwas variierende Form. Aber die unge- wöhnlich große Variabilität ist jetzt geschwunden, ohne daß der Stamm etwas andres als eine ge- ringe Änderung in ganz bestimmter Richtung er- fahren hätte, und ohne daß die Träger jener Mutationen (= scheinbaren Variationen) erloschen wären. Wollte ich diesen Vorgang, der sich an reichhaltigsem Trigonia- Material a bestimmt verfolgen läßt, hier belegen, so würde Fig.56. Schema zur Ver- ich ungezählte Abbildungen nötig haben, was nicht deWtlichung von unstän- digen, epistatischen Mu- gut angängig ist. Dennoch wollte ich ihn hier tationen bei Trigonia h hab : x spp und Unio. a Stammart; etont haben, weil er so verstanden den Begriff , qaurch Verschwinden der Veränderlichkeit für fossile und lebende Ir NEN ch * N: ; 2 ‚ ionen entstandene Kon- Geschöpfe klären hilft. Es ist eine Art un- vergenz-Großart. ständiger Variabilität in der Zeit (Fig. 56), die so entstandenen Formen sind zwar insgesamt Mutationen, aber sıe werden nur verursacht durch verschieden rasches Voranschreiten der. einzelnen Individuen einer Formenreihe, die sich nach dem gleichen Zu- stande hinbewegen. Man könnte, um Eımers Bezeichnung Epistase für das verschieden rasche orthogenetische Voranschreiten zu ver- wenden, von epistatischen Mutationen sprechen. Der eben 118 Probleme der Tiergeographie. angedeutete Vorgang kann sich natürlich in demselben Stamme auch mehrere Male wiederholen, wenn einige Individuen der Aus- gangsart längere Zeit im dem ursprünglichen Zustande verharren und erst später den Reizen ausgesetzt werden, die die Biegung oder Knotung der Rippen verursachen (Fig. 56). Das Endergebnis braucht dann schließlich doch nur eine Art oder ein Komplex äußerst ähn- licher Formen (a), eine Großart, zu sein, wie es in nebenstehendem Schema (Fig. 56) verdeutlicht ist. Als epistatische Mutation sind offenbar auch die zahllosen Ab- änderungen bei vielen verzierten Unionen der Vorzeit und Gegen- wart aufzufassen. Denn die von ihren marinen Vorfahren über- kommenen Merkmale der Verzierung und Schloßbildung werden ja durch den Übergang zum Siißwasserleben geändert und verkümmern schließlich bei den Anodonten ganz. Auf diesem Wege sind zahl- reiche Abstufungen der beiden Merkmale und zugleich verschieden- artige Verknüpfungen mit neu hinzutretenden (Umriß der Schale, Areal- rippen usw.) möglich. Wenn aber schließlich durch den Übergang zum Leben im stehenden Wasser alle oder fast alle Merkmale ver- schwinden, die für die Flußbewohner eine weitgehende Trennung in Arten gestatteten, so ergibt sich m Anodonta ein Konvergenz- typus, in dem zahlreiche und vielleicht sehr verschiedene Unionen, auch wohl solche von getrennter Abstammung aus verschiedenen Trigonien, enthalten sein können, ohne daß wir imstande sind, sie nach Arten oder Abarten zu trennen. So vereinfachen sich die Formen der Natur, ohne daß sie dabei tatsächlich verarmt. Aber dieser geschichtliche Vorgang läßt sich aus dem vollendeten Zu- stande nicht mehr ablesen. 2. Gewisse Probleme der Tiergeographie werden durch die hier dargelegte Art des Entwicklungsganges wesentlich mit beeinflußt. Es ist allgemein üblich, morphologisch nahestehende Arten von Süß- wasserbewohnern als aus einer Wurzel hervorgegangen zu betrachten und dementsprechend die Wanderungen festzulegen, die sie gemacht haben müssen, bis sie sich über das jeweilige größere Verbreitungsgebiet aus- gedehnt haben. Hiernach konstruiert man den früheren Zusammenhang von Festlandsmassen zu verschiedenen Zeiten. So hat NEuUMAYR aus der Verwandtschaft der jungtertiären Unionen Europas mit den heute in China lebenden auf eine Wanderung quer durch Asien geschlossen. v. Inerıng benutzt die Ähnlichkeit zwischen den Unionen Brasiliens und Afrikas, um die Ansicht zu vertreten, daß beide Gebiete noch zur älteren Tertiärzeit eine gemeinsame Festlandsmasse gebildet hätten. AMALITZKY läßt die permischen Unionen auf einem Festlande von Stammesgeschichte der Tier- und Pflanzenwelt. 119 Rußland nach Südafrika wandern, um das gleichzeitige Vorkommen außerordentlich ähnlicher Formen in beiden Gebieten zu erklären. Nach meiner Auffassung sind solche Schlüsse nicht zulässig. Denn wenn eine bestimmte Trigonidengruppe ein weites Ver- breitungsgebiet in den Meeren der Vorzeit besaß und an ver- schiedenen Orten ins Süßwasser gedrängt wurde, so müssen ganz ähnliche, vielleicht gar nicht unterscheidbare Arten von Unionen daraus entstanden sein. Diese beweisen dann aber nicht ohne weiteres den Zusammenhang der Festländer, auf denen sie vorkommen, sondern sie sprechen nur für eine frühe und ausgedehnte Verbreitung ihrer marinen Vorfahren. Alle drei angeführten Fälle dürften auf diese Weise die einfachste Erklärung finden !). VII. Zur Stammesgeschichte der Tier- und Pflanzenwelt. Das Beispiel der Entwicklung eines Molluskenstammes, das wir kennen gelernt, liefert gewisse Ergebnisse, die zwar mit vielen land- läufigen Auffassungen nicht übereinstimmen, aber doch nichts andres sind als der Ausdruck für tatsächlich stattgehabte Vorgänge. Mir will es wenigstens scheinen, als ob jede andre Deutung des reichen Materials von fossilen und lebenden Schizodonten, als die hier ge- botene, gekünstelt und unnatürlich sei.. Dabei möchte ich folgende Tatsachen als besonders wichtig für unsere Vorstellungen vom wahren Entwicklungsgange der lebenden Natur und als geeignete heuristische Grundlage für weitere phylogenetische Versuche bezeichnen: 1. Die Abstammungslinien fallen mit den systematischen Grenzen nicht zusammen, sie schneiden sich vielmehr mit ihnen. Unsere systematischen Kategorien sind daher im allgemeinen nur Entwicklungsstufen, die von mehr oder weniger zahlreichen Stammreihen durchlaufen werden. 2. Die Mehrzahl der für ausgestorben gehaltenen Formen ist keineswegs erloschen, sondern gehört als Mutationen in die Stammreihen jetzt noch lebender Arten. 3. Für die Feststellung des phylogenetischen Zusammen- hanges leiten uns am besten die untergeordneten Merkmale der Skulptur und Form, nicht diejenigen, nach denen wir Gattungen und Familien zu unterscheiden pflegen. 4. Die phylogenetischen Umbildungen (mit Einschluß des Aussterbens von Arten) lassen sich zumeist als die 1) A. SCHMIDT ist, wie ich sehe, ganz kürzlich (1907) für die permischen Unionen zu dem gleichen Ergebnis gelangt wie ich. 120 Die Pflanzenwelt. Folgen nachweisbarer geologischer Vorgänge und klima- tischer Änderungen und der dadurch hervorgebrachten Änderungen der Lebensweise begreifen. Man könnte nun zwar nicht ohne eine gewisse Berechtigung ein- werfen, daß das Beispiel der Schizodonten möglicherweise nur einen Ausnahmefall bilde, und daß die Stammesentwicklung bei andern und vielleicht bei der Mehrzahl der Organismen, wohl auf andre Weise vor sich gegangen sei. Demgegenüber darf man sich aber darauf berufen, daß die Schizodonten in keiner Weise den Eindruck eines Stammes von ungewöhnlicher Entwicklung machen, und daß die nahe verwandten Mytilaceen einen ganz ähnlichen Gang ihrer Stammes- geschichte aufweisen. Wollen wir uns aber vergewissern, ob jene Gesetze allgemein als vorbildlich zu gelten haben, die wir aus dem Entwicklungsgange des einen Muschelstammes ablesen, ob sie im besonderen nicht allein für den Zusammenhang von Familien, sondern auch für die Verknüpfung größerer Kategorien (Ord- nungen usw.) verwendbar sind, so brauchen wir nur andre, im be- sonderen größere Gruppen, sei es aus dem Pflanzen-, sei es aus dem Tierreich, nach diesen Gesetzen zu prüfen. Würden sich dann in mehreren anderen Fällen die fast überall unklaren phylogenetischen Zusammenhänge klären und sich wenigstens ein Teil der Umbildungen, diese aber mehr oder weniger vollständig, auf einfache äußere Be- wirkungen zurückführen lassen, so müßte man dem hier vertretenen Prinzip der gleichsinnigen Umbildung zum mindesten den Wert einer berechtigten Arbeitshypothese zuerkennen. Zu diesem Zwecke will ich im nachfolgenden einige Beispiele aus dem Pflanzen- und Tierreich beiziehen; ich habe sie aus der großen Fülle dazu geeigneter Gruppen nach dem Gesichtspunkte aus- gewählt, einerseits an ihnen die Brauchbarkeit und Tatsächlichkeit des Prinzips der gleichsinnigen Umbildung zu erproben, andrerseits die Tragweite der hier entwickelten Vorstellungen im allgemeinen zu beleuchten. Welche Bedeutung ihnen meiner Auffassung nach für die Abstammungslehre überhaupt zukommt, wird dann in einem Schlußabschnitte erörtert werden. A. Die Pflanzenwelt im allgemeinen. Unsere Kenntnis vom Entwicklungsgange der Pflanzenwelt gründet sich im wesentlichen auf die Reste größerer, holzartiger Pflanzen, die seit der Devonzeit in kontinentalen und subkontinentalen Ab- lagerungen überliefert sind; von der krautartigen Vegetation früherer Zeiten wissen wir dagegen fast nichts. Anfänglich hat man die Die Pflanzenwelt. 121 Abdrücke von Blättern und Zweigen nur nach ihrer habituellen Übereinstimmung mit den gleichen Organen der heutigen Pflanzen gedeutet, weil weder ihre Fortpflanzungsorgane, noch ihre Stamm- strukturen hinreichend bekannt waren, und so kamen Vergleiche und Be- nennungen zustande, die manchen heute fast komisch anmuten, so wenn SCHLOTHEIM einen Oalamitenzweig aus dem Karbon auf Grund seiner habituellen Ähnlichkeit mit einer Casuarina als Casuarinites be- zeichnete, während wir heute doch bestimmt zu wissen glauben, dass die dikotyledonen Blütenpflanzen, zu denen die Öasuarinen gehören, erst mit der Kreide auf dem Planeten überhaupt erschienen sind. Trotzdem wird niemand ScHLorHEIm einen scharfen Blick für morphologische Ähnlichkeiten bestreiten. Aber bald hat die Wissen- schaft die fossilen Pfianzenreste, so gut es ging, nach »wahrhaft wissenschaftlichen«e Grundsätzen in das gut ausgebaute natürliche System der heutigen Pflanzen eingegliedert und den Calamiten und den andern Pflanzenformen der älteren Vorzeit den ihnen darin ge- bührenden Platz angewiesen.” Hiernach haben fast alle baumförmigen Pflanzen der älteren Zeit als Vertreter der Sporenpflanzen (Ge- fäßkryptogamen) zu gelten, die in der heutigen Schöpfung als Farne, Schachtelhalme, Bärlappe usw. gegen die dominierenden Typen der Blütenpflanzen ganz in den Hintergrund treten. Spricht dieses Er- gebnis auch zugunsten einer allgemeinen Entwicklung von Niedrigerem zu Höherem, so stempelt es doch zugleich die Pflanzenwelt der älteren Zeit zu einem gänzlich mißlungenen Versuche der Natur. Denn be- merkenswerter Weise sind nicht nur jene altertümlichen Gruppen von Sporenpflanzen (mit Ausnahme der Farne) seit dem Ende der paläozoischen Zeit auf ein Minimum reduziert, es sind auch gerade ihre vorgeschrittensten Organisationstypen, die baumförmigen Gestalten, heute (wiederum mit Ausnahme der Farne) ganz ver- schwunden. Mit andern Worten: fast die gesamte baumartige Pflanzenwelt der älteren Zeit hat gewechselt, ganz neue Typen sind zur mesozoischen Zeit an ihre Stelle getreten, und wenn diese auch wohl in jener alten Pflanzenwelt irgendwie wurzeln müssen, so hat doch die ganz überwiegende Mehrzahl der alten Formen als er- loschen zu gelten. Freilich sind ihnen, wie wir im Laufe der Zeit und in den letzten Jahren besonders deutlich erfahren haben, vor ihrem Aussterben recht merkwürdige Anwandlungen gekommen. In der dumpfen Vorahnung, dass sie ohne Blüten und Samen auf die Dauer nicht würden existieren können, haben sich die meisten Gruppen redlich bemüht, den Anforderungen für ihr Fortbestehen gerecht zu werden, indem sie jede in ihrer Weise dazu übergingen, primitive 122 Die Pflanzenwelt. Blüten und Samen zu entfalten. Auch im Bau ihrer Stengelorgane sind sie, wieder jede nach ihrer Weise, vorangeschritten in derselben Richtung, die die jüngere, erfolgreichere Pflanzenwelt auszeichnet. Vergebliches Bemühen! Den richtigen, vorschriftsmäßigen Weg, der zur modernen Organisation führt, haben sie nicht gefunden. Dieser unhistorischen Betrachtungsweise — denn sie- will den ursprünglichen, unfertigen Zustand aus dem vorgeschrittenen, fertigen begreifen, — stelle ich die historische gegenüber. Wir verfolgen die paläozoische Pflanzenwelt in ihrem Werdegange und suchen aus diesem heraus die jüngere zu verstehen und zu deuten. Schon im Devon, wo sich die Landpflanzen zum ersten Male zeigen, erblicken wir mehrere Gruppen oder Stämme scharf vonein- ander gesondert, und mit dem Karbon hat sich das Bild noch mehr vervollständigt. Über den Ursprung der einzelnen Stämme ist nichts bekannt, aber wir denken sie uns mit Poronı& aus Algen entstanden und führen die Unterschiede gegenüber diesen, im besonderen die vorgeschrittene Gliederung und Verstärkung der vegetativen Organe, zurück auf den Einfluß des veränderten Mediums, in dem sie leben; dieser hat sich bei allen in wesentlich gleichem Sinne geltend gemacht, indem er bei den größeren Formen allgemein zur Entstehung eines besonderen Gefäßsystems führte. Aber in keiner Weise bekunden die verschiedenen Stämme in ihren ältesten und bekannten Vertretern eine Neigung, sich einander zu nähern und nach der Urform einer sporentragenden Landpflanze zu konvergieren. Hiernach ist eine mehrfache selbständige Entstehung aus algenartigen Vorfahren wahrscheinlich. Diese älteste Stufe der Landpflanzenwelt muß entsprechend der vom Algenstadium über- kommenen Gewohnheit feuchtigkeitsliebend gewesen sein. Dafür spricht ihr geologisches Vorkommen nicht minder als das Fehlen von vegetativen Merkmalen, die auf ausgesprochen trockene Standorte hinweisen. Auch die Befruchtung blieb zunächst an das Wasser ge- bunden und fand wie bei den heutigen Gefäßkryptogamen außer- halb der eigentlichen Pflanze, in einem Prothallium, statt. Früher hat man sich das Klima der paläozoischen Zeit als gleichmäßig warm und feucht die ganze Erde beherrschend gedacht. Davon kann, wie bemerkt (S. 29) heute nicht mehr die Rede sein. Es ist daher auch wahrscheinlich, daß die Landpflanzen schon zur Devonzeit, durch Verschiebungen und Wechsel des Klimas genötigt, vereinzelt begonnen haben, sich an weniger dauerfeuchte Stand- orte zu gewöhnen, und das dürfte, wie wenig durchsichtig auch die kausale Verknüpfung erscheinen mag, im Zusammenhang mit der Die Pflanzenwelt. 123 Größenzunahme einerseits zur Herausbildung soliderer und ver- wickelterer Stammesstrukturen, andrerseits zur allmählichen Än- derung des Befruchtungsvorganges geführt haben. Jedenfalls liegen folgende Tatsachen heute klar vor uns. Innerhalb der verschiedenen Stämme, der Farne (Filicales), der Schachtelhalme (Equisetales), der Bärlappe (Lycopodiales) und der Cordaiten sind während der paläozoischen Zeit selbständig nicht nur vollkommenere Stammstrukturen mit Holzzylinder und Dicken- wachstum, sondern auch eine veränderte, nämlich die gymnosperme, Art der Fortpflanzung entstanden. So kennen wir aus der jüngeren Karbonzeit von allen Gruppen Stämme mit Dickenwachstum und auch von allen, mit Ausnahme der Schachtelhalme und Sigillarien, samentragende Formen. Bei diesen Änderungen verhalten sich aber die einzelnen Gruppen verschieden: die Cordaiten scheinen am Ende der Karbonzeit in jeder Hinsicht schon echte Gymnospermen gewesen zu sein, für die Bärlappe ist dies, wenigstens von Lepidodendren in einem Falle, mit Sicherheit nachgewiesen. Unter den Farnen jener Zeit haben aber schon zahlreiche und auch recht heterogene Typen Samen getragen, weshalb man sich auch veranlaßt gesehen hat, sie zu einer besonderen Gruppe, den Samenfarnen (Pteridospermen), zusammenzufassen. Wenn wir, ohne uns von den jetzt herrschenden Vorstellungen über Deszendenz dabei beeinflussen zu lassen, diese Tatsachen nehmen, wie sie sind, und berücksichtigen, daß keine Erscheinung für, alle vielmehr gegen eine Ableitung der ver- schiedenen palaeozoischen Gymnospermen von einer Urgymnosperme sprechen, so werden wir sagen müssen: es liegen den Änderungen in der Stammstruktur und in der Art der Fortpflanzung gesetz- mäßig wirkende Ursachen zugrunde, keine Zufälligkeiten; und nun begreifen wir sofort, wie die gleichen Änderungen in den ver- schiedensten Stämmen wesentlich gleichartig, im einzelnen aber ab- weichend und zeitlich nicht zusammenfallend, haben vor sich gehen können. Ob die oben angedeutete Erklärung dafür genügen kann oder nicht, ändert an diesem Ergebnis nichts. Wie ganz anders verhalten sich während desselben Zeitraumes die vegetativen Organe, soweit sie nicht unmittelbar durch die Än- derung des Milieus oder durch die Größenzunahme mechanisch be- einflußt werden! Ein Blatt, ein Zweig, eine Stammoberfläche oder ein Wurzelstück wird wohl stets ohne weiteres als einem Farn, einem Schachtelhalm, einem Bärlapp oder einem ÜOordaiten zugehörig er- kannt, in welcher paläozoischen Formation wir sie auch antreffen mögen. Mit anderen Worten, die rein morphologischen Merk- 124 Die Pflanzenwelt. male, wie wir die genannten bezeichnen wollen zum Unterschied von den Blüten und Stammstrukturen, erweisen sich als die be- harrlichsten; was sich allgemein am meisten und dabei im einzelnen am mannigfaltigsten ändert, sind der Aufbau der Stengelorgane und die Art der Fortpflanzung. Fig. 57. Beblätterter Zweig von Lepidodendron aus dem Karbon (links) und einer Konifere-Walchia — aus dem Perm (rechts). Mit diesen Erfahrungen wenden wir uns jüngeren Zeiten zu. Neue Pflanzentypen tauchen am Ende des paläozoischen Zeitalters neben den altertümlichen auf, Nadelhölzer und Cycadeen. Für einige, Fig. 58. Ein Zapfen von Lepidodendron aus dem Kar- bon (links) und von Pinus montana, einer Konifere (rechts). Nach (SCHIMPER) STEINMANN und (STRas- BURGER) ENGLER-PRANTL. wie die Oycadeen, bleibt dieV orgeschichtezunächst dunkel, wir können sie an die älteren Typen nicht anknüpfen, wenn sie auch habituell den Farnen sehr nahe stehen. Aber die Nadel- hölzer gleichen in ihrem Habitus, in der Gesamt- heitihrermorphologischen Merkmale und alsGymno- spermen wie die Lepido- dendren diesen außer- ordentlich und teilen mit ihnen zugleich gewisse, bei keinem anderen Pflanzen- typus in gleicher Ver- einigung wiederkehrende Die Pflanzenwelt. 125 Merkmale, wie Form und Stellung der Blätter (Fig. 57) und Bau des Fruchtzaptens (Fig.58); daher haben verschiedene Botaniker einen phylo- genetischen Zusammenhang zwischen beiden, wie ich meine mit vollem Recht, vertreten. Wenn diese Auffassung aber zu Recht bestehen soll, so müssen die verschiedenen Gruppen von Nadelhölzern an ver- schiedene Bärlappbäume des Paläozoikums angeknüpft werden. So kann man an Lepidodendren selbst wohl Araucaria und Verwandte anschließen, denn die jungen Triebe der heutigen Ar. ercelsa tragen ihre Herkunft noch deutlich genug zur Schau. Die Abietineen aber mit ihren rundlichen, entfernten Blattnarben können wohl nur auf Bothrodendron zurückgehen. Der Gingkostamm dagegen läßt sich, ohne daß er eine Annäherung an die Bärlappbäume verriete, scharf von allen anderen Typen getrennt bis in die paläozoische Zeit zurück- verfolgen. Demnach sind die Nadelhölzer, was auch in der immer schärferen Zerspaltung durch die Systematiker in berechtigter Weise zum Ausdruck gelangt, eine Sammelgruppe von ähnlicher Organi- sation ihrer Glieder und gleicher Höhe der Fortpflanzung, aber mit getrenntem Ursprung ihrer einzelnen Abteilungen aus einer niedrigeren Stufe. Was der Philosoph NirrtzschE von der »Gattung« im all- gemeinen sagt, sie »drückt nur die Tatsache aus, daß eine Fülle ähnlicher Wesen zu gleicher Zeit hervortreten« gilt demnach auch für die Familie der Nadelhölzer. Während also die eine Abteilung der Bärlappbäume, die Lepi- dodendren, wahrscheinlich in den Nadelhölzern späterer Zeiten nur wenig verändert und wohl mit dem größten Teile ihrer Stammreihen fortlebt, verschwindet die andre Abteilung, die der Sigillarien, für uns spurlos. Man fragt mit Recht, worin dies gegensätzliche Ver- halten der beiden so nahe verwandten Gruppen begründet sein möge. Ich werde im nächsten Abschnitt versuchen, eine Antwort darauf zu geben. P Die Schachtelhalmbäume (Calamarien) der paläozoischen Zeit sind zwar in ihren Stammstrukturen schon weit über das Stadium der Gefäßkryptogamen hinausgekommen, aber ihre Art der Fort- pflanzung hat sich, soviel wir heute wissen, nur der der Gymnospermen sehr angenähert (sie sind heterospor), sie aber nicht oder noch nicht erreicht. Denn wenn wir nach den so ungemein beständigen und bezeichnenden morphologischen Kennzeichen dieses Stammes (der regelmäßigen Knotenbildung des Stammes und der primär quirligen Stellung und scheidigen Gestalt der Blattorgane) unter den höheren Pflanzen nach etwas durchaus ähnlichem suchen, so werden wir unter den Dikotyledonen auf die Üasuarinen, unter den Monokotyledonen 126 Die Pflanzenwelt. auf die Gramineen und unter den Gymnospermen auf die Gneta- ceen gewiesen. An einen phylogenetischen Zusammenhang zwischen Calamiten und Oasuarinen hat schon HAcEckeu gedacht. Sobald man sich aber überhaupt auf Grund der historischen Entwicklung von der Vorstellung emanzipiert, daß die Art der Fortpflanzung allein maß- gebend für die Verfolgung der phylogenetischen Zusammenhänge sei, steht der Verknüpfung mit den Gramineen kein Hindernis mehr ent- gegen. Denn darüber kann nach den fossilen Funden wohl kaum ein Zweifel bestehen bleiben, daß die Stammesstruktur der Monoko- tyledonen etwas Sekundäres ist. Sie erklärt sich meines Erachtens ungezwungen durch den nachträglichen Zerfall des Holzzylinders in geschlossene Gefäßbündel, die sich im Grundgewebe verteilen. Vor- aussetzung dafür ist nur das Vorhandensein eines weiten Mark- zylinders, der ja den Oalamiten als den angenommenen Vorfahren auch keineswegs abgeht. Farne. Durch die neueren Arbeiten besonders englischer und französischer Forscher haben wir ganz andere Vorstellungen von der Organisation der paläozoischen Farne gewonnen, als wir sie früher hatten. Ungeachtet der vollständigen Übereinstimmung in den vege- tativen Organen (mit Ausnahme des Baues der Stengelorgane) hat sich ein sehr großer Teil der Farne als echte Samenpflanzen ent- puppt. Schon im Devon sind manche Farne zu dieser Art der Fort- pflanzung übergegangen, und zur Karbonzeit machen die Pteri- dospermen offenbar einen ganz erheblichen Teil der Farnflora aus. Es wäre aber meiner Ansicht nach unrichtig, wenn man die Pteri- dospermen als eine phylogenetisch einheitliche Gruppe von den Farnen trennen wollte. Es fehlt vielmehr auch bei ihnen jeder Hin- weis darauf, daß die in ihren vegetativen Organen so verschieden- artigen Formen auf eine Stammform zurückgingen. Viel natürlicher erscheint die Deutung, wonach die Gymnospermie sich innerhalb der verschiedenartigen Farngruppen selbständig herausgebildet hat. Danach wären die Pteridospermen nur eine Organisationsstufe, nicht selbst ein Stamm. In dieser Beleuchtung verstehen wir leicht die »explosive« Entfaltung der neuen Befruchtungsart, die große Mannigfaltigkeit der Blüten, die schon von Anbeginn hervortritt und die wechselnde und von der Art der Blütenbildung unabhängige Herausbildung von höheren Stengelstrukturen, wie sie Lyginopteris und Heterangium aufweisen. Sind nun die Pteridospermen ausgestorben? In mesozoischen Zeiten gibt es anscheinend nichts ähnliches mehr. Allein Reste von Farnblättern, die sicher keine Sporangien trugen und daher in physio- Die Pflanzenwelt. 27 logischem Sinne nicht eigentliche Farne sind, gibt es die Hülle und Fülle. Die Blattformen erscheinen auch vielfach vorgeschritten gegenüber den karbonischen, da anastomosierende Nervaturen immer häufiger werden, die Mittelrippen sich stärker ausbilden und der Stiel sich schärfer vom Blatte absetzt. Diese Änderungen der Blätter be- wegen sich also in der Richtung zu den höheren Blütenpflanzen, im be- sonderen zu den Dikotyledonen. Denn wenn man sich die Blattorgane der Dikotyledonen (mit Ausschluß einiger eigenartiger Familien wie Cacteen und Üasuarineen) auf primitivere Stufen zurückgeführt denkt, so kommt man naturgemäß zu einem Zustande, wie ihn die Blätter der mesozoischen und paläozoischen Farne vorstellen; denken wir uns diese in dem Sinne ihrer phylogenetischen Änderung fort- gebildet, d. h. die Nervatur durch fortschreitende Gliederung und Ver- schmelzung der Äste vervollkommnet, so ergibt sich der Zustand der Dikotylenblätter. Wir sehen ferner, wie vom Stamme her beginnend in die Blattstiele mancher Samenfarne (Lyginopteris) die kompli- zierte, durch Sekundärwachstum bezeichnete Stammstruktur allmäh- lich hineinwächst und die konzentrische Farnstruktur auf die äußeren Wedelteile zurückdrängt.: Das bedeutet doch, daß der bei den Farnen noch als Ganzes abgegliederte Wedel allmählich zum Stengelorgane wird, und daß nur noch die Fiederblätter letzter oder vorletzter Ordnung als sich abgliedernde Blattorgane bleiben, wie es bei den Dikotyledonen zumeist der Fall ist. Welchen ungeheuren Schwierig- keiten würde man aber begegnen, wenn man die mannigfaltigen Blatt- organe der Dikotyledonen von irgendeiner anderen lebenden oder fossilen Gymnospermengruppe ableiten wollte! In den Wedeln der Pteridospermen und in den Blättern der mesozoischen Farne mit unbekannter Blütenbildung erscheinen dagegen alle die mannigfaltigen Gestalten der Blattorgane von Dikotyledonen bereits vorgebildet, die wir mit der Kreide als fertige und durchaus nicht nach einem gemeinsamen Ausgangspunkte hinweisende Gebilde vorfinden. Es be- darf, soweit die vegetativen Organe in Betracht kommen, nur einer geringen Umbildung der bei den Pteridospermen entwickelten Formen, um zu der Mannigfaltigkeit der Dikotyledonenblätter zu gelangen, aber die dazu nötigen Änderungen müßten sich an allen Pterido- spermen und an allen mesozoischen Farnen mit un- bekannter Blütenbildung vollziehen. Es fragt sich nun, lassen sich denn auch die Blütenbildungen der Dikotyledonen von denen der Pteridospermen ableiten? Die Be- antwortung dieser Frage hängt aufs innigste mit den Vorstellungen zusammen, die wir uns von der Entstehung der angiospermen Blüte 128 Die Pflanzenwelt. aus der gymnospermen machen. Bis zum Schlusse der paläozoischen Zeit scheint die Blütenbildung in keinem Pflanzenstamme über die Gymnospermie hinaus gediehen zu sein, die Entstehung der angio- spermen Blüten muß demnach wesentlich in die Zeiträume der Trias und des Jura fallen, d.h. in eine Zeit, während welcher die Mehr- zahl der baumartigen Gewächse sich in ausgiebigstem Maße an ein Fig. 60. Fruchtstand von Ly- ginopteris, A entsamt, B ein Same mit Fruchtbecher (ec). Vgl. Fig.59. (Aus StEin- Mann: Einführung usw.) Fig. 59. Ein samentragender Farn (Lyginopteris) aus dem Karbon. A Habitusbild (oben fertile Wedel, B Stammquerschnitt mit Dickenwachstum, Primär- (p) Fig. 61. Männlicher Blüten- und Sekundärholz (s). € Blattstielquerschnitt mit stand (A) und Same (B) einer Farnstruktur. Blüte und Frucht siehe Fig. 60. (Nach Pteridospermee (Neurop- ScoTT aus STEINMANN: Einführung i. d. Pal.) terisheterophylla). (Aus STEIN- MANN: Einführung usw.) wechselfeuchtes Klima gewöhnt und von allen trockenen Wohn- bezirken der Erdoberfläche Besitz ergriffen hat. Den neuen, mit dieser Änderung verknüpften Lebensbedingungen, die in wesentlich gleichem Sinne auf den größten Teil der Pflanzenwelt einwirkten, darf man auch eine allgemein umgestaltende Einwirkung auf die Blüten- und Fruchtbildung zuschreiben, wie sie auch die Ursache für die Verholzung der Wedelspindel, für die Herausbildung der Blatt- stiele und die weit verbreitete Verhärtung der Blätter gewesen ist. Bewegte Luft, die in den lockeren Beständen der Gehänge und Hoch- flächen leichter Zutritt fand, als im geschlossenen Sumpfwald, und lang anhaltender Mangel an Befeuchtung dürften als wichtigste 129 Die Pfianzenwelt. Faktoren für die Ausgestaltung der windblühenden Angiospermen an- gesehen werden. Was die Blüten aber über diesen Zustand hinaus- führte, war neben intensiverer Belichtung wohl wesentlich der Ein- fHuß der blütenbesuchenden Insekten (und Vögel). Denn es ist gewiß kein Zufall, sondern der Ausdruck eines kausalen Zusammenhangs, daß blütenbesuchende Insekten im Jura zuerst erscheinen und die ersten Angiospermen mit hochentwickelten und differenzierten Blüten aus der Kreide vorliegen. Die große Mannigfaltigkeit der dikotylen Blütenformen und -stände erscheint aber ebenfalls schon in der Stufe der Pteridospermen vorgebildet. So verknüpfen sich eine ganze Reihe von Erscheinungen zu einem einheitlichen und leicht begreiflichen Gesamtbilde von der Entwicklung der Dikotyledonen, wenigstens der Hauptmasse derselben; sie sind ein Erzeugnis gleichsinniger Umbildung durch geologische, klimatische und biologische Vorgänge, die sich an alle den mannigfaltigen Pteridospermen der paläozoischen Zeit in ähnlicher Weise geltend gemacht haben. Es liegt nicht im Plane dieser Schrift, eine Phylogenie der ge- samten Pflanzenwelt zu versuchen. Ich beschränke mich deshalb auf den Hinweis, daß die hochwichtigen Fortschritte in der Kenntnis der mesozoischen Gymnospermen, im besonderen der Bennettiteen, eine ganz analoge Art der Umbildung für die meisten mesozoischen Cycadeen zu Palmen gestatten und damit auch die Leere ausgefüllt erscheint, die vor dem Auftreten der baumförmisen Monokotyledonen bisher geklafft hat. Wie ich mir den Entwicklungsgang der großen Gruppen der baumförmigen Pflanzenwelt denke, möge beifolgende Tabelle verdeutlichen. Dazu möge ausdrücklich betont werden, dab | \Spondylo- Ne ran Pterido- Sklero- | Desmo- | aphido- |Sphragido- phylla Ahylia ohylla phylla phylla phylla Dikotyle- | Casuarineen | Cacta- | Dikotyledonen donenstufe ceen (exkl. Casuarinen | u. Cactaceen) Monokotyle- | Gramineen | Palmen | Dracaenen donenstufe | Yuccaceen ? Gymnosper- | Coniferen Pterido- Bennettiteen | Cordaiten menstufe Lepido- spermen Cycadeen | dendren Sporen- | Calamiten | Lepido- Sigillarien Filices Cycadeen | Cordaiten pflanzenstufe | Equisetum | dendren | ? | Steinmann, Abstammungslehre. 130 Sphragidophylla. die Zusammenhänge nur dann wirklich begreifbar und die fossilen Funde verständlich werden, wenn wir uns überall die älteren Gruppen in die jüngeren nicht auf einer Linie, sondern auf zahlreichen, um nicht zu sagen allen, erfolgt denken, wie ich das für die Pterido- phylla angedeutet habe. Führt dieser Weg aber wirklich zum Ziel, dann muß es auch möglich sein, die gesamte Organisation und die Art der Entfaltung eines modernen Pflanzenstammes aus der eines uns bekannten ursprünglichen ungezwungen abzuleiten, und um dieses an einem geeigneten Beispiele zu prüfen, wollen wir jetzt einen der Stämme, die Sphragidophylla, etwas eingehender behandeln. B. Sphragidophylla. (Sigillarien und Cacteen.) Unter den zahlreichen, »ausgestorbenen« baumartigen Sporen- pflanzen der paläozoischen Zeit stehen die Sigillarien entschieden am fremdartigsten da. Während man den Lepidodendren die heutigen Bärlappe, den Calamiten die Schachtelhalme als zwerghafte Ver- wandte zur Seite stellen kann, die ersteren auch von verschiedenen Seiten als Vorfahren der Nadelhölzer oder wenigstens eines Teiles derselben (Araucarien) angesprochen werden, gibt es in der heutigen Schöpfung weder unter Sporenpflanzen noch unter Gymnospermen etwas den Sigillarien Vergleichbares. Denn Isoetes, die PoToxıE als »gestauchte Sigillarie« bezeichnet, kann doch schon deshalb nicht als Abkömmling von Sigillaria in Frage kommen, weil ja sonst der stammbürtige, gestielte, ährenförmige Blütenstand wieder hätte verschwinden und in einen ganz primitiven Zustand hätte zu- rückfallen müssen. Älteren Autoren, wie Corpa und Srkisinger, ist die Ähnlich- keit der Sigillarien mit den Cacteen aufgefallen, die in der Tat manchmal frappant genug hervortritt. (Vgl. Fig. 66, 67.) Allein solche Anschauungen sind »definitiv überwunden« (SorLms). und ich muß daher als etwas rückständig gelten, wenn ich darauf zurückkomme und zu begründen versuche, daß diese Ähnlichkeit auf Abstammung beruht. Entsprechend den obigen Ausführungen stelle ich nicht die Art der Fortpflanzung, sondern die Beschaffenheit der vegetativen Organe und der Stammstruktur in den Vordergrund. Die Sigillarien zeichnen sich vor allem, im besonderen auch vor den ähnlichen Lepidodendren, durch zwei Merkmale aus. Ihre Stämme sind unverzweigt oder nur selten und spärlich gegabelt, und ihre schmalen, grasartigen Blätter fallen sehr rasch ab, so daß Reste mit anhaftenden Blättern zu den größten Seltenheiten gehören. Diese Sphragidophylla. 131 Eigentümlichkeiten teilen sie mit den Cacteen!), deren Vertreter sich im Vergleich zu den meisten anderen Pflanzen gewöhnlich nur spär- lich verzweigen, oft auch ganz einfach bleiben, und deren stets ein- fache Blätter bekanntlich fast nie persistieren, selbst wenn sie sich, wie bei Opuntia am jungen Sproß zu beträchtlicher Länge (Fig. 62) entwickeln. Schraubige Stellung der Blätter kommt beiden Gruppen zu, ebenso deren einfache Form. Ein weiteres auffallendes Merkmal der Sigillarien, das sie mit den Oac- teen teilen, liest in dem Vorhanden- sein kissenartiger Erhebungen, auf denen sich die Blattorgane ent- wickeln; bei manchen Sig. (Rhyti- dolepis, Leiodermaria — Fig. 69 A,F‘) treten sie zwar kaum hervor, was aber nur durch weiteres Aus- Fig. 62. Ein junger Opuntia-Sproß mit einanderrücken der Blätter bedingt noch anhaftenden Blättern. (Nach Schv- 3 : MANN aus ENGLER-PRANTL: Nat, Pfl.) zu sein scheint. Wir haben nun die verschiedenen Arten der Blattverteilung näher ins Auge zu fassen, da diese in beiden Gruppen die auf- fallendsten Ähnlichkeiten aufweisen. Man trennt die Sigillarien in zwei große Abteilungen, die Eusigillarien und die Subsigillarien. Die ersteren umfassen weitaus die Mehrzahl der Arten, die letzteren bilden nur eine kleine, wenig formenreiche Gruppe. Wenn auch die Blattstellung allgemein schraubig sein dürfte, so tritt doch bei den Eusigillarien daneben die Anordnung in Längsreihen mehr oder minder stark hervor, indem die genau unter einander stehenden Blattpolster der übereinander folgenden Spiralreihen durch mehr oder weniger tiefe Längsfurchen von einander geschieden werden. (Fig. 65 A, D, E.) Je nachdem nun diese mehr oder weniger tief, die Blattpolster eng an einander ge- rückt und durch deutliche Querfurchen getrennt sind, kann man die drei mit verschiedenen Namen belegten Gruppen Rhytidolepis (Fig. 634), Tesselata (E) und Favularia (D) unterscheiden. Bei letzterer ist die Stellung der Polster in Schrägzeilen am deutlichsten 1) Ich begreife hier unter Cacteen die Peireskien nicht mit ein; denn es scheint mir wenig folgerichtig, diesen abweichenden Typus bei den Cacteen zu belassen, da er in Tracht, Beblätterung, Blütenstand, Stammstruktur und andern Merkmalen von ihnen erheblich abweicht. 9* 132 Sphraeidophylla. ausgesprochen, und die Polster springen hier am weitesten hervor. Durch den schwach zickzackförmigen Verlauf der Längsfurchen steht diese Gruppe den Subsigillarien am nächsten. Bei diesen domi- nieren die Schrägzeilen, die Polster sind verquert. Stehen die Polster dicht gedrängt (Clathraria — (©), so ähneln sie den Favularien (D); Fig. 63. Organisation der Sigillarien. Eusigillaria: A Habitusbild von Rhytidolepis mit anhaftenden Blättern (5/) und stammbürtigen Blüten (a); D, E Stammoberflächen von Favularia und Tesselata, letztere mit Blütennarben (f). Subsigillaria: C Clathraria; B,F Leiodermaria; @ Sporangienähre und Makrosporen; H Holzring im Querschnitt; J äußere Rindenschicht von Subsigillaria; X Stammquerschnitt. (Aus STEINMAnN: Einf. i. d. Pal.) rücken die Blätter weit auseinander, so verschwinden die Polster so gut wie ganz und die Blätter stehen nur vereinzelt auf der glatten Oberfläche (Leiodermaria 7). Es ist nun gewiß eine höchst bemerkenswerte Tatsache, daß genau die gleichen Arten der Blattstellung und -verteilung, sowie der Polsterbildung bei den Üacteen wiederkehren, und zwar keine andere und nur bei diesen. Es entsprechen nämlich den Gruppen: Rhytidolepis und Tesselata (einschl. Polleriana) die Üereoideen-Echinocacteen-Rhipsalideen mit gleichmäßig fortlaufenden oder quer gekerbten Rippen, auf denen die Warzen, den Blattpolstern entsprechend, deutlich in Längsreihen angeordnet sind (Fig.65,67, 69,71); der Gruppe Favularia (und Olath- raria p.p.) die Cereoideen-Mammillarieen mit schraubig gestellten Sphragidophylla. 133 Warzen und zickzackförmig verlaufenden Längsfurchen; der Gruppe Eusigillaria (Clathraria und Leiodermaria) die Opuntioideen mit eng oder weit gestellten Areolen, aber ohne Längsfurchen (Fig. 64) (den Clath. entspricht wohl auch ein Teil der Mammillarieen). In der Unterfamilie der ; ÖOereoideen trennt man wohl die Rhipsalideen als gesonderten Tribus ab. Es ist aber besonders durch GoEBEL hinreichend klar- gestellt, daß sie nur durch epiphystische Lebensweise umgewandelte Cereoideen sind; ebenso weiß man, dab \ WW N DS Se \] DIDI IT —_IIN EN 2 SEO = | en ar =) N\ - Bye = Menschenhöhe Fig.64. Ein Opuntia-Spross (O.leuco- mem tricha), zeigt die entfernte Stellung der Fig.65. Cereus sigillarioides Solms. Ostl. Tacna, Warzen und das Fehlen von Längs- N. Atacama. Eine Cactee mit Rhytidolepis- furchen. (Vgl. Fig.63 F.) (Nach Scav- Tesselata-Skulptur. (Nach einer Photographie MANN aus ENGLER-PRANTL: Nat. Pfl.) von Dr. H. Horx.) (Vgl. Fig. 63 A, E.) die abgeflachten Stempelgebilde der Opuntien aus zylindrischen hervorgegangen sind. Vergleicht man nun die Variationsbreite und Artenzahl der drei entsprechenden Abteilungen unter den Sig. und Cact., so stellt sich wiederum eine auffällige Übereinstimmung heraus. Wie die Rhyti- dolepis-Tesselata-Gruppe unter den Sig. weitaus die formen- reichste ist und wie namentlich in bezug auf die Zahl der Rippen die Entfernung der Blätter usw. große Mannigfaltigkeit herrscht, so zeigen auch die Echinocacteen (und Ripsalideen) in ihren zahl- 134 Sphragidophylla. reichen Gattungen und mit ihrer überaus großen Artenzahl weitaus den größten Formenreichtum unter den Cact. Beträchtlich geringer stellt sich die Variationsbreite unter den Favularien und Subsi- sillarien, die im allgemeinen zu den seltenen Vorkommnissen im Karbon und Perm gehören; ebenso stehen aber auch die Mammil- larieen und Opuntien an Artenreichtum hinter den Echinocacteen Fig. 66. Fig. 67. Fig. 66. Wechselzonenbildung bei einer Sigillaria. (Nach PoronIE.) Unten Rhytido- lepis-, oben Tesselata-Skulptur. Fig. 67. Wechselzonenbildung bei Cereus sigillarioides Solms. (Original.) Unten Tesse- lata-, oben Rhytidolepis- Skulptur. (Vgl. Fig. 65.) (und Rhipsalideen) erheblich zurück. Neben der morphologi- schen Übereinstimmung zwischen den drei entsprechenden Grup- pen registrieren wir also auch eine solchein der Formenbreite, wobei natürlich zu berücksichtigen bleibt, daß die Cact., entsprechend ihrem jugendlichen Alter und ihrer auf verschiedenartige Bedingungen abgestimmten Lebensweise, einen etwa zehnfach so großen Schatz unterscheidbarer Formen (ca. 1000) aufweisen, als die Sig., deren »Artenzahl« wohl auf höchstens 100 bemessen werden darf. Sphragidophylla. 135 Eine zwar geringfügige, aber neben der sonstigen Übereinstimmung zwischen beiden Pflanzengruppen bemerkenswerte Ähnlichkeit tritt auch darin hervor, daß an den Stämmen die Bildung sogenannter W echsel- zonen in überraschend ähnlicher Weise hervortritt. Je nachdem die Pflanze mehr oder weniger rasch wächst, rücken die Blattnarben Fig. 70. In Querreihen angeordnete Blütennarben (5) von Sigillaria elegantula Weiss. aus dem Karbon von Bochum. (Nach Poroxı&-KoEHneE.) Blütennarben (f) von Sigillaria la- layana Schpr. Karbon, Vogesen. (Nach SCHIMPER aus STEINMANN: Einf. i. d. Pal.) Fig. 69. In Längsreihen angeord- Fig. 71. Zwei blühende Cereus-Arten aus derGegend nete Blüten (bl) von Pilocereus. von Cochabamba. Die Blüten stehen in Querreihen. (Nach GoEBEL.) (Nach Photographien von HoEk und STEINMANN.) mehr oder weniger weit von einander, so daß an dem gleichen Sproß die Skulpturen verschiedener Sigillariengruppen über einander vor- kommen (in Fig. 66 unten: Rhytidolepis, oben: Tesselata, in Fig. 67 umgekehrt). In ausgeprägter Weise habe ich diese Erscheinung an einer von mir bei Tacna aufgefundenen neuen Cereus-Art (Fig. 65, 67) beobachten können. 136 Sphragidophylla. Die Blüten der Cact. stehen einzeln oder zu mehreren und sind stammbürtig. Sie entspringen an den Achseln der Areolen oder aus der Spitze der Warzen. Ebenso besaßen die Sig. stamm- bürtige Blüten, und ihre Narben sind zwischen oder auf den Reihen der Blattnarben sichtbar geblieben (Fig. 68, 70). Sie verteilen sich auf dem Stamm in dreierlei verschiedener Weise. Zuweilen stehen sie vereinzelt, sehr häufig aber zu Gruppen zusammengedränst, und dann sind zwei Fälle gegeben: entweder ordnen sie sich in einer Fig. 72. A Sporangienähre von Sigillaria. (Nach GoLDENBERG und ZEILLER.) b unterer sporangientragender, b’ oberer steriler Teil des Sporophylis. Bund C erdachte Übergangs- formen zwischen der Sigillarien-Ähre (A) und der Cactus-Blüte (Fig. D). st die zum Stempel zusammenwachsenden Sporophylle. D Pilocereus. Durchschnitt der Blüte. (Nach SCHUMANN aus ENGLER-PRANTL,.) oder mehreren dicht gedrängten Längsreihen (Fig. 68f) oder in Querreihen (Fig. 70). Alle drei Möglichkeiten kehren bei den Cacteen wieder. Bei Mammillarieen und bei vielen Cereus- Arten z.B. stehen sie meist einzeln, bei anderen Cereus-Arten und bei Opuntia in einer oder mehreren Längsreihen (Fig. 69), bei wieder anderen Öereus-Arten aber in wirtelartigen Querreihen (Fig. 71). Also auch in diesem Merkmale herrscht Überein- stimmung, besonders auch insofern, als andere Möglichkeiten, wie zusammengesetzte Blütenstände, niemals vorkommen. Über die Beschaffenheit der Blütenstände bei den Sig. sind wir zwar nur unvollkommen unterrichtet, aber wir wissen, daß der ähren- Sphragidophylla. 137 förmige Blütensproß unten normal beblättert war und die höheren Teile Sporangien tragende Blätter von rhombischem Umriß besaßen, die ungefähr senkrecht zur Achse saßen (Fig. 72 A). Wahrscheinlich waren die Sig. der jüngeren Karbonzeit z. T. wenigstens heterospor. Ich werde nun untersuchen, ob sich die Blüte der Cact. mit der einfachen Sporenblüte der Sig. in Beziehung setzen und auf einfache Weise davon ableiten läßt. Die Änderungen, die wir dabei voraussetzen müssen, bestehen im wesentlichen in einer Verkürzung der ähren- förmigen Sig.-Blüte zu der glocken- oder radförmigen der Oact., in der Umbildung der Mikrosporangien zu Staubbeuteln, der Makro- sporangien zu Samenanlagen. Fig. 724 stellt die Rekonstruktion einer Sig.-Blüte dar, von der vorausgesetzt wird, daß sie unten männliche, oben weibliche Sporophylle trägt. Wir denken uns nun die Scheitel- region eingesenkt, so daß die Samenanlagen in den vertieften Scheitel zu liegen kommen, während die Mikrosporophylle die Außenseite be- kleiden (Fig. 72 5); weiterhin lassen wir die oberen Mikrosporophylle zu langen Perigonblättern, ihre Sporangien zu Staubblättern aus- wachsen, ferner die am tiefsten eingesenkten Samenanlagen ihre Funktion beibehalten, während die höheren zusammenwachsen und so die Decke der Fruchtknotenhöhle bilden (Fig. DB st). Schließlich lassen wir diese Decke zum Griffel emporwachsen, und das Perigon durch mehr oder weniger vollständiges Verwachsen der Sporophylle eine Röhre bilden, auf deren Innenseite die Staubfäden sich zu- sammenordnen, während die Außenseite der Perigonröhre alle Über- gänge vom einfachen grünen Schuppenblatt zum Blumenblatt auf- weist (©). Dabei kommt für unseren Zweck wenig darauf an, ob man die Staubfäden als umgewandelte Sporophylle oder, wie ich annehme, nur als Stiele der Pollensäcke und die Perigonblätter als die dazu gehörigen Sporophylle betrachtet. Das Bedeutsame dieses Versuchs, wie unvollkommen er auch sein möge, liegt meines Erachtens darin, daß er gestattet, die Beschaffenheit der heutigen Cact.-Blüte aus der Sporangienähre der Sig. auf einfachem Wege begreiflich zu machen, und zwar auf einem Wege, wie er auch durch die Onto- genie der Blüte vorgezeichnet wird. Wir verstehen auf diese Weise leicht die große Zahl der Perigonblätter und Staubfäden, den ganz allmählichen Übergang von grünen, schuppenartigen Blättern am unteren Teil des Perigons zu den weißen, gelben oder roten Blumen- blättern, besonders aber die besondere Gestalt der ganzen Blüte und der Perigonblätter. Denn die Blüte ist nichts anderes als eine ge- stauchte Sig.-Ähre, ein Achsenbecher, mit phanerogamer und angio- spermer Fortpflanzung, an der auch die ursprüngliche, einfach lanzett- 138 Sphragidophylla. förmige Gestalt der Blätter und der rhomboidischen Sporophylle der Sig. noch recht deutlich gewahrt geblieben ist. Wüßten wir mehr von den Blüten der Sig., so würden sich wohl auch noch bestimmtere Übereinstimmungen ausfindig machen lassen. Als Einwurf gegen die hier versuchte Ableitung könnte man die von Kıpston untersuchte Sie.-Ähre anführen, die vielleicht Makrosporangien an der Basis, Mikrosporangien an der Spitze trägt, während man das umgekehrte Verhältnis voraussetzen sollte. Stammstruktur. Es erübrigt noch ein Vergleich der Stamm- struktur zwischen Sig. und Cact. Beide weisen die gleichen Verhält- nisse in der gröberen Anatomie auf: ein weites Markrohr, einen verhält- nismäßig dünnen Holzzylinder und eine mächtige Rinde (Fig.63 X). Das Mark einer Opuntia, die ich in Bolivia sammelte, ist zu getrennten Diaphragmen zusammengeschrumpft, was Dawson auch von Sig. be- schreibt. Der Holzzylinder beider Pflanzengruppen zeigt insofern große Ähnlichkeit, als das Primärholz durch sehr breite Markstrahlen in einzelne Stränge geteilt wird und das Sekundärholz um dies maschige Geflecht einen kompakten Zylinder bildet, der von zahl- reichen, aber schmäleren Markstrahlen durchsetzt und in Platten ge- teilt wird. Genauere histologische Vergleiche würden voraussichtlich ° noch weitere Übereinstimmungen ergeben. Doch scheint mir jetzt schon folgende bemerkenswerte Parallele hervorzutreten. Die Rinde besitzt in der Gruppe ZLeiodermaria, also bei den Sig., die nach der Beschaffenheit der Stammoberfläche den Opuntien unter den Oact. entsprechen, eine eigenartige Struktur, die den anderen Sig. ganz zu fehlen scheint. Wellig gebogene Sklerenchymplatten legen sich an- einander, verschmelzen stellenweise und weichen wieder auseinander (SoLms) und bilden so ein bezeichnendes Maschenwerk, das als Dictyo- xylonstruktur bekannt ist (Fig. 63.J). Unter den verschiedenen Cac- teenstämmen, die ich in Bolivia gesammelt habe, zeigen, soweit ich ermitteln konnte, nur diejenigen von Opuntia eine ganz ähnliche Ausbildung der Rinde, während diese bei allen anderen COact.- gruppen keine Andeutung einer solchen Bildung erkennen läßt. Die Bedeutung derartiger Koinzidenzen läßt sich nicht wohl überschätzen. Nach diesen offenkundigen und weitgehenden Übereinstimmungen zwischen Sig. und Cact., die sich nicht auf ein einziges Organ be- schränken, sondern zahlreiche und voneinander gänzlich unabhängige Organe betreffen, glaube ich den Entwicklungsgang der Sphragido- phylla (Siegelblättrige) folgendermaßen schildern zu dürfen: Zur Karbon- und Permzeit, vereinzelt auch noch zur älteren Triaszeit, bestanden die Sig. als eine Pflanzengruppe von weltweiter Verbreitung Sphrasidophylla. 139 und großer Häufigkeit, namentlich in Europa und Nordamerika, sie fehlten aber auch der Südhalbkugel nicht. Es waren säulenförmige, gar nicht oder nur spärlich verzweigte Pflanzen, die auf feuchtem Boden wuchsen und vielfach Waldmoore gebildet haben. Die ein- fachen, schmal lanzettlichen Blätter waren hinfällig und ebenso die Blüten, die sich anscheinend damals auf der Stufe der Heterosporie befunden haben. Drei größere, aber wenig scharf geschiedene Gruppen mit zahlreichen Arten lassen sich erkennen. Aber diese Gruppen leiten sich nicht voneinander ab, wie PoroxıE meint, sondern sie be- stehen nebeneinander, aber wechseln und vertauschen mehrfach ihre Wohngebiete, wodurch der Anschein einer genetischen Sukzession hervorgerufen wird. Jünger als Buntsandstein kennt man keine Reste von ihnen. Es hat den Anschein, als ob ihr Verschwinden aus der geologischen Überlieferung zurückzuführen ist auf einen Wechsel ihrer Lebensweise zu Beginn der mesozoischen Zeit, wo ihre vorher in Waldmooren bestehenden Hauptverbreitungsgebiete (Europa, Nord- amerika) ein trockenes Klima erhielten, wie es sich in den Rotsand- steinabsätzen der Triaszeit widerspiegelt. Sie wurden allmäh- lich zu Xerophyten. Damit waren sie für die Erhaltung im fossilen Zustande verloren, was ziemlich allgemein für alle Xero- phyten zutreffen dürfte. Wahrscheinlich haben sie sich während der mesozoischen und tertiären Zeit auf einer Festlandsmasse erhalten, die zeitweise Amerika angegliedert war und Teile dieses Erdballs mit umfaßte. Sie scheinen aber keine Gelegenheit gehabt zu haben, auf andre Erdteile überzugreifen, denn sie sind heute noch eine spezifisch amerikanische Pflanzengruppe, und die strichweise Ver- breitung der Rhipsalideen im mittleren Afrika erklärt sich zureichend aus nachträglicher Überführung durch Vögel von Brasilien aus. Sie haben sich im Laufe der Zeit folgendermaßen verändert: Die Blätter sind fast allgemein verkümmert, zum Teil sukkulent ge- worden (Opuntia), und in ihren Achseln haben sich Stacheln und Haare entwickelt. An den Sprossen ist die Sukkulenz allgemein ge- worden. Die Verzweigung hat zugenommen, vielfach wohl dadurch, daß die einfachen Stämme an der Spitze abbrachen, Seitensprossen trieben, und daß allmählich die Verzweigung konstitutionell gefestigt wurde. Die Länge, Stärke und Gestalt der Sprossen ist durch mannigfach abgeänderte Lebensweise in verschiedener Richtung be- einflußt worden. Die hochandinen Formen sind zur Größe einer Nuß zusammengeschrumpft, die epiphythischen Rhipsalideen haben 2. T. peitschenförmige Sprosse erhalten, bei Phyllocacteen und Rhipsalideen hat sich die Zahl der Rippen stark vermindert, und 140 Sphragidophylla. diese selbst sind vielfach blattartig geworden, während die Opuntien- sprosse meist eine Abflachung erfahren haben, usw. Die Folge da- von ist eine beträchtliche Vermehrung des Formenreichtums gewesen, die jedenfalls durch wiederholte Verlegungen der Wohngebiete er- heblich gefördert wurde. Im Laufe der mesozoischen Zeit ist an Stelle der Sporenfortpflanzung die angiosperme getreten. Über die einzelnen Stadien dieses Vorganges wissen wir nichts; es darf aber die Änderung wohl als eine Folge des Einflusses der klimatischen Verhältnisse und der durch Insektenbesuch erfolgten Reize gedeutet werden. Neben diesen vielfachen Änderungen sehen wir aber die bei den Sig. schon gegebenen Stammesmerkmale, die einfache Form und Schraubenstellung der Blätter, die Rippen- und Polsterbildung, sowie die Stammstruktur so gut wie unverändert fortbestehen, weil die veränderte Lebensweise auf diese keinen erheblichen Einfluß auszuüben vermochte. Ja, das Beharrungsvermögen dieser Merkmale geht so weit, daß wir ohne Schwierigkeit die drei großen Gruppen der Sig. in den entsprechenden Gruppen der Cact. wiedererkennen. Wenn hiernach angenommen werden muß, daß so ziemlich die ganze Formenbreite der paläozoischen Sig. in den heutigen Cact. fort- besteht und sie nur im Laufe der Zeit eine Vermehrung in dem einmal gegebenen Rahmen erfahren hat, so müssen auch alle die Merkmale, die die Organisationsstufe der Sig. von der der Oact. trennen, im besonderen die Art der Fortpflanzung, nicht nur einmal, oder einige Male, sondern in alle den zahlreichen Stammreihen und bei allen Arten und Rassen im gleichen Sinne gewechselt haben. Sind die Cact., wie ich annehme, Nachkommen der Sig., so erklären sich auf einfache Weise viele auffallende Merkmale und Erscheinungen, die sich an diesen merkwürdigen Stamm knüpfen. Manche Erscheinungen sprechen für ein sehr hohes Alter desselben, besonders der große Reichtum an Arten und die ausgesprochen sukkulente Beschaffenheit aller Vertreter, selbst derjenigen, die heute nicht in Trocken- oder Wüstengebieten, sondern in solchen mit reich- licheren Niederschlägen oder in feuchten Tieflandsregionen wachsen. Denn diese letzteren sind ja zweifellos aus xerophytischen Vorfahren hervorgegangen. Man darf aber wohl mit Recht voraussetzen, daß lange Zeiträume dazu gehören, um alle die zahlreichen Glieder einer Familie zu Xerophyten zu machen und dann noch eine Anzahl, wie Rhipsalis, Phyllocactus, Epiphyllum in Epiphyten zu verwandeln und entsprechend zu verändern. Für ein hohes Alter, oder, was dasselbe sagen will, für eine isolierte Stellung der Cact. sprechen auch eine Anzahl eigentümlicher Merkmale, durch die sie sich von anderen Wirbellose. 141 Pflanzen unterscheiden, zumal da viele dieser Merkmale als mehr oder weniger primitiv zu gelten haben. Dahin sind vor allem die abweichende Beschaffenheit der Blüte und die Stammstruktur, so- dann die einfache Gestalt und Stellung der Blätter zu rechnen. Will man sich die Cact. von einer indifferenten Ur-Angiosperme ableiten, so müßte man eine außerordentlich lange Reihe von Zwischengliedern und damit sehr lange Zeiträume für die Um- bildung voraussetzen und stößt auf ähnliche Schwierigkeiten, wie bei der Ableitung aller oder auch nur der plazentalen Säuger von einem Ursäuger oder der der Vögel von einem Urvogel. Zur Zeit ist wenigstens kein Dikotyledonen-Rest bekannt, der mit irgend- welchem Grunde als Bindeglied zwischen ihnen und den Cact. an- gesprochen werden dürfte. Wenn man sich daher vor die Alternative gestellt sieht, ent- weder die Cact. von unbekannten Gymnospermen oder Angio- spermen abzuleiten oder sie auf die Sig. zurückzuführen, so kann meines Erachtens die Wahl nicht zweifelhaft sein, denn die erste Möglichkeit führt nur zu einer Überlastung unserer Phantasie, die zweite gewährt greifbare Beziehungen bis in Einzelheiten, von denen ich oben nur einige der augenfälligsten aufzudecken versucht habe. Ist aber die Stammesgeschichte der Sphragidophylla so oder ähnlich verlaufen, wie ich oben ausgeführt habe, dann ist sie ein- fach und leicht begreiflich und bestätigt gewisse Gesetzmäßigkeiten, wie sie sich aus der Stammesentwicklung anderer Pflanzen- und Tiergruppen ergeben, nämlich das Beharren der einmal entstandenen Typen bis auf die Gegenwart unter allmählicher Vermehrung der Formenzahl, frühzeitige Zerspaltung in morphologisch nahestehende Reihen, deren sämtliche Vertreter, (soweit sie nicht erlöschen) sich in wesentlich gleichem Sinne fortbilden und vereint, wenn auch in ungleichem Tempo, verschiedene Organisationsstufen durchlaufen. Daraus folgt die Bedeutungslosigkeit der Stufenmerkmale für die Ermittlung des phylogenetischen Zusammenhangs und zugleich die unvermeidliche Schlußfolgerung, daß die phyletische Entwicklung nicht durch Auslese und Absonderung, sondern durch dauernd und gesetzmäßig wirkende Faktoren der leblosen und belebten Außenwelt vor sich gegangen ist. C. Zur Stammesgeschichte der Wirbellosen. Verschiedene Stämme der Wirbellosen eignen sich in hohem Maße als Prüfstein für die Richtigkeit der Methoden, die ich für die Ermittlung der phylogenetischen Zusammenhänge gefunden zu 142 Korallen. haben glaube. Manche, wie die Meerschwämme, Steinkorallen, Stachelhäuter, Moostierchen, Brachiopoden und sämtliche Mollusken- gruppen finden sich vom Silur oder vom Kambrium an in allen For- mationen bis zur Gegenwart so reichlich und allgemein in so günstiger Erhaltung, daß eine Neugruppierung des bisher beschriebenen Ma- terials nach den von mir aufgestellten Gesichtspunkten genügt, um einen Entscheid zu treffen. Derartige Versuche dürften aber in den meisten Fällen ohne umfangreiche Beschreibungen und ohne viele geeignete Abbildungen für den Nichtfachmann kaum verständlich sein. Ich beschränke mich daher hier auf einige Stichproben, die mir geeignet scheinen, und die immerhin genügen dürften, die Brauch- barkeit der neuen Methoden zu erhärten und ihre Vorzüge gegen- über den bisherigen Auffassungen darzutun. Übrigens liefern pa- läontologische und zoologische Spezialarbeiten aus neuerer Zeit, die bei der Fülle und Unübersichtlichkeit der Literatur vielleicht nur wenigen bekannt geworden sind, mehr oder minder überzeugende Belege für meine Auffassungen. Ich erwähne z. B. den von Dovvırız erbrachten Nachweis, daß die zur Karbon- und Permzeit so ungemein häufigen großen Fora- miniferen der Familie der Fusuliniden keineswegs, wie man bisher angenommen hat, als ausgestorben zu gelten haben, sondern daß sie sich an die jüngere ganz ähnlich gebaute Familie der Alveoliniden, die unvermittelt in der Kreide auftritt, aufs engste anschließen und sich von ihnen nur durch wenig abweichende Schalenstruktur unterscheiden. 1. Korallen. Ich verweise ferner auf die wichtigen Untersuchungen Dvervens über heutige Steinkorallen und Aktinien, denen ich ein Re- sultat entnehme, das für das Verständnis der ausgestorbenen Korallen der paläozoischen Zeit von besonderer Bedeutung ist. Dieser Forscher fand, daß die heutigen skelettlosen Zoantheen gewisse auffallende Merkmale mit den skeletttragenden paläozoischen Rugosen gemein haben, wie die Sechszähligkeit der zuerst gebildeten Mesenterien (Protosepten), ihre Einfügung in bilateralen Paaren, ihre Trennung in nur zwei Zyklen (Exosepten und Endosepten) usw. Aus dieser in der Tat frappanten Übereinstimmung zieht er den Schluß, daß die ausgestorbenen Rugosen in sehr früher Zeit unter Erwerbung eines Skelettes aus den Zoantheen hervorgegangen sind. Niemand wird die engen Beziehungen zwischen den beiden Gruppen verkennen, denn sie beruhen auf einer breiten positiven Grundlage. Aber die ganze Betrachtungsweise DuErRDENs ist unhistorisch: er sucht aus dem lebenden Material das fossile zu deuten. Aus der historischen Spongien. 143 Betrachtungsweise ergibt sich gerade das entgegengesetzte Resultat. Denn wie ich früher (S. 77ff) gezeigt habe, treten bei verschiedenen Abteilungen der paläozoischen Rugosen Erscheinungen auf, die be- stimmt auf einen allmählichen Schwund des Skeletts deuten, und die sich daher nur in dem Sinne verwerten lassen, daß man die skelettlosen Formen aus den skeletttragenden ableitet. Damit ist dann aber nicht nur das Verhältnis zwischen beiden Gruppen geo- logisch begreifbar geworden, sondern auch ein wichtiger Anhalts- punkt für die Beurteilung ähnlicher Vorgänge bei anderen Korallen gewonnen. Die meisten lebenden und fossilen Korallen lassen sich nämlich jetzt, nachdem man erkannt hat, wie unbrauchbar die bis- herigen systematischen Trennungsmerkmale, als Rugosa und Hexa- corallia, Aporosa und Perforata, für die Stammesgeschichte sind, in eine große Anzahl von Stammreihen auflösen, die schon im Silur oder Devon beginnen, und die sich zum größten Teil durch alle Zeiten hindurch bis heute unter nur unbedeutenden Änderungen verfolgen lassen. Aber neben diesen offenbar persistenten Stämmen gibt es andere, deren Überlieferung in einer gewissen Periode ab- bricht. Dazu gehören außer den erwähnten Rugosen mit reduzierten Septen auch jüngere Formen, wie die Öycloliten, Thamnastraeen usw., Gruppen mit stark perforiertem Skelett und ganz seichten oder gar konvex gewölbten Zellen, wie sie auch bei denjenigen Rugosen vorkommen, aus denen ich die Zoantheen ableite (Fig. 23—26). Wenn nun diese jüngeren Steinkorallen, die als solche in der heutigen Schöpfung nicht mehr existieren, ebenfalls skelettlos geworden sind, wie jene Rugosen, so dürfen wir erwarten, daß diese unter den heutigen skelettlosen Actinien fortleben, eine Annahme, die auch durch die ähnliche Organisation dieser letzteren gestützt wird. Er- kennen wir diese Möglichkeit nach Analogie mit den Rugosen- Zoantheen an, und erweist eine genauere Prüfung der Actinien auch im einzelnen noch weitere Übereinstimmungen mit den frag- lichen »ausgestorbenen« Korallen, so würde der ganze Stamm der Steinkorallen eine geschlossene, nirgends durch das Aussterben größerer Gruppen geschmälerte phylogene- tische Entwicklung aufweisen. 2. Spongien. Ähnliche Verhältnisse liegen auch für die Spongien vor. Hier haben die Arbeiten ScHRAmMmEns über die reichen Funde von Kieselschwämmen in der Kreide Norddeutschlands die wichtige Tatsache zutage gefördert, daß viele bisher nur lebend gekannte Gattungen schon zur Kreidezeit in nur ganz unwesentlich ver- schiedenen Arten gelebt haben, so daß der Entwicklungsgang der 144 Pharetronen. Hexactinelliden, Tetractinelliden und Monactinelliden seit dem jüngeren Mesozoikum heute viel weniger unterbrochen und viel sleichmäßiger erscheint, als ehedem. Dagegen besteht zwischen der Schwammfauna der paläozoischen und mesozoischen Zeit auch heute noch eine tiefe Kluft. Stammreihen, die aus älteren Zeiten in jüngere durchlaufen, gibt es anscheinend kaum. Und doch dürfte das nur so scheinen. So gibt es z. B. im Untersilur von Nordamerika und Nord- europa Rhizomorinen (Anthaspidella U.u. E., Zittelella U. u. E., Trocho- spongia F. Rö.), die sich von der jurassischen Gattung Unemidia- strum nach dem Bau ihres Körpers gar nicht, nach dem Skelett nur mit Mühe trennen lassen. Die ganz eigenartig gestaltete Gattung Aal- lirhoa aus der Kreide existierte schon zur Untersilurzeit in Kanada in gleicher Gestalt (Aulacopella winnipigensis Rfj.), und wenn man sich die mannigfaltigen Eutaxicladinen des Silurs in den Tetra- cladinen der Kreide (wie Siphonia, Jerea) fortleben denkt, braucht man nur die Form der Skelettelemente sich wandeln, den Schwamm- körper aber unter Fortbestehen des einmal gegebenen Gesamtbaues »auswachsen« zu lassen. So dürfte eine Neubearbeitung der fossılen und lebenden Kieselschwämme ein ähnliches Ergebnis liefern, wie es bei den Steinkorallen schon hervorgetreten ist, — die Fortdauer fast aller zur Silurzeit vorhandenen Typen bis zur Gegenwart, dabei vielfach eine gleichsinnige Umbildung der Skelettnadeln, die man bis- her für die Unterscheidung von »Unterordnungen« in erster Linie verwendet hat. Von den fossilen Kalkschwämmen möchte man aller- dings meinen, daß sie der Hauptsache nach wirklich erloschen seien. Aber auch für diese ist eine andere Auffassung statthaft. 3. Pharetronen. Die umfangreiche und mannigfaltig gestaltete Kalkschwammgruppe der Pharetronen ist aus paläozoischen Schichten bisher nur in dürftigen Vertretern ermittelt worden, aber in den Faunen der Trias, des Jura und der Kreide nimmt sie einen hervor- ragenden Platz ein Um so auffallender ist es, daß sie mit dem Ende der Kreide so gut wie ganz vom Schauplatze verschwindet. Nur einige wenige, zumeist unscheinbare Formen gleichen in ihrer Gestalt und in der Struktur ihres Skeletts so auffallend gewissen tertiären und lebenden Kalkschwämmen von isolierter Stellung (Litko- nina), daß ein Fortleben der mesozoischen Formen in ihnen wohl unbestritten erscheint. Andere, wie die Sphinctoxoa leben vielleicht in den Syconen fort. Aber was ist aus dem Gros der Phare- tronen geworden? Manche normale Kalkschwämme der heutigen Fauna, z. B. die Leucones, könnte man wohl von ihnen ableiten, unter der keineswegs Pharetronen. 145 unwahrscheinlichen Annahme, daß sich das feste Skelett der Phare- tronen, in dem die Kalknadeln zu Faserzügen vereint sind, gelockert hätte, so daß nun die Nadeln vereinzelt in der Sarkode liegen. Aber auch bei dieser Art der Ableitung bleibt doch immer noch ein ge- waltiger Formenschatz von Pharetronen übrig, die, ohne Nach- kommen zu hinterlassen, mit der Kreide verschwunden wären. Denn alle die größeren, blatt- und becherförmigen, sowie die kompakten Phar.-Skelette (Fig. 73) mit meist verwickeltem Kanalsystem lassen sich nicht wohl mit den durchgängig unscheinbaren und einfach ge- bauten lebenden Caleispongien vergleichen. Hier liegt vielmehr auch wieder einer der zahlreichen Fälle vor, wo eine reich gegliederte ÖOrganismengruppe ohne ersichtlichen Grund zu einem bestimmten Zeitpunkte verschwindet. 7 ; NR fe Fig. 73. Zwei Pharetronen, eine blattförmige, Elasmostoma (links) aus der Kreide, und eine kompakte, Stellispongia (rechts) aus der Trias. Derartige Formen mit verwickeltem Kanalsystem und kleinsten, fluidal angeordneten Nadeln (B) gibt es unter den heutigen Kalkschwämmen nicht, wohl aber unter den Hornschwämmen. (Aus STEINMANN-DÖDER- LEIN: Elem. d. Pal.) Und doch dürfte dies nur scheinbar sein. Denn unter den heute lebenden Hornschwämmen, die man früher als Keratosa zusammen- gefaßt hat, gibt es zahlreiche Formen, die nach ihrer Gestalt und nach dem Verlaufe ihres Kanalsystems den fossilen Pharetronen vollständig gleichen, ferner andere, wie die Hexaceratiden, die in allen Merkmalen, abgesehen vom fehlenden Kieselskelett, den Hexac- tinelliden ähneln, und wieder andere, die wie die Auleniden den Monactinelliden sehr nahe stehen und nach der Beschaffenheit ihrer Nadeln kaum davon getrennt werden können. Hiernach ist das Vorgehen v. LENDENFELDS gewiß berechtigt, der aus den Horn- schwämmen die Hexaceratiden ausgeschieden und als hornige Gruppe zu den Hexactinelliden gestellt hat. Es zeigt sich eben hierbei, daß hornige Skelette nur die letzten Residua früher ganz oder vorwiegend mineralischer Skelette sind. Halten wir diesen Gesichtspunkt fest, so ist nicht einzusehen, warum unter den heutigen Hornschwämmen nicht auch Nachkommen der Pharetronen existieren sollten. Es fragt sich nur, ob und welche Anhaltspunkte dafür zu finden sind. Steinmann, Abstammungslehre. 10 Pharetronen. 146 Daß viele Hornschwämme im Gesamtbau ihres Skeletts, in dem Verlauf des Kanalsystems, auch in der Ausbildung der Deckschichten ganz auffällige Übereinstimmungen mit Pharetronen erkennen lassen, tritt bei einem Vergleiche des Materials sofort hervor. So gleichen folgende Pharetronen-Gattungen solchen der Hornschwämme mehr oder weniger vollständig: Pharetronen: Hornschwämme: Elasmostoma, Diplostoma Phyllospongia Lymnorea Euspongia ürregularis Rhaphidonema, Pharetrospongia Leiosella compacta Peronidella Hippospongia 2. T. Elasmocoehia Sigmatella z. T. Stellispongia Hippospongia z.T., Euspongia z.T. Wir dürfen natürlich nicht erwarten, daß die Pharetronen- und Hornschwammeattungen sich in ihrem Umfange voll entsprechen, da bei den beiden Gruppen nicht die gleichen Merkmale zur Trennung der Gattungen benützt werden. Um den Zusammenhang zwischen Pharetronen und Horn- schwämmen aber als wahrscheimlich hinstellen zu können, müßte doch auch noch eine gewisse Übereinstimmung im feineren Bau des Skeletts vorhanden sein. Das trifft nun tatsäch- lich bis zu einem gewissen Grade zu. Das bezeichnende Merkmal der Pharetronen (unter Ausschluß der Litho- \ nina) liegt in der Anord- Fig. 74. Skelettfaser einer Pharetrone (A Elas- mostoma stellatum Gf. Cenoman. Essen) und eines rezenten Hornschwammes (B Stelospongia pulcher- rima Lendf. West-Australien). Diese Bilder zeigen die Übereinstimmung in der Größe, Form und flui- ihrer Kalknädel- chen zu Faserzügen, sowie indem ungewöhnlich häufigen nung dalen Anordnung der kleinen, stabförmigen Skelett- nadeln. Fig. A ist ein Schliff, die Nadeln sind daher nicht ihrer ganzen Länge nach sichtbar. Auch ist ihr Durchmesser durch den Fossilisationsprozeß wohl vergrößert. (A nach Dunıkowsky, B nach LENDENFELD.) Vorkommen sehr kleiner, 0.01—0.3 mm langer, ein- strahliger Nadeln (Fig. 74 A) neben Dreistrahlern und größeren Einstrahlern. Nun zeigt die Struktur der Hornschwammfaser insofern ein abweichendes Verhalten, als in den Hauptfasern gewöhnlich Sandkörner in großer Zahl in der Form eines zentralen Stranges eingebettet sind. Daneben aber kommen ebenfalls sehr kleine Nadeln, zu Faserzügen ange- ordnet vor, z. B. bei Stelospongia und Phyllospongia silicata, und diese Echinodermen. 147 liegen in der konzentrisch struierten Faser ganz ähnlich einge- bettet (Fig. 74), wie bei den Pharetronen. Da eine derartige Anordnung kleinster, einfacher Nädelchen nur bei Pharetronen und bei den Hornschwämmen angetroffen wird, so liegt in dieser Über- einstimmung ein gewichtiger Hinweis auf die Zusammengehörigkeit beider Gruppen. Das einzige durchgreifende Unterscheidungsmerk- mal wäre in der chemischen Natur dieser Nädelchen gegeben. Bei den Pharetronen werden sie allgemein für kalkig, bei den Horn- schwämmen dagegen für kieselig angesprochen. Selbst wenn diese Bestimmungen durchaus zutreffend sind, kann ich darin keinen Ein- wand gegen die Zusammengehörigkeit der beiden Gruppen erblicken. Denn wir besitzen bei anderen niederen Tiergruppen Anhaltspunkte dafür, daß kalkige Skelette phylogenetisch in kieselige übergeführt werden (vgl. S. 84), und das könnte auch bei den Pharetronen eingetreten sein. Dann wären diese aber nicht eine fast ganz er- loschene Tiergruppe, wie man bisher gemeint hat, sondern ihr weit- aus größter Teil bestände heute noch in der Form von Horn- schwämmen, ein kleinerer Teil als Kalkschwämme fort. Es hätte sich im Laufe der Zeit nur die Natur der Skelettfaser geändert, wie das auch bei anderen Gruppen von Schwämmen eingetreten ist. Aber der Gesamtbestand von Formen, wie er zur meso- zoischen Zeit entwickelt war, hätte keinerlei wesentliche Einbuße erfahren, er wäre eher vielleicht noch ein wenig vermehrt worden, denn der Formenreichtum der heutigen Hornschwämme ist dem der bisher bekannten Pharetronen mindestens gleich. Wo bei den lebenden Hornschwämmen noch die kleinen, köcherförmig angeordneten Nadeln vorhanden sind, wie bei Stelospongia (Fig. 74 B), hätten wir es dann mit einem epistatischen Merkmale zu tun. 4. Echinodermen. Obgleich sich meinen Erfahrungen nach kein zweiter Stamm der wirbellosen Tiere schon heute besser zum Ent- werfen eines vielsagenden Bildes seiner Stammesgeschichte eignet, und deutlicher das Prinzip der gleichsinnigen Umbildung vor Augen führen kann, als die Echinodermen, muß ich doch hier aus prakti- schen Gründen auf eine ausführliche Darstellung verzichten und mich mit kurzen Andeutungen und einzelnen Beispielen begnügen. Wegen weiterer Darlegungen in dieser Richtung kann ich den Leser auf den betr. Abschnitt in meiner »Einführung in die Paläontologie« verweisen. NeumaAyr hat zuerst die mit dem Paläozoikum erscheinenden Uystoideen als die Stammgruppe der verschiedenen Klassen der 10* 148 Echinodermen. Echinodermen bezeichnet; diese Deutung gewinnt aber erst dadurch an Wahrscheinlichkeit, daß man sich im Sinne einer gleichgerichteten Umbildung die Seelilien, Seeigel, Schlangensterne und Seegurken nicht ein einziges Mal, sondern zu oft wiederholten Malen und zu verschiedenen Zeiten aus der primitiven, fast noch un- gestrahlten Stufe der Oyst. hervorgegangen denkt. Dann erscheint es auch selbstverständlich, daß die uns bekannten Cyst. nicht ausge- storben, sondern daß aus ihnen ebenfalls noch Vertreter der ver- schiedenen Klassen entstanden sind. Das Nebeneinanderbestehen von zahlreichen Vertretern einer höher entwickelten Klasse und einzelnen zurückgebliebenen der primitiven Klasse, aus denen diese hervor- gegangen ist, hat nach dieser Auffassung nichts Befremdliches. Fig. 75. Drei phylogenetische Stadien des Crinoiden-Stammes. Eine Cystoidee (Silur) ohne deutlich ausgebildeten Stiel und Arme (links), eine ältere Crinoidee (Karbon) mit gut ausgebildetem Stiel (st) und mit wohlentwickelten, aber wenig beweglichen Armen (br) (Mitte) und eine moderne Crinoidee ohne Stiel und mit stark entwickelten, leicht be- weglichen Armen (rechts). Der eigentliche Körper verkleinert sich im Laufe der Zeit immer mehr und schrumpft zu einem kleinen Knopf zusammen, während die Arme immer stärker und beweglicher werden. (Aus STEINMANN-DÖDERLEIN: Elem. d. Pal.) Mit der Stammesgeschichte der Stachelhäuter verknüpft sich ein besonderes Interesse. An keinem zweiten Stamm der Wirbellosen (mit Ausnahme etwa der Arthropoden) beobachten wir so tiel- greifende Umänderungen im Laufe der biohistorischen Zeit, wie an diesen. Eine silurische Koralle weicht in ihrer Gesamtorganisation von einer aus ihr hervorgegangenen lebenden nur unerheblich ab. Die ältesten uns bekannten Bryozoen, Brachiopoden oder Mollusken stehen den heute lebenden nicht sehr fern; erfahren auch ihre Or- gane im Laufe der Zeit kleinere oder größere Umgestaltungen, so Echinodermen. 149 sind doch die wesentlichen Merkmale schon von vornherein gegeben. Nicht so bei den Echinodermen. Einer untersilurischen COystidee wie Echinosphaerites (Fig. 75 links) fehlt das hervorstechendste Merk- mal eines modernen Stachelhäuters, das den Bau des ganzen Körpers beherrschende Ambulakralsystem, noch fast ganz, und der Körper er- mangelt daher noch des regelmäßig strahligen Baues, den wir an allen jüngeren Vertretern wahrnehmen. Stellen wir drei phylogenetische Stadien, eine silurische Öystidee (Hchinosphaervtes, Fig. 75 links), eine karbonische, gestielte (Batocrinus Fig. 75 Mitte) und eine jurassisch- rezente, ungestielte Orinoidee (Antedon Fig. 75 rechts) neben- einander, also drei Typen, die wir auseinander (wenn auch nicht gerade aus den vorliegenden Arten) hervorgegangen denken, so ist der Unterschied zwischen ihnen sehr erheblich; eine festsitzende Blase, ungestrahlt und mit minimalen Anhängen, dann ein lang gestielter Körper mit mäßig entwickelten, schwer beweglichen Armen und schließlich ein Tier, das fast nur aus leicht beweg- lichen Armen besteht, die den Körper als einen kleinen Knopf tragen. Gerade die weitgehende Umwandlung, die sich hier im Laufe einer verhältnismäßig kurzen Zeit vollzieht, erschwert uns das Erkennen der phylogenetischen Zusammenhänge, weil schon eine kurze Lücke in der Überlieferung (und wir haben es mit weiten zu tun) einen großen und unter Umständen wichtigen Abschnitt der Um- bildungen unseren Augen entzieht. Diese Schwierigkeit spiegelt sich denn auch in dem heutigen Stande der Systematik und der Phylo- genie der Urinoiden wieder. So leben von den 36 Familien, die ZiITTEL in der letzten Auflage seiner Grundzüge aufzählt, heute sechs, und von diesen kennt man eine nur lebend, drei lassen sich bis zum Jura und zwei bis zur Trias zurückverfolgen. Die übrigen 30 sind zumeist nur aus einer oder zwei Formationen bekannt, nur neun gehen durch mehr als zwei Formationen hindurch, keine durch zwei Erd- perioden! Dieses unnatürliche Bild würde sich wesentlich ändern, wenn wir die Formeln genau kennten, nach denen sich die Umwand- lung der Familien, Gattungen und Arten ineinander vollzogen hat. Aber auf dem Wege der üblichen Systematik ist ein rascher Fort- schritt unmöglich; indem wir ein oder einige Merkmale herausgreifen und hiernach schachteln und fächern, kommen wir nur wenig voran, einerlei welche Merkmale wir in den Vordergrund stellen. Ilavr«. pet gilt für diese Tiergruppe mehr als für jede andere. Ich will nun nicht ausführlich darlegen, nach welchen Grundzügen man verfahren sollte, sondern an einigen Beispielen zeigen, wie ich die phylogenetischen Zusammenhänge suche. 150 Echinodermen. Eine frühreife Gruppe unter den Crinoiden sind die Flexi- bilia (oder Ichthyocrinacea). Obgleich wir sie jünger als Karbon nicht kennen, haben sie doch schon die Merkmale gezeitigt, die wir sonst nur bei viel jüngeren Örinoiden entwickelt finden, nämlich in allen ihren Gliedern bewegliche Arme, die sich daher oben zu- Fig. 76. sammenkrüllen können (Fig. 76) wie bei dem lebenden Antedon (Fig. ‘5 rechts) und eine lederartige, elastische Kelchdecke, die höch- stens mit kleinen Täfel- chen (Fig. 76 f) ge- pflastert ist und sich hoch zwischen die Arme hinaufzieht. Dagegen fehlt ein Merkmal, das den sonst so ähnlichen jüngeren Orinoiden zukommt (Fig. 77 p), == Oo Dyp F\ 5 N der Besitz von feinen VS DIS - beweglichen Anhängen, S DD 5 | > S R den sog. Fiederchen oder pinnulae. Nach- kommen der Flexi- bilia aus jüngeren Zeiten kennt man mit Fig. 76. Ein Vertreter der Gruppe Flexibilia impin- Sicherheit nicht. Aber nata (Taxocrinus — Unterkarbon). Fig. 77. Ein Ver- unter den jüngeren benchte A ineleiche Teilung Aerkrmäske,soyie diegennse Ortmoidengibtiesem Höhe der obersten Stielglieder (st) bei beiden. (Nach Stein- Gruppe, die manche MANN und DE LORIOL aus STEINMANN-DÖDERLEIN: El.d.P.) Ahhnlichkeitenas ne aufweist, die Apiocriniden, vom Jura (Trias) an bekannt (Fig. 77), die zwar auf den ersten Blick habituell stark abzuweichen scheinen. Aber sie zeigen doch auch gewisse bemerkenswerte Ähnlichkeiten, die in gleicher Verknüpfung bei anderen Orinoiden nicht wiederkehren. So zeichnen sich die obersten Glieder des Stiels bei beiden durch ihre geringe Höhe aus (Fig. 76st, Fig. 77 st). In der Verzweigung der Arme ist eine auffallende Ähnlichkeit besonders dadurch gegeben, daß ihre Äste sehr ungleich, aber dabei symmetrisch zur Mittelebene ausgebildet sind und sich an demselben Arme oft sehr verschieden- 22) STENDAL Od 0} Echinodermen. an artig teilen (Fig. 7(6—78). Ferner findet sich bei beiden zwischen den Armen eine größere Anzahl von kleineren Plättchen eingeschaltet (Fig. (6«—78 Bir), und bei beiden ist die Kelchdecke hoch gewölbt, elastisch und mit kleinen Plättchen gepflastert. Die Unterschiede aber bestehen darin, daß Apwocrinus Fiederchen besitzt (Fig. 77»), die den älteren Formen fehlen, und daß seine Kelchkapsel stark ausgeweitet und massiv erscheint gegenüber dem viel zarteren Gebilde “ bei den meisten Flexibilia, wie Taxoerinus (Fig. 76, 78 A) und Verw. Daß die älteren Formen zwischen Stiel und Kelch einen dreizähligen Kranz kleiner Tafeln eingeschaltet besitzen (Fig.76.f), an dessen Stelle bei den jüngeren eine einzige Platte (Fig. cd) tritt, ist von unter- geordneter Bedeutung. Wenn wir nun, wie LITT Bess BER, jagr su das wohl geschieht, von Sehr Se vornherein annehmen, SE daß der Besitz oder > E das Fehlen von Fie- a . derchen ein Merkmal ist, das sich im Laufe der Stammesgeschichte nicht ändert, und da- her Angehörige ver- schiedener Stämme be- stimmt trennt, können wir keine Brücke von Fie. 78. Ein Vertreter der Flexibilia (Taxoerinus — ae Devon-A) und der Apiocriniden (Apiocrinus — Oberer den Flexibilia zu den Jura-B). Beiden gemeinsam ist die verschiedene Ausbildung Apiocriniden schla- der Äste des gleichen Arms (rı—r3), dessen beide Äste i ungleich lang (1—5[6] und 1—8[9]) sind, und die sich gen. Denken wir es ‚uch weiterhin nicht gleichartig verästeln. ir in A liest uns aber möglich, daß genau wie ir in Fig. 77, und ir in B wie ir in Fig. 76. : E ER (Nach Harz und pe Lor1or.) die Fiederchen bei äl- teren Formen weichhäutig und daher nicht erhaltungsfähig gewesen, später aber durch Einlagerung von Kalk erhaltungsfähig geworden sind, so fällt dieser Gegengrund fort. Die massive Entwicklung des Kelches und der übrigen Körperteile, die Apioerinus auszeichnet, können wir uns aber aus dessen veränderter Lebensweise erklären; denn während . die karbonischen Flexibilia zumeist in sandig-tonigen Gesteinen gefunden werden, haben ihre angenommenen Nachkommen im Jura auf oder in der Nähe von Korallenriffen gelebt, und bei Riffbewohnern werden die Skelette bekanntlich immer massiver als bei Formen, die 152 Echinodermen. auf sandig-tonigem Boden vorkommen. Ich nehme daher keinen Anstand, Apiocrinus und Verwandte als Nachkommen der Flexi- bilia (oder wenigstens einiger derselben) zu deuten und werde hierin noch dadurch bestärkt, daß es sogar möglich ist, einzelne Apiocri- niden von bestimmten Arten der Flexibilia abzuleiten. Dafür folgendes schlagende Beispiel. Die auffälligste und extremste Gestalt unter den Apiocriniden der Jurazeit ist Guettardierinus (Fig. 79B). Der Kelch ist ungeheuer groß und solide, die Radialglieder (”,—r;) und die darüber folgenden Armglieder (1, 2, 3) sind mit den sehr zahlreichen, zwischen den Armen eingeschalteten Interradialen (ör) seitlich fest verbunden und nehmen mit ihnen an der Zusammensetzung des Kelches selbst teil, während Fig. 79. A Proguettardierinus (= Taxocrinus) Greeni Mill &G. sp. Unterkarbon. Indiana. B Gwuettardierinus dilatatus d’Orb. Oberer Jura. La Rochelle. (Nach MmiwLer und GURLEY und nach DE LorıorL.) Die Übereinstimmung zwischen beiden tritt außer in der Gesamtform in der Lage der Interradialen (ir) und Interbrachialen (ibr), ferner in der ungleichen Zahl (1,2,3 — 1,2) der Distichalglieder desselben Radius hervor. Die in B stark ausgeprägte Verbreiterung der oberen Stielglieder erscheint bei A schon vorgebildet. sie sonst bei den Flex. und bei den Apiocr. als bewegliche Platten zwischen den Armen liegen (vgl. Fig. 78 BD und 76); es sind physio- logisch wirkliche Kelch- und keine Armstücke. Wir haben eine Vereinigung von abweichenden Merkmalen, die durch keinerlei be- kannte Zwischenformen mit den übrigen Apiocr. verknüpft sind. Da man aber die Apiocr. wegen vieler anderer übereinstimmender Merkmale als eine systematische und damit ‚auch ohne weiteres als eine genetische Einheit auffaßt, so rückt Gwett. in die Stellung einer extremen Form, die aus den normalen Apiocr. hervorgegangen sein müßte. »It is the acme of this line of development« wie Bather sagt. Betrachtet man nun aber die Apiocriniden als eine Gruppe, die aus den paläozoischen Flexibilia impinnata durch gleichsinnige Umbildung der verschiedenen schon zur paläozoischen Zeit vorhandenen Stammreihen entstanden sind, so erscheint das abweichende Verhalten Echinodermen. 153 von @uett. sofort leicht verständlich. Es gibt nämlich unter den karbo- nischen Flexibilia (Taxocriniden) schon eine Form, die durch die gleichen Merkmale von dem Gros der Taxocriniden und Dactylo- criniden geschieden ist. Sie gehört wie Guett. zu den allerseltensten Erscheinungen. Es ist das Forbesiocrinus Greeni Mill. & Gurl. (Fig. 79. A), nur ein einziges Mal in der Literatur erwähnt, wie auch Guwett. nur von La Rochelle in einigen Stücken bekannt geworden ist. Wir haben bei dieser Form, für die der Name Proguettardicerinus passend erscheint, dieselbe Einbeziehung der 2. Radialia 1, 2, 3 (und noch höherer Glieder) in den Kelch und die gleiche feste Verbindung mit den Interradialen (r). Wie sich Guett. durch ungewöhnlichen Umfang und kugelige Form von den sonst ähnlichen Apiocr. unterscheidet, so steht auch Proguett. hierdurch abgesondert von allen übrigen Flexibilia impinnata. Die Übereinstimmung erstreckt sich aber bis auf ganz geringfügige Einzelheiten. So sind bei Proguett. in acht von den zehn Armästen die zweiten Radialstücke in der Zahl von drei vorhanden (A rechts 1, 2, 3), in einem Arm aber (A links 1, 2) nur in der Zweizahl. Ist es nun Zufall, daß Guett. das gleiche Verhalten aufweist? Auch hier enthält nämlich der eine Armast (D links) drei zweite Radial- stücke (1, 2, 3), von denen das zweite in Ausschaltung begriffen ist, der andere Armast (rechts) aber nur deren zwei (1, 2). Was an Unterschieden zwischen dem karbonischen Vorläufer und dem jurassischen @wett. vorhanden ist, fällt durchaus nur in den Rahmen der Umbildungen, die auch alle übrigen Glieder des an- genommenen Stammes Taxocriniden-Apiocrinus ergriffen hat, nämlich das Verschmelzen der Infrabasalstücke (4:) mit dem ober- sten Stielgliede zu einer Zentrodorsalplatte, die Verbreiterung der oberen Stielglieder, die Vereinfachung des Kelchbaues durch Ver- schmelzung von Plattenstücken, in diesem Falle eine Verminderung der Interradialien (vr) und Interbrachialien (dr), sowie der vier zweiten Radialstücke zu drei (r}, r3, 73, Ya — Yı, 79, 73), außerdem eine Er- weiterung der Kelchhöhlung in seinen tieferen Teilen und im Zu- sammenhang damit eine beträchtliche Vergrößerung der Kelchtafeln. Dieses Beispiel lehrt uns aufs neue, wie beständig gerade die wenig beachteten, weil für leicht variabel gehaltenen Merkmale lange Zeiten hindurch bleiben, wie ferner die Variationsbreite eines Stammes nicht geändert wird; sie ist in diesem Falle gleich Null. Nach den jetzt herrschenden Ansichten müßte man ohne die Kenntnis der jurassischen Nachkommenschaft Proguett. als eine dem unmittelbaren Untergange geweihte Form ansprechen; sie hat sich aber bis in den Jura erhalten, und ob sie nicht als Comatula noch weiter lebt, wird 154 Echinodermen. sich erst sagen lassen, wenn diese Organisationsstufe in ihre einzelnen Stammreihen aufgelöst sein wird. Rhipidocrinus-Stamm. Ich bespreche hier eine Stammreihe, deren bis jetzt bekannte drei Mutationen zeitlich sehr weit auseinander liegen (Devon-Oberkreide-Gegenwart), und die in dem heutigen System der Crinoiden jeweils in einer anderen Abteilung untergebracht sind; dennoch glaube ich zeigen zu können, daß sie durch hinreichend be- zeichnende Merkmale zu einer genetischen Formenreihe verknüpft sind. Rhipidocrinus (Fig. 80), eine gestielte Crinoide aus dem Devon gehört zur Abtei- lung der Camerata, d.h. zu denjenigen altertümlichen Formen, deren Kelch oben durch eine starke Decke festgefüster Kalk- tafeln abgeschlossen wird (5). Gerade diese nur in einer Art bekannte Gattung besitzt eine große Zahl eigentümlicher Merkmale, die zu- meist bei keinem anderen Öameraten und außer bei seinen Nachkommen auch nirgends sonstwo in der gleichen Vergesellschaftung Fig. 80. Rhipidocrinus. Devon. Eifel. A Kelch, ohne die freien Arme, von der Seite, B von oben. (Nach F. Rormer.) Fig. S1. Rhipidoerinus. Kelch mit zwei Armen, zerlegt. (Nach SchuLtze.) a After; b Basalkranz; br Arme; c Infrabasalkranz; o Mund; p die untersten äußeren Seitenäste der Arme; pı die inneren Seitenäste; pi Fiederchen; n—r3 Radialstücke; 1, 2 die untersten, polygonalen Platten der Arme; x; interradiale, x9 inter- brachiale Hilfsplatten. auftreten. Die durch einfache Gabelung gebildeten zehn Arme (Fig. 81Dr) bestehen unten aus polygonalen (1, 2), oben aus zahlreichen, breiten, niedrigen Gliedern (br); die Arme verzweigen sich nicht, wie das sonst gewöhnlich der Fall ist, nur spärlich, sondern jeder Arm ist auf beiden Seiten mit zahlreichen, dichtgedrängten Seitenästen in fiederiger Anordnung (p, p4) besetzt, und diese erst tragen die zarten Fiederchen (pi). Die untersten Seitenäste werden von den Kelchtafeln noch mit umschlossen (Fig. SO Bp, 84 p); Echinodermen. 155 ihre proximalen Tafeln sind auffallend groß und wie Kelch- platten oder wie untere Armglieder geformt. Der Kelch ist weit, korbförmig (Fig. 80 A), seine Decke (Fig. SO B) zeigt die After- öffnung (a) etwas außerhalb des Mittelpunktes, und ebenso liegt der von der Decke verhüllte Mund (o) außerhalb der Mitte. Zwischen je zwei Armen befinden sich im Kelche eine wechselnde Zahl ein- geschobener Hilfsplatten (Fig. 80, 81, 84«,), und auch zwischen den Fig. 82. Fig. 83. Fig. 82. TUintaerinus socialis Grin. Ob. Kreide. Kansas. N. Amerika. A Restauriertes Tier. B Kelch mit den unteren Teilen der Arme. C Zerlegter Kelch. DEin Armstück. (Nach BATHER aus STEIN- MAnN: Einführung i. d. Pal.) Fig.83. Uintaerinus. Kelch mit sichtbarer Kelchdecke. (Nach SPRINGER.) Fig.54. Rhipidoerinus. Zerlegter Kelch (vel. Fig. 82 C). (Nach Schunzze.) — a After; b Basal- kranz; br Arme; 1—8 die unteren Armglieder; p Seitenäste; pı die inneren Seitenäste oder Fiederchen; px} äußere Fiederchen und interradiale Hilfsplatten; pxa innere Fiederchen und interbrachiale Hilfsplatten; r—r3 Radialstücke; x interradiale, x3 interbrachiale Hilfsplatten. Sl Armgabeln liegen ähnliche, aber weniger zahlreiche Platten (2,). Wir kennen nichts ähnliches aus jüngeren Zeiten bis zur Oberkreide, wo eine ungestielte Orinoidee von anscheinend ganz isolierter Stellung, von ZitteL zu den Flexibilia gestellt, in Nordamerika und in Europa erscheint: Uintacrinus (Fig. 82). Sein geräumiger, fast kugeliger Kelch ist ungestielt (Fig. 82 A, B), was, wie wir wissen, ja bei jüngeren 156 Echinodermen. Vertretern in den verschiedendsten Reihen vorkommt. Außerdem ist der unterste Tafelkranz von Rhip. (Fig. 8$1c) im Schwinden begriffen oder ganz verschwunden. Sonst ist der Kelch wesentlich gleich ge- baut, wie bei Rhip. Zwischen den fünf Radien (n—r,) liegt ein Komplex eingeschobener Hilfstafeln (x,), ein ähnlicher in den Arm- gabeln (25). Genau wie bei Rhip. (Fig. 815) beginnen neben dem zweiten Armglied an den Aubßenseiten der zusammengehörigen Arme sroßplattige Seitenäste in dichtgedränster Stellung sich abzuzweigen (Fig. 82 B p), während diese auf der Innenseite der zusammen- gehörigen Arme erst etwas höher (oberhalb x,) beginnen. Wie bei Rhip. besitzen nur die untersten Seitenäste an ihrer Basis größere, den Kelchtafeln ähnliche Platten (Fig. 82 DB p), bei den höheren sind sie schmäler. Die langen Arme bestehen wie bei hip. aus zahlreichen, breiten und niedrigen Tafeln; aber diese sind bei Urnt. beweglich ge- worden, nicht mehr starr wie bei der devonischen Form. Ebenso haben auch die Armäste bei Uint. eine neue Funktion übernommen, denn von den zarten Fiederchen von Rhip. ist hier nichts zu finden, dafür sind die Seitenäste beweglich und selbst zu Fiederchen ge- worden; auch bestehen sie nur noch aus einer Reihe von Täfelchen, nicht aus zwei wie bei Rhxp., eine Veränderung, die sich auch sonst vielfach an den Armen der Ürinoiden in gleichem Sinne vollzieht. Morphologisch hat sich also nichts Erhebliches geändert, aber ‘die Funktion der Fiederchen hat gewechselt. Die durch SPRINGER bekannt gewordene Kelchdecke (Fig. 83) ist nicht starr wie bei der älteren Form, sondern beweglich, aber zahlreiche kleine Kalkplättchen sind als Rest des Plattengewölbes zu betrachten. Weder der Mund (o) noch der After (a) liegen genau in der Mitte, aber letzterer erscheint der Mitte näher gerückt, so daß die vom Mund ausgehenden Ambulakralrinnen (am), die jetzt frei zutage liegen, einen längeren Weg zu den hinteren, als zu den vorderen Armen zurückzulegen haben. Die Unterschiede zwischen Rhip. und Uent. beruhen somit wesent- lich nur auf dem Verluste des Stiels und einer Zunahme der Beweg- lichkeit der Arme und der Kelchdecke, d.h. auf Vorgängen, die in den Rahmen der bei Crinoiden allgemein herrschenden Umbildung fallen. Die morphologischen Einzelheiten im Bau des Kelches und der Arme sind dagegen mit überraschender Zähigkeit festgehalten, und sie gestatten uns, die beiden unter ihren jeweiligen Zeitgenossen ganz isolierten Formen zu einer genetischen Reihe zu verknüpfen, trotz des weiten zeitlichen Abstandes, der sie trennt. An eine gene- tische Zusammengehörigkeit von Uirt. mit den Rhodocriniden, zu denen Rhip. gehört, hatte übrigens schon JÄKEL gedacht. Eehinodermen. 157 Nun hat Springer, der Monograph von Uint., mit bemerkens- wertem Scharfsinn auf die Ähnlichkeit dieser Gattung mit einer lebenden Antedonide, Actinometra solarıs (Fig. 85, 86), hingewiesen. Dies ist einer der größten Vertreter dieses Entwicklungsstadiums der Crinoiden und erlaubt schon aus diesem Grunde einen Vergleich mit Uint. Trotz der anscheinend gewaltigen Kluft, die Act. von Uent. trennt, sind doch ganz ähnliche Übereinstimmungen vorhanden, wie sie zwischen Zrhıp. und Uent. bestehen. Wir haben, um einen rich- tigen Gesichtspunkt zu finden, nur zu berücksichtigen, daß die Be- weglichkeit des Tiers noch weiterhin gesteigert ist. Die Arme, samt > — SF 5 Be En Fig. 85. Actinometra solaris Lk. sp. Lebend, A von unten (nur ein Arm ausgezeichnet). B ein grundständiges Fiederchen; s dessen proximale Glieder. ce Zentralplatte; er Cirrhen; pı grundständige Fiederchen; rn —r3 Radialstücke; 1—7 die untern Armstücke. (Nach CARPENTER.) den unteren Seitenästen sind aus dem starren Verbande des Kelches gelöst, die Hilfstafeln, die sie bei Urnt. verbanden, sind verschwunden, und die untersten Kelchtafeln zu einem Knopf (Fig. 85c) verschmolzen. Aber an der Stellung dieses Stückes konnte SPRINGER noch beweisen, daß es aus einer Anlage entstanden ist, wie sie Dint. besitzt. Ganz ähnlich ist bei beiden Gruppen aber der Bau der Arme und be- sonders bemerkenswert die übereinstimmende Form der unteren Seiten- äste, richtiger Fiederchen (Fig. 85 3); ihre proximalen Glieder weisen nämlich die gleiche, ungewöhnlich plumpe Gestalt (s) auf, wie bei Dint., und dieses auffallende Merkmal ist unter allen Antedoniden ausschließlich der aus zwei Arten bestehenden Gruppe der et. solaris eigen. Ebenso besitzt Act. den exzentrischen Mund (Fig. 86 o), 158 Echinodermen. die offenen, von keinerlei Plättchen bedeckten oder eingefaßten Ambu- lakralfurchen (af) und den nahezu zentralen After (a). So können wir nach anscheinend unwichtigen Merkmalen, die weder bei der Trennnng der größeren Abteilungen, noch bei der der Familien Berücksichtigung finden, eine Formenreihe aus den wenigen Mutationen zusammensetzen. Wir stellen dabei nur Veränderungen fest, wie sie zumeist ähnlich in anderen Crinoidenstämmen auch im Laufe der Zeit sich vollzogen haben, und wie sie in der ganzen Ent- wicklungsrichtung des Stammes liegen. Auch hier bestätigt sich das Gesetz des Beharrens der Variationsbreite, denn die Artenzahl ist bei der lebenden Gruppe der Act. solaris fast ebenso gering (2), wie bei Dint. (2) oder Rhip. (1 oder 2). Fig. 86. Kelchdecke von Actinometra solaris Fig.87. Siphonoerinus nobilis HIl. Ob. Silur. Lk. Lebend. Australien. « After; af Ambu- Wisconsin. Steinkern des Kelches. pb Ba- lakralfurchen; br Arme; o Mund; pl Plätt- salia; rn—rz Radialia; ör Interradialia; am chen der Kelchdecke. (Nach CARPENTER.) Ambulakren; o Mund; a Afterröhre. (Aus Steinumanx: Einf. i. d. Pal.) Erkennt man der hier versuchten Ableitung einen gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit zu (JÄKEL und SPRINGER habe ich als Eides- helfer schon erwähnt), so ergibt sich für die heutigen ungestielten Crinoiden, die Antedoniden, folgende Auffassung. Sie sind eine Sammlung moderner Orinoiden, von denen jede Art in einer ge- sonderten paläozoischen Art oder Gattung wurzeln kann. Ihr ungeheuerer Artenreichtum (etwa 200 Arten) ist nicht als Divergenz aus einer Ur-Antedonide zu erklären, sondern aus der gleichsinnigen Umbildung, die zahlreiche gestielte Crinoiden älterer Zeit erfahren haben. Wir sind dann auch keineswegs zu der Annahme genötigt, daß sich unter den zahlreichen fossilen Formen von so verschiedenem Bau und Habitus viele aus- gestorbene befänden; sie können alle heute noch fortleben, nur in einer modernen Einkleidung. Der polyphyletische Ursprung der »Gattunge Actinometra, die durch die exzentrische Lage des Mundes ausgezeichnet ist, wird auch durch die Tatsache gestützt, Brachiopoden. 159 daß unter den paläozoischen Orinoiden nicht nur eine, sondern mehrere verschiedene Gattungen dieses Merkmal besaßen, wie der Fig. 87 abgebildete Siphonocrinus aus dem Silur u. a. m. 5. Brachiopoden. Aus paläozoischen Ablagerungen bis zum Perm hinauf kennen wir eine reich entwickelte Brachiopoden-Familie, die Orthiden. Sie gilt als ausgestorben, da wir weder in der Trias, noch in jüngeren Formationen ganz gleichen Formen begegnen. Sie teilt mit vielen anderen Brachiopoden das Merkmal eines fehlenden Arm- gerüstes. Doch verdient bemerkt zu werden, daß ganz kurze Haken, Fig. 88, Fig. 90. Fig. 88. Orthis (Dalmanella) basalis Dalm. Ob. Silur. England. A gegen die Bauch-, B gegen die Rückenklappe, C von der Seite gesehen. (Nach DAvıpsox.) Fig. 89. Megerlea truncata L.sp. Rezent. Mittelmeer. A von der Seite, B gegen die Rückenklappe gesehen; C Armgerüst. (Nach Davı»son.) s Einbuchtung der Rückenklappe. Fig. 90. Rhynchonellina. A—C Rh. Zitteli Bös. Risano, Dalmatien. Von vorn und von der Seite. C Ansicht des Schnabels. D Innenansicht der Rückenklappe. E Längsschnitt der Schale. @’ Area; er Crura; d Deltidialplatten, k Arealkante; m Medianseptum; mi Muskelleiste der Rücken-, mi’ der Bauchklappe; #’ Zahn der Bauchklappe; z9 Zahngrube; zp’ Zahnstütze der Rückenklappe; zp Deltidialspalt. (Nach Böse aus STEINMANN, Einf. i. d. Pal.) gewissermaßen die ersten Anfänge eines solchen, bei mehreren Arten beobachtet sind. Im übrigen zeigt sie eine beträchtliche Variabilität, sowohl in ihrer Form als in der Art der Berippung und der Aus- gestaltung der Schale. Wir fassen hier eine Sektion der Gattung Orthis ins Auge, die den Namen Dalmanella (Fig. 88) erhalten hat. Die in Fig. 88 dargestellte Art aus dem Untersilur besitzt mittelstarke Rippen, einen langen, geraden Schloßrand und eine sehr deutliche, mäßig hohe Area (a’) in der großen Klappe. Die kleine Klappe zeigt eine deutliche, wenn auch wenig tiefe Einbiegung in der Mittellinie (s. Nun hat man aus den Juraablagerungen des Mittelmeergebietes Brachiopoden kennen gelernt, die habituell ausgesprochene Ahnlich- keit mit Dalmanella aufweisen — Rhynchonellina — (Fig. 90). Die Ubereinstimmung in Form, Verzierung, Bildung der Area und des 160 Brachiopoden. Sinus der kleinen Klappe ist so groß, daß hierin Unterschiede über- haupt kaum gefunden werden können. Aber an den Innenrand der kleinen Klappe heften sich zwei lange, gebogene Haken an (Der, Ecr), während bei Dalmanella nur spurenhafte Ansätze dazu vorhanden sind. Der Unterschied ist nur quantitativ, aber er genügt bei der heutigen systematischen Methode, um aus den jurassischen Formen nicht etwa nur eine neue Untergattung von Orthis zu schaffen, sondern um sie unter der Gattungsbezeichnung Rhynchonellina in eine ganz andere Familie, die der Rhynchonelliden, zu versetzen. Denn ihre Diagnose lautet: zwei einfache, gekrümmte Orura vorhanden. Alle anderen Merkmale werden dabei ignoriert. Dalmanella gilt für aus- gestorben, Rhynchonellina ebenfalls, da Vertreter der letzteren aus nachjurassischen Schichten nicht mehr bekannt geworden sind. Im Tertiär und in den heutigen Meeren gibt es aber eine Brachiopodengattung, Megerlea (Fig. 89), die weder den Orthiden, noch den Rhynchonelliden zugezählt wird, weil ihr Armgerüst (Fig. 89C) nicht nur aus einem Hakenpaar (er) besteht, sondern weil diese Haken sich nach oben zu einer Schleife aufbiegen (sl) und diese sich an die Mittelleiste der kleinen Klappe (ml) festheftet; nach diesem Merkmale wird sie zu der Familie der Terebratuliden ge- rechnet. Faßt man die Form und Verzierung der Schale, die Ge- stalt der Area und des Deltidiums, sowie die mittlere Einsenkung der kleineren Klappe ins Auge, so wird man keine wesentliche Abweichung, weder von Rhynchonellina noch von Dalmanella entdecken können. Nur das Schnabelloch der größeren Klappe erscheint stark ausgeweitet und erheblich größer als bei den älte- ren Gattungen. In der kleineren Klappe ist eine Mittelleiste (»2l) vorhanden, die aber weder Rhyn- chonellina noch Dalmanella ganz fehlt. Es gibt Fie. A. Kraussing Auch noch eine zweite lebende Gattung, die alle pisum Lk.sp. Rezent. die gleichen äußerlichen Merkmale aufweist wie Cap d.g.H. Erläute- . “ - : E rung siehe Fig. 90. diese älteren Formen, aber wieder ein anderes, viel BR Er einfacheres Armgerüst besitzt — Kraussina (Fig.91). Davioson.) Wir könnten also schwanken, ob wir Megerlea oder Kraussina oder beide mit den »ausgestorbenen« Gattungen in Verbindung bringen wollen. Vielleicht sind beide Nach- kommen von Dalmanella, und es hat sich nur das Gerüst in doppelter Richtung verändert. Für Megerlea läßt sich der Zusammenhang aber vollständiger nachweisen, weil die Entwicklung des Armgerüstes der jurassischen Rhynchonellinen genau eine Mittelstellung zwischen Brachiopoden. 161 dem unentwickelten Zustande der silurischen Dalmanella und der tertiär-rezenten Megerlea einnimmt. Wenn man hiernach an dem genetischen Zusammenhange der erwähnten Formen von Dalmanella— Rhynchonellina— Megerlea nicht gut zweifeln kann, so wäre es doch unrichtig, diese Umbildung des Armgerüstes und die Erweiterung des Stielloches, durch die sich Megerlea von Dalmanella unterscheidet, als einen Vorgang aufzu- fassen, der sich nur einmal vollzogen hätte. Schon der Umstand, daß die jurassischen Rhynchonellinen eine ähnliche Variations- breite aufweisen wie die silurischen Dalmanellen, zeigt, daß das Auswachsen der Haken bei mehreren ganz nahe verwandten Formen eingetreten ist. Ver- gleicht man ferner die verschiedenen lebenden Arten von Megerlea mit den bekannten Arten von Dalmanella, so zeigt sich auch hier ein be- merkenswerter Paral- lelismus. So wie Meger- lea trumcata sich nach ihrer Gestalt, nach der Form der Area und nach dem Auftreten des Sinus in der klei- 7 Fig. 92. Orthis erispata M.Coy. U.Silur. England. (Nach en Klappe am besten Davınosox.) Fig.93. Megerlea incerta Dav. Fernando No- mit Dalım. basalıs aus ronha (3700 m). (Nach Davınson.) A gegen die Rücken-, - . B gegen die Bauchklappe, € von der Seite gesehen. a’ Area; dem Untersilur verglei- d Deltidialplatten; s Einbuchtung der Bauchklappe. chen läßt, so kann die nur einmal gefundene Megerlea incerta (Fig. 93) am besten mit der- jenigen Gruppe von Dalmanella in Parallele gestellt werden, die durch längere und niedrigere Area und durch eine flache mittlere Einsenkung in der größeren (Bauch-) Klappe ausgezeichnet ist. Man vergleiche hierfür Orthis cerispata (Fig. 92) mit Megerlea incerta (Fig. 93). Das Ergebnis dieser Vergleiche ist also folgendes. Nur wenn man den Armen der Brachiopoden im Gegensatz zu allen sonstigen Erfahrungen bei Mollusken die Fähigkeit gänzlich abspricht, sich im Laufe der Zeit ein wenig zu verändern, im besonderen Kalkgerüste von verschiedener Länge, Form und Ausdehnung hervorzubringen, wird man die oben geschilderten paläozoischen, mesozoischen und känozoischen Steinmann, Abstammungslehre. 11 162 Ziweischaler. Formen nicht als zu einem Stamme gehörig betrachten dürfen. Andernfalls kann bei der weitgehenden Übereinstimmung in so zahl- reichen und als sehr beständig erfundenen Merkmalen ein berech- tigter Zweifel an der Einheitlichkeit des Stammes Dalmanella — Rhynchonellina — Megerlea (? Kraussina) nicht wohl aufkommen. Wir haben diesen Stamm aus drei verschiedenen Familien zu- sammenlesen müssen, haben dabei ein typisches Beispiel für die Inter- mittenz der heutigen geologischen Überlieferung, für die geringe Ver- änderung eines Stammes im Laufe der Zeit und für die parallel laufende Umbildung der in erster Linie in der Systematik verwendeten Merkmale kennen gelernt. Zugleich konnten wir eine Fortdauer der früher vorhandenen Variationsbreite und auch eine, wie es scheint, alle Vertreter betreffende Verringerung der Körpergröße wahrnehmen. Ich beschränke mich auf dies einzige Beispiel aus der Klasse der Brachiopoden. Es ist typisch und dürfte genügen, zu zeigen, daß hier die phylogenetischen Beziehungen ebenso wie in anderen Tiergruppen von der heutigen Systematik zerstückelt werden. Wer weitere Beispiele haben will, braucht nur zu versuchen, die verschie- denen Vertreter der mesozoischen und jüngeren Rhynchonelliden und Terebratuliden nach den oben entwickelten Gesichtspunkten mit paläozoischen Formen aus den Familien der Spiriferiden, Atrypiden, Pentameriden, Strophomeniden usw. zu ver- gleichen. Er wird ohne große Mühe zu den überraschendsten Er- gebnissen gelangen. Nur muß er dabei im Auge behalten, daß in manchen Fällen, wie in dem eben besprochenen, ein mehr oder weniger zusammengesetztes Armgerüst aus unscheinbaren Anfängen entstanden, in anderen Fällen, z. B. in den Stammreihen, die von den spiraltragenden Familien der Spiriferiden und Atrypiden zu dem Stadium der Terebratuliden führen, das spirale Arm- gerüst in eine Schleife umgewandelt worden ist. Über die phylogenetischen Beziehungen der Productiden und Coralliopsiden werde ich im Abschnitte Manteltiere zu sprechen kommen. 6. Zweischaler. Abgesehn von der »ausgestorbenen« Gruppe der Rudisten, die uns gleich näher beschäftigen soll, zeigen die Zwei- schaler wohl den am vollständigsten geschlossenen Entwicklungsgang unter allen Wirbellosen. Das hängt mit der Widerstandsfähigkeit ihrer Schale und mit ihrer vorherrschenden Lebensweise im Flach- wasser zusammen, zwei Umstände, die die Überlieferung wesentlich begünstigen. Wir sehen sie schon im Silur mit einer großen Reihe getrennter Stämme vertreten und können diese zumeist bis in Zweischaler. 163 die Gegenwart verfolgen. Zwar liefert selbst die verbesserte syste- matische Anordnung, wie sie ZiTTEL in seinen Grundzügen (1903) angewendet hat, noch lange kein klares Bild von der Beständigkeit ihrer phylogenetischen Entwicklung. Denn dort finden wir in der Übersichtstabelle über die zeitliche Verbreitung der Zweischaler von den 56 unterschiedenen »Familien« nur 6 ununterbrochen vom Silur bis in die Jetztzeit durchgezogen, und nur 3 Gattungen Avr- cula, Nucula und Arca sollen durch die gesamte Reihe der For- mationen hindurch gehen. Prüft man das Material aber nach den bei den Schizodonten entwickelten phylogenetischen Gesichtspunkten und versucht, die Nachkommen älterer, integripalliater Vertreter in Gattungen und Familien jüngerer sinupalliater zu ermitteln, oder be- zieht man nach dem Vorgange JAcKsons die monomyaren Familien und Gattungen, wie die Pectiniden, auf ältere heteromyare Avi- culiden, ebenso die Formen mit innerem Bande auf ähnliche ältere mit äußerem Bande, sucht man die Süßwasserformen auf ältere marine Gestalten mit sonst ähnlichen Merkmalen zurückzuführen, die fest- gewachsenen und die bohrenden auf freilebende usw., so gestaltet sich das Bild wesentlich anders und einfacher. Dann läuft die Mehr- zahl der zur Silurzeit vorhandenen Zweischalerstämme nicht nur ungeschwächt, sondern allmählich vermannigfaltigt bis in die Gegen- wart fort. Es gelingt zwar auf diesem Wege heute noch nicht, alle Stämme als durchgehend zu erweisen, was bei der immerhin noch unvollständigen Kenntnis und Durcharbeitung des Materials nicht befremden kann, aber man gewinnt doch den bestimmten Eindruck, daß es keinerlei ernstliche Schwierigkeiten bereiten wird, das Gros der Stämme und Unterstämme als beständig seit der Silurzeit zu er- weisen. Ich habe früher ein Beispiel aus dieser Gruppe angeführt (S. 99), das, wie ich glaube, deutlich zeigt, auf welchem Wege dies möglich sein wird. Sollte sich dann nach einer entsprechenden Durch- arbeitung des fossilen Stoffes eine Anzahl kleiner Formenkreise er- geben, die zu verschiedenen Zeiten aus dem reichen Stamme der Zwweischaler ausgeschaltet, also wirklich erloschen sind, so könnte das nicht weiter Wunder nehmen, da die gelegentliche Ausmerzung kleinerer Formenkreise durch geologische Vorgänge durchaus begreiflich er- scheint, wie S. 24 auseinander gesetzt worden ist. Die Kontinuität des Stammes im großen und ganzen würde dadurch keine Einbuße erleiden und seine phylogenetische Entwicklung geschlossen, einheit- lich und begreiflich sein. Nur eine große Gruppe von Zweischalern fällt aus dem Rahmen einer geschlossenen Entwicklung bis zur Gegenwart gänzlich heraus: ala 164 Pachyodonten. die Pachyodonten. Sie stehen schon vom Devon, ja wahrschein- lich schon vom älteren Silur an selbständig neben den übrigen Muscheltieren durch ihre besondere Lebensweise — sie sind von früh an Riffbewohner. Andere riffbewohnende Muscheln kennen wir aus jüngerer Zeit, wie die heute lebenden Ühamen und Tri- dacnen. Sie gehen aber nicht wesentlich hinter die Kreide oder das Tertiär zurück, und ihre Vorfahren waren bis dahin normale Muscheltiere.. Der Pachyodontenstamm trägst aber schon in seinen devonischen Vertretern ausgesprochen die Merkmale kalkriff- liebender, d. h. in ihrer Bewegung stark behinderter Tiere, zur Schau, wie uns Megalodon cucullatus zeigt: eine dicke Schale mit breiter Schloßplatte, auf der sich dicke, wulstige (Fig. 95 x, y, x’, y'), nicht wie sonst mehr oder weniger leistenförmige und scharfkantige (Fig. 94) Fig. 94. Eine Muschel mit normalen, leistenförmigen Schloßzähnen (hz’, mg’, mz’a, v2’). Fig. 95. Megalodon, ein Pachyodont mit wulstigen Zähnen (x, y, ®’, y'). A, B aus dem Devon (Schale), C Steinkern aus der Trias. (Aus STEINMANN-DÖDERLEIN: Elem. d. Pal.) Zähne erheben. In der Trias (Fig. 95 C) sehen wir die Nachkommen auch schon vielfach zu ansehnlichen Gestalten heranwachsen, wie sie zur Devonzeit nur selten vorkommen. Mit dem Jura aber beginnt eine bemerkenswerte Änderung Platz zu greifen. Waren früher die Muscheln vielleicht noch einer geringen Bewegung fähig gewesen, so hört diese jetzt ganz auf; das Tier wächst schon früh mit dem Wirbel einer Klappe auf dem Untergrunde fest, und die Folge davon ist, daß die Schale ungleichklappig wird, wie bei Diceras (Fig. 96), einer Gattung, die in den Korallenkalken des oberen Jura in Buropa zu den häufigsten Erscheinungen gehört. Die Folgen dieses Fest- wachsens äußern sich, ähnlich wie bei der lebenden Gattung Okama, für das Tier darin, daß es sich teilweise oder ganz in die festge- wachsene und zugleich größere der beiden Klappen einsenkt, und diese Änderung steigert sich sehr bald, nämlich bei einigen Ver- tretern schon zur Zeit der Unterkreide, so weit, daß das ganze Tier Pachyodonten. 165 seinen Platz in der festgewachsenen, kegelförmigen und spiral ge- drehten Unterklappe (Fig. 97 s’) findet, und die kleinere, freie Klappe (s) nur wie ein Deckel auf der Unterklappe aufliegt. Bis hierher be- greift sich der ganze Vorgang leicht und einfach als eine unmittel- bare Folge des Festwachsens des Tieres, und wir treffen daher auch bei anderen festgewachsenen Muscheltieren eine ganz ähnliche, wenn auch nicht ganz so extreme Verlagerung, so unter den Zweimusklern bei Chama und Chamostrea, unter den Einmusklern bei Ostrea (Gry- phaea und Exogyra). Mit Beginn der Kreide nimmt der Formen- reichtum des Pachyodontenstammes noch zu. Es ist keineswegs ausgeschlossen, vielmehr wahrscheinlich, daß es in vorkretazischer Zeit mehrere Stammreihen gegeben hat, aus denen sich die Pachyo- donten der Kreidezeit herleiten, aber mit Sicherheit kennen wir Fig. 9. Fig. 96. Ein mit der großen Klappe festgewachsener Pachyodont (Diceras — Jura). Fig. 97. Ein festgewachsener Pachyodont (Requienia — Unterkreide). Die rechte Klappe ist zu einem kleinen Deckel reduziert, das Tier ganz in die linke eingesenkt. (Aus STEINMANN-DÖDERLEIN: Elem. d. Pal.) bis jetzt nur die eine Linie, die von Megalodon über Diceras führt. Schon innerhalb der oberjurassischen Diceraten zeigt sich eine er- weiterte Variabilität im Vergleich zu der Formenarmut der älteren Vertreter. Ein Teil wächst gesetzmäßig mit der rechten, ein anderer Teil mit der linken Klappe fest, bei einigen Formen sind die beiden Klappen nur unbedeutend an Größe verschieden, bei anderen werden sie ungleich bis zum äußersten. Zunächst noch schwach angedeutet, tritt auch radiale Berippung an den bis dahin glatten Schalen auf. Dieses Merkmal gehört in die Klasse derjenigen Änderungen, die sich bei zahlreichen Stammreihen der Muscheltiere, in der einen früher, in der anderen später, einstellen. Sie geht zurück auf eine Fältelung des Mantelrandes, die ihrerseits als Folge des zunehmen- den Wachstums des Tieres gedeutet werden darf; da die Schale eine seitliche Ausdehnung des Mantels nicht zuläßt, so legt sich sein Rand in Falten. 166 Pachyodonten. Die Verschiedenheiten im Verhältnis der beiden Klappen zu einander fallen unter den Begriff der epistatischen Mutationen, d.h. die einen Formen beharren auf dem älteren Zustande (und solche epistatische Arten kennen wir noch aus sehr jungen Lagen der Kreide wie Apricardia-Turon), die anderen schreiten in der einmal eingeschlagenen Veränderungsrichtung rascher voran, wie Reguienia (Fig. 97). Die bei festgewachsenen Muscheltieren von Ort zu Ort wechselnden Bedingungen lassen ein solches epistatisches Divergieren wohl begreiflich erscheinen. Von den Tieren, die in den Schalen von Diceras, Requwienia, usw. wohnten, können wir mit Sicherheit aussagen, welche Lage sie in der Schale besessen haben, und wie ihre Schließmuskeln darin befestigt waren. Bei den Formen mit extrem kegelförmiger Schale Fis. 99. Fig. 98. Ein normales Muscheltier mit seiner linken Klappe, die parallel zur Mittel- ebene des Tieres liest. Fig. 99. Rekonstruktion des Hippuritentiers in seiner durch- schnitten gedachten Schale. Die Klappen stehen senkrecht zur Mittelebene des Tieres. R rechte, L linke Klappe (etwas abgehoben gezeichnet); p Mantel; m vorderer, n hinterer Schließmuskel; % Kiemensipho; o Mund; a After; d Darm; kı Kiemensack; k’ Kanäle der Deckelklappe. (Aus STEINMann: Einf. i. d. Pal.) muß der Mantel des Tieres, der. normalerweise aus zwei gleich- großen Lappen besteht, sehr unsymmetrisch geworden sein, ent- sprechend dem Mißverhältnis der beiden Klappen. Der eine (bei Requwienia linke) Lappen kleidet die kegelförmige Unterschale aus und läßt sie an seinem kreisförmigen Rande wachsen, während der andere auf eine kleine Scheibe von der Größe der Deckelklappe reduziert ist. Das Tier, dessen Mittelebene ursprünglich mit der Grenze zwischen beiden Klappen zusammenfiel (Fig. 98), hat jetzt eine Drehung derartig erfahren, daß es sich senkrecht zu seiner früheren Stellung befindet (Fig. 99). Der Vorderteil des Tieres liegt am Boden der kegelförmigen rechten Klappe, während sein hinteres Ende nach oben schaut, wo allein an der Grenze der beiden Klappen (p) das zur Atmung und Nahrungszufuhr dienende Wasser eintreten und das verbrauchte austreten kann. Diese Vertikalstellung Rudisten. 167 des Tieres ist ım allgemeinen derjenigen gleich, die auch die im Sande oder Schlamme sich einwühlenden Muscheltiere einnehmen: die Fußregion liegt unten, die Kiemen- und Afteröffnung schauen nach “ oben. Aber während bei den Sand- und Schlamm-bewohnenden Formen das ganze Tier samt der umkleidenden Schale diese senk- rechte Stellung einnimmt, ohne daß eine Verschiebung in der gegen- seitigen Lage der Organe eintritt, hat bei den extremen Pachyo- donten eine Verschiebung in der gegenseitigen Lage einzelner Teile des Tieres zueinander und zu seiner Schale Platz gegriffen (Fig. 99). Die beiden Klappen sind zwar an Größe verschieden geworden, aber der Mechanismus, mit dem sie sich öffnen und schliessen, ist dabei zunächst wenigstens der gleiche geblieben, d. h. die beiden Schließ- muskeln stehen wie bei jedem Muscheltier (Fig. 98 m, n) senkrecht zu den Klappen (Fig. 99 m, n).. Das Band, das die Klappen öffnet, und das bei der normalen Muschel einheitlich ist, und in der Mittelebene der beiden Klappen liegt, hat sich infolge der Drehung der Wirbel gespalten und steht anfangs schräg, schließlich senkrecht zu der Trennungsebene der beiden Klappen, in jeder Klappe getrennt. Die inneren Organe des Tieres aber haben sich innerhalb des Mantels gedreht, sodaß die Region des Fußes nicht mehr in der Mittelebene zwischen den beiden Mantellappen (Klap- pen), sondern über dem Wirbel der Unterklappe, also am Boden der trichterförmigen Schalenhöhlung, liegt (Fig. 990). Kiemen- und Ein- geweidesack befinden sich darüber, und die Atem- und Afteröffnung stehn schräg nach oben, nahezu senkrecht. Vorn liegt also unten, hinten oben. Die Schließmuskeln, die ihre Stellung zur Schale bewahrt haben, stehen aber nicht mehr senkrecht zur Körpermittelebene, sondern parallel dazu, und ebenso befinden sich die beiden Mantelhälften und Klappen jetzt senkrecht zur Körperachse des Tieres, die größere, kegelförmige vorn, die kleinere hinten, während sie ursprünglich symmetrisch zu beiden Seiten der Mittelebene des Tieres gelagert waren. Diese Veränderungen lassen sich an der Beschaffenheit des Schaleninnern deutlich verfolgen. Bei den meisten Pachyodonten der jüngeren Kreide, den sogenannten Rudisten, die die formen- reichen Familien der Hippuritiden und Radiolitiden umfassen, beobachtet man mehr oder minder deutlich noch eine Änderung, die im Laufe der Zeit auch sonst bei zahlreichen anderen Lamellibranchiaten eintritt, die eine ähnliche, wenig bewegliche Lebensweise führen, wie die Desmodonten, die sich in Sand und Schlamm einwühlen, oder die eine bohrende Lebensweise annehmen. Die Ränder der beiden Mantel- 168° Rudisten. lappen wachsen nämlich um die Kiemen- und Afteröffnung herum zusammen und zu 2 Röhren, den Siphonen, aus (Fig. 98a,k). Bei Hip- purites erkennt man das deutlich an den kammartigen Einfaltungen (Pfeilern) der Schale (Fig. 100 A, cp, kp), die sich vor und hinter der Stelle der Afteröffnung (cs) bilden. In der Deckelklappe befinden sich zwei Einschnitte, die diesen Öffnungen des Tieres entsprechen (Fig. 100 B cl, kl). Sie kommen beim Öffnen der Schale neben die Pfeiler und gerade über die Siphonen zu liegen (Fig. 100 C), sodaß Wasser aus- und einströmen kann, während sie bei geschlossener Schale über die beiden Pfeiler zu liegen kommen und durch sie genau abge- dichtet werden (Fig. 100 5). Verfolgt man nun die Lage dieser bei- den Löcher in der Deckelklappe bei manchen jüngeren Hippuritiden, Fie. 100. Hippurites radiosus. Oberkreide. A Unterklappe allein von oben gesehen, B mit Oberklappe im geschlossenen, C in geöfinetem Zustande. cl Kloakenloch, kl Kiemenloch der Oberklappe; es Lage des Kloakensipho, %s des Kiemensipho; cp Kloakenpfeiler; sp Kiemenpfeiler; m, my vorderer, n hinterer Muskeleindruck; sf Schloßfalte (verkümmertes Band); w Wirbel; % wahrscheinliche Lage des Kiemensacks, d des Eingeweidesacks. so bemerkt man, daß sie nicht mehr nebeneinander in gleicher Ent- fernung vom Schalenrande liegen, sondern daß die Kiemenöff- nung (kl) sich stets vom Rande etwas weiter entfernt, als die Afteröffnung (cl), also höher auf die Deckelklappe gegen den Wirbel (W) zu hinaufrückt, als die Afteröffnung. Um das eigenartige Bild, das diese Tiere darbieten, nicht zu lückenhaft erscheinen zu lassen, will ich noch bemerken, daß die Zähne der Deckelklappe zu langen, zapfenartigen Fortsätzen aus- wachsen, die in entsprechend geformte Gruben der festgewachsenen Klappe eingreifen, daß hierdurch und durch die allmählich fort- schreitende Verkümmerung des Ligaments ein Aufklappen der Deckel- klappe unmöglich wird. Diese wird vielmehr beim Öffnen der Schale nur ganz wenig abgehoben, und dann zur Seite gedreht, sodaß die Kiemen- und Afteröffnung unter die entsprechenden Löcher der Deckelklappe zu liegen kommen (Fig. 100 C). Wenn aber die beiden Klappen nur noch ganz wenig voneinander entfernt werden können, Rudisten. 169 so tritt wohl sicher derselbe Vorgang ein, der bei ähnlich gebauten Muscheltieren der Gegenwart, z. B. Chama, tatsächlich vor sich gegangen ist, daß nämlich die Ränder der beiden Mantel- lappen bis auf die absolut notwendigen Öffnungen mitein- ander verwachsen. Bei Chama sind es deren drei, die Kiemen- und die Afteröffnung, sowie eine Öffnung für den (rudimentären) Fuß. Diese letztere kann aber bei den Rudisten kaum frei geblieben sein, da der Fuß infolge des andauernden Nichtgebrauches wohl jedenfalls schon frühzeitig verkümmerte und schließlich ganz ver- schwand. So dürfen wir unbedenklich annehmen, daß der ursprüng- lich zweilappige Mantel schieblich zu einem allseitig geschlos- senen Sacke geworden ist, in dem nur noch zwei Öffnungen für Eintritt und Austritt des Wassers als Siphonen vorhanden waren. Sie lagen am oberen Ende des Sackes, und die Kiemen- öffnung stand etwas höher als die Afteröffnung. Hier- nach ist das Tier in den Fig. 99 und 101 rekonstruiert. Die frei lebenden Vorfahren der Rudisten haben wahrschein- lich wie die Mehrzahl der Muscheltiere zwei Paare frei in der Mantel- höhlung herabhängender Kiemen besessen. Wir dürfen aber wohl annehmen, daß sie nicht immer freigeblieben sind; vielmehr werden die inneren Kiemenblätter mit ihren Rändern im Laufe der Zeit zu- sammengewachsen sein, da die Unbeweglichkeit des Tieres einen solchen Vorgang befördert. Wenn Siphonen vorhanden sind, ist eine Verwachsung der Kiemen ja auch die Regel. Sind doch nicht nur bei der festgewachsenen Chama, sondern sogar bei der träge kriechen- den Teichmuschel (Anodonta) die Kiemen im hinteren Teil des Körpers verwachsen, und dieser Vorgang würde hier auch wohl auf den vor- deren Teil übergegriffen haben, wenn nicht das Vorhandensein des Fußes dies verhinderte. Bei den Rudisten ist aber auch der Fuß bald verkümmert, und es spricht daher nichts dagegen, daß die Kiemen auch am Vorderende verwuchsen und einen geschlossenen, sackartigen Hohlraum bildeten, der mit der Kiemenöffnung oben mündete, und der vom peripheren Teile des Mantelraumes rings um- geben wurde bis auf den schmalen Streifen, dem entlang die Kiemen am Mantel festgewachsen sind. Der After mündete natürlich in diesen peripheren Peribranchialraum, dessen Öffnung die Kloake ist. Wenn auch die fossilen Schalen keinen direkten Hin- weis auf den tatsächlichen Abschluß des Kiemenraums durch Ver- wachsung liefern, so sind wir nach Analogie mit den Verwachsungs- vorgängen bei lebenden Muscheltieren durchaus berechtigt, ihn an- zunehmen; etwas Unwahrscheinliches liegt darin keineswegs. 170 Rudisten. Mit der Einstülpung des Tieres in die kegelförmige Unterklappe ist der ganze vordere Teil des Tieres von der Berührung mit der Außenwelt abgeschlossen. Damit ist aber auch die Funktion der beiden Ganglien überflüssig geworden, die sich am vorderen Ende des Tieres befinden, d.h. den Zentral- und Pedalganglien. Denn weder der Fuß, noch die als Sinnesorgane dienenden Mundlappen, noch die Gehörbläschen werden bei einem derartigen Zustande weiter funk- tionieren. Wir dürfen daher annehmen, daß in dem Maße, als dieser ungewöhnliche Zustand andauerte, auch die beiden Ganglien verkümmerten, so daß nur die dritte Gangliengruppe, das Visceralganglion, übrig blieb, da dieses nach wie vor die Kon- traktion der Siphonen und Schließmuskeln zu regulieren hatte. Vergegenwärtigen wir uns jetzt die Organisation des Ru- distentieres, so können wir folgendes darüber aussagen. Der Körper ist zylindrisch bis sackförmig, mit der Schale auf der Unterlage fest- gewachsen. Am oberen Ende sind zwei Öffnungen (Siphonen) im sonst rings geschlossenen Mantelsacke vorhanden, eine etwas höher gelegene Einströmungs- oder Brachialöffnung und eine etwas tiefer gelegene Ausströmungs- oder Kloakenöffnung. Die Kiemen- öffnung führt in einen geschlossenen, wahrscheinlich einfachen Kiemensack, an dessen unterem Ende Mund und Eingeweidesack liegen. Das Kiemenrohr wird allseitig bis auf ein schmales Längsband, an dem der Kiemensack festgeheftet ist, von einem Peribranchialraum umgeben, in den einerseits das durch die Kiemen getriebene Wasser einfließt, andrerseits die Fäces und die Genitalstoffe entleert werden. Dieser Raum mündet mit der Kloakenöffnung nach außen. Die Außenwand des Peribranchialraums wird von dem rings geschlossenen Mantel gebildet, und dieser ist von der Schale umgeben. Es sind zwei, der Körperachse parallel laufende, dem Mantel hart anliegende oder in ihn eingeschlossene Muskeln vorhanden, abgesehen von feinen Muskelzügen, die wohl in der Umgebung der Siphonen im Mantel bestanden haben, wie bei anderen siphoniaten Muscheltieren. Wahr- scheinlich war nur noch der eine Visceralganglien-Komplex in der Nähe der Siphonen vorhanden, da die beiden Körpermuskeln neben den Siphonen endigen und somit von demselben Zentrum aus inner- viert werden konnten, wie die Siphonen selbst. Der Eingeweide- knäuel besteht wie bei den Muscheltieren aus der kurzen Schlund- röhre, dem erweiterten Magen und dem langen, zylindrischen, ge- wundenen Darm; ferner aus Herz, Niere und den Geschlechtsorganen. Ob die Geschlechter getrennt oder vereint waren, ist unsicher; doch möchte man glauben, daß die Tiere, wie die ebenfalls festgewachsene Rudisten. ılzal Auster, Zwitter waren. Die Lebenstätigkeit kann von der anderer Muscheltiere nicht wesentlich verschieden gewesen sein. Durch Flimmerorgane wird das Wasser und mit ihm die Nahrung einge- sogen; diese wird mit Hilfe von abgesondertem Schleim an der durch Verschmelzung der Kiemenränder entstandenen Flimmerrinne dem Munde zugeführt, während die Flimmerhaare der Kiemen das Atem- wasser durch diese hindurchtreiben. Wir haben nun noch einige weitere Besonderheiten der Rudisten zu besprechen. Zunächst die Schale. Diese ändert im Laufe der phylogenetischen Entwicklung nicht nur ihre Form, sondern auch die Struktur unterliegt einer Änderung. Wenig bedeutsam erscheint dabei die Tatsache, daß bei den Radiolitiden die Prismen hohl werden und damit das Volum der Schale erheblich wächst, denn = SEA Hr Fr m Tr Fett nn = : HH H n IE his ann E ! 1a | E oe nk Fig. 101. Schale von Joufia (Familie Radiolitiden) im Querschnitt. Das Tier darin rekonstruiert. R rechte, L linke Klappe (etwas abgehoben); m vorderer, n hinterer Schließ- muskel; m%k Mantelkragen zwischen den beiden Klappen; mf die davon in die Unterklappe ausgehenden Fortsätze; Is Kiemensipho; es Kloakensipho. (Nach SNETHLAGE.) etwas ganz ähnliches findet sich auch bei dicken Austernschalen, 2. B. bei Gryphaea vesiceularis aus der Oberkreide, wieder. Dagegen ist ein anderes Merkmal bedeutungsvoller. Derjenige Teil des Mantels, der sich zwischen den beiden Klappen als ein breiter, kragenartiger Saum befand (Fig. 101 mk), besaß bei den meisten Rudisten starke (refäße, wie wir aus den radial verlaufenden, verästelten Eindrücken des Schalenrandes bei Heppurvtes (Fig. 100 A) und Verwandten sehen. Wie allgemein bei andauernd festsitzenden Muscheltieren, so begann auch bei den Rudisten der Mantelrand zu wuchern und Fortsätze zu erzeugen. Diese wuchsen aber nicht, wie bei Chama, Spondylus u.a. zu Stacheln frei aus, sondern wucherten, da der Mantelkragen dauernd zwischen die Klappen eingeklemmt blieb, in die Schale selbst hinein. So entstand eine von Mantelfortsätzen und damit auch von Gefäßen durchwachsene Schale (Fig. 101), die bei verschiedenen Gat- tungen ein sehr verschiedenes Aussehen erhielt, obgleich der Grund- plan der gleiche blieb. Bald sind die Mantelfortsätze einfach und zylindrisch,h nur ungleich lang, wie bei gewissen Radiolitiden 172 Rudisten. (Fig. 101), von denen man sie erst in den letzten Jahren kennen gelernt hat, bald sind sie ungleich durch Verzweigung im Mantel- kragen, im Querschnitt oval oder polygonal wie bei den Capri- niden, bald wieder in der Schale gegen die Oberfläche zu sich ver- ästelnd, wie bei Hippurites (Fig. 99%’, 100B,C). Meist beschränken sie sich auf eine Klappe, bei Caprenula durchziehen sie aber beide. Allgemein aber fehlen diese Wucherungen den älteren jurassischen Vorläufern, häufig erscheinen sie erst in der oberen Kreide und hier in fast allen Familien. Diese Erscheinung des Hineinwachsens der Mantelfortsätze in die Schale steht in der Molluskenwelt ganz ver- einzelt da. Ebenso fremdartig ist ein anderer Vorgang, der zwar weniger allgemein auftritt, aber um so häufiger wird, in je jüngere Schichten wir die Pachyodonten verfolgen. Wir kennen ihn aus Fig.103. Ein koloniebildender Sphaerulites aus der Oberkreide von der Seite und von oben. Deckelklappen nicht erhalten. (Nach D’ORBIGNY.) den beiden großen Familien der Hippuritiden und Radiolitiden; er ergreift in beiden nur einen Teil der Vertreter. Ich habe ihn schon vor einigen Jahren registriert, aber niemand hat darauf ge- achtet — die Koloniebildung durch Knospung. Die jugendlichen Tiere der Rudisten setzen sich schon früh auf irgendeinem fremden Gegenstande fest, auf einem Gesteinsfragment, oder auf dem Bruchstück einer Schale oder dergl. Zuweilen sieht man auch auf einer Rudistenschale junge Tiere der gleichen oder einer anderen Art angesiedelt; sie sitzen dann natürlich an einer beliebigen Stelle, zumeist am tieferen Teile der Schale und in beliebiger Richtung dagegen geneigt. Andrerseits findet man aber sowohl bei manchen Arten der Hippuritiden als auch bei Radiolitiden eine geringere oder größere Anzahl von Individuen gesetzmäßig aneinander ge- wachsen unter schwacher Divergenz ihrer Körperachsen, ähnlich wie die Kelche einer Korallenkolonie (Fig. 102). Ihre Oberränder liegen Rudisten. 173 wie dort in einer ebenen oder etwas gekrümmten Fläche, und die Länge der einzelnen Individuen zeigt eine gesetzmäßige Abstufung; auch gehören alle Individuen einer und derselben Art an. In anderen Fällen stehen die Tiere von ungefähr gleicher Länge neben- einander (Fig. 105). Wir haben es also mit Kolonien zu tun, die durch Knospung aus einem Mutterindividuum hervorgegangen sind. Auch diese Änderung der Fortpflanzung bildet sich erst bei den jüngsten Vertretern in Oberkreide (Turon und Senon) heraus, und zwar wie die Durchwachsung der Schale unabhängig in verschiedenen Familien und Gattungen und bei verschiedenen Arten derselben, bei größeren und bei kleineren, bei gerippten und bei ungerippten. Über die Lebensweise und die geologische Verbreitung der Pachyodonten wäre nachfolgendes zu berichten. Die älteren Ver- treter kennen wir nur als Riffbewohner. Sie finden sich entweder in Korallenkalken oder in kalkigen Sedimenten von riffartigem Charakter, deren Entstehung zwar noch strittig ist, wie die der triadischen Riff- kalke, die aber jedenfalls als Flachwasserabsätze zu betrachten sind. Aber schon in Trias und Lias treten sie vereinzelt in mergeligen Gesteinen auf, und in der Kreide trifft man sie teils in koralligenen Kalken, teils in mergeligen oder kalkigen Lagen, die in wenig tiefem Meer entstanden und oft mit korallenführenden Schichten eng ver- knüpft sind, teils aber auch in sandigen oder gar konglomeratischen Absätzen. Ausnahmsweise kommen sie auch in Absätzen aus etwas tieferen Meeren (Schreibkreide) vor. Vielfach leben sie gesellig, setzen oft ganze Gesteinslagen allein zusammen und müssen daher wie ein Rasen den Meeresboden bekleidet haben. Sie sind vielfach nur in der Jugend festgeheftet gewesen, später scheinen sie oft auf dem Boden frei aufgelegen oder teilweise im Schlamme vergraben gewesen zu sein. Das gilt besonders für die kleinen, koloniebildenden Formen. Die Größe der Schalen wechselt in weiten Grenzen. Neben lang röhrenförmigen Schalen von fast 1 m Länge kommen auch gedrungene Gestalten von 20—30 cm Querdurchmesser vor. Sie sinken aber auch bis zu minimaler Größe von etwa 1 cm herab. Da aber die Schale, wie schon bemerkt, sehr voluminös ist, und da das Tier in der Schale häufig in die Höhe wächst und den verlassenen Teil der Schale durch Scheidewände abkapselt, so gibt die Schale nicht ohne weiteres eine richtige Vorstellung von der Größe des Tieres; der von diesem eingenommene Schalenraum übersteigt auch ber den größten Arten kaum die Größe einer Faust und sinkt bei den kleinsten Arten zur Größe einer Bohne oder Erbse herab. Soweit wir die Pachyo- donten in ihrer phylogenetischen Entwicklung verfolgen können, 174 Manteltiere. nehmen sie ständig an Formenreichtum zu. In der oberen Kreide zählt man gegen 20 verschiedene Gattungen; würde man aber die koloniebildenden Formen als getrennte Gattungen behandeln, so wäre ihre Zahl noch größer. Sie sind während der Oberkreide in einem breiten Gürtel der Nordhalbkugel, der etwa zwischen dem 15° und 60° gelegen ist, weit verbreitet, kommen vereinzelt aber auch auf der Südhalbkugel vor. Sie erfüllen mancherorts noch die jüngsten Kreide- schichten Europas in großen Mengen. Aus tertiären Schichten sind mehrmals Rudisten erwähnt worden, ihr Auftreten erscheint aber nicht sicher gestellt. Lebende Vertreter kennt man nicht. Angesichts des sich stetig in aufsteigender Linie bewegenden Entwicklungsganges des Pachyodontenstammes und seiner ungemein reichen Entfaltung in der Kreide erscheint es aus geologischen Grün- den ganz und gar unbegreiflich, daß alle seine Vertreter mit dem Ende der Kreidezeit vollständig aus der Schöpfung verschwanden. Nichts deutet auf ihren bevorstehenden Untergang, vielmehr sollte man erwarten, daß sie auch fernerhin gleich gut oder gar noch üppiger gediehen wären. Kein geologischer oder biologischer Vorgang läßt sich ausdenken, der sie vernichtet haben könnte, und da wir zur Er- klärung ihres Verschwindens zu keiner Annahme greifen wollen, die außerhalb des natürlichen Geschehens liest, so müssen wir die Frage aufwerfen: sind sie wirklich ausgestorben, oder leben sie etwa in ab- geänderten Formen weiter? Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß letzteres zutrifft. 7. Manteltiere. Bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhun- derts hat man allgemein die Manteltiere oder Tunicaten zu den Weichtieren gerechnet und zusammen mit Lamellibranchiaten und Brachiopoden (oder auch noch mit Bryozoen) in der Abtei- lung der kopflosen (Acephala) vereinigt. Das war die Auffassung aller hervorragender Zoologen (TroscHEr, Acassız, BRoNN) zur Zeit, als Darwıss Entstehung der Arten erschien. Niemals hatte bis dahin jemand daran gedacht, die Manteltiere mit den Wirbel- tieren in irgendwelche Beziehung zu bringen, oder wenigstens in andere, als die Mollusken überhaupt. Die Organisation des fertigen Tieres bot ja auch nicht den geringsten Anlaß dazu. Erst nachdem der Embryonalentwicklung der Manteltiere eine vorher nicht bekannte Bedeutung zugelegt war, insbesondere durch die Arbeiten von KowaLewsky, erschienen sie plötzlich in einem ganz neuen Lichte, als Verwandte der Wirbeltiere, als Chor- daten. Diese Auffassung hat sich im Laufe der Jahre immer mehr befestigt, ohne daß aber eine Einigung darüber erzielt worden wäre, Manteltiere. 175 wie dieses Verhältnis im besondern zu denken sei. Zwar erhob ein hervorragender Forscher, K. E. v. BAER, noch dicht vor seinem Tode (1873), laut Protest gegen die Chordaten-Natur und trat für die ältere Auffassung ein. Aber dies blieb in einer Zeit der Über- schätzung der Ontogenie ohne Wirkung und muhte es wohl auch deshalb bleiben, weil v. Barr seinen Vergleich mit den Muschel- tieren nicht einwurfsfrei durchführen konnte. Wenn ich jetzt im Anschluß an den besprochenen Entwicklungs- gang der Rudisten die Manteltiere mit ihnen vergleiche, so sehe ich vorläufig von den ontogene- tischen Verhältnissen ganz ab und fasse nur die fertigen Tiere ins Auge. Von den drei gewöhnlich unterschiedenen Abteilungen: A s- cidien, Appendicularien und Salpen kommen zunächst nur die erstgenannten in Frage. Die Gesamtorganisation der Ascidien weicht von der der Rudisten, wie wir sie ge- schildert haben, in keinem ein- zigen wesentlichen Punkte ab. Sie sind meist festgewachsen, selten stecken sie frei im Schlamm oder bilden schwimmende Kolo- nien. Es gibt Einzeltiere und Kolonien. Die Größe der Indi- viduen schwankt etwa zwischen Fig. 104. Schema der Organisation einer ; . einfachen Ascidie. (Nach HERDMAn.) der einer Faust und eines Steck- Schale und Kiemen z. T. entfernt. ti Testa; nadelkopfs. Sie leben meist im dg’ Blutgefäße darin; m Mantel; bg Blut- Beeren eremrelt lauchein SEC darin; pb Peribranchialraum ; ks er l mensipho; te Tentakel; es Kloakensipho ; der Tiefsee. Der sackförmige a After; ov’ Ovarialöffnung; k Kiemenac Körper (Fig. 104) besitzt an sei- A Eu ee Bon nem oberen Ende zwei Siphonen, einen Kiemensipho (ks), und dieser steht bei zylindrischen Formen immer etwas höher als der andere, der Kloakensipho (cs). Durch ersteren strömt das Wasser in den weiten Kiemensack, passiert die gitterförmig durchbrochenen Kiemen (k), die nach Art der Blätterkiemen der Muscheltiere gebaut sind, und gelangt so in den Peribranchialraum (pb) und durch diesen aus dem Kloakensipho (cs) heraus. Die Nah- rung wird, wie bei den Muscheltieren, mit Schleim vermischt dem 176 Manteltiere. Munde (o) zugestrudelt, der sich samt dem Eingeweidesack am unteren Körperende befindet, wie bei den Rudisten. Die Organe des Eingeweidesackes unterscheiden sich von denen der Muscheltiere nur dadurch, daß sie etwas einfacher sind: eine kurze Schlund- röhre, ein erweiterter Magen (st) und ein langer, gerundeter Darm (d), der in den Peribranchialraum (p5) mündet. Herz (A), zwitterige Geschlechtsorgane (ov), Leber — nichts ist vorhanden, das nicht auch den Muscheltieren zukäme und bei diesen auch ganz ähnlich gelagert und gestaltet wäre. Die Hypobranchialrinne (oder Endo- styl, en) aber liegt genau zum Kiemensacke, wie die beiderseitigen Kiemenrinnen der Muscheltiere, wenn wir sie durch Verwachsung der zwei entsprechenden Kiemenblätter vereinigt denken, wie ich, das für die Rudisten als wahrscheinlich ausgeführt habe. Der einzige Ganglienkomplex (g) liegt dort, wo sich bei den Muscheltieren das Viszeralganglion findet. Es läßt sich also nicht leugnen, daß die Lebenstätigkeit einer Ascidie von der eines Muscheltieres überhaupt nicht, und die Gesamtorganisation nur insofern abweicht, als sie etwas einfacher ist, und daß die vorhandenen Unterschiede sich leicht begreifen als Reduktionen, die durch dauerndes Festwachsen des Tieres entstanden sind. Die unbedeutenden Lagen- veränderungen des Eingeweidesackes erklären sich durch die Drehung, die das Tier der Rudisten erfahren hat, die Verwachsung des Mantels und der Kiemen aber ungezwungen aus der Lebensweise wie bei anderen Muscheltieren. Von den Rudisten konnten wir nun aber aufzeigen, wie sie durch langsame, immer in gleichem Sinne gesteigerte Veränderung ihrer Lebensweise sich der Ascidien- Organisation allmählich angenähert haben (S. 169 ff.), und wie sie am Ende der Kreidezeit von diesen kaum wesentlich verschieden gewesen sein können, abgesehen von dem Besitz einer Schale. Es hatte sich ferner gezeigt, daß die bei höher organisierten Wirbellosen fast einzig dastehende Art der ungeschlechtlichen Fortpflanzung (Kno- spung) der Ascidien sich in der gleichen Weise schon bei den Rudisten ausgebildet hatte. Sehr wichtig für die Entscheidung der Frage, ob die Ascidien in der Tat von den Rudisten abgeleitet werden können, ist das Verhalten der Muskulatur. Bei der Behandlung der Ascidien in zoologischen Lehr- und Handbüchern bleibt meist die Tatsache un- betont, daß namentlich bei einfachen und durchscheinenden Formen, wie Cione intestinalis aus dem Mittelmeere, zwei stärkere Muskel- bündel beobachtet werden können, die parallel der Körperachse im Mantel verlaufen. Vergleicht man eine Ascidie mit einem Manteltiere. BT. normalen, zweimuskeligen Muscheltiere, dessen Vorderteil nach unten gekehrt ist, so bleibt trotz aller sonstigen Übereinstimmungen in der Organisation der Unterschied bestehen, daß beim Muscheltiere die Schließmuskeln senkrecht zur Körpermittelebene stehen, bei der Ascidie dagegen parallel dazu. Nun hat uns aber der phylogenetische Entwicklungsgang der Rudisten gezeigt, daß durch die allmähliche Änderung der Lage des Tieres zu den beiden Schalen- klappen und Muskeln auch hier das Tier mit seiner Körperachse schließlich parallel zu den Schließmuskeln zu liegen kommt, wie es bei der Ascidie der Fall ist. Wir haben daher in diesem Merkmale einen ausgezeichneten Prüfstein für die Richtigkeit der hier versuchten Ableitung. Es erübrigt uns noch, den auffälligsten Unterschied zwischen Muscheltieren und Ascidien zu besprechen, die Körperhülle. Man hat die Ascidien früher mit Recht schalenlose Weichtiere genannt, denn trotz aller Ähnlichkeit mit den Muscheltieren geht ihnen das nie fehlende Merkmal der Muscheltiere, die zweiklappige Kalkschale, ab. Aber die Tunika oder der »Mantel«, der das Tier umkleidet, zeigt doch insofern eine gewisse Ähnlichkeit mit der Körperhülle der Muscheltiere, als er aus zwei getrennten Teilen be- steht, einer äußeren, nicht muskulösen, der tunica externa, und einer inneren, muskulösen, der tunica interna. Die erstere (testa) hat man mit der Schale der Mollusken, die innere mit dem Mantel verglichen und in Parallele gestellt. Aber abge- sehen davon, daß das Material der äußeren Hülle bei beiden Gruppen verschieden ist, bei den Muscheltieren eine Kalkschale mit Oon- chiolin, bei den Manteltieren eine der Cellulose sehr ähnliche Sub- stanz, besitzt auch die testa der Ascidien einen eigentümlichen Bau. Sie besteht nicht ausschließlich aus einer toten Absonderung des Tieres, sondern ihre homogene Grundmasse, die wir mit ihren Fasergebilden und gelegentlichen mineralischen Einlagerungen dem toten Gebilde einer Muschelschale wohl vergleichen können, wird von Zellen und verzweigten Gefäßen durchsetzt, die von der inneren, dem Mantel der Muscheltiere vergleichbaren Lage in sie eindringen. Wie harmoniert diese eigenartige Bildung mit der Organisation der Muscheltiere? Vom normalen Muscheltier aus läßt sich freilich keine Brücke hierzu schlagen, wohl aber von Rudisten aus. Denn wir haben ja gesehen, daß sich bei diesen zur Kreidezeit in ver- schiedenen Familien unabhängig ein ganz ähnliches Verhalten zwi- schen Mantel und Schale anbahnt, indem der gefäßreiche Mantel mit einfachen oder verzweigten Fortsätzen in die Schale hineinwächst. Steinmann, Abstammungslehre. 12 178 Manteitiere. Um also die eigenartige Organisation der testa der Manteltiere zu egreifen, brauchen wir nur anzunehmen, daß der bei den Rudisten eingeleitete Vorgang, die Durchwachsung der Schale durch Mantelfort- sätze, nach der Kreidezeit noch weiter vorgeschritten ist und schließ- lich zum Verluste der Schale geführt hat. Derartige Durch- wachsungen oder Umwachsungen der Schalen oder der Skelette führen ja, wie ich früher (S. 69 ff) dargelegt habe, auch in anderen Tierklassen vielfach zu einer Rückbildung und schließlich zum voll- ständigen Schwinden der mineralischen Hartgebilde; es entsteht da- bei entweder eine Hülle oder ein Skelett aus rein organischen Aus- scheidungsprodukten, wie Chitin, Spongin, Conchiolin, oder dieses ist mit den Resten der mineralischen Hülle oder des Skeletts in der Form von Nadeln, Kugeln, Plättchen oder unregelmäßig geformten Fig. 105. Kalknadeln aus der Testa einer einfachen Ascidie (Cynthia), stark vergrößert. Fig. 106. A, C Kalksterne aus der Testa einer zusammengesetzten Ascidie (Leptoclinum). B Ein Stück des Mantels (m) und der Testa (t) derselben Gattung. (Nach HERDMAN.) Körperchen durchsetzt. Wenn wir uns also die testa der Ascidien als ein derartiges Umwandlungsprodukt der Muschelschale denken, so bleiben wir ganz im Rahmen unserer sonstigen Erfahrungen über die Umbildung der mineralischen Hartgebilde, und nur die Tatsache wäre bemerkenswert, daß in diesem Falle eine celluloseartige Sub- stanz übriggeblieben wäre, die sonst im Tierreiche nur gelegentlich und spärlich auftritt, während sie im Pflanzenreiche bekanntlich all- gemein verbreitet ist. Es darf hierbei aber nicht unvermerkt bleiben, daß die hornige Epidermis des Mantels von Oynthia microcosmus fast ausschließlich aus einer stickstoffhaltigen Substanz, ähnlich dem Conchiolin der Mollusken, besteht. Falls noch Reste der ursprüng- lichen Schalenmasse in der testa erhalten wären, dürften wir er- warten, daß sie in ihren chemischen und physikalischen Eigenschaften mit denjenigen anderer Mollusken übereinstimmten, d. h. daß sie aus feinstrahligem Kalkkarbonat beständen und die Form von Manteltiere. 179 Nadeln, Stäbchen oder Kugelsternen u. dgl. besäßen. Auch diese Voraussetzung trifft zu. Denn bei den koloniebildenden Synas- cidien sind kleinere Kugel- oder sternförmige Kalkkörper (Fig. 106) in der testa häufig und oft auch massen- haft vorhanden, und von einfachen As- cidien kennt man ähnliche, mehr nadel- (Fig. 105) oder netzförmige Kalkbildungen (Fig. 107), wie sie ähnlich auch bei Brachio- poden vorkommen. Die Formähnlichkeit mit den Schalenrudimenten bei Mollusken, z. B. bei den Pleurobrancheen (vgl. Fig. 18, S. 76) unter den Schnecken ist zuweilen überraschend groß; auch bestehen sie wie dort aus feinstrahligem Kalkkarbo- mie 107% Nerzweiste Kalkeld nat mit organischer Grundlage. Wenn mente aus dem Mantel einer ein- ö . © fachen Ascidie (Culeolus), stark also etwas geeignet ist, die Molluskennatur \ersrößert. (Nach Hurvarax.) der Ascidien zu stützen, so ist es diese Übereinstimmung, denn derart gebaute und zusammengesetzte Skelett- rudimente finden sich außer bei Mollusken nur noch bei niederen Wirbellosen, z. B. bei Öoelenteraten, nirgends aber im Bereiche der Chordaten oder der gegliederten Wirbellosen. Schließlich möge noch eine abweichende Gestalt unter den As- eidien kurz besprochen werden, die uns zeigt, wie durch die Ablei- tung von den Rudisten sonst schwer begreifliche Eigentümlichkeiten leicht verständlich werden. Die Gattung Rhodosoma Ehrb. (— Chevreu- lius Lac. Duth. — Fig. 108), eine im Mittelmeere und im Chinesischen Meere verbreitete Gattung, weicht bei sonst gleicher Gesamtorganisa- tion von allen anderen Ascidien dadurch ab, daß ihre feste, nicht kontraktile testa das Tier nicht als einfache, sack- förmige Hülle umkleidet, sondern daß sie aus zwei Klappen (A) besteht. Die größere (X) ist sackförmig und festgewachsen; mit ihr artikuliert eine kleinere, platte Deckelklappe (X’) längs eines ge- raden Randes (x). Bei geöffneter Deckelklappe (BD) werden die beiden Siphonen (ks, cs) sichtbar. Zwei Schließmuskeln (m, n) dienen zum Schließen, während das Öffnen, ähnlich wie bei Muscheln, durch die elastische Beschaffenheit der Schale bewirkt wird. Hier hat sich offenbar ausnahmsweise eine Einrichtung epistatisch erhalten, die bei den älteren Rudisten die Regel war, auch bei den Formen aus der jüngeren Kreidezeit noch mehrfach vorkam, während bei der Mehr- zahl der jüngeren Rudisten die Deckelklappe nicht mehr aufge- klappt werden konnte, sondern nur ein wenig abgehoben und seitlich 12* 180 Manteltiere. verschoben wurde. Die Zweiklappigkeit, die Art des Schalenschlusses und die scharfe Trennung des Mantels von der testa bei Rhodosoma mit dem Verhalten einer anderen Tiergruppe als der Muscheltiere überhaupt nur vergleichen zu wollen, erscheint mir ganz und gar unzulässig, so vollständig ist die Übereinstimmung. Sie erstreckt sich sogar auf Einzelheiten, z. B. zerteilt sich bei den Rudisten der vordere Schließmuskel in zwei weit voneinander abstehende Fig.108. Eine Ascidie mit zweiklappiger Schale — Rhodosoma callense Lac.-Duth. Mittel- meer. (Nach LAcAzE-DUTHIER und HELLER.) A Die zweiklappige Schale ohne das Tier, ge- öffnet, von der Seite gesehen. B Das Tier in der aufgeklappten Schale, von der Kiemenseite. Der Mantel ist aufgeschnitten, so daß der Kiemensack (k) sichtbar wird. C Das Tier ohne die Schale von der Intestinalseite. D Die Deckelklappe mit den Muskelansätzen. K große festgewachsene, K’ kleine bewegliche Klappe; x Scharnier; %k Kiemensack; m, m, vorderer, n hinterer Schließmuskel oder deren Anheftestellen; cs Kloakensipho; ks Kiemensipho; d Darm; a After; o Mund; st Magen; ov Eierstock. Stränge (vgl. Fig. 100 A m, m,, S. 168). Dasselbe trifft für Rhodosoma zu, wie Hrıuer nachgewiesen hat (Fig. 108 D m, m,). Ich komme daher zu dem Schlusse: Rhodosoma ist eine epistatische Form, »ein lebendes Fossile«. Unser Vergleich der Ascidien mit den Rudisten liefert somit folgende Ergebnisse. Die gesamte Organisation der Ascidien im erwachsenen Zustande, ebenso aber auch gewisse Ein- zelheiten, (die man zwar meist als wenig bedeutungsvoll einschätzt), lassen sich vollständig begreifen, wenn man sie als schalen- lose, oder nur noch mit Schalenrudimenten versehene Nachkommen der Rudisten betrachtet, denn die phylo- genetische Entwicklung der Rudisten hatte als ein natür- liches Ergebnis der andauernden festsitzenden Lebens- weise schon am Ende der Kreidezeit eine Organisation gezeitigt, in der alle Eigentümlichkeiten der Ascidie mehr oder minder ausgesprochen enthalten waren. Denken wir uns Manteltiere. 181 den Entwicklungsgang der Rudisten in der einmal eingeschlagenen und schon lange konstitutionell gefestigten Richtung weiter fortge- gesetzt, im besonderen die Mantelfortsätze die Schale in immer aus- gedehnterem Maße durchdringen, so daß diese schließlich zerfällt und an ihrer Stelle eine Zellulosehülle mit Kalkkörperchen tritt, so kann das Ergebnis nur ein Tier von der Beschaffenheit einer Ascidie sein. Denken wir uns ferner die bei den Rudisten schon mehr- fach eingetretene Koloniebildung sich noch auf weitere Formen aus- dehnen, den zur Kreidezeit bestehenden Formenreichtum nicht ver- mindert, eher noch etwas vergrößert, die Liebensgewohnheiten der Rudisten (überwiegend Flachsee-, vereinzelt Tiefseebewohner) bei- behalten, so resultieren daraus ebenfalls alle die entsprechenden Ver- hältnisse, wie sie den heutigen Ascidien zukommen. Selbst die Größenverhältnisse der Tiere bewegen sich ziemlich genau in den- selben Grenzen, wie bei den Rudisten. Daß wir über den Um- bildungsvorgang von Rudisten zu Ascidien, der im wesentlichen in den Beginn der Tertiärzeit gefallen sein muß, nicht genauer unter- richtet sind, kann nicht verwundern, auch nicht als begründeter Ein- wurf gegen unsere Annahme gelten. Denn wenn die Schalen zer- fallen, werden sie höchstens noch bruchstückweise überliefert und schwer als solche erkannt, und der Zeitraum, in dem sich die Um- wandlung abgespielt hat, war ja, wie schon ausgeführt, für die palä- ontologische Überlieferung von Meerestieren wohl der ungünstigste im ganzen Laufe der Erdgeschichte seit der Silurzeit. Wie hoch sollen wir nun gegenüber diesen mannigfachen und zum Teil überraschend engen Beziehungen der Ascidien zu den Rudisten die ontogenetischen Erscheinungen bei den Ascidien bewerten? Diese haben bekanntlich zu einer ganz abweichenden Auf- fassung geführt. Wenn auch heute die verwandtschaftlichen Be- ziehungen der Tunicaten zu den Wirbeltieren meist nicht mehr so enge gefaßt werden wie früher, und sie vielfach nicht mehr mit den Wirbeltieren zu Ühordaten vereinigt, sondern mit anderen Tiergruppen zusammen den Würmern angehängt werden, wie es auch in der neuesten Auflage von Hrrrwıss Lehrbuch der Zoologie (1907) geschieht, so werden doch von den meisten Zoologen gewisse genetische Beziehungen zu den Wirbeltieren noch als feststehend anerkannt. Zwischen dieser Auffassung und der hier entwickelten besteht aber ein unlösbarer Widerspruch. Sind die Ascidien Nachkommen der Rudisten, dann kann eine Verwandtschaft mit den Wirbeitieren nicht ernstlich in Frage kommen, dann sind die Ähnlichkeiten der erwachsenen Ascidie mit dem Wirbeltier nur zufälliger Natur. Die 182 Manteltiere. Lage des »Kiemendarms« und des Herzens ist ja zum mindesten ebenso molluskenartig, wie wirbeltierhaft, den Endostyl mit der Schilddrüse zu vergleichen, geht aber wohl über das erlaubte Maß von Findigkeit hinaus. So sagt auch GorrtTE: »Die Chordatenmerk- male sind nur in den Larven sichtbar. «< Die Bedeutung des Larven- schwanzes der Ascidien für einen Vergleich mit den Wirbeltieren wird nicht gerade erhöht durch die Tatsache, daß dieses Organ, ebenso wie die sogenannten Sinnesorgane gar nicht bei allen Ver- tretern angelegt werden, z. B. nicht bei Molgula. Hier gleicht vielmehr die Larve im wesentlichen dem erwachsenen Tier. Wenn also nur die Entwicklung dieser Gattung bekannt wäre, würde kaum jemand auf den Gedanken kommen, die Ascidien mit Wirbeltieren zu ver- gleichen, wie das auch keinem Forscher in den ersten zwei Dritteln des vorigen Jahrhunderts beigefallen ist. Aber über die Deutung und Bewertung der geschwänzten Larven der Ascidien und des Schwanzabschnitts der Appendicularien gehen auch heute die Meinungen der Zoologen recht weit auseinander. So entsprechen nach SEELIGER (1900) die »Segmentgrenzen« der die »chorda« be- gleitenden Muskelbänder bei App., die erst nach dem Tode durch starke Reagentien entstehen, nur den Grenzen der Muskel- zellen; eine typisch segmentale Gliederung des Nervensystems ist bei den App. nicht vorhanden. Es fehlt ferner allen App. ein der Leibeshöhle der Vertebraten vergleichbarer Raum und die Sonderung des Darmes in ein inneres und äußeres Blatt. Dieser Gegensatz im Verhalten des Coeloms und Mesoderms bei Vertebraten und Copelaten scheint mir so bedeutungsvoll zu sein, daß sich da- durch der Versuch von vornherein verbietet, die einzelnen Abschnitte des Ruderschwanzes der App. mit den Ursegmenten von Amphrioxus und der übrigen Wirbeltiere zu homologisieren. Mit LEevkgrE und RANKEN vertritt SEELIGER die Ansicht, daß das Verhalten der Mantel- tiere auch nicht als eine Rückbildung aus einem höher segmentierten Vorfahrenstadium erklärt werden könne, vielmehr ziele die phyloge- netische Entwicklung der App. dahin, erst einen Kaudalschwanz zu schaffen, der in gleichmäßigen Abständen wohl differenzierte, vielzellige Ganglien trägt. >Sind die App. und damit auch die Tunicata als ursprünglich ungegliederte, eine enterocoele Leibeshöhle entbehrende Formen erwiesen, so können die Beziehungen zu den Wirbeltieren keine so innigen sein, als man gewöhnlich an- nimmt...... Die letzten gemeinsamen Vorfahren dieser beiden Tier- stämme müssen daher noch ungegliedert gewesen sein und eine so einfache Organisation besessen haben, daß der Wirbeltiertypus in Manteltiere. 183 ihr höchstens erst angedeutet, keineswegs aber bereits vollkommen entwickelt gewesen sein konnte.« Dieses Ergebnis deckt sich fast vollständig mit der Vorstellung, zu der uns die Ableitung aus den Rudisten führt: Die scheinbaren Ähnlichkeiten der Ascidien (und der App.) mit den Wirbeltieren sind erst sekundär ent- standen als eine Anpassung an die schwimmende Lebens- weise; sobald diese aufhört, verschwinden auch alle Be- ziehungen zu den Wirbeltieren. Lassen sich nun auch die Ascidien als die umfangreichste Ab- teilung der Manteltiere ungezwungen als schalenlose Muscheltiere und als Nachkommen der Rudisten deuten und damit unserem Verständ- nis erheblich näher rücken, so scheint die gleiche Art der Ableitung doch für die Salpen und Appendicularien unmöglich zu sein. Sie sind zwar auch »Manteltiere<, aber die Form ihrer Kiemen, die Lage und Beschaffenheit der Muskulatur u. a. m. unterscheiden sie so grundsätzlich von den Ascidien und Muscheltieren, daß ihr Ursprung in einer anderen Tiergruppe gesucht werden muß. Auch gibt es in bezug auf diese Merkmale keinen Übergang von ihnen, weder zu den Ascidien noch zu irgendwelchen lebenden oder fossilen Muschel- tieren. Ihre wichtigsten Merkmale sind nämlich folgende: Die Kiemen bilden nie einen Sack, sondern sie bestehen aus zwei symmetrischen, bei Dokolum V-förmig nach hinten eingeknickten Spaltreihen oder aus einem mittleren Rohre, das aus der Ver- wachsung von zwei symmetrisch gelegenen Bändern entstanden ge- dacht werden kann. Sie liegen stets diagonal im Körper (Fig. 110 sp). Mit Ausnahme der App. befindet sich stets die Einströmungs- oder Kiemenöffnung vorn (Fig. 110e), die Kloakenöffnung hinten (Fig.1107), was unter den Ascidien nur bei der etwas abweichenden Pyrosoma vorkommt. Siphonen wie bei den Asc. gibt es gar nicht, die Kiemen- öffnung ist stets weit, oft quer und zweilippig. Es ist nicht ein der Körperache parallel laufendes Muskelpaar vorhanden, sondern es findet sich, z. B. bei Salpa (Fig. 110), eine größere Anzahl (d—9) von Muskelbögen, die den Körper meist als unvollständige Reifen umfassen (a, «', d, d', st), und die zum Teil nach bestimmten Stellen der Ober- und Unterseite konvergieren (}a, sf{, st). Ferner wird der der Zesta entsprechende Teil der Körperhülle nie von ver- zweigten Gefäßen durchzogen, sondern ist nur von einzelnen Zellen erfüllt. Fragen wir nun, welcher Gruppe von Mollusken-artigen Tieren diese Merkmale in derselben Kombination, wenn auch in etwas abweichender 184 Manteltiere. Ausbildung zukommen, so können wir nur an Brachiopoden (Fig. 109, 111) denken. Denn diese besitzen auch stets ein Paar symmetrisch gestellter, bandförmiger Kiemen, die schräg in den vorderen Teil der Mantelhöhle hineinragen (Fig. 109sp). Ihre Schale besitzt zwei Öffnungen, eine vordere, breite und quere (v), durch die Vergleich der Muskulatur von Brachiopoden und Salpen. Fig. 109. Fig. 110. Fig. 109. Waldheimia fla- vescens Val. Lebend. Au- stralien. Längsschnitt, pa- rallel und etwas vor der Mittelebene. (Nach DAavıp- SON aus STEINMANN, Ein- führungi.d.Pal.) Fig. 110. Salpa democratica in seit- licher (links) und ventraler Ansicht (rechts). (Nach Heerwıc.) Fig.111. Wald- heimia flavescens. Lebend. Beide Klappen von innen, um die Stellung der Muskel- ansätze zu zeigen. Kleine Klappe links, große Klappe rechts. (Nach Davıson.) Bezeichnungen: a, a’ Schließmuskeln; d, d’ Offnungsmuskeln; st, stm Stielmuskeln ; sf Schloßfortsatz, an den sich die Offnungsmuskeln anheften; ö Ausströmungsöffnung ; v, e Einströmungsöffnung; da Darm; en Endostyl; sp Kieme; o Mund; stl Stielloch. das Wasser einströmt, und am hinteren Ende eine zweite zum Durch- tritt des Stielmuskels (st). Denken wir uns das Tier frei werden und den Stielmuskel verkümmert, so ist am hinteren Ende eine zweite Öffnung vorhanden, durch die das Wasser ausströmen kann, eine Kloakenöffnung. Zur Bildung von Siphonen kommt es aber bei den Manteltiere. 185 Brach. nicht, die Kiemenöffnung ist vielmehr quer gerichtet, zwei- lippig. Denkt man sich die Muskeln der Brach., die den Mantel- raum schräg und etwas gekreuzt durchsetzten (Fig. 109 «a, d, st), an die Seite gerückt und einige von ihnen sich zerteilen, so gibt es ein System von reifenartig den Körper umspannenden Muskeln, das mit dem der Salpen die Eigenart teilt, daß die Muskelbänder meist stumpf geneigt zur Körperachse verlaufen und die Ansatzstellen teils auf der Bauch-, teils auf der Rückenseite nahe aneinander gerückt sind (Fig.109-111 }a, sf{, }st). Bekanntlich bilden die Muskeln der Salpen auch keineswegs einen vollständigen Gürtel, sondern sie sind in der Mittellinie der Bauchfläche unterbrochen, und auf der Rückenseite sind die Enden der Muskelfasern zahnartig ineinander geschoben (Bronn 1862), was mit einer Ableitung von den Brach.-Muskeln ausgezeichnet harmoniert. Die Schale der Brach. endlich wird sehr häufig von Fortsätzen des Mantels durchwachsen, aber diese sind mit Ausnahme der Craniaden immer einfach, nie verzweigt. Denken wir uns also die Brach.-Schale in ähnlicher Weise in eine Öellulose- Hülle umgewandelt, wie die der Rudisten, so werden darin keine verzweigten Gefäße, sondern nur isolierte Zellgruppen oder Zellen vorhanden sein können. Ich beschränke mich auf diese Hinweise, die genügen dürften, zu zeigen, daß die Salpen zu den Brachiopoden in einem ganz ähnlichen Verhältnis stehen, wie die Ascidien zu den Muschel- tieren, und daß man mit etwa gleicher Berechtigung in den Salpen schalenlose, abgewandelte Brachiopoden erblicken darf, wie in den Ascidien schalenlose Muscheltiere. Es fragt sich nur noch, ob sich denn unter den Brach. ebenfalls »ausgestorbene« Formen finden, die ähnlich den Rudisten den Anfang zu einer derartigen Umbildung erkennen lassen. Wie ich bei der Besprechung der Brach. schon angedeutet und durch ein Beispiel belegt habe, lassen sich die meisten paläozoischen Familien, Gattungen oder gar Arten in jüngere und größtenteils auch in lebende Formen weiter verfolgen, sobald man nicht in erster Linie die zur systematischen Einteilung ver- wertete Beschaffenheit des Armgerüstes als Unterscheidungsmerkmal verwendet, sondern die Gesamtheit der übrigen Kennzeichen. Aber ausgenommen davon sind einige Familien, die sich von dem Typus z. T. auffallend weit entfernen, und für die wir keine Nachkommen aus nachpaläozoischer Zeit namhaft machen können. Dahin gehören die Productiden, von noch normaler Gestalt, aber schon früh mit zahlreichen und langen Mantelfortsätzen versehen, die hohle Stacheln auf der Schale erzeugen (Fig. 112). Ferner die sogenannten Coral- 186 Manteltiere. liopsiden, bei denen sich, ähnlich wie bei den Rudisten, das Tier in die untere, stark vergrößerte Schale versenkt (Fig. 113 A, D), so daß die andere Klappe nur wie ein Deckel darauf ruht (vgl. Scac- chinella, Fig. 113 A). Bei Richthofenia (Fig. 113 C, D) wächst die größere 78 ei Fig. 112. Produetus. Unterkarbon. England. A zeist die langen hohlen Stacheln der Schale; B die Muskulatur (d, d’, s, s’) und die diagonale, fast quere Lage der Armkiemen (sp—sp'); © die spiralen Eindrücke der Armkiemen (sp’) auf der Innenseite der Rücken- klappe; D die nierenförmigen Eindrücke (n) und die Höcker (sp), die von den Kiemen auf der Innenseite der Bauchklappe erzeugt werden. (Nach DavıpsonX aus STEINMANN- DÖDERLEIN: 'Elem. d. Pal.) Klappe auch fest, das Tier scheidet Luftkammerräume unter sich ab, und die Mantelfortsätze umhüllen die Klappe, die eine blasige Außen- schicht enthält, — alles ähnliche Umbildungen, wie wir sie bei den Rudisten kennen lernten. Die isoliert stehende Gattung Oldhamia endlich besitzt eine Deckelklappe, die nicht mehr eine geschlossene Platte vor- stellt, sondern durch tiefe Buchten gelappt, also ge- wissermaßen schon in der Auflösung begriffen ist. Es Fig. 113. A Scacchinella variabilis Gemm. Perm. fehlt bei diesen paläozoischen Sizilien. B Scacchinella. Etwas schematisierte { . Innenansicht der Rückenklappe. (, D Richthofenia Formen, dieich alsVorfahren ° Lawrenciana d.K. Perm. Saltrange, Indien. C Wohn- raum der Bauchklappe schräg von oben; D Längs- ö schnitt der Bauchklappe, || dem Schloßrande. nicht an eigenartigen Merk- a Schloßfeld; ps Deltidium:; r Schloßrand; sp Ein- ei hi ] herei drücke der Mundarme; m Mittelleiste; m} Mittel- malen, dıe man als VOrberei- furehe zwischen den wulstartigen Stützen (w) des tende Stadien für die Salpen- Schloßfortsatzes (f); s, sı Ansatzstellen der Schließ- ET: muskeln; k Luftkammern; r blasige Außenschicht; O0Tganısatıon deuten kann. kı Kanäle. (Nach GEMELLARO, SCHELLWIEN, WAAGEN So reichten bei den Pro- aus STEINMANN: Einf. i. d. Pal.) 3 2 : ductiden die sonst frei- hängenden Armkiemen nicht nur bis zur Deckelklappe, sondern sie hinterließen in dieser auch vertiefte Eindrücke (Fig. 112 sp’), besaßen also eine diagonale, fast senkrechte Stellung in der Schale (BD sp—sp’), was mit Recht als Vorstufe für das Festwachsen ange- sehen werden darf. Die Armkiemen von Scacchinella dagegen sind der Salpen bezeichne, auch u Ammoniten. 187 ungemein schmal und zart (Fig. 113 B sp) und ähneln in dieser Beziehung den schmalen Bandkiemen der Salpen. So werden wir zu der Auffassung geführt, daß die Tunicaten keine einheitliche Klasse vorstellen, sondern eine Vereinigung von Muscheltieren und Brachiopoden, die durch ähnliche Lebens- weise ähnliche Umbildungen erfahren haben, i. b. schalenlos ge- worden sind. Trotz vieler weitgehender Umwandlungen haben sie eine Anzahl von Merkmalen, die ihren mehr oder weniger normal beschaffenen Vorfahren zukamen, und die z. T. in den heute lebenden Muscheltieren und Brachiopoden noch erkennbar sind, bei- behalten. Ist diese Auffassung richtig, dann stehen sie aber in keinerlei Beziehung zu Wirbeltieren, und das was man als homologe Bildungen bei beiden angesehen hat, beschränkt sich auf zufällige und bedeutungslose Ähnlichkeiten. Die fossilen Formen, von denen wir sie ableiten, sind dann nicht erloschen, sondern die Rudisten und die erwähnten Brachiopoden-Gruppen sind im breiten Strome der vorhandenen Familien, Gattungen und vielleicht auch Arten in die schalenlosen Manteltiere umgewandelt. Dieser ganze Umbildungs- vorgang läßt sich wenigstens bei den Rudisten-Ascidien, deren Umwandlung wir besser verfolgen können als die der Brachio- poden zu den Salpen und Appendiculariern, als eine notwen- dige und gesetzmäßige Folge der schon früh eingetretenen, festsitzen- den Lebensweise verstehen. Wir brauchen unsere Zuflucht nicht zu irgendwelchen unverständlichen Entwicklungstendenzen zu nehmen, um diesen Entwicklungsgang zu begreifen; es genügt dazu die dauernde Einwirkung einer frühzeitig eingetretenen, festsitzenden Liebensweise, die geführt hat zur Verkümmerung der von der Außenwelt abge- schlossenen Organe, zur Verwachsung der dauernd aneinander- gefügten Organblätter zu Röhren und zur Durchwachsung der Schale vom Mantel aus, zum Verluste derselben und zur Umbildung ihrer organischen Grundlage in die cellulose-artige Substanz. Mit anderen Worten, die Erklärung, wieviel auch an Einzelheiten noch zu ermitteln bleibt, liest in der einfachen Ektogenese (im Sinne PLaArtgs), spez. in orthogenetischer und homoeogenetischer Umbildung. 8. Ammoniten. In den Erörterungen über Abstammungslehre wird diese Molluskengruppe meist mit Vorliebe beigezogen und in ge- wisser Beziehung mit Recht. Denn an Ammoniten haben WaAGEn und NEumAYr die vollständigsten Beispiele von allmählichen, über längere Zeiträume verfolgbaren Umbildungen aufgezeigt, an ihnen konnten sie auch nachweisen, daß die »Gattungen« aus mehreren 188 Ammoniten. Formenreihen bestehen, die, zwar morphologisch einander sehr nahe stehend, dennoch längere Zeit hindurch ganz getrennt nebeneinander fortleben und dabei gleichsinnig gerichtete Änderungen durchmachen. Nach heutiger Auffassung gehören die Ammoniten aber auch zu den sonderbaren Tiergruppen, die wie die Pachyodonten nach einer unendlich langen, in aufsteigender Linie sich bewegenden Entwicklung (am Ende der Kreidezeit) plötzlich ganz und gar verschwinden. Für viele Forscher, wie Hyatt, i. b. auch für Zittern (1903) gehört das plötzliche Erlöschen »zu den auffallendsten und bis jetzt noch un- erklärten Erscheinungen in der Entwicklungsgeschichte der orga- nischen Schöpfung«, und »es müssen an der Grenze von Kreide und Teritär große und durchgreifende Änderungen in den Existenz- bedingungen stattgefunden haben, um eine so blühende und hoch- organisierte Gruppe von Tieren nicht nur in Europa, sondern auch in den übrigen Weltteilen der Vernichtung zuzuführen«. Von anderen, wie Aser, wird die wahrscheinlichste Erklärung für ihren Untergang in der »Erschöpfung der Gestaltungsfähigkeit des ganzen Stammes« gefunden. Nach meiner Auffassung fällt die erstere der beiden Er- klärungen durchaus nicht in den Bereich der Möglichkeit, die letztere gehört überhaupt nicht zur Klasse wissenschaftlicher Erörterungen. Wie steht es nun mit der dritten, die nach unseren Erfahrungen über den Verbleib der Trigonien und Pachyodonten als die nächst- liegende erscheinen muß, mit dem Fortleben der Ammoniten inner- halb der heutigen Molluskenwelt? Die Wissenschaft versteht es oft meisterhaft, die fruchtbarsten Ideen für viele Jahrzehnte einzusargen, — ich erinnere nur an Lamarcr. Dies Los hat auch die Anregung erfahren, die vor über 40 Jahren von Suzss ausging, als er auf die merkwürdige Ähnlich- keit zwischen gewissen Ammonitenschalen und der Schale der leben- den Octopoden-Gattung Argonauta und auf die Möglichkeit gene- tischer Beziehungen zwischen beiden Abteilungen hinwies. Ich selbst habe vor 20 Jahren auf Grund unserer inzwischen erheblich an- gewachsenen Kenntnisse den phylogenetischen Zusammenhang ein- gehender zu begründen versucht und damals und später folgendes betont: Die Schale von Argonauta kann nicht als eine Neubildung ge- deutet werden, wie es meist geschieht, denn sie besitzt zahlreiche Merk- male, wie sie bei anderen Mollusken immer als das Ergeb- nis einer langen phylogenetischen Schalenentwicklung be- obachtet werden. Alle Skulpturen beginnen bei den Mollusken mit einfachen konzentrischen (queren) oder radialen (spiralen) Rippen, Ammoniten. 189 und diese laufen parallel mit oder senkrecht zu der Richtung des Schalenzuwachses.. Nur ganz allmählich lösen sich die Rippen in Knoten auf (vgl. Trigonia S. 106), nur nach einer vorausgegangenen langen phylogenetischen Entwicklung verschiebt sich die konzen- trische Berippung gegen die Zuwachsrichtung und richtet sich spitz- winkelig zu ihr, wie wir ebenfalls an den Trigonien (S. 105) sehen, und wie es das Fehlen solcher verschobener Skulpturen in allen älteren Formationen beweist. Das sind aber bekanntlich die bezeich- nenden Merkmale aller Argonauta-Schalen (Fig. 114 A, 5). Ebenso Er K.Sch. Pa Fig. 114. Argonauta hians Sol. v. Oweni. Lebend. In- Fig. 115. Argonauta hians discher Ozean. A Schale von der Seite; B gegen die Sol. Lebend. Indischer Ozean. Mündung gesehen. r Rippen; x Zuwachsstreiffung; A junge Schale mit kegel- k Außenknoten; rf Außenfurche; tr Trichterausbuchtung. förmigem Schalenanfang (k). A zeigt deutlich die Durchkreuzung der Zuwachsstreifung Bvar.gondola Dillw. fSeiten- mit den Rippen. fortsätze der Spiralleiste (2). C Schalenanfang. n konkave Embryonalfläche; 2 Achsen- (Aus STEINMANN-DÖDERLEIN: Elem. d. Pal.) leiste. sind regelmäßig spiral aufgerollte Schalen, wie sie Arg. besitzt (Fig. 114, 115), nie Anfangszustände der Schalenbildung, sondern kommen immer nur im Laufe einer längeren Entwicklung zustande, wie uns die Stammesgeschichte aller Öephalopoden und Gastro- poden zeigt. Es läßt sich weiterhin an dem Jugendzustande der Schale von Arg. zeigen, daß sie schon in frühester Jugend gebildet wird, wo das Hinterende des Tieres noch konkav ist (Fig. 115 Or), also noch ehe das Tier seine großen Rückenarme entwickelt hat; erst später legen diese auf die vom Mantel abgeschiedene innere Schale eine zweite äußere auf. Auch solche Schalenbildungen sind niemals primitiv, sondern entstehen nachweislich immer erst nach einer 190 Ammoniten, längeren phylogenetischen Entwicklung, wie bei Gastropoden und Belemniten. Endlich muß hier, wie in anderen ähnlichen Fällen, die wichtige Tatsache entsprechend gewertet werden, daß die bei der lebenden Arg. vorhandene Formenbreite schon bei den Ammoniten der Kreide bestanden hat. Denn es läßt sich ohne Schwierigkeiten nach den übereinstimmenden Skulpturen jeder der drei großen Arg.-Gruppen eine ganz entsprechende Ammoniten- Gruppe zur Seite stellen, und daß das nur für die jüngsten Ammoniten (aus der Oberkreide) zutrifft, nicht etwa für ältere aus Jura oder Trias, dürfte hier wie bei allen solchen »Zufälliekeiten« nur durch Vererbung erklärlich sein. Wenn man aber gegen einen phylo- genetischen Zusammenhang zwischen Amm. und Arg. geltend macht, daß Arg. der Sipho und die Scheidewände der Amm. fehlen, so braucht nur daran erinnert zu werden, daß der Sepienschulp, den man doch jetzt allgemein von der mit Sipho versehenen Belemniten- schale ableitet, ebenfalls keinen Sipho mehr besitzt, und daß fast alle zehnarmigen Tintenfische in ihrem Schulp weder Sipho noch Scheidewände mehr erkennen lassen, obgleich doch kaum jemand an ihrem Ursprung aus Vorläufern mit gekammerter Schale zweifeln kann. Ich beschränke mich hier auf diese Hinweise, die den Nicht-Fach- mann genügend informieren dürften, und verweise wegen weiterer Einzelheiten auf meine »Einführung in die Paläontologie« (1907). Die Frage nach dem Verbleib der Ammoniten scheint mir nach diesen Tatsachen nur in dem einen Sinne beantwortet werden zu können: sie sind wie so viele andere Gruppen von Kopffüßlern, Schnecken und Muscheltieren im Laufe der Zeit schalenlos ge- worden und leben mit unverminderter Breite der Stamm- reihen in den Octopoden fort. Argonauta aber, eine poly- phyletisch entstandene Gattung, ist nur ein Nachzügler im breiten Strome dieses Umbildungsvorganges. Wenn nun auch bei dieser Deutung der Tatsachen der Ent- wicklungsgang der Ammoniten, als phylogenetischer Gesamtvor- gang betrachtet, geschlossen erscheint und mit dem Werdegange anderer Gruppen von Wirbellosen harmonisch zusammenklingt, so klafft doch nach heutiger Auffassung in ihm eine weite Lücke. Zahl- reiche Stämme von Goniatiten lassen sich in die triadischen Ammonitengattungen hinein verfolgen, und wo das noch nicht ge- lungen ist, fehlt uns offenbar nur noch das nötige Material. Aber zwischen den Ammoniten der Trias und allen jüngeren be- steht ein tiefer Schnitt, der den Entwicklungsgang in diesen Zeiten schwer verständlich erscheinen läßt. Zur Triaszeit sind so Ammoniten. 191 ziemlich alle möglichen Formen der Amm. (von den ausgerollten ab- gesehen) ausgestaltet worden, glattschalige und rauhschalige der ver- schiedensten Art, und immer deutlicher stellt sich heraus, daß diese mannigfaltigen Gestalten eine sehr weite Verbreitung in den Trias- meeren besaßen und ebenso üppig prosperierten, wie zu irgendeiner jüngeren Zeit. Dennoch tritt ein merkwürdiger Vorgang ein. Mehr als %,, aller Triasammoniten überdauern diese Zeit nicht, nur eine (oder zwei) Familien setzen ohne erhebliche Änderungen, nur weiter diver- gierend, in den Jura fort; vielmehr entwickelt sich fast die ganze über- reiche Ammonitenfauna jüngerer Zeiten aus einer kleinen, indifferenten Ausgangsgruppe (Psiloceras). Im Sinne der üblichen Erklärungen müssen also an der Grenze von Trias und Jura ganz ungewöhnliche Vorgänge eingesetzt haben, die zur Vernichtung des enormen Formen- reichtums jener Zeit geführt haben, oder alle die verschwundenen Ammonitenstämme müssen schon von Haus aus den Keim des Todes in sich getragen haben, was ja angeblich auch die weitverbreiteten Ausschnürungen der Wohnkammer usw. (vgl. S. 11) bekräftigen. Wenn es nun wirklich wahr wäre, daß man die jüngeren Amm. von der Stammgruppe Psiloceras im Lias ableiten könnte, daß die nötigen Übergänge tatsächlich vorlägen, so müßte man mit Recht über dieses sonderbare Verhalten der Amm. staunen und nach einer Ursache forschen. Das trifft aber wiederum nicht zu. Noch niemand hat die Übergänge gesehen, die von der angenommenen flach- schaligen und weitnabeligen Stammgruppe zu den eng gerollten und z. T. aufgeblähten Gattungen wie Liparoceras, Sphaeroceras, Macro- cephalites, Hammaitoceras, Oppelia usw., geschweige denn zu den Kreideceratiten hinführen. Vielmehr lösen sich die Ammoniten- gattungen des Jura und der Kreide größtenteils einander ab, sie er- scheinen zumeist unvermittelt, und wenn wir nach einem wirklich passenden morphologischen Anschluß suchen, so müssen wir vielfach auf die »ausgestorbenen« Gattungen der Trias zurückgreifen, die zwar in ihren Lobenlinien und z. T. auch in ihren Skulpturen viel- fach noch weniger differenziert sind, aber deshalb um so eher als Vorläufer von jüngeren Formen gelten können. Ich würde daher gegenüber der heute supponierten Abstammung z. B. folgende Zu- sarmmenhänge vorziehen: ra: Jura: Juvavites (ContinurundInterrupti), Nachkommen: Macrocephalites. Jovites, Halorites, % Sphaeroceras. Sagenites, n Liparoceras. Tropites (Paulotropites), & Poeceilomorphus. 192 Nautiloideen. Trias: Jura: Paratropites (Phoebus-Gr.), Nachkommen: Oppelia, Haugiva. Eutomoceras, n Harpoceras (elegans usw.). Ebenso würde ich den Zusammenhang der Jura- und Kreide- gattungen vielfach in anderen Richtungen suchen, als es heute ge- schieht, was aber im einzelnen hier nicht gut ausgeführt werden kann. Aus einer derartigen Anordnung ergiebt sich aber ein Stammbaum, der das Abbild einer geschlossenen Entwicklung vorstellt und dabei nur wiederholte Einwanderungen von neuen Gruppen zur Jura- und Kreidezeit erforderte aus einem uns jetzt unbekannten (wahrschein- lich dem pazifischen) Gebiete, aus dem in denselben Zeiten so viele Vertreter anderer Tiergruppen, wie Korallen, Stachelhäuter, Muscheltiere usw. hervorgekommen sind. Der Stammbaum würde das Aussehen besitzen, das ich ihm in Fig. 37, S. 96 gegeben habe, und die heute unterschiedenen Familien und Gattungen würden sich darin in der angegebenen Verteilung einfügen. Die Stammesentwick- lung der Ammoniten würde sich hiernach in keiner Weise von dem Verhalten der Muscheltiere und Schnecken unterscheiden, d. h. sie würde eine kontinuierliche, Entwicklung zeigen, der weder ein un- verständliches Erlöschen größerer Formenkomplexe, noch eine unbe- greiflich explosive Entfaltung (wie zu Beginn der Jurazeit) anhaftete. 9. Nautiloidea. Es gibt eine große Anzahl fossiler Nautiloideen, die schon verhältnismäßig früh, zumeist im Paläozoikum, verschwinden. Eine geringere Zahl folgt noch im Mesozoikum nach, und zur mitt- leren Tertiärzeit verschwindet auch der letzte Sproß der Clydo- nautiliden, Aturia, trotzdem er in allen größeren Meeresregionen lebte. Was heute von den einst formenreichen beschalten Nauti- liden übriggeblieben ist, beschränkt sich auf zwei Stämme. Der eine, durch Naxtzilus pompilius repräsentiert, hat sich seit der Trias nicht wesentlich geändert; der andere, dessen Vertreter Nautzlus umbiltcatus ist, bestand auch schon zur Triaszeit in ähnlichen Formen. Suchen wir in Anwendung der früher begründeten Methode, nach der bei den Gastropoden und Cephalopoden die jüngeren Ver- treter eines Stammes vielfach als schalenlose Formen bestehen, unter den heutigen schalenlosen Cephalopoden, im besonderen unter den Octopoden, nach einer Gruppe, die sich durch besondere Merk- male von dem Gros unterscheidet, und zwar durch Merkmale, die auf einen geologisch frühen Verlust der Schale hindeuten, so kommen nur die Cirroteuthiden in Betracht. Das ist zwar eine 3 Y 4 1% Nautiloideen. 193 artenreiche Familie, aber die Tiere scheinen allgemein selten zu sein, und dies hängt wohl mit ihrer besonderen Lebensweise auf dem Boden der Flachsee oder Tiefsee zusammen. Schon hierin ähneln sie dem heutigen Nautilus, dessen leere Schalen ja auch nicht selten gefunden werden, während das Tier schwer zu erlangen ist. Durch eine Reihe konstanter Merkmale unterscheiden sich die Cirroteuthiden von allen übrigen Octopoden: Sie besitzen ein Paar kleiner Flossen etwa in der Mitte des Leibes; diese sind sehr beweglich und heften sich an eine quere, spangenartige Flossenstütze aus Knorpel im Inneren des Mantels. Sie können nicht nur von oben nach unten (wie bei den Deca- poden), sondern auch von vorn nach hinten bewegt werden. Die Arme liegen ganz in einer gemeinsamen Schwimmhaut eingebettet und sind nicht nur mit Saugnäpfen, sondern außerdem noch mit ab- wechselnd zu den Saugnäpfen gestellten Uirren versehen. Es fehlt ihnen ferner der Tintenbeutel, der allen übrigen Cephalopoden zu- kommt, sowie die radula. Der Trichter bildet eine geschlossene Röhre, wie bei allen Cephalopoden, mit Ausnahme von Nautilus, ist aber mit dem Mantel verwachsen. Die Körpermuskeln sind im Ver- gleich zu allen anderen Uephalopoden schwach entwickelt. Die zwei Kiemen sind eigenartig und weichen in ihrem Bau von denen aller anderen Üephalopoden ab. Geschlechtsorgane und sekundäre Leibes- höhle sind anders gebaut als bei den Octopoden, insbesondere fehlen die für die Dibranchiaten so bezeichnenden Spermato- phoren. Die Gehirnganglien sind stärker konzentriert als bei Octopus. Wie man sieht, liegen recht erhebliche Abweichungen sowohl im äußeren Körperbau als auch in der inneren Organisation vor. Wel- chen Wert man darauf legen mag, und ob man die Cirroteuthiden als Pteroti oder Lioglossi den übrigen Octopoden (als Apteri oder Trachyglossi) gegenüberstellt und sie von ihnen gänzlich ab- sondert, oder ob man sie nur als gleichwertige Familie mit den Octopodiden und Philonexiden betrachtet, macht wenig aus, da darüber aus dem lebenden Materiale doch keine Gewißheit zu erlangen ist. Für hier ist es von Wichtigkeit zu betonen, daß viele und gewichtige Merkmale darauf hindeuten, daß sie einen sehr primitiven und sehr früh schalenlos gewordenen Zweig der Cephalopoden überhaupt vorstellen. Als primitiv ist die unvoll- ständige Sonderung der Arme von der sie verbindenden segelartigen Schwimmhaut zu betrachten, ebenso das Fehlen der radula und des Tintenbeutels, die doch beide erst im Laufe der phylogenetischen Entwicklung entstanden sind. Ferner kann ich das Fehlen der Steinmann, Abstammungslehre. 16) 194 Nautiloideen. Spermatophoren-Einrichtung und die starke Konzentration der Kopf- ganglien doch auch nur als ein ursprüngliches Merkmal auffassen. Jedenfalls haben die Oephalopoden ursprünglich nur zwei Kiemen. besessen, und die Verdoppelung, wie sie beim heutigen Nautilus vorliegt, stellt nur einen sekundären und wenig bedeutungsvollen Zu- stand vor, wie sich aus dem Verhalten der Lamellibranchiaten ergibt, bei denen es mehrfach zur Verdoppelung der Kiemen ge- kommen ist. Deshalb braucht die Zweikiemigkeit der Cirroteu- thiden auch nicht als ein abgeleiteter Zustand aufgefaßt zu werden, wenn man an einen Zusammenhang mit Nautiliden denkt. Für einen sehr früh erfolgten Schalenverlust bei den Cirro- teuthiden spricht der Besitz der sehr vollkommen, viel voll- kommener als bei den Decapoden, beweglichen Flossen und die kräftige Rückenspange, die ihnen als Ansatz dient, ferner die Ver- wachsung des Trichters mit dem Mantel. Wenn wir so die Cirroteuthiden als Nachkommen paläo- zoischer Nautiliden betrachten, so erklären sich viele Eigentüm- lichkeiten in ungezwungener Weise; nur müssen wir dabei immer berücksichtigen, daß die Organisation der paläozoischen Nautiliden nicht nach dem heutigen Nautilus allein beurteilt werden darf. Dieser hat vielmehr durch andauerndes Verbleiben in einer eng spiral gerollten Schale eine besondere Richtung eingeschlagen. Arme mit Saugnäpfen sind bei ihm nicht zur Ausbildung gelangt. Die Kiemen haben sich verdoppelt, der Mantel ist, soweit er den Ein- geweidesack umgibt, häutig geblieben, und die Trichterhälften sind nicht verwachsen. Denken wir uns einen paläozoischen Nautiliden, etwa Gomphoceras, schalenlos werden, dabei aber eine ähnliche Lebensweise beibehalten, wie sie die Nautiliden allgemein aus- zeichnet, so würden sich bei einer solchen Tierform mit gewissen primitiven Merkmalen (wie Fehlen des Tintenbeutels, der radula, der Spermatophoren) solche Merkmale verknüpfen, die als Folgen freier Beweglichkeit anzusehen sind, nämlich langgestreckte Arme, ein muskulöser Mantel, auch als Umhüllung des Eingeweidesackes, ein zur Röhre verwachsener Trichter und als Folgen der schon lange bestehenden Schalenlosigkeit die vollkommen beweglichen Flossen und die Knorpelspange. Eine wertvolle Stütze erhält unsere Auffassung durch den Um- stand, daß für manche paläozoische Nautiloideen, im besonderen Gomphoceras, der Nachweis geliefert werden kann, daß bei ihnen mit einem röhrig verwachsenen Trichter eine Differenzierung des Kopffußes in wenige Teile (aus dem die Arme hervorgegangen sind), Nautiloideen. 195 v verbunden war, also zwei Merkmale, die der heutige Nautilus nicht besitzt, wohl aber die Cirroteuthiden. Die visierartig geschlos- senen, T-förmig verengten Mündungen von Gomphoceras (Fig. 116) zeigen nämlich eine enge, rundliche Öffnung für den Trichter auf der Ventralseite, woraus zu schließen ist, daß er schon röhrig verwachsen war, ferner eine oder wenige paarige Ausbuchtungen an dem dorsolateralen Schlitze, die man nur als be- ginnende Differenzierungen des Kopffußlappens deuten kann. Übrigens haben mit Flossen versehene Octopoden, die zu den Cirro- teuthiden zu zählen sind, nachweislich zur Zeit der Oberkreide auch schon bestanden (Calais). Es sind zwar nur wenige Anhaltspunkte, die sich für einen solchen Zusammenhang an- führen lassen, aber sie dürften immerhin ge- nügen, um die Behauptung zu stützen: es er- scheint keineswegs ausgeschlossen, daß fossile Nautiloideen der paläozoischen ee Zeit in den heutigen Üirroteuthiden Oben: Wohnkammer von fortleben, und da diese eine nicht unerheb- °"°": zeist a verengte Mündung, in der liche (und vielleicht noch gar nicht vollständig der quere Schlitz einem R £ ? i N % Paar Kopfarme, die mitt- ermittelte) Mannigfaltigkeit aufweisen, dürfen jere Ausweitung dem wir auch annehmen, daß in den Cirroteu- . Munde und die kreis- ’ : r förmige Rundung dem thiden nicht nur eine, sondern mehrere Trichter entspricht. : : Unten: Schale von der fossile Gattungen vertreten sind, und daß Bavenkettch ze et dene die Vorgänge, die zur Umbildung eines schalen- herabreichenden Trichter- DE SC . ausschnitt und die Luft- tragenden Nautiloiden zu einem schalenlosen an Mal Cirroteuthiden geführt haben, sich in ver- schiedenen Stammreihen in ganz ähnlicher Weise, wenn auch viel- leicht nicht ganz zu gleicher Zeit vollzogen haben, und daß durch die gleichsinnig gerichtete Umbildung einander sehr ähnliche Formen entstanden sind, die wir deshalb systematisch zu einer Familie oder Gruppe vereinigen. Wie man sieht, erscheint die Stammesgeschichte der Uephalo- poden in ganz verschiedenem Lichte, je nachdem man das fossile und lebende Material deutet und mit einander in Verbindung zu bringen versucht. Nach der einen, jetzt allgemein gültigen Auf- fassung ist ihre Entwicklung nach jeder Richtung hin unerklärlich und 18% 196 Arthropoden. problematisch, nach der anderen ein Gegenstück zu der der beiden anderen großen Molluskengruppen, lückenlos geschlossen und ver- ständlich. Hätten wir uns nicht so sehr daran gewöhnt, in der Natur . mehr Unbegreifliches, mehr Unnatürliches, als einfach Bedinstes und Natürliches zu sehen, so wären uns die Tatsachen auch wohl schon früher in einem anderen Lichte erschienen. 10. Arthropoden. Nach den Erfahrungen, die wir an den ungeglie- derten Wirbellosen gemacht haben, darf es als durchaus wahrschein- lich gelten, daß die verschiedenen Abteilungen der Gliedertiere eben- falls nicht auf einen einheitlichen Ursprung zurückführen. Die Frage soll hier nur insoweit erörtert werden, als das historische Material direkt dazu auffordert. Wohl zu den unerklärlichsten Erscheinungen der Organismen- welt gehört die sonderbare Rolle, die die Trilobiten in den ältesten Formationen spielen. Im Kambrium, wo die Überlieferung beginnt, sind sie überall schon in reichlicher Menge vorhanden und geben dadurch dieser ältesten der uns bekannten Faunen das bezeichnende (Grepräge. In der darauf folgenden Zeit des älteren Silurs nimmt ihr Formenreichtum noch zu, dann aber allmählich ab, bis die letzten wenigen Formen mit dem Ende des Paläozoikums verschwinden. 1903 verzeichnete Zittel 200 Gattungen (von enger Fassung) und circa 1700 Arten; ihre Zahl hat sich in den letzten Jahren aber noch vermehrt. Die dominierende Rolle der Tril. gerade in ältester Zeit würde verständlich sein, wenn sie zugleich als Stammgruppe einer oder mehrerer jüngerer Gliedertierabteilungen von reicher Ent- faltung daständen; aber das ist nach heutiger Auffassung nicht der Fall. Während alle anderen Örustaceen-Gruppen der ältesten Zeiten — das sind zugleich die schon früh und vielfach »ein- seitig spezialisierten« — bis heute fortleben, gelten gerade die Tril. für ausgestorben, trotz ihrer Mannigfaltigkeit und Häufigkeit. Die Natur muß sich in diesem Falle grundsätzlich geirrt haben, denn wozu hat sie die Trilobiten sich nicht weiter entwickeln lassen, ob- gleich sie so indifferent ausgestaltet, so wenig spezialisiert waren, daß sozusagen alles aus ihnen werden konnte ? Über ihre Organisation genügen wenige Bemerkungen (Fig. 117, 118). Auf dem Rücken werden die Tiere von einem kalkreichen Chitin- panzer (Fig. 117) bedeckt, dessen meist zahlreiche Segmente stets in einen mittleren (axialen) Spindelteil (sp, ax, gl) und die beiden Seitenteile (pl, sl) zerfallen. Die Zahl der Segmente ist unbe- stimmt und großen Schwankungen unterworfen, aber stets ver- schmilzt eine geringe Zahl der vordersten (7 oder 8) zu einem Kopf- Arthropoden. 197 schild (%), eine wechselnde Zahl der hintersten zu einem Schwanz- schild (s), während dazwischen die Rumpfsegmente (r) unbe- stimmt an Zahl und beweglich bleiben; sie konnten also später zum Teil noch mit dem Kopfschilde oder mit dem Schwanzschilde oder unter sich verschmelzen. Die Körperanhänge (Fig. 118) sind nur von wenigen bekannt; aber was man von ihnen weiß, deutet auf einen sehr unentwickelten Zustand. Am Rumpf sind sie alle gleich Fig. 117. Homalonotus delphinocephalus Fig. 118. Rekonstruktion der Unterseite Green. Ob. Silur. Dudley, England. eines Trilobiten. (Nach BEECHER und JAEKEL.) Rückenpanzer von außen. (Nach SALTER.) hy Hypostom; at Antennengeißel; md Mandi- kKopfschild ; r Rumpfglieder; sSchwanz- bularexopodit; may 1., mxa 2. Maxillarexopo- schild;; sp, ax, gl Spindelteil; pl, sl Seiten- dit; mp Maxillipedenfuß; le Leberschläuche; teile; a Augen; n Gesichtsnaht; winnere, ev Exopodit; en Endopodit; bp Bauchhaut; w’ äußere Wangen. a After. (Aus Steinmannx: Einf. i. d. Pal.) (Spaltfüße — en, ex), am Kopfschild mit Außnahme eines Antennen- paares (at) ebenfalls wenig differenziert (md, mx, mxz, ımp). Es konnten also aus ihnen jede differenzierte Art von Anhängen hervorgehen, Schreit- oder Schwimmbeine, Kiemenanhänge, Scherenfüße, Kieferfüße usw., natürlich können sie auch verschwinden. Diese primitive Or- ganisation läßt aber gerade vermuten, daß sich aus ihnen andere Gliedertiere mit modifizierten und differenzierten Anhängen haben entwickeln können. Wenn wir unter jüngeren Gliedertieren nach solchen Formen suchen, werden wir bedenken müssen, daß diese nicht nur unter 198 Arthropoden. ch hen Wassertieren, im besonderen unter Krebsen, sondern auch unter Landtieren versteckt sein können, und daß der ursprünglich kalkig- chitinöse Panzer in den Nachkommen rein chitinös geworden sein kann. Wir werden ferner weder auf die Zahl der freien, oder in Fig. 120. Fig. 119. Fig. 119. Homalonotus. A H. bisuleatus Salt. U. Silur. Kopfschild. B H. Johanni Salt. Ob. Silur. Schwanzschild. (Nach SaLrer.) Fig. 120. Oyelosphaeroma trilobatum Woodw. Ob. Jura (Purbeck). (Nach WoopwArn.) — gl Glabella, e, e' Einbuchtungen derselben; w innere Wangen; n Gesichtsnaht; o Öceipitalring. Übrige Bezeichnungen wie in Figur 122. Fig. 121. Sphaeroma gigas. Rezent. Kerguelen, Fig. 122. Serolis paradoxa Fab. Punta Arenas. Magelhanstraße. Ansicht der Rückenseite. (Nach WoopwARD.) — Das Kopfschild ist von dem 1., umfassenden Rumpfschilde durch eine Naht (n) getrennt; a Augen; a’ 1., a” 2. Fühlerpaar; I—VII Rumpfsegmente; sp Spindel; sl, pl Pleuren (Epimeren); 7—3 die ersten 3 (freien) Hinterleibssegmente; s Schwanzschild; f, fi die letzten Anhangspaare des Hinterleibes. 1/ı Arthropoden. 199 einem Kopf- oder Kopfbrustschilde verwachsenen Segmente, noch auf die Zahl und Ausgestaltung der Anhänge entscheidendes Ge- wicht legen dürfen, sofern sie die der Tril. nicht übersteigt; wohl aber können wir erwarten, daß die Dreiteilung des Körpers als ein allen Tril. zukommendes Merkmal sich in den Nachkommen mehr oder weniger deutlich kürzere oder längere Zeit erhalten hat. Geht man von diesen Gesichtspunkten aus, so kommen folgende Abtei- lungen der Gliedertiere als ihre Nachkommen in Frage: 1. Die Isopoden (Asseln). Bei ihnen ist die Dreiteilung zu- meist heute noch gut ausgesprochen (Fig. 121, 122), sie war es bei fossilen vielfach noch deutlicher (Fig. 120). Daneben besteht aber zumeist auch noch eine ganz ähnliche Zusammensetzung des Rücken- panzers aus Kopfschild, Rumpfschildern und Schwanzschild; die Augen sind sitzend wie bei den meisten Tril., die Segmentanhänge wenig verändert, nur die hinteren Füße zuweilen zu plattigen Schwimm- organen (Fig. 121 f, f') ausgestaltet. Manche lebende und fossile lassen noch bezeichnende Merkmale bestimmter Tril.-Gattungen erkennen, z. B. Oyclosphaeroma aus dem Jura (Fig. 120). Dieser Isopode gleicht in seiner breiten Spindel und seinen schmalen Seitenteilen (pl), so- wie in der dreieckigen Gestalt seines Schwanzschildes (s) der Tril.- Gattung Homalonotus (Fig. 117, 119). Aber auch in Einzelheiten zeigt sich eine auffallende Übereinstimmung gerade mit dieser Form. So schärft sich bei Hom. (Fig. 119) das Schwanzschild (B) hinten ‚schon kielförmig (k) zu, bei C'yclosph. hat sich der Mittelkiel über das ganze Schwanzschild ausgedehnt (Fig. 120%). Die Glabella von Hom. (Fig. 119 gl) besitzt eine vordere (e) und jederseits eine seitliche Ein- buchtung (e’‘), was wohl einzig unter allen Trilobiten dasteht. Bei Öyel. (Fig. 120) finden wir die gleiche Ausgestaltung, nur ist das ganze Kopfschild stark verkürzt, und die einzelnen Teile sind daher verbreitert. Stellt man Homal. aus dem Silur, Cyelosph. aus dem Jura und das rezente Sphaeroma (Fig. 121) nebeneinander, so ist Cyclosph. eine ausgesprochene Übergangsform zwischen dem silurischen und dem lebenden Tier. Andere Isopoden, wie Serolis (Fig. 122) lassen sich aber nicht mit Homalonotus, sondern wegen der kurzen Achse des Schwanzschildes nur mit weit davon ver- schiedenen Tril.-Gattungen, am besten mit Lichas oder Bronteus, vergleichen, während die Asseln mit gerundetem Schwanzschild an die Asaphiden erinnern. Wir sehen also auch bei diesem Versuche wieder, daß die verschiedenen Gestalten einer jüngeren Gruppe nicht auf eine generalisierte Urform zurückgehen, sondern daß, wenn 200 Arthropoden. die Ableitung aus einer primitiveren Stufe gelingt, dies nur durch gleichsinnig gerichtete Umbildung auf mehreren Linien möglich wird. Die Isopoden sind übrigens von verschiedenen Forschern, nament- lich von WoopwArp, als die den Trilobiten zunächst stehende Gruppe unter den heutigen Krustern angesprochen worden. 2. Die Decapoden teilen mit den Tril. den Besitz eines Rücken- panzers, der auch bei den heutigen Vertretern in den Rumpfseg- menten noch Andeutung einer Dreigliederung erkennen läßt. Die N 3 Fig. 123. Loricula pulchella Sow. Turon. England. Schale von der Seite gesehen, restauriert. Die Rankenfüße (c’) nach Analogie der lebenden Formen eingezeichnet. I, II, III Seitenplatten, ck Carinal-, rk Rostralplatten des Stieles; ce Carina; t Tergum; l, 2’ Lateralia; s Scutum. Fig. 124. Balanus concavus Br. Plioeän (Crag). England. A Schale von der Seite gesehen. cl Carino-Laterale; r Rostrum. B isoliertes Tergum (t). € isoliertes Seutum (sc). Fig. 125. A Pollicipes mitella L. Ostindien. B Brachylepas cretacea. Woodw. Ob. Kreide. England. Restauriert. sc Subcarina; sr Subrostrum; ss Stielschuppen, andere Bezeichnungen wie Fig. 123. (Nach WoopwArn.) abweichende Stellung ihrer Augen versteht man leicht durch die Annahme, daß die äußeren Wangen der Tril., die die Augen tragen (Fig. 117 w'), längs der Gesichtsnaht (r) nach unten umgeschlagen sind. Wir kennen für die Dec. im Kambrium und Silur keinerlei andere Vorfahren, aus denen sie sich ableiten ließen, als die Tril., doch könnte ein Bruchteil (z. B. die Garneelen) auch von paläo- zoischen, von den Phyllocariden, stammen. 1 Arthropoden. . 201 3. Die Uirripedia sind durch Festwachsen stark modifizierte Krebse. Wenn wir uns einen Trilobiten seitlich festgewachsen und die Panzersegmente der Quere nach zerfallen denken, so resul- tiert daraus ein Panzer, wie ihn die am wenigsten modifizierten Cirr. besitzen, die schon im Silur vorkommen, und an die sich die jüngeren Lepadiden mit noch vollständig gepanzertem, aber mehr oder weniger beweglichem Stiel eng anschließen (Fig. 123). Von diesen führen alle wünschenswerten Übergänge zu Formen mit lederartigem Stiel, an dem die Kalkplatten nur noch eine biegsame Schuppenbekleidung bilden wie bei Pollicipes (Fig. 125 A). Die extremsten Glieder dieser gestielten Reihe sind dann Lepas, an dessen Stiel alle Panzerreste ver- schwunden sind und die lebende Gattung Anelasma, deren ganze Körper- hülle nur noch aus Chitin besteht. So sehen wir hier als Endergebnis, der flottierenden Lebensweise den Panzer schließlich ganz verschwinden. Woopwarnp hat nun aber an einer bemerkenswerten Form der Oberkreide, Brachylepas (Fig. 125.5), gezeigt, wie durch Verkürzung des Stieles sich der Übergang zu den ungestielten Operculaten (Ba- laniden usw.) (Fig. 124) vollzieht. Man kann an der Richtigkeit der von ihm befürworteten Umbildung zur Kreidezeit nicht wohl zweifeln. Um so überraschender dürfte es für den Anhänger einer mono- phyletischen Abstammungsweise sein, zu erfahren, daß schon zur Devonzeit echte Balaniden existiert haben, wie Protobalanus und Palaeocreusia. Auch hier wird also der gleiche Typus auf verschie- denen Wegen, zur paläozoischen Zeit wohl direkt aus den ange- wachsenen Trilobiten, zur Kreidezeit auf dem Umwege über gestielte Formen erreicht. 4. Arachnida. Von den Trilobiten läßt sich auch ein Teil der Spinnentiere ableiten. Diese sind in paläozoischen Zeiten bekanntlich fast ausschließlich durch zwei Gruppen vertreten, durch die Skorpione und durch die abweichende Gruppe der Anthra- comarti. Die Skorpione werden ziemlich allgemein, und wohl mit Recht, als die nächsten Verwandten und Abkömmlinge der Giganto- straken betrachtet. Sie teilen mit ihnen die allgemeine Körper- gestalt, die große Zahl der Abdominalglieder, die sich schon bei den Gigantostraken andeutungsweise in eine abdominale und in eine verschmälerte, in einen Stachel auslaufende postabdominale Gruppe zerlegen, wie bei den Skorpionen, den Besitz von Scheren u. a. m. Die Anthracomarti dagegen ähneln den echten Spinnen. Ihnen fehlen die Scheren, das Postabdomen, der Endstachel; ihr Ab- domen ist breit, aber nicht gestielt wie bei den Spinnen, und zeigt eine viel deutlichere Gliederung. Als besonders wichtig muß der 202 Arthropoden. Trilobiten-Habitus ihres Hinterleibes bezeichnet werden. Er zeigt die Dreigliederung in Spindel und Seitenteile (Pleuren), sowie ge- legentlich, wie bei Anthracomartus, deutlich den Rest eines Pyei- diums; auch die Körnelung der Panzeroberfläche und die Seiten- stacheln des Hinterteiles bei Kreischeria erinnern mehr an Trilobiten, als an irgendwelche anderen paläozoischen Gliedertiere. So glaube ich läßt sich nach dem bis jetzt bekannten Material eine getrennte Abstammung der Spinnentiere, einerseits aus Gigantostraken (Skorpione und Skorpionspinnen), andererseits aus Trilobiten (Spinnen, Afterspinnen) befürworten, und die große Verschieden- heit der Formen in der Übergangsgruppe zwischen Tril. und Spinnen, den Anthracomarti, erklärt sich einfach, wenn wir hier, .wie auch sonst, eine polyphyletische Umbildung der marinen Vorfahren in die luftatmenden Nachkommen voraussetzen. Hierbei hätte sich dann wie in anderen Entwicklungsreihen die Umbildung zu der modernen Stufe auf einigen Linien früher vollzogen als auf anderen, sodah z. B. zur Karbonzeit neben den damals herrschenden Übergangsformen der Anthracomarti schon einige Vertreter der echten Spinnen als Vortrab existierten; die heutigen Afterspinnen mit ihrem nicht abgeschnürten und oft deutlich segmentierten Hinterleibe würden dagegen die Rolle der Nachzügler spielen. 5. Insecta. Der Ursprung der Insekten ist nach HAxDLissch ebenfalls in den Trilobiten zu suchen. Dieser Auffassung schließe ich mich im wesentlichen an, jedoch mit der Einschränkung, daß diese Umbildung nicht nur auf einer, sondern auf verschiedenen Linien vor sich gegangen ist. Davon abgesehen, ist es mir aber un- wahrscheinlich, daß alle Ins. von Tril. stammen. Es sollte mich nicht überraschen, wenn fossile Funde eines Tages erweisen würden, daß ein Teil der Insekten auf Myriopoden-artige Vorläufer zurückgeht. Doch ist hier nicht der Ort, diesen Gegenstand ausführlich zu behandeln. Für die Ableitung der genannten fünf Gruppen aus den Trilo- biten sprechen nicht nur morphologische und anatomische Bezieh- ungen, sondern ebensosehr die geologischen Tatsachen. Denn andere Vorfahren als die Trilobiten lassen sich in den ältesten Formationen für sie nicht namhaft machen, und ihr geologisches Erscheinen fällt gerade in die Zeiten, wo jene abzunehmen beginnen. Sind die Tril. nur eine primitive Orga- nisationsstufe, in der jene jüngeren Gruppen wurzeln, und aus denen sie sich auf zahlreichen Linien entwickelt haben, so wird das sonderbare Verhalten der Tril. durchaus begreiflich, anderenfalls bleibt es gänzlich rätselhaft. 3 i “ x Fische. 203 D. Zur Stammesgeschichte der Wirbeltiere, 1. Fische. Als älteste Wirbeltiere kennen wir die Fische, die schon im Untersilur von allen Wirbellosen deutlich getrennt hervor- treten. Diese ältesten Fischformen sind schon sehr mannigfaltig und fügen sich keineswegs in eine Stammgruppe ein, aus der wir die verschiedenen Zweige des Stammes durch Divergenz entsprossen denken könnten; vielmehr stehen zahlreiche, ganz verschiedene Typen von Anfang an getrennt nebeneinander: Haie, Rochen, UÜhimären, Lungenfische, @anoiden und die anscheinend so merkwürdigen »Panzerfische«e. Allein nicht nur die großen Gruppen sind schon von Anfang an geschieden, auch innerhalb der Gruppen stehen die einzelnen Typen zumeist ganz unvermittelt nebeneinander. Verwertet man diese Tatsachen ohne Rücksicht auf eine bestimmte Vorstel- lung, so wird man eine polyphyletische Entstehung aus einem nie- deren Stadium für wahrscheinlich halten. Das Ergebnis deckt sich mit demjenigen, das wir auch bei der Betrachtung vieler wirbelloser Tiergruppen gewonnen haben. Die Panzerfische, eine Sammlung sehr heterogener Formen von offenbar primitiver Organisation, zeigen meines Erachtens deutlich die Richtung an, aus der die Fische gekommen sind: gegliederte und mit einem festen, gegliederten Panzer versehene Vor- fahren, ähnlich den Trilobiten. Das ist auch schon mehrfach von anderen Forschern betont worden. Es gibt aber außer den habituellen Ähnlichkeiten zwischen den fossilen Formen, die man wohl mit Unrecht oft gering bewertet, auch anatomische Tatsachen, die eine solche Anknüpfung fordern und sich mit keiner anderen vereinbaren lassen. So hat z. B. GoopricH gezeigt, daß sich die paarigen Flossen der Fische zwar ähnlich den unpaaren entwickeln, daß aber zu den unpaaren in jedem Myotom nur ein Muskelbündel, zu den paarigen dagegen zwei, ein dorsales und ein ventrales, gehören. Daraus geht hervor, daß die unpaaren Flossen anderer Ent- stehung sind als die paarigen, und daß letztere ursprünglich Doppelanhänge, ähnlich wie die Spaltfüße der Trilobiten und anderer Krebstiere, gewesen sein müssen. Wenn wir aus einem Trilobiten-ähnlichen Tiere einen Fisch hervorgehen lassen, brauchen wir keineswegs mit Dourn uns das Tier umgedreht und auf dem Rücken laufend zu denken. Das er- scheint nur unumgänglich, wenn wir den Übergangsformen ein ähn- lich stark zentralisiertes und mit Querkommissuren versehenes Nerven- system zuschreiben, wie es die heutigen Gliedertiere besitzen. Das 204 Fische. hat aber bei jenen Trilobiten-ähnlichen Tieren der kambrischen oder vorkambrischen Zeit schwerlich bestanden; vielmehr können die Nerven für die Anhänge und für die Kopfregion noch unverbunden funktioniert haben; ja sie können in der Leibesregion noch diffus verteilt gewesen sein. Bei einem Kruster, dessen Anhänge nahe der Mittellinie des Bauches angeheftet sind, muß es zur Bil- dung eines Bauchmarks kommen, wenn die Nerven zentralisiert werden. Denn der geometrische Ort für die Bewegungsorgane liegt in diesem Falle an der Unterseite des Körpers. Bei den Fischen inserieren aber die Anhänge an der Seite des Körpers, und ihre Fortbewegung läßt sich mit der eines von Rudern bewegten Bootes vergleichen, für die der geometrische Ort oben gelegen ist. Mit der Verlagerung der Anhänge auf die Seite muß also bei fortschreitender Zentralisation der Nerven ein Rückenmark entstehen, das an die Nerven der Kopfregion anschließt, und die Leibeshöhle muß sich darunter lagern. So können wir die Unterschiede in der gegen- seitigen Lage der wesentlichen Organe zwischen einem Kruster und einem Fisch aus der veränderten Stellung der sich bewegenden Anhänge und ihrer vervollkommneten Tätigkeit begreifen. Durch die Ver- einigung einer Anzahl gleichartiger, gespaltener Anhänge zu einem einheitlich bewegten Organ entsteht die paarige Flosse; die Beschränkung ihrer Zahl auf 4 ist auch mechanisch bedingt. Wenn: sich auch zuerst mehr als zwei Paare anlegen, wie bei dem Acantho- dinen Olimatius, so wird dies »unzweckmäßige«, weil auf die Dauer mechanisch unmögliche Stadium, jedenfalls bald überwunden. Die Entstehung von unpaaren Flossen ist dagegen ganz anders zu denken. Manche altkambrische Trilobiten, wie Holmia, tragen in der Mittel- linie des Rückens an jedem Segment einen Stachel. Aus der Ver- einigung solcher unpaarer medianer Gebilde werden die unpaaren Flossen entstanden sein. Die häufigen Kopf- und Nackenstacheln älterer Fische wären dann den Nackenstacheln der Trilobiten, die Hörner des Kopfschildes von Cephalaspis und die Ruderorgane der Panzerfische den Hörnern des Kopfschildes der Trilobiten gleich zu setzen und aus derartigen Gebilden ihrer Kruster-artigen Vorfahren entstanden zu denken. Wenn wir uns denken, daß diese fundamentalen, sowie die übrigen Umbildungen, die zum Fisch hinüberleiten, nicht nur einmal ent- standen sind, sondern wiederholt unabhängig, weil gesetzmäßig durch eine andere Art der Fortbewegung bedingt, und wenn wir nach Analogie mit ähnlichen Umbildungen bei Wirbellosen, wie bei den Ammonoideen, sich jedes Merkmal getrennt von anderen umwandeln Fische. 205 lassen, so verstehen wir, wie bei den meisten Panzerfischen die paarigen Flossen noch nicht vorhanden oder die Anhänge, aus denen sie später entstanden, wie bei den Trilobiten, wegen ihrer Zartheit wenigstens nicht erhaltbar waren, während sie bei den gleichzeitig lebenden Gano- iden schon typisch entwickelt bestanden. Wir begreifen, wie gleichzeitig nebeneinander die verschiedensten Arten des Hautskeletts vorhanden waren, bei den Haien schon fast ganz verkümmert, bei den Ganoiden als starres Schuppenkleid, bei den Panzerfischen zum Teil als Platten- panzer entwickelt usw. Andere Fischmerkmale waren bei den Panzer- fischen noch rückständig, wie die Ausbildung des Unterkiefers, wäh- rend sie bei den übrigen schon typisch ausgebildet bestanden. Aber wie wir von den Ammoniten, Stachelhäutern u. a. wissen, geht die Umbildung der zunächst rückständig gebliebenen Organe in einer späteren Zeit doch noch in wesentlich gleicher Weise vor sich, und alle Reihen nähern sich schließlich einem einheit- lichen Typus. Für mich bestehen alle die zahlreichen Fischformen des Devons in der heutigen Fauna noch fort. Von einigen, wie den Haien und Rochen, den Chimären, Lungenfischen usw. wissen wir es bestimmt. Wenn uns die anderen Gruppen zum größten Teil ausgestorben scheinen, so liegt das nur an der Art der systematischen Gruppie- rung. Die Nachkommen mancher Panzerfische finden wir heute in den Panzer-Siluriden und Stören, sowie in den gepanzerten Meeresfischen. Denn die Hautbedeckung der Fische ist sicherlich denselben gesetzmäßigen Änderungen im Laufe der Zeit unterworfen gewesen, wie die äußeren Skelette der Wirbellosen, d. h. sie ist all- gemein zurückgegangen durch die gesteigerte Beweglichkeit der Tiere, aber nur in Ausnahmefällen starrer geworden als sie es war. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet verschwinden die Probleme, die man in der Stammesgeschichte der Fische heute noch findet. SmitH Woopwarn hat betont, daß das plötzliche, massenhafte Erscheinen der Knochenfische am Ende des Mesozoikums und im Beginne des Tertiärs ebenso mysteriös sei, wie das unvermittelte Auftreten der zahlreichen Säuger im Eocän. In der Tat lösen sich die beiden Abteilungen der Knochenfische und Ganoiden, die das Gros der Fische überhaupt umfassen, in ähnlich auffälliger und scheinbar ganz unvermittelter Weise ab, wie die Säuger und Reptilien. Die ältere Gruppe, die vom Devon bis zur Kreide fast ausschließlich geherrscht hatte, macht der jüngeren Platz, ohne daß eine zutreffende Erklä- rung dafür ersichtlich wäre; jedenfalls nicht, wenn man sie sich von den Ganoiden monophyletisch abgezweigt denkt, wie das zumeist 206 Vierfüßler. geschieht. Doch gelangte schon ZırreL 1885 zu dem Ergebnis: »Eine monophyletische Entstehung der Knochenfische erscheint übrigens unwahrscheinlich. Warum klammert man sich dennoch an den einstämmigen Ursprung, den Tatsachen zum Trotz? Faßt man die Ganoiden als ein primitives, die Knochenfische als ein späteres Stadium auf, und läßt man alle in älteren Zeiten vorhandenen Formengruppen aus dem älteren in das jüngere Stadium sich fortsetzen (mit Ausnahme der wenigen lebenden Ganoiden), so vereinfacht sich die ganze Stammesgeschichte ungemein. Es erklären sich schwer zu deutende Erscheinungen auf einfache Weise, wie die Wiederkehr der Knochenstruktur bei vielen jüngeren Fischen, die man jetzt von solchen ohne Knochenstruktur ableiten muß. Dieses Merkmal dürfte doch wohl auch zu den »irreversiblen« zu rechnen sein. 2. Vierfüßler. Die Vorgeschichte der Vierfüßler ist für uns zu- nächst noch unaufgehellt. Am Ende der paläozoischen Zeit, in den Süßwasserablagerungen der Steinkohlen-, besonders aber in der Permformation, begegnen wir einer größeren Zahl sehr verschieden- artig, aber doch schon typisch ausgebildeter Vierfüßler. Bei aller Verschiedenheit in der Ausgestaltung kommen ihnen (ich sehe von einigen abweichenden Gestalten zunächst ab) eine Reihe gemeinsamer Merkmale zu, die auch Anlaß gegeben haben, sie zu einer Gruppe, den Stegocephalen, zu vereinigen. Alle die Merkmale, die wir bei ihrer Abtrennung von den übrigen Vierfüßlern in den Vorder- grund stellen, verdienen die Bezeichnung primitiv. Es sind solche, die wir überhaupt bei niedrig entwickelten Vertretern der Vierfüßler erwarten dürfen. Da bei allen Wirbeltieren, insbesondere auch bei den Fischen mit ihrem von den. Vierfüßlern gänzlich getrennten Ent- wicklungsgange, das Innenskelett sich erst im Laufe der Zeit heraus- bildet, und zwar allgemein auf Kosten des Hautskeletts, so kann es nicht befremden, daß auch bei den Stegocephalen die Ver- knöcherung der Wirbelsäule und der Gliedmaßen, ebenso auch des Schädels, noch unvollkommen ist. Wir treffen aber eine bestimmte Ausbildung dieses wechselnden Merkmales keineswegs etwa in ge- setzmäßiger Verknüpfung mit einer bestimmten Körpergestalt an, sondern die gleiche Art der Wirbelverknöcherung, z. B. in der Form einer Sanduhr, findet sich bei einem nur wenige Zentimeter großen Tiere mit vollständigen Gliedmaßen und vom Habitus einer Eidechse vor, wie bei einer schlangenartigen Form von über 1/,m Länge und ohne jegliche Gliedmaßen, und in der Gruppe der Schnittwirbler (Temno- spondyli) faßt man die verschiedenartigsten Gestalten zusammen, nur weil ihre Wirbel noch aus mehreren, unvereinigten Stücken bestehen. ‚Vierfüßler. 207 Das zweite ursprüngliche Merkmal, das die Stegocephalen aus- zeichnet, ist das Auftreten eines platten, geschlossenen Schädel- daches aus größeren Hautknochen, in welchem nur Lücken für die Augen und die Nasenlöcher offen bleiben. Dieses Merkmal und den Besitz eines Gaumendeckknochens (des Parasphenoids) teilen sie mit manchen der altertümlichen Panzerfische, und in wenig abge- änderter Form ist es der Mehrzahl der älteren Fische (den Ganoiden) überhaupt eigen. Man rechnet die Stegocephalen gewöhnlich zu den Amphi- bien, weil man bei manchen in der Jugend Kiemen beobachtet hat, und weil sie zwei Gelenkköpfe im Gegensatz zu dem einfachen Ge- lenkkopfe der Reptilien und Vögel besitzen. Allein man hat jetzt doch ziemlich allgemein eingesehen, daß es wenig zweckmäßig ist, die Stegocephalen schlechthin den Amphibien unterzuordnen, denn sie teilen mit mehreren heutigen Amphibien zwar die beiden letzt- erwähnten Merkmale, den Besitz der Kiemen in der Jugend und die doppelte Gelenkung des Schädels an der Wirbelsäule, aber beide Merkmale lassen sich ebenfalls als primitive Vierfüßler-Merkmale überhaupt auffassen und sind keineswegs danach angetan, eine phy- letische Einheit zu kennzeichnen. Denn wir müssen annehmen, daß alle höheren Vierfüßler einmal das Amphibienstadium im physiologi- schen Sinne phyletisch durchlaufen haben. Man hat jetzt aber auch erkannt, daß die verschiedenen Arten der -Schädelgelenkung nicht als ein absolut unterscheidendes Merkmal der großen Gruppen der Vierfüßler verwertet werden dürfen. Denn einige Steg. besitzen überhaupt noch keine verknöcherten Gelenkköpfe; der zweiteilige Gelenkkopf der Labyrinthodonten u. a. aber wird zum anschei- nend einteiligen, richtiger gesagt, dreiteiligen dadurch, daß zwischen und unter den beiden schon vorhandenen ein neuer Knochen (das basioccipitale) entsteht, sie zusammenschweißt und an der Bildung des dreiteiligen teilnimmt. Durch Aufgeben der seitlichen Balan- zierung bildet sich dann der einfache Kondylus der Reptilien und Vögel heraus, der eine allseitige Bewegung des Kopfes gestattet. Im Vergleich zu den formenarmen Amphibien der Gegenwart, die sich auf die Gruppen der Frösche, Schwanzlurche und der gliedmaßlosen Blindwühler beschränken, zeigen die Steg. eine er- staunliche Mannigfaltigkeit der Gestaltung und Größe. Wir finden unter ihnen einerseits Formen, wie die Branchiosaurier (Fig. 126), die an Größe und Habitus sowie durch mehrere wichtige anatomi- sche Merkmale den Fröschen gleichen, und aus denen durch Re- duktion des Schwanzes und durch einige andere Änderungen im 208 Vierfüßler, Skelett auch wohl die Anura hervorgegangen sind. Diese stehen denn zur Zeit des oberen Jura auch schon ebenso fertig da wie heute. In den Microsauriern mit ihrer an Eidechsen und Lurche erinnern- den Gestalt (Fig. 127) dürfen wir wohl mit Recht die Vorfahren der Schwanzlurche einerseits, der Eidechsen andrerseits suchen, während aus den zur Permzeit bereits fußlosen Aistopoden sich die Blind- wühler einerseits, der größte Teil der Schlangen andrerseits ableiten Fig, 197. lassen. Hiernach würden die bis jetzt betrachteten Ver- treter der Steg., die sämt- lich zu den Hülsenwirblern (mit Einschluß der Phyllo- spondyli und Lepospondyli) gehören, für sich allein schon eine Sammelgruppe von Formen mit ähnlicher Organisationshöhe dar- stellen, innerhalb der die verschiedenen, jetzt syste- matisch weit voneinander getrennten Gruppen auch schon geschieden gewesen wären. Ein Teil derselben Fig. 126. Ein Stegocephale vom Frosch- in = un ulaisehe us typus. (Branchiosaurus amblystomus Credn. Larve. bensweise und mit dieser Heüissenden des Pleucnschen Grundesb-Dresden) den Habitus und auelt: ge- sind weggelassen. (Nach CREDNER aus Sreınuann- wisse anatomische Merkmale De) EI LAT. En Sir ocohaLC TOM in mehr oder weniger verin- Ob. Karbon.) Restauriert. (Nach FRITSCH aus STEIN- derter Form beibehalten, das ne sind die heutigen Amphi- bien, ein anderer wäre unter Vertauschung der amphibischen Lebens- weise mit der reptilischen und unter Annahme gewisser als reptilisch betrachteter anatomischer Merkmale (wie Einköpfigkeit des Hinter- hauptes, Schwund des Parasphenoids, vollständiger Verknöcherung des Skeletts usw.), aber unter Erhaltung zahlreicher habitueller und morphologischer Eigenarten in die beiden heutigen Gruppen der Eidechsen und Schlangen abgewandelt worden. In der Mehr- zahl der lepospondylen Steg. brauchen wir hiernach nicht er- loschene Vertreter der Vierfüßler zu erblicken, sondern können sie als Vorfahren der heutigen Amphibien und Lepidosaurier be- trachten. Bei der Verfolgung der Abstammungslinien, die von den > Vierfüßler. 209 Hülsenwirblern zu den heutigen Amphibien und Lepidosauriern führen, wäre vor allen Dingen von der Verwertung derjenigen Merkmale vollständig abzusehen, die primitive Stegocephalen im allgemeinen von den heutigen Amphibien einerseits, von den Lepidosauriern andrerseits unterscheiden. Vielmehr müssen uns bei diesem Ver- such solche Merkmale leiten, die in der üblichen Systematik in zweite oder letzte Linie gestellt werden, wie die Form der Rippen und des Kopfes, die Größe und Lage der Augenhöhle, die Zahl der Zehen usw. Bei dem Vergleich der geologisch alten und jungen Formen ist auch natürlich abzusehen von der jetzt gültigen syste- matischen Vereinigung der Formen zu Familien und Gattungen, da wir nicht wissen, ob diese in allen Fällen phylogenetisch einheitliche Kategorien darstellen und die in ihnen vereinigten Gattungen und Arten nicht etwa schon im Steg.-Stadium zum Teil getrennt waren. Fig. 128. Ein Cotylosaurier. Pareiosaurus Baini Seel. Perm — Trias. Tambor Fontein. S. Afrika. Skelett in 1/9. N Nasen-, A Augenhöhle; e Rippen; se Schulter- blatt; h Oberarm; r Radius; u Ulma; I—V 1.—5. Zehe. (Nach SEELEY aus STEINMANN: Einf. i. d. Pal.) Den zumeist kleinen Vertretern der Hülsenwirbler steht nun eine große Zahl mittelgroßer und großer Formen von Steg. gegen- über, die als Schnittwirbler (Temnospondyk) und Vollwirbler (Stereospondyli) bezeichnet werden. Ihre Zahnsubstanz ist radial oder gar labyrinthisch gefaltet, und bei den Labyrinthodontiern stehen immer vor den normalen Reihen kleinerer Zähne einzelne große Fang- zähne, was ihnen eine gewisse Ähnlichkeit mit den Krokodilen ver- leiht. Aber ebenso bemerkenswert ist die grubige Beschaffenheit der Schädeloberfläche bei zahlreichen Vertretern sowohl der Schnitt- als der Vollwirbler, ebenfalls ein Krokodil-Merkmal. Werden wir somit einerseits auf die Krokodile als mögliche Nachkommen gewisser Stego- cephalen hingewiesen, so sind andrerseits ganz evidente Beziehungen Steinmann, Abstammungslehre. 14 210 Vierfüßler. der temnospondylen Steg. zu den primitiven Landreptilien auf- gedeckt worden, die als Cotylosauria zusammengefaßt werden Fig. 128); sie treten bereits im Perm auf. Da zwischen beiden Grup- pen z. T. eine vollständige Übereinstimmung der Knochen des Schädel- daches nachgewiesen ist, da sich bei den Ootylosauriern auch die Ohrenschlitze und Schleimkanäle der Schnittwirbler wiedergefunden haben, da ferner auch die Zähne vielfach eine radiale Struktur er- kennen lassen, der Kehlbrustapparat, der Brust- und Beckengürtel weitgehende Übereinstimmungen zeigen, so betrachtet man mit Recht die Cotylos. als ein Bindeglied zwischen Steg. und den höheren Landreptilien, und zwar unter diesen zu den beiden Gruppen der Pelycosaurier und der Anomodontier. Der Übergang von Cotylo- sauriern zu den Pelycosauriern wird im besonderen auch dadurch vermittelt, daß bei ersteren sich die Bildung eines Schläfenbogens an- bahnt, wie er bei den Pelycosauriern typisch zur Ausbildung gelangt. Nun ist aber neuerdings von BroıLı, wie mir scheint, mit allem Recht darauf hingewiesen worden, daß es auch Reptilien gibt, die bisher zwar unter die Anomodontier eingeordnet wurden, die aber wie Lysorophus nicht aus den Ootylosauriern hervorgegangen sein können, sondern die einen gesonderten Ursprung (wie BkoiLı annimmt, direkt aus den Fischen) besitzen müssen. Eine gesonderte Abstammung ist aber auch für diejenigen Reptilien anzunehmen, die schon gleichzeitig mit den Steg. im Perm erscheinen, aber durch den Besitz von zwei Schläfenbögen im Schädel ausgezeichnet sind, in dieser Beziehung also gegenüber den Ootylosauriern ein weit vorgeschrittenes Stadium der Schädelbedeckung aufzeigen. So gelangen wir denn bezüglich der Abstammung der Reptilien zu dem Ergebnis, daß diese weit davon entfernt, eine stammesgeschichtlich einheitlich entstandene Tier- sruppe darzustellen, sich vielmehr auf verschiedenen Wegen und zu verschiedenen Zeiten aus dem Amphibien- (Stego- cephalen-) Stadium (oder gar auch unmittelbar aus dem Fisch- stadium?) herausgebildet haben. Hat sich die Umwandlung aber in dieser Weise vollzogen, so kann von einer Stammform, ja selbst von einer Stammgruppe der Reptilien keine Rede sein. Schon systematische Kategorien wie die Steg. sind ein breiter Strom sehr mannigfaltiger Vierfüßler, deren meiste Glieder zu dem reptilischen Vierfüßlerstadium hinüberleiten. Nicht auf einer Linie, sondern auf zahlreichen parallelen Linien hat sich hier der Wandel vollzogen. Dabei bleibt es fraglich, ob überhaupt alle Reptilgruppen das Stegocephalenstadium durchlaufen haben, vielmehr könnten Warmblüter. Di! besonders für manche Meer- und für die Flugsaurier auch anders beschaffiene Ahnen in Frage kommen. Über ihre Vorfahren wissen wir aber bis jetzt nichts Genaues. 3. Warmblüter. Nach der Ansicht mancher Forscher, im beson- deren Haackzs, dem sich KÜkENTHAL und andere angeschlossen haben, können die Säuger, weil warmblütige Tiere, nur zu einer Zeit entstanden sein, wo ungewöhnliche Lebensbedingungen diese Eigen- schaft notwendig machten. Wenn man dieser Vorstellung huldist, liegt es natürlich nahe, den Eintritt einer Kälteperiode dafür beizuziehen. Die schon lange bekannte diluviale Eiszeit kann aber hierfür nicht in Frage kommen, da die Säuger schon vom Beginn des Tertiär an in großer Fülle bestanden haben. Nachdem nun aber im Gegensatz zu der früher allgemein verbeiteten Annahme von der ganz exzep- tionellen Stellung der Quartärzeit ermittelt. worden war, daß im An- schluß an die Steinkohlenperiode auf der Südhalbkugel und in Indien eine ausgedehnte Vereisung Platz gegriffen hat, glaubte man den Schlüssel zur Lösung des Rätsels in Händen zu haben. Denn gerade bis in die Permzeit zurück hat man die frühesten Spuren säuger- ähnlicher Tiere zurückverfolgen können; werden doch gewisse Reste aus jener Zeit, z. B. Tritylodon aus der Karooformation Südafrikas, von manchen Forschern den Säugern, von anderen den Reptilien zugewiesen. In der Tat kann man sich kaum ein günstigeres Zusammentreffen von Umständen denken, als es hier gegeben ist, wenn man überhaupt auf diesem Wege der Lösung des Problems nachgeht. (Gegen dieses Vorgehen erheben sich aber schwere Bedenken. Denn wenn man die Ursache für die Entstehung der Warmblüter in einem solchen äußerlichen, gewissermaßen zufälligen Vorgang sucht, und nicht in der organischen Gesamtentwicklung selbst, so gesteht man damit zu, daß das heutige Bestehen von Warmblütern nicht notwendig in der Geschichte der organischen Natur begründet liest. Wäre eine Kälteperiode überhaupt nicht oder nicht zur Perm- zeit, sondern schon erheblich früher, vielleicht im Kambrium einge- treten, als überhaupt noch keine Vierfüßler existierten, die zu Vögeln oder Säugern werden konnten, so gäbe es heute überhaupt keine dieser beiden warmblütigen Tiergruppen, oder die Reptilien (oder Amphibien) hätten bis zur diluvialen Eiszeit warten müssen, bevor aus ihnen Warmblüter hätten entstehen können. Es gäbe dann heute keine der spezialisierten Vögel- und Säugertypen, sondern nur sehr primitive Vertreter beider Klassen, und es gäbe kein Wesen, das diese Probleme zu lösen suchte. Wir stoßen hier, wie in so 14* 912 Warmblüter. vielen Fällen, auf die leidige Zufallsphilosophie, die so viele Forscher vollständig befriedigt. Mir hat sie nie genügt, und darum werde ich das Problem von einer anderen Seite anzufassen versuchen. Fast zum Überfluß will ich aber noch einen Einwand gegen obige Vor- stellungsweise erheben. In den letzten Jahren haben sich unsere Kenntnisse von dem Eintritt der Glazialperioden in der Vorzeit wesentlich erweitert. Wir wissen jetzt, daß schon zu Beginn des Kambriums, wahrscheinlich auch im Devon, Eiszeiten bestanden haben, und das Dogma von einem gleichmäßig warmen Klima bis zur Permzeit ist dadurch in seinen Grundlagen erschüttert worden. Wir sind jetzt vielmehr be- rechtigt, ich meine sogar verpflichtet, mit Perioden erheblicher Ab- kühlung als einem mehrfach wiederholten, und im Laufe der Erd- geschichte vielleicht von Zeit zu Zeit gesetzmäßig eingreifenden Vor- gange zu rechnen. Wenn wir heute aus dem zwischen Perm und Quartär liegenden Zeitraume noch keine weitere Eiszeit kennen, so ist das wahrscheinlich nur ein Zufall, der aus der Lückenhaftigkeit der geologischen Überlieferung durchaus erklärlich wird. Mit diesem Fortschritt in unserer Erkenntnis erscheint das ungefähr zeitliche Zusammenfallen der permischen Eiszeit mit den ersten, freilich keines- wegs unbestrittenen Resten von Säugern viel weniger geeignet, uns der Lösung des Problems näherzuführen als früher. Aber schon immer wäre man berechtigt gewesen zu fragen, warum die quartäre Eiszeit nicht ebenfalls bei den von früher her auf der Reptil- oder Amphibienstufe stehen gebliebenen Tierformen Warmblütigkeit er- zeugt habe, wenn wesentlich nur die klimatischen Vorgänge die Ur- sache dazu gewesen sein sollen. Denn Landreptilien und Amphibien, aus denen warmblütige Tiere hätten hervorgehen können, hat es auch zu Beginn der Quartärzeit gegeben, darunter auch primitive Organi- sationen wie die Brückenechse (Hatteria). Wenn man die Warmblütigkeit der Säuger auf die letzte paläo- zoische Kälteperiode zurückführt, müßte folgerichtiger Weise auch die Warmblütigkeit der Vögel aus dem gleichen Vorgange erklärbar sein und in die gleiche Zeit fallen. Denn schon aus dem oberen Jura liegt uns ein echter Vogel in Archaeopteryx vor, von dem wohl niemand zweifelt, daß er trotz zahlreicher Reptilienmerkmale warm- blütig gewesen ist. Aber er steht ja bekanntlich den Reptilien in manchen Merkmalen noch recht nahe, und wenn hier überhaupt eine Schätzung des Zeitpunktes erlaubt ist, zu dem sich dieser Vogel von den Reptilien abgezweigt hat, so würde man frühestens an das Ende der Triaszeit denken müssen. Aus diesen Zeiten kennen wir aber bis Warmblüter. 213 jetzt keine Kälteperiode. Für die Warmblütigkeit der Vögel besteht also ein solch anscheinend günstiges Zusammentreffen von Umständen nicht, wie für die Säuger. Um die Ursache der Warmblütiskeit der Vögel und Säuger zu ermitteln, sollte man meines Erachtens zunächst die physiologische Grundlage dieser Eigenschaft ins Auge fassen. Eine dauernde Er- höhung der Körpertemperatur, unabhängig von der Außenwelt, ist nur möglich auf Grund einer gesteigerten Ernährung. Das leuchtet nach physiologischen Grundsätzen ohne weiteres ein, wird aber noch besonders deutlich bewiesen durch das Verhalten warmblütiger Tiere im Winterschlaf. In Mitteleuropa sinkt bei den Fledermäusen be- kanntlich die Körpertemperatur mit dem Beginn des Winterschlafes auf 20° O., später auf 18°—14° C., ausnahmsweise bis 12° ©., während beim Murmeltier Körpertemperaturen bis zu 1.6° ©. hinunter be- obachtet werden. Das kann auch in den Fällen, wo nicht genügend Reservefettstoffe im Körper aufgespeichert sind und die umgebende Luft sich stark abkühlt, gar nicht anders sein. Die Blutwärme steigt erst mit Wiedereintritt der Luftwärme und der Ernährung. Gehen wir bei unserem Versuche, die Eigenwärme zu erklären, von diesen unbestreitbaren Tatsachen aus, so müssen wir weiterhin folgern, daß diejenigen Reptilien, aus denen Vögel und Säuger her- vorgegangen sind, von den übrigen Kriechtieren vor allem durch eine dauernd gesteigerte Nahrungsaufnahme unterschieden gewesen sein müssen. Dauernde Steigerung der Nahrungsaufnahme setzt aber eine dauernde Steigerung der Lebenstätigkeit überhaupt, im besonderen aber der Fortbewegung im Suchen nach Nahrung, voraus. Ich glaube auch, daß es umgekehrt erlaubt ist zu sagen: bei Tieren mit dauernd gesteigerter Lebens- tätigkeit und Nahrungsaufnahme erhöht sich die Körper- temperatur und wird unabhängig von dem umgebenden Mittel. Mit diesen Vorstellungen, die sich, wie ich meine, auf sicherer physiologischer Grundlage aufbauen, wollen wir uns nun einen Überblick über den Entwicklungsgang der Reptilien, Vögel und Säuger zu verschaffen suchen und prüfen, wie sich das Problem von diesem Gesichtspunkt aus darstellt. Heute gibt es, abgesehen von der isoliert stehenden Brücken- echse, vier Ordnungen von Reptilien: Krokodile und Schild- kröten, Eidechsen und Schlangen. Die Geschichte der Kroko- dile und Schildkröten ist uns recht vollständig, die der beiden anderen Ordnungen nur sehr dürftig überkommen. Das begreift sich leicht, da die Krokodile und Schildkröten vorwiegend Wassertiere sind oder 914 Warmblüter. amphibisch leben, ferner zumeist große Tiere mit festen, widerstands- fähigen Skeletten, während Eidechsen und Schlangen meist kleiner sind, ein leichter zerfallendes Skelett besitzen und wegen der fast ausschließlich terrestrischen Lebensweise nur mehr zufällig in Ab- sätzen des Süßwassers oder des Meeres eingebettet werden. — Soweit wir die Geschichte der Krokodile und Schildkröten auch zurück- verfolgen können, bis in die Trias oder bis ins Perm, erhebliche Änderungen haben sie weder in ihrem gesamten Baue noch in ihrer Lebensweise erfahren. Wenn man nämlich, wie es mir geboten scheint, in verschiedenen Stegocephalen wie Archegosaurus, Eryops und in den Labyrinthodontiern die Vorfahren der Krokodile erblickt, so hätte sich nur die amphibische Lebensweise in die reptilische gewan- delt, und zwar unabhängig in verschiedenen Reihen. Denn die beiden größten Stämme der Longirostres und Brevirostres, die sich vom Jura an getrennt nebeneinander bis zur Gegenwart verfolgen lassen, sind schon unter jenen Stegocephalen erkennbar. Ebenso lassen die Schildkröten bis in den Jura zurück nur unbedeutende Wandlungen erkennen, die zum Teil mit der veränderten Lebens- weise zusammenhängen. Erst die noch älteren, triadischen und per- mischen Vorläufer, wie Placochely und die Rhynchosauriden weichen durch den Besitz von Zähnen, durch weniger feste Aus- bildung des Panzers und andere Merkmale von den typischen Schildkröten ab. Eine ähnliche Persistenz der Typen läßt sich aber auch für die Eidechsen und Schlangen behaupten. Beide Ordnungen finden wir schon unter den Stegocephalen des Perms vorgebildet, und wenn auch ein Teil der Schlangen erst später aus vierfüßigen Echsen hervorgegangen sein dürfte, so sind sie doch ebenso wie die drei anderen Ordnungen echte »Kriechtiere« geblieben. Das heißt: ihr Körper bewegt sich nur auf kurzen Beinen oder ohne solche auf dem Boden oder im Wasser, ihre Fortbewegung ist im allgemeinen lang- sam, oder doch nur vorübergehend schnell; nie bewegen sie sich andauernd rasch. Sie nehmen die Nahrung nie dauernd und regelmäßig auf, sondern verharren nach einer Mahlzeit fast immer längere Zeit in Ruhe, können auch lange Zeit ohne jegliche Nahrung verbringen, weil ihre Lebenstätigkeit stets gering bleibt. Sie suchen die Nahrung wohl nur ausnahmsweise, im allgemeinen lassen sie sie an sich herankommen. »Entsprechend dem unvollkommenen Blut- umlauf führen sie sozusagen nur ein halbes Leben« (Brenum — Börtser). Es fehlt bei ihnen somit die notwendige Vorbedingung für eine kon- stante Erhöhung der Blutwärme, auf die ich eben hingewiesen habe. Warmblüter. 215 Ganz anders Vögel und Säuger. Von den Tieren mit Winter- schlaf abgesehen, die sich hieran wohl erst später gewöhnt haben, vergeht ihr Leben in einer fast ununterbrochenen Suche nach Nahrung. Ihre ganze Organisation ist daher auf andauernden Stoff- wechsel abgestimmt. Das ist aber nur dadurch ermöglicht, daß die Art ihrer Fortbewegung auf einer höheren Stufe steht, als bei den Reptilien. Vermöge ihrer verlängerten und anders gestalteten Glied- maßen sind sie zumeist nicht wie die Kriechtiere an den Boden gebannt, sondern über ihn erhoben, wodurch die Suche nach Futter erleichtert wird. Aber auch den kurzbeinigen Säugern, die dicht über dem Boden laufen oder gar graben, ist doch die Fähigkeit zu andauernden Bewegungen eigen, und damit besitzen auch sie die Möglichkeit, andauernd und regelmäßig Nahrung aufzunehmen, der Nahrung nachzugehen und nicht nur auf sie zu warten wie die Mehr- zahl der Kriechtiere. Bei ihnen allen ist also die Vorbedingung für Erhöhung der Blutwärme, für Eigenwärme, physiologisch gegeben. Neben den vier konservativen Ordnungen der Reptilien, die wir wohl mit demselben Recht lebende Fossilien nennen könnten, wie etwa Nautilus oder Pentacrinus, sehen wir nun schon am Ende der paläozoischen Zeit oder doch mit der Trias eine größere Zahl von Vierfüßler-Gruppen erscheinen, die wir zu den Reptilien rechnen auf Grund gewisser osteologischer Merkmale, über deren innere Organi- sation wir aber zumeist garnicht unterrichtet sind. Ihrer Lebens- weise nach zerfallen sie in drei Kategorien: Landsaurier (Thero- morpha, Dinosauria) Meersaurier (Ichthyosauria, Plesiosauria, Thal- lattosauria) und Luftsaurier (Pterosauria). Alle sind gegenüber den echten Kriechtieren durch die vollkommenere Art der Fortbewegung ausgezeichnet. Die Landsaurier sind schreitende oder hüpfende, die Meersaurier schwimmende und später auch tauchende, die Luftsaurier flatternde Tiere. Soweit wir heute schon Wandlungen in der Geschichte der einzelnen Stämme verfolgen können, tritt deut- lich eine Zunahme in der Beweglichkeit hervor, so bei den Ichthyo- sauriern, deren triadische Vertreter noch weniger gut ausgebildete Paddeln besaßen als ihre jurassischen Nachkommen, deren Schwanz- und Rückenflosse mit der Zeit größer wurde, während die hinteren Gliedmaßen an Größe abnahmen. Wenn wir aus dieser Zunahme der Beweglichkeit auf eine erhöhte Lebenstätigskeit und eine andauernde Nahrungsaufnahme bei ihnen schließen, so bleiben wir ganz und gar auf dem Boden gesicherter Erfahrungen. Unmöglich dagegen läßt sich etwas Sicheres darüber aussagen, bei welchem Grade von erhöhter Lebenstätigkeit etwa die Körpertemperatur unabhängig vom umgebenden 216 Warmblüter. Mittel geworden sein kann. Daß diese Änderung aber im Laufe der Zeit überhaupt eingetreten ist, und jedenfalls ganz allmählich, darf als höchst wahrscheinlich, weil physiologisch notwendig, an- genommen werden. Und wenn dem so ist, haben wir dann das Recht, diese Tiere noch als Reptilien zu bezeichnen? Warmblütige Reptilien sind nach der heutigen Definition ein Unding! Für die Ermittlung der Abstammung der Vögel und Säuger von Reptilien sollte nun in erster Linie die unbestreitbare Tatsache gewürdigt werden, daß wahrscheinlich alle die sogenannten ausge- storbenen Ordnungen der Reptilien, die Schreit- und Hüpfsaurier, die Schwimmsaurier und die Flattersaurier infolge ihrer gesteigerten Bewegung und Nahrungsaufnahme auch eine erhöhte und eigene Körpertemperatur besessen haben, und daß diese Eigenschaft im Laufe der mesozoischen Zeit sich immer stärker herausgebildet haben muß entsprechend der Zunahme ihrer Bewegungsfähigkeit. Die physiologische Abtrennung der Metareptilien, wie man jene »ausge- storbenen« Gruppen zusammenfassend bezeichnen kann, von den kalt- blütig bleibenden eigentlichen Reptilien hat jedenfalls schon in der Trias, zum Teil wohl schon im Perm, begonnen und dürfte sich im Laufe der mesozoischen Zeit so weit akzentuiert haben, daß gegen Ende dieser Periode die Körperwärme bei weitaus der Mehrzahl ihrer Vertreter sich der Körperwärme der Vögel und Säuger an- genähert hatte. Für die aus Reptilien entstandenen Vögel des Jura und der Kreide, Archaeopteryx, Hesperornis und Ichthyornis dürfen wir das sogar mit Sicherheit behaupten. Für die Flugsaurier aber hat schon SerLrey Warmblütigkeit angenommen. Diese Vermutung, die auch FÜRBRINGErR als nicht unberechtigt anerkennt, kann man auch nicht mit dem Hinweis entkräften (Damszs), daß sie dann doch auch wohl Federn gehabt haben müßten. Eine feine Haarbedeckung, wie die Fledermäuse sie besitzen, würde ein gleich- wertiges Korrelat zur Warmblütigkeit darstellen. Denn man darf wohl überhaupt den fast allgemein eingetretenen frühen Verlust der knöchernen Hautbedeckungen bei den Metareptilien als eine Folge der zunehmenden Beweglichkeit der Haut ansprechen und annehmen, daß an ihrer Stelle sich Federn oder Haare eingestellt haben. Wie die Gürteltiere und das Schuppentier (Manis) zeigen, bestehen Haare mit knöchernen Hautpanzern zusammen, und Reste eines solchen Panzers besitzt ja unter anderen auch noch Mylodon in seiner mit Haaren bedeckten Haut. Daß bei allen Vögeln Federn, bei allen Säugern Haare entstanden sind, hängt wohl sicher mit der Verschieden- heit ihrer Bewegungsart, Körperhaltung und Ernährung zusammen. Vögel und Säuger. 217 4. Vögel und Säuger. Die meisten Forscher, die sich über die Herkunft der Vögel und Säuger geäußert haben, leiten beide Klassen von den Reptilien ab. Für die Vögel erscheint diese Ableitung auch ohne weiteres plausibel, da ihre Vertreter zur Jura- und Kreidezeit noch ganz offenkundig Reptilmerkmale aufweisen. Für die Säuger kann ein Schwanken über ihre Herkunft, ob von Reptilien, Amphi- bien oder gar noch niedrigeren Typen deshalb vielleicht nicht unbe- berechtigt erscheinen, weil uns derartige überleitende Zwischenglieder, wenigsten für die plazentalen Säuger aus vortertiärer Zeit, merk- würdigerweise noch fast ganz fehlen. Wenn wir aber die Warm- blütigkeit als eine der notwendigen Vorbedingungen für das Säuger- tum betrachten, die obigen Ausführungen über die Entstehung der Warmblütigkeit als berechtigt anerkennen und uns allein auf die tat- sächlich vorliegenden Funde stützen, so werden wir als Vorfahren der Säuger nur Reptilien in Betracht ziehen dürfen. Den Ursprung der Vögel und Säuger werden wir dann eben nur in den Meta- reptilien der mesozoischen (oder auch permischen) Zeit suchen können. Das gemeinsame physiologische Merkmal der Vögel und Säuger ist die Warmblütigkeit, ein trennendes die Art der Fortpflanzung. Die Vögel, deren Körpergewicht vor und hinter den Beinen annähernd gleichmäßig verteilt liegt, und deren Körperachse allgemein nach hinten geneigt ist, haben das Eierlegen des Reptilstadiums beibehalten. Die erhöhte Lage der Eierstöcke zu dem After hat das auch ohne weiteres gestattet. Bei den Säugern, deren Leib im allgemeinen zwischen den vier Beinen aufgehängt ist, und wo dadurch die Fortpflanzungs- organe unter die Afteröffnung hinabgesenkt sind, erscheint der freie Austritt des Eies erschwert und eine Änderung in der Fortpflanzung naturnotwendig bedingt. Die Frucht wird im Mutterleibe weiter entwickelt und lebendig geboren. So stellt sich das Lebendig- gebären der Säuger als eine notwendige Folge ihres Körperbaues dar, ebenso wie das Beibehalten des Eierlegens bei den Vögeln als Aus- fluß ihrer von den Säugern verschiedenen Körperhaltung begriffen werden kann. Ein meist nicht vollständiges Lebendiggebären kommt zwar ver- einzelt auch bei Reptilien vor, z. B. bei Lacerta vivipara und bei ver- schiedenen Schlangen. Ich habe keine Angabe über die etwaige Ur- sache dieser Anomalie finden können, aber man darf wohl auch hier an eine Art Behinderung im freien Ablegen der Eier denken. Eine vollkommenere Art des Lebendiggebärens scheint aber bei einigen Metareptilien stattgehabt zu haben, wenigstens ist das schon für die Ichthyosaurier der Liaszeit festgestellt an englischen wie an deutschen Funden. Auf keinen Fall kann aber das Lebendiggebären 218 Vögel und Säuger. einzelner echter Reptilien als ein Einwurf gegen die hier versuchte Deutung der Säuger-Fortpflanzung überhaupt verwertet werden. Denn bei den Säugern (wohl auch bei den Metareptilien) hat das Lebendiggebären Platz gegriffen an Tieren mit eigener Körper- wärme, bei den Reptilien an Kaltblütlern. Daher kann es nicht wundern, wenn auf ungleicher Grundlage Verschiedenes entstanden ist, bei den Reptilien nur unvollkommenes Liebendiggebären, bei den Säugern Lebendiggebären und Säugen. Denn letztere Eigenschaft können wir uns sehr wohl entstanden denken durch Zusammenwirken der beiden gegebenen Voraussetzungen, des Lebendiggebärens und der Warmblütigkeit. Im besonderen stellt sich die Herausbildung milchabsondernder Drüsen nur als ein besonderer Fall der Schweiß- drüsenbildung dar, die am Säugerkörper zusammen mit der Haar- bekleidung entstanden sein dürfte. Die Veränderung des Sekrets ist dann als Folge des von den Jungen ausgeübten Leckreizes zu betrachten. Suchen wir nun nach den hier gewonnenen Gesichtspunkten unter den Metareptilien der mesozoischen Zeit die möglichen Vorfahren der Vögel von den möglichen Ahnen der Säuger zu sondern, so werden wir zu folgender Trennung geführt. Als mögliche Ahnen der Vögel, Avireptelia, haben wir im all- gemeinen diejenigen Formen ins Auge zu fassen, deren Gliedmaßenpaare so ungleich gestaltet waren, daß die Fortbewegung nur auf den hin- teren, bei älteren Vertretern vielleicht noch mit gelegentlicher Zuhilfe- nahme der vorderen, erfolgte. Bei solchen Gestalten blieb die Körperachse dauernd in geneigter Lage und ermöglichte die Fortdauer der Eierablage. Als weitere Merkmale, die in der Richtung des Vogeltypus liegen und vom Säugertypus abführen, wären folgende hervorzuheben. Die Verringerung der Zehenzahl auf drei funktion- nierende und eine mehr oder weniger beträchtliche Verlängerung der Metatarsalien oder gar ihre Verwachsung zu einem Lauf. Denn die ältesten tertiären Säuger besitzen fast ausnahmslos 5 Zehen, kein einziger aber weist 3 auf, und ebenso fehlen den älteren Säugern verlängerte oder gar verwachsene Metatarsalien. Ferner kann eine Be- schränkung der Zähne auf den vordersten Teil der Schnauze wohl nur für einen Vogelvorfahr in Frage kommen, nicht aber für einen Säuger, da den älteren Säugern durchgehends Backenzähne zukommen. Eine Postpubis darf auch als vogelähnliches Merkmal in Anspruch ge- nommen werden; ebenso das Vorkommen einer Lücke im Unter- kiefer. Wo der Kopf schon senkrecht zur Achse des Halses wie bei den Vögeln gestellt ist, ist auch ein ausgesprochenes Vogelmerkmal - Vögel und Säuger. 219 gegeben. Wenn nun mehrere dieser Merkmale gar vereinigt ange- troffen werden, scheint die Entscheidung sicher, und dies trifft für die Ornithopoden (Fig. 129) ohne weiteres zu. Bei den Scelidosauriden müßte später noch die Stellung des Schädels sich geändert haben. Wenn, wie bei den Theropoden, einige wichtige Merkmale, wie ausgesprochene Ungleichheit der Gliedmaßen, Verkümmerung der Zehenzahl, Durchbruch im Unterkiefer usw., zusammentreffen, eine (Oi Fig. 129. Ein Avireptil aus der Abteilung der Ornithopoden, Iguanodon Ber- nissartensis Boulgr. Unt. Kreide: Wealden. Bernissart, Belgien. A Zahn; B Kopf; C Skelett. (Nach DoLLo aus STEINMANN-DÖDERLEIN: Elem. d. Pal.) Postpubis aber nicht entwickelt ist, erscheint es keineswegs ausge- schlossen, daß Vogelahnen vorliegen, da eine Rückwärtsbiegung der nach unten gerichteten Pubis die Verhältnisse des Vogelbeckens ebenfalls ergibt. Als mögliche Vorläufer von Säugern (Mammoreptilien) darf man bezeichnen: erstens die 3 großen Gruppen von Meer- sauriern, die Ichthyosauria, Plesiosauria und Thalattosauria, ferner die Pterosauria, da für diese Ordnungen eine Umbildung in Vögel vollkommen ausgeschlossen, ihre Organisation aber durchgängig nicht so vereinseitigt ist, daß eine Fortbildung in ähnlich gestaltete und ähnlich lebende Säuger nicht mehr möglich wäre. Von den Land- sauriern kämen die Mehrzahl der Sauropoden und die Homoeo- 220 Vögel und Säuger. poden (Ceratopsida Fig. 130) in Frage. Die Sauropoden sind Tiere mit annähernd gleichen Gliedmaßenpaaren (bei Camaro-Atlantosaurus sind die vorderen sogar länger als die hinteren), und meist nicht reduzierter Zehenzahl; ihr Kopf steht in der Halsachse. Wo sich eine vollständige Bezahnung mit diesen Merkmalen vereinigt findet, scheinen die Beziehungen zu Säugern möglich oder gar wahrscheinlich. Das trifft für die Mehrzahl zu. Wo aber, wie bei Diplodocus, die Zähne auf den Vorderteil der Kiefer beschränkt sind, möchte man lieber an einen primitiven Vogelahnen denken, der den zweibeinigen Gang Fig. 130. Ein Mammoreptil aus der Abteilung der Homoeopoden, Triceratops. Ob. Kreide: Laramie. Ostl. Felsengebirge. A Restauriertes Skelett. B Schädel von oben. C Zahn. D Hautknochen. E Endphalange. (Nach MarsH aus STEINMANN: Einf. i. d. Pal.) noch nicht erreicht hat. Die Homoeopoden (Fig. 130) besitzen da- gegen eine so auffallende habituelle Ähnlichkeit mit Säugern, daß selbst die scheinbar entgegenstehenden Merkmale dagegen zurücktreten. Die angegebene Dreizehigkeit der hinteren Gliedmaßen ist keineswegs verbürgt, und die den Kiefern vorgeschuhten, zahnlosen Knochen (rostrale und praedentale) stellen so eigenartige Bildungen dar, daß eine posthume Zahnentwicklung an ihnen nicht als ausgeschlossen gelten darf. Hiernach würden wir die Metareptilien der mesozoischen Zeit in folgender Weise trennen können: Mögliche Vogelahnen. — Avireptilia. Theropoden mit den gut bekannten Gattungen Anchisaurus, Allosaurus, Ceratosaurus, Laelaps, Megalosaurus, Compsognathus, Hallopus, Coelurus. Ornithopoden mit den bekannten Gattungen Camptosaurus, Laosaurus, Hypsilophodon, Iguanodon, Trachodon, Olaosaurus. Vögel. N Stegosauriden mit Siegosaurus und Scelidosaurus. Von den Sauropoden Diplodocus. Mögliche Säugerahnen. — Mammoreptilia. Sauropoden mit den Gattungen Cetiosaurus, Camerosaurus, Brontosaurus, Morosaurus. Homoeopoden mit Triceratops und Verwandten. Pterosauria. Ichthyosauria. Plesiosauria. Thalattosauria. 5. Vögel. Um die Entstehung der Vögel aus den uns bekannten Metareptilien zu ermitteln, fassen wir zunächst die Reste fossiler Vögel aus mesozoischer Zeit ins Auge und untersuchen, welche Be- ziehungen sie untereinander, sowie zu den Reptilien einerseits, zu den heutigen Vögeln andrerseits aufweisen. Dabei wird sich dann er- geben, ob sie auf einen gemeinsamen Vorfahren der Vögel hinweisen, oder ob ihr Ursprung eher in verschiedenen Reptilformen zu suchen ist. Drei verhältnismäßig gut bekannte Jura- und Kreidevögel kommen hier in Frage. 1. Archaeopteryx (oberer Jura, Fig.151). Es ist der älteste Vogel, den wir kennen. Er ist befiedert, besitzt Tränen- aber keine Schläfengruben, vollständig verwachsene Kopfknochen, einen vollständig verschmolzenen Lauf und andere Vogelmerkmale mehr. Mit diesen ausgesprochenen Vogelmerkmalen paaren sich aber andere, die wir am erwachsenen Flugvogel niemals beobachten, die bei heutigen Vögeln nur im embry- onalen Zustande auftreten und daher ebenso gut als ausgesprochene Reptil-Merkmale zu gelten haben. Das sind im wesentlichen folgende: Die lange, eidechsenartige Schwanzwirbelsäule mit lauter freien Wirbeln, die unvollkommene Verschmelzung der Handgelenk- und Mittelhandknochen und die Bezahnung, die aus 13 kleinen, in Al- veolen eingefügten Zähnen in jeder Hälfte des Kiefers besteht. Ge- wisse Merkmale fehlen aber auch den heutigen Vögeln gänzlich, so die Bauchrippen, und die schlanken Rippen ohne Hakenfortsatz. Legt man nun mehr Gewicht darauf, daß viele Kennzeichen der Archaeo- pteryc bei Reptilien zu finden sind, aber dem erwachsenen Vogel fehlen, so wird man die Verwandtschaft mit den Reptilien mehr in den Vordergrund stellen; betont man mehr, daß diese Kennzeichen auch beim embryonalen Vogel vorkommen, so wird man diese wich- tige Übergangsform den Vögeln zuzählen. In welcher Weise man aber auch die Stellung des Urvogels zum Ausdruck bringen mag, an 222 Vögel. der Tatsache ist nicht zu zweifeln, daß er in ausgesprochenem Maße eine Mittelstellung zwischen den beiden Entwicklungsstufen der Vierfüßler einnimmt und allein schon als Beweis dafür genügt, — __ıı daß aus einem Reptil \ einmal ein Vogel hervor- gegangen ist. Weniger leicht las- sen sich die Beziehungen von Arch. zu einer be- stimmten Gruppe von Reptilien ermitteln. Aus älteren Schichten des Jura und aus der Trias kennen wir kleinere, hochbeinige Reptilien von solchem Habitus, wie sie Arch. als Vor- fahren fordert, so gut wie gar nicht, und wir müssen schon zum per- mischen Proterosau- rus von 1,5 m Länge oder zu den kleineren Stegocephalen mit amphibischer Liebens- weise aus der Permzeit zurückgehen, um nie- driger organisierte und habituell ähnliche For- men in einiger Auswahl Ba | zu finden. So bleibt die Fig. 131. Archaeopteryc maeruraOwen. Lithographischer Plattenkalk. Solnhofen. Restauriert in der Stellung Herkunft von Arch. zu- des Berliner Exemplars. e Carpus; el Clavicula; co Cora- nächst unermittelt. coid; A Humerus; r Radius; sc Scapula; u Ulna; I, II, ii III die 3 Finger der Hand (wahrscheinlich 2. 3. Etwas klarer liegen 4. Finger). I—IV, 1—4 Zehen. (Nach Dawes aus die Beziehungen zu den STEINMANN-DÖDERLEIN: Elem. d. Pal.) : % ; heutigen Vögeln. Mit Recht ist von verschiedenen Seiten betont worden, daß man in Arch. nicht den gemeinsamen Vorfahr aller Vögel sehen darf. Da ich mir das Ziel, einen Urvogel zu konstruieren, aus guten Gründen überhaupt nicht gesteckt habe, so bescheide ich mich mit dem Ver- suche, einen kleineren Teil der jüngeren Vögel an Arch. anzuschließen. Vögel. 223 Hierfür könnten allein kleinere Flugvögel in Frage kommen, z. B. die Gruppe der Tauben, mit der man Arch. gewöhnlich auch ver- gleicht. Welche triftigen Gründe sich dagegen anführen ließen, ver- mag ich nicht einzusehen. Denn wir brauchen ja nur die altertüm- lichen (Reptil-) Merkmale im Laufe der Zeit verschwinden, die Vogel- merkmale aber im allgemeinen konserviert oder noch weiter gebildet zu denken, um einen taubenartigen Vogel zu erzielen. Wollen wir hiernach die Stellung von Arch. im Reiche der Vierfüßler präzisieren, so dürfen wir sagen: es ist eine Mittelform zwischen kleineren, uns noch nicht bekannten Reptilien oder richtiger Metareptilien aus der älteren mesozoischen Zeit und einem echten Flugvogel vom Charakter der Tauben. 2. Von diesem Urvogel lenkt sich unser Blick unwillkürlich auf einen an Größe fast ganz gleichen Vogel aus etwas jüngerer Zeit, Ichthyornis, aus der Oberkreide Amerikas (Fig. 132). Auch dieser Vogel zeigt noch manche altertüm- 2. lichen Merkmale: er teilt mit Arch. den Besitz von Zähnen und die bi- konkaven Wirbel. In anderer Be- ziehung steht er moderner da: die Schwanzwirbel sind zum Teil ver- wachsen, die Flügel mächtig ausge- bildet, und dementsprechend ist ein Brustbeinkiel vorhanden, der Arch. noch fehlt. Hiernach hinderte uns nichts, ihn als einen direkten Nach- kommen des Juravogels anzusehen. Und doch ist das aus anderen Gründen Fig. 132. Tehihyornis vietor Marsh. nicht angängig. Denn wenn auch die Ob. Kreide. Kansas. Skelett. cl Clavi- 1, 5 i i eula; co Coracoid; er Crista sterni; Zähne wie bei Arch.in Alveolen stehen, n Humerus; m 2. u. 3. Metacarpus: soistdochihreZahlerheblichgrößer ?Y Pyeostyl; r Radius; sc Scapula; £ ni = i-m Lauf; u Ulna; un Processus un- als dort. Sie beträgt 21 gegenüber 13. cinatus; 7 4. Metacarpus; II, III 2. ae le und 3. Finger. (Nach MarsH aus Wir können aber unmöglich annehmen, STEINMANN-DÖDERLEIN: Elem.d.Pal.) daß sich in der Entwicklungsreihe, die von den bezahnten Reptilien zu den allgemein unbezahnten Vögeln führt, die Zahnzahl vergrößert hätte. Auch ein anderes Merkmal läßt sich mit einer unmittelbaren Ableitung von Arch. nicht vereinigen, das ist die Trennung, die im Unterkiefer von Ichth. zwischen dem Spleniale und Angulare besteht. Denn bei Arch. sind die Knochen des Unterkiefers schon vollständig verwachsen, wie bei den Vögeln; sie können in einer viel späteren Zeit sich nicht wieder getrennt 294 Vögel. haben. So werden wir zu der Annahme geführt, daß Ichth. einer mit Arch. parallellaufenden Übergangsreihe zwischen Meta- reptilien und Vögeln angehört und seinen Ursprung aus einer ähnlichen Metareptilform wie Arch., aber unabhängig davon, her- leitet. Man hat Ichtk. mit den Möven, speziell mit den Sterniden, verglichen, worauf auch der gesamte Körperbau deutlich hinweist. 3. Der dritte gut bekannte Zahnvogel der mesozoischen Zeit ist Hesperornis aus der Oberkreide (Fig. 1335). Ein Tier von etwa 1m Höhe, habituell nicht den Flug-, sondern den Laufvögeln gleichend und doch von allen bekannten Ver- tretern der heutigen Laufvögel durch langen Kopf und Schnabel, sowie durch seinen zarteren Knochenbau, im besonderen der Hintergliedmaßen, unterschieden. Da aber das Brust- bein ungekielt ist und die Flügel- knochen so schwach entwickelt sind, daß das Tier wohl kaum fliegen konnte, so erscheint die Bezeichnung »Laufvogel« bis zu einem gewissen (srade gerechtfertigt. Da nun nach der jetzt ziemlich allgemein ver- tretenen Auffassung die einzelnen Gruppen der Laufvögel aus einzelnen So Gruppen von Flugvögeln hervor- Fig. 133. Hessens) BR Marsh. gegangen sein sollen, so erhebt sich a kan, Uhr die Frage, ob sich Heyp. nicht: elwa merus; i lleum; is Ischium; p Patella; auf Arch. zurückführen oder an den nen a gleichaltrigen Ichth. irgendwie an- Metatarsus). B cölodonterZahn mitZahn- schließen läßt. Das erscheint aber keim. (Nach MArsH aus STEINMANN- DÖDERLEIN: Elem. d. Pal.) gänzlich unmöglich. Denn nicht nur weicht er im Bau des Kopfes von beiden sehr erheblich ab, sondern auch die größere Zahl seiner Zähne gestattet einen solchen Anschluß ebensowenig, wie ihre Beschaffenheit und Stellung. Der Zahnwechsel ist nämlich noch primitiv wie bei Reptilien, und die Zähne stehen nicht wie bei jenen beiden Zahn- vögeln in Alveolen, sondern in einer gemeinsamen Furche. Das letztere ist aber ein Merkmal, das bei keinem fossilen Zahnvogel an- getroffen wird, sondern nur bei gewissen Reptilien, wie Ichthyo- saurus (und bei einigen Cetaceen). Ferner sind die Knochen des Unterkiefers noch wie bei den Reptilien vollständig voneinander ee Vögel. 225 geschieden, während sie bei Ichth. fast alle, bei Arch., soweit wir wissen, ganz verwachsen waren. Will man Hesp. auf eine Reptilgruppe zurückführen, so können ernstlich nur die Dinosaurier in Betracht kommen, und unter diesen wohl am besten die kleinen Vertreter der Öamptosauriden. Eine bestimmte Gattung läßt sich aber zur Zeit nicht namhaft machen, da keine die Zahnrinne von Hesp. aufweist. Wir dürfen auch nicht vergessen, daß uns kleinere Vertreter der a allgemein nur kan bekannt geworden sind. Diese Betrachtung der mesozoischen Zahnvögel führt uns zu folgendem Ergebnisse. Jeder der drei gut bekannten Typen repräsentiert eine gesonderte Stammreihe, von denen jede einzelne insofern von den Metareptilien zu den Vögeln überleitet, als sie bestimmte Merkmale aufweist, die den heutigen Vögeln im erwachsenen Zustande fehlen, die aber den mesozoischen Reptilien zukommen. Auch nicht auf eine Stammgruppe mesozoischer Reptilien oder Metareptilien weisen die Zahnvögel hin, sondern auf mindestens zwei verschiedene, und ebensowenig lassen sich die zwei Flugvögel in eine genetische Reihe ordnen, trotzdem sie im Alter hinreichend unterschieden sind. In dieser Beziehung muß auch noch die Tatsache erwähnt werden, daß fast jeder der minder gut be- kannten Vögel aus der Kreidezeit einer bestimmten, gut charakterisier- ten Gruppe von Flugvögeln angehört, nämlich Zaornis den Gänsen, Palaeotringa den Sumpfvögeln, Telmatornıs den Kranichen und Scaniornis vielleicht den Störchen. Wie uns nun eine Betrachtung der tertiären und lebenden Vögel zeigen wird, müssen aber zur mesozoischen Zeit noch viel mehr durchaus selbständige Vogelstämme bestanden haben, die ebenfalls auf ganz verschiedene Ausgangspunkte unter den Reptilien hinweisen. Zunächst möge eine Gruppe herausgegriffen werden, die eine besondere Beachtung unter den Flugvögeln verdient. Die heutigen Pinguine hat man mit wesentlich den gleichen Merkmalen bis in das Alttertiär zurückverfolgt; sie waren schon damals in Pata- sonien, Neuseeland und auf der Antarktis in zahlreichen Arten zu- hause. Sie nehmen anerkanntermaßen eine ganz isolierte Stellung unter den Vögeln ein. Man hat die ihnen eigentümlichen Merkmale als spezialisiert bezeichnet, gewisse sind aber sehr primitiv. Das gilt vor allem von der Trennung der Schädelknochen, die sehr lange ge- trennt bleiben, einem ausgesprochenen Reptilmerkmale, das selbst den mesozoischen Zahnvögeln mit Ausnahme von Hesp. schon fast gänzlich abgeht. Das gilt aber im besonderen von der Beschaffen- Steinmann, Abstammungslehre. 15 226 Vögel. heit des Laufes, dessen drei Elemente noch nicht vollständig ver- schmolzen, sondern noch durch mehr oder weniger weite Lücken (Fig. 134!) getrennt sind, ein Verhalten, das wir sonst nirgends unter den Vögeln, wohl aber bei Dinosauriern, z. B. bei Ceratosaurus aus dem Jura!), in minder vollkommener Form bei Ornithomimus aus der Oberkreide kennen. Diese Merkmale lassen es ganz ausgeschlossen erscheinen, daß man die Pinguine von irgendeinem der be- Fig. 134. Rechter Lauf kannten mesozoischen Vögel ableitet, denn eines fossilen Pingnins & : : B 2 (Palaeospheniscus)ausdem diese besitzen ja allgemein schon einen echten Miozän Patagoniens. Lauf ohne Lücken. e Lücke zwischen dem 3. = und 4. Metatarsale. (Nach Im Untereozän der Insel Sheppey hat man AMEGHINO aus STEIN Reste von Zahnvögeln gefunden, die in die MANN: Einf. i. d. Pal.) Verwandschaft der Sturmvögel zu gehören scheinen. Argillornis besitzt am hinteren Teil der Kiefer Alveolen, wird also die Zähne erst kurz vorher verloren haben, bei Odonto- pteryx dagegen sind die Kieferränder mit ungleichen, zum Teil sehr langen, zahnartigen Zacken besetzt, die nur als Reste der früheren Bezahnung gedeutet werden können. Wenn sie das aber sind, so müssen im Mesozoikum oder Tertiär auch Zahnvögel von ganz anderem Baue, als die bis jetzt bekannten, vorhanden gewesen sein. Die heutigen Laufvögel mit Einschluß der erst in jüngster Zeit ausgestorbenen Riesenvögel von Neuseeland, Madagaskar usw. stehen, wie schon von verschiedenen Seiten hervorgehoben worden ist, dem Gros der Flugvögel zumeist recht fremdartig gegenüber. Aus den erschöpfenden Darstellungen FÜRBRINGErRs geht deutlich her- vor, daß sich zur Not zwar Anknüpfungspunkte bei den Flugvögeln finden lassen, die diesen Forscher auch veranlassten, die einzelnen Laufvögelgruppen aus verschiedenen Gruppen der Flugvögel entstan- den zu denken; andrerseits kann man bei der unverkennbaren Selb- ständigkeit der großen Laufvögel und bei dem vollständigen Fehlen von vermittelnden Formen zwischen Flug- und Laufvögeln begreifen, daß manche Forscher einer unabhängigen Entstehung der Laufvögel aus Reptilien, im besonderen aus Dinosauriern, das Wort geredet haben, wie WIEDERSHEIM, oder daß sie doch die Trennung der beiden großen Vogelstämme in eine weit zurückliegende Periode verschoben 1) Baur hat vermutet, daß in diesem »Lauf« der Dinosaurier nur eine pathologische Erscheinung vorläge. Ich vermag nicht einzusehen, warum das der Fall sein soll. Vielleicht, weil sonst die Vogelähnlichkeit dieses Sauriers zu groß wäre! Vögel. 227 haben, wie Dames. Nach MArk und SerLey hätten die Laufvögel überhaupt nie das Flugvermögen besessen. Verzichten wir auf den Versuch, alle Vögel auf einen gemein- samen Vorfahren zurückzuführen, und nehmen wir die lebenden und fossilen Funde so wie sie sich uns darbieten, ohne Voreingenommen- heit, so werden wir sagen können: Nichts hindert, aber vieles spricht dafür, daß die Flugunfähigkeit der Laufvögel ein ursprüng- liches Merkmal ist. Auch die Flugvögel sind ja ursprünglich nur Lauf- oder Klettertiere gewesen und haben die bezeichnenden Merk- male der Flugvögel, ein gekieltes Brustbein und eine Flughand erst später erworben. Hiernach können wir einen Flugvogel mit gekieltem Brustbein wohl von einem Vorfahren mit ungekieltem Brustbein ab- leiten, das Umgekehrte müßte aber erst historisch sicher erwiesen sein, ehe wir es als möglich oder tatsächlich annehmen. Im Lichte dieser Anschauung gewinnt der einzige bis jetzt gut bekannte Vogel der Kreidezeit, Hesperornis (Fig. 133), eine ganz andere Bedeutung, als man ihm zumeist zuerkennt, und scheidet aus der Reihe der unverständlichen Naturerzeugnisse aus. Als »schwim- mender Strauß« trägt er zum Verständnis der heutigen Vögel nichts bei. Fassen wir ihn aber als einen primitiven Oarinaten auf, der einen Brustbeinkiel erst später mit der stärkeren Entwicklung der Flügel erhalten hat, — seine Vordergliedmaßen waren ja keines- wegs vollständig verkümmert, sondern nur schwach und schlank, — so rückt er in die Vorfahrenreihe der Colymbiformes ebenso un- gezwungen ein wie die beiden mesozoischen Flugvögel in die Vor- fahrenreihe der Columbiformes und Lariden. Denn die Auf- fassung der vergleichenden Anatomen und Paläontologen geht ja allgemein dahin, daß Hesp. zu der heutigen Familie der Taucher die allerengsten Beziehungen aufweist. FÜRBRINGER vereinigt daher auch Hesp., die mangelhaft bekannten Enaliornis und die rezenten Colymbi-Podicipites zu einem einzigen Kreise und denkt sich Hesp. aus diesem durch Verlust der Flugfähigkeit abgezweigt. Wir brauchen dies Verhältnis nur umzukehren, und Hesp. als einen noch nicht flugfähigen Vorfahr der Colymbi-Podocipites anzusprechen, um zu einer vollständig befriedigenden Erklärung des fossilen Stoffes zu gelangen. ‘Wer mit mir die großen, meistenteils ausgestorbenen Laufvögel auf Dinosaurier zurückführt, braucht an der meist viel beträchtlicheren Größe der Dinosaurier keinen Anstoß zu nehmen. Denn wenn aus einem Dinosaurier ein Laufvogel entsteht, fällt ja ein sehr beträcht- licher Teil seiner Körperlänge, der Schwanz, so gut wie ganz fort. 15* 238 Vögel. Dieser beträgt aber gewöhnlich die Hälfte der ganzen Länge, zu- weilen noch mehr. Als Vergleich kann uns am besten die Höhe des Kreuzes über dem Boden dienen, denn diese bleibt sich gewöhn- lich gleich, einerlei, ob der Schwanz verkümmert oder ob das Tier eine andere Haltung seines Leibes oder Halses annimmt. Doch dürfen. wir von der Kreuzhöhe noch einen erheblichen Betrag ab- ziehen. Denn bei den Dinosauriern befand sich der Oberschenkel in mehr oder weniger ‚geneigter Stellung, beim Laufvogel steht er Fig. 135. Aepyornis Hildebrandti Burckh. Mada- Fig. 136. Aepyornis ingens M. gaskar. (Nach ANDREWS.) E.& Gra. Madagaskar. (Nach. GRANDIDIER.) mehr oder weniger horizontal, und dasselbe gilt für den Fuß. Außer- dem haben wir aber bei der Umwandlung eines der großen: Dino- saurier in einen Laufvogel noch mit einer allgemeinen: Reduktion der Körpergröße zu rechnen. Denn manche der riesigen Dinosaurier lebten, wie man aus dem Fehlen von Gelenkflächen an den Enden der Gliedmaßenknochen entnimmt, noch im Sumpf, und sie trugen ihren. unförmlichen Körper nicht frei. Nur aus dieser Lebensweise läßt sich auch die ungeheure Länge der Wirbelsäule und die ge- waltige Masse des gesamten Körpers begreifen. Wenn aber Tiere’ aus dem Wasser oder aus dem Sumpf aufs trockene Land übergehen, Vögel. 229 nimmt ihre Körpergröße beträchtlich ab, wie ein Vergleich der Größe der typischen Insekten und Spinnen mit ihren ältesten Ver- tretern aus dem Karbon und mit den Trilobiten und Gigantostraken, von denen wir sie ableiten, zeigt. Dem Versuche, die einzelnen Laufvögel auf bestimmte Dinosaurier zurückzuführen, stehen erhebliche Schwierigkeiten entgegen, da viele von den Reptilien-Merkmalen bei den Vögeln ganz verschwunden, andere durch gleichsinnige Umbildung in den neuen Zustand ihre vorher auffälligen Unterschiede eingebüßt haben. Gesamtgröße, Form und Proportionen der einzel- nen Skeletteile, Durchbruch im Unterkiefer usw. sind aber als leitende Merkmale übrig geblieben. Diese ge- währen immerhin die Möglich- keit zur Auffindung phylo- genetischer Beziehungen, da selbst die einzelnen Arten der gleichen V ogel-»Gattung« in dieser Hinsicht erkennbare Unterschiede aufweisen (wie die Arten von Moas und von Aepyornis Fig.135,136 zeigen), und solche scheinen bei Dino- Fe 137. Ein Avisaurier, Ceratosaurus aus dem Jura der Felsengebirge, ausgezeichnet sauriern in ähnlicher Weise durch den Knochenkamm auf dem Nasen- vorhanden gewesen zu sein. Nrh“ (> einen Purshhruch In Untrbihe Doch fehlt mir noch die (fa). (Nach Marsn aus SrEINMANN-DÖDERLEIN.) Möglichkeit, bestimmte Ver- gleiche zu ziehen. Faßt man aber den stetig wachsenden Formen- reichtum der fossilen Avireptilia ins Auge und vergleicht damit die Mannigfaltigkeit der davon abzuleitenden Laufvögel, deren aus- gerottete Vertreter immer besser bekannt werden, so darf man wohl behaupten, daß die Formenbreite bei beiden nicht wesentlich ver- schieden ist. Etwas weiter kommen wir mit den Merkmalen, die in beiden Stufen nur ein einziges Mal ausgeprägt sind. So besitzt ein einziger Avisaurier, ÜOeratosaurus nasicornis (Fig. 137) einen schmalen, rauhen Knochenkamm auf dem Nasenbeine, und dieser hat eine Hornbekleidung getragen; eine einzige Gruppe von Laufvögeln, die Helmkasuare, sind durch Besitz ‘eines ganz ähnlichen, auch mit Horn bekleideten Kammes ausgezeichnet, der nur etwas weiter zurück 230 Vögel. auf der Stirn sitzt. Damit verbindet sich bei beiden ein Durch- bruch im Unterkiefer (U) und eine starke Entwicklung der Präfron- talien (fa). Eine andere sehr merkwürdige Übereinstimmung besteht zwischen einem Trias-Saurier, den man früher irrigerweise zu den Krokodilen gestellt hatte, jetzt aber mit Recht als Dinosaurier Fig.138. Schädel von Belodon aus dem Keuper von Stuttgart. A von der Seite, B von oben. Etwa 1/jo. A Augenhöhle; D Durchbruch im Unterkiefer; L Tränengrube; N Nasenhöhle; S untere Schläfenhöhle; im Zwischenkiefer. (Aus STEINMANN-DÖDERLEIN: Elem. d. P.) IN N MINI 50 | nl! . eo. } I I ul Fig. 199. Phororhacos. Miozän. Patagonien. A Kopf von der Seite; B von oben; C Unterkiefer; D Fuß; E Halswirbel. Bezeichnungen siehe Fig. 135. (Nach AMEGHINO aus STEINMANN: Einf. i. d. Pal.) betrachtet, Belodon (Fig. 138), und der merkwürdigen Gruppe riesen- hafter Vögel aus dem Miozän Patagoniens, die als Stereornithes (Phororhacos Fig. 139) beschrieben sind. Bei beiden ist der Schädel ungewöhnlich groß und ganz eigenartig gestaltet, wie wir es bei keinem anderen Saurier oder Vogel auch nur ähnlich wiederfinden. Er ist hinten sehr flach, von dreieckigem Umriß und verschmälert Säuger. 231 sich nach vorn zu einer langen, sehr hohen und schmalen, aus dem Zwischenkiefer (im) gebildeten Schnauze (oder Schnabel), deren Ober- fläche rauh ist und eine Hornbedeckung trug. Die Schnauzenspitze ist nach abwärts gebogen, die Nasenlöcher (N) liegen an der Wurzel der Schnauze hoch oben, einander stark genähert, etwas dahinter und darunter eine große Tränengrube (ZL). Der lange, im Umriß dreieckige Unterkiefer enthält einen mächtigen Durchbruch (D). Trotz des großen zeitlichen Abstandes zwischen Delodon und Phororhacos darf man unbedenklich einem unmittelbaren Zusammenhang zwischen beiden das Wort reden, da eine Vereinigung aller genannten Merkmale bei keinem anderen fossilen oder lebenden Vierfüßler wiederkehrt. Vielmehr bilden meines Erachtens derartige vollständige Parallelen eine wichtige Stütze. für unsere Auffassung, wonach die Vögel aus sehr zahlreichen Metareptilien hervorgegangen sind und alle Stammreihen durch Änderung ihrer Art der Fortbewegung und der Ernährung eine gleichsinnige Umbildung erfahren haben. Haben doch die Ahnen der heutigen Laufvögel gewisse eigenartige Gewohn- heiten schon im Metareptilstadium besessen. So hat WırLAanp nach- gewiesen, daß manche Dinosaurier Nordamerikas in ihrem Magen hochgradig polierte Kieselsteine (Gastrolithe) führten wie die heutigen Laufvögel, und dab die Tätigkeit ihres Magens daher wohl ganz ähnlich wie bei den heutigen Vögeln und verschieden von der der Reptilien gewesen sein muß. 6. Säuger. Bei unseren heutigen Kenntnissen von dem Ent- wicklungsgang der Tier- und Pflanzenwelt ist es gewiß eine sehr merkwürdige Tatsache, daß wir von der vortertiären Geschichte der Säuger so gut wie gar nichts wissen, während uns ihre Reste vom älteren Tertiäir an schon in so reichlicher Fülle überliefert sind. Immer neue und reichere Funde strömen uns aus den Tertiärschichten der verschiedenen Festländer und Inseln zu und helfen das Bild von dem Entwicklungsgang der einzelnen Ordnungen immer mehr ver- vollständigen. Auch aus mesozoischen Formationen vermehren sich ununterbrochen die Reste von Vierfüßlern, sowohl von Land- wie von Meeresbewohnern, aber darunter fehlen Reste von Säugern so gut wie ganz, es sind immer nur Reptilien, untergeordnet auch Vögel. Das wenige, was wir bis heute von mesozoischen Säugern kennen gelernt haben, läßt sich nach allgemeiner Auffassung nur mit Beutel- tieren, Monotremen, vielleicht auch noch mit Insektivoren in Be- ziehung setzen, über die Vorgeschichte der Hauptmasse der plazen- talen Säuger sagt es uns nichts. Hiernach begreift man denn auch die weitere unerfreuliche Tatsache: jeder Forscher kann sich seine 232 ‚Säuger. besondere Vorstellung über die wichtige Frage des Ursprungs der Säuger machen, der eine darf sie sich von den theromorphen Rep- tilien des Perm, ein anderer von den mesozoischen Marsupialiern ab- leiten, ein dritter läßt den Säugerstamm sich zur Devon- oder Silur- zeit, ein vierter schon zur Zeit des Vorkambriums von den übrigen Vierfüßlern trennen, usw. Eine solche Verschiedenheit der Meinungen ist nur möglich, weil es fast an jeglichem Verbindungsgliede zwischen den alttertiären Plazentalen und den niederen Vierfüßlern fehlt, aus denen sie entstanden sein müssen. Von der Geologie darf man mit Recht eine Antwort auf die Frage erwarten, warum dies so ist. Denn man kennt doch z. B. von den Vögeln, deren Reste im allgemeinen auch im Tertiär sehr spär- lich gesät sind, eine nicht unerhebliche Zahl fossiler Formen aus Jura und Kreide, von denen jede einzelne bestimmte Beziehungen zur Stammgruppe der Vögel, den Reptilien, aufweist. Man mag diese Beziehungen werten wie man will, die fossilen Reste liegen vor. Gleichgültig, mit welchen Phantasieprodukten man nun den Abgrund füllt, der vor der tertiären Überlieferung der Säuger gähnt, eine Anforderung bleibt immer bestehen: es muß ungemein zahlreiche mesozoische Säuger gegeben haben, wenn man alle zur älteren Tertiärzeit vorhandenen Abteilungen auf eine gemeinsame Ausgangsgruppe zurückführt, wie das heute allgemein geschieht. Denn gründen wir unsere Vorstellungen von den Umbildungsvorgängen der organischen Formen auf diejenigen Entwicklungsreihen unter den Vierfüßlern, die uns wirklich einigermaßen gut bekannt sind, wie die Pferde, Proboscidier, Raubtiere, oder auf Krokodile, Ichthyosaurier, Thalattosaurier usw., nicht aber auf erdachte Reihen mit beschleunigter Umprägung zwischen den einzelnen Gliedern, so müssen wir außer- ordentlich große Zeiträume und ungezählte Übergangsformen für die vortertiären Säuger fordern. Aber selbst wenn wir uns von dem hemmenden Boden der Erfahrung und des Wissens tunlichst los- lösen und eine Geschwindigkeit der Umwandlung ausdenken, die alle Erfahrung erheblich übersteigt, so wird dadurch nur der für die Um- bildung nötige Zeitraum etwas verkürzt, die ungeheure Zahl der erforderlichen Zwischenglieder aber nicht vermindert. Wir brauchen dann die Abtrennung der Säuger von niederen Vierfüßlern nicht in paläozoische oder gar vorkambrische Zeit zurückzuverlegen, sondern dürfen, wie es meist geschieht, diesen Zeitpunkt in den Beginn des Mesozoikums oder vielleicht gar in die Jurazeit verlegen, wo ja auch schon Vögel aus den Reptilien entstanden sind. Das dürfte aber wohl selbst dem Freunde einer sehr beschleunigten Umwandlung als Säuger. 233 der jüngste zulässige Termin erscheinen, zumal wenn er die wichtige Tatsache nicht unberücksichtigt läßt, dab eine große Zahl oder gar die meisten der heutigen Säugerordnungen schon im Eozän fast gerade so fertig geprägt und scharf voneinander gesondert gewesen sind wie heute, namentlich auch solche von ungewöhnlicher Größe oder von eigenartiger Fortbewegung und Lebensweise, wie Cetaceen, Sirenen, Fledermäuse. Die Geologie vermag keine befriedigende Antwort auf die Frage zu geben, warum wir bis heute von denzahlreichen geforderten Vorfahren der plazentalen Säuger (von den fraglichen Insektivoren abgesehen) aus der Kreidezeit nicht einen Knochen, nicht einen Zahn kennen. In Ermangelung einer besseren Erklärung hat man auf die Hypo- these zurückgegriffen, wonach zur Jura-Kreidezeit ein Festland im pazifischen Gebiet bestand, auf dem die Säuger sich bis zum Tertiär in weltentrückter Abgeschiedenheit entwickelt haben. Warum es nicht wenigstens einigen dieser Tiere schon früher möglich war, den höheren Blütenpflanzen zu folgen, die sich etwa um die gleiche Zeit auch auf einem pazifischen Festlande entwickelt haben sollen, und die sich doch schon zur Kreidezeit über alle Festländer ausgebreitet haben, ist unerfindbar, zumal die Pflanzenfresser ihren Nährpflanzen doch allgemein zu folgen pflegen. Warum mußten die Säuger sich erst in so zahlreiche Ordnungen zerspalten und so spezialisieren, ehe sie sich außerhalb jenes Festlandes einen Platz neben den Rep- tilien sichern konnten, wozu sie — nach der landläufigen Auffassung — Ihre höhere Organisation doch schon lange befähigt haben sollte ? Alles Fragen — aber keine befriedigenden Antworten. Das Problem verschärft sich noch mehr, wenn wir der Frage nach der Abstammung der Seesäuger nähertreten. Schon im mittleren Eozän treten uns gewaltige Waltiere entgegen, die nach Art der heutigen ausgesprochene Meerestiere waren, und die in bezug auf ihre Fortbewegung wohl schon ebenso spezialisiert waren wie die heutigen. Man leitet sie von unbekannten Landsäugern vom Typus der primitiven Raubtiere (Üreodonten) oder von Uondylarthren, den supponierten gemeinsamen Ahnen der Raubtiere und Huftiere, ab. Welche Lösung man auch vorziehen mag, jedenfalls wird man Wesers Ausspruch zustimmen müssen, wonach zweifellos lange Zeit- räume nötig waren, um den Körper eines kleinen Landtieres in den eines riesigen Waltieres von rein mariner Lebensweise umzuwandeln. Legen wir hierbei gar die Erfahrungen zugrunde, die wir über die allmähliche Umbildung von Landtieren zu mehr oder weniger vollständig angepaßten Seetieren bei den Meersauriern oder bei den 234 Säuger. Seekühen besitzen, so kann der Zeitraum einer ganzen Formation, wie der Kreide, dazu kaum genügt haben. Wollen wir uns also nicht allzusehr mit jenen Erfahrungen in Widerspruch setzen, so müssen wir fordern, daß zur Kreidezeit schon zahlreiche große Meerestiere bestanden haben, die die weite Lücke zwischen den angenommenen Landsäugern und den Walen überbrücken. Nun kennen wir gerade die Meeresablagerungen der Kreide, im be- sonderen der jüngeren Kreide, vollständiger als die irgendeiner andern Periode der Erdgeschichte. Wir kennen sie in weitester Verbreitung aus Europa und Asien, aus Nord- und Südamerika, aus Australien und Neuseeland, besonders auch ringsum von den Küsten des Pacific, der so viele Geheimnisse der organischen Entwicklung decken soll und gewiß auch verhüllt. Überaus reiche Faunen von Meeresbewohnern der verschiedensten Art, besonders auch von Wirbeltieren (Fischen und Sauriern), haben sich in den Absätzen der jüngeren Kreide gefunden. Warum hat man bisher darin keine Spur jener Verbindungsglieder zwischen Landsäugern und Walen gefunden, die doch in den Kreidemeeren gelebt haben müssen, keinen Knochen, keinen Zahn? Die Erdgeschichte bleibt stumm auch auf diese Frage. Nun versuchen wir das Problem von einer andern Seite zu beleuchten. Schon Lamarck hat betont, daß die Wale mehr reptilienartige Merkmale aufweisen als irgendeine andere Säuger- abteilung: neuere Forschungen haben ihre Zahl noch vermehrt. Neben einigen Merkmalen von geringerem Werte, auf die besonders ALBRECHT hingewiesen und deren Bedeutung WEBER zu entkräften versucht hat, möge hier nur auf einige der auffälligsten abgehoben werden: auf den einfachen Bau und die Überzähligkeit der Zähne, auf die gelegentliche Überzähligkeit der Finger und auf die fast durchgängige der Fingerglieder. Es fehlt zwar nicht an Versuchen, diese Erscheinungen mit der gegenwärtig verbreiteten Auffassung von der Abstammung der Wale in Einklang zu bringen, aber diese stellen doch starke Anforderungen an unsere Einbildungskraft. Der Zerfall eines normalen Säugergebisses in die ungeheure Zahl ein- facher, reptilienartiger Zähne eines Delphins ist doch ein Vorgang, den wir nur deshalb für möglich halten, weil sonst die ausgedachte Ableitung der Waltiere aufgegeben werden muß. Nicht anders liegt die Sache bei der Vielgliedrigkeit der Finger. Namentlich seitdem wir durch KükeEntHaL bestimmt wissen, daß im embryonalen Zustande nie weniger, sondern gleichviel oder gar mehr Fingerglieder auftreten als im erwachsenen, erscheint die Ableitung der Waltierhand von Säuger. 235 der normalgliedrigen Säugerhand noch mehr erschwert als früher. Nach Lrsoucauzs Meinung hat die Öetaceenhand primitive Merk- male bewahrt und kann von der normalen Säugerhand überhaupt nicht abgeleitet werden. Wenn wir jetzt dazu übergehen, das Problem der Ableitung der Waltiere von der paläontologischen Seite zu beleuchten, so will ich die wenig vollständigen Funde von alttertiären Waltieren zunächst noch nicht erörtern, da wir sie später besser verstehen lernen werden. Vielmehr frage ich zunächst: Wenn sich wichtige Bedenken gegen die Ableitung der Waltiere von Landsäugetieren ergeben, werden wir dann nicht darauf gewiesen, die Frage ernstlich zu prüfen, ob nicht die Meeresreptilien der mesozoischen Zeit als ihre Ahnen an- gesprochen werden dürfen. Trotzdem die Forschungen der letzten Jahre immer deutlicher dargetan haben, daß die Meersaurier mit den Waltieren noch viel weitergehende Übereinstimmungen aufweisen, als man früher gewußt hat, z. B. bezüglich des Besitzes von Rücken- und Schwanzflossen, der Beschaffenheit der Gehörknochen und der Lebensweise, ist man einer solchen Untersuchung doch nie ernstlich nähergetreten. Diese befremdliche Tatsache läßt sich nur dadurch erklären, daß die Abstammungslehre in vieler Beziehung einen aus- gesprochen orthodoxen Üharakter angenommen und einen dem- entsprechenden Einfluß auch auf die Untersuchungsmethoden der von ihr beherrschten Wissenszweige ausgeübt hat. Das Dogma von derein- heitlichen Abstammung zum mindesten aller plazentalen Säuger hat offenbar jene Möglichkeit ganz ausgeschlossen, dafür aber eine üppige Literatur über Konvergenzerscheinungen zwischen Meersauriern und Meersäugern gezeitigt, die den Kernpunkt der Frage gar nicht berührt. Drei größere Gruppen von Meersauriern können wir jetzt durch die mesozoische Zeit hindurch mehr oder weniger geschlossen und scharf voneinander getrennt verfolgen, die Ichthyosaurier, die Plesiosaurier und die Thalattosaurier. Einen Einblick in den Entwicklungs- gang der letztgenannten Gruppe haben wir erst durch die jüngsten Forschungen Merrıams erhalten, die uns die primitiven Vorläufer der lange bekannten Mosasaurier (=Pythonomorphen) auch aus der Trias aufgedeckt haben. Alle drei Gruppen sind von vornherein durch eine Reihe von anatomischen Merkmalen gut voneinander ge- schieden, und diese werden auch während der mesozoischen Zeit wesentlich unverändert beibehalten. Im Gegensatz dazu ändern sich andere Merkmale im Laufe der Stammesgeschichte bei allen dreien 236 Säuger. wesentlich im gleichen Sinne, und das sind diejenigen, die vor allem durch die endgiltig marine Lebensweise beeinflußt werden. Tritt die Wandlung eines dieser Merkmale auch bei der einen Gruppe früher, bei der andern später ein, oder läßt sie sich bis zum Ende der Kreidezeit gar nicht oder nur andeutüngsweise feststellen, so ist doch die Richtung dieser Umbildungen bei allen drei Gruppen wesent- lich die gleiche. Hierher gehört z. B. die Umwandlung der normalen (liedmaßen in Flossen durch Verkürzung der proximalen und der Wurzelelemente (nicht aber die Zunahme der Finger- und Zehen- glieder), die Herausbildung von Schwanzflossen, das Kleinerwerden der hinteren Gliedmaßen usw. Diese Erscheinungen sind gerade in der letzten Zeit so reichlich erörtert und mit den ähnlichen Umbildungen bei anderen im Wasser lebenden Vierfüßlern verglichen worden, daß ich nicht näher darauf einzugehen brauche. Nur folgendes möge hervorgehoben werden: an den Meersauriern sehen wir tat- sächlich diejenigen Umbildungen langsam entstehen, die nach der heutigen Auffassung an den erdachten säuger- ähnlichen Vorfahren der Meersäuger in ungewöhnlich kurzer Zeit vor sich gegangen sein sollen, und die Um- bildungen an Meersauriern führen allgemein zwar nach dem Zustande hin, in dem uns die Meersäuger vom Altter- tiär an entgegentreten, aber in keiner Richtung über ihn hinaus. Die Meersaurier erscheinen hiernach zeitlich und stammes- geschichtlich als eine natürlich gegebene Vorstufe für die Meer- säuger. Wir fassen nun zunächst diejenigen Merkmale ins Auge, die mit der besonderen Lebensweise in keiner Beziehung stehen, die vielmehr die drei Meersauriergruppen voneinander unterscheiden, und betonen dabei die dauernde Vereinigung mehrerer solcher Merkmale bei jeder der drei Gruppen. Sie sind auf der beigefügten Tabelle (S. 237) übersichtlich aufgeführt, werden aber zweckmäßigerweise auch noch im Zusammenhang be- sprochen. Die Ichthyosaurier (Fig. 140) erreichen nur eine relativ geringe Körpergröße, die sich im allgemeinen zwischen 2—5 m bewegt, ver- einzelt aber bis etwa 10 m steigt. Sie zeigen sich am frühesten und am vollständigsten an den Aufenthalt im Meere angepaßt, was be- sonders in der frühen Herausbildung von Schwanz- und Rückenflosse, in dem Kleinerwerden der hinteren Gliedmaßen und in der schon zur Liaszeit senkrechten Stellung der Nasengänge hervortritt. Am Schädel ist bemerkenswert die Kombination: meist langgestreckte #2 SS Suyezasqn yoeanyos | Sgezıogn yorayos||Sryezaogn yaeys F| Syezaoqn yaers || Srypzasgnyaryse| Sygzrogn yarys | aapatpsaodurg os Sryez Stgez fewaou jeuniou jewaou feunou -20qNn uspemnz | -aoqn ualemnz 1geza9Surg AıoLzupaı | uay9ouy JAalznpoı Yırys 18js Istowm y1oıznp9ı umey 119Tznpaaı Yyorü yıoznpeı umey | Iorznpoa Jyoıu -[ozanvapuey \3ydoyz (uoddispegp Bydonyz 170 | | SydonT Sydoy S1ayn.ıF &) 9d9paoA |uaddrıspegg ‘Sydoy [| Sydoyzg vaapıoAa sydoyz uaddıy IaWmWwnS[.IOA 970 A9WUWNSL.IOA JIOWUMMIOA | usumen) uoLumen) ‘yorspsun 970 y9ro]d usfos ‘yorofd "we 'L | uoyfes "yarofd w’T | um uojaeg 'puofyoJ | pun dojory Me ‘gorpyorodt Uofos -un ZT 'yoıjyoroa pun yoroapyez | pun yoreayez | suyez uspungq.ısA pueg | uapungasA pueg | | . yoanp o9sy "puopyoF | y9anp o9sy "puofyoF | Zins dopo Sue] zıns] A9Po Suef zıny I9po Sur] | Zans] 1opo Juef osäyduäg en | SupeIod | Jıurpe19d zZ Ppemedsne Zıuraoz | Tegpomsne yoıtytos Srurpe.1oo Srurfpeaos ‘YyonIıP9S ‘Yyonıp9.o -U9804 SIIEMYIOS yuoposaond Yıur | Yyonıpasuswuwesnz | yoNnIpoSusuLwesnz -UOWULERNZ -UHWWBSNZ aoj791Ly.1oJuN (ugoorg wı Seayos) Kiaup) Seas yy99ayuos Seıyos BEUPERSUCH yy99AyUuaS e9uBSuaseN sydneyaoyuıy Yapunı9S YPunıaS puopperqe TIo}s puojpejqe [Io9s Ypun.ıad YPpunısaS sop [1JoIdg wc—z u 90—el 6) ur al =G u (gg) 8178 Eee gsrau ‘O7 ET wg —zgsreu gs] | ogaısıedıoyy 198000084sAM erımesoggejei.L | orpraogosäyd A BLınBsorsoTd j | ouprurydioq Be] eranesoAygyoL Su opnyg-aosneg Am | aus :ojany4g-'ıYdoy | IS AS „oparg-"trrdoy Snewsizen EILIOUJOYYETEU.. | BLIETJOISOTA | erzoygoAugyaL | wu ee — ee IE 2: E ec 238 Säuger. Schnauze mit zahlreichen (bis über 200), im allgemeinen gleichen Zähnen, die in einer Furche stehen, ein im Profil gerundetes Hinterhaupt, ein zusammengedrückter Unterkiefer mit mehr oder weniger langer Sym- physe. Die Rippen sind zweiköpfig. An den Gliedmaßen haben wir M AAARRANAARAGaN ’ NER Eu di An R KAEt es NN ® isch” TEE GA ! \ Y pu RK Bo > > srr Te : V je LER J 6 "370 nn Fig. 140. Rekonstruktion von Ichthyosaurus (Lias). (Nach JAEKEL aus STEINMANN: Einf. i. d. P.) die Kombination: vollständige Mittelhandknochen, starke Überzählig- keit der Fingerglieder und gelegentlich überzählige Finger. Die Plesiosaurier (Fig. 141) sind durchschnittlich größer (#—15 m). Der Kopf ist ausgezeichnet durch die Kombination: im Profil steil abgestutztes Hinterhaupt, schräge Nasengänge, geradlinig zusammen- gedrückter Unterkiefer mit mehr oder weniger langer Symphyse, nicht Fig. 141. Restauration eines Plesiosauriers (Dolichorhynchops — Oberkreide). (Nach WILLISTON aus STEINMANN: Einf. i. d. Pal.) sehr zahlreiche, meist große und ungleiche, fest eingefügte Zähne. Die Rumpfrippen sind einköpfig, aber die Rippen des langen Halses häufig zweiköpfig.. Mit einer normalen Fingerzahl kombiniert sich starke Überzähligkeit der Fingerglieder und schwach reduzierte Zahl der Wurzelknochen. Diese beiden Gruppen von Meersauriern stehen in vielen Merk- malen einander sehr nahe, im besonderen in der starken Über- zähligkeit der Fingerglieder, im Bau des Unterkiefers und in der Beschaffenheit der Zähne. Die dritte Gruppe dagegen weicht er- heblich von beiden ab. Säuger. 239 Die Thalattosaurier zeigen folgende Vereinigung von Merkmalen: Sie erreichen beträchtliche Größe (12 m oder mehr). Ihr Hinterhaupt ist im Profil gerundet (Fig. 142), die Nasengänge stehen schräg. Außer den wenig zahlreichen Kieferzähnen sind Gaumenzähne (auf Pterygoid ptg) vorhanden. Der Unterkiefer ist eigenartig gestaltet, indem bei Fig.142. Schädel eines Thalattosauriers (Clidastes — Oberkreide). (Nach Wiruıstox.) Oben: von der Seite. Unten: von unten. A Augenhöhle; N Nasenhöhle; x Gelenkung im Unterkieferaste; ptg Pterygoid mit Gaumenzähnen. den jüngeren Vertretern (Mosasauria) mitten im Kieferaste ein Quer- gelenk (Fig. 142 x) auftritt und die beiden Äste nicht durch Symphyse, sondern nur durch Band verbunden sind. Durch diese beiden Eigen- tümlichkeiten konnte der Unterkiefer so stark ausgeweitet werden, daß der Oberkiefer ganz in ihm Platz fand und die Zähne wie eine Reuse kr aa beim Aufnehmen der Nahrung wirkten. TRITT Das massive Quadratbein (g) ist haken- a RSS förmig umgebogen und umschließt den 4, SEP ER, Gehörgang. Die Gliedmaßen zeigen Fig. 143. Vorderextremität eines stark reduzierte Mittelknochen und nur Thalattosauriers aus der Kreide j x (Platecarpus). Wenig hyperphalange, schwache Hyperphalangie, gespreizte gespreizte Finger, verkümmerte Mit- und nie überzählige Finger oder Zehen telhandknochen. (Aus STEINMANN- ' Döprrueın: Elem. d. Pal.) (Fig. 143). Untersuchen wir nun die heutigen Wale darauf hin, ob die er- wähnten Reptilienmerkmale bei ihnen vorhanden und wie sie bei ihnen verteilt sind, so. zeigt sich folgendes überraschende Resultat: Be- kanntlich hebt sich die Gruppe der Bartenwale so scharf ge- sondert von der Mehrzahl der Wale, den Zahnwalen, ab, daß man 240 Säuger. für sie heute nur noch einen sehr entfernten Zusammenhang mit jenen annimmt. Die Zahnwale bilden daneben eine zweite, viel um- fangreichere und mehr geschlossene Gruppe. Diese Scheidung ent- spricht dem Umfange nach dem weiten Abstande zwischen den wenig formenreichen Thalattosauriern einerseits und den zahlreichen Formen der Ichthyosaurier und Plesiosaurier andrerseits. Be- trachten wir nun zunächst die Bartenwale. Wir treffen bei den Mystacocoeti eine wesentlich gleiche Kom- bination von Merkmalen an wie bei den Thalattosauriern, und gewisse Abweichungen bei den Bartenwalen lassen sich vielfach aus dem primitiven Zustande der Thalatt. ungezwungen ableiten. Mit der Fig. 144. Schädel eines Thalattosauriers (Clidastes) von der Seite und von oben. (Nach Wirrıstox.) gewaltigen Größe der Bartenwale kombinieren sich ein gerundetes Hinterhaupt und schräge Nasengänge, zwei Merkmale, die be- sonders am jungen Walfisch deutlich hervortreten (Fig. 145). Die Unterkieferäste sind wie bei diesen Reptilien nur durch Band ver- bunden; sie sind zwar nicht mehr in sich gelenkig, aber sie weiten sich bogig aus, so daß der Oberkiefer sich zwischen sie hineinsenken kann (Fig. 145 B, 146 B). Daß die Vorfahren der Bartenwale Zähne besaßen, erscheint ausgemacht. Wie könnten wir uns nun einen ge- eigneteren Ausgangspunkt für die Ersetzung der Zähne durch Barten und für die Entstehung des damit verbundenen Seihapparates denken, als die Thalatt., deren Oberkiefer ebenfalls in den Unterkiefer eingesenkt und deren Gaumenzähne zusammen mit den Kieferzähnen (Fig. 142) als Reusen wirken konnten? Ganz unabhängig von dieser Besonderheit steht die übereinstimmende Form des Quadratbeins Säuger. 241 der Thalatt. und der bulla ossea der Bartenwale, auf die schon von anderer Seite hingewiesen worden ist. — N = .ol zZ K 1.00 “ => N Fig. 145. Schädel eines jungen Walfisches (Balaena). (Nach CvvIEr.) A von der Seite, B von oben. Fig. 146. Schädel eines erwachsenen Walfisches A von der Seite, B von oben. (Nach Cuvier.) Steinmann, Abstammungslehre. 16 942 Säuger. Es muß ferner die Einköpfigkeit aller Rippen bei Thalatt. und bei Bartenwalen als eine auffallende Übereinstimmung ver- zeichnet werden, da auch dieses Merkmal zu den übrigen in keiner Beziehung steht. Schließlich die Gliedmaßen: Die gespreizten, schwach hyperphalangen Finger der Thalatt. (Fig. 143) kehren bei den Bartenwalen in ähnlicher Ausbildung wieder; im besonderen finden wir bei diesen auch im Gegensatz zu den Zahnwalen die mehr oder weniger ausgesprochen symmetrische Ausgestaltung des Handskeletts der Thalatt. Vergleichen wir den Schädel eines Thalatt. (Fig. 144) mit dem- jenigen eines ganz jungen Bartenwals (Fig. 145) und diesen mit dem erwachsenen (Fig. 146), so tritt sehr deutlich die Mittel- stellung des jungen Bartenwals zwischen den beiden Extremen her- vor. Die wichtigsten Veränderungen, die vom Saurier zum Wale führen, bestehen in einer Verkürzung des eigentlichen Schädels und in einer Verlängerung der Schnauze. Die Verkürzung des Schädels und die damit im Zusammenhang stehenden Verlagerungen der Schädelknochen verstehen wir am besten, wenn wir die Verän- derungen des Stirnbeins (f) verfolgen. Schon beim Thal. wölbt sich das Vorderstirnbein (fa) vor der Augenhöhle schuppenartig gegen das Tränenbein (2) hinab, und denken wir uns den hier beginnen- den Vorgang weiter gehen, so gelangen wir zu dem Zustande des jungen Bartenwals (Fig. 145), wo das stark verquerte Stirnbein mit seinem vorderern (aus dem Vorderstirnbein entstandenen) Fortsatze, dem Tränenbein (e), und dieses dem Jochbogen (7) aufliegt und Joch- bogen (}) und Augenhöhlen (A) tief nach abwärts gedrückt sind. Das Verhalten dieser Teile beim erwachsenen Wale (Fig. 146) erscheint dann als eine weitere Steigerung in gleicher Richtung. Die Ver- kürzung des Schädels gelangt in der Vorschiebung des Hinterhaupt- beins (os) über das Scheitelbein (p) und Stirnbein (f) zum Ausdruck, und auch in dieser Beziehung steht der junge Wal zwischen dem Thal. und dem erwachsenen. Ferner erscheint der bei den Thal. (Fig. 144) nur wenig verlängerte Zwischen- und Oberkiefer (im, mx) beim jungen Wal (Fig. 145) ein Stück weit vorgeschuht, aber dies Stück ist nur schwach gebogen, während das vorgeschuhte Stück des Oberkiefers beim erwachsenen Wal (Fig. 145) beträchtlich länger ist. Zugleich ist es stark nach abwärts gekrümmt, weil das Maul weiter aufgesperrt wurde, so daß auch die Barten entsprechend aus- wachsen konnten. Die ursprüngliche Oberkieferachse (?m-4A) des Thal. (Fig. 144), die, wenn das Maul geschlossen, beim Reptil dem Unter- kiefer parallel steht, ist beim jungen Wal (Fig. 145) nach voru Säuger. 243 etwas aufgerichtet, beim erwachsenen (Fig. 146) noch viel stärker (circa 35°), und deshalb hat das vorgeschuhte Stück nach abwärts wachsen müssen, wenn überhaupt ein Zusammenschluß von Ober- und Unterkiefer möglich sein sollte. In dieser Aufrichtung der ursprünglich geraden Oberkieferachse liegt aber zugleich der Grund für die anfangs schräge (Fig. 145 A f), später senkrechte Stellung des Stirnbeins (Fig. 146 Af) und für das Tieferrücken der Augenhöhle (4A). Auch im Unterkiefer läßt sich die Lage des Quergelenks der Thal. (Fig. 144 x) beim jungen (Fig. 145) und beim erwachsenen Wal (Fig 146) noch deutlich an der Umbiegung des Astes (x) erkennen; ebenso steht der Kronenfortsatz (cor) beim jungen Wal an Aus- bildung etwa in der Mitte zwischen dem des Thal. und des er- wachsenen Wals, wo er eben noch angedeutet ist. Wie man sieht, hält es nicht gerade schwer, die stark ab- weichende Gestalt des Schädels eines Bartenwals aus den Verhält- nissen zu begreifen, wie sie am Schädel der Thal. bestehen trotz der weitgehenden Verschiedenheiten, wie sie bei zeitlich weit von- einander entfernten Tieren nur natürlich sind; der ‚Jugendzustand des Wals schiebt sich hierbei vermittelnd zwischen die Extreme ein. Versucht man aber den Walschädel auf den irgendeines anderen Säugers, z. B. eines primitiven Raubtiers (Öreodonten) zurück- zuführen, so ergeben sich ungleich viel größere Schwierigkeiten, da es an jeglicher Vorstufe für die Eigentümlichkeiten des Wal- schädels fehlt. Innerhalb der Zahnwale lassen sich die beiden ungleich großen Gruppen der Physeteroidea und Delphinoidea trotz weitgehender Über- einstimmungen im allgemeinen doch gut voneinander scheiden; habi- tuell z. B. nach dem Profil des Hinterhauptes, das im allgemeinen bei den ersteren stark erhöht ist und steil abfällt, bei den letzteren dagegen niedriger und gerundet ist, ganz ähnlich dem Verhalten der Plesiosaurier und Ichthyosaurier. Auch in der Körpergröße und in der Art der Bezahnung zeigt sich ein ähnliches Verhalten; denn wie die Ples. so sind auch die Physet. im allgemeinen durch Ungleichheit der spärlicheren Zähne ausgezeichnet gegenüber den Delph., die im allgemeinen eine sehr große Zahl gleicher Zähne mit den Ichth. teilen. Sodann hat KürextHaL gezeist, daß bei den Phys. in der mehr geraden Flosse die 2. und 3. Finger am längsten sind, während bei den Delph. die Flosse stärker gekrümmt ist und der 2. Finger an Größe und Phalangenzahl die andern übertrifft. Auch das scheint nicht schlecht zu harmonieren mit dem ähnlichen Verhalten bei den beiden entsprechenden Reptileruppen. 16* 244 Säuger. Bei einem Vergleiche der Physeteroidea mit den Plesiosauriern ergeben sich gewisse Unterschiede, die scheinbar einer Zurückführung dieser Säugergruppe auf die entsprechende Reptilstufe entgegenstehen, z. B. die Lage der Nasengänge, die bei den Phys. senkrecht stehn, bei den Ples. dagegen schräg. Dieser Unterschied kann jedoch nicht weiter auffallen, wenn man bedenkt, daß die äußeren Nasenlöcher bei diesen Wassertieren im Laufe der Zeit all- gemein nach hinten ge- rückt sind; die fossilen Funde zeigen denn auch, wie wir sehen werden, daß zur Eozän- zeit bei den’ Ehys: (Archaeocoeti) noch das altertümlicheMerk- mal vorhanden war. Eine auffallende Übereinstimmung gibt Fig. 147. Unterkiefervon Fig. 148. Unterkiefer von Plio- S S 5 ® ich in der Form und Peloneustes(Ob.Jura). Von saurus (Ob. Jura). Von oben. > 2 oben. (Nach LYDEKKER.) (Nach Owen.) Bezahnung des Unter- kiefers zwischen Ples. und Phys. kund. Bei beiden Gruppen finden sich ausnahmslos starke Symphysen, kürzere oder längere, und ihre Ausdehnung schwankt innerhalb weiter Gren- zen. Bei den Ples. mit langer Symphyse fin- den sich zahlreiche Zähne; diese nehmen nach hinten wohl an Größe ab, aber vorn sind sie. ziemlich gleich (Fig. 147, 148). Das gleiche trifft für die Phys. mit langer Symphyse zu, wie Physeter (Fig. 149). Bei den Ples. mit kurzer Symphyse dagegen sind die vordersten Zähne viel größer als die zunächst folgenden (Fig. 150, 151), und eine ganz ähnliche Zahnbildung ist den Phys. mit kurzer Symphyse eigen, wie Berardius, wo noch zwei Fig. 149. Unterkiefer von Physeter (Pottwal). A von der Seite, B von oben. (Nach CvvIer.) Säuger. 245 Paare (Fig. 152) übrig geblieben sind. Auch diese Übereinstimmungen lassen sich wohl kaum anders als durch Vererbung erklären, zumal sie in beiden Gruppen mit anderen, gänzlich davon unabhängigen Merkmalen zusammenfallen. Die Delphinoidea weisen eine ungleich größere Mannigfaltigskeit der Gestaltung auf als”die beiden anderen Gruppen von Waltieren. Schon hierin liegt eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit den Ichth., denn auch diese enthalten sehr verschiedene Gestalten, von kleinen, Fig.150. Unterkiefer von Fig.151. Unterkiefer von Fig. 152. Unterkiefer von Be- Pliosaurus (Ob. Jura), Plesiosaurus (Lias), von rardius (rezent), von oben. (Nach von oben. (Nach Owen.) oben. (Nach LYDEKKER.) DUVvERNoyY.) ca. 2m großen Tieren an bis zu den Riesengestalten von mehr als 10 m Länge. Aber ehe wir festzustellen versuchen, ob und wie weit die beiden Gruppen auch im einzelnen übereinstimmen, mögen einige Merkmale erwähnt werden, die zumeist ausschließlich bei /chth. und Delph., wenn auch nicht allgemein verbreitet, vorkommen. Dahin gehört z. B. die-Zahnrinne, in der bei den Ichth. die gewöhnlich sehr zahlreichen Zähne eingebettet liegen. Bei manchen heutigen Delphinen, wie bei Phocaena communis, stehen sie so dicht, daß sie nur durch dünne, leicht zerbrechliche Knochenlamellen getrennt werden. Das kommt übrigens auch bei Physeter vor. Aber bei mehreren Platanisthden (die die meisten altertümlichen Merkmale bewahrt haben) ist auch die Rinne vorhanden, bei Cetorhynchus (Miozän) angeblich der ganzen Länge nach mit Zähnen besetzt, bei Agabelus Cope (Miozän) ohne Zähne, während bei Eurhinodelphis (Miozän) die Zahnreihe nach vorn in eine zahnlose Rinne fortsetzt. 246 Säuger. Die Ichth. sind die einzigen Reptilien mit überzähliger Finger- zahl (Fig. 153 AVI). Bekanntlich hat nun KürentuAan nachgewiesen, daß beim Embryo von Delphinapterus ein überzähliger sechster Finger vorhanden ist (Fig. 153 B VI). Dieser hat dieselbe Lage wie der große überzählige sechste (siebente) Finger bei Ichthyosaurus communis. Aber damit ist die Übereinstimmung nicht erschöpft. Jeder einzelne Knochen der Handwurzel von Delph. läßt sich ohne weiteres auf ein entsprechendes Element bei Ichth. zurückführen, und die gegenseitige Verschiebung einiger Knochen seit der Jurazeit ist nur minimal, wie ein Blick auf die Figur 153 zeigt. Selbst das Fig. 153. Vergleich der Handwurzel von Ichthyosaurus communis (A) und von Beluga (Delphinapterus) leucas (B). (Nach ZırreL und Kükenruar.) H Humerus; R Radius; U Ulna; r Radiale; i Intermedium; « Ulnare; pi Pisiforme; ezz Zentrale; cı—c4 Carpalia; mı—m; Metacarpalia; 5,, ,,, 6,, 6,, die ersten zwei Fingerglieder des V. und VI. Fingers. — Die Bezeichnungen sind nach KÜkEntHar gewählt, ohne Rücksicht auf die bei Ichth. gebräuchlichen. pi von Ichth. ist nach Owen eingezeichnet. Pisiforme (px) war bei Ichth. schon an der gleichen Stelle vorhanden, wo es beim lebenden Delphin liest. Daß nun diese in der Säugerwelt einzig dastehende Hyperdaktylie gerade bei einem Delphin, und zwar in der bei /chth. bekannten Form und auch wie bei Ichth. com- munis an einer kurzen, breiten Flosse auftritt, ist gewiß eine merk- würdige Erscheinung. Wenn man aber die Überzähligkeit der Finger bei Delphina- pterus für eine Neubildung erklärt, wie das geschehen ist, so müßte doch ein bestimmter Grund für eine solche Deutung vorliegen; das ist aber meines Wissens nicht der Fall. Im Gegenteil, da nach KÜKENTHAL ein gesondertes Band sowohl auf der Innenseite wie an der Außenseite an den sechsten Finger geht, kann es sich doch wohl nur um eine rudimentäre Bildung handeln. Bei einigen Delphiniden, z. B. bei Phocaena und Neomeris, sowie bei der nahestehenden jungmiozänen Delphinopsis hat man be- kanntlich am Vorderrande der Brustflossen und an der Rückenflosse oder auch an den Seitenrändern der Schwanzflosse das Auftreten kleiner, bald mehr, bald weniger kalkhaltiger Plättchen oder Tuberkeln Säuger. 247 beobachtet. Man hat daraus sogar den kühnen Schluß gezogen, daß die Vorfahren der Wale zur Kreidezeit panzertragende Land- säuger gewesen seien! Ist es wieder ein reiner Zufall und nur Kon- vergenz, daß ähnliche Gebilde unter den Meeresreptilien bisher nur an den paarigen Flossen zweier Arten von Ichthyosaurus nach- gewiesen worden sind? Ferner finden sich bei manchen Delphiniden, z. B. bei Pho- caena communis, auffallend kurze und zahlreiche Wirbelkörper; sie gleichen sehr den bekannten Ichth.-Wirbelkörpern von damenbrett- Fig. 155. Schädel von Delphinus. (Nach Boas aus WEBER: Säugetiere.) artiger Form, während die Wirbelkörper sowohl der Thalatt. und Bartenwale, als auch der Ples. und der Physet. nie diese be- zeichnende Gestalt aufweisen. Rückenflossen kommen Waltieren aus allen drei Gruppen zu; aber die stärkste Entwicklung erfahren sie bei manchen Delphi- niden von rein mariner Lebensweise, wie beim Schwertwal (Orca). Nun wissen wir, daß die Ichth. schon zur Jurazeit zum Teil sehr stark ausgebildete Rückenflossen besessen haben, während über das Auftreten einer Rückenflosse bei den beiden anderen Reptilgruppen ichts bekannt ist. 248 Säuger. Eine Furche an der Außenseite des Unterkiefers ist nur bei Delph. beobachtet worden; unter den Meeresreptilien sind bekannt- lich nur die Ichth. durch dieses Merkmal ausgezeichnet. Wie es möglich ist, bemerkenswerte Ähnlichkeiten in der Schädel- bildung zwischen den Bartenwalen und den Thalatt., von denen ich sie ableite, aufzudecken, so bestehen auch unverkennbare Be- ziehungen zwischen dem Schädel der Ichth. und Delph. (Fig. 154 u. 155). Bei beiden ist das Hinterhaupt stark gerundet, bei den Delph. aber in gesteigertem Maße. Die ausgesprochene Konkavität der Nasen- region der Delph. findet sich bei Ichth. schon angedeutet. Die Spangenform des Jochbogens (7) von Delph. ist bei Ichth. schon ganz ähnlich ausgeprägt. Ein vorstehender Kronenfortsatz (cor) fehlt beiden, usw. Um nicht einförmig zu werden, will ich diesen ausgiebigen Gegen- stand nicht ganz erschöpfen, und zu einer kurzen Besprechung ein- zelner Gruppen der Delph. übergehen. Ich hebe einige besonders auffällige Typen hervor. Das sind einmal die Platanistiden. Sie sind Bewohner des süßen Wassers, und wir müßten daher erwarten, daß sie die ursprünglichen Säuger- merkmale am vollständigsten beibehalten hätten, wenn die Waltiere aus Landsäugern entstanden wären. Nun besitzen aber gerade sie eine sehr lange, schmale, zusammengedrückte Schnauze, durchgängig zahl- reiche Zähne und eine sehr lange Unterkiefersymphyse; zudem kom- men allein bei ihnen unter allen Delph. die schon erwähnten Ichth.-Merkmale vor: eine Zahnrinne und die Außenrinne des Unter- kiefers. Wir finden also gerade das Gegenteil von dem, was wir erwar- ten sollten: nicht Merkmale von raubtierartigen Landsäugern haben die Süßwasserdelphine im Vergleich zu ihren marinen Verwandten bewahrt, sondern lauter solche Merkmale, die die Ichth. und insbe- sondere eine kleine Gruppe von ihnen, auszeichnen. Verständlich wird dies Verhalten sofort, wenn wir die Platanistiden als Nach- kommen der meeresbewohnenden Ichth. auffassen, die ins Süßwasser übergegangen sind. Sie rücken dann in dieselbe Kategorie von Süb- wasserformen mit primitiven Merkmalen, wie die Panzersiluriden, wie Oeratodus, Lepidosteus, Amia usw., die als Süßwasserbewohner eben- falls mit altertümlichen Merkmalen behaftet geblieben sind, während ihre Verwandten den umbildenden Einflüssen des Meeres ausgesetzt und verändert worden sind. Während nun die Platanistiden mit ihrer geringen Körpergröße, ihrer langen Schnauze und langen Unter- kiefersymphyse und mit den zahlreichen, spitzigen, zum Teil fast nadel- Säuger. 249 förmigen Zähnen sich der Gruppe der kleinen, langschnauzigen Ichth. (Iehth. tenuirostris) ungezwungen zur Seite stellen, findet der seit Ober- miozän nicht mehr bekannte Hurhrinodelphis mit meterlangem Schädel und enorm verlängerter Schnauze sein Gegenstück in der Gruppe des 5 m langen Ichth. longirostris, dessen Schnauze ähnlich unpro- portioniert ist. Das andere Extrem der Delph. sind die Orcidae (Orca, Pseud- orca), bekanntlich bis 10 m große Meerestiere, mit kurzer Symphyse und nicht sehr zahlreichen, aber sehr starken und entfernt stehenden Zähnen. Die gleiche Kombination der Merkmale trifft man bei der Gruppe gewaltiger Ichth. wieder, die durch Ichth. ingens Theod. u. Verw. bezeichnet wird; nur sind die Zähne hier zahlreicher. Diese Beispiele dürften genügend dartun, daß die Kombination bestimmter Merkmale sich nicht etwa nur auf die Gruppen der Fis. 156. Fig. 156. Zähne von Squaladon. Miozän. A von Florenz, B, C von Linz. (Nach Süss.) — Fig. 157. Zahn von Scelidosaurus. 2). — Fig. 158. Zähne von verschiedenen Dino- sauriern: A Palaeoscineus, B Stegosaurus, C Priconodon. (Nach MArsn.) Ichth. und Delph. im allgemeinen, sondern auch auf einzelne Abteilungen derselben erstreckt. Sie führen uns zugleich die Tat- sache vor Augen, daß Formenfülle und Formenbreite sich bei beiden in bemerkenswerter Weise decken. Die fossilen Wale, im besonderen die wenigen alttertiären Reste, die man bis jetzt kennt, liefern nach der Ansicht mancher Forscher eine wichtige Stütze für die Ableitung der Wale von raubtierähnlichen Landtieren. Wie stellen sich denn diese wesentlich nur aus Schädeln bestehenden Reste zu der Ableitung aus den Meeresreptilien? Für die eozänen Archaeocoeti und Protocoeti ist vor allem zu be- tonen, daß verschiedene Merkmale, die als solche von Landsäugern bezeichnet werden, mindestens mit der gleichen Berechtigung als solche von Meersauriern angesehen werden können, wie die voll- ständige Bezahnung der Kiefer, die nach vorn gerückte Lage der 250 Säuger. Nasenlöcher und anderes mehr. Ebensowenig darf die Vielwurzelig- keit der Zähne als ein ausschließliches Säugermerkmal aufgefaßt werden, denn es kommt auch bei Reptilien (Öeratopsiden; Fig. 130 C) vor. Manche Merkmale sind aber als reptilartig zu bezeichnen und harmonieren schlecht mit einer Ableitung von Öreodonten oder ähnlichen primitiven Säugern, so die beträchtliche postorbitale Ver- breiterung der Stirn, die den geraden, nicht bogig ausladenden Joch- bogen deckt, die Form des Unterkiefers und die flachen, dreieckigen, an Vorder- und Hinterrand vielfach gekerbten Zähne (Fig.156, 160 5). Bei plazentalen Säugern finden sich derartige Zähne nicht, wohl aber ähnlich bei lebenden und fossilen Reptilien, wie Iguana, Iguanodon (Fig. 129), Scelidosaurus (Fig. 157), Palaeoscincus, Stegosaurus, Prico- nodon (Fig 158 A-C), Trachodon. Dieser ausgesprochenen Ähnlichkeit mit Reptilzähnen steht freilich die Angabe von FrAaAs gegenüber, daß die Backzähne der Protocoeti (Fig. 159) gewisse Anklänge an das Gebiß von Oreodonten, im besonderen von Sinopa, aufweisen; doch geht diese Übereinstimmung nicht sehr weit, da von einer Dreispitzigkeit im eigentlichen Sinne des Wortes nicht die Rede sein kann. Aber selbst wenn man diese Ähnlichkeit hoch einschätzt, beweist sie nichts für den Zusammenhang nn Me: der Protocoeti mit Oreodonten, nach- tam. A 3. Molar von innen. dem LecHe£ jüngst gezeigt hat, daß schon Pas: a See innerhalb der Imsektenfresser der drei- höckerige Molar sich zweimal selbständig herausgebildet hat. Daß die zum Teil gewaltige Größe der Archae- ocoeti, die der der großen Ples. und der Pottwale gleichkommt, selbst mit einer unheimlich raschen Herausbildung aus fuchsgroßen Landtieren einer unmittelbar vorhergehenden Zeitperiode schwer zu vereinen ist, wurde schon bemerkt. Eine Schwierigkeit für die Anknüpfung der eozänen Zahnwale an die Creodonten, die durch Verlängerung der Schnauze und Zunahme der Zahnzahl erfolgt sein soll, scheint mir u. a. auch darin zu liegen, daß die Kiefer der eozänen Zahnwale offenbar nicht in Verlängerung und die Zähne nicht in Vermehrung begriffen sind (Fig. 160), vielmehr das Gegenteil; denn es erscheinen bei allen die hinteren Backenzähne (2) zusammengedrängt und in Verkümmerung begriffen, und in der nach hinten aufsteigenden Zahnreihe des Unterkiefers erkennt man ganz deutlich die Folgen der Verkürzung Säuger. 251 der Kiefer. Dies Verhalten wird wohl begreiflich, wenn wir uns zum Ausgangsstadium eine noch längere und an Zähnen noch reichere Schnauze eines Ples. nehmen, die in Verkürzung begriffen ist und deren Zähne verkümmern, nicht aber, wenn wir uns die Schnauze eines Üreodonten in Verlängerung und deren Zahnzahl in Vermehrung begriffen denken. Ebenso sprechen gegen eine engere Zusammengehörigkeit der Protocoeti und Archaeocoeti mit den Creodont. wie überhaupt mit anderen plazentalen Säugern folgende zwei Umstände: Die Choanen liegen auch bei den ältesten Walen schon ganz weit zurück, obgleich die äußeren Nasenlöcher noch nicht weit nach hinten gerückt sind. Man sollte erwarten, daß sie, wenn sie auch nicht mehr so weit nach vorn liegen wie bei den Oreodonten, so doch eine vermittelnde Stellung einnähmen. Es fehlen sodann auch schon Fig. 160. Zeuglodon cetoides Ow. Eozän. Alabama. A Schädel von oben, Gebiß von der Seite. f Stirnbein; mx Maxillare; n Nasenbein; p Parietale; pr Zwischenkiefer ; ö Schneide-, c Eck-, m Backzähne. B ein Backzahn. (Aus STEINMANN-DÖDERLEIN: Elem. d. Pal.) den ältesten Walen die foramina incisiva vollständig, wie den Meeres- reptilien, während sie bei allen anderen plazentalen Säugern vor- handen sind. Bei den Pinnipediern fehlen sie gleichfalls nicht, wenn auch hier wie bei den Ohiropteren und beim Menschen die Gänge von Weichteilen verschlossen sind. Besonders wichtig für die Auffassung der eozänen Wale scheint mir aber die Tatsache zu sein, daß man sie nach der Bezahnung, nach der Form des Schädels, nach dem Vorhandensein einer Unter- kiefersymphyse und nach der Lage der Nasengänge ohne weiteres in die Abstammungslinie einreihen kann, die ich von den Ples. zu den Phys. gezogen habe, ohne daß ich dabei diese Funde von zwischenliegendem Alter berücksichtigt hätte. Die zweite Gruppe altertümlicher Wale (Eozän bis Miozän) sind die Squalodontidae (Fig. 161. Sie sind nach dem gerundeten Hinterhaupt, der verlängerten Schnauze, den zahlreichen Zähnen und andern Merkmalen mehr, ebenso ausgesprochene Delphinoiden, wie die Archaeocoeti Physeteroiden sind; das haben schon LYDEKKER und ZırteL ausdrücklich hervorgehoben. Man darf sie daher auch 252 Säuger. nicht als Nachkommen der Archaeocoeti betrachten. Aber sie zeigen gleich diesen dreieckige Hinterzähne mit gekerbten Kanten (Fig. 161). Daß sich diese Art der Zahnbildung in den beiden ge- trennten Reihen der Ichthyosaurier-Delphinoiden (Ichthyotheria) und der Plesiosaurier-Physeteroiden (Plesiotheria) unabhängig herausgebildet habe, erscheint nicht weiter auffällig, da wir sie auch bei Reptilien und Fischen wiederfinden. Warum wird sie aber bei den jüngeren, speziell bei den lebenden nicht mehr beobachtet? Da die blattförmigen Kerbzähne nur hinten im Kiefer erscheinen, während die vorderen Zähne kegelförmig bleiben, so dürften in beiden Grup- pen die Nachkommen heute unter zahnlosen oder unter solchen Formen zu suchen sein, deren Kiefer nur nach vorn Zähne tragen, wie die Fis. 161. Squalodon bariensis Jourdan. Miozän. Schädel. co Hinterhauptsgelenk; f Stirn- bein; im Zwischenkiefer; j Jugale; md Unterkiefer; mx Maxillare; os Supraoceipitale; t Temporale; ty Tympanicum. (Aus STEINMANN-DÖDERLEIN: Elem. d. Pal.) Züiphinae, Delphinapterus, Globicephalhıs u. a. Die embryonalen Hinter- zähne von Phocaena besitzen übrigens nach KÜrENTHAL ebenfalls blattförmige Verbreiterungen mit seitlichen Kerben und ähneln da- durch in gewissem Grade den Squalodon-Zähnen. Die Funde von fossilen Walen, sowohl die eben besprochenen altertümlichen, als die jüngeren, die sich den lebenden Vertretern außerordentlich enge anschließen, lassen sich, wie mir scheint, mit der hier vertretenen Art ihrer Abstammung weit besser in Einklang bringen, als mit der jetzt üblichen. Sie gehen so gut wie restlos darin auf, während die andere Auffassung eine Reihe ungewöhn- licher, schwer begreiflicher Vorgänge voraussetzt: die plötzliche Heraus- bildung vollständig angepaßter Meerriesen aus kleinen Landsäugern, Verlängerung der Kiefer und Vermehrung der Zähne, im offenen Widerspruch mit sonst beobachteten Vorgängen bei Wassersäugern, und so vieles andere. Besonders schwer läßt sich mit der jetzt herrschenden Auf- fassung die oben ausführlich dargelegte Tatsache vereinigen, daß bei den Meersäugern eine große Reihe von Erscheinungen wiederkehrt, die bei den älteren Meersauriern auftreten. Soweit es sich dabei um Merkmale handelt, die nur ein Ausfluß der gleichen Lebensweise Säuger. 253 beider Organisationsstufen sind, kommen sie für hier nicht in Be- tracht. Rätselhaft erscheint nur die Wiederkehr rein morpholo- gischer Merkmale, die nicht durch die Lebensweise hervorgerufen sein können. Diese kann man nicht als Konvergenzen erklären; wo- bei es immerhin als höchst auffällig bezeichnet werden muß, daß die Wale, soweit wir über ihre Vorgeschichte unterrichtet sind, etwa mit der Höhe von Umbildungen beginnen, auf der die Meersaurier am Ende der mesozoischen Zeit angelangt waren. Aber es fehlt uns jede Erklärung für die Wiederkehr jener Merkmale, und besonders der dauernden Vereinigung verschiedener Merkmale, die von der Lebensweise vollständig unabhängig erscheinen. Welch merkwürdiger Zufall sollte es gefügt haben, daß bei der Herausbil- dung der Landsäuger wieder gerade drei Gruppen entstanden sind, von denen die eine, verhältnismäßig kleine (Mystacocoeti), den beiden anderen, in mehrfacher Beziehung übereinstimmenden Gruppen (Odontocoeti) schärfer abgesondert gegenüber steht als jene unter sich? Daß in den beiden Abteilungen der Odontocoeti sich wieder gerade die Kombination von Merkmalen wiederholt, die sich zu einer weit zurückliegenden Zeit im frühesten Stadium der Reptilwerdung bei Ichth. und Ples. eingestellt hatten. Eine wiederholte Ent- stehung derselben morphologischen Merkmale auf gleicher Grundlage, etwa im Sinne der iterativen Artbildung Koxens, können wir begreifen, für eine derartige weitgehende Nachahmung fehlt uns aber jedes Verständnis. Sind wir also vor die Entscheidung gestellt, ob wir diese Erscheinung auf Vererbung zurückführen sollen, oder ob wir irgendeine andere, in jedem Falle unwahrscheinliche Erklärung zu Hilfe nehmen, so kann die Wahl nicht zweifelhaft sein. Wir haben die Frage nach dem Ursprung der Waltiere von drei verschiedenen Standpunkten aus zu prüfen versucht, vom geologi- schen, vom vergleichend anatomischen und vom paläontologischen. In allen drei Fällen haben wir das gleiche Ergebnis zu verzeichnen: das geologische Auftreten, wie die uns bekannten Eigentümlichkeiten der lebenden und fossilen Wale lassen sich weit- aus besser verstehen, wenn wir sie von den realen Gestalten der drei Meersauriergruppen der mesozoischen Zeit herleiten, als wenn wir sie auf gänzlich unbekannte und eingebildete Landtiere der Kreide oder des ältesten Tertiärs zurückführen. Es braucht nach den obigen Ausführungen kaum noch besonders hervorgehoben zu werden, daß wir uns die Abstammung auch hier wieder in extrem polyphyle- tischer Art und Weise vorstellen, d. h. nicht durch Abzweigung je einer Übergangsform von den drei Gruppen der Meersaurier, aus der dann 254 Säuger. durch weit ausholende Veränderlichkeit die Formenfülle jeder einzelnen der drei Gruppen von Meersäugern entstanden wäre, vielmehr in der Weise, daß aus allen Arten der drei Gruppen von Meeresreptilien an Größe, Habitus und anatomischem Bau ganz ähnliche Meersäuger ge- worden sind (soweit nicht eben einzelne Arten durch Naturvorgänge vernichtet und von der Weiterentwicklung ausgeschaltet worden sind). Erschwert auch die Dürftigkeit des fossilen Materials, heute schon den Nachweis hierfür im einzelnen zu führen (Anhaltspunkte dafür sind schon reichlich vorhanden), so darf doch diese Art des Umbildungsvorgangs als die einzig mögliche gelten; denn nur wenn wir jede einzelne Walform mit einer an Größe, Habitus usw. ähn- lichen älteren, und diese wieder mit einer einzelnen entsprechenden Saurierform in Verbindung bringen, lösen sich alle Schwierigkeiten leicht und einfach, die die jetzige Auffassung so schwer begreiflich machen; lassen doch auch weder die Phys. noch die Delph. ein Konvergieren nach einer gemeinsamen Ausgangsform erkennen. Meine Auffassung von der Entstehung der Säuger steht also ım vollständigsten Gegensatz zu den jetzt üblichen. Nicht durch Ab- spalten einer »Urform« sind die Säuger aus den Reptilien hervor- gegangen, sondern es sind alle die Reptilgruppen der mesozoischen Zeit, soweit sie nicht bis heute auf der Stufe der Reptilien stehen geblieben sind, zu Säugern geworden, und dieser Umbildungsvorgang hat sich nicht an einzelnen auserlesenen Formen vollzogen, sondern ist im breiten Strome der vorhandenen Ordnungen, Familien, Gattungen, Arten oder gar Rassen erfolgt. Während man heute allgemein meint, daß der Säugertypus, wenigstens der plazentale, nur ein einziges Mal im Laufe der Zeit entstanden ist, daß dagegen die Mannigfaltigkeit der Formgestaltung sich oft bis in die kleinsten Einzelheiten überein- stimmend in aufeinander folgenden Organisationsstufen, wie Reptilien und Säuger, wiederholt hat, gilt mir die auf einer niederen Organi- sationsstufe einmal entstandene Form als das Beständige und nur in geringem Maße, d.h. in der Örganisationsstufe Umbildbare, die Or- ganisationsstufe dagegen als das bei allen Formen im Laufe der Zeit im gleichen Sinne Veränderliche, wenn gleiche Bedingungen andauernd auf sie einwirkten. Hiernach ist die Entstehung einer neuen Organisationsstufe auch nicht das mehr oder minder gelegent- liche Erzeugnis einer gelegentlich auftretenden Variation und der Gunst der zufälligen Umstände, die gerade diese Variation vor dem Untergange durch die nie ganz ausschaltbaren geologischen Vorgänge geschützt hat. Sie ist vielmehr ein notwendiges, und damit gesetz- Säuger. 255 mäßiges Produkt, der Abschluß einer allmählichen Umbildung durch eine bestimmte Lebensweise, einer Umbildung, die alle davon ergriffenen Individuen im gleichen Sinne betroffen hat. Zweifellos ist die Umbildung der Meersaurier in Meersäuger nicht bei allen Vertretern zu gleicher Zeit eingetreten, wohl aber können wir be- greifen, daß dieser Vorgang sich wie in anderen Fällen innerhalb eines nicht zu eng bemessenen Zeitraums abgespielt hat, da die drei Gruppen von Meeresreptilien, soweit wir wissen, während des größten Teiles der mesozoischen Zeit wesentlich unter ähnlichen Lebensverhältnissen etwa gleich lange bestanden haben. Wie lang wir den Zeitraum veranschlagen sollen, der die jüngsten Meeres- bildungen der Kreide mit ihren Resten von Meersauriern vom mittleren Eozän mit den ältesten Resten von Physeteroiden trennt, wissen wir nicht; er kann immerhin viel größer sein als wir gewöhn- lich meinen. Aber in diesen Zeitraum hinein fallen dann wenigstens innerhalb der einen Gruppe die wichtigsten Umbildungen im Skelett, besonders im Kopfskelett, durch die sich Reptilien und Säuger von- einander unterscheiden: Ausschaltung des Quadratbeins aus dem Kiefergelenk, Verschmelzung der Unterkieferknochen und Verkür- zung des Kiefers, Bildung eines doppelten Gelenkkopfes am Hinter- haupt usw., während über die Änderung der Fortpflanzung und der damit zusammenhängenden Merkmale nichts Genaues bekannt ist. Nur von den Ichth. wissen wir bestimmt, daß sie zur Liaszeit schon lebendig gebärten. Ein anderes Merkmal der Waltiere, die horizon- tale Schwanzflosse, hat sich ebenfalls zur mesozoischen Zeit schon vorbereitet, wie wir an der noch senkrechten, aber beim Gebrauche wohl schon umgelegten Schwanzflosse und der beginnenden Reduk- tion der Wirbelsäule in diesem Organ bei den Ichth. sehen. Ausgestorbene Säuger. Wir denken uns alle Metareptilien der mesozoischen Zeit — ausgenommen die etwa durch geologische Vorgänge ausgeschalteten Stämme — in Vögel und Säugetiere um- gestaltet und erhalten damit eine durch keine Unbegreiflichkeiten eingeengte Kontinuität der Vierfüßler-Entwicklung. Es ist ferner in einem früheren Kapitel aufgeführt worden, daß neben den im allge- meinen seltenen, natürlichen Vorgängen, die zum gänzlichen Erlöschen eines Stammes führen, nur der Mensch, und dieser nach ökono- mischen Gesichtspunkten, den Bestand der Vierfüßlerwelt vermindert hat. Danach dürften wir erwarten, daß die phylogenetische Entwicklung der Säuger während der Tertiärzeit bis zum Erscheinen des Menschen, dessen Tätigkeit wir etwa mit dem Miozän beginnen lassen dürfen, keine blind endigende Stammreihen aufweise. 256 Säuger. Dem scheint freilich nicht so zu sein. Man darf zwar annehmen, daß es mit dem Fortschritt der Forschung gelingen wird, einen großen Teil der jetzt als erloschen geltenden alttertiären Säuger, namentlich der kleineren Formen, in die heute noch bestehenden Stammreihen ein- zuordnen; denn wir haben uns ja an vielen Beispielen davon überzeugt, daß die Art und Weise, wie man die einzelnen Formen auffaßt und phylogenetisch verknüpft denkt, wesentlich darüber entscheidet, ob sie als erloschene oder nur als abgewandelte Wesen aufzufassen sind. Es mag daher angezeigt sein, zum Schlusse unserer Besprechung einige besonders markante Säuger der älteren Tertiärzeit, die allgemein als erloschen und deren etwaige Nachkommen auch nicht als durch den Menschen vernichtet gelten, daraufhin zu prüfen, ob sie sich den sewonnenen Vorstellungen einfügen, oder ob sie ihnen widersprechen. Ich wähle dazu einige der großen und oft genannten Riesensäuger des Alttertiärs beider Amerika, die als besonders merkwürdige Naturerzeugnisse gelten. 1. Pyrotherium-Stamm. Im älteren Tertiär Patagoniens hat man Reste eines Tieres von beinahe Elefantengröße gefunden, das durch starke Stoßzähne im Unterkiefer und durch sehr einfach gebaute Backzähne gekennzeichnet ist (Pyrotherium, Fig. 165). Man hat es mit den bekannten Dinotherien des europäischen Pliozäns verglichen, die zwar auch Elefantengröße erreichen, ähnliche Back- zähne, aber nach abwärts gekrümmte Stoßzähne aufweisen und habituell anders gebaut waren. Andererseits bestehen offenkundige Ähnlichkeiten zwischen Pyr. und einem erst in allerjüngster Zeit ausgestorbenen Riesenbeutler Australiens, Diprotodon (Fig. 162). Durch die sehr vollständigen Funde dieses Tieres, die aus jüngster Zeit datieren, hat sich nun aber herausgestellt, daß der alttertiäre Patagonier und der postquartäre Australier einander außerordentlich ähnlich sind, in Körpergröße und Habitus, in Schädelbildung, Be- zahnung und auch in der sehr bezeichnenden Fußbildung; denn der- artig plattig verbreiterte Fußknochen finden sich sonst nirgends wieder. Hiernach kann es kaum noch zweifelhaft sein, daß Dipr. der Nachkomme von Pyr. ist, und daß die Verbindungsglieder aus mittel- und jungtertiärer Zeit auf dem versunkenen Festlande zu suchen sind, das zur Tertiärzeit zwischen dem südlichen Südamerika und Australien bestanden hat. Nun gehört Dipr. zu den Riesen- tieren, die erst in allerjüngster Zeit verschwunden sind, und die wir in die Klasse der vom Menschen ausgerotteten Formen verwiesen haben. Trifft das zu, dann ist weder Pyr. noch seine jüngere Nach- kommenschaft bis ins Quartär erloschen, sondern nur ausgerottet. Säuger. 257 Wenn uns aber die Funde von Dipr. in Australien zufällig nicht bekannt wären, würde man Pyr. zu den (Geschöpfen rechnen, die wegen »zu bedeutender Körpergröße« oder wegen » Unfähigkeit weiter zu variieren« oder wegen »ungenügender oder zu sehr speziali- sierter Organisation«e naturgesetzlich hätten verschwinden müssen. Ein warnendes Beispiel, wie vorsichtig wir derartige. Erklärungen benützen sollten! Amblypoden. Zu den markantesten Gestalten der eozänen Säugerwelt gehören die riesenhaften Gestalten der Dinoceraten und Coryphodonten, die beide in Nordamerika (letztere auch in Fig. 162. Diprotodon australis Owen. Plei- Fig. 163. D Backzahn von Diprotodon. stozän. Australien. Schädel. (Aus STEIN- A, B, C Unterkiefer und Zähne von Pyro- MANN-DÖDERLEIN: Elem. d. Pal. ) therium. Alttertiär. Patagonien. (Nach AMEGHINO aus STEINMANN: Einf.i.d. Pal.) Europa) gefunden werden. Man pflegt sie als Amblypoden zu- sammenzufassen und nicht allein wegen ihrer Größe, sondern be- sonders auch wegen ihres primitiven Fußbaues in die Verwandtschaft der Proboscidier zu verweisen; aber direkte genetische Beziehungen können zwischen beiden Abteilungen kaum existieren. Denn die Ambl. erlöschen vor Schluß der Eozänzeit vollständig, und die ältesten Prob., die man vor einigen Jahren aus dem Alttertiär Ägyptens kennen gelernt hat, weisen nach einem ganz anderen Ur- sprunge hin. Wir wollen nun untersuchen, ob man die Ambl. mit Recht als ausgestorben betrachten darf oder nicht. Fünfzehige Land- tiere von der Größe der Ambl. gibt es heute außer den Elefanten nicht mehr, und auch in nacheozänen Tertiär-Ablagerungen hat man derartige Tiere bisher noch nicht entdeckt, — also müssen ihre beiden Stämme wohl erloschen sein. Steinmann, Abstammungslehre. ar 958 Säuger. 2. Öoryphodon-Stamm. Die Coryphodonten kennt man in vollständigen Skeletten (Fig. 164). Es sind plumpe und schwer- fällige, kurzbeinige, fünfzehige Tiere mit massivem, gestrecktem Schädel. Sein Umriß ist auffallend durch die weit ausladenden Jochbogen und durch die beträchtliche Einschnürung, die er vor Fig. 165. Skelett von Hippopotamus amphibius L. (Nach CvviEr.) der verbreiterten Schnauze aufweist (Fig. 166 A, 167 links). Bei manchen Schweinen findet sich etwas ähnliches, aber wohl niemals so stark ausgeprägt. Außer durch die hauerartigen Eckzähne, wie sie Ähnlich auch bei den Schweinen vorkommen, zeichnet sich das Gebiß durch die fast horizontale Stellung der Schneidezähne im Unterkiefer (Fig. 164) aus. Säuger. 259 Wenn wir nach etwaigen Nachkommen eines fünfzehigen Tieres suchen, so können selbstverständlich Arten mit gleicher oder mit geringerer Zehenzahl in Frage kommen, da die Fünfzahl der Aus- gang für alle anderen bildet. Bei der Durchmusterung der heutigen Vierzeher treffen wir sogleich auf eine Gruppe von Säugern, die in mehrfacher Beziehung an Coryph. erinnert, das sind die Nilpferde. Man reiht sie gewöhnlich an die Schweine an, doch scheiden sie sich von ihnen nicht nur habituell und durch ihre beträchtliche Größe, sondern auch durch die fast gleiche Entwicklung aller vier Zehen, da bei den Schweinen die beiden äußeren Zehen stets Fig. 166. Schädel von Coryphodon (A) und Hippopotamus (B) von oben gesehen. (Nach Marsn.) Fig.167. Schädel von Coryphodon elephantopus (links) und Hippopotamus Sivalensis (rechts) von unten. (Nach CorE und FALCONER & ÜAUTLEY.) schwächer ausgebildet sind, als die beiden mittleren. Wenn wir den Fuß von Coryph. sich reduzieren denken, so wäre das nächste Stadium der Verlust des ersten Fingers, und fügen wir dazu die ge- ringen Verschiebungen, die die Wurzelknochen infolgedessen erfahren, so resultiert daraus unmittelbar der Bau des Hippopotamus- Fußes. Nun betrachten wir den Schädel beider Gattungen (Fig. 166, 167). Die bezeichnenden Merkmale von Coryph. kehren bei Hipp. zu- meist in etwas gesteigerter Ausbildung wieder: die weit ausladenden Jochbogen (7), die tiefe Einschnürung hinter der verbreiterten Schnauze. Diese ist der Teil, der sich am auffallendsten, aber keineswegs wesent- lich verschieden zeigt. Sie ist bei Hipp. nicht gerundet wie bei vi 260 Säuger. Coryph., sondern abgestumpft. Eck- und Schneidezähne sind viel stärker und dem entsprechend auch die Kieferknochen, in denen sie sitzen, massiver und breiter. Die Verbreiterung der Schnauze hat auch zur Folge, dal die Reihe der Backzähne nach vorn stärker divergiert (Fig. 167 rechts‘, als bei den Coryph. (links). Ein Vergleich der Hirn- höhle (Fig. 166) zeigt eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen beiden, die gleiche Anlage, nur eine nicht sehr bedeutende Vergrößerung der Hirnmasse im Laufe der Zeit. Was wir am Unterkiefer von Coryph. als eigenartiges Merkmal feststellten, die fast horizontale Stellung. der Schneidezähne, findet sich auch bei Hipp. (Fig. 165.2) wieder; nur sind auch hier die Zähne erheblich stärker. Vergleichen wir nun die Skelette beider Tiere miteinander (Fig. 164, 165), so fallen uns wohl noch einige sonstige Unterschiede bei Hipp. auf, wie der vollständige Abschluß der Augenhöhle, die Verflachung des Hinterhauptes, die stark verbreiterte und vertiefte Ansatzstelle des Kaumuskels im Unterkiefer, ferner unbedeutende Abweichungen in der Form des Schulterblattes (sc) und in der Höhe der Dornfortsätze. Aber alle diese geringen Veränderungen gehören entweder zu solchen, die sich auch bei anderen Säugern im Laufe ihrer Entwicklung während der Tertiärzeit einstellen, (Abschluß der Augenhöhle), oder sie erklären sich als die unmittelbaren Folgen der besonderen Lebensweise der Nilpferde /plumper Bau, Abrundung des Schädels, usw.). Der be- kannte Künstler Knıcnr des American Museum in New-York, wo sich ein vollständiges Skelett von Coryph. findet, hat eine Rekonstruktion des Tieres angefertigt. Wer diese sieht, ohne zu wissen, daß ihr ein eozänes Tier als Vorbild gedient hat, würde darin eine neue hochbeinige Art von Hipp. vermuten, so sehr gleicht das lebende Tier dem »Flußschwein« der Ägypter. Es ist nicht ersichtlich, welche Gründe uns hindern sollten, die Nilpferde als Nachkommen von Coryph. anzusprechen; denn die Veränderungen, die der Stamm hiernach im Laufe der Tertiärzeit erfahren hätte, sind viel geringer als die in vielen anderen Stämmen während der gleichen Zeit. Zwar fehlen zwischen Eozän und Pliozän alle vermittelnden Funde. Aber soweit man geologische Verhältnisse zur Beurteilung der Frage heranziehen darf, sprechen sie zugunsten unserer Auffassung. Die Nilpferde erscheinen nämlich unvermittelt im Pliozän Südindiens. Aus Europa können sie nicht gekommen sein, da hier seit dem älteren Eozän jede Spur von ihnen fehlt. In Nordamerika verschwinden die Coryph. ebenfalls zur älteren Eozän- zeit. Aber wie manche andere Säuger, die im Jungtertiär in Indien auftauchen und sich dann im Okzident ausbreiten, offenbar von Nord- Säuger. 261 amerika über eine nordpazifische Landmasse gewandert sind (z. B. die Kamele), so dürfte sich auch der Nilpferdstamm in der zwischen Alteozän und Pliozän liegenden Zeit auf dem Festlande des Nord- pazifik aufgehalten haben und von dort nach Indien gewandert sein. Auf diesen Wanderungen scheint der Stamm von seiner ursprünglichen Formenbreite nicht wesentlich eingebüßt zu haben. Wenigstens schwankt die Größe der heutigen Nilpferde noch etwa in denselben Grenzen (bei durchschnittlich etwas bedeutenderer Körpergröße) wie bei den Coryph., deren Größe sich zwischen der eines Bären und der eines Ochsen bewegt. Nach allem, was wir von anderen Stämmen wissen, werden sich die Umbildungen der Coryph. zu Nilpferden an allen Vertretern, soweit sie nicht ausgemerzt, vollzogen haben; es besitzen ja auch alle Nilpferde wesentlich die gleiche Lebensweise, und diese ist als die hauptsächliche Ursache für die gleichsinnige Umbildung anzusehen. Liegen nun die Beziehungen zwischen Coryph. und Hipp. wirk- lich so einfach und klar, wie ich sie hier dargestellt habe, warum, so wird man fragen, sind sie dann nicht schon früher erkannt worden ? Ich habe sie in der Tat nirgends in der Literatur angedeutet ge- funden. Coryph. gilt allgemein als ausgestorben. Über den Ursprung der Hipp. weiß man nichts, aber sie werden den Schweinen angereiht; und obgleich Zırrer ausdrücklich sagt: »auffallenderweise bewahrt das Skelett der Hippopotamiden ein durchaus primitives Gepräge«, so ist es doch niemand eingefallen, sie mit den fast identischen primitiven Amblypoden auch nur zu vergleichen, Dies erklärt sich allein aus der unhistorischen Eigenart der üblichen Methoden. Die fünfzehigen Amblyp. werden im System mit den anderen fünf-, drei- und einzehigen Huftieren zu den Un- paarhufern gestellt, die vierzehigen Hipp. aber zu den Paar- hufern. Damit sind sie endgültig auseinander gerissen, und jeder Teil ist mit Tieren von ähnlicher Organisationshöhe, aber ganz ver- schiedener Abstammung zusammengekuppelt. Diese Trennung nach einem hervorstechenden Merkmale ist bequem, aber sie läuft dem Grundsatz der Abstammung zuwider. Es erweist sich hier aufs deutlichste, wie die Systematik der geborene Feind der Deszendenz ist. 3. Dinoceraten-Stamm. Die Dinoceraten gehören nach allgemeinem Urteil »zu den merkwürdigsten Tieren, die je gelebt haben«. »Ein Bild rohester und plumpester Ungelenkheit«. In der Tat sucht man unter den Landsäugern nacheozäner Zeiten vergeblich nach einem Tier, bei dem sich mit der Größe und Plumpheit, sowie mit dem primitiven Bau des fünfzehigen Fußes ein sechsfach gehörnter 262 Säuger. Schädel mit gewaltigem Hauer im Öberkiefer vereinigt (Fig. 168). Und doch stehen diese Tiere keineswegs so fremdartig der heutigen Schöpfung gegenüber, wie es scheint. Denn wenn wir nach etwaigen Verwandten oder Abkömmlingen alttertiärer Säuger suchen, dürfen wir unseren Blick nicht auf den Landsäugern allein haften lassen. Wir wissen vielmehr, daß aus solchen im Laufe der Tertiärzeit mehrfach auch Wassertiere hervorgegangen sind, so aus den Raub- tieren die Robben und Seehunde. Aber wie offenkundig auch der Fig. 168. Dinoceras (Loxolophodon) ingens Marsh. Eozän von Wyoming. Skelett. (Nach MARSH aus STEINMANN-DÖDERLEIN, Elem. d. Pal.) Zusammenhang zwischen Landraubtieren und den Seehunden erscheint, so stehen doch gewisse Formen der Pinnipedier dem Raubtiertypus recht fern, z. B. das Walroß (Trichechus Fig. 169). Schon die gewaltige Größe des Tieres, die Form des Schädels, die anliegenden Jochbogen, die ungeheuren Hauer und die den Raubtier- zähnen ganz unähnlichen, stiftförmigen Backzähne entfernen diese (Grattung weit von den übrigen Gestalten, mit denen man sie vereinigt. Emanzipiert man sich aber von der Beengung des Systems und sucht a ne 2 Säuger. 263 unter fossilen Säugern nach ähnlichen Gestalten, so richtet sich der Blick unwillkürlich auf jene merkwürdigen ausgestorbenen Amblyp., die Dinoceraten. Wie uns die Robben im Vergleich mit den Landraubtieren zeigen, erzeugt der dauernde Aufenthalt im Wasser bei den Säugern gewisse Veränderungen. Der Schädel rundet sich allgemein zu, Vor- sprünge und Kämme schleifen sich ab und verschwinden. Die Zehen verlängern sich, indem sich die Gliedmaßen zu Schwimmorganen um- bilden; aber ihre Zahl wird nicht geringer. Die Zähne erfahren eine Vereinfachung. Bringen wir diese Veränderungen beim Forschen nach einem verwandten Landsäuger in Anrechnung, so erscheint die Über- einstimmung mit den Dinoc. auffallend genug, wie ein Vergleich der Skelette beider zeigt (Fig. 168, 169). Die Körpergröße und Pro- portionen der einzelnen Skeletteile sind wesentlich gleich, nur er- scheinen die Zehen beim Wassertier länger und schmäler, der Schwanz ein wenig kürzer. Den Schädel des landbewohnenden Vorfahrs (Fig.171) haben wir uns abgerundet und verkürzt zu denken, so daß die zwei Paar mächtiger Knochenzapfen auf Oberkiefer und Scheitelbein beim Wasser- tier (Fig. 172) nur noch als gerundete Vorsprünge (p’, m’) erkennbar sınd; aber sie befinden sich genau an den gleichen Stellen wie dort. Auch der Occipitalkamm (oc’) ist noch angedeutet. Die auffallendste Veränderung hat die Schnauzenspitze erfahren. Bei Dinoc. springen die Nasenbeine über der Nasenöffnung und der Zwischenkiefer unter dieser weit vor, so daß die Höhle tunnelartig in die Schnauze ein- dringt (Fig. 171). Die Schnauzenspitze erscheint nun bei Trich. zurück- gedrängt, verkürzt und abgeplattet, aber die tunnelartige Öffnung der Nasenhöhle bleibt gewahrt (Fig. 172). Nicht minder deutlich tritt die Übereinstimmung zwischen beiden Tieren bei der Betrachtung des Schädels von unten hervor (Fig. 170). Abgesehen von der Verkürzung der Schnauze und dem Schwunde der Knochenzapfen und -kämme von Dinoc. herrscht fast vollständige Identität der Merkmale. Die Joch- bogen (j) liegen dem Schädel hart an — ein wichtiges Unter- scheidungsmerkmal gegenüber der ausladenden Form bei allen Raub- tieren —, die Stellung der Backzähne ist die gleiche; eine Verlängerung des harten Gaumens (pl) ist bei einem Wassertiere selbstverständlich. Nicht weniger bemerkenswert ist die Übereinstimmung im Unterkiefer (Fig. 171, 172). Dem mächtigen Eckzahn bei Dinoc. entspricht im Unterkiefer ein starker Fortsatz (Fig. 171w). Diesen sehen wir bei Trich. etwas nach hinten gerückt und abgeschwächt wiederkehren (Fig. 172w). Von allen übrigen Huftieren ist Dinoc. durch die tiefe Lage und die nach hinten statt nach oben gerichtete Stellung des 264 Säuger. Unterkiefergelenkes (Fig. 171) ausgezeichnet. Dies eigenartige Merkmal kommt auch Trich. (Fig. 172co) zu. Findet sich auch gelegentlich bei Raubtieren (Smilodon) ein nach hinten gerichteter Gelenkkopf und steht dieser bei Beuteltieren und Insektenfressern auch ähnlich tief, so findet sich beides vereint und mit den sonstigen Merkmalen ver- knüpft unter allen Säugern nur bei den Dinoc. und Trich. Der genetischen Verknüpfung der beiden Tiere steht aber schein- bar das abweichende Verhalten der Schneidezähne im Oberkiefer entgegen. Nach Marsu, dem wir die ausführlichste Darstellung Fig. 170. Schädel von Dinoceras (A) und Trichechus (B) von unten. (Nach MarsH und CvvIEr.) A 12 Fig. 171. Dinoceres (Loxolophodon) mirabile Fig. 172. Schädel und Unterkiefer von Marsh. Eozän. Wyoming. Schädel. (Nach Trichechus. (Nach WEBER: Säugetiere.) MARSH.) der Dinoc. verdanken, fehlen nämlich bei diesen Tieren die Schneide- zähne im Oberkiefer gänzlich, während sie bei Trich., wenn auch stark verkümmert, so doch stets vorhanden sind (Fig. 172:). Die Angaben von MarsnH sind zwar in alle Lehrbücher übergegangen, aber dennoch unzutreffend. Wie schon Ossorn gelegentlich hervorgehoben hat, fehlen die Alveolen für die Schneidezähne im Oberkiefer der Dinoc. keineswegs, und ich selbst habe mich an den zahlreichen, wohl er- haltenen Schädeln der amerikanischen Sammlungen überzeugt, daß sie ausnahmslos erhalten sind, wenn auch die Zähne selbst bei den Der Mensch. 265 alten Tieren wohl regelmäßig ausgefallen waren. So erweist sich auch dieser Unterschied als hinfällig, und es scheint mir keinerlei Bedenken der Auffassung im Wege zu stehen, wonach das Walroß der Nachkomme der Dinoc. ist; die geringfügigen Änderungen im Skelettbau sind nur durch den Übergang zur marinen Lebens- weise hervorgerufen. Die Walrosse sind seit der Miozänzeit in den Meeren der Nordhalbkugel verbreitet und haben sich vom Miozän bis heute kaum verändert; die Umbildung aus landbewohnenden Vorfahren ist dem- nach auf der Nordhalbkugel und wahrscheinlich an den Küsten des erwähnten nordpazifischen Festlandes in der Oligozänzeit vor sich gegangen. Die geologischen Befunde harmonieren also vollständig mit der Ableitung, für die ich hier plädiere. Ich beschränke mich auf diese wenigen Beispiele, möchte aber hinzufügen, daß mir schon jetzt für manche andern »ausgestorbenen « Riesentiere der Tertiärzeit ähnliche Umdeutungen geboten scheinen, z. B. für die Titanotherien, die mit dem Oligozän verschwinden und deren Nachkommen ich in den großen jungtertiären Nashörnern von dolichocephalem Typus (Ceratorhinus, Atelodus, Coelodonta) er- blicke. Eine weitere Anwendung der hier entwickelten Methoden auf die Säuger überhaupt dürfte noch manche Zusammenhänge aufdecken, die man jetzt nicht vermutet, und dürfte die Stammesgeschichte wesent- lich klären helfen. 7. Der Mensch. Fossile Funde von Menschen oder menschen- ähnlichen Wesen sind bis jetzt sehr selten und allein nicht geeignet, die noch so wenig klare Stammesgeschichte der Menschen im ein- zelnen aufzuhellen, geschweige denn aus ihnen Gesetzmäßiskeiten der Entwicklung im allgemeinen herauszulesen. Bei dem Interesse, das die wenigen Funde in neuer Zeit begreiflicherweise erregen, mag es aber gerechtfertigt erscheinen, sie hier an der Hand der Erfahrungen zu betrachten, die wir aus der Stammesgeschichte anderer Organis- mengruppen gewonnen haben. Da muß denn vor allem betont werden: eine einmalige und monophyletische Abstammung der Gattung Homo ist durchaus unwahrscheinlich trotz der fast allgemeinen Verbreitung, der sich diese Auffassung in wissenschaftlichen wie in Laien-Kreisen erfreut. Vereinzelt sind seit GoETHE jederzeit Stimmen laut geworden, die den entgegengesetzten Standpunkt vertreten, beachtet sind sie kaum. Das erscheint selbstverständlich zu einer Zeit, in der man für alle Gattungen lebender Wesen einen einstämmigen Ursprung voraus- setzt. Warum sollte man dem Menschen da eine Ausnahmestellung 266 Der Mensch. von der Regel zuerkennen, wo noch dazu unser Urteil leicht durch Motive nicht wissenschaftlicher Natur zugunsten der einmaligen Ent- stehung beeinflußt wird? Als Vorstufe der Menschen haben wir uns pithekoide Wesen zu denken, die durch Annahme des aufrechten Ganges eine allmähliche Umbildung zur Stufe des Menschen erfahren haben. Die Ursachen für das Verlassen der ursprünglich vierfüßigen Fortbewegung können wir am besten in klimatischen Vorgängen suchen. Denn wenn ein Waldgebiet, in dem pithekoide Wesen etwa von der Fortbewegungs- art der heutigen Menschenaffen wohnen, durch allmähliche Abnahme der Niederschläge sich lichtet, in eine Savannengegend sich umwandelt oder gar zum Buschwald wird, so sind die pithekoiden Bewohner genötigt, sich diesen geänderten Verhältnissen anzubequemen, und wenn sie sich schon, ähnlich wie die heutigen Menschenaffen, gelegent- lich aufrecht oder halbaufrecht bewegten, so bedeutet es auch keine erhebliche Änderung, nach und nach zum dauernd aufrechten Gange überzugehen. Alle weiteren Umbildungen, im besonderen die zu- nehmende Entwicklung der Sinne, die Ausgestaltung der Hände zu einem vielseitig verwendbaren Organ und die aus diesen beiden Än- derungen resultierende Zunahme der geistigen Fähigkeiten und der Hirnmasse folgen naturgemäß aus diesem ersten, wichtigsten Schritte zur Menschwerdung. Denken wir uns nun das Verbreitungsgebiet solcher Pithekoiden mit verschiedenen nahestehenden Arten besetzt, die wir systematisch vielleicht zu einer »Gattung« vereinigen würden, und sich in diesem Gebiet allmählich einen Klimawechsel in angegebenem Sinne vollziehen, so würden einige Arten, die etwa nahe bei oder in sehr feuchten Flußniederungen leben, sich in diese zurückziehen und dabei ihre bisherigen Gewohnheiten beibehalten, andere, die näher der Wald- grenze wohnen, würden dagegen zur zweibeinigen Gangart übergehen und so allmählich befähigt werden, sich in den neu entstehenden und in den schon vorhandenen Savannen- und Buschwaldgebieten aus- zubreiten. Die Trennung in epistatische Pithekoiden und progressive Urmenschen wäre damit vollzogen. Da aber die Vorgänge, die diese Spaltung verursacht haben, keineswegs ungewöhnlich sind, sondern sich in der gleichen oder in einer anderen Gegend in späteren Zeiten ganz ähnlich wiederholen können, so folgt daraus, daß aus einer zusammengesetzten Pithekoiden-Gattung oder auch aus mehreren (Grattungen wiederholt unabhängig und zu sehr verschiedenen Zeiten Menschenarten entstanden sein können. Daß wir die auf ge- trennten Wegen zu Menschen gewordenen Wesen systematisch zu Der Mensch. 267 einer »Gattung« Homo vereinigen, ist nicht weniger merkwürdig, als daß wir eine Gattung Unio oder Anodonta unterscheiden. Denn die Merkmale, die die Angehörigen der Gattung Mensch bei ihrem Übergang zur Menschenstufe aufgeprägt erhalten haben, sind ebenso auffällig und drängen die eigentlich phylogenetischen Kenn- zeichen ebenso sehr in den Hintergrund, wie die Merkmale der Gattung Unio oder Anodonta die Kennzeichen, nach denen wir ihre Arten einzeln von ihren marinen Vorfahren oder auseinander abgeleitet haben. Bei den Menschen verzeichnen wir diese alt- ererbten Kennzeichen (Beschaffenheit der Haut, Haare, Augen usw.) als Rassenmerkmale, wissen auch von ihnen, daß sie sich mit merkwürdiger Zähigkeit erhalten und vererben. Wir denken sie uns gewöhnlich als Variationen innerhalb der Gattung Homo entstanden; einen positiven Anhalt haben wir dafür aber nicht. Legen wir vielmehr die Erfahrungen aus der Stammesgeschichte an- derer Organismengruppen zugrunde, so werden wir die Rassen- kennzeichen als die phylogenetisch beharrenden ansprechen und annehmen, daß sie schon den verschiedenen Vorfahren auf der Pithekoiden-Stufe zukamen. Sind die Menschen auf verschiedenen Stammlinien aus Pithekoiden hervorgegangen, so hat sich ihr Skelett ebenso viele Male umgebildet, als es Stammlinien gibt, und es müssen dann ebenso viele phylogenetisch untereinander nicht direkt verknüpfte Zwischenstufen als Pithecanthropus, Homo primigenius usw. bestanden haben. Solche Zwischenstufen werden in den verschiedenen Stammreihen nur teilweise gleichzeitig neben- einander, im allgemeinen aber nacheinander erreicht worden sein, je nachdem die Umbildung innerhalb einer Stammreihe früher oder später und außerdem langsamer oder schneller erfolgt ist. Die eben erörterten Möglichkeiten haben wir uns genau von den Umbildungsvorgängen vorzeichnen lassen, wie sie an anderen Orga- nismengruppen beobachtet werden; sie sind wohl hypothetisch, aber in keiner Weise unnatürlich oder unwahrscheinlich, geschweige denn unmöglich. Betrachten wir nun die fossilen Menschenreste im Rahmen dieser Möglichkeit, so verlieren sie ganz den befremdlichen Charak- ter, der ihnen bei der jetzigen Auffassung anhaftet. Weder Pithec- anthropus noch H. primigenius brauchen als erloschene Formen zu gelten, von denen heute keine Nachkommen mehr existieren; beide wären vielmehr nur als epistatische Formen zu deuten. Denn wenn wir nach den nicht wohl anzuzweifelnden Funden Rurorts mit Vertretern der Gattung Homo (oder wenigstens mit Feuerstein- schlagenden Wesen) schon für die Zeit des Oligozäns zu rechnen 268 Der Mensch. haben, so dürfte es spätestens zu Beginn der Quartärzeit auch schon Menschen mit den anatomischen Merkmalen der heutigen gegeben haben. Der alt- oder mittelquartäre Pithecanthropus würde diesen gegenüber aber die Rolle einer epistatischen Form spielen. Aber mit noch größerer Wahrscheinlichkeit dürfen wir voraussetzen, daß zur mittleren Diluvialzeit, als in Mitteleuropa sich der H. primigenius als Jäger umhertrieb, anatomisch vollwertige Menschen in Asien oder Südeuropa gelebt haben, im Vergleich zu denen der Neandertaler zurückgeblieben war, weil er einer anderen, später entstandenen, oder langsamer umgebildeten Stammreihe angehörte. Der heutige Austra- lier ist dann ebenfalls ein Epistat im Vergleich zu allen übrigen heutigen Menschenrassen. Wollten wir aber die etwaigen Nach- kommen von Pithecanthropus und H. primigenvus feststellen, so müssen wir nach Eigentümlichkeiten im Skelettbau suchen, die nicht Stufen- merkmale sind, die also mit der allgemeinen Mutation Pithekoiden— Menschen nichts zu schaffen, die vielmehr als Kennzeichen einzelner Stammreihen (= Rassen) zu gelten haben. Leider erhalten sich die Kennzeichen, nach denen wir die heutigen Menschenrassen haupt- sächlich unterscheiden, im fossilen Zustande nicht. Ob ihnen auch Unterschiede im Skelett entsprechen — abgesehen von den Stufen- .merkmalen — wäre wohl erst noch zu ermitteln. Wenn sie vorhan- den sind, wäre ein Vergleich mit dem nicht allzu spärlichen Mate- rial vom H. primigenius heute vielleicht schon erfolgreich, mit den dürftigen Resten von Pithecanthropus vorläufig aber gänzlich aus- sichtslos. Die Geschichte der Kulturvölker bestätigt die Erfahrungen, die wir aus der Betrachtung der Natur gewonnen haben. Die einzelnen Kulturvölker entstammen nicht einem » Ur-Kulturvolk«, so wenig wie die verschiedenen Sprachen auf eine »Ursprache« zurückgehen, wie ähnlich auch verschiedene Kulturen und Sprachen einander werden können, wenn sie die gleiche Entwicklungshöhe erreichen. So wie der Umbildung von Trigonia zu Unio oder von einem Reptil zum Vogel oder Säuger nicht Zufälligkeiten zugrunde liegen, sondern gesetzmäßig wirkende Ursachen, die bei historisch gegebener Gelegenheit immer die bestimmte, aber auf verschiedener Grundlage stets etwas abweichend herausspringende Wirkung auslösen, so sind auch aus unterschiedlichen Naturvölkern andersgeartete Kulturvölker, aus ver- schiedenen sprachlosen Völkern anderssprechende geworden — auf etwas wechselnden Wegen und zu verschiedenen Zeiten. Und wie die Umbildung der Pithekoiden in Menschen zwar innerhalb eines beträchtlichen, aber doch begrenzten geologischen Zeitraums fällt Zusammenfassung. 269 und heute kein Pithecanthropus mehr besteht, so sind auch heute alle Menschen schon sprechend. Epistatische Kulturen dagegen, Naturvölker, deren Zahlenabstraktion noch nicht über die erste Stufe, die 2 hinausreicht, wohnen heute noch in Brasilien, nicht allzu fern von den hohen Masten, die man im Urwalde errichtet, um das von greifbarer Materie gelöste Wort über ungangbare Länder zu senden. In diesem Lichte erscheint die Geschichte der Menschheit dem- jenigen, der ihre Entwicklung nach Maßgabe der Gesamtentwicklung der belebten Natur beurteilt. Für den Kulturhistoriker beginnt die Forschung dort, 'wo die des Naturforschers aufhört. Kann er die letzte Phase im Gange der Menschengeschichte, deren Anfänge sich seiner Forschung entziehen, unter der gleichen Formel begreifen, die wir gefunden haben, so ist die erwünschte Einheitlichkeit der Auf- fassung hergestellt. Nun finden wir in dem jüngsten, umfassenden Versuche K. Breysıss, der die Geschichte der Menschheit natur- gesetzlich zu begreifen bemüht ist, dieselben Grundbegriffe der Ent- wicklung, den parallelen Verlauf der Entwicklungsreihen und den Begriff der Entwicklungsstufe, die jede einzelne der Reihen gesetz- mäßig durchlaufen hat. Er baut sich auf dem Gedanken auf, »daß die Entwicklungsbahnen aller Völker und Völkergruppen der Erde in gleicher oder wenig abweichender Richtung verlaufen, und dab ein sehr großer Teil der Verschiedenheiten, die das Bild der Menschheit heut wie zu fast allen Zeiten aufweist, nur durch die Verschiedenheit der Entwicklungsgeschwindigkeiten zu erklären ist, mit der die ein- zelnen Teile der Menschheit diese ihre Wege zurückgelegt haben«. VII. Zusammenfassung. Einige Bruchstücke der reichen organischen Schöpfung haben wir in ihrem geschichtlichen Ablauf an uns vorüberziehen lassen, und bei dieser Betrachtung des historischen Materials sind wir bemüht gewesen, alle Begriffe und Auffassungen tunlichst auszuschalten, die sich nicht aus der Geschichte der Schöpfung selbst oder aus dem Werdegang des Planeten überhaupt ableiten. Stets konnten wir nur die jüngeren Phasen von Stammesentwicklungen in die Betrachtung einbeziehen und verwerten, da ihre Anfänge, die weit hinter den Be- ginn der biohistorischen Zeit zurückreichen, uns unbekannt sind. Wie das Baumaterial schon zeitlich beengt ist, so bleibt es auch ın diesem geschmälerten Umfange fragmentarisch und seinem Inhalt 270 Zusammenfassung. nach unvollkommen, denn nur ausnahmsweise können wir die Ge- stalten früherer Zeiten in ihrer gesamten Organisation wieder er- stehen lassen, zumeist müssen wir aus den unvergänglichen Teilen das Gesamtbild ergänzen, so gut es geht. Auch legt sich hemmend auf den Flügelschlag solcher Forschung die Weite der Schöpfung. Denn soll ein derartiger Versuch überhaupt eine Grundlage für den Fortschritt der Naturerkenntnis abgeben, so darf er sich nicht auf einen kleinen Teil der Schöpfung beschränken, er muß wenigstens auf einige und auf verschiedenartige Gebiete der Lebewelt ausgedehnt werden. Wer aber wäre heute imstande, mehr als ein kleines Teil- gebiet der lebenden oder fossilen Welt so zu beherrschen, daß ihm keine wesentliche Tatsache entgeht? Wir wollen uns also nicht dar- über täuschen, wie spärlich und lückenhaft der Stoff ist, mit dem wir bauen, wie beschränkt die Fähigkeit der Baumeister. Was uns allein den Mut verleiht, ja die Pflicht auferlegt, trotz der offen- kundigen Unvollkommenheit einen neuen Bau zu wagen, ist die be- rechtigte Überzeugung, daß wie in der leblosen Natur, so auch in der belebten alle Erscheinungen von einfachen, großen Gesetzen geregelt werden, und daß diese mit Hilfe der historischen Methode unsrer Erkenntnis zugänglich sind. Die Geschichte unsrer Wissenschaft ist ein einziger Beleg dafür. Denn wenn wir im historischen Ent- wicklungsgange verschiedener Tier- und Pflanzengruppen immer den gleichen Gesetzmäßigkeiten begegnen, wenn uns die so gewonnenen Regeln sogar befähigen, Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten auch dort aufzufinden, wo sie bisher fehlten, so liegt darin ein deutlicher Hinweis, daß wir wenigstens ein brauchbares Werkzeug in Händen haben, das wir nützen müssen, bis es an dem harten Wider- stand der Tatsachen stumpf geworden ist. Wie sieht dies Werkzeug im einzelnen aus, und welche Vorteile bietet es gegenüber den bis- her gebrauchten? Die Ergebnisse der vorausgehenden Untersuchungen sind nega- tiver und positiver Art; die ersteren wollen wir voranstellen. Wir fanden die allgemein herrschende Voraussetzung nicht bestätigt, wonach das jetzige System der Tiere und Pflanzen, wie »natürlich« es auch scheinen möge, den phylogenetischen Entwicklungsgang vor- zeichnet, und zwar weder im einzelnen, noch viel weniger in den Hauptzügen. Es ließ sich ferner wiederholt erweisen oder doch wahr- scheinlich machen, daß die Umbildungen im Laufe der Zeit nicht durch Abspaltung und Auslese bevorzugter Abänderungen und durch Aussterben des zurückgebliebenen Teiles erfolgt sind. Die Vor- stellung von dem Erlöschen zahlreicher und umfassender Formen- Zusammenfassung. 271 gruppen, die keine Spur ihres Daseins in der jetzigen Schöpfung hinterlassen haben, erwies sich dabei als unnötig und unzutreffend. Durch Umdeutung des phylogenetischen Zusammenhanges, wie er bisher gedacht war, und unter Verwertung der geologischen Erfah- rungen konnten die vitalistischen Vorstellungen vom wiederholten Einsetzen einer unerklärlicehen Expansivkraft ebenso beseitigt werden, wie die vom unverständlichen Nachlassen der phyletischen Lebens- kraft. Schließlich ließ sich auch die Annahme als unberechtigt erweisen, daß unter den Resten der Vorzeit die erforderlichen Über- gänge zwischen den großen Tier- und Pflanzengruppen fehlen. Die Vorzüge der neuen Auffassung liegen aber nicht allein in der Verneinung dieser — wie ich meine — unzutreffenden dog- matischen Annahmen, sondern in dem positiven Aufbau eines neuen, geänderten Schöpfungsbildes. Dieses erscheint gegenüber dem bis- herigen ungeheuer vereinfacht. Bedeutet wirklich simplex si- gillum veri, so liegt eine Wahrheit in dem Versuch, die zweifach, erst von der Natur und dann von der Wissenschaft begrabenen Ge- stalten der Vorzeit aus ihren steinernen Hüllen auferstehen zu machen und sie als lebendige und unentbehrliche Glieder dem Schöpfungs- bild wieder einzufügen. Sie erzählen jetzt nicht mehr von fehlge- schlagenen Versuchen, von launischen Einfällen und von schwer ver- ständlichen Verirrungen der Natur und von Zufälligkeiten in ihrem Geschehen, sondern von durchgängiger Bestandfähigkeit und von zähem Beharrungsvermögen des einmal Entstandenen, von der Bedingtheit und Gesetzmäßigkeit der Vorgänge auch in der belebten Natur. Sie bezeugen, daß nur die brutale Gewalt verrichtend in den Bestand des Lebendigen eingreift, möge sie von der blindwaltenden Natur oder vom zielbewußten Menschen ausgehen. Dieses neue Bild der Schöpfung entschleiert aber auch (resetze, die das Werden und Wandeln des Lebens regeln. Im einzelnen glaube ich folgende Regeln und Gesetzmäßigkeiten aus der Geschichte der Tier- und Pflanzenwelt ablesen zu können: Die Umbildungen erfolgen allgemein in unmerklich kleinen Schritten, und es gibt keine sprunghaften Neue- rungen. Das schließt nicht aus, daß die Grenze zwischen zwei ver- schiedenen, auseinander folgenden Zuständen als ein scharfer Schnitt, als ein Sprung, erscheint. So wenn eine Koralle, die dem Skelett nur noch lose aufsitzt, skelettfrei wird (vgl. S. 76 ff.). Hier ist die Vorbedingung für den neuen Zustand langsam vorbereitet durch all- mähliche Ausdehnung der Muskulatur auf der Unterseite des Tieres, und sobald ein gewisser Grad muskulöser Beschaffenheit erreicht ist, 272 Zusammenfassung. hebt sich das Tier vom Skelett ab. Dieser Vorgang kann in die Lebenszeit eines Individuums fallen und erfolgt scheinbar unver- mittelt, sprunghaft; doch läßt er sich passend vergleichen mit dem Verhalten der eisernen Achse, die ganz allmählich umkristallisiert und brüchig wird, bis sie schließlich »plötzlich« bricht. Alle Umbildungen im Laufe der Zeit — die Mutationen im ursprünglichen und eigentlichen Sinne des Wortes — ergreifen stetseine größere Anzahl von Individuen in gleichem Sinne, aber die einzelnen verschieden stark, je nachdem diese den bewirken- den Einflüssen mehr oder weniger dauernd oder intensiv ausgesetzt sind. Nicht nur die Vertreter einer Abart oder Art, sondern mehrere Arten oder gar Gattungen und Familien erfahren die gleichen Um- bildungen, bewahren dabei aber die Merkmale, die von den Verände- rungen nicht berührt werden. Solche gleichsinnige Umbildung (Homoeogenese — Eimer, Homoplasie der amerikanischen For- scher) ist weder örtlich, noch zeitlich beschränkt; sie kann heute einen Teil der Individuen einer Art oder einzelner Arten in Mitleidenschaft ziehen, die andern verschonen, morgen oder später wird der epistatische Rest ganz oder teilweise auch betroffen, und wenn dieser inzwischen gewisse Änderungen in anderm Sinne erfahren hat, so werden diese in den neuen Zustand mit übernommen (Schizodonten — 8. 114). Was wir Variation, d.h. Abänderung im Raume nennen, beruht zum er- heblichen Teile auf epistatischen Mutationen, d.h. darauf, daß sich neue Merkmale an den einzelnen Individuen verschieden rasch herausbilden oder daß bestehende verschieden schnell verschwinden (Schizodonten S. 116). Es gibt weitgehende Umbildungen, die fastzuallen Zeiten des biohistorischen Zeitraumes eingetreten sind und die auch heute noch in ähnlicher Weise fortgehen können, wie die Ver- wandlung der meeresbewohnenden Trigoniden in die flußbewohnen- den Unionen. In diesen Fällen ändert sich die Konstitution der Ausgangsstufe im Laufe langer Zeit so wenig, der Organismus bleibt so plastisch und für die betreffende Änderung so empfänglich, daß jede historisch gebotene Gelegenheit das wesensgleiche Ergebnis zeitigen muß. Daneben erkennen wir andre Umbildungen, die an eine bestimmte Organisationsstufe geknüpft sind. So kann die Wirbeltierstufe aus der Urkrebs-Stufe nur hervorgehen, so lange die Nerven noch mehr oder weniger diffus und noch nicht durch Kommissuren zu einem unverschiebbaren System verbunden sind (8.203). Wenn eben gewisse Merkmale einmal konstitutionell gefestigt sind und damit nach bestimmten Richtungen nicht mehr Zusammenfassung. 275 umgebildet werden können, erlischt die Fähigkeit zum Aufsteigen in eine andre Stufe, sofern diese eine Änderung jener Merkmale erfordert. Es mag daher mit Recht bezweifelt werden, ob aus den heutigen Reptilien durch die Zwischenstufe des Metareptils jemals noch Vögel oder Säuger, oder ob aus den heutigen Menschenaffen noch Menschen werden können. Doch wollen wir uns hüten, solche Möglichkeiten oder selbst Wahrscheinlichkeiten dogmatisch zu versteifen. Häufig fallen tiefgreifende Umbildungen einer formen- reichen Organismengruppein einen kürzeren oder längeren, aber beschränkten Zeitraum (der vielleicht kürzer scheint, als er in Wirklichkeit war). Darin drückt sich wohl nur die Tatsache aus, daß alle Vertreter der älteren Gruppe durch lange und ständig in gleichem Sinne (wenn auch nicht bei allen gleichmäßig) wirkende Bedingungen für den neuen Zustand ungefähr gleich aber doch etwas verschieden weit vorbereitet waren, so daß sich der Schlußakt wohl über einen gewissen Zeitraum ausdehnen konnte, aber doch auch mit einem gewissen Zeitpunkte beendigt war. Als Beispiele verweise ich auf die Rudisten—Ascidien, de Ammoniten—Octopoden (mit dem epistatischen Argonauta-Weibchen) und auf die Ganoiden (und Crossopterygier) — Knochenfische (von denen sich einige alter- tümliche Formen durch Übergang zum Flußleben der Umbildung entzogen haben). Das Bleibende im Laufe der Zeit ist der Gesamtkom- plex der lange gefestigten und vererbten Merkmale. Sog. konservative Typen (oder lebende Fossilien) scheinen vereinzelt die ganze biohistorische Zeit hindurch unverändert oder kaum verändert bestanden zu haben, wie Lingula, Fhynchonella, manche Radiolarien (Sphaeriden) von Silur bis Gegenwart. Wir führen dies Verhalten darauf zurück, daß eine irgendwie einschneidende Änderung ihrer Lebensbedingungen entweder überhaupt unmöglich war, oder daß, wenn sie möglich war, die nötige Gelegenheit dafür gefehlt hat (lebende Trigonien). Änderungen erstrecken sich aber nie gleich- zeitig auf alle Merkmale, nur auf eines oder auf einige wenige, die in Korrelation zu einander stehen. Am wenigsten rasch wird Größe und Gesamthabitus eines Wesens geändert; wo dies dennoch in kürzerer Zeit geschieht, liegt dem stets eine ein- schneidende Änderung der Lebensweise zugrunde. So haben die aus den Trilobiten hervorgegangenen Spinnen (mit Ausschluß der Skorpione) noch eine Zeitlang die beträchtliche Größe, die deutliche Gliederung und die Dreiteilung des Körpers ihrer Vorfahren bewahrt (Anthracomarti des Karbons S. 202), aber Steinmann, Abstammungslehre. 18 274 Zusammenfassung. in ihrer extremen Ausgestaltung kontrastieren sie scharf mit der Ausgangsgruppe. Noch schroffer tritt der Unterschied gegen ihre wasserbewohnenden Vorfahren von krusterartigem Habitus bei In- sekten mit vollständiger Verwandlung und bei den höheren Wirbel- tieren hervor. Wo dagegen die Lebensbedingungen sich gar nicht oder nur wenig ändern, bleiben auch Habitus und Gesamtkomplex der Merkmale meist wesentlich gleich, wie bei den meisten ungeglie- derten Wirbellosen, bei den Fischen, auch bei den »Pelagotherien« (Meersaurier — Meersäuger) usw. Doch können auch bei Meeres- tieren einzelne Organe, die sich durch langdauernde Funktion oder durch eine besondere Abart der Lebensweise entwickeln, den Habitus stark verändern, ohne freilich zugleich die Gesamtheit der Organi- sation wesentlich zu beeinflussen, wie uns Rudisten—Ascidien, Brachiopoden—Salpen, Oystideen—Crinoideen, die Bohr- muscheln, Cirripedier usw. zeigen. Hieraus folgt als praktische Vorschrift für die Ermittlung der phylogenetischen Zusammenhänge: Am Habitus und am Gesamtkomplex der zu einer korre- lativen Organisation vereinigten Merkmale lassen sich die phylogenetischen Zusammenhänge am besten verfolgen und, soweit nicht große Zeiträume zwischen den zu verknüpfenden Formen liegen oder eine einschneidende Änderung der Lebensweise eingetreten ist, haben sie uns in erster Linie zu leiten. Daneben kommen zunächst alle solchen Merkmale in Betracht, die bei Ge- schöpfen von ähnlicher Organisation und wesentlich gleicher Lebens- weise Jange unverändert nebeneinander bestehen bleiben und die Umbildungen in neue Stufen überdauern, wie die abweichenden Schnauzenformen der Krokodile, die schon auf der Stegocephalen- Stufe getrennt sind, die verschiedenartigen Gestaltungen des Unter- kiefers bei den »Pelagotherien«, die aus der Reptilstufe in die Säugerstufe übernommen werden. In besonderen Fällen eignen sich ab- weichende Bildungen, dienur einem ganz beschränkten Teile einer ÖOrganismengruppe zukommen, ausgezeichnet, um die durch unvoll- kommene Überlieferung abgerissenen phylogenetischen Fäden zu ver- knüpfen, wie die Seitenäste der Arme im Rhipidocrinus-Stamm (S. 154 ff.), der hohe, klingenartig zugeschärfte Zwischenkiefer im Belodon-Stamm (8.230), die Hyperdactylie bei bestimmten Ichthyo- therien (S. 246), die eigenartige Behörnung des dreieckigen Schädels im Stamme Zlginia—Meolania oder die tunnelartige Gestaltung der Nasenhöhlung und die rückwärtige Stellung des Unterkiefergelenks bei Dinoceras—Trichechus (S. 263, 264). Solche Merkmale werden eben wie viele andere, der funktionellen Änderung entzogene Organe auch Zusammenfassung. 275 über die Grenzen großer Stufen hinübergerettet. Es steht somit die phylogenetische Methode im schroffen Gegensatz zur systematischen, die den unbeständigen Stufen-Merkmalen die größte Bedeutung zuerkennt. Wir sind durch unsre Betrachtungen dazu geführt worden, die Änderungsfähigkeit der Organismen in der schon durch WaAczx vorgezeichneten Weise in Variation und Mutation zu scheiden und haben dabei festgestellt, daß das, was bei unhistorischer Be- trachtung als Variation erscheint, im Lichte der Phylogenie oft nichts andres ist, als verschiedene epistatische Zustände einer in Mutation begriffenen Stammreihe. Solche Variationen fallen also eigentlich gar nicht unter diesen Begriff, sie sind, wie wir zu zeigen versuchten (S. 116), auch nur transitorischer Natur. Andre gleichzeitig neben- einander bestehende Variationen dagegen verdanken ihr Dasein der Erweiterung der Existenzmöglichkeiten, wie sie im Gefolge von Bio- transgressionen auftreten, mit denen sich ein örtlicher Wechsel der Bedingungen und Isolierung der transgredierenden Organismen ver- “ knüpft. Bei hinreichender Dauer der verschiedenartigen Einwirkungen und unter gleichzeitiger Isolierung entstehen so Lokalrassen, und in weiterer Festigung und Ausprägung der so entstandenen Merkmale neue Arten, die sich oft genug bald wieder mischen, aber doch im langsam fließenden Strome der Mutation gleichsinnig weiter ent- wickeln. In solchen Vorgängen scheint mir die Divergenz der Rassen und Arten zu wurzeln — ich spreche daher von einer divergenten Variabilität. Eine letzte, davon verschiedene Art der Abänderung — man kann sie im Gegensatz zur transitorischen und divergenten (= bestimmten) Variabilität als inhärente (= unbestimmte) be- zeichnen — beruht auf der dauernden Fähigkeit des Organismus, jederzeit eine gewisse Formenbreite zu erzeugen, die weder zu einer Rassen- oder Artspaltung führt, noch aus dem verschieden raschen Fortschreiten mutierender Stammreihen resultiert. Sie führt zur Entstehung von Abarten, die meist miteinander durch reichliche Übergänge verbunden bleiben, und ihr bezeichnendes Merkmal beruht darin, daß sie den Stammlinien dauernd anhaftet, einigen in höherem, andern in geringerem Maße, wieder andern ganz fehlt, wie das be- sonders für manche Tier- und Pflanzengattungen und -Arten fest- gestellt ist, die wir durch längere Zeiträume hindurch verfolgen können (Liriodendron, Nautilus, Acer, Terebratula biplicata, Ammo- niten). Es scheint zwar, als ob diese Abänderungsfähigkeit durch wechselnde äußere Verhältnisse, wie Klima, Nahrung, Boden und Umgebung zu verschiedenen Zeiten verschieden stark ausgelöst würde, 18* 276 Zusammenfassung. und daß sie, wenn sie sich wiederholt reichlicher entfaltet, Erschei- nungen hervorruft, wie sie Koken mit der divergenten Variation zu- sammen als iterative Artbildung bezeichnet hat; aber ob sie unter natürlichen Einflüssen zur Zerspaltung in Arten führen kann, wie sie durch Züchtung leicht hervorgerufen werden, scheint noch nicht ganz sichergestellt, und den normalen Weg zur Artbildung möchte ich darin nicht erblicken. Wir müssen eben das Buch der Naturgeschichte noch eifrig durchstudieren, bis wir diese in der Er- scheinung ähnlichen, im Wesen aber verschiedenen Arten der Ver- änderlichkeit bestimmt voneinander scheiden lernen. So können wir auf historischem Wege eine präzisere und wesent- lich andre Vorstellung von der Variabilität und von der Divergenz der Arten gewinnen, als sie heute besteht. Wer alle Säuger aus einem Ursäuger, oder wer auch nur alle Unionen aus einer gemein- samen Art entstanden denkt, erkennt den Organismen eine hoch- gradige Labilität und eine weitgehende Abänderungsfähigkeit zu, die tatsächlich nicht besteht. Nach unsrer Auffassung ist jeder ver- wickelte und spezialisierte Organismus nur einmal im Laufe der Erdgeschichte entstanden, wenn auch nicht auf einer Linie, sondern auf zahlreichen, und die Gestaltungsfähigkeit der Natur er- weist sich somit in verhältnismäßig enge Grenzen gebannt. Wir vertreten damit eine Orthogenese in höchster Potenz, die weit hinausgeht über das, was Eımer und die amerikanischen La- marckianer darunter verstanden haben, es ist die Orthogenese Lamarcks selbst. Das wichtigste Ergebnis aus dieser Erkenntnis ist: Der dauernde Bestand der einmal vorhandenen Natur- formen, soweit sie nicht aus inhärenter Abänderungsfähigkeit fließen, erscheint durch sich selbst gesichert, und ihre Mutationen, selbst die weitgehendsten, die sie auf geraden Bahnen in ganz neue Organisationsstufen hineinführen, vollziehen sich unabhängig von der Variabilität im gewöhnlichen Sinne des Wortes, d.h. von der divergenten und inhärenten Änderungsfähigkeit. Die Stamm- linien bleiben bestehen und können dabei mutieren oder nicht, einerlei ob sie variieren oder nicht, und nur brutale Gewalt kann sie vernichten. Zu diesem Ergebnis bin ich erst gekommen, nachdem ich mich durch Verfolgung vieler Phylogenien des Tier- und Pflanzen- reiches frei gemacht hatte von den beengenden Fesseln der heutigen, wesentlich darwinistischen Anschauungsweise, und nachdem ich aus den verschiedenartigsten Stammreihen immer den gleichen Gang ihrer Geschichte und dieselben Gesetzmäßigkeiten abgelesen hatte. Und doch ist diese Wahrheit so alt, wie die moderne Entwicklungslehre Zusammenfassung. 277 überhaupt. Denn vor hundert Jahren schon schrieb LAmArck in lapidarem Stile: »Les races des corps vivants subsistent toutes, malgre leurs variations.« Mit diesen Worten ist der Kern aus dem Gang der Geschichte der lebenden Natur herausgeschält und zugleich unbewußt der Gegen- satz zur späteren Lehre Darwins scharf zugespitzt zum Ausdruck gebracht. »Subsistent toutes« — es gibt kein Erlöschen der Stammreihen außer durch Gewalt. »Malgre leurs varia- tionse — die Mannigfaltigkeit bedeutet nichts für den Bestand der Rassen! Wie konnte jemand, der noch nichts von der Fülle wunderbarer Entdeckungen fossiler Tiere und Pflanzen des verflossenen Jahrhunderts kannte, der nur einen minimalen Bruchteil dessen übersah, was wir heute verzeichnen, zu dieser Erkenntnis kommen, die erst auf der breiten Grundlage heutigen Wissens müh- sam aufgerichtet werden muß, nachdem sie ein Jahrhundert unbeachtet und unverstanden geschlummert hatte? Lamarck übersah wie kaum ein andrer Forscher seiner Zeit die Gestalten des Tier- und Pflanzenreiches, lebende und fossile, aber er befand sich nicht im Banne eines festgefügten Systems der Tiere, er schuf vielmehr selbst erst ein solches für die Wirbellosen. Er kannte zwar nur einen kleinen Teil der Vorwelt, im besonderen die Con- chylien des Tertiärs, aber sein Blick umfaßte ein Stück wirklicher Geschichte, und dieses Stück lehrte ihn den Bestand der Rasse. Ihm galt der Entwicklungsprozeß der Natur als ein einheitlicher Vorgang, und die Gesetze, die ihn beherrschen, waren für ihn ewig und un- abänderlich. Was er daher aus dem Bruchstück der Geschichte mit Sicherheit abgelesen hatte, wagt er als allgemeines Gesetz zu formu- lieren. Es war historischer Blick, historische Methode, die es ıhm ermöglichten, seiner Zeit um ein volles Jahrhundert voraus- zueilen und Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, die auch heute nur auf historischer Grundlage verstanden werden können. Der gleiche Weg hat auch uns wieder zum gleichen Ziel geführt; wir fragen jetzt, was ist damit gewonnen ? Ein zweifelloser Vorzug unsrer Auffassung liest darin, daß sie einen ganzen Komplex von Problemen beseitigt, die immer drohender sich geltend gemacht haben, je länger man das fossile Material im Lichte der Abstammungslehre betrachtet hat: das » Aus- sterben der Arten«, die »explosive Entwicklung oder wiederholte Umprägung verschiedener Tier- und Pflanzengruppen«, das » Fehlen von Übergangsgliedern zwischen den größeren Gruppen« und die 278 Zusammenfassung. »Unverständlichkeit des gesamten Entwicklungsganges«. Die beiden letztgenannten Probleme dürften als die bedrohlichsten gelten. Denn wenn die Unauffindbarkeit der theoretisch erforderlichen Übergänge zwischen den größeren Gruppen es zweifelhaft erscheinen ließ, ob die Abstammungslehre als Arbeitshypothese für das Verständnis der Vorwelt brauchbar sei, so stellte die schreiende Dissonanz zwischen der Geschichte des Planeten und der seiner Bewohner ihre Berech- tigung überhaupt in Frage. Dass unsre Auffassung gewisse vitalistische Erklärungen end- gültig ausschaltet, ohne die man vielfach die Geschichte der Tier- und Pflanzenwelt überhaupt nicht verstehen zu können glaubte, das ist für mich ein Anzeichen für eine beginnende Vertiefung unsrer Erkenntnis. Denn vitalistische Deutungen, die man nötig hat zur Ergänzung der mechanisch-kausalen Erklärungen, bedeuten im Grunde doch nichts andres, als daß uns für gewisse Gebiete der Natur- forschung noch die Methoden ganz fehlen, mit denen sie in Angriff genommen werden müssen, mit anderen Worten, daß wir an die Er- klärung von Erscheinungen und an die Lösung von Fragen heran- treten, die erst auf einer höheren Stufe der Erkenntnis der Behandlung zugänglich werden können. Gewihb aber ist es ein Kennzeichen der reiferen und ihrer wahren Aufgaben bewußten Forschung, daß sie die Probleme in der Reihenfolge in Angriff nimmt, in der sie über- haupt einer Lösung erfolgreich entgegengeführt werden können. Dar- aus erklärt sich auch wohl der vielfach instinktive Widerstand älterer und neuerer Zeit gegen die speziell darwinistischen Erklärungsver- suche, weil diese sich sofort nach der Wiedererweckung der Ab- stammungslehre an die verwickeltsten Erscheinungen der Organismen, an die »komplizierten und passiven Anpassungen« heranwagten, ehe die Reaktionsfähigkeiten der organisierten Materie und ehe die Ge- schichte ihrer Träger auch nur in ihren wichtigsten Umrissen fest- gestellt waren. Das sind sie ja eigentlich heute noch nicht. Erst auf dem Fundament einer gesicherten Erfahrung über den Werdegang der organischen Welt können wir hoffen, selbst scheinbar einfache und der Lösung zugängliche Spezialprobleme zu fördern, wie den oft erörterten Fall der Giraffe. Sind die hohen Beine und der lange Hals dieses Tieres durch funktionelle Anpassung allein oder durch diese unter Mitwirkung der Auslese, oder durch » Varia- tion« und Auslese allein entstanden? so pflegt man zu fragen. Vom historischen Standpunkte aus stellen wir die Frage überhaupt nicht so. Wir gehen nicht von der gänzlich unbewiesenen Vorstellung aus, daß die Giraffe als extreme Ausgestaltung der landbewohnenden Pflanzen- Zusammenfassung. 279 fresser aus kleineren, weniger hochbeinigen und weniger langhalsigen Landsäugern allmählich entstanden sei. Vielmehr führen wir nach den Gesetzmäßigkeiten, die wir aus zahlreichen, beglaubigten Phylo- genien abgelesen haben, die Giraffe unmittelbar auf die Gruppe gewaltiger Dinosaurier zurück, die unter den Begriff der Meta- reptilien, spez. der Mammoreptilien (S. 219), fallen. Diese Dino- saurier waren noch keine echten Landtiere, sie bewohnten Sümpfe und Moräste, und die Ausgestaltung ihres Körpers erfolgte unter sanz anderen Lebensverhältnissen, als diejenigen, unter denen die Giraffe heute lebt. Ihr Aufenthalt in einem Element, das ein fast ungehindertes Auswachsen des Körpers gestattete, weil dieser nur zum kleinen Teil von den Gliedmaßen getragen zu werden brauchte, er- möglichte die Entstehung zahlreicher gigantischer Gestalten mit langen Hälsen, langem Schwanz und (absolut) hohen Beinen, und aus diesen sind teils Säuger, teils Laufvögel hervorgegangen. Beim Übergang aufs feste Land blieben die Körperproportionen (bei allgemeiner Herabsetzung der Körpergröße) gewahrt; der lange Schwanz mußte bei Säugern wie bei Vögeln als unbrauchbar allmählich schwinden, und wo die neue Lebensweise nicht etwa notwendig eine Verkürzung des Halses mit sich brachte, wie bei den Elefanten u. a., blieb der lange Hals bestehen, bei Vögeln, wie bei Säugern, bei jenen unter geringerer, bei diesen unter stärkerer Reduktion der Wirbelzahl. Merkmale also, die in einer weit entlegenen Zeit unter ganz ab- weichenden Lebensverhältnissen entstanden waren, sind in neue Lebensverhältnisse und auf eine andre Organisationsstufe mit über- nommen worden, und der Träger dieser Merkmale hat sie auch ın der neuen Lebenslage wesentlich so benützt, wie sie die Natur an seinen Vorfahren erzeugt hatte, nur wenig abgeändert durch den Einfluß der neuen Verhältnisse, in die ihn Naturvorgänge (wahr- scheinlich klimatische Wechsel) gedrängt hatten. Ich meine, über diese Art der Betrachtung und Ausdrucksweise der Nützlichkeit darf die Naturforschung nicht hinausgehen, wenn sie auf dem Boden der Wissenschaft bleiben will. Das ist auch die Auffassung vieler moderner Forscher, die im Sinne Goethes sagen: »Der Ochse wehrt sich mit seinen Hörnern, weil er sie hat.« Im vorliegenden Falle ist das Problem auf die Zeit und auf die Verhältnisse zurückge- schoben, als jene Merkmale entstanden, und allein aus diesen heraus ist es lösbar. Der überzählige sechste Finger des heutigen Zahnwals Del- phinapterus muß so lange als eine schwer erklärliche Bildung gelten, als seine Vorgeschichte in der Phylogenie der Wale nicht aufgeklärt 280 Zusammenfassung. ist. Besitzen Tiere, deren Finger und Gliederzahl offenbar in Re- duktion begriffen sind, die Fähigkeit, einen neuen Finger zu erzeugen, was keinem andern Wal, überhaupt keinem andern Vierfüßler möglich ° gewesen ist, soweit ihre Geschichte in die Vorzeit (Perm) zurück- verfolgt werden kann? Die historische Forschung und Betrachtungs- weise wird auch dieser Schwierigkeit gerecht. Die Fünfzahl der Finger erscheint in der Entwicklung der Vierfüßler überall als das Optimum der Reduktion, das bei der ursprünglichen Entstehung des Fußes aus der viel größeren Zahl der Anhänge resultiert. Die Zahl ist bei einer bestimmten Art der Bewegung allgemein mechanisch bedinst. Wenn aber der in Bildung begriffene Fuß nur ganz vorübergehend sich aufstützte und dann bald wieder als Flosse benutzt wurde, ehe das Optimum erreicht war, so konnten sich überzählige Strahlen er- halten. Da sie aber schon damals den übrigen fünf nicht mehr funktionell gleichwertig waren, so sind sie von den breitflossigen Ichthyosauriern (Hurypterygius JAEKEL) unter allmählicher Re- duktion auf den Stummel bei Delphinapterus bis heute vererbt. Auf solche Weise ist der Vorgang verständlich, auf jede andre erscheint er unbegreiflich. Aber die Erörterung von Möglichkeiten und Wahr- scheinlichkeiten, wie der sechste Finger des Wals oder der Hals der Giraffe zu erklären seien, auf anderer als auf gesicherter historischer Grundlage ist nur dazu angetan, die induktive Methode naturwissenschaftlicher Forschung zu kompromittieren. Besonders für die Tier- und Pflanzengeographie schafft unsre Auffassung erst eine gesicherte Grundlage. Es muß fast zwecklos erscheinen, das heutige System der Tiere und Pflanzen zum Ausgang für eine Geschichte ihrer Verbreitung zu nehmen, wo der phylogenetische Zusammenhang mit ihren Vorfahren so wenig feststeht. Ein warnendes Beispiel haben uns die Schizodonten (S. 118) geliefert; auf weitere abzuheben, erscheint fast überflüssig. In welcher Weise wir aber aus der heutigen und früheren Verbreitung der Tiere und Pflanzen den früheren Zusammenhang der Festländer ermitteln, hängt in erster Linie von der Art der phylogenetischen Verknüpfung der Organismen ab. So ist auch die Lösung hochwichtiger Fragen der Erdgeschichte durch unsre Auffassungen von der Stammesge- schichte der Organismen bedingt. Das letzte Ziel, das sich die historische Naturerforschung stellt, ist die Auffindung der Gesetze, nach denen sich die Wand- lungen in der Natur vollzogen haben und noch vollziehen. Auch hierfür kann die historische Betrachtungsweise eine sichere Grundlage schaffen. Indem wir gewisse tiefgreifende Umbildungen Zusammenfassung. 281 im Tier- und Pflanzenreich, wie die Änderung des anatomischen Baues, der Fortpflanzungsart und ihrer Organe u. a.m. nicht auf gelegentliche und unerklärliche Variation, nicht auf die Auslese einzelner Träger dieser Umbildungen, sondern auf uns bekannte, normale und allgemein wirksame Vor- gänge zurückzuführen versuchen, die sich wiederholt an allen Or- gsanismen, die davon betroffen werden konnten, in gleichem Sinne äußern mußten, haben wir einen Schritt nach den letzten Zielen zu getan. Dieser verspricht schon jetzt nicht wenig; ob er uns weiter führen kann, wird die Zukunft lehren. Sollte es aber, woran ich nicht zweifle, gelingen, durch Be- schreiten der hier vorgezeichneten Wege die Grunderkenntnis La- MARCKS von dem ungeschmälerten Fortbestand des Lebendigen durch alle Zeiten hindurch tatsächlich für die gesamte Schöpfung zu er- weisen, so wäre das Tor entriegelt, durch das nach meiner Auf- fassung der einzige Weg zum Verständnis der Schöpfung führt. Gibt es keinen Überschuß an Arten, aus denen die Natur hat aus- lesen können, so schwindet die einzige wirkliche Grund- lage, auf der eine Theorie der natürlichen Auslese fußen kann. Mit ihr fällt auch die Vorstellung von der monophyletischen Entstehung der systematischen Kategorien, und die »Urformen« zer- fließen zu Zeugen einer überwundenen Periode scholastisch gefärbter Naturphilosophie. Wir nehmen die Grundeigenschaften des belebten Stoffes, deren Natur und Eigenart die biologische Forschung aufzuklären hat, als gegeben: die Fähigkeit zu wachsen durch Aufnahme von Nahrung über den notwendigen Bedarf hinaus, die Fähigkeit zu ändern unter dem Einfluß geänderter Reize, zu persistieren bei gleichbleibenden Reizen, die Fähigkeit der konstitutionellen Festigung und Vererbung neuer Merkmale ber hinreichender Dauer der Reize, die sie auslösen. Als bewirkende Reize erkennen wir die Gesamt- heit aller geologischen und klimatischen Vorgänge und der wechselseitigen Beeinflussungen der Organismen selbst. Dann erscheint uns der ganze biohistorische Entwicklungsgang nur als eine unmittelbare mechanische Übertragung der Reize, die während dieser Zeit in Verbindung mit den historisch gebotenen Ge- legenheiten auf die organische Welt eingewirkt haben und die der Reihe nach erblich auf sie übertragen sind. Jede einzelne Organi- sation berichtet jederzeit über die geschichtlichen Vorgänge, die sich auf ihr eingedrückt haben, das Verschwundene, oft genug noch in der Ontogenie angedeutet, zeugt vom Zurücktreten der Funktion, 2382 Zusammenfassung. an die es geknüpft war. Der ganze Entwicklungsgang bedeutet nur eine Summierung, nur eine erbliche Übertragung aller Reize unter dem Gesetz der direkten Bewirkung. Tiere und Pflanzen sehen wir bald nach Beginn der paläozoischen Zeit allmählich dem ursprünglichen Element entsteigen, zunächst das Süßwasser und die dauerfeuchten Gebiete des Festlandes besiedeln, später sich auf den wechselfeuchten und trockenen Regionen aus- breiten und sich sogar als Epiphyten oder fliegende oder flatternde Wesen vom Erdboden loslösen. Was sich bei diesen Änderungen der Lebensweise an neuen Reizen geltend macht, prägt sich auf den Geschöpfen der gegebenen Organisation entsprechend ab. Die zu Beginn der biohistorischen Zeit vorhandenen Organisationen, deren Entstehung wir historisch nicht verfolgen können, denken wir uns nach Analogie mit den späteren, historisch feststellbaren Umbildungen entstanden. Die Verdunstung verhärtet das Gewebe des Pflanzenkörpers, läßt den Tierleib schrumpfen und konsolidieren; der ursprünglich ans Wasser gebundene Fortpflanzungsakt der Pflanzen geht auf den feuchten Boden und schließlich auf die Pflanzen in der Luft über; die Epimeren des Krebsleibes werden zu Flügeln, die Kiemen der Wassertiere zu Tracheen und Lungen. Der Wechsel der Jahres- zeiten verursacht Stillstand in der Ernährung und im Wachstum bei Tieren und Pflanzen; das führt bei Gliedertieren zur Verwand- lung, bei den Pflanzen zum periodischen Blattabfall, zum jährlichen Schwunde der oberirdischen Organe und zum kurzfristigen Bestehen nicht ausdauernder Gewächse. Die dauernde Trockenheit des Klimas erzeugt die Merkmale der Xerophilie, Dornen treten an Stelle der Blätter, und die Stengelorgane übernehmen deren Funktion. Die Luftbewegung gliedert die Blattorgane, dauernde Belichtung, Trocken- heit und Einfluß der Insekten und Vögel erzeugt die mannigfaltige Ausgestaltung der Blüten. Im Reiche der Vierfüßler bringt der Übertritt auf das Land den allmählichen Verlust des Hautskeletts mit sich, denn das Bewegungs- vermögen steigert sich, die Tiere erheben sich höher über den Boden, und statt zu kriechen, beginnen sie zu laufen und zu hüpfen. Wie mit gesteigerter Bewegung die Nahrungsaufnahme wächst, die Blut- temperatur steigt, und bei vierbeiniger Fortbewegung Säuger, bei zweibeiniger Vögel entstanden zu denken sind, wurde schon ausführ- lich geschildert. Flatter- und Flugorgane entstehen, und auch die Luft bevölkert sich mit warmblütigen Tieren. Aus Wesen, die sich nach keiner Richtung hin besonders spezialisiert haben, aber klettern Zusammenfassung. 283 und gelegentlich aufrecht gehen, entwickeln sich die Menschen, und damit tritt ein neuer Faktor in die Natur ein. Jeder Versuch, in diesem Umbildungsvorgange eine Grenze zwischen Nochnichtmensch und Mensch selbst legen zu wollen, wäre unwissenschaftlich, aber die leblose Natur spürte sein Bestehen damals zuerst, als (zur älteren Tertiärzeit) der erste Feuerstein zerschlagen wurde, die belebte, als (vielleicht zur Pliozänzeit) die erste Jagdtierart vernichtet wurde, der bald ungezählte andere nachfolgen sollten. Das bis dahin unbekannte Werk der Vernichtung hat nun angefangen, die Natur beginnt zu verarmen an originellen Gestalten. So erblicken wir in dem Bilde, das uns die Geschichte der Land- welt zur biohistorischen Zeit enthüllt, einen einheitlichen großen Vor- gang, die Ausbreitung des Lebens über die Erde, gefolgt von der gesetzmäßigen Umgestaltung seiner Träger durch die neuen Einflüsse und durch den rastlosen Wechsel der Verhältnisse, denen sie ausgesetzt sind. Weil einfache, unabänderliche Gesetze die Um- bildung verursachen, beschränkt sich diese nicht auf das Einzelwesen oder auf eine gelegentliche Wiederholung, sie prägt jedes Wesen, das seiner Vorgeschichte nach dazu befähigt ist, zum wesensgleichen Typus um, zur Blütenpflanze, zur Spinne, zum Kerbtier, zum Vogel, zum Säuger, zum Mensch. An den Liebensformen, die im Meere oder im Süßwasser zurück- bleiben, vermissen wir die weitgehende und vielseitige Umbildung. Sie wachsen sich aus, soweit es das Mittel, in dem sie leben, gestattet: das eingezwängte Korallentier löst sich aus seiner steinernen Hülle und wird zur Seeanemone, aus der knolligen Korallenkolonie der älteren Zeiten entwickelt sich ein reichverzweigter Busch; die sackförmige Oystoidee wird zur langgestielten und schließlich frei beweglichen Seelilie oder zur wurmartigen Seegurke; die langsam kriechenden Muscheltiere bohren sich in Sand und Schlamm, in Stein und Holz ein, oder sie wachsen fest, durchdringen ihre starre Schale und wandeln sich zu Manteltieren; die Schnecken und Kopf- füßler kriechen aus ihrem Gehäuse heraus, stoßen es ab oder um- wachsen es, entfalten sich zu geschickten Schwimmern und furcht- baren Räubern; aus Gliedertieren aber geht durch Verwachsen der Beine zu Flossen der flinke und bewegliche Fisch hervor, im Ver- luste seines Hautpanzers und in der Herausbildung seines Knochen- skeletts äußert sich die wachsende Kraft seiner Muskeln; er wird Beherrscher des Meeres und teilt seine Rolle nur mit den Kriech- tieren, die nach kurzem Verweilen auf dem Lande zum Meere zurückgekehrt sind. 284 R* Zusammenfassung. In diesem einfacheren und verzögerten Gange organischer Um- bildung, wie sie die Wassertiere zeigen, tritt das Gesetzmäßige der Vorgänge noch klarer und einfacher zutage, als in der gesteigerten Entwicklung auf dem Festlande. Im Wasser bleibt die Organisation plastischer als in der Luft, und daher gehen die Umbildungen, soweit sie nicht schon ganz vollendet, heute noch fast ebenso fort, wie in alter Zeit. Wasser ist schwerer als Luft. In dieser Skizze des Entwicklungsganges erscheint der Wandel der Schöpfung von einfachen Gesetzen bedingt. Liegen auch erst wenige Züge ihrer Bedingtheit ganz klar, so läßt doch der Anfang einen baldigen Fortschritt erwarten. Das alte Bild ließ sich nicht in den Rahmen der Erdgeschichte einpassen, hier war es zu kurz, dort ragte es über; das neue fügt sich harmonisch in ihn ein, und wir fangen an zu begreifen, daß der tote Stoff und die lebende Welt eine Geschichte haben, daß sie von den gleichen Kräften gestoßen wurden bis zum gegenwärtigen Stande. Und wie sich das Antlitz des Planeten nur aus seiner Geschichte verstehen läßt, so die heutige Schöpfung nur aus ihrem Gange, und wie noch heute die Gebirge aus dem Meere wachsen, die Festländer zerbrechen und die Senken sich füllen, so werden auch heute noch neue Geschöpfe. Pflanzen und Tiere, die den Forscher entzücken, den Systematiker verlegen machen, die Characeen, noch Algen aber auf dem Wege zur Archegoniate, Peripatus, halb Wurm halb Gliedertier, Amphioxus, nicht Wurm nicht Fisch, das Schnabeltier, kein Kriechtier und doch kein lebendig gebärender Säuger, — sie alle sind werdende Typen, sie zeugen von der Fortdauer des Wandels und von der Herrschaft unwandelbarer Gesetze in der belebten Welt. »Die Welt wurde nicht, die Welt wird.« Druck von Breitkopf & Härtel in Leipzig. % | \ Ä Me ie